Ist systematische Philosophie möglich?: Stuttgarter Hegel-Kongreß 1975 9783787330881, 9783787315086

Vorwort – A. DIE ABENDVORTRÄGE. Dieter Henrich. Grenzen und Ziele. Ansprache zur Einführung in die Probleme des Kongress

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Ist systematische Philosophie möglich?: Stuttgarter Hegel-Kongreß 1975
 9783787330881, 9783787315086

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Hegel-Studien Herausgegeben von Friedhelm Nicolin und Otto Pöggeler

Beiheft 17

Internationale Vereinigung zur Förderung des Studiums der Hegelschen Philosophie IX.Veröffentlichung

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

Stuttgarter Hegel-Kongress 1975

Ist systematische Philosophie möglich? Veranstaltet von der Internationalen Hegel-Vereinigung in Verbindung mit der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, der Schelling-Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und der Stadt Stuttgart Herausgegeben von Dieter Henrich Redaktion Konrad Cramer

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

Inhaltlich unveränderter Print-on-Demand-Nachdruck der Auflage von 1977, erschienen im Verlag H. Bouvier und Co., Bonn.

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN: 978-3-7873-1508-6 ISBN eBook: 978-3-7873-3088-1 ISSN: 0073-1578

© Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 2016. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Gesamtherstellung: BoD, Norderstedt. Gedruckt auf alterungsbeständigem Werkdruckpapier, hergestellt aus 100 % chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany. www.meiner.de/hegel-studien

INHALT Vorwort

XV

A. DIE ABENDVORTRÄGE DIETER HENRICH,

Heidelberg

Grenzen und Ziele. Ansprache zur Einführung in die Probleme des Kongresses WALTER SCHULZ,

3

Tübingen

Philosophie als absolutes Wissen. Hegels Systembegriff und seine geschichtliche Aufhebung HERMANN KRINGS,

15

München

System und Freiheit. Beitrag zu einem ungelösten Problem HANS-GEORG GADAMER,

35

Heidelberg

Über das Philosophische in den Wissenschaften und die Wissenschaftlichkeit der Philosophie 53 B. DIE SYSTEMKONZEPTION DES SPEKULATIVEN IDEALISMUS Kolloquium I SCHELLINGS UND HEGELS SYSTEMKONZEPTIONEN Leitung

OTTO PöGGELER,

OTTO PöGGELER,

Bochum

Bochum

Vorbemerkungen zum Kolloquium über Schellings und Hegels Systemkonzeptionen

73

Inhalt

VI WERNER MARX,

Freiburg i. Br.

Aufgabe und Methode der Philosophie in Schellings System des transzendentalen Idealismus und in Hegels Phänomenologie des Geistes 77 ODO MARQUARD,

Gießen

Hegels Einspruch gegen das Identitätssystem REMO BODEI,

103

Pisa

System und Geschichte in Hegels Denken KLAUS DüSING,

113

Bochum

Spekulative Logik und positive Philosophie. Thesen zur Auseinandersetzung des späten Schelling mit Hegel 117 Kolloquium II SCHELLINGS SYSTEMWANDEL Leitung XAVIER TILLIETTE, Paris HERMANN ZELTNER,

Erlangen t

Das Identitätssystem — und was dann? Über Schellings Systembegriff, seine Aus- imd Umformungen und seine Bedeutung 131 HANS JöRG SANDKüHLER,

Bremen

Dialektik der Natur — Natur der Dialektik. Schelling in der widersprüchlichen Entwicklxmg der klassischen bürgerlichen Philosophie zwischen Materialismus imd Idealismus . . . 141 JEAN FRANCOIS MARQUET,

Tours

Idee schellingienne et concept hegelien WILHELM

G.

JACOBS,

159

München

System imd Geschichte. Neueste Forschungsergebnisse zu Schellings frühester Entwicklung

165

VII

Inhalt

Kolloquium III SCHELLINGS POSITIVE PHILOSOPHIE UND DAS ENDE DES SPEKULATIVEN IDEALISMUS Leitung HANS

MICHAEL BAUMGARTNER,

MICHAEL THEUNISSEN,

München, jetzt Gießen

Heidelberg

Die Idealismuskritik in Schellings Theorie der negativen Philosophie 173 HARALD HOLZ,

Bochum, jetzt Münster

Die Ablösung der Transzendenz, ein Ende oder Anfang? Einige Marginalien anläßlich der Spätphilosophie Schellings MANFRED BUHR,

193

Berlin-Ost

Zur Stellung Schellings in der Entwicklungsgeschichte der klassischen bürgerlichen deutschen Philosophie 211 CHRISTOPH WILD,

München

Zur Aporetik idealistischer Systemkritik

215

C. IST SYSTEMATISCHE PHILOSOPHIE MÖGLICH? Kolloquitun IV DIALEKTIK UND SYSTEMATISCHE PHILOSOPHIE Leitung HANS

FRIEDRICH FULDA,

HANS FRIEDRICH FULDA,

Bielefeld

Bielefeld

Zum Thema des Kolloquiums HANS WAGNER,

223

Bonn

Mehr als ein Jahrhimdert seit dem Ende des deutschen Idealismus 227 HERMANN SCHMITZ,

Kiel

Das dialektische Wahrheitsverständnis und seine Aporie .

.

241

VIII

Inhalt

WOLFGANG MARX,

Heidelberg

Der dialektische Systembegriff vor dem Hintergrund des Methodenpluralismus in den Wissenschaften 255 ANDRIES SARLEMIJN,

Eindhoven 269

Semantisch explizierte Dialektik Kolloquium V ANALYTISCHE UND SYSTEMATISCHE PHILOSOPHIE Leitung DIETER HENRICH, Heidelberg DIETER HENRICH,

Heidelberg

Was heißt ,analytische Philosophie'? — Einleitende Begriffsbestimmtmgen 281 JOHN

N.

FINDLAY,

Boston .

291

Can Analytical Philosophy be Systematic, and should it be?

305

Systematic and Dialectical Philosophy versus Analysis MICHAEL DUMMETT,

JULES VUILLEMIN,

.

Oxford

Paris

De la Philosophie analytique ä l'idee d'un Systeme critique HELMUT FAHRENBACH,

327

Tübingen .

341

....

367

Sprachanalyse im Rahmen systematischer Philosophie .

.

Kolloquium VI WISSENSCHAFTSTHEORIE UND SYSTEMATISCHE PHILOSOPHIE Leitung HELMUT FAHRENBACH, Tübingen PAUL LORENZEN,

Erlangen

Wissenschaftstheorie und Wissenschaftssysteme

IX

Inhalt

T. I.

OlSERMAN^

Moskau

Zur Frage der marxistischen positiven Auffassung des philosophischen Systems 383 Kolloquium VII MATERIALISMUS UND SYSTEMATISCHE PHILOSOPHIE Leitung VALERIO WILHELM

R.

BEYER,

VERRA,

Rom

Salzburg

Subsystem oder Parasystem? Vortrags-Skizze JACQUES

D'Horror (Poitiers)

Recherche analytique et exposition systematique D. M.

399

ARMSTRONG,

....

Sydney

Naturalism, Materialism and First Philosophy PETER BIERI,

407

411

Heidelberg

Empirical First Philosophy? Comments on Armstrong's Paper 427 D. M.

ARMSTRONG,

Sydney

Remarks read at the Conference

437

D. THEORIE DER GESELLSCHAFT ALS NACHFOLGER DER SYSTEMATISCHEN PHILOSOPHIE? Kolloquium VIII GESELLSCHAFTSTHEORIE UND PHILOSOPHIE Leitung

NIKLAS LUHMANN,

NIKLAS LUHMANN,

Bielefeld

Bielefeld

Zur Einführung

.

443

Inhalt

X LOTHAR ELEY,

Köln

Negation als soziale Kategorie. Sinn und Funktion der Negation in der Systemtheorie 447 KLAUS HARTMANN,

Tübingen

Gesellschaft und Staat — Eine Konfrontation von systemtheoretischer Soziologie und kategorialer Sozialphilosophie REINHART MAURER,

465

Berlin-West

Soziologie als prima philosophia? Über die gegenwärtige Unmöglichkeit systematischer Philosophie 487 GüNTHER MALUSCHKE,

Tübingen

Demokratie in systemtheoretisdier Sicht. Abwendung von der „alteuropäischen" Tradition und funktionale Definition der Demokratie 497 HORST FOLKERS,

Heidelberg

Die Logik der Funktion in gesellschaftlichen Verhältnissen 505 FRIEDHELM SCHNEIDER,

Lübeck

Funktionalismus und Dialektik

515

Kolloquium IX REKONSTRUKTION DES HISTORISCHEN MATERIALISMUS Leitung ALBRECHT WELLMER, Konstanz JüRGEN HABERMAS,

Starnberg

Thesen zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus 533 HERMANN LEY,

Berlin-Ost

Gegenthesen zu einigen zum Historischen Materialismus vorgebrachten Fragen

547

Inhalt KENLEY

R.

DOVE,

XI

New York

Zur Kritik der Habermas'schen Geschichtstheorie .... VoLKBERT M.

ROTH,

575

Konstanz

Mit Marx an Marx vorbei? Histomati und Histomat2. Diskussionsbeitrag zu Jürgen Habermas' Thesen zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus 583 ZARKO PUHOVSKI,

Zagreb

Die Materie des Historischen Materialismus. Thesen zur historisch-materialistisdien Analyse des Historischen Materialismus 595 E. KURZVORTRÄGE UND FORSCHUNGSBERICHTE

X. KURZVORTRÄGE Leitung ERICH HEINTEL, Wien 1

. Probleme der Philosophie Hegels

LASZLO ERDEI,

Budapest

Der letzte Grund unseres Wissens bei Hegel L.

BRUNO PUNTEL,

605

München

Hegels „Wissenschaft der Logik" — eine systematische Semantik? 611

HEINZ KOLAR,

Wien

Über die Möglichkeit einer Unterscheidung von absolutem Wissen, absoluter Idee und absolutem Geist im System Hegels

623

Inhalt

XII

2. Über Sdielling und das Verhältnis von Hegel und Marx JOSEPH

A.

Milwaukee

BRACKEN,

Schelling's Conception of the Positive and Negative Philosophies in his Lectures at Munich in 1832/33 633 JiNDRiCH ZELENY, Prag

Marxens Aufhebung der Hegelschen Systemkonzeption . GAJO PETROVIC,

.

643

Zagreb

Bloch und Hegel oder über die Möglichkeit des philosophischen Systems heute 651 3. Probleme einer Philosophischen Systematik YIRMIAHU YOVEL,

Jerusalem

Systematic Philosophy; Ambitions and Critique

667

Salzburg Qualität der Philosophie

675

RUDOLF GUMPPENBERG,

HANS-DIETER KLEIN,

Wien

Die systematische Philosophie und ihre spezifische Geschichtlichkeit 683 KURT WEISSHAUPT,

Zürich

Adornos Modellanalyse als Idee einer Systematik Negativer Dialektik 687 MIHAILO MARKOVIC,

Belgrad

Is Systematic Philosophy Possible Today?

693

XI. FORSCHUNGSBERICHTE Bericht des Hegel-Archivs der Ruhr-Universität Bochum über den Stand der Edition von Hegels Gesammelten Werken (am 30. 5.1975) von

KLAUS DüSING,

Bochum

705

Inhalt

XIII

Bericht der Schelling-Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften über den Stand der Historisch-kritischen Schelling-Ausgabe (am 30. 5.1975) von

WILHELM

G.

JACOBS,

München

717

VORWORT In diesem Band werden die Referate des Kongresses veröffentlicht, der vom 28. bis 30. Mai 1975 in Stuttgart stattfand. Sein Thema wurde nicht aus einem vor allem historischen Interesse an der Gestalt und Leistung Hegels formuliert. Hegels Philosophie ist als letzte in vollem Sinne System gewesen: Sie hat aus einer von ihm selbst entwickelten Grundlagenwissenschaft mit neuer Methode und neu gefaßter Begriffssprache eine umfassende Interpretation aller Bereiche der Wirklichkeit und aller Lebensdeutungen des Menschen gegeben. Die Philosophie jeder Zeit muß sich zu PLATON in Beziehung setzen, der als erster die besonderen Aufgaben und Schwierigkeiten eines Erkennens verstand, das darauf aus ist, in einem sowohl gesichert als auch umfassend und für ein Leben orientierend zu sein. Sie hat guten Grund, sich auch auf Hegel zu beziehen, wenn sie in einer veränderten Situation Möglichkeiten erwägt, wie die fundamentalen und die universalen Aufgaben der Philosophie einsichtig und somit verantwortlich einander zugeordnet werden können. Hegel hat, anders als PLATON, in einem einzigen Begründungsgang der Philosophie Sicherheit in ihrem Erkennen und unbegrenzten Aufschluß geben wollen über alles, was der Fall und was zu fragen ist. Mit PLATON stimmte er aber darin überein, daß sich solches Erkennen auf angemessene Weise nur dann ergeben würde, wenn sein Verfahren vom Erkenntnisbegriff der Meinungen, die es hinterfragt, auch radikal abweicht. So kann man fragen, nach welchem Begriff von Erkenntnis systematische Philosophie auch dann möglich sein könnte, wenn es für aussichtslos zu gelten hat, Hegels ins Äußerste gehenden Konzeption eines Systems noch einmal Folge zu leisten. Zugleich kann die Kraft, Aufschluß zu geben über Zusammenhänge, die systematische Philosophie von PLATON bis Hegel wirklich besaß, deutlich machen, was man preisgibt, wenn man den Begriff der Philosophie von vornherein aus partikularen Leistungen der Aufklärimg oder aus methodologischen Hilfsdiensten für andere Wissenschaften definiert. Der Stuttgarter Kongreß hat sich also unter dem Namen Hegels eigentlich unter die Grimdaufgabe jeder Philosophie gestellt, nämlich die der Verständigung über sich selbst und über ihre Möglichkeiten, unter den Erkenntnisbedingungen der Gegenwart.

XVI

Vorwort

Der Einleitungsvortrag untersucht, wie sich für uns diese Bedingungen ergaben und welche Überlegungen zum weithin geteilten Zweifel daran führten, daß die Philosophie irgendeine systematische Form haben kann. Die Referate des Kongresses sind innerhalb der zehn Kolloquien in der Folge abgedruckt, in der sie gehalten wurden. Allen Leitern von Kolloquien und den Referenten sei hier noch einmal dafür gedankt, daß sie am Kongreß mitwirkten und daß sie ihre Texte zum ersten Abdruck in diesem Band zur Verfügung gestellt haben. Die Folge der Kolloquien ist gegenüber dem Arbeitsgang der Kongreßtage leicht verändert worden. Der sachliche Zusammenhang zwischen den Hauptthemen soll so auch im Druck sogleich deutlich hervortreten. Das große Interesse, das die Fragestellung des Kongresses auf sich zieht, kam in der Zahl der Teilnehmer von nahezu eintausend zum Ausdruck. Es wäre unmöglich gewesen, eine solche Veranstaltung vorzubereiten, wenn sie nicht von vielen Institutionen und von deren Leitern großzügig gefördert worden wäre. Ihnen sage ich in der Einleitung Dank. Ebenso gilt aber der Dank der Hegel-Vereinigung denen, die weit über Amtsaufgaben hinaus arbeits- und einfallsreich an der Vorbereitung mitwirkten. Von ihnen seien hier besonders genannt Herr Dr. SCHUMANN und Herr HUTZLER von der Kulturabteilung der Stadt Stuttgart und Herr Dozent Dr. GRAMER und Frau RANDOLPH im Heidelberger Philosophischen Seminar. Dieter Henrich

A.

DIE ABENDVORTRÄGE

DIETER HENRICH (HEIDELBERG)

GRENZEN UND ZIELE Ansprache zur Einführung in die Probleme des Kongresses

I Philosophische Kongresse haben noch stets die meisten derer enttäuscht, die an ihnen teilnahmen; und oft hat man sie sogar als Ärgernis empfimden. Dafür, daß es sich so verhält, lassen sich mehrere Gründe nennen: Philosophie scheint in weit höherem Maße als Wissenschaft von den Entwürfen und der Lehre einzelner theoretischer Individuen abhängig zu sein. Wo Philosophie aber auch schon in ihren Ursprüngen eine dialogische Form hatte, da war ihr Gelingen von der Absonderung Weniger in die Intimität langen und vielleicht lebenslangen Umgangs abhängig gemacht, — in der esoterischen Lebensgestaltung antiker Philosophenschulen ähnlich wie in den Meditationsklöstem indischer Weisheitslehren. In ihnen sollte eine Einsicht, die in öffentlicher abstrakter Formulierung unverständlich und dem Gespött preisgegeben bleibt, aus einer auf methodisch erworbener Lebenserfahrung begründeten Theorie am Ende frei hervorgehen imd durch ihre Früchte mehr als durch ihre Argumente überzeugen. In neuerer Zeit entfaltete sich dann eine philosophische Intensität anderer Art im ,Symphilosophieren' — in der permanenten dialogischen Erkundung von Freundeskreisen, deren theoretische Leidenschaft auch aus der Hoffnung kam, im vollendeten Gedanken zugleich ihre Zeit verwandeln zu körmen, — im Bund der freien Männer um FICHTE, im sogenarmten Bund der Geister, dem Hegel und HöLDERLIN zugehörten, und im Berliner Doktorklub, in dem KARL MARX seine Theorie im ersten Stadium ihrer Entwicklung formulierte. Fragmente aus Erfahrungen mit orientierender Lehre, verbindlicher Lebensfühnmg aus Theorie und inspiriertem Dialog gehen auch heute noch in den Begriff der Philosophie ein. Kongresse sind aber geradezu das negative Gegenbild solcher Formen wirkungsträchtiger philosophischer Gemeinsamkeit. Die Vielzahl und die schnelle Folge ihrer Vorträge zwingt in ein Verhalten, das als flüchtig er-

4

DIETER HENRICH

fahren wird; die große Zahl der Teilnehmer und die vielen verfehlten oder mißlungenen Gespräche, die sich aus ihr nahezu zwangsläufig ergeben, verstärken noch die Erfahrung der Vereinzelung und der Übermacht der ungezählten Fragen ohne Antwort, welche die meisten an ihrem Schreibtisch ohnehin täglich machen. Sogar die Debatte zwischen Lehrmeinungen — eine Form öffentlichen Dialogs, die für theoretische Erkenntnis und ihre Wirkung bekanntlich von erheblicher Wichtigkeit ist, — gerät auf Kongressen unter dem Mangel an Zeit und dem Zwang zu schnellem Effekt leicht in die Nähe bloßer Selbstdarstellung. Daraus geht weiterer Widerstand gegen die Veranstaltung hervor, die solche Situationen wahrscheinlich werden läßt. Es ist darum gut, sich über die Aufgaben zu verständigen, die ein philosophischer Kongreß dennoch erfüllen kann, um die Form, die man ihm gibt, an diesen Aufgaben zu orientieren. Sie müssen so weit wie denkbar entfernt angesetzt werden von den tradierten und den moderneren Formen, in denen sich Philosophie als solche kommunikativ verwirklicht. Für eine Zweckbestimmung von Kongressen und auch dieses Kongresses bietet einen sicheren Ausgangspunkt die Form des Arbeitskolloquiums. In ihm steht eine begrenzte Fragestellung zur Erörterung, in der sich verschiedene Arbeitsgänge aus unterschiedlichen Richtungen getroffen haben oder treffen sollten. Es bietet so die Möglichkeit, die Potentialität von Antworten zu erproben, und bringt verschiedene Zugangsweisen zu Problemen unter den Zwang, sich zu anderen, die sie zuvor ignoriert haben mögen, in Beziehung zu setzen. Auch für die Philosophie, die sich heute zu einem wichtigen Teil im Medium von historischen Rekonstruktionen und von Partialuntersuchungen entwickelt, in denen strenge Argumentation möglich ist, sind solche Kolloquien ein anerkanntes Arbeitsmittel. Unser Kongreß baut sich aus solchen Kolloquien als aus seinen Elementen auf. Die Tätigkeit der Internationalen Hegel-Vereinigung besteht ohnehin überwiegend im Angebot von Kolloquien. In der Regel sind sie nicht öffentlich und haben eine kleine Zahl von Teilnehmern, und zwar solche, die durch Publikationen zum Thema hervorgetreten sind. Zu einem öffentlichen Kongreß wird jeweils nach sechs Jahren eingeladen. Doch auch der Kongreß selbst ist diesmal so auf gebaut, daß seine Teilnehmer eine Serie von Forschungskolloquien verfolgen können. Viele von ihnen sind von ihren Leitern in eigener Verantwortung vorbereitet, wenn auch in Zusammenarbeit mit dem Vorstand der Vereinigung. Sie sind in einer Folge angekündigt, welche es den Kongreßteilnehmern möglich macht, keines der Kolloquien zu versäumen, deren Themen einander benachbart sind. Von drei verschiedenen Interessenlagen her lassen sich so aus den Kollo-

Grenzen und Ziele

5

quien drei verschiedene und in sich jeweils vollständige Programme für die Kongreßtage zusammenstellen. Dennoch ist der Kongreß etwas anderes als eine Kolloquien-Kollektion. Denn alle Kolloquien sind unter das Minimum des Zeitwertes abgekürzt, der solche Veranstaltungen unmittelbar produktiv werden läßt. Kolloquien müssen nämlich mindestens so lange währen, daß man die Überlegungen, die in ihnen vorgetragen werden, noch während sie andauern, verarbeiten und in Antworten umsetzen kann, die wenigstens vorläufig befriedigen. Solche konzentrierte Gelassenheit wird aber auch dieser Kongreß nicht erlauben. Das ist nur zu rechtfertigen, wenn andere Zwecke eine Reduktion der einzelnen Kolloquien geboten erscheinen lassen, die ihre Struktur verändert und sie sozusagen zu Skizzen von möglichen Kolloquien macht. Unter diesen Zwecken ist einer vor allen zu nennen: Wie immer man die Aufgabe der Philosophie bestimmt — in keinem Fall kann man sie auf die beschränken, deren Beruf die Lehre der Philosophie an den Universitäten ist. Sie kann auch nicht, wie etwa die Physik, den Menschen als solchen durch indirekte Wirkungen zugutekommen. Sie muß eine Einladung an jedermann und das heißt im Prinzip an alle sein, an ihr zu partizipieren und zur Verständigung über die Grundbedingungen unseres Wissens und unseres Lebens zu gelangen. Was immer ihre Mittel dazu sein mögen, sie kann sie am besten in der Form sichtbar machen, in der sie sich zuerst zu bewähren haben: In der Untersuchung, die noch nicht der anonymen Form des gedruckten Wortes überlassen worden ist, und in der freien Argumentation, die Perspektiven entwirft, ohne schon auf sie verpflichtet zu sein. Im übrigen teilen Stimme und Gestus eines Theoretikers nicht selten Implikationen mit, die kaum je ausgesprochen werden würden. Von ihnen kann aber sehr wohl der Grad des Vertrauens abhängen, den eine theoretische Einstellung gerade in der Philosophie gewinnt, in der die Vielzahl der Einsätze zur drastischen Begrenzung der Studienquellen und der Erkenntniswege zwingt. Kongresse zeigen also Positionen in den Horizonten ihrer teils theoretischen, teils auch persönlichen Motivation. Ein philosophischer Kongreß muß demnach auch anders verfaßt sein als die Kongresse von Berufsorganisationen, in denen neue Erkenntnisse und Verfahren mitgeteilt werden, die für die Berufspraxis relevant sind. Er muß für möglichst viele Gelegenheit geben, zumindest als Beobachter an der Ausbildung und der Erprobung von Argumentationen teilzunehmen — und zwar in Konstellationen von Vortragenden, die auch für diese selbst bedeutsam sind, — in Konstellationen also, die sich von der Situation akademischen Unterrichts ebenso wie von der publizierten Mitteilung

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DIETER HENRICH

eines Autors unterscheiden. Eine solche Gelegenheit kann in gleichem Umfang keine andere Veranstaltung geben. Und darum müssen solche Kongresse öffentlich und zugänglich für eine möglichst große Zahl von Interessierten sein. Sie dürfen auch keinesfalls, wie es oft geschieht, das spontan gesprochene Wort durch eine zu dichte Folge von Vorträgen erdrücken. Wir freuen uns, daß neben vielen Studenten und Lehrern an Gymnasien auch viele Mäimer und Frauen nach Stuttgart gekommen sind, die in ganz anderen Berufen aus einem theoretischen Interesse heraus wirken, das sie selbst als philosophisch verstehen. Man weiß, daß Kongresse für die Jüngeren auch die Bedeutung haben, sich bekannt machen rmd die eigenen Kräfte mit denen anderer vergleichen zu können, — daß sie also für sie so etwas wie eine Kombination von Markt imd Arena sind. Es gibt keinen Grund, über diesen Aspekt, der schließlich auch ein Mittel zur Minderung von Selbsttäuschungen ist, gering zu denken. In einem öffentlichen Kongreß ist er aber dem Interesse daran unterzuordnen, einige für die Lage der philosophischen Theorie bedeutsame Fragestellungen für einen großen Kreis von Interessierten möglichst lebendig zu vergegenwärtigen. Kongresse sind nun allerdings auch Veranstaltungen, welche allgemeine Aufmerksamkeit auf sich ziehen, und sie zeigen deshalb zumeist eine erhebliche Komponente an Repräsentation. Der Philosophie kann es nicht unwillkommen sein, wenn sie Gelegenheit hat, unscharfe und verzogene Bilder zu korrigieren, die von ihr stets im Umlauf sind. Erfolg wird sie dabei aber nur haben, wenn sie ihre Sache ohne Umschweif zu Wort bringt rmd folglich auf zeremonielle Handlungen verzichtet. Wir haben deshalb, obgleich dieser Kongreß auch als eine Jubiläumsveranstaltung aufgefaßt werden kann, alles Feierliche beiseite gelassen und ohne Präludium bereits mit der Arbeit begonnen. Dieser Abend soll nun Gelegenheit geben zur Verständigung über den Kongreß und zu einem Willkommen für seine Teilnehmer. Im übrigen ist ein Teil seines Programmes für eine philosophisch interessierte Öffentlichkeit.

II Daß der Kongreß in das Jahr von SCHELLINGS zweihundertstem Geburtstag fällt, ist ein Zufall des Kalenders, keine besondere Absicht der Veranstalter. Indes legte es dieser Zufall nahe, eine Möglichkeit zu ergreifen, die andernfalls vielleicht nicht einmal erwogen worden wäre.

Grenzen und Ziele

7

Die kurze Periode des sogenannten spekulativen Idealismus hat die Erwartungen, welche eine philosophische Theorie erwecken kann, auf ihren höchsten denkbaren Stand emporgehoben. Philosophie hat ohnehin die Absicht, zwischen einem Erkenntnisbegriff, einer Weltdeutung und der Selbstinterpretation der Erfahrungen eines bewußten Lebens einen begründeten Zusammenhang herzustellen. Im Idealismus wurde dieses Programm zu dem einer philosophischen Universalwissenschaft gesteigert. In einem einzigen Begründungsgang sollten alle Phänomene der Natur und des aus Naturbedingungen freigesetzten Bewußtseins als Variationen und Entwicklungen einer Grundfigur gefaßt werden. Sie läßt sich formal beschreiben und sie bestimmt den Begriff der Methode, der die philosophische Wissenschaft folgt. Gleichermaßen ist in ihr aber auch das einzig und eigentlich Wirkliche und der vollständige Grund endlicher Dinge gedacht, die nur bestehen, insofern sie unwegdenkbares Element des in diesem Einen mitgedachten Entwicklimgsganges sind. Stellt man dieses Programm so ganz im Abstrakten vor, dann fällt zunächst seine Verwegenheit auf und darauf ein Mißverhältnis, das zwischen der Weite seines Anspruchs und den bescheideneren und beinahe althergekommenen Mitteln zu bestehen scheint, in denen sich das Programm artikuliert. So, wie es sich ankündigt, entzieht es sich der Verständlichkeit nicht. Es zieht nur Mißtrauen auf sich. Die Bedeutung, die ihm auch heute noch zuzumessen ist, und die Faszination, die ehedem für eine ganze Epoche von ihm ausging, ergeben sich aus der Weise, in der es durchgeführt worden ist. Das Programm verlangt, daß der Philosoph nicht nur über Sachverhalte spricht, die er als gegeben voraussetzt. Er muß sie so zum Thema machen, daß sie in der methodisch entwickelten Sprache originär zum Vorschein kommen, so daß sie nicht nur beschrieben oder erklärt, sondern in der wörtlichen Bedeutung von Hegels Formel „auf den Begriff gebracht" werden. Der Idealismus kann sein Programm, das auf formale Herleitung ausgeht, somit doch nur verwirklichen, wenn er zugleich die scheinbar ganz entgegengesetzte Forderung erfüllt, auf die JACOBI die Theorie und HöLDERLIN nach ihm die Dichtung verpflichten wollten: „Dasein zu offenbaren". Die Konkretion des Wirklichen ist nicht der dumpfe Widerstand, welchen es dem Verstehen leistet, sondern die jeweils nur ihm eigene Gestalt, welche die Philosophie gegen ein zum Klassifizieren neigendes Denken zum ersten Mal rein für sich und unversehrt vor Augen zu stellen hat. Vor allem Hegel ist dies in einem Maße gelungen, das zu Recht Staunen erregte. Schon seine formale Kunst bei der Ausarbeitung seiner Explikationsmittel in der Wissenschaft der Logik sind bisher von keiner

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DIETER HENRICH

Nachahmung erreicht und nicht einmal von einer Interpretation aufgeschlossen worden. Mehr noch gilt das für diejenige seiner Leistungen, von der die folgenreichsten Wirkungen ausgegangen sind: seine Analyse von Gesamtzuständen historischer Epochen, welche die Aufgabe, Produktionsund Lebensverhältnisse, Bewußtseinslagen und die Bedeutung von theoretischen und symbolischen Objektivationen einer Zeit als singulären Korrespondenzzusammenhang zu beschreiben, in einer Weise löst, die für alle absehbare Zeit vorbildlich bleiben wird. Dafür, daß Hegel in die Lage kam, seine kombinatorische Genialität zu verwirklichen, waren die Leistungen SCHELLINGS, seines jüngeren Freundes, notwendige Voraussetzungen. Man weiß, daß sich Hegel SCHELLINGS Leitung für nicht wenige Jahre untergeordnet hat. Als aber Hegels Werk hervortrat und SCHELLINGS Wirkung in dessen Kraftfeld zum Erliegen kam, war SCHELLING schon erneut im Nachdenken über die eigentliche Natur des von ihm selbst einst begründeten Begriffs vom philosophischen Wissen. Mit der späteren neuen Darstellung seiner Lehre, die er der Hegels entgegenstellen wollte, fand er sich zu einem gewissen Grade in Übereinstimmung mit der Kritik, die nach Hegels Tod von dessen eigenen Schülern gegen das Programm eines philosophischen Wissens ohne alle Voraussetzung gekehrt worden war: Sie meinten nun gleichermaßen, philosophische Theorie sei wesentlich von einer Bedingung abhängig, die in Begriffe gar nicht einzuholen sei, — für SCHELLING von der unausdenkbaren Wirklichkeit Gottes, für Hegels Schüler von der wirklichen Natur des Menschen, die nur in einem damit verstanden werden kann, daß sie sich auch in wirklicher Aktion befreit und vollendet. Der alte Spalt zwischen den Definitionen der Philosophie als einem konstruierenden oder als einem enthüllenden Wissen riß erneut auf. Und da er nun von dem Programm eines philosophischen Systems in seiner denkbar weitesten Ausdehnung seinen Ausgang nahm, stellte er auch die Möglichkeit einer Philosophie, die systematische Form hat, zum ersten Mal gänzlich in Frage. Was sich in der doppelten Beziehung Hegels auf SCHELLING eigentlich ereignet hat, ist das Thema etwa eines Drittels der Veranstaltungen dieses Kongresses. Wir hoffen, daß sie dazu helfen werden, ein Verständnis dieser wichtigen Epoche systematischer Philosophie zu fördern, das sich auch von den Formeln unabhängig macht, welche die Sprache und das Selbstverständnis der Idealisten selber anbieten. Im größeren Teil der Kolloquien ist aber die Frage gestellt, ob auch die gegenwärtige Philosophie eine systematische Form annehmen kann und welche Möglichkeiten einer solchen Form sich gegenwärtig auf sinnvolle Weise erwägen lassen.

Grenzen und Ziele

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III Das Wort ,System' ist alt und auch der alten Philosophie geläufig. In ihr meint es den Zusammenhang einer Menge von Dingen unter einem einheitsstiftenden Prinzip oder Zweck. In diesem Sinn kann die Welt als solche als ein System aufgefaßt werden. Auf das philosophische Wissen wurde das Wort erst seit dem 17. Jahrhundert angewandt. Das heißt aber nicht, daß die von ihm bezeichnete Sache gleichfalls modernen Ursprungs ist. Nur ihre Beschreibung und dazu das Maximalprogramm philosophischer Systematik, das für den Idealismus charakteristisch ist, setzen das Bewußtsein der Moderne voraus. Soll eine philosophische Theorie als philosophisches System beschrieben werden, so muß sie vier Voraussetzungen erfüllen: (i) Sie muß eigene Gegenstände haben und als Untersuchung autonom sein, also nicht nur Hilfsarbeit in anderen Erkenntniszusammenhängen leisten; (2) sie muß die für ihren Themenbereich grundlegenden Fragen beantworten; (3) in Beziehung auf diese Antworten muß sie einen Zusammenhang von Theoremen entwickeln, der Kriterien der Vollständigkeit genügt und in dem alle Theoreme zusammengenommen gewisse prinzipielle Theoreme bestätigen; (4) schließlich kann von systematischem Denken nur dann die Rede sein, wenn der Zusammenhang der Theoreme nach einer Methode erreicht wird, die sich formulieren und rechtfertigen läßt. Diese Beschreibung von philosophischer Systematik klingt wie ausgetrocknet — vor allem deshalb, weil sie von der Bedeutungskomponente von ,System' absieht, derzufolge ein System philosophisch nur dann ist, wenn es eine in sich einheitliche Welt- und Lebensorientierung anbietet. In den beiden letzten Jahrzehnten ist aber unter den Philosophen fast aller Länder und stärker noch in der an Philosophie interessierten Öffentlichkeit die Meinung zur Vorherrschaft gekommen, philosophische Aussagen von Bedeutung könnten überhaupt nur dann Zustandekommen, wenn der Gedanke philosophischer Systematik auch in seiner nur formalen Fassung zuvor verabschiedet worden ist. Diese Tendenz hat sich aus drei Quellen gespeist, von denen zwei aus Hegelischen Traditionen fließen: (a) HEIDEGGER hatte dem gegenwärtigen Denken die Eine Aufgabe gestellt, sich auf die ungedachten Voraussetzungen seiner eigenen Herkunft zu besinnen. Der Begriff des Systems selber schien ihm ein Indiz nachcartesianischer Gedanken- und Geschichtslosigkeit zu sein, (b) Im Anschluß an WITTGENSTEIN hat sich in der angelsächsischen Philosophie ein analytischer Partikularismus durchgesetzt. Er folgt aus der Meinung, philosophische Arbeit könne nur Beirrungen des Den-

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DIETER HENRICH

kens beseitigen, die aus falschen Bildern von der wirklichen Bedeutung von Wörtern in einem sprachlichen Handlungszusammenhang kommen. Die Philosophie kann deshalb keine systematische Form haben, weil sie von Verständigungsdefekten und dazu von Sprachhandlungen auszugehen hat, die beide tmübersehbar disparat sind und die unvorgreiflich auftreten. (c) Schließlich hat die Ideologienlehre, die — zum guten Teil aus Hegel — in der Gesellschaftstheorie entwickelt wurde, die Philosophie von der Reflexion auf ihren historischen Standort abhängig machen wollen — und zwar nicht nur als ein Mittel gegen Abhängigkeit von undurchschauten Interessenlagen, sondern ganz grundsätzlich: als Orientienmg über die unhintergehbaren Grundlagen eines angemessenen Bewußtseins von ihrer eigentlichen Aufgabe, welche eine Funktion sei es bestehender, sei es heraufkommender Lebensverhältnisse ist. Die drei Begründungen für die Unmöglichkeit philosophischer Systematik schließen einander wechselseitig aus. Alle Versuche, sie miteinander zu verschmelzen, sind töricht gewesen. Dennoch konvergierten sie auf in der Tat bedeutsame Weise in ihren Resultaten. Die Diagnose vom Ende der Philosophie als System schien somit unausweichlich zu sein. IV Zu Beginn sind viele Aufgaben genannt worden, die ein philosophischer Kongreß erfüllen könnte. Ihnen ist nun eine letzte hinzuzufügen: Durch das Programm, zu dem seine Veranstaltungen zusammentreten, kann eine Fragestellung zu allgemeinerem Bewußtsein kommen, die noch nicht aufgenommen wurde oder die für schon abgetan galt. Dadurch, daß Autoren verschiedener theoretischer Herkunft zu Vorträgen unter dieser Fragestellung eingeladen sind, kann es sogar zu einer koordinierten Reaktion auf eine solche Fragestellung kommen, die in einem kritischen Moment der Theorieentwicklung auch für diese Entwicklung selbst fruchtbar wird. Solche Wirkungen lassen sich aber nicht irdt genügender Sicherheit planen. Und die Hoffnungen, die auf diesen Kongreß gesetzt sind, müssen viel bescheidener formuliert werden. Es bleibt aber zu sagen, daß es unsere Absicht war, Möglichkeiten einer Philosophie, die systematische Verfasstmg hat, auch unter Bedingungen der Gegenwart zur Erörterung zu stellen. Dabei gehen wir von der Überzeugung aus, daß die Periode des philosophischen Partikularismus ebenso wie die des Historismus in der Philosophie bereits zu Ende gegangen ist. Die rmbestritten fruchtbaren theoretischen Perspektiven, die schon in ihrem Programm jeden Gedanken an

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eine Systematik hinter sich gelassen haben, sind nicht mehr die, von denen (oder von denen gar einzig) die überlegenen Einsichten ausgehen. In den letzten Jahren fiel mehr Licht auf Grundfragen und Grundsachverhalte in Untersuchungen, die systematische Absichten verfolgen. So sind denn in unserem Kongreß Vorträge von einigen Autoren zu hören, die in diesem Land zum ersten Mal zu Wort kommen. Sie haben — neben vielen anderen — Wichtiges dazu beigetragen, daß der analytische Partikularismus in der Nachfolge WITTGENSTEINS nicht mehr länger als charakteristisdi für die analytische Philosophie der Angelsachsen gelten kann. In anderen Vorträgen und Kolloquien werden Theorieentwürfe zur Diskussion gestellt, die in der Thematik oder der Methode den Programmen des konstruktiven Idealismus näher verwandt sind. Ein weiteres Kolloquium steht unter der Frage, ob die klassische Methode des Idealismus, die ,Dialektik' heißt, noch als ein Mittel systematischer Untersuchungen zugelassen werden darf. In der Zeit nach Hegel galt es bekanntlich entweder nur als ein Arsenal sophistischer Täuschungen oder aber als das einzig legitime Verfahren einer in ihrem Wesen systemfeindlichen Philosophie. Auf zwei andere Kolloquien sei noch besonders hingewiesen: Aus der Nachgeschichte des Idealismus ist die Gesellschaftstheorie als Konkurrent der Philosophie um die Stellung einer Universalwissenschaft hervorgegangen. Die Nachfolge der Philosophie kann sie aber nur in der Weise an treten, daß sie zugleich charakteristische Züge philosophischer Theoriebildung übernimmt. In der soziologischen Systemtheorie sind sie heute am deutlichsten zu erkennen. Nicht ihr Name, der sie mehr zufällig unter das Generalthema des Kongresses bringt, als vielmehr daß sie mit der Philosophie so eigentümliche Struktureigenschaften wie etwa die der Selbstbezüglichkeit teilt, macht es reizvoll, ihr Verhältnis zu philosophischen Untersuchungen grundsätzlich aufzuklären. Auch der historische Materialismus ist über seinen Entwicklungsuniversalismus und seine Ideologienlehre für viele zum Nachfolger der Philosophie und zumal der Hegelischen geworden. Es ist zu fragen, ob er in neuer Formulierung Untersuchungen zuläßt — etwa sprachtheoretische —, welche genuin philosophisch sind und sogar auf systematisches Philosophieren hinauslaufen, — imd ob er diese Untersuchungen in sich einbegreift oder vielmehr voraussetzt. Solche Fragen, die hier nur angedeutet sind, liegen der Planung zweier Kolloquien mit gesellschaftstheoretischen Themen zugrunde. Für viele werden diese Kolloquien aber auch aus anderen Gründen anziehend sein: Ohne sich ins Verhältnis zur Theorie der Gesellschaft zu setzen, kann

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Philosophie heute nicht mehr auf die Aufgaben bezogen bleiben, derentwegen sie zur Zeit ROUSSEAUS und KANTS, SCHELLINGS imd Hegels als eine Theorie im Dienst der Freiheit und damit als eine Theorie um willen des höchsten Interesses der Menschheit auch die höchste Begeisterung erweckt hatte. Unser Kongreß konnte einen so weit gespannten Rahmen nicht kompetent ausfüllen, ohne die Mittel zu erhalten, seine aktiven Teilnehmer auch über weite Entfernungen hinweg zusammenzubringen. Für großzügige Förderung danke ich vor allem dieser Stadt, die Hegels Geburtsstadt ist, und dem Land Baden/Württemberg. Sie sind heute Abend durch Kultusminister HAHN und Oberbürgermeister ROMMEL vertreten, die ich hiermit begrüße und die bald zu Ihnen sprechen werden. Für weitere Mittel danken wir der Deutschen Forschungsgemeinschaft, dem Auswärtigen Amt und dem Deutschen Akademischen Austauschdienst, sowie der Bayerischen und der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, die ebenso wie die Stadt Stuttgart Mitveranstalter dieses Kongresses sind. Unser Programm zeigt zwei Besonderheiten, auf die ich am Schluß Eingehen möchte: Unter den Vortragenden des Kongresses sind mehrere Mitglieder des Praxiskreises in Jugoslawien. Sie hatten ihre Zeitschrift einzustellen. So ist es uns Pflicht und Freude zugleich, daß sie bei uns zu Wort kommen können. Zum ersten Mal wirken an einem Kongreß der Internationalen HegelVereinigung auch Vortragende aus anderen sozialistischen Staaten Osteuropas als Jugoslawien und Rumänien mit. Wir hatten zwar gehofft, noch mehr von ihnen würden kommen können. Doch sind wir auch über das Erreichte froh. Uns trennen unvereinbare Überzeugungen über die Bedingungen, unter denen sich philosophische Lehre entfalten sollte. Nicht zuletzt haben wir auch verschiedene Begriffe vom eigentlichen Gehalt der Hegelschen Philosophie. Einig sind wir uns aber nun doch wohl darin, daß nichts den Streit der Argumente ersetzen kann und daß jeder von diesem Streit zu gewinnen hat. Die Waffen der Kritik treffen, — anders als die Kritik, die sich der Waffen bedient —, am besten dort, wo sie nicht verletzen wollen, — wo auch die notwendige Voraussetzung für sie, Verständnis für die Evidenzen und für sachliche Leistungen des Anderen, nicht in Frage stehen. Ich begrüße deshalb herzlich die Kollegen aus diesen sozialistischen Ländern, unter ihnen Mitglieder des Instituts für Philosophie an der Moskauer Akademie der Wissenschaften und anderer wissenschaftlicher Akademien und den Vorstand der Internationalen Hegel-Gesellschaft, die vor Jahresfrist ihren bedeutsamen Kongreß in Moskau veranstaltet hat: Unsere Vereinigung ist vor bald fünfzehn Jahren im Gegen-

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zug zu Ihrer Gesellschaft ins Leben getreten. Wir wissen zu schätzen, was Sie dazu beigetragen haben, daß wir nun dabei sind, die Beziehung öffentlicher Polemik und kooperationsloser Konkurrenz durch die Beziehung streitbarer, doch friedlicher Kooperation zu ersetzen. Die Vernunft, welche die politische Welt über ihre Spaltungen hinweg an der Selbstzerstörung hindert, muß auch die Vernunft derer sein, welche diese Welt im Namen Hegels im Gedanken fassen wollen. Und nun, meine Damen und Herren, begrüße ich Sie, die Teilnehmer des Kongresses aus mindestens fünfundzwanzig Ländern. Ich hoffe, daß die Erwartungen von uns nicht verfehlt worden sind, die Sie zur Reise zum Stuttgarter Hegelkongreß bewogen haben. Mehr als ein geringes und in manchem sogar ein problematisches Mittel, der Einsicht voranzuhelfen, kann ein philosophischer Kongreß nicht sein. Wir haben das uns Mögliche unternommen, daß er dennoch dahin wirken kann.

WALTER SCHULZ (TÜBINGEN)

PHILOSOPHIE ALS ABSOLUTES WISSEN Hegels Systembegriff und seine gesdiichtlidie Aufhebung Das Thema meines Referates lautet „Philosophie als absolutes Wissen. Hegels Systembegriff und seine geschichtliche Aufhebung". Zunächst sind einige historische Vorbemerkungen nötig, denn nur auf dem geschichtlichen Hintergrund ist ein Verständnis der Systemkonzeption Hegels möglich. Das System — darüber herrscht in der philosophiehistorischen Forschimg im großen und ganzen Einigkeit — ist innerhalb der abendländischen Philosophie erst in der neuzeitlichen Philosophie zur zentralen Leitidee geworden, denn in dieser wurden bestimmte Gnmdansätze herausgebildet, die für die Konstruktion eines philosophischen Systems als notwendig erschienen. Ich verweise kurz auf SPINOZA und LEIBNIZ. SPINOZAS Hauptwerk trägt den Titel Ethica more geometrico demonstrata. Die Bestimmung „mos geometricus" besagt, daß philosophisches Denken methodisdi geregelt Vorgehen muß, und zwar in der Weise, daß es von einem obersten, selbst nicht mehr bezweifelbaren Prinzip deduziert. Der für diese Systemkonstruktion entscheidende Grundsatz lautet: „Die Ordnung imd Verknüpfung der Ideen ist dieselbe wie die Ordnung und Verknüpfung der Dinge." An die Spitze seines Systems stellt SPINOZA die Bestimmung der causa sui; imter dieser versteht er dasjenige, dessen Wesen die Existenz einschließt, das also nicht von einem anderen abhängt. Die causa sui ist Gott. Von Gott her muß alles Seiende abgeleitet werden, auch der Mensch. Das Verhalten des Menschen ist nicht frei im Sinne der Willkür, denn auch der Mensch steht ja im Gesamt des Ordnungszusammenhanges. Er findet seine Erfüllung, wenn er diesen Zusammenhang durchschaut. Handeln und Erkennen bilden eine innige Einheit. Die höchste Form der actio ist der amor intellectualis dei. Die Liebe des Menschen zu Gott aber muß, weil der Mensch ja keine Selbständigkeit gegenüber Gott hat, von Gott her begriffen werden. SPINOZA erklärt, diese Liebe sei ein Teil der unendlichen Liebe, mit der Gott sich selbst liebt.

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hat diesen Gedanken einer Gesamtordnung des Seienden radikalisiert. Seine Gmndidee ist die Vorstellung, daß die Welt eine prästabilierte Harmonie darstellt, durch die die in sich und auf sich selbst konzentrierten Einzelseienden, die Monaden, aufeinander abgestimmt sind. Diese Ordnung beruht auf Gott. Gott ist die oberste Monade; der Träger der Ordnung steht also selbst obenan in der Ordmmg, sie repräsentierend. Gott ist allgütig und allweisa, das heißt, er hat die Welt in unübertrefflicher Weise programmiert, unsere Welt ist ja die beste aller Welten. Der Mensch kann diese Gesamtordnung nicht ganz durchschauen. Auf dem Nichtdurchschauen beruht seine sogenannte Freiheit. Wäre der Mensch allwissend, dann würde er ebenso vernünftig für sich selbst sein Leben einrichten, wie es jetzt Gott für ihn tut. Diese kurzen Erinnerungen an SPINOZA und LEIBNIZ zeigen ein Dreifaches. Zunächst: Das System ist die Gesamtordnung der Welt und der sie darstellenden Ideen. Sodann: An der Spitze des Systems steht ein oberstes Seins- und Denkprinzip. Das ist Gott. Drittens: Weil Welt die von Gott vorhergesebene Ordnung ist, ist Handeln als radikale Weltveränderung nicht möglich, aber auch nicht nötig, denn die Welt ist ja in Ordnung. Eine wesenthche Aufgabe der Philosophie ist daher die Theodizee, die Rechtfertigung der göttlichen Ordnung gegenüber den Unverständigen, die meinen, die Welt läge im argen. Es ist bekannt, daß KANT diesem klassischen Rationalismus gegenüber die Frage erhoben hat, worauf denn diese Konstruktion sich eigentlich stütze. In seinem eigenen Entwurf der Möglichkeit der Erkenntnis hat nun KANT die erste Voraussetzung des Systems, eben die Vorstellung, daß die Ordnung der Ideen und der Dinge dieselbe sei, fraglich gemacht. KANTS Lösung der Erkenntnisfrage besagt, daß die allgemeinen Grundgesetze der Ordnung, die Kategorien, auf dem Verstand, den KANT als absolute Einheit bestimmt, beruhen. Die besonderen Gesetze können aber nur durch die Erfahrung aufgefimden werden. Erfahrung ist auf sinnliche Gegebenheiten angewiesen, die der Verstand zu formen hat. Die Erfahrungserkenntnis ist ein nicht abschließbarer Prozeß. Bei KANT wird also die Idee einer Wissenschaft, die als Forschung nicht in einem System zur Endgültigkeit gelangt, vorbereitet, freilich nur vorbereitet, denn die Grundbegriffe, wie etwa die Kausalität, sind nach KANT als im Verstand begründet ein für allemal feststehend. Noch bedeutsamer für die Destruktion der neuzeitlichen klassischen Systemkonzeption ist KANTS Abtrennung der praktischen Philosophie von der theoretischen Philosophie. Die praktische Philosophie, die das Prinzip der Moral herausstellt, hat keine Erkenntnisfunktion; der Boden der Erfahnmg ist hier verlassen. Die praktische PhiLEIBNIZ

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losophie sagt dem Menschen^ wie er handeln soll. Sie versteht den Menschen als Glied einer höheren Welt, des Reiches der Zwecke. Wie nun aber das moralische Handeln in die Welt der Erscheinungen hineinwirken kann, das bleibt eine ungelöste Frage. Diesen praktischen Ansatz hat FICHTE durch eine kritische Besinnung auf die Ursprünge unserer Erkenntnis zu verbessern versucht. FICHTE erklärt: Unsere Erkenntnis ist ihrer Möglichkeit nach ganz und gar auf die Subjektivität zurückzuführen. Erkenntnis ist nicht nur der Form nach, wie KANT meint, sondern auch dem Inhalt nach von der Subjektivität her konstruierbar. Das zeigt die Wissenschaftslehre. An deren Anfang steht ein oberster Grundsatz, der deklariert, daß das Ich als unbedingte Tathandlung der Ursprung allen Wissens ist. Die Deduktionen der Wissenschaftslehre zeigen die vielfältigen Bezüge auf, in denen das Ich und sein Gegenpol, das Nicht-Ich, aufeinander verweisen. In der theoretischen Philosophie kann der Widerstreit von Ich und Nicht-Ich nicht bewältigt werden. Die theoretische Philosophie verweist daher auf die praktische Philosophie. Diese löst den Widerstreit durch einen Gewaltspruch: Das Ich soll sich als Ich in seiner Identität bewähren. Die Welt ist gar nichts anderes als das Feld dieser Bewährung. Sie ist, so sagt FICHTE, das versinnlichte Materiale der Pflicht. Die Schranken, die der Mensch im theoretischen Bezug des Erkermens als tmbegreiflich erfährt, sind unter dem Aspekt des praktischen Handelns sinnvoll. An ihnen bricht sich die vorwärtsdrängende Kraft und wird sich ihrer bewußt, so daß sie alles daran setzen kann, die Schranken zu überwinden. Die praktische Philosophie erhält für den frühen FICHTE also den Vorrang, weil sie das Problem der theoretischen Philosophie, das Begrenztsein des Ich durch ein Nicht-Ich, vom Handlungsprinzip her aufhebt. Der Sinn dieser sehr zusammengedrängten Vorbemerkungen war es, auf einige Grundzüge der neuzeitlichen klassischen Systemidee hinzuweisen: Die Welt ist ein geschlossenes Ordnungssystem, das als solches erkannt werden karm, weil die Ordnung der Ideen und der Dinge dieselbe ist. Diese Vorstellung wird durch KANT destruiert: Die Welt ist vom Aspekt der Erkenntnis her das Feld einer unabschließbaren Erfahrung, der praktisch-moralische Aspekt führt zwar über diese Welt der Erfahrung in das Reich der Zwecke hinaus; der Zusammenhang zwischen beiden Welten ist aber theoretisch nicht zu klären. FICHTE versucht, KANTS Ansatz zu verbessern. Das Ergebnis ist der subjektive Idealismus; das Ich ist das bestimmende Prinzip im Erkennen und vor allem im Handeln. Ich versuche mm zu zeigen, wie Hegel die Philosophie als absolutes System konstituiert, sowohl im Gegenzug zu der traditionellen Metaphy-

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sik als auch in der Form ihrer Aufhebung. Es können hier natürlich nur einige Grundzüge der Philosophie Hegels herausgearbeitet werden, vor allem soll die Phänomenologie des Geistes von 1807 behandelt werden. Zunächst zwei Vorbemerkungen oder besser: zwei thesenhafte Behauptungen. Hegel destruiert in allen seinen Überlegungen die Vorstellung, daß es ein Subjekt gibt, das vom Objekt getrennt seine Bezüge zum Objekt im vorhinein in sich selbst durch reine Selbstbesirmung klären könnte. Man will, geht man so vor, die Möglichkeit des Erkennens vor dem wirklichen Erkennen, das ja iimner ein Eingehen auf eine Sache ist, begreifen. Ob man nun aus dem Erkenntnisprozeß den Subjektpol oder den Objektpol heraushebt, um das Erkermtnisphänomen zu konstruieren, in beiden Fällen zerstört man den Prozeß, in dem sich Subjekt und Objekt miteinander und gegeneinander vermitteln. Dieser Prozeß, das heißt eben die gegenseitige Vermittlung von Subjekt und Objekt, wandelt sich. Das Erkennen zeigt sich in vielfältigen Ausformungen, die aber aufeinander verweisen und ein systematisches Ganzes bilden. Man erfaßt diese Systematik jedoch nur, wenn man eben nicht Subjekt und Objekt künstlich voneinander trennt und von einem Pol her das Erkennen undialektisch konstruiert. Ein solches Vorgehen ist ein Irrweg der Philosophie. Die zweite Vorbemerkung: Weil Hegel das Erkennen als einen Vermittlungsprozeß von Subjekt und Objekt versteht, weil Erkennen an ihm selbst dieser Vermittlungsprozeß ist, deswegen braucht er keine dritte Größe, etwa Gott, die das Subjekt und Objekt miteinander vermittelt. Einzig und allein in unserem Erkennen, in dessen lebendigem Vollzug, geschieht diese Vermittlung. Das besagt: Jeder Versuch, Hegels Philosophie als objektiven Idealismus im Sinne eines entwicklungsgeschichtlichen Pantheismus zu deuten, geht fehl. Diese Versuche sind immer noch an der Tagesordnung, vielleicht nicht ohne Schuld Hegels selbst, insofern Hegel ja eine ganze Galerie von Geistern aufführt. Da gibt es die Volksgeister, die mythologischen Vollzieher des Weltgeistes, wie ERNST BLOCH sagt, sodarm den Weltgeist selbst und schließlich den absoluten Geist. Diese Größen erscheinen als die hintergründig handelnden eigentlichen Akteure des Geschehens. Entscheidend bei dieser Auslegung ist die Vorstellung, daß der Philosoph immer hinterher, post festum, kommt, er hat den lebendigen Selbstvollzug des absoluten Geistes für sich in Gedanken zu wiederholen. Der Philosoph ist, wie MARX sagt, nur das Organ, in dem sich der absolute Geist, der die Geschichte macht, nach Ablauf der Bewegung nachträglich zum Bewußtsein kommt. Eine solche Auslegung verfehlt Hegels Idee des Erkennens. Hegel ist kein „narrativer Erzähler", der vom Werden der Welt als einem zu sich kommenden Gott berichtet. Hegel will die

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Welt, wie sie ist, in ihrer Struktur begreifen. Es geht ihm um das wirkliche Erkennen dessen, was in Wahrheit ist. Dies begreifende Erkennen unterstellt sich einer Hypothese, nämlich der Voraussetzung, daß in der Welt Vernunft ist. Diese Hypothese soll verifiziert werden, und das ist nur durch den Prozeß des Erkennens als einer Vermittlung möglich. Bevor wir uns nun der Phänomenologie des Geistes zuwenden, gebe ich einen Hinweis auf Hegels Frühioerk. Dieser Hinweis knüpft an die Vorbemerkungen an, die ich mit der Erwähnung FICHTES abschloß. Der frühe Hegel sucht den subjektiven Idealismus FICHTES ZU überwinden. Er nimmt im Streit zwischen FICHTE und SCHELLING für seinen Tübinger Jugendfreund gegen FICHTE Partei. Das zeigt seine Schrift Differenz des Pichte'sehen und Schelling'sehen Systems der Philosophie. SCHELLING hat sich in seinen philosophischen Entwürfen in der Zeit von 1794 bis 1800 sehr rasch gewandelt. Gegen FICHTE hat er das Recht der Natur verteidigt. Die Natur ist nicht die Domäne, die das Ich beherrschen soll, Natur ist bestimmt durch Selbstformung und Selbstorganisation und als solche Vorform des geistigen Gestaltens. Die Naturphilosophie aber erfordert nun eine neue Konzeption des Absoluten. Das Absolute muß ja die natürliche und die geistige Welt umgreifen, wenn es das wahrhafte Prinzip sein soll. Das Absolute ist als solches nach SCHELLING gegen die Unterschiede von Natur und Geist noch indifferent, oder besser: diese Gegensätze sind in ihm als dem umgreifenden Prinzip noch identisch. Es ist nun interessant zu sehen, wie Hegel diese Gedanken der Indifferenz und der Identität aufnimmt, aber zugleich verändert. Hegel erklärt, daß der absolute Indifferenzpunkt das Subjekt und das Objekt in sich schließt, beide gebiert und sich aus beiden gebiert. Die Philosophie muß dementsprechend der Trennung von Natur und Geist ihr Recht widerfahren lassen und zugleich diese Trennung als nur relativ erkennen und sie vernichten. Das besagt: Im Absoluten ist Entgegensetzung und Einheit anzusetzen, das Absolute ist — hier fällt die berühmte Formel — zu bestimmen als Identität der Identität und der Nichtidentität. Das Absolute ist also eine Einheit, aber keine abstrakte Einheit, sondern die Einheit der Vermittlung. Vermittlung des Absoluten aber geschieht einzig und allein im Denken und als Denken. Das will der Freund SCHELLING eben nicht wahrhaben. SCHELLING sucht das Absolute von allen Unterscheidungen — und Denken ist ja Unterscheiden — frei zu bewahren. Mit einem solchen Absoluten ist aber nichts anzufangen. Man kann sich an ihm nur in der Form der Erbauung begeistern, Erbauung aber hat mit Philosophie nichts zu tun, denn Philosophie ist Denken. Denken, Reflexion und Vermitteln gehören zusammen. Die Reflexion ist immer negativ —

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zersetzend — und positiv — verbindend — zugleich, und Vermitteln bedeutet ebenso Trennen wie Vereinen. Die Vermittlung aber vollzieht sich immer als Vermittlung einer Sache. Nicht das Denken, etwa als subjektives Vermögen, soll gedacht werden, sondern im Denken soll eine Sache begriffen werden. Wenn man sich diese Natur des Denkens klargemacht hat, besser: wenn man sich ihr freigegeben hat, dann zeigt sich die Künstlichkeit der Philosophie der Subjektivität, die den Sachbezug einklammert und die Selbstverständlichkeit des „Ich denke" zum philosophischen Prinzip erheben und vom Ich her das Seiende konstruieren will. Demgegenüber gilt es, die Sache selbst begreifend zu durchdenken. Was ist nun „die Sache selbst"? Die Sache selbst ist das Vernünftigsein und Vernünftigwerden der Welt. Und die Philosophie hat die Aufgabe, diese Vernunft zu begreifen, nicht in der Weise, daß sie hier und dort Vernunft äußerlich konstatiert, sondern daß sie herausarbeitet, daß Welt und Vernunft sich gegenseitig durchdringen. Die Gestalt aber, in der sich die Vernunft selbst in diesem Tun zu Begriffe bringt, ist das wissenschaftliche System. Hegel erklärt: „Die wahre Gestalt, in welcher die Wahrheit existiert, kann allein das wissenschaftliche System derselben sein. Daran mitzuarbeiten, daß die Philosophie der Form der Wissenschaft näher komme, — dem Ziele, ihren Namen der Liebe zum Wissen ablegen zu können und wirkliches Wissen zu sein, — ist es, was ich mir vorgesetzt." ^ Zu diesem Standpunkt der Wissenschaft will die Phänomenologie des Geistes das natürliche Bewußtsein hinführen. Diese Hinführung geschieht als Destruktion der Vorurteile, die das natürliche Bewußtsein hat. Dies negative Tun aber ist identisch mit dem Aufstieg zum Standort des absoluten Wissens. Das natürliche Bewußtsein und das wissenschaftliche Bewußtsein des Philosophen — sagen wir ruhig: Herrn Hegels in Jena — sind Gegensätze, als solche aber gerade aufeinander verwiesen. Das natürliche Bewußtsein hat es aber durchaus schwerer als der Philosoph. Es muß bereit sein, die Erfahrung, die es macht, das heißt die Destruktion seiner Vorurteile, durchzustehen. Diese Erfahrungen vollziehen sich als eine Stufenfolge von Bewußtseinsgestalten. Die Abfolge durchschaut das natürliche Bewußtsein nicht; sie passiert ihm gleichsam, der neue Standpunkt stellt sich nach der Destruktion des vorhergehenden wie von selbst ein. Nur der Philosoph durchschaut den Weg des Bewußtseins als einen sinnvollen Prozeß. * Hegel: Phänomenologie des Geistes. Hrsg, von J. Hoffmeister. 6. Aufl. Hamburg

1952. 12.

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Am Anfang des Weges wird vom natürlichen Bewußtsein nur ein Einziges gefordert: es muß bereit sein, bei der Frage mitzumachen: Was ist das Absolute? Wenn das natürliche Bewußtsein sich für eine solche Frage grundsätzlich nicht interessiert und freigibt, dann kann ihm Hegel nicht zur Wahrheit verhelfen. Ich muß hier aber anmerken, daß die Frage: Was ist das Absolute? sicher zu spekulativ belastet klingt; besser ist vielleicht eine lockere Form, etwa: Was ist sicher, gewiß, nicht zu bezweifeln, selbstverständlich und anerkannt? Wenn das natürliche Bewußtsein auf diese Frage antwortet, und in der Phänomenologie des Geistes tut es dies ja — es vertraut sich der Wissenschaft an und versucht „auch einmal auf dem Kopfe zu gehen" ^ —, also wenn das natürliche Bewußtsein sich auf den Weg begibt, dann verstrickt es sich in Widersprüche. Dieses Verstricken in Widersprüche führt aber zur Negation seiner Vorurteile und ist eben der Aufstieg zum wahren Wissen. Wir können diesen Gang des Bewußtseins hier natürlich nicht im einzelnen thematisieren. Sein Sinn ist es, eine Umkehrung, eine Bekehrung des Bewußtseins herbeizuführen. Es soll gezeigt werden, daß das, was wir alle als Vertreter des natürlichen Bewußtseins für sicher halten, gerade nicht sicher ist, und daß das, was wir alle für unsicher halten — modern formuliert: die sogenannten weltanschaulichen Bereiche, Religion und Philosophie — weit sicherer ist. Ich deute den Weg, das heißt die Erfahrung des Bewußtseins, in groben Zügen an. Das natürliche Bewußtsein bewegt sich — reflexionstheoretisch gesagt — in der Subjekt-Objekt-Schematik, aber in der Weise des Von-Sich-Weg in Richtung auf das Objektive. Das Objektive ist das sinnlich hier und jetzt Sich-Zeigende. Das Sinnliche scheint absolut sicher zu sein. Aber Hegel legt dar, daß die sinnliche Gewißheit keine wirkliche Gewißheit ist. Das Objekt ist ebenso subjektiv bedingt, wie umgekehrt das Subjekt vom Objekt bestimmt ist. Die sinnliche Gewißheit ist nicht vorurteilsfreie Aufnahme. Sie ist vom theoretischen Gewißheitsgrad her beurteilt ein abstraktes Konstrukt. In Wahrheit habe ich es nie mit bloß Seiendem, das sich den Sinnen darbietet, zu tun, sondern mit Dingen, die ich wahrnehme. Das heißt: Die Wahrnehmung ist grundgebender als die sinnliche Gewißheit. Auch die Wahrnehmung von Dingen, die nun thematisiert wird, ist als absolute Gewißheit aber nicht zu halten. Bei der Wahrnehmung ist nämlich der Verstand schon immer am Werk, der das Ding von seinem Inneren her als Kraftzentrum versteht. * Ebd. 25.

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Der Sinn und der Zweck dieser Bewegung ist der Rückgang in den Grund oder, frei vom Text formuliert: die Thematisierung des zuvor nur mitgedachten Horizontes als des Umfassenderen und Wesentlicheren. Dieser Gang ist aber keine Art Induktion, die spätere Stufe kann nicht unmittelbar aus der früheren erschlossen werden. Der Aufstieg ist von Hegel offensichtlich mit einer Portion Ironie ausgedacht. Das Bewußtsein erkennt mit gewissem Erschrecken, aber auch mit gewissem Erstaunen, daß die Welt nicht nur anders ist, als es von seinem begrenzten Horizont her zunächst vermeint, sondern auch und vor allem sehr viel reicher, als es zuerst geglaubt hat. Im Beispiel: Wenn Hegel aus der Dimension des Bewußtseins in die Dimension des Selbstbewußtseins übergeht, dann besagt dies auch und vor allem: Welthaftes Verhalten ist nicht nur und nicht einmal primär als Bezug eines Subjektes zu einem Ding zu verstehen, sondern welthaftes Verhalten ist auch mitmenschlicher Bezug. Hier tut sich aber eine neue Dialektik auf, von der die traditionelle Erkenntnistheorie keine Ahnung hat, insofern sie immer nur das commercium von Subjekt und Ding thematisiert. Diese Dialektik — es ist die Dialektik des Anerkennens — ist durchaus existentiell; hier vollzieht sich ein Kampf auf Leben und Tod. Aber Hegel hat nun nicht die Absicht, bei dem Bereich der Interaktion als einem besonders interessanten Forschungsbereich stehenzubleiben. Auch diese Dimension wird überschritten. Der folgende Abschnitt untersucht die Vernunft in ihrem Bezug zur Welt. Das Bewußtsein beobachtet zunächst, wie sich Vernünftigkeit in der Natur offenbart, und es wird sodann die Vernunft im menschlichen Bereich herausgearbeitet in ihren vielfältigen Formen bis zur gesetzgebenden und gesetzprüfenden Vernunft. Entscheidend ist aber, daß in allen diesen Ausführungen die Vernunft immer nur als zwar maßgebende und formende, aber gleichwohl nur konstatierbare Größe verstanden wird. Eine solche Bestimmung der Vernunft kann Hegel nicht genügen, denn es geht ihm — um es noch einmal zu sagen — um die gegenseitige Vermittlung von Vernunft und Welt, das heißt um die Vernunft, die, wie Hegel lichtvoll formuliert „sich ihrer selbst als ihrer Welt, und der Welt als ihrer selbst bewußt ist" ®. Diese soeben zitierten Worte sind dem ersten Satz des Abschnittes entnommen, der Der Geist überschrieben ist. Dieser Abschnitt folgt auf den Abschnitt Vernunft. Geist ist nicht konstatierbare Strukturiertheit, sondern Geist ist um sich wissende Vermittlung. Zum Geist gehört Selbst» Ebd. 313.

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bewußtheit. Als erste Gestalt des Geistes thematisiert Hegel die sittliche Welt. In der Sittlichkeit sind die Sitte als tragende Substanz und das Selbstbewußtsein immer schon lebendig miteinander vereint. Das eine Moment ist ohne das andere gar nicht möglich. Hegel hat diese Bestimmung der Sittlichkeit in seinen Crundlinien der Philosophie des Rechts wiederholt: Die Sittlichkeit ist das lebendige Gute, das durch das Selbstbewußtsein sein Wissen, Wollen und seine Verwirklichung findet, aber in der Weise, daß dieses Selbstbewußtsein am sittlichen Sein seine Grundlage hat. * Wir müssen die nun folgenden Stufen übergehen und thematisieren sogleich die letzte Stufe, die Das Absolute Wissen überschrieben ist. Diese Stufe folgt auf die Erörterung der offenbaren Religion. Der Religion, insbesondere der christlichen Religion, kommt ein ganz außerordentlicher Rang zu, weil hier das Leben Gottes als Entäußerung und Entfremdung dargestellt wird, das heißt als Arbeit des Negativen, durch die Entfremdung gesetzt und aufgehoben wird. In Gott werden Wesensstrukturen des Geistes, insofern dieser Vermittlung des Anderen im Sinne eines aneignenden Durchdringens ist, vorstellig. Aber die Religion bleibt eben als Weise der Vorstellung auf Einzelheit bezogen. Die Erhebung zum Begriff, das heißt die Erhebung zum Allgemeinen, geschieht nur in der Wissenschaft. Es ist klar: Die Wissenschaft ist eine besondere Gestalt des Geistes — eine besondere Institution, würden wir sagen —, aber die Wissenschaft vermag die ihr vorausgehenden Bewußtseinseinstellungen als Momente einer Bewegung zu begreifen, die das Bewußtsein durchlaufen muß, um sich als absolutes Wissen zu konstituieren. Die Wissenschaft ist die letzte Gestalt des Geistes. „Diese letzte Gestalt des Geistes, der Geist, der seinem vollständigen und wahren Inhalte zugleich die Form des Selbsts gibt, und dadurch seinen Begriff ebenso realisiert, als er in dieser Realisierung in seinem Begriffe bleibt, ist das absolute Wissen; es ist der sich in Geistsgestalt wissende Geist oder das begreifende Wissen.” ® Hegel spricht von der Wissenschaft als dem Äther, in dem der Geist lebt: „Indem also der Geist den Begriff gewonnen, entfaltet er das Dasein und Bewegung in diesem Äther seines Lebens, und ist Wissenschaft.” ® Die Wissenschaft aber ist die Art und Weise, in der der absolute Geist existiert. Der absolute Geist kommt nicht außerhalb des Wissens * Hegel; Crundlinien der Philosophie des Rechts. Hrsg, von J. Hoffmeister. 4. Aufl. Hamburg 1955. 132. ® Phän. 556. « Ebd. 562.

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vor. Der absolute Geist ist nichts anderes als das absolute Wissen, das sich im System, der sich wissenden Wahrheit, vollendet. Blicken wir nun noch einmal von dieser Konzeption Hegels her auf die klassische Metaphysik zurück. Diese beruhte, so sahen wir, auf der Behauptung, daß die Ordnung der Ideen und der Dinge dieselbe sei, und daß die Welt sich als ein geschlossenes Ganzes darstelle, das nicht veränderungsbedürftig sei. Hegel greift auf den Ansatz dieser klassischen Metaphysik zurück, aber er sucht ihn, und zwar in einer vollkommen neuen Form, zu erweisen. Daß die Ordnung der Ideen und des Seienden dieselbe ist, dies wird nicht auf eine das Objekt und das Subjekt übergreifende dritte Größe zurückgeführt. Das systematische Denken durchdringt vielmehr die Welt als das scheinbar Fremde. Und dieses Selb st erkennen im Anderssein ist die einzige Möglichkeit, die Vernünftigkeit des Seins zu erweisen. Hegel geht es darum, die Welt als ganze ihrer Struktur nach in formaler Hinsicht und ihrem Realitätsgehalt nach in inhaltlicher Hinsicht auf den Begriff zu bringen. Dieser Aufgabe unterstellt sich das System, wie es Hegel nach der Phänomenologie des Geistes konzipiert hat, und wie es uns insbesondere in der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften (1817) vorliegt. Die Probleme, ob und wie sich diese spätere Gestalt des Systementwurfes von der Phänomenologie des Geistes unterscheidet — Probleme, denen die Hegelforschung seit jeher mit Recht nachgegangen ist — müssen hier offen gelassen werden, wir verdeutlichen nur kurz die Struktur dieses späteren Systemaufbaus. Das System gliedert sich, äußerlich betrachtet, in die Logik und die Realphilosophie und diese wiederum in Naturphilosophie und Philosophie des Geistes. Die Logik zeigt unabhängig von der Scheidung in Subjekt und Objekt die reinen Bestimmungen des Denkens. Hegel sagt ausdrücklich, das Denken würde hier nicht als bloß formales Denken betrachtet, zu dem ein Inhalt äußerlich dazugebracht werden könnte. Das Denken wird vielmehr thematisiert „als die sich entwickelnde Totalität seiner eigentümlichen Bestimmungen und Gesetze" Als diese Totalität ist es das Wahre, das heißt, es enthüllt das Wesentliche und Innere einer Sache. „Die Logik fällt daher", so heißt es in § 24 der Enzyklopädie, „mit der Metaphysik zusammen, der Wissenschaft der Dinge in Gedanken gefaßt, welche dafür galten, die Wesenheiten der Dinge auszudrücken." ® Hegel ’’ Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. Hrsg, von F. Nicolin und O. Pöggeler. 7. Aufl. Hamburg 1969. 53. 8 Ebd. 58.

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erläutert diese Konzeption, indem er von „objektiven Gedanken" redet. Er merkt ausdrücklich an, daß dieser Ausdruck „objektive Gedanken" ungewöhnlich sei. In diesem Zusammenhang heißt es; „Daß Verstand, Vernunft in der Welt ist, sagt dasselbe, was der Ausdruck ,objektiver Gedanke' enthält. Dieser Ausdruck ist aber eben darum unbequem, weil Gedanke zu gewöhnlich nur als dem Geiste, dem Bewußtsein angehörig und das Objektive ebenso zunächst nur von Ungeistigem gebraucht wird." ® Gerade diese Vorstellung, Gedanken seien bloß subjektiv, wird in der Logik negiert. Hegel fährt nach dem soeben Zitierten fort: „Der Ausdruck von objektiven Gedanken bezeichnet die Wahrheit, welche der absolute Gegenstand, nicht bloß das Ziel der Philosophie sein soll." Die auf die Logik folgende Realphilosophie geht der Aufgabe nach, von der Logik als der grundgebenden Wissenschaft her die Vernunft in den vielfältigen Formen des Seienden zu begreifen. Dies Begreifen findet seine Vollendung in der höchsten Stufe der Philosophie des Geistes, nämlich in der Philosophie selbst. In der Philosophie weiß sich die Wahrheit. „Dieser Begriff der Philosophie ist die sich denkende Idee, die wissende Wahrheit, das Logische mit der Bedeutung, daß es die im konkreten Inhalte als in seiner Wirklichkeit bewährte Allgemeinheit ist. Die Wissenschaft ist auf diese Weise in ihren Anfang zurückgegangen, und das Logische so ihr Resultat als das Geistige .. ." Das System ist abgeschlossen: Der Begriff ist durch die beiden Erscheinungen, Natur und Geschichte, vermittelt und solchermaßen seiner Unmittelbarkeit beraubt. Und ebenso ist die Erscheinung durch den Begriff in ihre Wesenhaftigkeit erhoben. Beides, Vermittlung des Begriffes durch die Erscheinung und Vermittltmg der Erscheinung durch den Begriff, aber ist identisch. Nur mit wenigen Worten sei vom Aspekt der Handlung her auf die modifizierte Wiederaufnahme der klassischen Metaphysik in Hegels System hingewiesen. Diese klassische Metaphysik schloß die Möglichkeit und die Notwendigkeit eines weltverändernden Handelns aus. KANT, aber vor allem FICHTE sahen es dagegen als Aufgabe an, die Vernunft in der Welt allererst durchzusetzen. Hegel hat sich gegen ein solches Vorhaben immer wieder mit Entschiedenheit ausgesprochen. Man verkenne solchermaßen die Macht der Idee, die Idee sei nicht so ohnmächtig, „um nur zu sollen und nicht wirklich zu sein" heißt es in der Enzyklopädie. » Ebd. 58. »» Ebd. 58. Ebd. 462. « Ebd. 39.

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Eine für diese Konzeption sehr aufschlußreiche Argumentation findet sich in den Schlußabschnitten der Wissenschaft der Logik. Unter der Idee des Erkennens handelt Hegel die Idee des Wahren und sodann die Idee des Guten ab. Hegel charakterisiert zunächst mit verdeckter Ironie die übliche von der moralischen Forderung her konzipierte Forderung des Guten. Das Gute ist das innerlich Gewußte und Gesollte, ihm gegenüber steht das äußere Sein, die objektive Welt, diese ist nicht gut. Es stehen sich also zwei Welten gegenüber, „die eine ein Reich der Subjektivität in den reinen Räumen des durchsichtigen Gedankens, die andere ein Reich der Objektivität in dem Elemente einer äußerlich mannigfaltigen Wirklichkeit, die ein unaufgeschlossenes Reich der Finsternis ist". Dieser Dualismus soll überwunden werden durch die Verwirklichung des Guten. Aber diese Verwirklichung ist nicht problemlos. Das Gute erscheint als der subjektive Zweck, der konkret nur ist als und in der Bestimmtheit der Besonderung. Hegel schildert ausführlich die Schwierigkeit einer Weltverbesserung und erklärt abschließend, daß der moralisch Handelnde sich selbst im Wege stände. Er muß die ihn leitende Voraussetzung korrigieren, daß das Gute als solches erst durch ihn zu setzen sei. Diese Voraussetzung aber wird aufgehoben, wenn man begreift, daß die Ausführung des Guten nichts anderes sein kann als das Erfassen der wahrhaft seienden Objektivität, die als solche gar nicht hergestellt werden muß, weil sie schon existiert. Das Handeln wird auf das Erkennen zurückgeführt, und zwar auf ein Erkennen, das begreift, daß die Vorgefundene Wirklichkeit als der ausgeführte absolute Zweck bestimmt ist. Als solche ist sie die „objektive Welt, deren innerer Grund und wirkliches Bestehen der Begriff ist. Dies ist die absolute Idee." Das besagt aber: Hegel wiederholt die Konzeption der klassischen Metaphysik, die das Handeln im Erkennen fundiert und fundieren karm, weil die Welt im Grunde doch schon durch Vernunft bestimmt ist. Das System Hegels gehört der Vergangenheit an. Es ist als ganzes nicht wiederholbar. Fragt man nach dem Grund, so ist die Antwort relativ einfach: Wir sind nicht mehr von der Überzeugung geleitet, daß die Welt ein abgeschlossenes Ganzes sei, dessen Vernünftigkeit wir beweisen können, indem wir es in seinen uns vorgegebenen Strukturzusammenhängen zu Begriffe bringen. Mit der Aufgabe des Systemgedankens im Sinne Hegels treten nun aber zwei Grundprobleme in den Vordergrund, die Hegel in seinem SyHegel: Wissenschaft der Logik. Hrsg, von G. Lassen. Hamburg 1969. Bd 2. 480.

“ Ebd. 483.

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Stern gelöst zu haben glaubte, das Subjekt-Objekt-Problem und das Handlungsproblem. Beide Probleme gehören zusammen. Subjekt tmd Objekt — diese Vorstellung wird nun maßgebend — sind nicht im ausgewogenen Verhältnis miteinander und durcheinander vermittelt. Ihr Bezug ist nicht durch Harmonie, sondern wesentlich durch Disharmonie bestimmt. Subjekt und Objekt können dabei sehr verschiedenartig bestimmt sein. Das Objekt kann die Natur, die Gesellschaft, aber auch ich selbst als Triebschicht im Gegensatz zum bewußten Ich sein. Entscheidend ist in allen Fällen, daß nun das Handeln zur Grundbestimmung wird, genauer: als unbedingte Notwendigkeit erscheint, und zwar ein Handeln, das nicht mehr von der erkennenden Einsicht in die Weltzusammenhänge geleitet wird. Das Problem des Bezuges zwischen Subjekt und Objekt und das Problem der Handlung sind Schlüsselprobleme für die nachidealistische Situation. Beide Probleme sind auch für uns noch bestimmend — auch wenn wir aufgrund unseres formalistischen Denkansatzes den Zusammenhang der Subjekt-Ob jekt-Problematik mit der Handlungsproblematik zumeist nicht thematisieren. Das spätere 19. Jahrhundert ist das Jahrhundert der Desillusionierung, des Ideologieverdachtes, der Destruktion der Metaphysik des Geistes. Die Grundansichten der nun maßgebenden Denker sind bekannt, und ich beschränke mich auf einige Andeutungen, die lediglich den Zusammenhang der Problematik des Subjekt-Objekt-Bezuges und der Handlungsdimension mit der Negation des Systemgedankens heraussteilen. KIERKEGAARD bringt den nominalistischen Einwand gegen das philosophische Systemdenken zu klarem Ausdruck. Dieser Einwand ist zum Allgemeingut geworden, so sehr KIERKEGAARD und die auf ihn aufbauende Existenzphilosophie auch in den Hintergrund getreten sein mögen. Ein philosophisches System — das ist sehr zusammengedrängt der Sinn dieses Einwandes — ist ein bloßes Gedankengebilde. Es trifft die Wirklichkeit nicht. Die Wirklichkeit läßt sich begrifflich gar nicht adäquat erfassen. Wirklichkeit: das ist der je einzelne, der seine Existenzprobleme nur in einem inneren Handeln ohne Weltbezug bewältigen kann. Dies Handeln kreist um die Probleme des Selbstseins. Das Selbst und die Welt sind in Extreme auseinandergegangen. Weltvertrauen schlägt um in Weltangst. KIERKEGAARD gleicht die Philosophie mit Hegels System, und insofern Hegels System die Wirklichkeit nicht trifft, muß mit Hegel auch die Philosophie negiert werden zugunsten des paradoxen christlichen Glaubens. Nur wenige Worte zu MARX. Ehirch MARX und die auf ihn aufbauenden Denker wird ein bestimmtes Bild vom Denken Hegels gezeichnet, das heute allgemein anerkannt ist. Hegels Philosophie ist ein Abschluß. Hegel

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denkt wesentlich die Welt als Geschichte, und zwar als vergangene Geschichte. Diese ist zu interpretieren. Die Arbeit des Philosophen ist also die begreifende Verwesentlichung als Erinnerung. Der absolute Philosoph kommt post festum. Gegen Hegel gilt es nun aber die Arbeit im realen Sinn zu verstehen als Auseinandersetzung des Menschen mit der Natur. MARX erklärt: „Die Arbeit ist zunächst ein Prozeß zwischen Mensch und Natur, ein Prozeß, worin der Mensch seinen Stoffwechsel mit der Natur durch seine eigene Tat vermittelt, regelt und kontrolliert." Die Struktur dieser Auseinandersetzung läßt sich aber nur ergreifen, wenn man durch die verdeckte Geistideologie durchstößt auf die grundlegende Dimension, die ökonomischen Verhältnisse, die durch die Dialektik von Produktionskräften und Produktionsverhältnissen bestimmt sind. Deren geschichtliche Entwicklung verlief bisher aber gerade nicht vernünftig. Die Vernünftigkeit kann erst hergestellt werden durch die Konstituierung der Klasse des Proletariats als des wahren Geschichtsubjektes. Endziel der gesellschaftlichen Veränderung ist das Reich der Freiheit als einer Verbindung von Humanismus und Naturalismus. Und schließlich SCHOPENHAUER: SCHOPENHAUERS Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung erschien 1819. Es ist der erste große Gegenentwurf gegen den Idealismus. SCHOPENHAUER erklärt: der als dunkler Drang bestimmte Wille ist mächtiger als der Verstand. Der Mensch ist nicht denkendes Ich, die unmittelbare Gewißheit ist das Leibbewußtsein. Der Willensdrang als solcher ist sinnlos. Einzelne Willensziele können verändert werden. Das Verhängnis des Wollen-müssens aber bleibt. Das heißt, die Diskrepanz zwischen Subjekt und Objekt ist unaufhebbar, weil das wollende Subjekt im erstrebten Objekt nie wirkliche Ruhe findet. SCHOPENHAUER bestimmt den Willen als Ding an sich, und von diesem her entwirft er ein System der Welt. Er deutet die Welt im Ganzen als Stufung von Willenskonstellationen. Aber zugleich — das ist ein Novum — sucht er gegen dies Weltsystem, das ja als solches die Sinnlosigkeit in Reinkultur verkörpert, anzugehen. Und insofern Wille und Handlung Zusammenhängen, ist Resignation als Nichthandeln das letzte Wort. Zu den Nachfolgern der genannten Denker nur einige Andeutungen. JASPERS bestreitet in der Aufnahme von Gedanken KIERKEGAARDS der Philosophie die Möglichkeit einer ontologischen Systematik, Philosophie wird zur rein existenziellen Erhellung. HEIDEGGER, der sich von Anfang an um eine Destruktion der metaphysischen Tradition bemüht, fordert gegen die Metaphysik ein anfänglicheres Denken, das nicht vom Willen zur Herr“

K. Marx: Das Kapital. Berlin 1957. Bd 1. 185.

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Schaft und vom Willen zur Gewißheit bestimmt sei und das sich darum nicht in einem System vollenden kann. Die auf MARX aufbauenden Denker sind in einer besonders prekären Situation. Sie müssen ein Subjekt finden, das als Träger der Bewegung zur Zukunft hin den positiven Endzustand herbeiführt. Mag der Träger die Materie sein — so BLOCH — oder die geschichtliche Größe des Proletariats — so LUKÄCS und die frühe Frankfurter Schule die Gewißheit des positiven Verlaufes wird immer schwächer. BLOCH erklärt ausdrücklich, daß der Weg auch in das Verderben führen könne, und HORKHEIMER und ADORNO resignieren schließlich. ADORNOS ganzes Bemühen ist es, die Wunde der Negativität offenzuhalten — mit Hegel geredet. ADORNO deklariert innerhalb des Subjekt-Objekt-Bezuges den Vorrang des Objektes. Das Identitätsdenken wird als subjektiv bezeichnet; das Ganze zeigt sich als das Unwahre. Positivität wird in konjunktivischen Wendimgen als möglicher Vorschein umschrieben. Philosophie als solche existiert nur noch, weil die Stunde ihrer Aufhebung durch die Praxis verpaßt wurde. Die Problematik SCHOPENHAUERS lebt ohne direkt aufweisbare historische Vermittlungsbezüge weiter in der modernen Anthropologie, der Verhaltensforschung und vor allem der Psychoanalyse. Die Vorstellung wird leitend, daß die Frage nach dem Verhältnis der Triebschicht zu den höheren Schichten, des zentrischen zum weltoffenen Verhalten und des Es zum Ich, nur mit den Mitteln der empirischen Wissenschaft zu lösen sei. Die Psychoanalyse, die an Bedeutung immer noch gewinnt, zeigt die Struktur der Abwendung von der Philosophie am lehrreichsten. Die Thesen, die FREUD entwirft, sind — primär jedenfalls — als Hypothesen konzipiert, um die therapeutische Praxis zu optimieren. Hier bei FREUD wird nun ein Vorgang deutlich, der für unser Problem von Interesse ist: die relativ häufige, aber eigentümlich ungenaue Verwendung des Wortes System. So redet FREUD von System im Sinne von Instanz, Organisation oder Schema, insbesondere in bezug auf die Unterscheidungen der ersten und zweiten Topik, also der Scheidung von unbewußt, vorbewußt und bewußt (erste Topik) und Es, Ich, Über-Ich (zweite Topik). Dieser Sprachgebrauch ist vollkommen legitim. Er entspricht der Wissenschaft im Stadium der Verwissenschaftlichung. Wissenschaft als sich vorwärtstreibender Prozeß der Forschung ist durch den Verzicht auf eindeutige Wesenserkenntnis in gegenständlichem Sinn und den Verzicht auf Letztbegründung bestimmt. Ihre Begriffe haben keine ontologisch festgelegte Bedeutung im Sinne der klassischen Tradition. An dem Anspruch, den diese Tradition in DESCARTES' Wissensentwurf propagierte, gemessen, erscheinen die sogenannten Grundbegriffe jetzt weithin als nicht fest-

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gelegt, gerade darum sind sie für das projektiv-technische Vorgehen äußerst brauchbar. Der soeben allgemein angedeutete Sachverhalt gilt nun aber eben auch für die Bestimmung „System". Der Begriff „System" ist aus der Philosophie in die Wissenschaft ausgewandert; zur Zeit versucht man offensichtlich, ihn aus der Wissenschaft zurückzuholen in die sich als Wissenschaftstheorie verstehende Philosophie. Die Auswanderung des Begriffes „System" aus der klassischen Philosophie hat zur Folge, daß sich dieser Begriff verändert. Ein Systemdenker in modernem wissenschaftlichen Sinne erhebt nicht den Anspruch, das Seiende im Ganzen auf den Begriff zu bringen und in seinen Wesensbestimmungen zu erkennen. Der Begriff System ist gar nicht mehr ontologisch bestimmt, sondern hat formalisierte, funktionale Relevanz. Er spielt in der Mathematik, der Biologie, der Soziologie und der Kybernetik eine nicht unwesentliche Rolle. Natürlich gibt es hier Unterschiede, aber bedeutsam ist die Frage nach der möglichen Leistung des Systems. Das System ist korrelativ zu seiner Umgebung, mit der es in Kontakt steht und die es zu bewältigen hat. Das Vorbild dieses Systembegriffes ist weithin die Kybernetik mit ihrer Unterscheidung von stabilen, instabilen, ultrastabilen und multistabilen, selbstregulierenden und selbstorganisierenden Systemen. Es ist oft herausgestellt worden, daß die Kybernetik nicht nur ihr Wissenschaftsverständnis nicht eindeutig darlegt, sondern auch ihre Grundbegriffe nicht genau definiert. Im Handbuch philosophischer Grundbegriffe wird eine Äußerung eines Kybernetikers über die Bestimmung des Begriffs System in der Kybernetik zitiert: „Die überwiegende Mehrzahl der kybernetischen Literatur verzichtet überhaupt auf definitorische Äußerungen zu diesem Begriff und imterstellt einen allgemeinen Konsensus." Das ist durchaus verständlich, denn im Zeitalter der Verwissenschaftlichung sind ontologische Begriffe nicht mehr brauchbar — derselbe Sachverhalt ließe sich auch an Leitbegriffen wie Atom oder Rolle zeigen. Diese Hinweise auf an sich allgemein bekannte Sachverhalte sollen nur in Erinnerung rufen, in welch hohem Maße uns das idealistische Denken fremd geworden ist. Zum Abschluß sei daher auf ein Problem eingegangen, das diese Fremdheit nicht aufhebt — das ist sicher unmöglich —, aber das dennoch die Frage aufwirft, ob es zwischen dem idealistischen Denken und uns nicht doch so etwas wie eine Verbindung im Sinne eines Übergangs von der einen Position zu der anderen gibt, gleichsam eine Handbuch philosophischer Grundbegriffe, Hrsg, von H. Krings u. a. Bd 3. München 1974. 1461.

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Brücke, die beide Extreme verbindet. Diese Frage stellen heißt SCHELLING, insbesondere den späten SCHELLING, ins Gespräch bringen, denn SCHELLING hat im Deutschen Idealismus eine ganz wesentliche Rolle gespielt und doch gegen das System Hegels in seiner Spätphilosophie entschieden Front gemacht. Es ist sicher letztlich kein sirmvolles Unternehmen, Hegel über SCHELLING oder SCHELLING über Hegel zu setzen. Wirkungsgeschichtlich gesehen ist offensichtlich, daß Hegel die größere Wirkung erzielt hat. Das beruht einerseits auf Hegels Logik, der SCHELLING nichts Vergleichbares entgegenzusetzen hat, und andererseits und vor allem auf Hegels Realphilosophie, insbesondere auf seiner Rechtsphilosophie: hier werden damals und auch heute noch aktuelle Probleme thematisiert — man denke an die Untersuchimg Hegels über das Verhältnis von Gesellschaft und Staat. Der späte SCHELLING ist demgegenüber ein wesentlich theologisch orientierter Denker. Seine Spätphilosophie, vorgetragen in den Vorlesungen zur Philosophie der Mythologie und der Offenbarung, hat den dialektischen Handlungsbezug von Gott und Mensch zum Thema. Es ist dies wohl die letzte große Philosophie, die die Grunddogmen des Christentums zu Begriffe zu bringen sucht. Daß SCHELLING sich selbst als Philosoph des Christentums verstand, besagt aber nicht, daß er auf das Denken zugimsten des Glaubens verzichten wollte. Der späte SCHELLING hat seine Reflexion der christlichen Glaubensgewißheiten in den Rahmen einer grundsätzlichen Problematik gestellt. Es geht ihm um die Frage der Selbstbegrenzung der Vernunft. Diese Frage erhält ihre Schärfe durch den intimen Haß, mit dem SCHELLING sich vergeblich gegen Hegel durchzusetzen und als der größere zu erweisen sucht. Will man die Frage nach den Grenzen der Vernunft bei SCHELLING recht verstehen, dann muß man SCHELLINGS ganzes philosophisches Werk, zumindest das Werk vom Entwurf der Naturphilosophie an, betrachten. Reflektiert man diese Naturphilosophie nun nicht nur im Rahmen der idealistischen Gesamtentwicklung, das heißt, versteht man sie nicht einfach als Vorbereitung zu SCHELLINGS eigenem Identitätssystem, das dann seinerseits durch Hegels Phänomenologie überwunden wurde, — versucht man vielmehr diese Naturphilosophie einmal in ihrem eigenen Gewicht zu erfassen, dann zeigt sich: Natur erscheint als das dialektisch Andere der Vernunft und solchermaßen als deren Begrenzung. SCHELLING sucht in den Anfängen seiner Naturphilosophie die Natur als Vorform des Geistes zu bestimmen. Dieser Gedanke ist jedoch zweideutig. Wenn der Geist auf der Natur aufruht, dann ist die Natur doch Bedingung imd Unterlage des existierenden Geistes. Das kann sie nur sein, weil sie das Substan-

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tielle, das Stoff-Erzeugende, die Ursache von Sein ist. In seiner Freiheitsschrift bestimmt SCHELLING die Natur als selbstische Kraft. Und der Mensch kann auf Grund seiner Freiheit nun diese Natur dem Verstand, dessen Aufgabe es an sich ist, die Natur zu formen, überordnen. Die Freiheit ist also Freiheit zur Perversion. SCHELLINGS Deutung der Perversion als des Sündenfalles bleibt im Rahmen der christlichen Dogmatik. Der Sache nach aber ist diese Bestimmung der Natur als an sich ungezügelter und daher chaotischer Kraft ein Gegenzug gegen die Metaphysik des Geistes. Wenn SCHELLING sagt, „daß der wahre Grundstoff alles Lebens und Daseins eben das Schreckliche ist" und wenn er erklärt, daß dies Schreckliche im Menschen jederzeit durchbrechen kann bis zum Wahnsinn hin, so daß die gesamte Seinsordnung verkehrt wird, dann sind dies deutliche Vorblicke auf die nachidealistische Entwertung der Vernunft. Es handelt sich jedoch nur um Vorblicke, denn diese Entdeckung der Natur ist dialektisch, das heißt, sie geschieht immer von der Vernunft her, die sich selbst auf ihre mögliche Grenze hin reflektiert. Und eben diese Selbstreflexion der Vernunft auf ihre Grenze hin wird in der Spätphilosophie SCHELLINGS zum Grundthema. SCHELLINGS Argumentationen sind hier, verschlungen in religionsgeschichtliche und theologische Erwägungen, umständlich und kompliziert. Das Ergebnis ist dennoch, bringt man es auf eine Formel, von großer Einfachheit. Die Vernunft erfährt quasi attonita, daß sie sich in ihrem Selbstvollzug nicht begründen kann, daß sie sich vielmehr in diesem Vollzug angesichts der Unvordenklichkeit ihres eigenen Seins hinzunehmen hat. Und nun fragen wir; Führt diese Idee einer faktischen, und das heißt, einer zufälligen Vernunft über den Idealismus hinaus? Zeigt sich in ihr so etwas wie ein Übergang vom Idealismus zum Nachidealismus, von der absoluten Vernunft zur realen Wirklichkeit? Die Entdeckung der Endlichkeit der Vernunft ist ein Zu-Ende-Denken, eine Voll-Endung des idealistischen Denkens. Dieses Denken bringt sich selbst durch sich selbst und für sich selbst an seine Grenze. Es ist offensichtlich: Insofern hier die Idee der Absolutheit der Vernunft negiert wird, weist dieser Ansatz auf die Vorgängigkeit der Wirklichkeit vor dem Denken hin. Aber die Argumentation bleibt — und das ist doch wohl das Entscheidende — an den Vorgang der Selbstreflexion der Vernunft gebunden. Der Schritt in die Dimension der realen Lebenswirklichkeit, wie ihn MARX, aber auch KIERKEGAARD getan haben, wird hier nicht vollzogen. Schelling; Sämtliche Werke. Hrsg, von K. Fr. A. Schelling. Stuttgart und Augsburg 1856 ff. Bd 8. 339.

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Dementsprechend bleibt auch die Entdeckung der Inkongruenz von Subjekt und Objekt SCHELLING ebenso verborgen wie die Notwendigkeit eines nicht abgesicherten Handelns, das angesichts der realen Weltprobleme mit Philosophie nicht mehr viel anzufangen weiß. Am Ende, von uns her gesehen, rücken SCHELLING und Hegel zusammen, insofern sie — der eine, nämlich SCHELLING, nur ein wenig zögernder als der andere — die Vernunft der Welt zu erweisen suchten. Hegel hat aber offensichtlich gewußt, daß ein solches Unternehmen in die Dimension der Idealität gehört. Philosophie kommt immer zu spät; der Gedanke der Einheit der Welt kann nur erscheinen, nachdem die Wirklichkeit den Prozeß ihrer Bildung abgeschlossen hat. Die berühmten Schlußsätze in der Vorrede zu den Grundlinien der Philosophie des Rechts, in denen Hegel dieses Zuspätkommen der Philosophie darlegt haben eine Parallele in Hegels Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Hegel erklärt in der Einleitung, man philosophiere erst, wenn man aus dem konkreten Leben heraus sei. „Der Geist flüchtet nämlich dann in die Räume des Gedankens, um gegen die wirkliche Welt sich ein Reich des Gedankens zu bilden, und die Philosophie ist die Versöhnung des Verderbens jener realen Welt, das der Gedanke angefangen hat." Hegel erläutert den Charakter dieser Versöhnung noch genauer. Es ist eine Versöhnung, so sagt er, „nicht in der Wirklichkeit, sondern in der ideellen Welt. Die Philosophen in Griechenland hielten sich von den Staatsgeschäften entfernt und das Volk nannte sie Müßiggänger, weil sie sich in die Gedankenwelt zurückgezogen hatten. Diese Erscheinung bewährt sich durch die ganze Geschichte der Philosophie." Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts. 17. Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Hrsg, von G. J. P. J. Boiland. Leiden 1908. 44. Ebd. 44. — In dem von J. Hoffmeister besorgten Text (Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Hrsg, von J. Hoffmeister. Leipzig 1938. 151 f) lautet die betreffende Stelle: „Wenn also die Philosophie bei einem Volke hervortreten soll, so muß ein Bruch geschehen sein in der wirklichen Welt, Die Philosophie ist dann die Versöhnung des Verderbens, das der Gedanke angefangen hat; diese Versöhnung geschieht in der ideellen Welt, in der Welt des Geistes, in welche der Mensch entflieht, wenn ihn die irdische Welt nicht mehr befriedigt. Die Philosophie fängt an mit dem Untergange einer reellen Welt. Wenn die Philosophie auftritt und — grau in grau malend — ihre Abstraktionen ausbreitet, so ist die frische Farbe der Jugend, Lebendigkeit schon vorbei. Es ist eine Versöhnung dann, was sie hervorbringt, aber nur in der Gedankenwelt, nicht in der irdischen. So zogen sich auch die Griechen, wenn sie anfingen zu denken, vom Staate zurück; und sie fingen zu denken an, als draußen in der Welt alles stürmisch und elend war, z. B. zur Zeit des peloponnesischen Krieges. Da zogen die Philosophen in ihre Gedankenwelt sich zurück; sie sind, wie das Volk sie nannte, Müßiggänger gewesen. Und so bei fast allen Völkern tritt dann erst die Philosophie hervor, wenn das öffentliche Leben nicht mehr

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befriedigt und aufhört, das Interesse des Volkes zu haben, wenn der Bürger so sehr keinen Anteil mehr nehmen kann an der Staatsverwaltung. Es ist dies eine wesentliche Bestimmung, die bewährt wird in der Geschichte der Philosophie selbst."

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SYSTEM UND FREIHEIT Beitrag zu einem ungelösten Problem I Zu Beginn seiner Untersuchungen über die menschliche Freiheit bezieht ScHELLiNG entschieden Position gegen die These, „der Begriff der Freiheit [sei] mit dem System überhaupt unverträglich" Diese These nennt er „eine alte, jedoch keineswegs verklungene Sage". Der Grund für die Annahme der Unverträglichkeit von System und Freiheit liege darin, daß beschränkende Vorstellxmgen „schon mit dem Wort System verbunden worden" seien. Solche beschränkenden Vorstellungen sind nach SCHELLiNG z. B. das System eines göttlichen Verstandes, das für ein freies menschliches Handeln inkommensurabel sei, oder das deduktive System, das ein System der Notwendigkeit sei und mithin Freiheit nicht zulasse, oder das pantheistische System, das ebenfalls den Gedanken einer menschlichen Freiheit ausschließe. Solchen Konzepten gegenüber postuliert SCHELLiNG ein System, dessen „innerste Voraussetzung" ^ die Freiheit ist. Freiheit wird von SCHELLING als Voraussetzung, Mittelpunkt und Sinn dessen behauptet, was er System nennt. Spätestens zu diesem Zeitpunkt, also in den Jahren 1806 bis 1809, hat SCHELLING bemerkt, daß er mit dieser These in Schwierigkeiten geraten mußte. Zwar bekräftigte er, daß erst der transzendentale Ansatz es ermöglicht habe, den Begriff der Freiheit überhaupt verständlich zu machen. „Überhaupt erst der Idealismus hat die Lehre von der Freiheit in dasjenige Gebiet erhoben, wo sie allein verständlich ist." ® Aber schon ‘ F. W. 7. SdieUing's philosophische Schriften. Bd 1. Landshut 1809. 399. — F. TV. J. Schelling: Sämmtliche Werke. Hrsg, von K. F. A. Schelling. Stuttgart 1856—61. Bd 7. 336. (Nach dieser Ausgabe wird zitiert.) — Schellings Werke. Nach der Originalausgabe in neuer Anordnung hrsg. von M. Schröter. München 1927 ff. Bd 4. 228. * Schelling. Bd 7. 351. * Ebd. 383.

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vorher hatte SCHELLING vermerkt, daß auch der Idealismus uns in der Lehre der Freiheit ratlos lasse. „Allein der Idealismus selbst .., dem wir „den ersten vollkommenen Begriff der formellen Freiheit verdanken, ... läßt uns, sobald wir in das Genauere und Bestimmtere eingehen wollen, in der Lehre der Freiheit dennoch ratlos." ^ Ratlos läßt uns der Idealismus nämlich dann, wenn Philosophie sich nicht damit begnügt, die Freiheit als die Bedingung eines Systems des Wissens und der Sittlichkeit zu erweisen, sondern die Frage stellt, ob denn die Freiheit in Wirklichkeit nicht der Ursprung von Gut und Böse sei. Anders gesagt: Mögen Freiheit und System nun miteinander verträglich oder auch unverträglich sein, was soll's, wenn die Frage, ob aus der Freiheit Gutes oder Böses hervorgehe, nicht beantwortbar ist, ja nicht einmal verständlich gestellt werden kann. Die transzendentale Freiheit ist zwar die Voraussetzung eines jeden Systems, das dem Anspruch des Menschen nicht allein als Verstandeswesen, sondern als sittliches Vernunftwesen soll genügen können, aber die bestimmtere und in der geschichtlichen Realität brennende Frage ist doch die, ob dabei Gutes oder Böses herauskommt. „Der reale und lebendige Begriff der Freiheit aber ist, daß sie ein Vermögen des Guten und des Bösen sey." ® Ratlos also läßt uns der Idealismus in der Frage nach dem Bösen. Diese Ratlosigkeit ist nun allerdings nicht eine Eigentümlichkeit nur des Idealismus, sondern der Philosophie überhaupt von ihren Anfängen bis auf den heutigen Tag. Auch die lange Tradition der Lehre vom malum metaphysicum, auch die älteren Überlegungen zu Determination und Indetermination oder ob Gott das Böse verursache oder nur zulasse, lassen ratlos. Die Theodizee wirkt gegenüber SCHELLINGS Eingeständnis der Ratlosigkeit wie der Versuch, eben diese Ratlosigkeit der Philosophie gegenüber der Frage nach dem Bösen nicht nach außen sichtbar werden zu lassen. Die Frage nach dem Bösen wird auch nicht leichter beantwortbar, wenn man die Philosophie „vom Kopf auf die Füße stellt". Denn ob die Philosophie sich mit Hilfe einer idealistischen oder einer materialistischen Dialektik vor der Frage nach dem Bösen abschirmt, um die Verantwortung dafür — eben erst vom Menschen in Anspruch genommen — der Geschichte zu überlassen, gilt gleich. Wir haben also zwei Fragen zu stellen. Erstens: Wie ist das Verhältnis von System und Freiheit zu denken? Zweitens: Was ergibt sich daraus für die Frage nach Gut und Böse? Ebd. 351. = Ebd. 352.

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Die erste Frage soll zuerst im Hinblick auf das theoretische System des Wissens erörtert werden, dann im Hinblick auf praktische Systeme. II Jener Bereich, in dem es dem menschlichen Geist vorzüglich gelungen ist, „eine ganze Welt" {Systemprogramm) hervorgehen zu lassen, die nicht auf Naturprozesse zurückführbar ist und die er in besonderer Weise als sein Werk betrachtet, ist der Bereich der Wissenschaft. Jede einzelne Wissenschaft bildet ein System, das heißt eine Organisation von Sätzen, deren Organisationsprinzip eine erkennbare und mitteilbare Logik ist. Auch die Philosophie hat systematischen Charakter, sofern in ihr etwas behauptet und argumentativ vorgetragen oder geprüft wird. ® Denn die einzelne Erkenntnis, wie immer man ihre Vereinzeltheit abgrenzen mag, ergibt noch keine Wissenschaft. Erst der vernünftige Zusammenhang einzelner Erkenntnisse erlaubt Schlußfolgerung, Argumentation, Beweis und andere Operationen. Diese Operationen sind allerdings erst dann als Wissenschaft konstituiert, wenn sie unter sich einen begreifbaren Zusammenhang darstellen, also durch eine vernünftige Idee im Sinne von KANTS regulativem Vernunftbegriff geleitet sind. KANT bestimmt das System als „die Einheit der mannigfaltigen Erkenntnisse unter einer Idee. Diese ist der Vernunftbegriff von der Form des Ganzen, sofern durch denselben der Umfang des Mannigfaltigen sowol, als die Stelle der Theile unter einander, a priori bestimmt wird." Das System gibt es demnach nicht einfachhin, sondern nur, sofern die Vernunft die Idee hervorbringt, d. h. einen funktionalen Begriff, der durch seine Funktionen „Abgrenzung" und „Gliederung" ® die Form eines Ganzen des Wissens bestimmt. Solche Ideen kommen weder als Gegenstände in der Erfahrung, noch als Kategorien im Verstand vor, sie sind Produkte rein der Vernunft, also sofern Vernunft „in der That mit nichts, als sich selbst beschäftigt" ® ist. Wie jedoch bringt die Vernunft die Idee hervor? KANT liefert selbst ein epochemachendes Beispiel. Zu Beginn der Ersten Einleitung zur Kritik der Urteilskraft sagt er von der Kritik der reinen Vernunft, daß diese nicht Teil des Systems sei, „sondern sogar die Idee * Ch. Wild in seinem Beitrag zu Kolloquium V dieses Kongresses: Zur Aporetik idealistischer Systemkritik. In diesem Band. 215 ff. ^ 1. Kant: Kritik der reinen Vernunft. A 832; B 860. ® Vgl. ebd. Vorrede B 22 f. « Ebd. A 680; B 708.

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desselben allererst entwirft und prüfet" Die Kritik der reinen Vernunft kann also als ein Prototyp für die Produktion einer Idee angesehen werden, die der Philosophie eine systematische Einheit zu geben vermag. Das mit sich selbst Beschäftigtsein der Vernunft darf allerdings nicht dahin mißverstanden werden, als sei hier allein die Idee eines transzendentalen Ich gemeint. Geschichtlich stehen Ideen wie Natur, Geist, Leben, Freiheit im Vordergrund. Die Frage, ob eine systematische Philosophie möglich sei, wäre nach KANT also zu beantworten: ja, sofern Vernunft eine Idee hat. Die Idee ist ein Produkt der Vernunft und insofern eine Manifestation von Freiheit. Keine Idee davon zu haben, wie Eiirzelerkenntnisse einander zugeordnet und „organisiert" werden können, bedeutet zunächst eine Befangenheit in Einzelerkenntnissen, die als solche perfektioniert sein können. Das gleiche gilt für den Bereich der Einzelwissenschaften insgesamt. Keine Idee zu haben, bedeutet einen Mangel an Freiheit gegenüber der Quantität und Qualität der Erkenntnisse der Einzelwissenschaften. Ein System des Wissens ist nach KANT der Ausdruck vernünftiger Freiheit, sofern sie sich im Bereich des theoretischen Wissens manifestiert. Hegel realisiert die kantische These als die Wahrheitstheorie schlechthin. „Die wahre Gestalt, in welcher die Wahrheit existiert, kann allein das wissenschaftliche System derselben sein." Doch dieses absolute System ist nicht das Thema. Denn so intensiv die Philosophie mit KANT und Hegel das System der Philosophie gesucht hat, so erbittert Gegnerschaften zwischen verschiedenen Systemen ausgetragen worden sind, so problematisch schließlich alles, was System heißt, geworden ist, sei es, daß als Gegenkandidat die Existenz oder die Geschichte oder auch nur der bare Ekel am System aufgetreten sind, das immer problematische System der Philosophie ist nicht der zentrale Schauplatz für die Gigantomachie von System und Freiheit. Diesen bilden vielmehr die praktischen Systeme, in denen es um reale Freiheit geht und in denen reale Freiheiten auf dem Spiel stehen. Mag der transzendentale Ansatz im Bereich der theoretischen Vernunft eine Verträglichkeitsthese für das Verhältnis von System und Freiheit begründen können, so bleibt die Frage, ob eine solche These auch für den Bereich der praktischen Systeme, wie z. B. Wirtschaftssysteme, Bildungssysteme, Rechtssysteme, Gesellschaftssysteme, Staatssysteme, gilt. Der I. Kant: Erste Einleitung in die Kritik der Urteilskraft. I. Von der Philosophie als einem System. (1. Kants Werke. Hrsg, von E. Cassirer. Bd 5. 179.) Hegel: Phänomenologie des Geistes. Hrsg, von J. Hoffmeister. 6. Aufl. Hamburg 1952. 12.

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Kem der Frage wird erst faßbar, wenn das Verhältnis von Freiheit und praktischem System in den Mittelpunkt gestellt wird. III Bevor das Verhältnis von Freiheit und praktischem System analysiert wird, muß der Ausdruck „praktisches System" erläutert werden. Er bezeichnet in Unterscheidung von der Organisation des in der Philosophie oder in den Wissenschaften thesaurierten Wissens die durch freie Vernunftwesen organisierte Wirklichkeit der Natur und der Geschichte. In diesem weiten, praktischen Sinn hat sich das Wort System auch im allgemeinen Sprachgebrauch durchgesetzt. Wir gebrauchen das Wort „System" keineswegs nur im Bereich der Begriffe und des Wissens (Begriffssystem, System des Wissens). Jedweden Kontext, dessen Teile organisiert sind und dessen Organisation rekonstruierbar ist, bezeichnen wir als System. Im allgemeinen wird, sofern von System die Rede sein soll, allerdings noch die weitergehende Forderung als erfüllt angesehen, daß nämlich die Organisationsstruktur mit wissenschaftlichen Kategorien erfaßt oder erfaßbar ist. Ein Beispiel; Wenn wir im Bereich der Bildung vornehmlich die Mannigfaltigkeit der Einrichtcmgen und Bildungswege, so wie sie historisch entstanden und überkommen sind, ins Auge fassen, sprechen wir vom Bildungsiüesen; sofern das Bildtmgswesen aber als eine organisierte Einheit betrachtet wird und seine Teile und deren Organisation als eine zweckmäßige oder gar notwendige Einheit kategorial erfaßt werden, vom Bildungssysfem. Im Bereich der Wirtschaft sprechen wir einerseits von Markt und Marktordmmg, andererseits vom System der Marktwirtschaft. Wir sprechen vom Rechtswesen und vom Rechtssystem, vom Verkehrswesen und vom Verkehrssytem, neuerdings haben wir außer Waffen auch Waffensysteme. Hegel hat darauf aufmerksam gemacht, daß es verschiedene Bezeichnungen für dieselben Kontexte gibt, je nachdem die Zusammenhänge streng oder lockerer, also nicht im Sinne einer wissenschaftlichen Philosophie erfaßt sind. Als Bezeichnung für einen lockeren Zusammenhang, für ein „Aggregat" nennt Hegel den Begriff „Ordnung" den auch wir gerne in dieser Weise gebrauchen. Wenn wir von Gesellschaftsordnung oder Marktordnung sprechen, sind auch nichtwissenschaftliche, insbesondere politische imd umgangssprachliche Kategorien oder, wie Hegel Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. Hrsg,

von F. Nicolin u. O. Pöggeler. 7. Aufl. Hamburg 1969. 49.

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sagen würde^ positive, nicht rationale Kategorien erlaubt. Ordnungen werden nach Hegel von den positiven Wissenschaften erfaßt. Die Ordnung kann zwar die Sache „in einem äußerlichen, den Begriff abspiegelnden Bilde" darstellen, sie ist aber etwas anderes als das System. Das System — als Form der Darstellung der Sache — genügt nicht nur einem pragmatischen und nicht nur einem einzelwissenschaftlichen Anspruch, sondern einem schlechthin wissenschaftlichen, d. h. dem philosophischen Anspruch. Allein die Philosophie hat nach Hegel die Form des Systems. Für unsere Fragestellung, wie nämlich das Verhältnis von System unu Freiheit zu denken sei, ist die Unterscheidung von System und Ordnung nicht von ausschlaggebender Bedeutung; denn ob der Kontext mit rationalen oder positiven Kategorien erfaßt wird, er müßte, wenn er mit Freiheit nicht unverträglich sein soll, in beiden Fällen als ein Analogon der Freiheit konstruierbar sein. Die praktischen Systeme haben, sofern sie als vernunftgemäß sollen gelten können, den Sinn, reale Freiheit und somit operationalisierbare Freiheiten zu ermöglichen. Dieses Postulat kann nicht dadurch als erfüllt angesehen werden, daß im systematischen Kontext gewissermaßen „Nischen" oder „Freiräume" gelassen werden, in denen die Freiheit noch eine Zuflucht findet. Das Postulat ist nur dann erfüllt, wenn das System nicht wegen einiger „weißer Flecken" auf der Landkarte, sondern gerade als System und insofern es vollständiges System ist, der Freiheit angemessen ist; wenn es ihr nicht nur eine Zuflucht bietet, sondern einen ihr angemessenen Wohnsitz; wenn der Mensch sich in dem System frei fühlen kann und reale Freiheiten gewährleistet sind. Dieses aber ist nur denkbar, wenn — mit SCHELLING — Freiheit die Voraussetzung des Systems ist. Voraussetzung ist hier nicht in einem akzidentellen Sinn gesagt, sondern bedeutet, daß die Freiheit transzendentallogisch früher ist als das System. Das System ist also derart zu denken, daß die Freiheit die Bedingung seiner Möglichkeit ist; oder anders gesagt: daß das System durch Freiheit gesetzt ist. Ebenso wie Freiheit für das System nicht nur eine akzidentelle Bedeutung hat, hat das System nicht nur eine akzidentelle Bedeutung für Freiheit; denn ohne die Setzung praktischer Ordnungen bliebe Freiheit formal und leer. Die erste These lautet darum: Das System ist ein Produkt der Freiheit und zwar jenes, durch das sie die Bedingung ihrer Existenz setzt. System und Freiheit schließen sich nach dem transzendentalen Ansatz nicht aus. Ebd. 50.

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sondern stehen zueinander im Verhältnis von Setzendem und Gesetztem. System folgt aus Freiheit im Sinne eines transzendentallogischen Bedingungsverhältnisses. Dieses Bedingungsverhältnis soll erläutert werden. Sofern Freiheit real existent sein soll, muß sie jedwedes Sein oder Wissen in einer Form setzen, in der sie es mit sich als Freiheit zur Identität bringen kann; sie muß es als vernünftig setzen. Im ältesten Systemprogramm (recto, Z. 6) heißt es: „Mit dem freyen, selbstbewußten Wesen tritt zugleich eine ganze Welt — aus dem Nichts hervor . . Was immer an Nichtvernunft, Unvernunft oder anderer Vernunft gegeben sein mag, jedwedes stellt eine Aufgabe für die freie Vernunft dar, nämlich es vernünftig sein zu lassen. Sinn und Aufgabe des Systems ist es, ein Gegebenes als eine Möglichkeit für reale Freiheit zu organisieren. Dies geschieht z. B. im Verhältnis von Freiheit und Naturgegebenheiten durch das System der Arbeit. Das aus sich selbst nach eigenen Gesetzen Wachsende ist im Verhältnis zur Freiheit theoretisch als Natur gesetzt; die Bedingung, unter der Freiheit im Verhältnis zur Natur Realität gewinnt, ist das System der Arbeit. Ein anderes Beispiel ist das System des Rechts. Insofern Freiheit zu anderer Freiheit sich ins Verhältnis setzt, ist ein System des Rechts die Bedingung für ein Verhältnis realer Freiheiten zueinander. Diese in verschiedenen Systemen sich vermittelnde Freiheit ist gerade das Gegenteil einer baren Naturbeherrschung oder Menschenbeherrschung. Deren Struktur ist anders und läßt grundsätzlich keine Freiheit zu. In den genannten Systemen jedoch wird der Anspruch, vernünftig oder vernunftgemäß zu sein, jedwedem anderen, auch der Natur, zugebilligt. Darin besteht die Freiheitsanalogie, die das oberste Gesetz eines Systems der Freiheit ist. Die These, das System sei Produkt der Freiheit, es sei die von ihr selbst gesetzte Bedingung ihrer Existenz, enthält eine Reihe von Implikaten und Schwierigkeiten. Sie sollen explizit gemacht werden, um die Ambivalenz dieser These deutlich werden zu lassen. 1. Die Existenz von Freiheit ist nicht bedingungslos; sie ist an eine Bedingung geknüpft. Anders gesagt: der Begriff der transzendentalen Freiheit ist, absolut betrachtet, ein leerer Begriff; Realität gewinnt er nicht durch seine Absolutheit. 2. Damit zeigt sich im Begriff der Freiheit ein Widerspruch: Freiheit ist der Begriff eines Unbedingten, dessen unbedingte Betrachtung zu nichts Zitiert nach: Das älteste Systemprogramm. Studien zur Frühgeschichte des deutschen Idealismus. Hrsg, von R. Bubner. Bonn 1973. (Hegel-Studien. Beiheft 9.) 263.

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führt. Das Unbedingte muß sich, sofern es nicht leer und nichtssagend bleiben will, auf den Widerspruch einlassen, in seiner realen Existenz nicht unbedingt, sondern bedingt zu sein. 3. Das Unbedingte löst diesen Widerspruch dadurch, daß es die Bedingung seiner Existenz selbst setzt. KANxisch gesprochen: die Freiheit bedarf des Gesetzes; aber das Gesetz ist nicht vorgegeben, sondern selbstgegeben. Das Sittengesetz, von dem KANT spricht, lautet — auf unser Thema angewandt: das System muß durch Freiheit selbst gesetzt sein. Die Freiheit in dieser ihrer Einschränkung wird seit KANT als Autonomie bezeichnet. Der Begriff Autonomie drückt wörtlich den Widerspruch von unbedingtem Selbst und Gesetz aus, in den sich die Freiheit jeweils begeben muß. Er bezeichnet zugleich die Form, in der der Widerspruch bewältigt wird. 4. Gesetz bedeutet einen notwendigen Zusammenhang. Sofern die Vernunft selbst ein Gesetz gibt, das ihr als Vernunft gemäß ist, heißt die Totalität der dadurch gesetzten vernunftnotwendigen Zusammenhänge System. Autonomie und System sind korrelative Begriffe. 5. Der Begriff einer Totalität vernunftnotwendiger Zusammenhänge widerstreitet dem Begriff der Freiheit als dem Begriff eines unbedingten Anfangenkönnens und Selbstseins. Die Bedingung, wie auch immer gesetzt, fordert den Widerspruch des Unbedingten heraus. Der Begriff des Systems negiert insoweit den Begriff der Freiheit und der Begriff der Freiheit den des Systems. Die Dialektik der ersten These führt somit zu der zweiten These: System und Freiheit stehen in einem Widerspruch. Freiheit widersetzt sich der Realisierungsbedingung, die sie selber gesetzt hat. Wollte man diese These extrapolieren, so ergäbe sich: je vollständiger die Vernunft ihre Autonomie entfaltet, um so vollständiger wird das System, um so elementarer der Widerstand der Freiheit gegen es. Somit gehört es zur Struktur des durch Freiheit konstituierten Systems, daß Freiheit dem System widerspricht und dergestalt ihren Unbedingtheitscharakter gegenüber der selbstgesetzten Bedingung behauptet. Diese den Widerspruch in sich enthaltende Struktureinheit von System und Freiheit läßt sich an den beiden angeführten Beispielen verdeutlichen. Wenn das System der Arbeit die selbstgesetzte Bedingung ist, unter der Freiheit im Verhältnis zur Natur real sein kann, dann ist in einem freiheitlichen System der Arbeit der Widerspruch gegen das System der Arbeit ein notwendiges Strukturelement. In unserer gegenwärtigen Arbeitsver-

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fassung ist dieses Moment z. B. durch das Streikrecht operational gesichert, indirekt auch durch freie Berufswahl oder die Wahl des Arbeitsplatzes. Im System des Rechts sind es vor allem die Institute des Verteidigers und der Berufung, die das Moment des Widerspruchs gegen Anklage und Rechtsspruch im System des Rechts operational sichern. Der Verteidiger ist nicht eine humane Beigabe zu einem schon vollständigen Rechtsverfahren, sondern ein Strukturmoment des Rechts Verfahrens. Darum trägt der Verteidiger auch eine Verantwortung für das gesamte Rechtsverfahren. Seine Aufgabe bestimmt sich nicht allein von seinem Mandanten her, sondern auch durch seine integrale Funktion im Rechtssystem. Der transzendentale Ansatz für eine Lösung des Problems von System und Freiheit führt in eine Aporie: Das Unbedingte ist nicht unbedingt real. Dieser Ansatz sollte aus jener anderen Aporie heraus helfen, Freiheit sei Willkür oder: Das Unbedingte sei unbedingt real. „Wenn Freiheit nicht anders als mit der gänzlichen Zufälligkeit der Handlungen zu retten ist, so ist sie überhaupt nicht zu retten" das ist von SCHELLING richtig gesehen. Ist aber ein solcher Satz nicht auf den transzendentalen Ansatz übertragbar? Ist denn Freiheit zu retten, wenn sie nicht anders als mit einer „höheren Notwendigkeit" zu retten ist, auch wenn diese Notwendigkeit „eine innere, aus dem Wesen des Handelnden selbst quellende Notwendigkeit ist" ^®? Die Genesis der Aporie ist deutlich: Ausgangspunkt war das Postulat, Freiheit als ein Unbedingtes anzuerkennen. Daraus ergab sich die These, daß das System als Bedingung der Existenz von Freiheit durch diese selbst gesetzt ist. Die Explikation der These führt nun zu der Aporie, daß Freiheit nicht unmittelbar die reale Handlung bestimmt, sondern daß reale Handlungen einen Zusammenhang aufweisen müssen, mithin einer Notwendigkeit unterliegen. Sofern dieser Zusammenhang selber ein Produkt der Freiheit ist, wird Freiheit ihn bejahen. Sofern er die realen Handlungen unter Notwendigkeiten stellt, wird sie ihm widersprechen. Diese Aporie von System und Freiheit stellt dem Denken eine bleibende Aufgabe. Läßt sich vernünftigerweise ein Ansatz denken, der aus dieser Aporie herausführt? Gerade nicht. Die Synthesis bleibt aus. Die Aporie muß vielmehr festgehalten werden; denn würde sie beseitigt, wäre die Bedingung für reale Freiheit lücht mehr gegeben, es bliebe nur der leere Begriff einer transzendentalen Freiheit. Die Aporie ist gewissermaßen der Garant der Realität von Freiheit, die Bedingung ihrer Wirklichkeit. Es wird nützlich sein, die Aporie so genau wie möglich zu markieren. ** Schelling. Bd 7. 383. Ebd.

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Sie besteht nicht darin, daß System und Freiheit schlechthin im Widerspruch zueinander stehen und demnach unverträglich wären, sondern darin, daß die Freiheit das System als Bedingung ihrer Existenz setzt und ihr zugleich widerspricht. Reale Freiheit muß das System und den Widerspruch bejahen. Sie muß es sich paradoxerweise angelegen sein lassen, den Widerspruch zu erhalten; denn nur so erhält die Freiheit in ihrer Bedingtheit ihre Unbedingtheit. Diese dialektische Struktur ist folgenreich, wenn sie zum Kriterium konkreter Freiheitssysteme wird. Eine erste Schlußfolgerung lautet, daß Programme konkreter Freiheit — und damit ist zunächst politische Freiheit gemeint —, welche dieser differenzierten Struktur durch Vereinfachungen zu entgehen suchen, inkonsistent sind, d. h. nicht zu einer Gewährleistung realer Freiheiten führen. Konzepte einer absoluten Freiheit enthalten gerade nicht die Bedingungen für reale Freiheit. Sie lassen keine Freiheit zu. Politische Programme, die eine absolute oder endgültige Befreiung des Menschen als Ziel proklamieren, sind ebenso irrig wie politisch verderblich. Das gleiche gilt für die andere Vereinfachung, also für politische Programme, die das System verabsolutieren. Ihnen fehlt das Strukturmoment, durch das Freiheit im System sich behaupten könnte. Auch in diesem Fall ist die Aporie eliminiert. Das System kann sich zwar als widerspruchsfrei und — einen entsprechenden Wissenschaftsbegriff vorausgesetzt — auch als wissenschaftlich bezeichnen. Aber eben damit enthält es nicht mehr die Bedingung für reale Freiheit. Vereinfachte Programme dieser Art können philosophisch als nicht legitimierbar erwiesen werden, mögen ihre Verfechter das Wort Befreiung oder Effizienz noch so nachdrücklich im Munde führen und das System als wissenschaftlich (oder vollkommen oder beides) auszuweisen bemüht sein. Eine zweite Schlußfolgerung lautet: Systemveränderung besagt noch nichts. Systemveränderung zu verlangen ist in diesem Zusammenhang eine tautologische Forderung, denn die Systemveränderung ergibt sich aus der Zurückführung des Systems auf Freiheit (und nicht auf einen absoluten Status). Der strukturelle und als solcher gesetzte Widerspruch von System und Freiheit impliziert die Systemveränderung; ohne diese wäre die Struktur aufgehoben. Die Gründe, ein bestimmtes System zu einem bestimmten Zeitpunkt durch ein anderes bestimmtes System abzulösen, revolutionär oder evolutionär, sind allerdings nicht transzendentaler Natur, d. h. sie können sich nicht unmittelbar auf Freiheit berufen. Sie sind vielmehr politisch-historischer Natur, d. h. daß Interessen und politische Machtkonstellationen eine entscheidende Rolle spielen. Freiheit ist kein Argument,

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sondern ein transzendentales Interesse und insofern eine Prämisse für Argumente. Das transzendentale Interesse an Freiheit können der Konservative, der Revolutionär und der Evolutionär prinzipiell, wenn auch je in anderer Weise, in Anspruch nehmen. Insofern ist die Behauptung, das neue System werden den Menschen schlechthin Freiheit bringen, als Argument genauso viel wert wie die Gegenbehauptung. Transzendentale Prämissen können politische Argumente nicht ersetzen. Die Geschichte zeigt, daß Systeme oder Ordnungen sich immer wieder verändert haben. Das gilt von Verkehrs- oder Währungssystemen ebenso wie von Schul- oder Rechtssystemen, wie von gesellschaftlichen oder politischen Systemen. Die Tatsache der Systemveränderung ist weder erstaunlich noch erschreckend; denn die Bedingungen realer Freiheit ändern sich im Laufe der Geschichte. Erschreckend ist vielmehr, daß in der Setzung des veränderten Systems der Zweck der Setzung, Freiheit real zu ermöglichen, vielfach untergeht. Wenn der Widerspruch von System und Freiheit ein struktureller Garant realer Freiheit ist, dann ist zu folgern, daß ein System, das diesen Widerspruch nicht in sich enthält, zur Realisierung von Freiheit untauglich ist. Ebenso untauglich ist eine Freiheit, die sich nicht die Bedingungen ihrer Realisierung formell setzt. So ergibt sich als dritte Schlußfolgerung ein strukturell aufweisbares Kriterium der politischen Freiheit. Das freiheitliche politische System beseitigt nicht den Widerspruch, sondern setzt ihn ausdrücklich und formell, z. B. im Verhältnis von Regierung und Opposition. Die Opposition ist die Institution des Widerspruchs im freiheitlichen parlamentarischen System. Ein politisches System, das die Opposition nicht zu seiner eigenen Bedingung macht, ist kein freiheitliches System. An dieser Stelle läßt sich übrigens zeigen, daß der Transfer der transzendentalen Prämisse zur realen Struktur keineswegs in einer einfachen Abbildung der transzendentalen Struktur in der Realität besteht. Denn das Bedingungsverhältnis ist ja nicht derart zu verstehen, daß die Regierung das System und die Opposition die Freiheit repräsentiere, sondern beide repräsentieren das System der politischen Freiheit. Das gleiche gilt für demokratische Parteien. Keine Partei wird ein transzendentales Privileg in Anspruch nehmen können; d. h. keine Partei kann die Freiheit für sich pachten. Freiheit als Ausgangspunkt und reale Freiheiten als Zweck des politischen Systems anzuerkennen, ist die gemeinsame Grundlage demokratischer Parteien. Im übrigen sind sie aufgrund ihrer politischen Zielsetzungen, Argumentationen und Realisierungsmöglichkeiten zu beurteilen. Eine einzige Partei der Freiheit steht unmittelbar in der Gefahr, eine Partei gegen die Freiheit zu sein.

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Die Applikation des transzendental-strukturellen Verhältnisses von System und Freiheit auf praktische Systeme zeigt; Was im Bereich der Begriffe das Ärgerliche ist, nämlich der Widerspruch, ist in der Realität das Unverzichtbare. Das System als Bedingung der Existenz von Freiheit, von ihr konstituiert und ihr Produkt, ist ebenso ein Strukturmoment dieses Verhältnisses wie der Widerspruch gegen das System. Durch ihn behauptet sich der Unbedingtheitscharakter in der bedingten Existenz. Damit hat sich die Aporie noch um einen Grad verstärkt: es besteht nicht nur ein Widerspruch, sondern gerade der Widerspruch ist das Unverzichtbare. Was kann die Philosophie angesichts dieser verschärften Aporie tun? Wollte die Philosophie einem ihrer ursprünglichen Triebe, nämlich Vernunft mit sich zur Einheit zu bringen, unberaten folgen und das rationale Ärgernis hinwegbringen, so wäre abermals „Freiheit nicht zu retten". Die Antwort auf die Frage ist darum davon abhängig, wie groß ihr Interesse an Freiheit ist. Ist ihr Interesse an Freiheit größer als ihr Interesse an Einheit, so wird sie es als ihre Aufgabe erkennen, den Widerspruch nicht aufzuheben, sondern ihn zu artikulieren, zu entwickeln und derart einsehbar zu machen, daß er als ein begründbares Moment realer Freiheit armehmbar wird. Der Widerspruch wird dadurch aufgeklärt, zwar nicht in dem Sinn, daß er aufgelöst würde, sondern daß er als jenes Moment erkannt wird, wodurch das System seinerseits eine Vermittlung mit Freiheit erfährt. Die Widersprüche, in die sich die Vernunft durch die von KANT analysierten ,/dialektischen Vernunftschlüsse" verwickelt, sind zwar transzendental begründet und insofern unvermeidlich; aber sie sind auf klärbar in dem Sinne, daß entweder sie selbst wie z. B. die Antinomie der reinen Vernunft oder die durch sie erzeugte „Illusion" auflösbar sind. Der Widerspruch, in den sich die Freiheit begehen muß, um existent sein zu können, ist praktisch nicht vermeidbar, nur indirekt aufklärbar und nicht auflösbar. Das heißt, es kann nicht angegeben werden, wie der Widerspruch eliminiert und zugleich Freiheit real werden kann. Vermeidbar aber ist die Uneinsichtigkeit. Es ist einsehbar, daß der Widerspruch zugelassen werden muß, wenn Freiheit real sein soll. Diese Einsicht legitimiert es indirekt, die Aporie als eine conditio humana anzunehmen. I. Kant: Kritik der reinen Vernunft. A 339; B 397.

18 Ebd. A 514 ff; B 542 ff.

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IV Wenn Freiheit das System als Bedingung akzeptiert, und das System den Widerspruch der Freiheit akzeptiert, bezieht sich diese Armahme auf eine allgemeine Form, die noch gleichgültig ist gegenüber Gut und Böse. Darum ist auch die legitimierte Annahme der Aporie noch problematisch. Dieses Problem stellt SCHELLING durch Bestimmung der Freiheit als das Vermögen des Guten und des Bösen. Die Bezeichnung „Vermögen des Guten und des Bösen" für das Wesen der menschlichen Freiheit gebraucht SCHELLING an jener Stelle in der Einleitung seiner Untersuchungen an der er sein Thema endgültig bestimmt. Die transzendentale Rekonstruktion der „formellen Freiheit" hat zwar nach SCHELLING den Vorzug, die Probleme der realen Freiheit artikulieren imd einsichtig machen zu können; insofern bedeutet sie einen Fortschritt gegenüber den bisherigen Versuchen, das Problem der Freiheit kategorial zu fassen, und ist überdies von praktischem Wert. Ihr entscheidender Vorzug ist indes, daß sie auf das radikale Problem der Freiheit führt oder doch führen kann. Als Index für den Wert einer transzendentalen Freiheitsphilosophie könnte man den Beitrag ansetzen, den sie zur Frage nach der Freiheit als dem Vermögen des Guten und des Bösen leistet. Zunächst: Sie vermag das Problem zu stellen. Wenn der Mensch als freies und vernünftiges Wesen das ihm vorgegebene Seiende als „eine ganze Welt" bestimmt, wenn er seine Welt bestimmt in seinem Zusammenleben mit der Natur durch das praktische System der Arbeit, in seinem Zusammenleben mit anderen Menschen durch die praktischen Systeme des Rechts, in anderen Kontexten durch andere praktische Systeme, dann kann er die Verantwortung für Gut und Böse kaum noch auf eine naturale Determination oder auf einen Gott oder auf die Geschichte abschieben. Dann ist er selbst unmittelbar vor die Frage gestellt, ob das, was er bestimmend tut, gut oder böse ist. Die von ihm in Anspruch genommene Freiheit muß diese Frage akzeptieren; akzeptiert sie sie nicht, gibt sie sich selbst auf. Die Frage nach dem elementaren Charakter menschlichen Handelns, die Frage nach Gut und Böse, findet aber in der transzendentalen Rekonstruktion keine Antwort, allenfalls einen Ansatz. Sie unterscheidet sich zwar von einer rationalen Metaphysik dadurch, daß sie nicht eine prinzipielle Harmonie unterstellt und die Schwierigkeiten nicht durch Reflexionsvermittlxmgen wie „unendliche Reihe der Ursachen" oder „concursus Schelling. Bd 7. 352.

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divinus" zu lösen sucht, sondern eine vom Widerspruch in Spannung gehaltene Struktur ausweist. Im übrigen aber wäre das Böse, innerhalb der transzendentalen Rekonstruktion gedacht, auch nur ein malum metaphysicum, eine Unvollkommenheit oder ein Mangel. In den Grenzen unseres Themas „System tmd Freiheit" stellt sich zunächst die Frage, wo denn im dargelegten Fragezusammenhang das Problem des Bösen sich stellt: In der Sphäre der Bedingung, also im System, oder in der Sphäre des Unbedingten, also der Freiheit. Mag „das Böse immer die eigene Wahl des Menschen" bleiben so ist damit noch nichts darüber gesagt, ob es sich beim Bösen um ein Problem handelt, das innerhalb des Systems auf tritt, also um einen Mangel im System, die Verfehlung mithin der Sphäre der Bedingung zugehört, oder ob die Frage nach dem Bösen das Unbedingte unmittelbar betrifft, die Freiheit, ob es sich also, genauer gesprochen, nicht um die Frage nach einer Verfehlung, sondern nach einem guten oder bösen Setzen handelt, ob transzendentale Freiheit selber als Ursprung des Bösen gedacht werden muß. Wir skizzieren zunächst den ersten Fall. Innerhalb des Systems ist das Böse nicht anders zu denken, denn als das Systemwidrige im Gegensatz zum Systemadäquaten, als das Prozeßhemmende im Gegensatz zum Prozeßfördernden. Dabei bleibt Voraussetzung, daß das System den Widerspruch strukturell in sich enthält. Das heißt, die Opposition ist als solche gerade nicht das Böse; sie ist vielmehr systemadäquat. Das Böse kann innerhalb des Systems nicht anders als in anderen „dogmatischen Systemen" nur als Privation gedacht werden, als malum metaphysicum im Sinne einer unvollkommenen oder schlechten Verfassung, einer unvollkommenen oder schlechten Regierung oder Opposition. Freiheit wäre von der Frage nach dem Bösen nur mittelbar betroffen; sie könnte nicht im strengen Sinn als Vermögen des Guten und des Bösen bezeichnet werden, sondern lediglich als der konstituierende Grund jener Sphäre, innerhalb derer es, sei es aus Mangel an Einsicht, an gutem Willen oder an Vermögen, Gutes und Böses gibt. Freiheit wäre zwar eine Bedingung des Guten und Bösen, aber nicht das Vermögen. Der zweite Fall; Wird das Böse nicht innerhalb des Systems angesetzt, so ergibt sich als systematischer Ort das Moment des Setzens selbst. Wenn das Setzen des Systems als Bedingung realer Freiheit unter der Alternative von Gut und Böse steht, dann ist die Freiheit unmittelbar betroffen. Gut würde bedeuten: Wie immer auch das System als Bedingung realer Freiheit beschaffen sein mag — ob mehr oder weniger gut, ob mehr oder Schelling.

Bd 7. 382.

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weniger schlecht —, sofern es überhaupt reale Freiheit ernaöglicht, kann es nicht als böse beurteilt werden, wenn auch nur als konaparativ zweckentsprechend. Böse würde bedeuten, daß Freiheit als das Vermögen gedacht wird, Bedingungen zu setzen, die reale Freiheit positiv verunmöglichen. Das Wesen des Bösen besteht in diesem Fall darin, daß Freiheit die Bedingung ihrer eigenen Vernichtung positiv setzt. Dieser Widerspruch der Freiheit gegen sich selbst ist von anderer Qualität als ihr Widerspruch gegen das System. Hier setzt Freiheit die Bedingung ihrer realen Existenz, wenngleich sie dieser von ihr selbst gesetzten Bedingung widersprechen muß, weil sie ohne diesen Widerspruch ihren Unbedingtheitscharakter aufgeben würde. Dort aber setzt Freiheit die Bedingung ihrer Vernichtung in der Realität, ihrer Nichtexistenz. Innerhalb des Konstrukts von System und Freiheit sind zwei Strukturen von Selbstvernichtung der Freiheit, mithin zwei Formen des Bösen herleitbar. Die erste Struktur der Verunmöglichung von realer Freiheit soll als absolute Egoität bezeichnet werden, da in ihr unbedingte Freiheit sich absolut und unvermittelt als real setzt. Negativ ist diese Struktur gekennzeichnet durch das Nichtsetzen der Bedingtmg ihrer Realität, die Negierung des Systems schlechthin; positiv durch die Setzung einer absoluten und abstrakten Egoität. Diese Form des Bösen beruht nicht auf einer Unterlassung von Setzung; (sofern von transzendentaler Freiheit die Rede ist, ist auch von Setzen die Rede). Das Böse hat also die transzendentale Struktur der Setzung: die absolute und unvermittelte Ich-Setzung. Deren Kehrseite ist die Nichtsetzung der Bedingung realer Freiheit. Jene Egoität, die es negiert, die Bedingung realer Freiheit zu setzen, kann je nach der historischen Situation in verschiedener Form in Erscheinung treten. Eine Erscheinungsform ist die Tyrannis. Der Tyrann ist im strengen Sinn absolut: Freiheit ohne Gesetz. Ein Gegentypus ist der Anarchist, für den die Bestimmung analog gilt: Freiheit ohne System. Auch DE SADE stellt Typen der absoluten Egoität vor. Die tyrannische, diktatorische oder anarchistische Vernichtungsabsicht konkretisiert sich gegenüber jedwedem System, das als Vermittlung von Freiheit in Betracht kommt, vornehmlich auf Staat und Gesellschaft. Sie richtet sich aber auch auf praktische Teilsysteme. Zum Beispiel wird auch das System der Arbeit negiert: der Gesetzlose widerspricht nicht im System der Arbeit, sondern er arbeitet nicht; er plündert. Analoges gilt vom System des Rechts: der Gesetzlose anerkennt kein Recht. Die Negation betrifft aber auch den einzelnen Menschen, sofern er als freies Wesen Anerkennung fordert, den Anspruch auf vernunftgemäßes Dasein stellt xmd von der Freiheit des anderen eine Vermittlung

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verlangt. Die repräsentativen Handlungen, in denen sich der positive Charakter der absoluten Egoität manifestiert, sind Versklaven und Töten. Die andere Bedingung, unter der Freiheit unmöglich wird, ist die Totalisierung des Systems. Ein quasi letzter Akt der Freiheit ist die Setzung desjenigen Systems, das keinen Widerspruch mehr enthält. In diesem System erlischt die Freiheit; es ist ein totalitäres System. Die repräsentativen Handlungen des totalitären Systems sind zwiespältig. Einmal sind sie darauf gerichtet, ein Gefühl kollektiver Freiheit zu erzeugen; auf der anderen Seite hat das System den Charakter des Polizeistaates. Im totalitären System sind auch die Subsysteme totalisiert. Das System der Arbeit ist nicht mehr eine Vermittlungsform menschlicher Freiheit, sondern Zwang und dient prinzipiell der Reproduktion des Systems. Das Recht aber wird zu der totalen Regel, nach der das Zwangssystem sich erhält. Die Handlungen des totalitären Systems zielen, da der Widerspruch unverträglich mit ihm ist, letztlich ebenfalls auf Versklaven oder Töten, es sei denn, ein laut gewordener Widerspruch wird in einem formellen Ritual zurückgenommen und derart das System als widerspruchsfrei ausdrücklich bestätigt. Anhand des Konstrukts von System und Freiheit läßt sich Freiheit als Vermögen des Guten und des Bösen im Rahmen und in den Grenzen dieser beiden Formen des Bösen interpretieren. Die Setzung der gesetzlosen Willkür und die Setzung des totalitären Systems machen die Selbstvermittlung eben der Freiheit unmöglich, die diese Setzung vollzieht. Die zwei hier ableitbaren Formen des Bösen sind sozialer Art und nicht erschöpfend; zum Beispiel bleibt die individual-ethische Frage nach der boshaften Gesinnung unerörtert und anderes mehr. Eine umfassende Erörterung des Problems des Bösen kann jedoch auch nicht erwartet werden. Wohl aber war zu erwarten, daß eine Erörterung des Verhältnisses von System und Freiheit die Dimension des Bösen nicht übergeht. Der aporetische Ausgang dieser Analyse des Verhältnisses von System und Freiheit mag ein Gefühl des Nichtbefriedigtseins hinterlassen. Jedoch die einfache Lösung ist nicht denkbar. Die Vernunft wird darauf bestehen müssen, daß lineare Lösungen des Problems von System und Freiheit abstrakt sind und daß sie als Grundlage konkreten Handelns sowohl die Freiheit wie das System pervertieren. Die Vernunft vermag jedoch einzusehen, daß die Aporie der Garant der Freiheit in praktischen Systemen ist. Die Aporie kehrt übrigens auch wieder, wenn man die Frage des Kongreßthemas „Ist systematische Philosophie möglich?" beantworten wollte. Wird systematische Philosophie in dem Sinn verstanden, daß jedweder

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Widerspruch aufgelöst und die Aporie beseitigt wird, so ist systematisdie Philosophie nicht nur nicht möglich, sondern unerlaubt. Sofern aber reale Freiheit das durch rationale oder praktische Gesetze bestimmte System zur Bedingung hat, ist systematische Philosophie nicht nur möglich, sondern geboten.

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ÜBER DAS PHILOSOPHISCHE IN DEN WISSENSCHAFTEN UND DIE WISSENSCHAFTLICHKEIT DER PHILOSOPHIE Daß das, was wir Philosophie nennen, nicht in demselben Sinne Wissenschaft ist wie die sogenannten positiven Wissenschaften, liegt auf der Hand. Ein Positives, Gegebenes, das von ihr erforscht würde und das neben den gegebenen Forschungsbereichen anderer Wissenschaften seinen Platz hätte, das ist ganz gewiß nicht der Fall der Philosophie. Sie hat es mit dem Ganzen zu tun. Dies Ganze ist aber nicht nur, wie jedes Ganze, das Ganze aller seiner Teile. Es ist als das Ganze eine alle endlichen Erkenntnismöglichkeiten übersteigende Idee, mithin nichts, was wir auf wissenschaftliche Weise erkennen könnten. Und doch behält es einen guten Sinn, von der Wissenschaftlichkeit der Philosophie zu reden. Mit Philosophie meint man ja vielfach so subjektive und private Dinge wie die eigene Weltanschauung, die sich über alle Ansprüche auf Wissenschaftlichkeit erhaben dünkt. Demgegenüber kann Philosophie mit gutem Rechte wissenschaftlich heißen. Denn trotz allem Unterschied von den positiven Wissenschaften wahrt sie dennoch eine verbindliche Nähe zu ihnen, die sie von dem Bereich der auf subjektive Evidenzen gegründeten Weltanschauung scheidet. Das ist nicht nur von ihrer Herkunft her so. Dort sind auf untrennbare Weise Philosophie und Wissenschaft eines — und beides ist eine Schöpfung der Griechen. Mit dem umfassenden Titel Philosophie wurde bei den Griechen alles theoretische Wissen bezeichnet. Freilich, von der Philosophie Ostasiens oder Indiens reden wir inzwischen auch mit dem griechischen Worte, aber wir beziehen damit solche Gedankengestalten in Wahrheit auf unsere abendländische philosophische und wissenschaftliche Tradition, konstruieren auch wohl aus ganz andersartigem Material, wie etwa CHRISTIAN WOLFF, wenn er die sapientia sinica als „praktische Philosophie" auffaßte. Philosophie heißt in unserem Sprachgebrauch aber auch all das, was hier „das Philosophische in den Wissenschaften" genannt werden kann, d. h. die Dimension der Grundbegriffe, die das jeweilige Gegenstandsfeld

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einer Wissenschaft bestimmen, wie etwa anorganische Natur, organische Natur, Pflanzenwelt, Tierwelt, Menschenwelt usw., und solche Philosophie will erst recht nicht ihrem eigenen Denk- und Wissensstil nach hinter der Verbindlichkeit der Wissenschaften zurückstehen. Sie nennt sich heute gern „Wissenschaftstheorie", stellt sich aber unter den Anspruch der Philosophie, Rechenschaftsgabe zu sein. So stellt sich die Frage, wie sie das vermag, ohne Wissenschaft zu sein, die Verbindlichkeit der Wissenschaft zu besitzen, und insbesondere, wie sie das heute vermag, der philosophischen Forderung der Rechenschaftsgabe zu genügen, wo die Logik der Forschung ihrer selbst bewußt genug geworden ist, sich alle phantasievollen Spekulationen über das Ganze zu verbitten, die ihrem Gesetz nicht unterworfen sind. Nun sagt man zwar, daß das bloße Ausgreifen der Wissenschaften nach allen Seiten, das ihrem Methodengedanken Ausführung gibt, ein letztes Bedürfnis der Vernunft unbefriedigt lasse, nämlich, im Ganzen des Seienden Einheit zu gewahren. Das Verlangen nach systematischer Zusammenfassung unseres Wissens bleibe daher der legitime Bereich der Philosophie. Aber gerade dieses Zutrauen zur Philosophie, systematische Ordnungsarbeit zu vollbringen, begegnet immer größerem Mißtrauen. Die Menschheit scheint heute auf eine neue Weise bereit, gleichsam die eigene Begrenztheit anzunehmen rmd trotz der unüberwindbaren Partikularität des Wissens, das die Wissenschaft weiß, in deren Fortschritt und der ihr verdankten steigenden Naturbeherrschung Genüge zu finden. Sie nimmt dabei sogar mit in Kauf, daß mit der steigenden Naturbeherrschung auch die Herrschaft von Menschen über Menschen nicht abnimmt, sondern gegen alle Erwartung immer größer wird und die Freiheit von innen bedroht. Es ist ja eine Folge der Technik, daß diese zu einer solchen Manipulation der menschlichen Gesellschaft, der öffentlichen Meinungsbildung, der Lebensführung aller, der Zeiteinteilung jedes einzelnen zwischen Beruf und Familie führt, daß es uns den Atem beklemmt. Metaphysik und Religion scheinen den Ordnungsaufgaben der menschlichen Gesellschaft besseren Anhalt geboten zu haben als die in der modernen Wissenschaft geballte Macht. Aber die Antworten, die sie zu geben behaupteten, sind der heutigen Menschheit Antworten auf Fragen, die man nicht wirklich fragen kann imd die, wie sie meint, man auch nicht zu fragen braucht. So scheint heute wahr geworden, was noch Hegel aus seinem vollen Engagement in der Sache der Philosophie heraus als einen in sich unmöglichen Widerspruch empfand, wenn er sagte, ein Volk ohne Metaphysik sei wie ein Tempel ohne Allerheiligstes, ein leerer Tempel, ein Tempel, in dem nichts mehr wohnt und der deshalb selber nichts mehr ist. Indes,

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„ein Volk ohne Metaphysik"! Man kann schwerlich überhören, daß in dieser Wendung Hegels das Wort „Volk" nicht auf eine politische Einheit, sondern auf eine Sprachgemeinschaft geht. Damit aber schiebt sich Hegels Satz, der Rührung und Heimweh erregen möchte oder auch den Spott der radikalen Aufklärer herausfordert, plötzlich wieder in unsere eigene Zeit- und Weltsituation hinein und läßt uns im Ernste fragen: Liegt in der Solidarität, die alle Sprecher einer Sprache eint, am Ende doch noch immer etwas, nach dessen Inhalt und Struktur sich fragen läßt und wonach keine Wissenschaft auch nur zu fragen vermag? Ist es am Ende bedeutsam, daß die Wissenschaft nicht nur nicht „denkt" — im emphatischen Sinne des Wortes, den HEIDEGGER in seinem viel mißverstandenen Satze meint —, sondern auch nicht wirklich eine eigene Sprache spricht? Kein Zweifel, das Problem der Sprache hat innerhalb der Philosophie unseres Jahrhunderts eine zentrale Stellung errungen, die sich weder mit der älteren Tradition HuMBOLorscher Sprachphilosophie noch mit den umfassenden Ansprüchen der allgemeinen Sprachwissenschaft oder Linguistik deckt. Wir verdanken das in gewissem Umfang der Wiederbeachtung der praktischen Lebenswelt, die einerseits durch die phänomenologische Forschung, andererseits innerhalb der angelsächsischen pragmatischen Denktradition erfolgt ist. Mit der Thematisierung der Sprache, die unlösbar zur menschlichen Lebenswelt gehört, scheint sich eine neue Grundlage für die alte Frage der Metaphysik nach dem Ganzen zu bieten. Sprache ist in diesem Zusammenhang nicht ein bloßes Instrument oder eine ausgezeichnete Ausstattung, die dem Menschen zukommt, sondern das Medium, in dem wir als gesellschaftliche Wesen von Anbeginn leben und das das Ganze offenhält, in das wir hineinleben. Orientierung auf das Ganze — so etwas liegt in Sprache freilich nicht, solange es sich um die monologischen Sprechweisen wissenschaftlicher Bezeichnungssysteme handelt, die sich ganz und gar von dem jeweils zu bezeichnenden Forschungsbereich her bestimmen. Überall dort aber kommt Sprache als Orientierung auf das Ganze hin ins Spiel, wo wirklich gesprochen wird, das heißt, wo das Zueinander zweier Sprecher, die ins Gespräch geraten, die „Sache" umkreist. Denn überall, wo Kommunikation geschieht, wird nicht nur Sprache gebraucht, sondern bildet sich Sprache. Daher kann sich Philosophie von der Sprache führen lassen, wenn sie ihrem Hinausfragen über alle wissenschaftlich objektivierbaren Gegenstandsbereiche nach dem „Ganzen" Führung geben will — und sie hat es immer schon getan, von den hinführenden Reden des SOKRATES an und jener „dialektischen" Orientierung an den ,logoi', an denen PLATO und ARISTOTELES in gleicher Weise für ihre gedankliche Analyse gleichsam Maß nehmen. Es ist jene berühmte

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zweitbeste Fahrt, zu der SOKRATES im PLAxoNischen Phaidon aufbricht, nachdem ihn die unmittelbare Erforschung der Dinge, wie die Wissenschaft seiner Zeit sie ihm angeboten hatte, in völlige Orientierungslosigkeit versetzt hatte. Es ist die Wendung zur Idee, in der sich Philosophie als das Gespräch der Seele mit sich selbst, das heißt als Denken, in unendlicher Selbstverständigung vollzieht. Noch die Sprache der Hegelschen Dialektik, die die erstarrte Sprache der Begriffe in Satz und Gegensatz, Spruch und Widerspruch aufzuheben und über sich hinauszuheben strebt, denkt Sprache weiter und kehrt selber in Sprache ein, sofern sie es ist, in der sich der Begriff zum Begriff bringt. Die Grundlage, auf der sich dergestalt in Griechenland Philosophie erhob, war zwar die Unbändigkeit des Wissenwollens, aber doch nicht das, was wir Wissenschaft nennen. Wenn der erste Name für die Metaphysik „erste Wissenschaft" (prima philosophia) lautete, so besaß solches Wissen von Gott, Welt und Mensch, die den Inhalt der traditionellen Metaphysik ausmachten, nicht nur auf unbestrittene Weise einen absoluten Vorrang gegenüber allem anderen Wissen, das in den mathematischen Wissenschaften, der Zahlenlehre, Trigonometrie und Musik (Astronomie) seine vorbildliche Darstellung hatte. Was wir Wissenschaft nennen dagegen, wäre zu einem größeren Teile bei dem griechischen Gebrauch des Wortes ,philosophia' überhaupt nicht in den Blick getreten. Der Ausdruck Erfahrungswissenschaften klänge für das Ohr des Griechen wie ein hölzernes Eisen. Man nannte das Historie, Kunde. Was dem uns gewohnten Begriff von Wissenschaft entspricht, hätten sie am ehesten als das Wissen verstanden, auf Grund dessen ein Herstellen möglich wird: sie nannten es poietike episteme oder techne. Das Standardbeispiel dafür und zugleich die führende Spielart solcher techne war die Medizin, die auch wir nicht so sehr Wissenschaft nennen als Heilkunst, wenn wir ihre menschheitliche Aufgabe ehren wollen. Das Thema, das uns heute abend beschäftigt, umfaßt daher auf seine Weise das Ganze des abendländischen Geschichtsganges, den Anfang mit Wissenschaft und die heutige kritische Situation, in der sich eine auf der Grundlage der Wissenschaft zu einem einzigen technischen Riesenbetrieb umgearbeitete Welt befindet. Ja, unsere Frage reicht damit zugleich über unsere aus unserer eigenen Geschichte gegenwärtige Welt hinaus, indem sie es als eine Herausforderung an unser Denken anzunehmen begirmt, daß es auch Weisheits- und Wissenstraditionen anderer Kulturkreise gibt, die sich nicht in der Sprache der Wissenschaft und auf der Basis der Wissenschaft formulieren. So wird es methodisch geboten sein, das Verhältnis von Philosophie und Wissenschaft in seiner vollen Weite zum Thema

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ZU machen, das heißt ebensosehr von seinen griechischen Anfängen aus wie auf seine späten Folgen hin, die in der Neuzeit zutage treten. Denn Neuzeit definiert sich — gegenüber all den umstrittenen Herleitungen und Datierungen — eindeutig dadurch, daß ein neuer Begriff von Wissenschaft und Methode aufkommt, der zuerst von GALILEI in einem Teilgebiet verwirklicht und zuerst von DESCARTES philosophisch begründet worden ist. Seit damals, also seit dem 17. Jahrhundert, findet sich das, was wir heute Philosophie nennen, in einer veränderten Lage. Sie ist der Legitimation gegenüber den Wissenschaften bedürftig geworden, wie es das vordem niemals gab, und sie hat sich zwei Jahrhunderte lang, bis zu Hegels und ScHELLiNGs Tode, in solcher Selbstverteidigung gegenüber den Wissenschaften selber aufgebaut. Die Systembauten der letzten zwei Jahrhunderte sind eine dichte Folge solcher Anstrengung, das Erbe der Metaphysik mit dem Geist der modernen Wissenschaft zu versöhnen. Danach, mit dem Eintritt in das positive Zeitalter, wie man es seit COMTE nennt, war es mit der Wissenschaftlichkeit der Philosophie ein nur noch akademischer Emst, mit dem man sich aus den Stürmen der einander bekämpfenden Weltanschauungen aufs feste Land zu retten suchte und dabei in den Sumpf des Historismus geriet oder an den Untiefen der Erkenntnistheorie strandete bzw. im Binnensee der Logik hin und hertreibt. So liegt ein erster Zugang zur Verhältnisbestimmung von Philosophie und Wissenschaft im Rückgang auf die Zeit, in der es mit der Wissenschaftlichkeit der Philosophie noch voller Ernst war, und das war zuletzt die Zeit Hegels und SCHELLINGS. In der Wiederbesinnung auf die Einheit alles unseres Wissens wollten vor nun anderthalb Jahrhunderten Hegels und SCHELLINGS systematische Entwürfe „die Wissenschaft" neu rechtfertigen und umgekehrt den Idealismus auf die Wissenschaft begründen, SCHELLING durch seinen physikalischen Beweis für den Idealismus, Hegel durch die Zusammenbindung der Philosophie der Natur und der Philosophie des Geistes zur Einheit der Realphilosophie gegenüber der Idealphilosophie der Logik. Nicht, als ob es darum gehen könnte, den Versuch einer spekulativen Physik zu erneuern, der im 19. Jahrhundert geradezu als Alibi gegenüber der Philosophie gebraucht und mißbraucht wurde. Zwar bleibt das Bedürfnis der Vernunft nach Einheit und Einheit des Wissens bis heute lebendig, aber es weiß sich von nun an im Konflikt mit dem Selbstbewußtsein der Wissenschaft. Je ehrlicher und strenger diese sich versteht, desto mißtrauischer ist sie gegen alle solche Einheitsversprechungen und Endgültigkeitsansprüche geworden. Einsehen, warum der Versuch einer spekulativen Physik und einer Einordnung der Wissenschaften in das von der

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Philosophie gelehrte System der Wissenschaft gescheitert ist, heißt daher zugleich, Rang und Grenze der Wissenschaft schärfer erkennen. Nun waren Hegel und SCHELLING selber nicht blind gegen den legitimen Autonomieanspruch der ErfahrungsWissenschaften, die ihren eigenen methodischen Gang gehen und die eben durch dies ihr eigenes Schrittgesetz der Philosophie der Neuzeit ihre neue Aufgabe gestellt haben. Auf dem Höhepunkte seines Berliner Wirkens hat Hegel in der Vorrede zur zweiten Auflage seiner Enzyklopädie einiges darüber gesagt, wie er sich das Verhältnis von Philosophie und Erfahrungswissenschaften vorstellt und welche philosophischen Probleme darin stecken. Es ist ja einfach genug einzusehen, daß die Zufälligkeit des hier und jetzt Begegnenden nicht vollständig aus der Notwendigkeit des Begriffs abgeleitet werden kann. Selbst der Extremfall sicherer Voraussage, wie ihn die großräumigen Verhältnisse unseres Sonnensystems für die Berechnung der Länge von Tag und Nacht, der Dauer von Verfinsterungen usw. gestatten, enthält nicht nur immer noch einen Spielraum von Abweichungen (der freilich alle kunstlose Beobachtungsmöglichkeit um Dezimalen unterschreitet). Wesentlicher ist, daß das Erscheinen der vorausgesagten Himmelsereignisse am Himmel als solches nicht selbst voraussagbar ist. Denn für die natürliche Beobachtung hängt es in jedem Falle von den Wetterbedingungen ab — und wer wollte seine Zuversicht auf Wetterprognosen gründen? Nun handelt es sich bei einem solchen drastischen Beispiel gewiß nicht um das universelle Verhältnis zwischen Zufall und Notwendigkeit, sondern um eine innerwissenschaftliche Problematik. Hegel hat gezeigt, daß zwischen der Notwendigkeit des allgemeinen Gesetzes und der Zufälligkeit des einzelnen Falles eine deskriptive Identität besteht. Die Notwendigkeit der Naturgesetze ist, gemessen an der Notwendigkeit des Begriffs, selbst als eine zufällige anzusehen. Es ist keine einsehbare Notwendigkeit — wie man es etwa eine einsehbare Notwendigkeit nennen kann, daß ein lebendiger Organismus im Prozeß des Stoffwechsels seinen Bestand erhalten muß. Im Bereich der Naturforschung ist die Formulierung mathematisch genauer Gesetzmäßigkeiten ein approximatives Ideal. Es ist eine sehr vage Normvorstellung von Einheit, Einfachheit, Rationalität, ja von Eleganz, der solche Gesetzesaussagen folgen. Ihr wahrer Maßstab sind allein die Daten der Erfahrung selbst. Erst recht scheint der Bereich der menschlichen Dinge in das Reich des Zufalls zu fallen. Der geschichtliche Skeptizismus wird von der Erfahrung weit besser gestützt als der Glaube an geschichtliche Notwendigkeiten und an die Vernunft in der Geschichte. Hier bliebe das Bedürfnis der Vernunft vollends unbefriedigt, wenn man sich bloß auf Regelhaftigkeiten

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im Laufe der Geschichte berufen würde, die wie die Naturgesetze ihrem eigenen Seinssinne nach nur das ausformulieren, was wirklich geschieht. — Das Bedürfnis der Vernunft meint etwas anderes, und Hegels Philosophie der Weltgeschichte ist eine gute Illustration dafür. Der apriorische Gedanke, der im Wesen des Menschen liegt und den er in der Geschichte erkennt, ist der Gedanke der Freiheit. Hegels berühmtes Schema von Orient, Antike und christlicher Welt lautete: Im Orient ist nur einer frei, in der Antike sind es einige, in der christlichen Welt sind alle Menschen frei. Das ist die Vernunftansicht der Weltgeschichte. Das will nicht sagen, daß damit die Weltgeschichte in allen Tatsächlichkeiten ihres Geschichtsganges konstruierbar wird. Der Spielraum der Erscheinungen, die man zufällig nennen darf, bleibt unendlich. Aber der Zufall ist keine Gegeninstanz, sondern geradezu eine Bestätigung des Sinnes von Notwendigkeit, der dem Begriff zukommt. Es ist keine Einrede gegen die Vernunftansicht der Weltgeschichte, daß es die Freiheit aller, die Hegel als das Prinzip der christlichen Welt dargestellt hat, in der Wirklichkeit gar nicht gibt und daß Zeiten der Unfreiheit immer wieder auf treten, ja daß sich Systeme gesellschaftlicher Unfreiheit vielleicht, wie in unserer zugespitzten Weltsituation, auf eine unausweichliche Weise endgültig etablieren könnten. Das fällt in das Reich der Zufälligkeit der menschlichen Dinge, das dennoch gegen das Prinzip keinen Bestand behält. Denn es gibt kein höheres Prinzip der Vernunft als das der Freiheit. So meinte Hegel imd so meinen wir. Es ist kein höheres Prinzip denkbar, als das der Freiheit aller, und wir verstehen die wirkliche Geschichte von diesem Prinzip aus: als den sich immer wieder erneuernden und nie endenden Kampf um diese Freiheit. Es wäre ein Mißverständnis, das freilich oft genug begangen wird, als könnte dieser Vernunftaspekt des Begriffs von den Tatsachen widerlegt werden. Das berüchtigte „Um so schlimmer für die Tatsachen" behält eine tiefe Wahrheit. Der Satz ist nicht gegen die Erfahrungswissenschaften gerichtet, sondern im Gegenteil gegen das, was Hegel in der Berliner Vorrede die Übertünchung der Widersprüche nennt, die zwischen der Philosophie und den Wissenschaften klaffen. Er will von einer solchen „mäßigen Aufklärung" nichts wissen, in der sich die Forderung der Wissenschaft und die Argumentation aus Vernunftbegriffen wie in einer Art Kompromiß zusammenfinden. Das war ein „nur dem Anschein nach glücklicher Zustand". Der Friede war „oberflächlich genug". „Aber in der Philosophie hat der Geist die Versöhnung seiner mit sich selbst gefeiert." Hegel will offenbar sagen, daß das Vemunftbedürfnis nach Einheit unter allen Bedingungen legitim ist und daß es allein von der Philosophie be-

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friedigt werden kann, während die Wissenschaft, wenn sie sich anmaßt, sich selbst absolut zu setzen, aber nur dann, mit der Philosophie in einen unauflösbaren Widerspruch tritt. Genau das ist der Fall in unserem Beispiel von der Freiheit aller. Wer nicht sieht, daß das gerade Geschichte ist, daß die Freiheit aller ein unabdingbares Prinzip geworden ist und doch immer erneut der Anstrengung ihrer Verwirklichung bedarf, hat das dialektische Verhältnis von Notwendigkeit und Zufall und damit den Anspruch der Philosophie, konkrete Vernünftigkeit zu erkennen, nicht verstanden. Nun sehen wir Hegel nicht nur im Bereiche der Geschichtswissenschaft, wo seine produktiven Beiträge beträchtlich sind, sondern auch im Bereich der Naturerkenntnis heute mit immer gerechterem Auge. Er stand auf der Höhe der Wissenschaft seiner Zeit. Was seine und SCHEILINGS Naturphilosophie der Lächerlichkeit preisgegeben hat, war nicht ihr Informationsstand, sondern die Verkennung der wesenhaften Andersartigkeit der Vernunftansicht der Dinge gegenüber der Erfahrungserkenntnis. Sie lag gewiß auch auf der Seite SCHELLINGS und Hegels, weit mehr aber auf der Seite der Erfahrungswissenschaften, die sich gegen ihre eigenen Voraussetzungen blind machten. Eine sich in ihrer Bedingtheit wissende Erfahrungserkenntnis muß in Wahrheit darauf bestehen, daß sie in ihrem eigenen Forschungsgange auf sich selbst steht und sich allem dogmatischem Gebrauche entzieht. Es ist eine bis heute nie genug zu beherzigende Lehre geblieben, daß das Philosophische nicht aus der Arbeit der wissenschaftlichen Forschung gleichsam herausgelesen werden kann, sondern weit eher darin zutage kommt, daß sich die Wissenschaften selber von allen philosophischen Ergänzungen und spekulativen Dogmatisierungen fernhalten und damit die Philosophie vor kurzschlüssigen Interventionen bewahren. Hegel und SCHELLING sind weit mehr das Opfer des Dogmatismus in den Wissenschaften als das ihres eigenen dogmatischen Vollendungswahns. Wenn später der Neukantianismus so gut wie die Phänomenologie erneut für sich in Anspruch nahmen, die Grundbegriffe der jeweiligen Forschungsregionen in ihrer apriorischen Gegebenheit zum Gegenstand zu machen, so hat zwar die Forschung den dogmatischen Anspruch, der damit verbunden ist, in Wahrheit desavouiert. Die Chemie ist in die Physik, die Biologie ist in die Chemie aufgegangen und die ganze Klassifikation von Pflanzenwelt und Tierwelt ist dem Interesse an den Übergängen und der Kontinuität dieser Übergänge gewichen. Die Logik vollends ist mehr und mehr von der modernen Mathematik unter ihre Fittiche genommen worden. Mein eigener Lehrer NATORP hat noch versucht, die Dreidimensionalität des Raumes apriorisch-begrifflich zu beweisen, so wie Hegel

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die Siebenzahl der Planeten. Das ist vorbei. Aber die Aufgabe bleibt. Denn das in der Sprache niedergelegte Verständnis unserer Lebenswelt läßt sich nicht durch die Erkenntnismöglichkeiten der Wissenschaft voll ablösen. Die Wissenschaft kann uns vielleicht in den Stand setzen, Leben in der Retorte zu erzeugen oder die Sterbenszeit des Menschen künstlich ins Beliebige zu verlängern. Aber dadurch ändert sich nichts an den harten Diskontinuitäten von Stofflichkeit und Lebendigkeit oder gar an der von wirklich gelebtem Leben und dem Hinwelken in den Tod. Die Artikulation der Welt, in der wir leben, durch Sprache und kommunikative Kooperation, ist keine bloße Dimension des Konventionellen oder der Niederschlag eines vielleicht falschen Bewußtseins: sie bildet ab, was ist, und ist im ganzen ihrer Legitimität gewiß, gerade weil sie im einzelnen Einrede, Widerspruch und Kritik anzunehmen vermag. Die Zerlegbarkeit und Erzeugbarkeit alles Seienden, die die moderne Wissenschaft leistet, stellt dem gegenüber ein nur partikulares Feld des Ausgriffs tmd der Beherrschung dar, das sich nur so weit begrenzt, als der Widerstand des Seienden gegen seine Vergegenständlichung nicht überwunden werden kann. So läßt sich nicht verkennen, daß sich die Wissenschaft immer wieder und immer noch einem Anspruch des Begreifens gegenüberfindet, vor dem sie versagt — dem sie sich versagen muß. Dieser Anspruch wird, seit SOKRATES im Phaidon die Flucht in die Logoi, die Dialektik, begründete, von der Philosophie als ihre eigene Aufgabe festgehalten. Hegel steht in dieser Erbfolge. Auch er folgt der Führung der Sprache. „Die Sprache des übertägigen Bewußtseins" ist bereits von Kategorien durchzogen, die bis zum Begriff zu führen die philosophische Aufgabe ist. So hat Hegel die Dinge gesehen. Wir stehen heute vor der Frage, ob wir die Dinge etwa deshalb nicht mehr so sehen dürfen, weil die Wissenschaft sich selbst von der Sprache emanzipiert hat, indem sie eigene Bezeichnungssysteme und symbolische Darstellungsformen entwickelt hat, die sich nicht mehr in die Sprache des alltäglichen Bewußtseins übersetzen lassen. Gehen wir nicht in eine Zukunft, in der sprachlose, wortlose Angepaßtheit die Affirmation der Vernunft überflüssig macht? Und wie sich heute die Wissenschaft gleidisam auf eine neue Weise autonom setzt, indem ihr Wiedereingreifen in das Leben nicht durch den gemeinsamen Gebrauch allgemeinverständlicher Sprache vermittelt wird, so zeigt sich auch in einer zweiten Dimension ein ähnliches Bedenken. Bekanntlich hat Hegel das System der Bedürfnisse als die Grimdlage von Gesellschaft und Staat mit besonderem Interesse studiert, aber dies System den geistigen Formen des sittlichen Lebens entschieden untergeordnet. Heute dagegen sehen wir dieses System in einen Teufelskreis von Produktion und Konsum gebannt.

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der die Menschheit immer tiefer in die Selbstentfremdung treibt, weil die natürlichen Bedürfnisse immer mehr selbst „gemacht" sind, d. h. sich immer mehr als das Produkt eines andersartigen Interesses und nicht des Interesses an der Bedürfnisbefriedigung erweisen. Nun könnte man freilich fragen, ob die Entdogmatisierung der Wissenschaft, die sich im 20. Jahrhundert vollzogen hat, indem sie die Trennung von der natürlichen Anschauung zur Forderung erhob, damit nicht am Ende nichts weiter getan hat — und das wäre verdienstlich —, als einen allzu leichten Zugang des menschlichen Vorstellungsvermögens zu den Feldern der Forschung zu versperren, und daß sie so auch umgekehrt und positiv die dogmatische Verführung gebrochen hat, die aus dieser Zugänglichkeit entsprang und die Hegel die Übertünchung der Widersprüche genannt hat. Das Modell der Mechanik, das in Hegels und SCHELLINGS Zeit auf der sicheren Grundlage der NewTONSchen Physik beruhte, besaß eine alte Nähe zum Machen, zur mechanischen Verfertigung, und hatte damit die Handhabung der Natur zu künstlich ersonnenen Zwecken ermöglicht. Es lag in dieser universellen technischen Perspektive eine gewisse Entsprechung zu dem philosophischen Vorrang, den das Selbstbewußtsein in der neueren Entwicklung gewonnen hatte. Wir sind dabei immer in der Gefahr, die Geschichtskonstruktion, die vom deutschen Idealismus geschaffen worden ist, unbesehen zu akzeptieren. Man muß sich fragen, ob beides am Ende zu kurz schließt. Die zentrale Stellung des Selbstbewußtseins ist im Grunde erst von dem deutschen Idealismus und seinem Anspruch, alle Wahrheit aus dem Selbstbewußtsein zu konstruieren, gefestigt worden, indem man DESCARTES Auszeichnung der denkenden Substanz und ihres Gewißheitsvorranges als obersten Grundsatz aufbaute. Gerade hier hat aber das 19. Jahrhundert die Grundlagen erschüttert. Die Kritik der Illusionen des Selbstbewußtseins, die, von den Antizipationen SCHOPENHAUERS und NIETZSCHES inspiriert, inzwischen in die Wissenschaft eingedrungen ist und der Psychoanalyse ihren Einfluß gegeben hat, steht nicht isoliert da und Hegels Versuch, den idealistischen Begriff des Selbstbewußtseins zu überschreiten und die Welt des objektiven Geistes als eine höhere Dimension der Wahrheit aus der Dialektik des Selbstbewußtseins hervorgehen zu lassen, bedeutete eine Förderung in der gleichen Richtung, die MARX und die Ideologienlehre des MARxismus gegangen sind. Noch bedeutsamer aber könnte es scheinen, daß der Begriff der Objektivität, wie er in der Physik mit dem der Meßbarkeit verkoppelt ist, durch die neuere theoretische Physik tiefgreifende Wandlungen erfahren hat. Die Rolle, die die Statistik selbst in diesen Bereichen zu spielen be-

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gönnen hat und die sich unser ganzes wirtschaftliches und gesellschaftliches Leben mehr und mehr unterwirft, läßt der Mechanik und der Kraftmaschine gegenüber neue Modelle ins Bewußtsein treten, deren Eigenart die Selbstregulierung ist und die damit stärker als an das Machbare an das Lebendige, an das in Regelkreisen organisierte Leben denken lassen. Es wäre jedoch ein Irrtum, den Herrschaftswillen zu verkennen, der sich in diesen neuen Methoden der Beherrschung von Natur und Gesellschaft seinen Ausdruck geschaffen hat. Die Unmittelbarkeit, in der sich menschlicher Eingriff überall dort empfiehlt, wo Mechanismen vollkommen durchsichtig geworden sind, ist vermittelteren Formen des Stenerns, Balancierens, Organisierens gewichen. Das scheint mir alles. Nun aber ist zu bedenken: Vermutlich muß man den Fortschritt der industriellen Zivilisation, den wir der Wissenschaft verdanken, gerade auch unter dem Gesichtspunkt sehen, daß die Macht selber, die von Menschen über die Natur und die anderen Menschen ausgeübt wird, dadurch ihre Augenfälligkeit verloren hat und daß damit eine gesteigerte Verführung zum Mißbrauch herbeigeführt worden ist. Man denke an den organisierten Massenmord oder an die Kriegsmaschine, die auf einen Knopfdruck zu ihrer vernichtenden Wirkung gebracht wird. Man denke aber auch an den steigenden Automatismus aller gesellschaftlichen Lebensformen, an die Rolle der Planung etwa, zu deren Wesen es ja gehört, daß sie auf lange Sicht hinaus Entscheidungen trifft, und das heißt Entscheidungsfreiheit benimmt, oder an die steigende Macht der Verwaltung, die dem Bürokraten eine von niemandem überhaupt gewollte, aber dennoch nicht vermeidbare Macht in die Hand gibt. Immer mehr Bereiche unseres Lebens treten so unter Zwangsformen automatischer Abläufe und immer weniger erkennt sich in diesen Objektivationen des Geistes der Mensch und sein Geist selber wieder. Indessen scheint mir eben mit dieser Situation des sich selber kreuzigenden Subjektivismus der Neuzeit ein anderer Aspekt an Bedeutung zu gewinnen, der dem neuzeitlichen Selbstbewußtsein und seiner Übersteigerung bis zur Anonymisierung des Lebens gänzlich entrückt ist, ja nach der umgekehrten Richtung hin alten Motiven eine neue Einschlagskraft verheißt, und auch unter diesem Aspekt scheint mir Hegel eine neue Aktualität zu zeigen: Er ist nicht nur der Vollender des der Neuzeit zugrunde liegenden Gedankens der Subjektivität, der diese Struktur der Subjektivität über die Gestalten des objektiven Geistes und des absoluten Geistes hin ausdehnt, sondern er bringt auch einen Sinn von Vernünftigkeit neu zu Geltung, der aus ältestem griechischem Ursprung ist. Der Begriff der Vernunft und der Vernünftigkeit ist nicht nur eine Bestimmung unseres

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Selbstbewußtseins. Er spielte in der griechischen Philosophie eine entscheidende Rolle, ohne daß ein Begriff des Subjektes oder der Subjektivität überhaupt entwickelt worden war, und es bleibt eine beständige Provokation unseres Hegel-Verständnisses, daß Hegel als den letzten Paragraphen seines Systems der philosophischen Wissenschaft kommentarlos einen griechischen Text aus der Metaphysik des ARISTOTELES abdruckt. Gewiß ist es ein Text, in den wir kaum anders können, als unseren Begriff des Selbstbewußtseins einzubringen. Das höchste Selbstbewußtsein muß dem höchsten göttlichen Seienden zukommen. Und doch gipfelt in dem Selbstbewußtsein des sich selber denkenden Gottes für das griechische Denken der gesamte Aufbau des Seins, und zwar so, daß innerhalb desselben das menschlidie Selbstbewußtsein eine recht bescheidene Rolle spielt. „TipuüTara rd doTQu": Das Würdigste sind die Sterne — das bleibt der unverrückbare Maßstab, unter dem das griechische Denken die Stellung des Menschen im Kosmos sieht. Das klingt uns fremd, daß nicht der Mensch, sondern die Sterne das Ehrwürdigste unter dem Seienden darstellen sollen. Es klingt unerreichbar fern von Hegel sowohl als von unserer eigenen Gegenwart. Und doch liegt darin eine dialektische Aktualität verborgen, die es freizulegen gilt und die sowohl Hegel als auch unseren griechischen Vätern, wie mir scheint, eine neue Bedeutung verleiht. Hegels Bestimmung der Philosophie als der Versöhnung des Verderbens erscheint uns dann nämlich weniger als eine gültige Wahrheit oder idealistische Unwahrheit, denn als eine Art romantischer Antizipation. Aus der Entzweiung von Selbstbewußtsein und Weltwirklichkeit sollte nach Hegel die höhere Form der Wahrheit durch Versöhnung und Vereinigung der Gegensätze hervorgehen, indem das Subjektive aus der Starrheit seiner Entgegensetzung zum Objektiven befreit würde. Das war das eschatologische Pathos seiner Philosophie. Was uns umgibt, ist freilich das Gegenteil: die schlechte Unendlichkeit eines endlos fortschreitenden, wie getriebenen Bestimmens, Bemächtigens, Aneignens. Hegel verband solche schlechte Unendlichkeit mit dem äußeren Verstandesaspekt der vernünftigen Welt tmd der Hartnäckigkeit, mit der er auf Fixierung der Gegensätze besteht und damit das Äußere in seiner Gegenstellung gegen sich, in seiner puren Gegenständlichkeit setzt. Wenn nun Hegel demgegenüber die wahre Unendlichkeit des sich in sich bestimmenden Seins lehrt, zum Beispiel die des Lebendigen, zum Beispiel die des Selbstbewußtseins, zum Beispiel die der sich zum Bewußtsein ihrer Freiheit befreienden Menschheit, oder des sich in Kunst, Religion und Philosophie selber durchsichtig gewordenen Geistes, sieht man sich auf einmal jenseits der Zeitenschründe wie auf einen neuen Boden gestellt.

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Die griechische Vernünftigkeit, die Hegel mit dem modernen Selbstbewußtsein zu neuer Einheit zu vereinigen versucht, nimmt sich, wenn sie nicht mehr als eine bloße Vorgestalt der Moderne gesehen wird, anders aus. Sie ist nicht mehr die rätselhafte Selbstvergessenheit, die sich im Anschauen der Welt verlor und nur in einem höchsten Weltengott sich auf sich selbst bezog — sie erscheint gegenüber der schlechten Unendlichkeit, in die es uns hineintreibt, als das Bild einer eigenen uns möglichen Zukunft und eines möglichen Lebens und Überlebens. Nicht mehr der Bau von Systemen, die in Gedanken vereinigen, was in Widerspruch miteinander getreten ist, nicht mehr die maßlose Leidenschaft der Architekten des Systembaus scheint uns das Ideal der Vernunft vor Augen zu halten. Auf eine rätselhafte Weise sieht sich ja das Bedürfnis der Vernunft nach Einheit im Fortgang der Forschung immer wieder enttäuscht und hat in einer erstaunlichen Weise gelernt, sich in einer Vielzahl von Partikularitäten zurechtzufinden, die ihrerseits jede für sich die partikulare Struktureinheit von Systemen besitzen. Es scheint mir von einer symbolischen Tragweite, daß an die Stelle des Systembaus die Systemtheorie getreten ist. Freilich, welch ein Bedeutungswechsel im Sinne des Wortes Theorie liegt hier vor! Was liegt in diesem Wandel? Das Wort Theorie, das heißt theoria, ist ein griechisches Wort. Es stellt die eigentliche Auszeichnung des Menschen, dieser gebrochenen und untergeordneten Erscheinung innerhalb des Universums dar, daß er seinen geringen und endlichen Maßen zum Trotz zu der reinen Anschauung des Universums fähig ist. Aber es wäre vom Griechischen her unmöglich, Theorien „aufzustellen". Das klingt ja, als ob wir sie „machten". Das Wort meint nicht, wie das vom Selbstbewußtsein her gedachte theoretische Verhalten, jene Distanz zum Seienden, die das, was ist, unparteiisch erkennen läßt und es damit anonymer Beherrschung unterwirft. Die Distanz der theoria ist vielmehr die der Nähe und der Zugehörigkeit. Der uralte Sinn von theoria ist Teilnahme an der Festgesandtschaft zur Verehrung der Götter. Das Schauen des göttlichen Vorgangs ist nicht die teilnahmslose Feststellung eines Sachverhalts oder Beobachtung eines prächtigen Schauspiels, sondern eine echte Teilhabe an dem Geschehen, ein wirkliches Dabeisein. Dem entspricht, daß die Vernünftigkeit des Seins, diese große Hypothese griechischer Philosophie, nicht primär eine Auszeichnung des menschlichen Selbstbewußtseins ist, sondern eine des Seins selber, das so das Ganze ist und so als das Ganze erscheint, daß die menschliche Vernunft weit eher als ein Teil dieser Vernünftigkeit zu denken ist und nicht als das Selbstbewußtsein, das sich dem Ganzen gegenüber weiß. So ist es gleichsam ein anderer

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Weg, in dem die menschliche Besinnung sich in sich selbst vertieft und sich findet: nicht der Weg nach innen, zu dem AUGUSTIN auf rief, sondern ein Weg der vollen Hingabe an das Außen, in dem der Suchende sich selbst dennoch findet. Das war Hegels Größe, daß er diesen Weg der Griechen nicht als einen falschen Weg gegenüber jenem neuzeitlichen der Selbstbesinnung erkannte, den man hinter sich gelassen habe, sondern als eine Seite, die dem Sein selber zukommt. Es war die großartige Leistung seiner Logik, in der Dimension des Logischen diesen das Entgegengerichtete sammelnden und tragenden Grund erkannt zu haben. Ob er das nun Nus oder Gott nannte, es ist jedenfalls ebensosehr das volle Außen, wie es in der mystischen Versenkung des Christen das letzte Innen ist. Wir stehen am Ende unserer Überlegungen. Das Verhältnis von Wissenschaft und Philosophie erwies sich an dem Standort, auf den uns Hegel geführt hat und mit ihm SCHELLING, als ein dialektisches. Nicht die aus den Wissenschaften herauszuhebende Philosophie, die ihren begrenzten Sinn behalten mag, und auch nicht die spekulative Grenzüberschreitung nach der Seite einer dogmatischen Festlegung der in stetem Fluß befindlichen Forschung können das Verhältnis von Philosophie und Wissenschaft angemessen beschreiben. Wir müssen dies Verhältnis in seiner vollen Gegensätzlichkeit positiv denken lernen. Keine Abschwächung zu mäßiger Aufklärung, keine Übertünchung soll sein. Es wäre Verblendung zu meinen, daß diese Verlegenheit uns nötigte, Philosophie auf die Seite der Kunst zu stellen und ihr an allen Vorrechten der Kunst und allen Gewagtheiten, die mit diesen Vorrechten verbunden sind, teilzugeben. Die Anstrengung des Begriffs gilt es auch weiterhin auf sich zu nehmen. Zwar, der Anspruch systematischer Einheit scheint uns heute weniger einlösbar, als im Zeitalter des Idealismus es schien. So zieht uns gleichsam eine innere Affinität zu der zauberhaften Mannigfaltigkeit hinüber, die die Aussage der Kunst in den Reichtümern ihrer Werke vor uns ausbreitet. Weder das Prinzip des Selbstbewußtseins noch irgendein anderes Prinzip letzter Einheitsgebung und Selbstbegründung geben uns die Erwartung, das System der Philosophie doch noch konstruieren zu können. Indessen bleibt das Bedürfnis der Vernunft nach Einheit unabweisbar. Dieses Bedürfnis schweigt auch nicht vor dem hundertäugigen Argus, den nach Hegels schönem Worte das Werk der Kunst darstellt, in dem ja keine Stelle ist, die uns nicht sieht. Es bleibt in jedem Aspekt die Aufgabe der Selbstverständigung des Menschen mit sich selber bestehen, die in keiner seiner Erfahrungen verleugnet werden kann und so gewiß auch nicht in den Erfahrungen der Kunst. Aber sowie die Aussagen der Kunst in den Prozeß unserer Selbstverständigung mit uns selber integriert werden, wenn sie in ihrer

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Walirheit wahrgenommen werden, ist nicht mehr Kunst, sondern ist Philosophie am Werk. Es ist das gleiche Bedürfnis der Vernunft, das uns die Einheit unserer Erkenntnis immer wieder herzustellen nötigt, das auch Kunst in tms eingehen läßt. Dazu gehört aber auch in unserer Welt all das, was uns in der Durchmessung aller Weltzugänge und der Erprobung aller Weitausgriffe die Wissenschaften gewähren. Dazu gehört nicht zuletzt das Erbe unserer Tradition philosophischer Vemunftansichten, von denen wir nicht eine armehmen und ganz übernehmen können, aber die wir alle nicht ungehört lassen dürfen. Das Einheitsbedürfnis der Vernunft verlangt es. Das Vorbild der Wissenschaft, das unsere Zeit bestimmt, sollte uns zugleich vor der Versuchung schützen, im Philosophieren dem Bedürfnis nach Einheit durch voreilige Konstruktionen nachzufolgen. Wie unsere gesamte Welterfahrung einen nie zu Ende kommenden Prozeß der Einhausung darstellt — um mit Hegel zu reden — auch in einer uns immer fremder scheinenden, weil nur allzu sehr von uns veränderten Welt —, so ist auch das Bedürfnis nach philosophischer Rechenschaftsgabe ein unendlicher Prozeß. In ihm vollzieht sich nicht nur das Gespräch, das jeder einzelne denkend mit sich selbst führt, sondern auch das Gespräch, in dem wir alle zusammen begriffen sind und nie aufhören, begriffen zu sein — ob man die Philosophie tot sagt oder nicht.

B. DIE SYSTEMKONZEPTION DES SPEKULATIVEN IDEALISMUS

Kolloquium I SCHELLINGS UND HEGELS SYSTEMKONZEPTIONEN

OTTO PÖGGELER (BOCHUM)

VORBEMERKUNGEN zum Kolloquium über Schellings und Hegels Systemkonzeptionen Dieser Kongreß soll fragen, otb Philosophie noch möglich sei als „systematische Philosophie". Daß die Philosophie sie selbst, nämlich „Wissenschaft", nur werde, wenn sie sich zum „System" füge, war die leitende Überzeugung des Deutschen Idealismus. Konnte der Deutsche Idealismus jedoch über bloße Systemkonzeptionen hinaus ein überzeugendes System realisieren? Ließ Philosophie als Liebe zum Wissen oder vielleicht gar als Liebe zur Weisheit sich überhaupt über die Systembildung bruchlos in Wissenschaft überführen? Wenn wir heute nach der Möglichkeit wenn nicht des Systems der Philosophie, so doch systematischer Philosophie fragen, müssen wir erörtern, wie der Wille der Philosophie zum System sich im Deutschen Idealismus deklarierte und realisierte. Die Erörterungen des Kongresses sollen sich in parallelen Kolloquien auf zwei Geleisen bewegen: einerseits zurückgreifen auf die Ansätze von SCHELLING, Hegel und MARX, andererseits aktuelle Positionen ins Spiel bringen. Dieses erste Kolloquium soll dadurch einen Anfang machen, daß es Systemkonzeptionen SCHELLINGS und Hegels miteinander konfrontiert. SCHELLING und Hegel, diese beiden weltgeschichtlich wirksam gewordenen Denker, haben ihre Studienzeit unter einunddemselben Dach verbracht: auf der Landesuniversität, im Evangelischen Stift in Tübingen traf Hegel, in der Residenzstadt Stuttgart im Geist der Aufklärung gebildet, sich mit Freunden, die von den stillen Klosterschulen des Landes gekommen waren — mit HöLDERLIN, der schon den Weg als Dichter eingeschlagen hatte, mit SCHELLING, der noch in Tübingen von frühreifen blendenden philologisch-exegetischen Leistungen zur Arbeit innerhalb der damals neuesten Philosophie überging. Man darf wohl sagen, daß zum mindesten Hegel in dieser Freundschaft zu sich selber gefunden hat, und so konnte ihm nach Verlassen des Stifts für einige Jahre der Briefwechsel mit SCHELLING Direktiven für seine Arbeit geben. Nachdem Hegel in Frankfurt in der erneuten Begegnung mit HöLDERLIN den Ansatz seines Fragens geklärt

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hatte, traf er sich im Zentrum des damaligen Philosophierens, in Jena, wieder mit dem schon berühmt gewordenen Jugendfreund SCHELLING. Was ScHELLiNG eigentlich mit FICHTE und seinen romantischen Freunden hatte herausbringen wollen, das Kritische Journal der Philosophie, das führte er nun zusammen mit Hegel aus, und für gut zwei Jahre arbeiteten die beiden auf das engste zusammen. Als SCHELLING Jena verlassen, Hegel seinen Ansatz weiter geklärt hatte, rückte Hegel die kritische Distanz gegenüber der Position des Freundes in den Vordergrund; SCHELLING antwortete nach Jahren des Abwartens mit einer erbitterten Polemik darauf, daß Hegel inzwischen die Führung in der damaligen Philosophie gewonnen hatte. Die Wege der beiden waren endgültig auseinandergegangen, hatten wohl auch auseinandergehen müssen. Vielleicht denken Sie für einen Augenblick an die beiden berühmtesten Bilder von Hegel und von SCHELLING, um unmittelbar des Unterschiedes zwischen den Wegen der Freunde innezuwerden: Hegel ist, nach dem Gemälde SCHLESINGERS, getragen von einer ruhigen Objektivität, und doch steckt die Unruhe der kommenden Zeit in dieser Ruhe; der alte SCHELLING, nach dem bekannten DAGUERREotyp, ist hindurchgegangen durch alle Abgründe des Zweifelns und Grübelns, die verkörperte Dämonie eines Immer-weiter-Fragens, das sich bei keinen vorschnellen Antworten beruhigen lassen will. Unser Kolloquium kann in der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit nur ganz wenige exemplarische Beiträge zu der Frage liefern, was die beiden Denker in den verschiedenen Phasen ihres Denkens — in der gemeinsamen Arbeit, in der Überbietung des anderen und in der Polemik — beizutragen hatten zu dem Versuch, die Philosophie zum System zu führen. Es soll aber sichtbar werden, daß hier ein neuer Anfang gemacht werden muß: die Erforschung von FICHTE, HöLDERLIN, SCHELLING, Hegel, auch von KANT, der vorausging, von MARX und KIERKEGAARD, die folgten, hat ganze Forschungsdomänen aufgebaut, die soweit wie möglich Autarkie gesucht und sich wenig aufeinander bezogen haben; die Aufgabe besteht nun darin, von den Sachfragen her die Brücken zu schlagen oder vielmehr die Beziehungen, die bestanden, zum Problem zu machen. Ehe wir Über erste Vorstöße hinaus in einer zureichenden Weise das Denken der Jahrzehnte um 1800 vergegenwärtigen können, werden noch viele Arbeiten — eine Fülle von Lehrveranstaltungen, Diskussionen, Aufsätzen und Büchern, Editionen, Dissertationen und Habilitationen —, werden vor allem neue Zugänge zu den verhandelten Sachen nötig sein. Blicken wir gleich auf die Anfänge von SCHELLING und Hegel mit ihrem Ineinander von Revolutionsbegeisterung, Abweisung theologischer Orthodoxie und Aufnahme neuer philosophischer Anstöße, so müssen wir festhalten, daß die

Vorbemerkungen

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Edition von Hegels theologischen Jugendschriften vor 70 Jahren Epoche machte, SCHELLINGS einschlägige Niederschriften noch unediert sind. Für die eigentlich philosophischen Anfänge der Freunde zeugt ein Text (das sog. älteste Systemprogramm des Deutschen Idealismus), der von seinem Thema her unbedingt in dieses Kolloquium gehörte; aber 60 Jahre der Diskussion haben keine Einigung darüber erbringen können, ob SCHELLiNG oder Hegel oder auch HöLDERLIN, wenn nicht überhaupt ein Vierter, Verfasser dieses Textes sei. Und doch sind mit dieser Diskussion so entscheidende Fragen verknüpft wie die, ob SCHELLINGS Weg zum ästhetischen Idealismus Anstößen von seiten HöLDERLINS oder mehr Anstößen von seiten der Jenaer Romantiker folgt, welche Bedeutung HöLDERLIN für den Deutschen Idealismus hat, ob Hegel sich nicht längst zu seiner eigenständigen Position durchgerungen hatte, als er sich mit SCHELLING in Jena traf. Eine frühere Tagung, die in einer Publikation festgehalten wurde, galt diesem Thema, und so kann es hier nicht noch einmal zur Diskussion gestellt werden. ^ Wir beginnen mit der Jenaer Zeit SCHELLINGS und Hegels. Hegels Phänomenologie ist oft als öffentliche Absage an SCHELLING interpretiert worden; SCHELLING selber konnte in seinen späten Vorlesungen zur Geschichte der neueren Philosophie sagen, daß die Methode, den Geist in seiner Entwicklung darzustellen, ihm so eigentümlich gewesen, von ihm auch im System des transzendentalen Idealismus ausgeformt worden sei, daß er sich dieser Methode fast nicht als einer Erfindung rühmen könne, aber auch nicht zulassen könne, daß ein anderer, nämlich Hegel, sich rühme, sie erfunden zu haben. Nachdem durch den MARxismus und durch die hermeneutische Philosophie die Vermittlung von Philosophie und Geschichte weitergetrieben worden ist, gilt es, SCHELLINGS und Hegels Bemühungen neu zu erörtern. Das geschieht in unserem ersten Referat. Der Frage, was Hegel gegen SCHELLING einzuwenden gehabt hat, wendet sich das zweite Referat zu. Zwei Jahre nach dem Erscheinen von Hegels Phänomenologie schlug SCHELLING mit den Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit einen neuen Weg ein. Was sich in den folgenden Jahren als seine Spätphilosophie entwickelte, ist aber lange Zeit verdrängt gewesen oder galt doch als abseitig. In den dreißiger Jahren unseres Jahrhunderts — I Hegel-Tage Villigst 1969. Das älteste Systemprogramm. Studien zur Frühgescbichte des deutsdien Idealismus. Hrsg. v. Rüdiger Bubner. Bonn 1973. (5. Veröffentlichung der Internationalen Vereinigung zur Förderung des Studiums der Hegelschen Philosophie. Hegel-Studien. Beiheft 9.)

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sagt eine Anekdote, deren Wahrheit hier dahingestellt bleiben mag soll im Freiburger Philosophischen Seminar das Bild KANTS durch das Bild ScHELLiNGS ersetzt worden sein. HEIDEGGER forderte seine Schüler auf, ihm doch nur einen Gedanken Hegels zu nennen, der an Tiefe den Spekulationen gleichkäme, die SCHELLING über die Geschichte oder Quasigeschichte des Absoluten vorgetragen hat. Nach dem Zweiten Weltkrieg, in den Jahrzehnten der Kritik an der überheblichen Selbstmächtigkeit des Menschen, wurde sichtbar gemacht, daß wir noch nicht im System Hegels, wohl aber in SCHELLINGS Spätphilosophie die Vollendungsgestalt des Deutschen Idealismus besitzen oder sogar einen Versuch, der über den Idealismus hinausführt. Nun könnte man dem späten SCHELLING (oder von einem anderen Ansatz her dem späten FICHTE) spekulative Tiefe zugestehen, aber geltend machen, daß Hegel sich zu den konkreten systematischen und historischen Fragen der politischen, der religiösen, der ästhetischen Sphäre zurückgewandt habe und deshalb mit seinen Berliner Vorlesungen das Ohr der Jugend gefunden habe, zu Recht auch zu dem Gegner geworden sei, gegen den der Aufstand gegen den Idealismus sich richtete. Aber über einen solchen Kompromiß hinaus muß doch geprüft werden, ob die Rede von einer Überbietung der einen philosophischen Konzeption durch die andere oder gar von einer Vollendung des Idealismus zu Recht besteht, wie von der Sache her der Ansatz von Hegels Logik zum Ansatz der ScHELEiNGschen Spätphilosophie steht. Dazu wollen wir wenigstens einige Thesen in den Kurzreferaten hören und nicht vergessen, daß die anderen Kolloquien die Fragen, die sich hier stellen, weiterbehandeln. SO

WERNER MARX (FREIBURG I. B R.)

AUFGABE UND METHODE DER PHILOSOPHIE IN SCHELLINGS SYSTEM DES TRANSZENDENTALEN IDEALISMUS UND IN HEGELS PHÄNOMENOLOGIE DES GEISTES Die Absicht dieses Vortrages ist, Aspekte des ScHELLiNGschen Transzendentalsystems von 1800 mit solchen der Hegelschen Phänomenologie von 1807 in Beziehung zu setzen — von zwei Werken somit, die in einem Zeitabstand von 5 bis 6 Jahren entstanden sind. Wie läßt sich ein solcher Versuch vor unserem heutigen entwicklungsgeschichtlich geprägten Bewußtsein rechtfertigen? Wir verdanken doch den philosophisch-rekonstruierenden Arbeiten des Bochumer Hegel-Archivs, insbesondere den Forschungen von OTTO PöGGELER und HEINZ KIMMERLE, die Einsicht, daß sich gerade in der Jenaer Zeit bis zum Entstehen der Phänomenologie die Systemkonzeptionen Hegels vielfach verändert haben; und daß sich ScHELLiNGS Philosophieren von 1800 bis 1807 in einer ständigen Verwandlung befunden hat, bedarf keines weiteren Nachweises. Nun wird es sicher niemand bestreiten, daß es — unabhängig von entwicklungsgeschichtlichen Zusammenhängen — eine Zusammengehörigkeit von philosophischen Werken gibt, die sich aus ihrer gemeinsamen Sache erklärt. Eine gemeinsame Sache ist besonders dann gegeben, wenn Werke unterschiedlicher Autoren Zitiert wird unter Angabe der Seitenzahl und gegebenenfalls der Bandzahl nach den folgenden Ausgaben: 7. C. Fichte: Werke. Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Hrsg, von R. Lauth u. H. Jacob. Reihe I, Band 2: Werke 1793—1795. Stuttgart-Bad Cannstatt 1965. F. W. J. Schelling: Werke. Nach der Originalausgabe in neuer Anordnung hrsg. von M. Schröder. München 1927 ff (zitiert nach der dort angegebenen Paginierung d. Originalausgabe der Werke durch K. F. A. Schelling). —: System des transzendentalen Idealismus. Hrsg, von R.-E. Schulz. Hamburg 1957 (zitiert nach der dort angegebenen Paginierung d. Ausgabe von K. F. A. Schelling). G. W. F. Hegel: Werke. Vollständige Ausgabe durch einen Verein von Freunden des Verewigten. Berlin 1832 ff. —: Phänomenologie des Geistes. Nach dem Text d. Originalausgabe hrsg. von J. Hoffmeister. 6. Aufl. Hamburg 1952.

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— zu verschiedenen Zeiten verfaßt — auf denaselben Prinzip beruhen, oder wenn sie aufgrund derselben Auffassung von der „Aufgabe der Philosophie" nur unterschiedliche Versuche darstellen, ihr zu entsprechen. Die Rechtfertigung für unseren Versuch sehen wir darin, daß die Hegelsche Phänomenologie — wenn auch in abgewandelter Prägung — von demselben Prinzip ausging wie das ScHELLiNGsche Transzendentalsystem und daß auch die Phänomenologie die „Aufgabe der Philosophie" noch so verstand, wie sie SCHELLING im Jahre 1800 und Hegel ein Jahr später als die gemeinsame Auffassung beider in der Differenzschrift bestimmt hatte. Abgesehen von der noch immer nicht restlos geklärten Frage — die mich bereits vor einem Jahrzehnt beschäftigte ^ — ob und inwieweit die Positionen Hegels und SCHELLINGS in der Differenzschrift noch übereinstimmen, läßt sich doch mit Sicherheit sagen, daß SCHELLING dieser Hegelschen Bestimmung der „Aufgabe der Philosophie" zugestimmt hätte: sie muß die traditionellen Gegensätze wie die von Vernunft und Sinnlichkeit, Intelligenz und Natur — SCHELLING sprach in den Ideen von 1797 von der „Trennung" von Bewußtsein und den Kräften der Natur — sie muß diese „Entzweiung" für das Wissen aufheben, die durch die zeitgenössische Reflexionsphilosophie ziun Gegensatz von „absoluter Subjektivität" und „absoluter Objektivität" verfestigt worden war. Dies muß auf der Grundlage derjenigen Ausbildung des Prinzips der neuzeitlichen Philosophie geschehen, bei der die Entwicklung des philosophischen Gedankens angelangt war, dem systematischen Idealismus FICHTES. „Fichtes Philosophie ist ... ächtes Produkt der Spekulation", schreibt Hegel in der Differenzschrift (I 272).

Im ersten Teil dieses Vortrags wollen wir zeigen, wieso das ScHELLiNGsche Transzendentalsystem — wenngleich es nur den einen Teil des SCHELLiNGSchen Gesamtsystems jener Zeit ausmacht — als der Versuch verstanden werden kann, der Aufgabe einer Aufhebung jener Entzweiung zu entsprechen. Dies soll der leitende Gesichtspunkt unserer Analyse der ScHELLiNGschen Systemkonzeption und -komposition sein, wie sie vom Thema dieser Sektion gefordert ist. Sie soll sich uns nicht durch eine an sich naheliegende Rückbeziehung auf FICHTE erschließen, auch nicht in erster Linie durch die späteren Reflexionen SCHELLINGS auf dieses Werk. Wir wollen uns vielmehr an den Text selber halten. Freilich kann dies hier nicht durch Einzelinterpretationen geschehen. Die folgenden Überlegungen konzentrieren sich vielmehr darauf, den Sinngehalt des SCHEL* Vgl. vom Verf.: Die Bestimmung der Philosophie im Deutschen Idealismus. Stuttgart 1964; jetzt abgedruckt in: Vernunft und Welt. Den Haag 1970. 1 ff.

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LiNGschen Grundgedankens zu entfalten, weil sich aus ihm ergeben müßte, warum imd wie für SCHELLING systematisches Philosophieren möglich war. Hierin läge eine Antwort auf die Frage dieses Kongresses: „Ist systematische Philosophie möglich?". Sollte die Pointe dieser Frage sein: „Ist systematische Philosophie heute überhaupt noch möglich?", so läßt sich im Rahmen eines philosophiegeschichtlichen Themas eine neue Antwort — gegenüber den zahlreichen, die im vergangenen und unserem Jahrhundert auf eben sie schon gegeben wurden — nur dadurch vorbereiten, daß die Grundgedanken der unterschiedlichen idealistischen Positionen freigelegt und daraufhin befragt werden, ob und wie in ihnen die Notwendigkeit eines systematischen Philosophierens lag. In einem zweiten Schritt sollen einige Aspekte der Methode des SCHELLiNGschen Transzendentalsystems erörtert werden. Wir glauben, daß eben dies für eine weitere Aufklärung der Methode der Hegelschen Phänomenologie fruchtbar ist. Deren Klärung aber bleibt weiterhin ein Desiderat, nicht zuletzt, weil unterschiedliche Richtungen der Gegenwartsphilosophie in ihr die Rechtfertigung oder die Gegenposition ihrer eigenen Bemühungen erblicken. I Hegel schreibt in der Differenzschrift; „Das absolute Prinzip, der einzige Realgrund und feste Standpunkt der Philosophie, ist, sowohl in Fichtes als in ScHELLiNGS Philosophie, die intellektuelle Anschauung — für die Reflexion ausgedrückt: Identität des Subjekts und Objekts." (I 271) Durch diese Gleichsetzung von „absolutem Prinzip" und „intellektueller Anschauung" hatte Hegel von dem Anschauenden abstrahiert, dem Philosophen, der sich von allen objektbezogenen Vorstellungen gelöst und die intellektuelle Anschauung vollzogen hat. SCHELLING selbst hatte die Ablösung vom subjektiven Akt nur für die rein theoretische, die Naturphilosophie durchgeführt. Im Transzendentalsystem hatte er die in Freiheit hervorgebrachte intellektuelle Anschauung — in der — aus dem Wechsel der Zeit ins Innerste zurückgezogen (I 318) — das produzierende und anschauende Selbst mit dem Produzierten und Angeschauten eins und dasselbe ist, mit dem Ich gleichgesetzt (III 369/70) — dieses freilich aufgefaßt als die reine außerhalb der Zeit liegende (374/75, 396/97) Tätigkeit eines sich selbst und nur „für sich" selbst zum Objekt werdenden Produzierens. Dieser von keinem in der Welt vorkommenden Objekt eingeschränkte, völlig voraussetzungslose Vollzug, dieses „Nichtobjektive"

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(350/01, vgl. 600/01) ist das von allem Seienden abgelöste, sich in seinem Sein selbst tragende absolut Freie (vgl. 376) und als ein solches das, worin einzig und allein Subjektives und Objektives schlechthin und ohne Vermittlung Eines und dasselbe ist — das „absolut Identische", nach Hegel in jenem Zitat aus der Differenzschrift „für die Reflexion" die „Identität des Subjekts und Objekts". Eben als dieses schlechthin Selbstgenügsame, das als ein solches nie Objekt des Wissens und nur des „ewigen Voraussetzens im Handeln, d. h. des Glaubens" sein kann (600/01), ist die absolute Identität das „Prinzip" alles sich in Subjekt-Objekt spaltenden Wissens und wissenden Handelns — ein Prinzip, das sich in einem unbedingt gesetzten und nur durch sich selbst bedingten Grundsatz ausdrückt, der eben, weil sich in ihm Form und Inhalt wechselseitig voraussetzen, den gesamten Inhalt der Wissenschaft zu begründen vermag, vor allem die Form seiner Einheit, das Systematische der „Philosophie als Wissenschaft" (vgl. 359/60 und I 89, 92, 69).

Aber warum war für SCHELLING dieses Prinzip — weniger in der Nachfolge FICHTES als SPINOZAS und unter dem Einfluß der Mystik und HöLDERLINS — „intellektuelle Anschauung"? „Intellektuell" ist sie, weil hier — anders als bei der „sinnlichen" — bei der das Anschauen selbst vom Angeschauten verschieden ist (369/70), dieses nicht jenes in der Freiheit einschränkt, sondern ein Realisieren der Spontaneität des intellectus, der Vernunft ist, Vollzug ihrer Freiheit als „absolut-freies Wissen" (368/69). Schafft die intellektuelle Anschauung auch nicht wie die des intellectus divinus die Dinge aus dem Nichts, so bringt sie sich doch als die all ihre Bestimmungen frei produzierende Ichheit hervor. SCHELLING sprach von der Anschauung als einer „intellektuellen", weil sie die freie Vernunft ist — selbsttätig im Konstruieren ihrer selbst. In diesem Sinne schrieb er (376), „daß der Anfang und das Ende dieser Philosophie Freiheit ist, das absolut Indemonstrable, was sich nur durch sich selbst beweist". Ich meine, daß sich das gegenwärtige Philosophieren immer wieder daran erinnern sollte: FICHTE, Hegel und der junge SCHELLING — von dem allein wir hier sprechen — waren hiervon überzeugt: im endlichen Bewußtsein gibt es — wie eine Schöpfung aus dem Nichts — eine ursprüngliche, sich selbst hervorbringende und durch Objekte nicht beschränkbare (368/69), in diesem Sinne freie Dimension. Sie galt ihnen als das Prinzip, auf dessen Grundlage man KANTS Erwartung von der „Philosophie als einer Wissenschaft" erfüllen wollte.

Aber wieso war diese Spontaneität für SCHELLING nicht die der verstandesmäßigen Reflexion oder der vernünftigen Reflexion — von der wir im

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Anschluß an die wichtige Klärung durch KLAUS DüSING ^ auch bei SCHELLiNG im Sinne von „Spekulation" sprechen — sondern „Anschauung"? Das Eigentümliche des ScHELLiNGschen genetisch verfahrenden Idealismus lag darin, daß er die Spontaneität der Vernunft vorreflexiv ® auf faßt und darüber hinaus ihr Wirken in der Region „jenseits des gemeinen Bewußtseins" aufzudecken sucht (527/28; X 93), ihr vorbewußtes Wirken, das uns nur in seinen Resultaten bewußt wird. Eben hierin liegt für uns heute, die wir mehr denn je den Geschehenscharakter unseres Verstehens und Handelns, deren „Passivität" zu verstehen suchen, das Aktuelle und Faszinierende seines Versuches. SCHELLING hatte bereits in den Ideen zu einer Philosophie der Natur von 1797 das mit Bewußtsein vollzogene Vermögen der Anschauung als das „Höchste im menschlichen Geist" gepriesen (II 222), weil dasjenige, was sie zur Anschauung macht, in Tätigkeiten liege, die die Vorstellung der objektiven Welt und im besonderen die der Materie produzieren. Im Transzendentalsystem hat er nun gerade auch alle vorbewußten Tätigkeiten, die das frei handelnde Selbstbewußtsein ermöglichen, „Anschauungen" oder „ein Anschauen" oder „das Anschauende" genannt, sofern sie in ursprünglicher Weise unvermittelt und einfach „das Objektive" des Subjekt-Objekt, die bewußtlose Gesetzmäßigkeit der bewußt werdenden Intelligenz produzieren (vgl. z. B. 382/83 ff, 408/09, 410/11, 505/06, 567/68, 597/98 f, 631/32 ff). Diesen weiten Begriff von Anschauung muß man sich vergegenwärtigen gegenüber einer verstandesmäßig analysierenden Reflexion wie auch einer spekulativen, die die Relate aus negativer Selbstbeziehung miteinander vermittelt. In diesem Sinne erklärt SCHELLING emphatisch im Transzendentalsystem; „Unsere ganze Philosophie [steht] auf dem Standpunkt der Anschauung, nicht auf dem der Reflexion..." (455/56) Wir sprachen bisher nur vom Prinzip des Transzendentalsystems, nicht von der Konzeption des dargestellten Systems. Es ist offenbar: Das Ganze einer Organisation von Sätzen entfaltet sich nur dann, wenn es nicht bei der Setzung des Prinzips, dem „Grund-Satz", bleibt, sondern wenn dieser als der Grund des ganzen Bereichs des empirischen Wissens und wissenden Handelns aufgezeigt wird. Daß und wie das Prinzip, die Spontaneität der Vernunft, in ihrem gesetzmäßigen Konstruieren das Ganze des Wissens ermöglicht, muß nachkonstruiert werden. Es muß gezeigt werden. * Klaus Düsing: Spekulation und Reflexion. Zur Zusammenarbeit Scbellings und Hegels in Jena. In: Hegel-Studien. 5 (1969), 95 ff. ® Vgl. hierzu neuerdings M. Frank: Der unendliche Mangel an Sein. Frankfurt 1975. Er hat gleichfalls den Gesichtspunkt der „Praereflexivität" — besonders mit Rüdesicht auf Sartre — hervorgehoben.

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wie sich im Wirken der Subjekt-Objekt-Einheit die Harmonie des Inbegriffs alles bewußtlos Objektiven — der in diesem weiten Sinn verstandenen „Natur" und der geistig-geschichtlichen Welt — mit dem Inbegriff alles bewußt Subjektiven (vgl. 335 ff) — für das Wissen — hervorbringt. Gelänge dies, dann wäre nicht nur der subjektive Idealismus FICHTES, sondern auch die Entzweiung zwischen dem absolut Subjektiven und dem absolut Objektiven aufgehoben. Der Aufgabe der Philosophie wäre entsprochen. Aber — müssen wir jetzt mit Bezug auf die Konzeption dieses Systems fragen — liegt in seinem Ansatz, liegt in dem Prinzip der intellektuellen Anschauung, diesem Vollzug von Freiheit, überhaupt eine Notwendigkeit dafür, daß sie sich zu einem das Ganze des Wißbaren begründenden Setzen konstruieren muß? SCHELLING hat die Notwendigkeit des Fortgangs vom Absoluten zum Endlichen in seinen Frühschriften zum Problem gemacht und hat dabei versucht, zwischen FICHTES absoluter Position eines unbeschränkbaren Selbstsetzens des Ich als eines Absoluten, aus dem nicht herausgegangen werden kann, und einem Selbstsetzen als Selbstbewußtsein zu differenzieren, in welchem auch alles andere gesetzt ist — und für dessen transzendentale Erklärung das Entgegensetzen des NichtIch zugleich mitgedacht werden muß. ADOLF SCHURR * hat kürzlich die Schwierigkeiten erörtert, die in diesem frühen Versuch SCHELLINGS lagen. Sie scheinen uns in einem geringeren Maße im Transzendentalsystem zu herrschen. Wir werden im folgenden nicht auf sie eingehen, weil wir nur zeigen wollen, daß in ihm die Notwendigkeit einer Entfaltung des absoluten Prinzips zum Endlichen im Sinn des ScHELLiNGSchen Grundgedankens der „Anschauung" als „Selbstanschauung" angelegt war. Während es für Hegel — nach der bekannten ScHELLiNG-Kritik in der Phänomenologie — im Wesen der Anschauung lag, „nur immer in ihrem Anfang stehen" zu bleiben (18), so scheint uns — in Widerlegung dieser Auffassung — daß in dem Sinn, der sich für SCHELLING mit den Bestimmungen „Anschauung" und „Selbstanschauung" verband, die Notwendigkeit lag, nicht nur zum „Endlichen", sondern schlechthin zu einer systematischen Darstellung des „Ganzen des Wißbaren" fortzugehen — weswegen sich Konzept und Komposition dieses Systems am einfachsten durch eine Klärung dieses Sinnes sichtbar machen lassen sollten. Der für die Systemkonzeption und -komposition des Transzendentalsystems wichtigste Gesichtspunkt, der für SCHELLING ohne weiteres im Sinn * Adolf Schurr: Philosophie als System bei Fichte, Schelling und Hegel. Stuttgart

1974.

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von Anschauung als Selbstanschauung lag, ist darin zu sehen, daß sie ein Vermögen ist, das „aus ursprünglicher Kraft aus sich selbst produziert" (427/28). Es ist Ausdruck des am Modell der spiNOzistischen natura naturans orientierten Begriffs von Natur als eines allumfassenden — also auch das Wissen begründenden — schöpferischen Geschehens, daß Selbstanschauung „produktiv" ist. Aus dem Drang, diesem Wesen zu entsprechen, erklärt es sich in gültigster Weise zum einen, daß sie sich in sich potenzierenden Schritten entfaltet, und zum anderen, daß sie sich in einer Gestalt vollendet, die Ausdruck höchster Produktivität ist. In diesem Sinne schreibt SCHELLING (625/26): „Es ist das Dichtungsvermögen, was in der ersten Potenz die ursprüngliche Anschauung und umgekehrt, es ist nur die in der höchsten Potenz sich wiederholende produktive Anschauung, was wir Dichtungsvermögen nennen." Hat man sich diesen Sinn von Produktivität klargemacht, der für SCHELLING in der Bestimmung „Selbstanschauung" lag, dann weiß man, warum die Vollendimgsgestalt des Transzendentalsystems die ästhetische und deren Produkt das Kunstwerk ist. Daß für SCHELLING die Notwendigkeit der Ausbildung zum System in dem so aufgefaßten Sinn von Selbstanschauung lag, bestätigt er rückblickend in den Allgemeinen Anmerkungen zu dem ganzen System (630 ff) mit der Einsicht, „daß der ganze Zusammenhang der Transzendental-Philosophie nur auf einem fortwährenden Potenzieren der Selbstanschauung beruhe, von der ersten im Selbstbewußtsein, bis zur höchsten, der ästhetischen" (ebd.). Noch grundsätzlicher aber: Es lag für SCHELLING im Sinn von Selbstanschauung, daß durch sie allein die Bewegung der Genese überhaupt in Gang kommt. Als erstes ist der Urakt, ist das Ich als absolut ins Unendliche produzierende Tätigkeit, als der „Inbegriff aller Realität" (380/81). Das absolute Ich will sich jedoch als Selbstbewußtsein und d. h. „für sich" setzen. Im Sinn von Selbstanschauung lag für SCHELLING, daß sie die Macht ist, die das unendliche Produzieren jenes Uraktes begrenzen und es „für sich" setzen kann. „Das Ich als Ich (aber) ist nur dadurch begrenzt" (402/ 03), „daß es sich als solches anschaut, denn ein Ich ist überhaupt nur, was es für sich selbst ist" (382/83). Genauer geschieht dies so ®, daß die Selbst® In der Wissenschaftslehre Fidites ist in dem unableitbaren Prinzip des Setzens seiner selbst das Entgegensetzen keineswegs enthalten oder aus ihm abzuleiten. Wäre dem so, dann höbe sich — so erklärt er — das Ich selbst auf (vgl. R. I, Bd 2. 389/90). Demgegenüber wird für Schelling „im Begriff des Setzens aber notwendig der Begriff eines Entgegensetzens gedacht" (381/82). Wie hervorgehoben, galt Schelling die Intellektuelle Anschauung als die „absolute Identität", somit als der ursprüngliche und unvermittelte reine Vollzug eines Sich-selbst-Setzens als Anschauendes und An-

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anschauung in jene unendliche Tätigkeit eine Negation, eine „ins Unendliche zu erweiternde" Schranke setzt (383/84), die das produktive Geschehen eines „unendlichen Werdens" (ebd.) ermöglicht. Denn die Schranke ruft die „Duplizität" (392/93) hervor, die Duplizität der an sich ins Unendliche gehenden, aber durch die Schranke begrenzten „reellen" und der unendlichen, immer erneut über sie hinweggehenden „ideellen" Tätigkeit. Aufgrund dieses — sich vorbewußt vollziehenden — von der Selbstanschauung ausgelösten produktiven Streites bildet sich die Spontaneität der Vernunft hervor, und dieser „Tendenz" entsprechend vollendet sie sich mit Notwendigkeit zum System. Denn „das Ich ist die unendliche Tendenz, sich anzuschauen" (400/01, 404/05, 418/19). Sich anschauen zu wollen — ohne daß das anschauende Ich weiß, daß das Angeschaute es selbst ist, sich zunächst nicht dessen bewußt zu sein, ist der Beginn dieser Genese der Intelligenz. In einer ersten Epoche mit dem empfindenden Anschauen beginnt der Weg, er führt zu einer zweiten Epoche, der „produktiven Anschauung", diese potenziert sich weiter bis sich die Intelligenz in einer dritten Epoche durch den Akt der „absoluten Abstraktion" von ihrem Produzieren ablöst und sich frei Reflexion, Begriff, Urteil und Schematismus hervorbilden. Der Weg beginnt von neuem, wenn durch „das Handeln der Intelligenz auf sich selbst" (533/34), durch den sich selbst bestimmenden Freiheitsakt das Ich als nunmehr bewußt anschauendes sich selbst als tätig im Produzieren anschaut, als praktisches Bewußtsein dem Begriff gemäß handelt, die Welt verändert, die sich bereits als das Produkt des Anschauens „in transzendentaler Vergangenheit" (408/09) erwiesen hatte. Dieser Wille der Vernunft, sich produktiv anschauend zu realisieren, findet hinsichtlich der Komposition des Systems Ausdruck darin, daß sich das Selbstanschauen stufenweise potenziert, immer mehr „für sich", d. i. „objektiv" wird, wobei dem Transzendentalphilosophen immer neue „Aufgaben" vorgelegt werden, in denen von ihm „transzendentale Erklärungen" für Fragen der Art verlangt werden: „wie das Ich dazu komme, sich geschautes. Produzierendes und Produziertes. Aber das Ich muß sich doch zugleich so setzen, daß auch das „Andere", das ihm „Entgegengesetzte", für es Objekt werden kann. Das reine Selbstbewußtsein kann darum nicht schlechthin identisch, es muß „identisch und synthetisch zugleich" sein (ebd.). Der „Eine Akt" des Selbstbewußtseins ist der einer „absoluten Synthesis", einer Synthesis von — einer „ursprünglichen Duplizität" entstammenden — ideellen und reellen Tätigkeiten. Wird diese Synthesis der Tätigkeiten von der Transzendentalphilosophie als sukzessiv entstehend vorgestellt, dann zeigt sich, daß sie die Bedingungen einer Identität des Selbstbewußtseins sind, die nunmehr freilich „keine ursprüngliche, sondern eine vermittelte und hervorgebrachte ist" (392/93).

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als begrenzt anzuschauen" oder „wie das Ich dazu komme, sich selbst als produktiv anzuschauen" usf. Die Tendenz der Intelligenz, sich anzuschauen, kann nur in einer vollkommenen Selbstanschauung zur Ruhe gelangen, und diese ist — wie noch zu zeigen ist — die ästhetische des Genies. Im Sinn von Selbstanschauung liegt die Notwendigkeit, sich zu dieser vollkommenen Form zu entfalten. Mit dem Sinn von Selbstanschauung als einer „alle Realität" begrenzenden Macht verband sich für SCHELLING zugleich derjenige, daß sie sich selbst aus Freiheit, und d. h. aus eigener Notwendigkeit, „einzuschränken" vermag. Für das Konzept und die Komposition des Systems liegt in dieser Macht zur Selbsteinschränkung die Legitimation für alle nachfolgenden Stufen bis zu derjenigen der Individualität (vgl. 551/52). Weil die Vernunft im Konstruieren ihrer eigenen Gesetzmäßigkeit als eine sich selbst einschränkende Selbstanschauung auftritt, sind alle ihre Begriffe „Anschauungsarten" (513/14), und als solche — mit SCHELLING — nur „Einschränkungen der intellektuellen Anschauung" (370/71) — ist des weiteren das empirische Bewußtsein eine Einschränkung des reinen Selbstbewußtseins (374/75), ist die objektive Welt und sind die Dinge „nur als Modifikation einer auf verschiedene Weise eingeschränkten Tätigkeit des Ich" zu begreifen (375/76). Im Sinn von Selbstanschauung liegt diese Notwendigkeit einer zunehmenden Selbsteinschränkung des Ganzen und damit der einer Entfaltung. Daß es eine Entfaltung ist, die notwendig zum System führt, folgt aus der Grundannahme, daß im reinen Akt des Selbstbewußtseins in der Form einer „absoluten Synthesis" alle einzelnen Akte, alle Handlungsweisen des Ich in ihrer Gesetzmäßigkeit immer schon „befaßt" (388), in der Form einer „konkreten Totalität" im Modus des „an sich" alle schon versammelt sind und diese eben als „an sich" den Drang haben, durch Selbstanschauung „für sich" zu werden. Dies sind einige Hinsichten, die für uns im Sinn des Grundgedankens ScHELLiNGS liegen und die anzeigen, daß sich das absolute Prinzip, „Selbstanschauung" aus eigener Notwendigkeit zum System entfaltet — eine Konsequenz, die Hegel bestritten hätte. Bei der Erörterung der „Methode" des Transzendentalsystems, im zweiten Teil dieses Vortrags, werden wir zeigen, daß — für SCHELLING selber — in ihr die Notwendigkeit lag, sich zum System zu entfalten. Nun stellt sich aber diese Frage: Gesetzt, daß diese Notwendigkeit einer Entfaltung zum System im Prinzip liegt, wie vermag das Philosophieren es nachzukonstruieren, wenn dieses doch — wie SCHELLING hervorgehoben hatte — das wesenhaft „Nichtobjektive" ist, das er sogar ausdrücklich als dasjenige bezeichnet hat, „was sonst durch nichts reflektiert wird" (350/51)

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und „nie zum Bewußtsein gelangen" (600/01) kann, sondern nur Objekt „des ewigen Voraussetzens im Handeln" (ebd.) ist. Wir müssen uns auf diese Bemerkung beschränken: Dem Transzendentalphilosophen erschließt sich das Prinzip in der intellektuellen Anschauung, und als diese muß sie sein Philosophieren „beständig begleiten" (369/70), ist dessen „Substrat" und zugleich das „Organ des transzendentalen Denkens", das darauf ausgeht, „sich durch Freiheit zum Objekt zu machen, was sonst nicht Objekt ist" (ebd.). Der Transzendentalphilosoph muß also die Spontaneität, das ursprüngliche Konstruieren — das „Handeln der Intelligenz nach bestimmten Gesetzen" (350/51) — durch eigene Produktion entstehen lassen. Sein „nachahmendes" Konstruieren (397/98) muß — so schreibt SCHELLING ihm vor (351/52) — immer ein Reflektieren „in intellektueller Anschauung" sein. Was für eine Art von philosophierender Reflexion ist dies? Wieso ist „der eigentliche Sinn, mit dem diese Art der Philosophie aufgefaßt werden muß ... der aesthetische?" (350/51), inwiefern ist dieses Philosophieren der Kunst wesensverwandt (627/28), nimmt es diese als ihr Organon (ebd.) ®? Daß das Reflektieren „in" intellektueller Anschauung kein trennendes, sondern ein vereinigendes ist, ergibt sich daraus, daß SCHELLING die theoretische Vernunft — als welche sich Philosophie doch vollzieht — als eine Ideen entwerfende Einbildungskraft „im Dienste der Freiheit" bestimmt hat (558/59) und die Einbildungskraft als „das einzige, wodurch wir fähig sind, auch das Widersprechende zu denken und zusammenzufassen" (625/26). Im Rahmen dieses Vortrages können wir nicht näher untersuchen, wie sich aus dieser Synthese von Anschauung, Einbildungskraft und Reflexion die Transzendentalphilosophie als wesenhaft „produktiv" oder gar „schöpferisch" bestimmt, und nicht auf die Frage eingehen, ob und wie sich diese Synthese von derjenigen von Reflexion und Anschauung unterscheidet, die Hegel in der Differenzschrift als „transzendentale Anschauung" gedacht hat (1178,194). Um das Konzept des Transzendentalsystems noch näher kennzeichnen zu können, müssen wir jetzt in einigen Schritten den Gang nachzeichnen, der in dieser „Geschichte des Selbstbewußtseins" über hintereinander auftretende Stufen des „Mißlingens" (536/37) bis zu der letzten führt, die die „Aufgabe der Philosophie" einer Aufhebung der Entzweiung erfüllt. SCHELLING hatte ja bereits durch eine Grundwissenschaft — die mit dem reinen Subjekt-Objekt beginnt — die Naturphilosophie, die „Trennung" “ Vgl. hierzu Dieter Jähnig: Die Kunst in der Philosophie. Bd 1: Sdiellings Begründung von Natur und Geschichte. Pfullingen 1966. 113, 127 ti. Bd 2: Die Wahrheitsfunktion der Kunst. Pfullingen 1969. 285 f.

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von Natur und Kräften des Bewußtseins zu überwinden versucht. In ihr hatte er auf gezeigt^ wie sich das objektive Subjekt-Objekt in einer dynanüschen Folge zur Intelligenz auflöst, zunächst zu dem Formellen von Gesetzen und in höchster Potenz zur Reflexion, zur selbstbewußten Vernunft. In ihr hatte er schon den Nachweis einer Wesensverwandtschaft, in diesem Sinne einer „Übereinstimmung" des Objektiv-Bewußtlosen mit dem Subjektiven, der Intelligenz, geführt, um dadurch FICHTES angeblich nur subjektiven Idealismus zu überwinden. Die Aufgabe der zweiten Grundwissenschaft, des Transzendentalsystems, die die „mit Bewußtsein produktive Natur" (634) zu ihrem Gegenstand hat, liegt darin, den Grund für die Übereinstimmung des „Inbegriff alles bloß Objektiven in unserem Wissen" (335) mit dem Subjektiven, der Intelligenz, für das Wissen aufzuzeigen. Das Subjekt-Objekt muß sich nicht nur als das „absolut-Gewisse, durch welches alles andere vermittelt ist" (346/47), nicht nur als das „Erklärungsprinzip" (342/43) alles Wissens, sondern als der „Grund aller Realität" (ebd.), als der „eigentliche Grund der Harmonie zwischen Subjektivem und Objektivem" (600/01) erweisen. Dies aber soll und muß in der Nachfolge FICHTES als eine „Erweiterung" (vgl. 330/31) seiner Wissenschaftslehre durch den „faktischen Beweis" einer Ableitung aus dem Prinzip „ich bin" geschehen (377). Dadurch sollen sich nicht nur die Bedingungen des Selbstbewußtseins ergeben, sondern es soll ein „ganzes System des Wissens" (ebd.) in der Gestalt „einer Geschichte des Selbstbewußtseins" (399) entstehen, soll sich zeigen, wie „z. B. die objektive Welt mit all ihren Bestimmungen, die Geschichte usw." (378/79), und zwar „ohne irgendeine äußere Affektion aus dem reinen Selbstbewußtsein sich entwickelt" (ebd.). Zu diesem Zwecke müssen die „Hauptgegenstände des Wissens" (330) nach den „Grundsätzen des transzendentalen Idealismus" als eine Sukzession von Handlungen der Intelligenz von der einfachsten bis zur höchsten Potenz nachkonstruiert werden. Im „System der theoretischen Philosophie", in der sich das Produzierende, Anschauende, nicht als solches zum Objekt wird (vgl. 534/35), geschieht die Produktion „jenseits des Bewußtseins" (536/37); der Aufbau der Vorstellung der objektiven Welt mit all ihren Bestimmungen ist das Resultat jenes sich in „transzendentaler Vergangenheit" vollziehenden Streites geistiger Tätigkeiten (s. o. S. 84). Parallel hierzu konstituieren sich aus dem ursprünglichen Mechanismus eines immer produktiver werdenden Anschauens die Materie sowie der Organismus. Im „System der praktischen Philosophie" wird das Ich zum Thema, das sich durch die „absolute Abstraktion" und „Reflexion" bereits von seinen bewußtlosen Produktionen „losgerissen" und sich „über alles Objekt" erhoben hat (vgl.

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52^115) und sich nunmehr als praktische Intelligenz „im Handeln auf sich selbst bestimmt" (vgl. 533/34 ff). Um sich als ein „wirkliches" praktisches Bewußtsein zu konstituieren, wird mit Hinblick auf das „absolute Wollen" (556/57 ff) dessen „Erscheinung" (564/65), das „transzendentale Selbstbestimmen" (533/34), deduziert, wie es sich aus den Einwirkungen bewußter anderer Intelligenzen (554/55 ff), die den Begriff des Wollens haben, hervorbringt. Innerhalb dieser Konstitution bricht der Gegensatz auf zwischen dem Bewußtsein, frei zu sein, sich autonom der Forderung des Sittengesetzes unterstellend (vgl. 573/74) und dem Bewußtsein, vom Naturtrieb nach Glückseligkeit (574/75) bestimmt zu sein, der auch auf die von ihm unabhängige Außenwelt geht (581/82), ein Gegensatz, der den „absoluten Willen" zur „Willkür" macht (575/76). Wie aber kann die Willkür eines einzelnen Vemunftwesens, dieser „Freiheitsakt", mit welchem alles Bewußtsein beginnt (ebd.), dieses „Heiligste" (581/82), davor bewahrt werden, daß er nicht durch die Willkür der anderen Individuen zerstört wird? Diese Frage ist der Gegenstand der Deduktion der „Wechselwirkung" der Individuen (582/83 ff), die als Gattung versucht, „Ein Ideal" zu realisieren, die Herrschaft einer universalen staatlichen Rechtsordnung herbeizuführen (588/89 ff) und in diesem Realisieren von „Geschichte" den Widerspruch von Notwendigkeit und Freiheit erfährt — einer blinden oder verborgenen Notwendigkeit (586/87, 594/95) in der Gestalt der Gesetzmäßigkeit der Geschichte, die sich für SCHELLING aus einer bewußtlos sich vollziehenden „absoluten Synthesis" aller willkürlichen und eigennützigen Handlungen der Individuen erklärt (598/99), die das für alle Gemeinschaftliche, das „Objektive" darstellt — dieser Notwendigkeit einerseits und der Freiheit andererseits, dem „freien Spiel" des Handelns der Individuen wie der Staaten (586/87). Der Konflikt zwischen Notwendigkeit und Freiheit soll durch das Postulat einer „absoluten Identität" (600/01) gelöst werden. Diese aber kann, da in ihr keine Duplizität ist — diese aber die Bedingung alles Bewußtseins ist — nie zum Bewußtsein gelangen. Sie ist als der letzte Grund der in der Geschichte waltenden „prästabilierten Harmonie" von Freiheit, dem Bestimmenden und dem Objektiven (der notwendigen Gesetzmäßigkeit); sie ist der über beiden seiende Gott, der sich in einer in drei Perioden fortgehenden Heilsgeschichte offenbart, sich aber — um der Rettung der Freiheit willen — nie vollständig enthüllt (vgl. 603/04). Nach den „Hauptsätzen der Teleologie" wird alsdann die „organische ’’ Vgl. hierzu vom Verf.: Grundbegriffe der Geschichtsauffassung bei Schelling und Habermas, In: Philosophisches Jahrbuch. 81 (1974), 50—76.

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Natur" transzendental als ein Produkt erklärt, das, bewußtlos durch Zwecke hervorgebracht, im Resultat jedoch als mit Bewußtsein entstanden erscheint (607 ff). Aber die Erscheinung dieser Identität von bewußtloser und bewußter Produktion ist nicht „für" das Lebewesen, sicher nicht für das Bewußtsein eines Ich. Demgegenüber ist die ästhetische produzierende Anschauung, die Kunstanschauung des Genies, eine solche, in der „das Ich in einer und derselben Anschauung für sich selbst bewußt und bewußtlos zugleich ist" (611). Eben sie ist die von der Transzendentalphilosophie gesuchte Identität. Die „Hauptsätze der Philosophie der Kunst" deduzieren, daß die ästhetische Produktion sich subjektiv bewußt und „zugleich" objektiv bewußtlos realisiert — in Ansehung der Produktion bewußt, in Ansehung des Produkts bewußtlos (613/14). Das Genie weiß außerdem darum, daß eine „dunkle und unbekannte Gewalt" das Objektive zu dem Werk hinzubringt, das er bewußt gestaltet hat (616/17). In dem Kunstwerk gewinnt dieses „zugleich" eine sichtbare Gestalt. „Das Kunstwerk nur reflektiert mir" — schreibt SCHELLING (625/26) — „was sonst durch nichts reflektiert wird, jenes absolut Identische. .." Für das Verständnis des ganzen Konzepts des Transzendentalsystems ist es wichtig zu sehen, daß der „ursprüngliche Grund aller Harmonie des Subjektiven und Objektiven" — also das absolute Prinzip — „durch das Kunstwerk aus dem Subjektiven völlig herausgebracht und ganz objektiv geworden ist" (628/29), wichtiger aber noch, daß sich mit der Deduktion der ästhetischen Anschauung die gesamte Darstellung als ein „System" erweist. Hegel hatte in der Differenzschrift als ein — vermutlich für das Gesamtsystem geltendes — Systemerfordernis u. a. verlangt, das Produkt der Spekulation müsse „das im Bewußtsein konstruierte Absolute als Bewußtes und Bewußtloses zugleich sein" (I 178). Das Transzendentalsystem ScHELLiNGS Vollendet sich ebenso, daß es — wie am Anfang (349/50) ausdrücklich postuliert — mit der ästhetischen Anschauung eine „im Bewußtsein selbst .. . zugleich bewußte und bewußtlose Tätigkeit" als die im Selbstbewußtsein höchste (630) ableitet, die — weil sie der intellektuellen Anschauung des Philosophen wesensverwandt ist — dem Punkt entspricht, „auf welchem wir selbst standen, als wir anfingen, zu philosophieren" (628/29, 389/90). Somit genügt das Transzendentalsystem voll und ganz jenem Systemerfordernis Hegels. Um so merkwürdiger ist es, daß er in der Differenzschrift die ästhetische Tätigkeit und ihr Produkt — wie viele andere Seiten dieses Systems, insbesondere dessen vorbewußte Stufen — überhaupt nicht erwähnt hat. Seine kurzen Bemerkungen zum Verhältnis von Kunst, Religion und Spekulation (I 270) sind bereits aus identitätsphilosophischen Motiven geschrieben.

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Für ScHELLiNG war ein wichtiges Ergebnis, daß in der ästhetischen Anschauung die intellektuelle des Philosophen objektiv wird. Ist dessen „innere Anschauung" wesenhaft das „Nichtobjektive", so erlangt sie — zur ästhetischen potenziert — in dieser eine „allgemeine und von allen Menschen anerkannte und auf keine Weise hinwegzuleugnende Objektivität" (624/25). Damit wird nicht nur das nichtobjektive absolute Prinzip, auf dem diese ganze Transzendentalphilosophie beruht, „zum Bewußtsein hervorgerufen" (624/25). Es wird damit auch der ganze Mechanismus, den die Philosophie abgeleitet hat, objektiv (625/26). Man mag in diesen Hinweisen ScHELLiNGS die „Rechtfertigung" seiner Transzendentalphilosophie gegenüber den ihm zeitgenössischen Formen der Philosophie sehen — mit Hegel — als eines für die Aufhebung der herrschenden Entzweiung „geeigneten Instruments" (1178). Die künstlerische Produktion vermag den unendlichen Gegensatz der Tätigkeiten in den endlichen Produkten der idealischen Kunstwelt vollständig aufzuheben (626/27). Eben dies hat die Transzendentalphilosophie durch die Darstellung der den Gegensatz entfachenden und aufhebenden produktiven Anschauung hinsichtlich der „wirklichen Welt" geleistet. Innerhalb dieser „Verwandtschaft" (627/28) ist die Kunst der Philosophie jedoch darin überlegen, daß sie äußerlich — objektiv — darzustellen vermag, was der Philosophie nur subjektiv gelingt (627/28, 628/29). Auf dieses Verhältnis von Philosophie und Kunst hat sich das Werk von DIETER JÄHNIG ® konzentriert. Für das Verständnis des Gesamtaufbaus des Transzendentalsystems ist vielleicht aber diese andere Seite wichtiger: In der ästhetischen Anschauung wird bewußte und bewußtlose Tätigkeit in einer und derselben Anschauung objektiv (611), und außerdem wird das Ich in eben ihr „für sich selbst bewußt und bewußtlos zugleich" (ebd.). Darin liegt — wie SCHELLING selber bemerkt (610/11) — die Lösung „des ganzen (des höchsten) Problems der Transzendentalphilosophie (die Übereinstimmung des Subjektiven und Objektiven zu erklären)". Wir selber sehen eben hierin die bestimmte Art, aber auch die Grenzen des ScHELLiNGschen Versuches, der „Aufgabe der Philosophie" zu entsprechen, die herrschende „Entzweiung" aufzuheben. Daß ihm selber die Aufhebung der Entzweiung durch künstlerische Produktion nicht als eine für die geschichtlich-gesellschaftlichen Zustände ausreichende erschien, bezeugt seine Schlußbemerkung zum System (628/29). Da es sich in ihm gezeigt habe, daß die Kunst allein vermag, „mit allgemeiner Gültigkeit objektiv zu machen", was der Philosoph nur subjektiv darstellen kann. S. oben Anm. 6.

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deshalb sei zu erwarten, daß die Philosophie „in den allgemeinen Ozean der Poesie zurückfließen" würde, von welchem sie ausgegangen war. Bei einer Rückkehr der Philosophie zur Poesie aber gebe es als Mittelglied die Mythologie, die auch existiert habe, „ehe diese, wie es jetzt scheint, unauflösliche Trennung geschehen ist" (ebd.). Wie aber eine neue Mythologie, die nur die Erfindung eines „neuen nur Einen Dichter gleichsam vorstellenden Geschlechts sein kann", entstehen könne — dies sei — so erklärt er dort — ein „Problem, dessen Auflösung allein von den künftigen Schicksalen der Welt und dem weiteren Verlauf der Geschichte zu erwarten ist". II Da wir beabsichtigen, die Hegelsche Phänomenologie vor allem hinsichtlich ihrer Methode mit dem Transzendentalsystem in Beziehung zu setzen, sei jetzt als ein wichtiger Aspekt dieser Methode auf das Verhältnis des philosophierenden Ich zu dem Ich eingegangen, das zum Thema der philosophischen Darstellung, zu deren „Objekt" (629/30) gemacht wird und insofern das „objektive Ich" ist, wie SCHELLING es in den Münchener Vorlesungen von 1828 genannt hat (X 98). Sie und das Erlanger Manuskript von 1822 haben die bisherigen Interpretationen des Transzendentalsystems wesentlich bestimmt, besonders was dieses Verhältnis angeht ®. Ich bin jedoch der Auffassung, daß SCHELLING es dort in einer dem Text des Transzendentalsystems nicht ganz getreuen Weise wiedergegeben hat. In den Münchener Vorlesungen wird das Verhältnis zwischen dem „philosophierenden Ich" und dem „objektiven Ich" mit dem in den „Sokratischen Gesprächen" „zwischen dem Schüler und dem Meister" verglichen (ebd.). Diese Kennzeichnung hat mit zu dem Mißverständnis beigetragen, als handele es sich um zwei verschiedene natürliche Individuen mit unterschiedlichen Erfahrungen. Kein Zweifel, im Transzendentalsystem wird die Unterscheidung gemacht zwischen dem philosophierenden Ich und einem von ihm thematisch gemachten Ich; sie wird auch terminologisch festgehalten durch die Bestimmung des „wir" einerseits und des Ich, dessen Setzungen „für sich" werden sollen. Auch wird erklärt, das Ich sei dahin zu „führen, wo es mit “ Vgl. z. B. Walter Schulz in Sdielling: System des transzendentalen Idealismus. Hamburg 1957. XXVI ff; Dieter Jähnig: Die Kunst in der Philosophie (vgl. oben Anm. 6).

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allen den Bestimmungen gesetzt wird, die im freien und bewußten Akt des Selbstbewußtseins enthalten sind" (450/51) und daß die Untersuchung so lange fortgehen müsse, „bis für uns das Bewußtsein unseres Objekts mit dem unsrigen zusammentrifft" (389/90). Dementsprechend sei die Transzendentalphilosophie erst „vollendet", wenn „das Ich sich selbst ebenso zum Objekt wird wie es dem Philosophen wird" (452/53). Bei dieser „Rollen- und Aufgabenverteilung" handelt es sich in Wahrheit aber nur um eine „Argumentationsfigur", die der Tatsache Rechnung tragen will, daß es — wie hervorgehoben — das Wesen des Ich ausmacht, sich objektiv zu werden. Um die Genese dieses Selbstobjektivierens vor den Blick zu bringen, wird hinsichtlich ein und desselben Ichs ein Unterschied von zwei „Standpunkten" eingeführt (402/03). Der Standpunkt des transzendental philosophierenden Ich ist derjenige, der die Nachkonstruktion der in ursprünglicher Weise sich selbst konstruierenden Vernunft leistet, indem er die Bedingungen der Konstitution des Selbstbewußtseins aufdeckt. Durch die „freie Nachahmung" (396/97) der ursprünglichen Sukzession jener ursprünglichen, „ersten Reihe" von Handlungen — durch deren Rekonstruktion in einer zweiten Reihe soll die Notwendigkeit (397/ 398) des Mechanismus des ursprünglichen Entstehens aufgezeigt werden. Da das Thema des Philosophen aber das Ich ist — und das Ich nichts anderes ist als das, was es für sich ist — so macht der Philosoph auf jeder neuen Stufe seiner Nachkonstruktion Halt und fragt danach, inwieweit und in welchem Verständnis das jeweilige Nachkonstruierte auf ihr „für es selbst" geworden ist. Der Philosoph hat sich selber die Stellung eines anderen zu sich selbst gegeben; weil er sich beständig auf den Standpunkt seines Objekts stellt (vgl. 402/03), gibt er vor, den Standpunkt eines Beobachters, eines „Zusehens" (472/73) zu haben, obgleich nur er es ist, der aktiv diese Rekonstruktion durchführt. Worum es geht, ist, festzuhalten, daß der Transzendentalphilosoph es hier nur mit seinen „frei produzierten" (vgl. 350/51) und „eigenen freien Konstruktionen zu tun" (371/72) hat. Ganz irrig wäre es auch, weil von einem „Führen" des objektiven Ich durch das philosophierende die Rede ist und später auch noch von einem soKRAxischen Gespräch, an eine „Bildungsgeschichte" zu denken. Wäre die Genese dies, dann müßte z. B. — nachdem der Philosoph aufgedeckt hat, daß die vom Gefühl des Zwangs begleitete Vorstellung einer unveränderbar vorhandenen Welt für das jetzt vorhandene Bewußtsein nur das Resultat des Streites geistiger Tätigkeiten ist — dieses Bewußtsein nunmehr den Schein seiner Vorstellungen durchschauen. Der Transzendentalphilosophie geht es aber doch nur darum — wie SCHELUNG erklärt — die „Un-

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vermeidlichkeit der Täuschungen" (351/52) als einen ^^notwendigen Sdiein" aufzudecken und nicht darum, ein falsches Bewußtsein als eine jeweils zu überholende Stufe zu überwinden. Handelte es sich um eine Bildungsgeschichte, dann müßte sich des weiteren die Selbstanschauung des praktischen Bewußtseins als falsch zu derjenigen aufheben, die sich als eine „ästhetische" vollzieht. Es war darum irreführend, wenn SCHELLiNG in den Münchener Vorlesungen erklärte, im Transzendentalsystem sei die Philosophie für das objektive Ich eine Anamnese, und wenn dort (X 93) wie auch vielfach in der ScHEEiiNG-Literatur von einer „Arbeit des Zu-sich-selbst-Kommens" des Bewußtseins gesprochen wird. Wir haben schließlidi noch zu klären, worin das „Gesetz der Fortbestimmung" bei dieser Methode liegt. Im Transzendentalsystem wie in den Münchener Vorlesungen hat SCHELLING die Fortbestimmung aus dem immanenten Widerspruch im Ich erklärt, unendlich und endlich, unbegrenzt und begrenzt zugleich zu sein. Wir wiesen bereits darauf hin: Die ursprüngliche, unendliche Tätigkeit muß, um „für sich", um ein Ich zu werden, sich anschauen, sich als Subjekt setzen. Setzt sie sich als Subjekt, dann macht sie sich aber selbst zum Gegenstand, zum Objekt, zu einem Verendlichten und Begrenzten, somit zu etwas anderem als sie ist. Darin, daß sich das Ich seiner als Subjekt „nie habhaft" werden kann, liegt für SCHELEiNGS spätere Reflexion der „Grund-Widerspruch" — das „Unglück in allem Sein", der „Urzufall", die „Dissonanz" (X 101). Dieses „Seiner-nichthabhaft-werden-Können" stellt aber eine „fortschreitende und fortziehende Bewegung" dar; das Subjekt-Objekt sei in ihr von Anfang das „Gewollte" und als ein solches — fügt er in Antwort auf die bekannte Hegelsche Polemik in der Vorrede der Phänomenologie hinzu — die „Pistole, aus der es geschossen wird" (X 149). Worin sieht SCHELLING aber genauer für die Methode des Transzendentalsystems — genauso wie für die der „Naturphilosophie" — das „Gesetz des Fortschritts"? Das Subjekt A, das sich, um sich objektiv zu werden, als A in B setzen mußte, bleibt eben durch dieses Setzen kein einfaches A mehr, es ist — nach SCHELLING — „zum Höheren seiner selbst” geworden (X 103). Und nun fügt er dieser Bestimmung den folgenden Satz hinzu: „Notwendig und immer aber ist das Höhere zugleich das Begreifende und Erkennende des Niederen..." Im Transzendentalsystem wurde der Streit der in entgegengesetzte Richtungen verlaufenden Tätigkeiten — um der Einheit der Monade willen — durch eine dritte vermittelnde Tätigkeit geschlichtet, „die zwischen entgegengesetzten Richtungen schwebt” (392/93). Das Ich des Selbstbewußtseins macht sich immer erneut geltend, und dies geschieht — so vermuten wir, SCHELLING sagt das nicht deutlich

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— durch die Tätigkeit der „Einbildungskraft" (vgl. 557/58, 625l26). Wenn demgegenüber in den Münchener Vorlesungen von einem „Begreifen und Erkennen" des Niederen gesprochen wird, so handelte es sich wohlgemerkt gerade nicht — dies wird dort ausdrücklich abgegrenzt (X 108) — um ein Begreifen und Erkennen seitens des philosophierenden Subjekts, sondern um das dem „absoluten Subjekt" „inwohnende Gesetz" (ebd.). Bedeutet dies, daß das Gesetz der Fortbestimmung sich für SCHELLING nunmehr nur durch eine Bewegung erklären läßt, die — da sie sich ja auf die vorangegangenen Stufen zurückwendet — diese in ihrer Gegensätzlichkeit bestimmen muß, um sie dann miteinander zu vermitteln, die Struktur einer negativen Selbstbeziehung hat, wie sie der Reflexion, dem Begriff zugrunde liegt? Wir versuchten, das Konzept der ScHELLiNGSchen Transzendentalphilosophie aus dem Sinn seines Grundgedankens, der Selbstanschauung, sichtbar zu machen. Jetzt, ganz am Schluß, läßt sich zumindest fragen, ob in der späteren Sicht SCHELLINGS die sich als Selbstanschauung konstruierende Vernunft zu ihrem Fortschreiten und somit zu ihrer systematischen Vollendung einer der Anschauung fremden Struktur bedarf — eine Tatsache, die bei einer Antwort auf die Frage: „Ist systematische Philosophie möglich?" — in ihrer philosophiegeschichtlichen Ausrichtung auf SCHELLINGS Transzendentalsystem — mit berücksichtigt werden müßte. III Wir waren davon ausgegangen, daß Hegel bei der Abfassung der Phänomenologie des Geistes noch die Auffassung von der „Aufgabe der Philosophie" mit SCHELLING teilte, daß sie die Entzweiung zwischen absoluter Subjektivität und absoluter Objektivität aufzuheben habe. Freilich stellte sich dem Hegel von 1807 die Möglichkeit für eine systematische Lösung dieser Aufgabe völlig anders als dem Hegel von 1801. Inzwischen war er zu der Überzeugung gelangt, daß das absolute Prinzip, das SubjektObjekt, nur dann in einem wirklichen Bezug zu dem ganzen Bereich des Wissens und wissenden Handelns steht, wenn es nicht wie eine bewegungslose und unvermittelte spinozistische Substanz (vgl. Phän. 19) und nicht wie die „für sich wohl wahre Idee" SCHELLINGS „nur immer in ihrem Anfang stehen" (18) bleibt, sondern wenn sie als das „Resultat zusamVgl. zum Folgenden vom Verf.: Hegels Phänomenologie des Geistes, Die Bestimmung ihrer Idee in „Vorrede" und „Einleitung". Frankfurt/Main 1971.

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men mit seinem Werden" (11) dargestellt, wenn das „Wahre ... eben so sehr als Subjekt" aufgefaßt und ausgedrückt wird (19). Bei SCHELLING wird — so sehen wir (s. o. S. 84) — in die ursprünglich absolute unmittelbare Identität eine Schranke oder Negation gesetzt. Hegel hat seinerseits eine dem Absoluten immanente Negativität gedacht, aber als das Verhältnis des „Einen und seines Anderen", als die sich auf ihre Negation imd auf sich selbst beziehende Bewegung des „Sichanderswerdens mit sich selbst" (20), den sich als Selbstvermittlungsprozeß realisierenden „Begriff", die „Idee", die Subjekt-Objekt-Einheit, eben als das „Subjekt", das sich in der Darstellung des Philosophen an und für sich selbst verwirklicht. Darum wäre die Frage, die wir an das ScHELLiNGsche Transzendentalsystem richteten, ob und wie in dem seinen Grundgedanken realisierenden Prinzip die Notwendigkeit liegt, sich zum System zu entfalten, hier völlig gegenstandslos. Der Begriff, das „Subjekt", ist als entfaltete Selbstvermittlung das wissenschaftliche System, ist „die wahre Gestalt, in welcher die Wahrheit existiert" (12). Und was den Philosophen angeht: Während sich für SCHELLING die absolute Identität nur als intellektuelle Anschauung erschloß und sich daher nur den Seltenen eröffnete, den „Sonntagskindern", wie Hegel hämisch bemerkt (XIX 655), die ein — der ästhetischen Anschauung wesensverwandtes — Organ haben, so war für Hegel die Reflexion die Form des natürlichen Selbstbewußtseins. Freilich muß sie sich von einer verstandesmäßigen Reflexion zu einer „absoluten" verwandeln — erst sie vermag den Begriff als Begriff darzustellen. Während die Differenzschrift die Schritte der bereits dort geforderten Verwandlung zu dem geeigneten „Instrument des Philosophierens" gewissermaßen nur aufzählte, lag das Große der Phänomenologie darin, daß sie die vom Begriff vorgeschriebene Stufenfolge von Erfahrungen darstellte, die mit wissenschaftlicher Notwendigkeit die „absolute Reflexion" zu ihrem Resultat hat. ScHELLiNGS Transzendentalsystem und Hegels Phänomenologie werden üblicherweise als zwei parallele Werke aufgefaßt. Eine derartige Parallelisierung scheint sich aber aus folgendem Grunde zu verbieten: Anders als die erstere hat die Phänomenologie nur das Werden des absoluten Wissens zum Gegenstand. Sie ist noch nicht die Darstellung der spekulativen Philosophie und beansprucht daher auch nicht wie das Transzendentalsystem, der Aufgabe einer vollständigen Aufhebung der Entzweiung zu entsprechen. Dennoch läßt ein gemeinsamer Blick auf beide Systeme wichtige Grundzüge hervortreten. Auf die exoterische Grundauffassung Hegels (vgl. Phän. 16) gegenüber der esoterischen SCHELLINGS wurde soeben hingewiesen. War SCHELLINGS erklärter Standpunkt derjenige einer vorreflexiven Anschauung, so war der Standpunkt Hegels ebenso entschieden der-

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jenige der Reflexion, die als Verstand in Relate analysiert und als Vernunft eine diese negierende, sie miteinander vermittelnde Selbstbeziehung ist. Da Reflexion das Element ist, das der Verstand mit dem absoluten Wissen teilt, gehe es darum, ihm die „Vollendung und Durchsichtigkeit selbst nur durch die Bewegung seines Werdens" zu geben (24). Dieses Gemeinsame des Elementes mache es möglich, den wissenschaftlichen Standpunkt gegenüber der zeitgenössischen Reflexionskultur durch eine wissenschaftliche Darstellung zu „rechtfertigen". Deswegen könne diese sich der von der Wissenschaft gereichten „Leiter" (25) bedienen und sich zum absoluten Wissen verwandeln. Demgegenüber mußte sich die „Rechtfertigung" des Transzendentalsystems mit dem Nachweis begnügen, daß die nur innerlich vollzogene intellektuelle Anschauung eine allgemein anerkannte Objektivität in der ästhetischen Produktion findet. Die andersartige Aufgabe von Phänomenologie und Transzendentalsystem verbietet auch nicht den Vergleich ihrer Methode. Derm die Phänomenologie ist gleichfalls die Darstellung einer „Genese", und zwar desselben Prinzips, der Subjekt-Objekt-Identität. Es läßt sich zeigen — wie ich dies in meiner Hegel-Schrift versuchte — daß in eben diesem „Prinzip" die „Idee" des ganzen Werkes liegt. Was für eine Genese aber ist die Phänomenologie! SCHELLING hatte in den Münchener Vorlesungen darauf bestanden, sein Transzendentalsystem habe als erstes die „Tendenz zum Geschichtlichen" gehabt (X 93). Demgegenüber gilt — wie gezeigt —: Das Transzendentalsystem ist Geschichte nur als eine Genese der transzendental nachkonstruierten Gesetzmäßigkeit der ursprünglichen Selbstkonstruktion der Vernunft, während die Phänomenologie wirkliche Geschichte ist, wenn auch nur „nach der Seite ihrer begriffenen Organisation" (564). Genauer ist sie eine „Geschichte der Erfahrung", die das Bewußtsein mit sich selbst macht und zugleich eine Geschichte des sich entfremdenden und zu sich kommenden Geistes. Sie deduziert nicht die Sukzession von Handlungsweisen der Vernunft, sondern stellt eine Sukzession geschichtlicher Gestalten dar, die — geleitet von einander folgenden Kategorien — Erfahrungen mit dem Wahrheitsanspruch machen, mit dem sie jeweils auftreten. Die Sukzession endet auch nicht in einer Selbstanschauung, in der bewußte und unbewußte Tätigkeit für das Bewußtsein „zugleich" präsent sind, der ästhetischen und ihrem Produkt, dem Kunstwerk, sondern mit dem „sich in Geistgestalt wissenden Geist". Diese Genese konstruiert kein vorbewußtes Geschehen in einer das wirkliche Bewußtsein ermöglichenden „transzendentalen Vergangenheit", sie beginnt vielmehr mit dem wirk** S. oben Amn. 10.

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liehen Bewußtsein, wenn auch in dessen unmittelbarer Gestalt, der sinnlichen Gewißheit. Diese ist als erste am stärksten von der „unorganischen Natur" des Bewußtseins bestimmt und ist gerade nicht — wie bei SCHELLiNGS intellektueller Anschauung — die vom Philosophen von allen Fremdbestimmungen gereinigte absolute Identität. Die Reinigung erfolgt in der Phänomenologie vielmehr schrittweise durch die Erfahrungsgeschichte und vollendet sich in der Gestalt, die alles Faktische von sich abgestreift hat — wohingegen das Transzendentalsystem in dem Faktum der Kunst seine Vollendung findet. All diese Unterschiede erklären sich aber daraus, daß nach Hegels Grundauffassung das absolute Prinzip der zur totalen Manifestation gelangende Begriff ist und nicht die vorreflexive Selbstanschauung. Wenn auch das Eigentümliche des Hegelschen Begriffs darin liegt, das Statische der KANxischen Auffassung überwunden zu haben, so ist es doch die in der transzendentalen Apperzeption liegende Identität von Identität und Differenz, die er durch die geschichtliche Erfahrung dynamisiert und als Weisen des sich selbst vermittelnden und sich durchschauenden Geistes dargestellt hat. Jedenfalls tritt das absolute Prinzip nicht als Grundsatz auf, der — wie wir für das Transzendentalsystem erst aufzeigen mußten — sich in das Ganze des Wissens setzen muß, sondern das absolute Prinzip, der Begriff, wird — wie gesagt — dargestellt, wie er als Selbstvermittlungsprozeß am Werke ist. In der Phänomenologie erscheint der Begriff in Bewußtseinsweisen des „erscheinenden Wissens", das sich in einer Erfahrungsgeschichte bis zu derjenigen Gestalt fortbestimmt, in der er sich als Subjekt-Objekt weiß, als absolutes Wissen „bewußte Identität" ist. Dieses ist die Wissensform des natürlichen Bewußtseins, die sich — anders als dieses — der philosophisch geleiteten, systematischen Selbstprüfung unterzieht und in eine gesetzmäßige Bewegung gerät, die diesen Fortgang zum absoluten Wissen herbeiführt und für die Vollständigkeit der dargestellten Gestalten einsteht. Das „erscheinende Wissen" ist das Thema, das Objekt des Philosophen, und wenn auch hier der Philosoph vom erscheinenden Wissen in derselben Terminologie unterschieden wird wie im Transzendentalsystem, durch das „wir" und „für uns" gegenüber dem „für sich", so kann man nicht deutlich genug hervorheben, daß es sich beim „erscheinenden Wissen" um ein solches handelt, das „Erfahrungen" mit sich selbst zu machen vermag, während das „objektive Ich" SCHELLiNGS — wie wir zeigten — nichts anderes als eine „Argumentationsfigur" des Philosophen selber ist. Das „objektive Ich" des Transzendentalsystems kann auch keine eigenständige „Rolle" übernehmen, während das erscheinende Wissen die wichtige Rolle hat, sich durch die „Verzweiflung" eines

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sich „vollendenden Skeptizismus" selber von allen Formen der Abhängigkeit, von seiner „unorganischen Natur" zu befreien, und all dies in bewußter Weise tut. Das objektive Ich dagegen durchschaut weder seine „transzendentale Vergangenheit" noch vermag es sich in den verschiedenen Potenzen seiner Selbstanschauung der vom Philosophen postulierten absoluten Identität von Subjekt und Objekt bewußt zu werden. So ist es auch in erster Linie das „erscheinende Wissen", auf dessen Handlungen in der Phänomenologie das „Gesetz der Fortbestimmung" beruht. Die eigentümliche Struktur dieses Gesetzes muß jetzt noch kurz in Gegenüberstellung zum Transzendentalsystem geklärt werden. Wiederum ist die Vorentscheidung dadurch getroffen, daß für Hegel das Bewußtsein Begriffsnatur hat. „Das Bewußtsein aber ist für sich selbst der Begriff." (69) Es ist in diesem Kreis unnötig, im einzelnen auszuführen, warum im Gegensatz zum objektiven Ich des Transzendentalsystems, dessen Bewußtsein nur an dem „Maßstab" der Identität bewußter und bewußtloser Tätigkeit im Bewußtsein gemessen wird, ein „Maßstab", den der Philosoph gewissermaßen „von außen" setzt — warum in der Phänomenologie das Bewußtsein wegen seiner Begriffsnatur eine Vergleichung seiner mit sich selbst (vgl. 72) ist, daß und wie es eine „Selbstprüfung" vollzieht, in der sowohl die Form wie der Inhalt des Wissens an der „Gegenständlichkeit" gemessen wird, die als Maßstab zur Struktur des Bewußtseins gehört. „Das Bewußtsein gibt seinen Maßstab an ihm selbst. . ." (71) Dieser Maßstab ändert sich, wenn das Bewußtsein sein Wissen korrigiert: Das, was zunächst das Ansich war, sinkt zu einem Für-es-an-sich-Sein herab. Diese Änderung des Maßstabes, der Übergang zu einem neuen Maßstab aber ist die „Erfahrung". Der notwendige Zusammenhang zwischen neuem und altem Maßstab bleibt freilich dem erfahrenden Bewußtsein verborgen — es glaubt, den „alten" in den „leeren Abgrund" geworfen zu haben. Eben diese Erfahrung ist aber die Realisierung des „Gesetzes der Fortbestimmung". Daß das erscheinende Wissen nicht in der Lage ist, dieses in ihm liegende Gesetz zu durchschauen, ist eine andere Sache. Jedenfalls: Hat im Transzendentalsystem das vom Philosophen zum Thema gemachte „objektive Ich" bei der Fortbestimmung keinerlei Funktion, so ist es in der Phänomenologie das „in der Erfahrung begriffene" erscheinende Wissen, das durch seine Erfahrung die „Fortbestimmung" auslöst. Allerdings: Die Darstellung einer gesetzmäßigen Notwendigkeit dieser Fortbestimmung wäre nicht möglich, wenn der Philosoph sie nicht durchschauen würde. Seine „Zutat" liegt ja in der „Betrachtung der Sache" (74), insofern ihm — anders als dem erscheinenden Wissen — das Resultat der jeweiligen Prüfimg, das Nichtentsprechen

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von Wissen und Ansich und damit die Unhaltbarkeit des Maßstabs nicht als ein „leeres Nichts" gilt, sondern als ein „Nichts desjenigen, dessen Resultat es ist" (ebd.). Der Philosoph erkennt, daß die Erfahrung der Nichtigkeit des alten Gegenstandes — des ersten Ansich — als ihr eigenes Resultat den „neuen Gegenstand" enthält. Er efkennt, daß es sich bei jener Erfahrung des erscheinenden Wissens von der Nichtentsprechung mit der bisher herrschenden Sphäre der Gegenständlichkeit oder Wahrheit und dem Wissen von ihr um eine antithetische Bewegung handelt — daß der „neue Gegenstand" somit nichts anderes ist als die aus jener antithetischen Erfahrungsbewegung resultierende Synthese. In dieser Dialektik der „bestimmten Negation" (69), die der Erfahrtmg des erscheinenden Wissens zugrunde liegt, liegt das „Gesetz der Fortbestimmung" in der Phänomenologie, nach dem wir fragten, das nicht nur das Entstehen einer einzelnen bestimmten Gestalt beherrscht, sondern — mit Hegel — „die ganze Folge der Gestalten des Bewußtseins in ihrer Notwendigkeit" leitet (74). Im Transzendentalsystem lag das Gesetz der Fortbestimmung für den späteren SCHELLING darin, daß das „absolute Subjekt" in jeder objektiven Gestalt erneut als eine gegenüber der vorangegangenen „höhere" jene „erkennt und begreifend" geltend macht. Wenn wir darauf hinweisen, daß es so gesehen auch im Bereich des Vorbewußten einer Art von „Wissen" bedarf, das die Struktur einer Selbstbeziehung, also des Begriffes, hat, so bedeutete dies keinesfalls, daß auch bei der Methode des Transzendentalsystems der Begriff die Rolle eines „Maßstabes" hätte, den sich das Bewußtsein gibt. Dies ist noch wichtig hervorzuheben, weil in der Phänomenologie von der Logik in der Entwicklung ihrer Kategorien, ihrer „Wesenheiten" oder „Momente" das „Gesetz der Fortbestimmung" mit abhängt. Sie ist für den Philosophen erkennbar und auch von ihm aktiv zu fördern. Dies läßt sich nicht nur aus den Passagen der Vorrede belegen, sondern auch aus einer Stelle am Schluß der Phänomenologie (556), wo von einer weiteren „Zutat" des Philosophen die Rede ist. In ihr wird vom Philosophen „die Versammlung" der Momente und „das Festhalten des Begriffs in der Form des Begriffs" gefordert. Er soll die kategorialen Bestimmungen oder Wesenheiten, die „Momente", wie die des An-sichSeins, Für-sich-Seins, der Sich-selbst-Gleichheit usw., also den Begriff in der Form des Begriffs, festhalten und versammeln als den Prozeß der Selbstvermittlung — eben des Begriffs in seiner dialektischen Selbstbestimmung. Hierin liegt: In der Phänomenologie garantiert das absolute PrinVgl. hierzu vom Verf.: Die Dialektik und die Rolle des Phänomenologen. In: Hegel-Jahrbuch 1974. Köln 1974. 381—387.

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zip — gemäß dem „ihm inwohnenden Gesetz" — sicher und entschieden, daß die Bewegung mit Notwendigkeit an das Ziel des Systems führt. Das System der Phänomenologie des Geistes beruht ebenso wie das des transzendentalen Idealismus SCHELLINGS darauf, daß innerhalb des empirischen Bewußtseins das Prinzip herrscht, die Spontaneität der sich selbst konstruierenden Vernunft, die Bewegung eines in sich differierenden Identischen, das sich selber zum System entwickelt. Bereits von der Phänomenologie her ist somit für Hegel die Frage des Kongresses, „Ist systematische Philosophie möglich?", ebenso zu bejahen wie dies für SCHELLINGS Transzendentalsystem der Fall war. Zum Abschluß dieses: Der sogenannte „ästhetische Idealismus" SCHELLINGS ist von KRONER als „spekulativ unbefriedigend" und von SCHULZ als eine „Verlegenheitslösung" angesehen worden, nicht so sehr weil innerhalb der Gesamtentwicklung SCHELLINGS ab 1809 von der Kunst nicht mehr die Rede ist, sondern weil die Philosophie der Kunst „die Frage nach der Wißbarkeit des absoluten Wissens verschleiert habe". Diese Interpretationen messen den ScHELLiNGSchen Grundgedanken an demjenigen Hegels, dem Begriff, der absoluten Reflexion. In ihm vollendet sich die Subjektivität in der Tat in der totalen Selbstvermittlung ihres Inhalts, begründet sich das Prinzip wissend durch sich selbst. Demgegenüber hat die Selbstanschauung im Transzendentalsystem gerade kein solches telos. Zur Vernunft als Selbstanschauung gehört vielmehr ein vorbewußtes Wirken, und ihre höchste Potenz wird durch die Idee des Genies bezeichnet. Eben sie hat SCHELLING in den letzten Worten dieses Systems das „schlechthin Zufällige" genannt (633/34) und damit auf einen weiteren Sinn hingewiesen, der in seinem Grundgedanken liegt, letztlich „Wissen" von etwas zu sein, das nicht zu denken ist. Auf die Weiterentwicklung SCHELLINGS in dieser Richtung ist hier nicht einzugehen. In diesem Vortrag wollten wir zeigen: In den Anfängen des Deutschen Idealismus dachte SCHELLING im Grundgedanken der Anschauung etwas radikal anderes als Hegel in dem der Reflexion und des Begriffs. Beides galt als Prinzip der Vernunft, jedes sollte — wenn durch die Philosophie realisiert — auf seine Art der Aufgabe und dem „Bedürfnis der Philosophie" entsprechen, die damals herrschende Entzweiung aufzuheben. Wenn in der Gegenwart einige Richtungen der Philosophie der heute herr-

Richard Kroner: Von Kant bis Hegel. Band 2. Tübingen 1924.110. Walter Schulz: Die Vollendung des Deutschen Idealismus in der Spätphilosophie Schellings. Stuttgart 1955. Vgl. 132, 135.

Aufgabe und Methode der Philosophie

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sehenden „Entzweiung" entgegenzuwirken versuchen, dann orientieren sie sich wie selbstverständlich nur an der Hegelschen Reflexion und dem Begriff. Vielleicht aber täte die „praktische Philosophie" unserer Tage gut daran, sich einmal des Sinnes jenes Gedankens zu erinnern, der dem ScHELLiNGSchen Transzendentalsystem zugrunde lag, der Selbstanschauung.

So z. B. Habermas in: Erkenntnis und Interesse. Frankfurt 1968; vgl. hierzu vom Verf, die oben Anm. 7 genannte Abhandlung.

ODO MARQUARD (GIESSEN)

HEGELS EINSPRUCH GEGEN DAS I D E N T I T Ä T S S Y S T E M

Heutzutage sind ^,System" und „Identität" zu philosophischen Imponiervokabeln geworden: erfolgreich, unausweichlich, jede von beiden sozusagen ein transzendentaler Hit.

Aber wenn man sie hört, gibt es Augenblicke des Unbehagens. Darum scheint es mir — auf einem Hegelkongreß im ScHELLiNcjahr — nützlich, jemanden aus unserer (der philosophischen) Branche, der von der Identität und dem System etwas verstand, nämlich Hegel, erneut nach seinen Bedenken zu fragen gegen jene Philosophie von SCHELLING, die Identität und System verband zum Identitätssystem. Ich tue das hier in sechs Abschnitten; ich nenne sie vorweg: 1. ein Text und eine Frage; 2. drei Einwände; 3. Endlichkeit der Emanzipation; 4. Ermächtigung der Illusion; 5. prekäre Kompensationen; 6. kurze Nachrede. 1. Der Text, auf den ich mich beziehe, ist allgemein bekannt: er ist berühmt, berüchtigt und von Hegel; er steht an einer Stelle, an welcher auch Hegelexperten, die nicht so eifrig lesen, ihn gelesen haben können, nämlich in der Vorrede der Phänomenologie des Geistes. Ich rufe diesen Text

— zitatenhaltig, kurz, verkürzend — in Ihre Erinnerung: Hegel streitet dort im Namen der „Anstrengung" und „Arbeit des Begriffs" (48, 57) gegen jenes „Philosophieren, das sich zu gut für den Begriff und durch dessen Mangel für ein anschauendes ... Denken hält" (55): für „intellektuelles Anschauen" (vgl. 20) der „absoluten Identität" (43). „Irgendein Dasein" — schreibt Hegel — „wie es im Absoluten ist, betrachten, besteht hier in nichts anderem, als daß davon gesagt wird, es sei zwar jetzt von ihm gesprochen worden als von einem Etwas; im Absoluten, dem A = A, jedoch gebe es dergleichen gar nicht, sondern darin sei alles eins." (18 f) Auch die identitätssystematische „Konstruktion" (42) des Verschiedenen Zitiert wird: Hegels Phänomenologie nach der Ausgabe von J. Hoffmeister (Hamburg 1952 u. ö.); Pichte nach den Sämtlichen Werken ed. I. H. Fichte; Schelling nach den Sämtlichen Werken ed. K. F. A. Schelling.

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— meint Hegel — mißachte die Verschiedenheit des Verschiedenen: durch „Unmethode ... der Begeisterung" (41) plus „naturphilosophischen Formalismus" (42) bringe sie „die wissenschaftliche Organisation zur Tabelle herab" (41), „zum leblosen Schema, zu einem eigentlichen Schemen" (ebd.)- Es „mag" — schreibt Hegel — „hierüber die Unerfahrenheit in ein bewunderndes Staunen geraten" und „darin eine tiefe Genialität verehren" (42); doch — sagt er — „der Pfiff einer solchen Weisheit ist so bald erlernt, als es leicht ist, ihn auszuüben ... Das Instrument dieses gleichtönigen Formalismus ist nicht schwerer zu handhaben als die Palette eines Malers, auf der sich nur zwei Farben befinden würden, etwa Rot und Grün, um mit jener eine Fläche anzufärben, wenn ein historisches Stück, mit dieser, wenn eine Landschaft verlangt wäre" (43): aber sogar dieser Unterschied einer roten Geschichte und grünen Natur — meint Hegel — soll identitätssystematisch sub specie absoluti nicht gelten, so „daß" — sagt er — „sich diese Manier zugleich zur einfarbigen absoluten Malerei vollendet, indem sie . .., der Unterschiede des Schemas sich schämend, sie als der Reflexion angehörig in der Leerheit des Absoluten versenkt, auf daß die reine Identität, das formlose Weiße hergestellt werde" (ebd.), jenes absolut Weiße, das als das Weiße so absolut ist, daß es absolut ununterscheidbar wird vom Schwarz: darum ist in diesem Identitätsdenken — schreibt Hegel, und diese Formulierung ist berühmt — „sein Absolutes . . . die Nacht, worin, wie man zu sagen pflegt, alle Kühe schwarz sind" (19): dadurch aber ist es — sagt er — „die Naivität der Leere an Erkenntnis" (ebd.). Mit all diesem meint, trotz allem, was einschränkend gesagt werden kann und muß, Hegel — ohne dort den Namen zu nennen — SCHELLiNG und sein Identitätssystem. Auch ich war lange der Meinung, hier sei Hegel ungerecht gewesen gegen seinen jüngeren Freund. Aber man muß Hegels Einsprüche — wie etwa den gegen das Sollen, so auch den gegen das Identitätssystem —• ernstnehmen. Aufgrund dieser Maxime ergibt sich hier die Frage der weiteren Überlegung: wo lag — wenn man doch SCHELLING verteidigen könnte durch den schlichten Hinweis, daß da im Identitätssystem trotz allem viel natürliche und geschichtliche Wirklichkeit begriffen und viel Unterschied beachtet ist — wo also lag der eigentliche Grund für Hegels Bedenken? Oder anders gefragt: was war SCHELLINGS Identitätssystem, so daß Hegel es bedenklich finden konnte und mußte? 2. Jetzt falle ich mir selber ins Wort und mache dieser Frage drei Einwände.

Hegels Einspruch gegen das Identitätssystem

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Der erste Einwand: das Problem dieses Kongresses — „Ist systematische Philosophie möglich?" — ist ein systematisches Problem, also muß man es lösen durch systematische Philosophie; der Blick auf eine Vorredenpolemik gegen eine historische und fragmentarisch gebliebene Gestalt der Spekulation aber ist keine systematische Philosophie. Dies — so antworte ich — trifft zu und es ist Absicht. Da dieser Kongreß ja erst entscheiden will, ob systematische Philosophie möglich sei, tut ein Referat an seinem ersten Tage, eines, das noch vor seiner offiziellen Eröffnung gehalten wird, gut daran, sein Verfahren unabhängig zu machen von dieser Entscheidung: es ist ratsam, hier heute auf einen kontingenten Einspruch gegen Kontingentes kontingent zu blicken. Darum verzichte ich hier auf Philosophie, die systematisch verfährt.

Der zweite Einwand: dieser kontingente Blick auf einen kontingenten Hegeleinspruch gegen eine kontingente ScHELLiNcphilosophie ist korrekt nur als Philosophiehistorie dieses Einspruchs möglich. Die aber ist — im gegenwärtigen Zeitpunkt — überflüssig: eine zureichende liegt längst vor etwa durch die Arbeiten von Herrn PöGGELER; ein Überbietungsversuch wäre vermessen in seinem und im Beisein der Inhaber der hegelhinsichtlich idealen oder gar heideibergischen Subtilitätskompetenz. Nichtüberflüssig, dabei historiographisch unschädlichkeitsgewiß, folglich unwiderstehlich ist darum also gerade, das ganz andere zu tim: das, was einschlägig nicht Philosophiehistorie ist. Dies — so antworte ich — trifft zu und es ist Absicht. Ohnehin wäre es viel zu leichtsinnig von einem, der — wie ich — nur bei hegelunkundigen ScHELLiNGforschern als Hegelexperte und nur bei scHELLiNGunkundigen Hegelforschem als ScHELLiNGexperte gilt, dieses prekäre Renommee durch die erwischbare Tat einer historiographischen Expertise aufs Spiel zu setzen. Darum verzichte ich hier auf Philosophie, die historisch verfährt.

Der dritte Einwand: Philosophie ist entweder systematisch oder historisch; tertium non est philosophia. Folglich ist das Folgende — wenn es weder systematisch noch historisch verfährt — als Philosophie unmöglich. Dies — so antworte ich — trifft zu und es ist Absicht. Meine amtlich beglaubigte Profession ist ohnehin nicht Philosophie, sondern Philosophie II: la deuxieme philosophie, nur die ,andere' Philosophie, die weder systematische noch historische, eben die unmögliche. Das — mag man sagen — klingt stark nach fauler Ausrede. Es scheint mir vertretbar, dem nicht zu widersprechen. 3. Im Sinne dieser anderen Philosophie wiederhole ich jetzt die — an He-

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gels Text sich knüpfende — Frage: was ist SCHELLINGS Identitätssystem, so daß Hegel es bedenklich finden konnte und mußte? Diese Frage — was ist es? — fragt nach seiner Identität: der Identitätssystem-Identität. Auch diese ist — wie Identitäten sonst — definierbar durch eine Geschichte, die hier — das ergibt sich aus der Situation — vor Philosophen als philosophische, unter Zeitdruck als kurze Geschichte erzählt werden muß: als philosophische Kurzgeschichte. Ich beginne sie — indem ich zunächst die Frage erzähle, auf die das Identitätssystem die Antwort ist — bei KANT: denn SCHELLINGS Identitätssystem war die Replik auf FICHTES Wissenschaftslehre, FICHTES Wissenschaftslehre war die Replik auf KANTS Transzendentalphilosophie. KANTS Transzendentalphilosophie aber — was immer sie sonst noch war und tat — unterschied nachdrücklichst den Menschen von Gott, das endliche Wissen vom absoluten Wissen: diese Bescheidenheit — durch die das endliche Wissenschaftswissen unbeschränkte Neugierlizenzen erhielt, weil es aufhörte, häresiefähig, d. h. an theologisch absoluten Relevanzgesichtspunkten meßbar zu sein — machte KANTS Philosophie zur eigentlichen Philosophie der Neuzeit. FICHTES Wissenschaftslehre war das Ende dieser Bescheidenheit und insofern — vielleicht kann man das sagen — der Anfang der Gegenneuzeit: wenn der Mensch — so überlegte FICHTE — nicht absolut weiß, dann weiß er auch nicht absolut, was er tut und was er tut, wenn er weiß; das aber — meinte FICHTE — darf nicht sein; und also — schließt er messerscharf — kann es nicht sein: darum muß der Mensch — durch intellektuelle Anschauung — absolut wissen. Aber kann er das? Er kann, denn er soll; im Gegenwartsjargon: er ist kontrafaktisch kompetent; alles andere ist eine KANTianisch faule, eine positivistisch halbierende Ausrede: sobald nur das Menschen-Ich absolut tut, tut es schon absolut, als ob es absolut weiß, und dies reicht; denn — das meint FICHTES Wissenschaftslehre — dadurch bringt es die Wirklichkeit schlechthin zur Emanzipationsräson, indem es sie verpflichtet, unbedingt — d. h. zu Bedingungen des Ich — solidarisch zu sein mit dem Ich. Alles soll für das Ich d. h. nichts soll gegen das Ich sein und darum vorsichtshalber auch nichts ohne das Ich. Das wird garantiert, indem alles durch das Ich ist, sozusagen — aufgrund kontrafaktischer Kreationskompetenz des Ich — durch Egofaktur. Dabei muß in einem ständigen Prozeß der Solidaritätskontrollen sichergestellt werden, daß das, was durch das Ich ist, auch hinlänglich unbedingt für das Ich ist. Diesem Prozeß hält nichts stand: alles wird in ihm schließlich zum Angeklagten und moralisch Verurteilten, nur das Ich selber ist dabei immer schon eins weiter, nämlich Ankläger und moralischer Richter, und dadurch ist das Ich (und sind seine Parteigänger) stets absolut vorn; das Ich macht also

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seinen Weg, indem es beständig aus dem Status des Diskriminierten in den Status des Diskriminierers überläuft; dieses Überlaufen — eine Flucht nach vorn, die später Dialektik heißt — ist die Geschichte: die „pragmatische Geschichte des menschlichen Geistes", wie FICHTE sie nennt (I 222), die Emanzipationsgeschichte der Autonomie des menschlichen Ich. Der junge SCHELLING — der, wie er sagte, „damals nur Fichtes System erklären" wollte (X 96) durch „Erläuterung des Idealismus der Wissenschaftslehre" (I 343 ff) — hat dies alles mitgemacht und befördert: die transzendentale Karriere der Emanzipationsgeschichte des Ich, der „Geschichte des Selbstbewußtseins", wie er sie nennt (I 382, III 398 f). Jedoch — und hier weist man gewiß mit Recht auf die Wirkung des Schicksals der französischen Revolution hin, als deren Parallelaktion auch SCHELLING (etwa in seiner Rede zum Tode KANTS: IV 4 f) die deutsche Autonomiephilosophie verstand — SCHELLING hat in den scheinbar unaufhaltsamen Aufstieg dieser Philosophie der Emanzipationsgeschichte alsbald eingebracht die Formulierung einer Enttäuschungserfahrung: dieser Geschichte fehlt die Allmacht, sie stößt an Grenzen; das sich setzende Ich muß sich entsetzen; es wird „depotenziert" (IV 85): das ist der 1801 zum bloßen Methodenbegriff verharmloste Ausdruck SCHELLINGS für diese Erfahrung; die Emanzipation — darauf läuft diese Erfahrung hinaus — die Emanzipation ist endlich. SCHELLING hat — innerhalb des Transzendentalsystems von 1800 im fünften Hauptabschnitt, außerhalb desselben in den naturphilosophischen Schriften seit 1797 — diese Grenze, dieses Ende der emanzipatorischen Egofaktur benannt: er nannte es die „Natur". Dies — nota bene — unterscheidet SCHELLING von Hegel, bei dem nicht mehr die Nichtgeschichte Natur, sondern die Geschichte selber als Grenze dieser Emanzipationsgeschichte erkannt wird: die Herkunftsgeschichte als Grenze der Zukunftsgeschichte. Für SCHELLING aber kommt es aus dieser Ohnmachtserfahrung der „Geschichte des Selbstbewußtseins" angesichts ihrer von SCHELLING benannten Grenze — der Natur — zur Frage: wie kaim die Emanzipationsgeschichte mit ihrer Endlichkeit leben? 4. Das Identitätssystem ist die Antwort auf diese Frage: und es antwortet — grundsätzlich — folgendermaßen: die Emanzipationsgeschichte muß ihre Endlichkeit vergessen. Vergessen werden muß, daß die Geschichte anders ist als die Natur; vergessen werden muß, daß die Natur die Geschichte limitiert. Als das System dieses in der Maske der Anamnesis auftretenden Vergessens ist das Identitästsystem der schnelle Marsch in die Illusionen. Darum hat SCHELLING folgerichtig — wie es im sechsten Hauptabschnitt

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seines Transzendentalsystems schon vorbereitet war und etwa in den Ferneren Darstellungen aus dem System der Philosophie von 1802 ausgeführt ist — mit diesem Vergessen jenes Organ betraut, das für Illusionen zuständig ist: die Kunst; genauer: die „intellektuelle Anschauung", die zur „ästhetischen" und dadurch zur „absoluten" wird (vgl. IV 339 ff); deim jetzt — identitätssystematisch im Zeichen des Vergessens und der Illusion — kommt es darauf an, die Gesamtwirklichkeit ästhetisch anzuschauen: nicht mehr nur in Kunstwerken, sondern als Kunstwerk (vgl. V 368). Zweifellos waren — gemessen an SCHELUNG — diejenigen bloße Stückwerkästheten, die bei einer Triennale in Mailand dort eingesetzte Polizisten zu Kunstwerken erklärten; denn SCHEEUNG erklärte die ganze Wirklichkeit zum Kunstwerk: das Identitätssystem ist eine Ästhetik der Gesamtwirklichkeit; und diese soll darum dann auch ästhetisch parieren und sich wie ein Kunstwerk benehmen: „das Verhältnis" — schreibt ScHELLiNG — „der einzelnen Teile in dem geschlossenen und organischen Ganzen . . . ist wie das der verschiedenen Gestalten in einem vollkommen konstruierten poetischen Werk" (V 107). Das bedeutet unter anderem, daß Natur und Geschichte nicht mehr als prozeßformbezogen additive Parallelaktionen gedacht werden, sondern als integrierte Gesamtwirklichkeit: zwischen ihren „Potenzen" und Unterpotenzen — die durch ihre „Stelle" im System definiert werden (vgl. V 373): das Identitätssystem ist Stellenwertphilosophie — werden die Barrieren scheinbar absoluter Unterschiede abgebaut, und jeder Abbau erzeugt neue spekulative Pfründen für Identitätsagenten. Was das menschliche Ich betrifft, so erspart ihm das Identitätssystem kunstvoll, das Absolute zu sein, ohne zunächst — vor der Lehre vom Abfall — mit seinem Unterschied zum Absoluten ernstzumachen: dadurch wurde es, was in diesem System — absolut betrachtet — ohnehin alles ist: die Indifferenz. Auch sonst wurde — durch ästhetische Gleichschaltung — alles identisch: Allgemeines und Besonderes, Gleichheit und Unterschied, Harmonie und Konflikt, Egalität und Profil, Konformismus und Kritik, und so fort. Ich habe hier — KASPER und HOLZ hin, BEIERWALTES her — nicht zu prüfen, wiesehr — oder gar ab wann — PLATON und die Seinen dabei zu tauglichen oder gar willigen Helfershelfern wurden. Denn mir kommt es hier wesentlich darauf an, zu betonen, daß das Identitätssystem in die Geschichte der Idee des Gesamtkunstwerks gehört: eben weil es die Wirklichkeit stricte dictu zum Gesamtkunstwerk erklärt. Die identitätssystematische Ausführung dieser Idee mißlang bei SCHELLiNG. Darum zog sie sich alsbald auf eine separierter ästhetische Wirklichkeit zurück: SCHELLING selber hat diese Möglichkeit auf den Schlußseiten der Schlußphilosophie seines Identitätssystems — der Kunstphilosophie,

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die einschlägig die Oper ins Spiel bringt (V 735 f) — bereits erwogen. RICHARD WAGNERS Gesamtkunstwerk war dann — gemessen am Identitätssystem — eine Einschränkung und überdies einseitig: ein theatralisches Bündnis der Kunst mit dem Kult. Die supplementäre Ausprägung des Gesamtkunstwerks war — auf dem Weg über die surrealistische Utopie des Kollektivgenies — zuletzt in der nach-skeptischen Generation das nicht minder theatralische Bündnis der Kunst mit der politisierten Straße. Aus diesen transitorischen Beschränkungen entkommt das identitätssystematische Programm des Gesamtkunstwerks heutzutage in die großen integrierten Gesamtpläne, die — gescholten als Technokrate und gelobt als Reformperspektiven — in Wahrheit Ästhetiken der Wirklichkeit sind, die diese Wirklichkeit zum integrierten Gesamtkunstwerk machen wollen. Ihre Protagonisten wiederholen — indem zwischen ihnen und dem Absoluten sozusagen nur die Finanzminister und ihre knappen Budgets stehen, zwischen ihnen und der Endlichkeit zuweilen nur die Aussicht auf Karriere — die Verfassung der Indifferenz. Wo ihnen die Realität zur bloßen occasio für Programme wird, denkt man zuweilen nostalgisch an jene Zeiten, in denen es noch möglich war, derartige Kommunikationsgemeinschaften — auch die von Gesamtplanästhetikern — zu Akademien zu adeln, um ihre Wirksamkeit durch Ehre zu vereiteln. Jedenfalls wird — angesichts der Geschichte des Gesamtkunstwerks vom Identitätssystem bis zu den Gesamtplänen und ihren absoluten Dramaturgen — klar, daß FICHTES Intentionen womöglich dort am meisten triumphierten, wo FICHTE durch SCHELLiNG scheinbar ästhetisch überwunden wurde, und es wird — angesichts dieser Geschichte — klar, daß das Ästhetische gar nicht — wie seine vehementesten Kritiker meinten — dadurch problematisch wird, daß es zu unwirklich ist; es wird vielmehr dort unerträglich, wo es zu wirklich wird: wo das identitätssystematische Programm Kunst und Wirklichkeit identisch setzt — konvertibel macht — und dadurch beiden seine Identitäten absolut aufzwingt: die Identität von Nichtkunst und Kunst, von Ernst und Unernst, von Verantwortungsbewußtsein und Leichtsinn, von Wirklichkeit und Schein. Wo identitätssystematisch die Kunst — die Illusion — eins wird mit der Wirklichkeit, bekommt die Wirklichkeit selber die Verfassung der Illusion; dann hat zwar die Kunst mit der Wirklichkeit alles, aber die Wirklichkeit selber hat dann nichts mehr mit der Wirklichkeit zu tun. Was ist ScHELtiNGS Identitätssystem, so daß Hegel es bedenklidi finden konnte und mußte? Meine Antwort ist also — illustriert durch einige chiffrierte Aktualisierungen — diese: das Identitätssystem ist die Ermächtigimg der Illusion. Weil es das ist, kam es zu Hegels Einspruch gegen das

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Identitätssystem. 5. Dieser Einspruch war zweifellos grimmig, jedenfalls erfolgreich und schließlich — scheint es — berechtigt. Hegels Einspruch war zweifellos grimmig: er reagierte empfindlich unter anderem auch deswegen, weil das Identitätssystem Programm blieb und nicht ausgeführt wurde. Da im Zeitalter des Prinzips Hoffnung nicht selten Absichten mit ihrer Verwirklichung verwechselt werden, kann man Verständnis haben für diese Empfindlichkeit. Hegels Einspruch war jedenfalls erfolgreich. Er kam zwar so, wie nach Hegel die Philosophie eben kommt: zu spät; denn SCHELLING war selber schon weitergegangen. Dennoch hat Hegels Einspruch zumindest bewirkt, daß bis auf unsere Tage die Losung der Identität und die Losung des Systems zunächst nicht mehr zusammen, sondern auf getrenntesten Wegen ihre Karriere machten: jene — nicht durchweg nur angelsächsisch — schließlich in der Sozialpsychologie; diese — nicht durchweg nur französisch — schließlich strukturalistisch in der Linguistik und Anthropologie und im übrigen — natürlich — in der Systemtheorie. Erst dort, wo — gegenwärtig — die emphatisch so genannte — hier in Stuttgart so getaufte — „neue Identität" mit dem sich liiert, was sich selber ganz gut auch das ,neue System' nennen könnte, kommt es — wie angedeutet — zu Ansätzen neuer Identitätssysteme: just da wird Hegels alter Einspruch erneut aktuell. Hegels Einspruch war schließlich — scheint es — berechtigt: dies auch deswegen, weil ja die Befürchtung naheliegt, daß, was mit einer Illusionsermächtigung begann, mit Illusionsschädenkompensationen weitergeht, die selber problematisch sind. Man kann in der Tat — ohne sie damit zureichend zu charakterisieren — bereits SCHELLINGS Philosophie selber vom Identitätssystem an verstehen als den Versuch, solche Kompensationen präventiv gemildert zur philosophischen Position zu machen, um nicht ihre schlimmen Formen philosophisch vertreten zu müssen: man kann sie — entsprechend — lesen als eine zögernde Philosophie der geringeren Übel. Hier abschließend der Hinweis auf zwei einschlägige Phänomene. Das eine Phänomen ist die Überkompensation des identitätssystematischen Differenzdefizits. Das Identitätssystem — so sieht das auch Hegel — vertreibt den Unterschied. Der vertriebene Unterschied aber rächt sich für seine Vertreibung durch schlechte, falsche, entstellte Wiederkehr: im Extremfall dadurch, daß der Unterschied polemisch gesucht wird in absoluten Gegnerschaften: zur Position machen dies jene Philosophien, die Verfeindungszwänge lancieren. Angesichts des Sogs dieser Gefahr sucht SCHELLING präventiv eine mildere Form der Rettung des Unterschieds da-

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durch, daß er aufs Esoterische setzt: denn das Esoterische ist emphatisch Unterschied, der Unterschied zum Allgemeinen. Diesen Unterschied pflegt — was Hegel moniert — bei SCHELLING vor allem die Philosophie: „die Philosophie" — schreibt er im Bruno — „ist notwendig ihrer Natur nach esotorisch, imd braucht nicht geheim gehalten zu werden, sondern ist es vielmehr durch sich selber" (IV 232). Auch wenn da die Sehnsucht, beim allgemein schlimmen Schicksal die Ausnahme sein zu können, im Spiel ist und die Maxime „rette sich, wer kann", muß man doch sehen: diese kompensatorische Rettung des Unterschieds durchs Esoterische ist — gemessen an den Philosophien absoluter Verfeindungszwänge mit ihren offenen oder verdeckten Elitarismen — der Versuch einer Position des geringeren Übels. Das andere Phänomen ist die Überkompensation des identitätssystematischen Geschichtsdefizits. Das Identitätssystem — so sieht das auch Hegel — vertreibt in Wirklichkeit die Geschichte. Die vertriebene Geschichte aber rächt sich für ihre Vertreibung durch schlechte, falsche, entstellte Wiederkehr: in Gestalt des Mythos. Es hatte der junge SCHELLING — falls er es denn war — gefordert: „wir müssen eine neue Mythologie haben". Für die identitätssystematische Kunstphilosophie sind vorübergehend „berufene Dichter" (V 444) und „jedes wahrhaft schöpferische Individuum" (V 446) deren interimistische Agenten: jeder soll „von dieser noch im Werden begriffenen (mythologischen) Welt ... sich seine Mythologie schaffen" (V 445). Aber erst dann — durch das Identitätssystem nach dem Identitätssystem — wird diese Forderung der neuen Mythologie brisant: mit ihr verbindet sich alsbald die Erfahrung, daß wir die neue Mythologie nicht erst haben müssen, weil wir sie längst schon haben. Die neue Mythologie wurde erfolgreich als Mythologie des Neuen: im Mythos der Revolution, des Fortschritts, des Übermenschen, des letzten Gefechts, und so fort. Allemal handelt es sich dabei um Totalorientierung durch die Geschichte der Ermächtigung einer Alleinmacht; das ist diejenige Gestalt der Mythologie, die nach dem Christentum möglich und gefährlich wird: der absolute Alleinmythos im Singular, der die Geschichten verbietet, weil er nur noch eine einzige Geschichte erlaubt: die alleinseligmachende; wir sollen keine anderen Geschichten haben nelben ihr. Wo diese neue Mythologie die gegenwärtige Wirklichkeit ergreift, wird gerade das liquidiert, was an der Mythologie doch Freiheit war: die Pluralität der Geschichten, die Gewaltenteilung im Absoluten, das große humane Prinzip des Polytheismus. Das Christentum verdrängte ihn aus dem Sonntag der modernen Welt, die neue Mythologie will ihn auch aus ihrem Alltag verdrängen. Darum gehört — wo sie aus Forderung Wirklichkeit und wo nachidenti-

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tätsphilosophisch der Mythos, der des Neuen, aktuell wird — zur neuen Mythologie das Unbehagen an der neuen Mythologie. Die Spätwerke ScHELLiNGS Waren — scheint mir — bereits Reaktion auf dieses Unbehagen: sie nehmen — wörtlich gemeint — Abstand von der neuen Mythologie. Darum kümmert sich SCHELLINGS Philosophie der Mythologie gerade nicht um die neue, sondern um die ganz alte Mythologie; und darum macht SCHELLINGS Philosophie der Offenbarung den Versuch, die neue Mythologie in ihrem ältesten Zustande anzuhalten und zur Position zu machen; denn die Offenbarung: das ist die älteste neue Mythologie. Auch hier muß man sehen: diese kompensatorische Rettung der Geschichte schließlich in die Offenbarung ist — gemessen an den neuen „neuen Mythologien" — der Versuch einer Position des geringeren Übels. Freilich: auch geringere Übel sind Übel; und bei SCHELLING wurden sie — indem das Identitätssystem durch seine Verdrängungen die entstellte Wiederkehr des Verdrängten erzwang — akut durch die Ermächtigung der Illusion. Gegen diese Illusionsermächtigung — und damit implizit gegen ihre Folgen — wandte sich Hegel mit seinem Einspruch gegen das Identitätssystem. Dieser Einspruch hat — scheint es — recht. 6. Also hat Hegel recht? Doch man muß unterscheiden. Denn Hegels System: vielleicht blieb es selber zu nah dran an dem, wogegen es stritt: am Identitätssystem. Es gibt den Hegel des Systems und den Hegel der Einsprüche; dieser — der Einspruchhegel — ist fast uneingeschränkt aktualisierbar; an jenem — dem Systemhegel — ist aktualisierbar jedenfalls, daß er das letzte System hat ausarbeiten wollen: just dies — scheint mir — befreit uns — die Nachhegelianer — von der Pflicht zum System. Darum plädiere ich — für den hochwahrscheinlichen Fall, daß dieser Kongreß mit der Frage, ob systematische Philosophie möglich sei, nicht zuendekommt - weder für Hegel noch für SCHELLING noch für das System, sondern für eine provisorische Philosophie, eine philosophie par Provision und in diesem Sinn für Hermeneutik: denn Hermeneutik — die Lust am Kontext: plaisir ou jouissance du contexte — lebt nicht mehr naturwüchsig naiv durch Tradition im Vorurteil und noch nicht artifiziell naiv durch System im vorschnellen Urteil, sondern auf der Strecke dazwischen: zwischen praeiudicium und iudicium praecox. Die Philosophie — scheint mir — muß auf dieser Strecke bleiben, sonst bleibt sie auf der Strecke.

REMO BODEI (PISA)

SYSTEM UND GESCHICHTE IN HEGELS DENKEN Um es kurz zu machen, will ich das Thema drastisch auf die Form von Thesen reduzieren, die wir zum Teil im Verlauf einer eventuellen Diskussion erhellen können. In der Definition der Philosophie als der eigenen „Zeit in Gedanken erfaßt" weist Hegel implizit auf einige Schlüsselprobleme seines Werkes hin, die die Bedeutung desselben bestimmen: Was heißt in der Tat, die eigene Zeit denken? Welchen Sinn hat der Isomorphismus zwischen der systematischen Struktur und dem Feld der geschichtlichen Veränderungen? Welche Beziehung besteht zwischen der Philosophie, die die Modifikationen des Zeitalters bewußt interpretiert, und der Geschichte, die das Zeitalter in blindem Eifer unbewußt verändert? Zwischen der „Eule" der Philosophie, die offenbar sieht und nicht tut, und dem „Maulwurf" des Geistes in der geschichtlichen Welt, der offenbar tut und nicht sieht? Warum scheint sich das System, auch wenn es eine abhängige Variable der Zeit ist, autark zu bewegen? Zuerst muß von neuem die berüchtigte Frage des angeblichen „Endes der Geschichte" ausgeschaltet werden. Es ist eine optische Illusion: in Wirklichkeit ist es nicht die Geschichte, die sich schließt, sondern die Philosophie, der es nicht mehr gelingt, das neu entstehende geschichtliche Zeitalter in sich aufzunehmen. Das Überschreiten einer bestimmten Schwelle in den Veränderungen eines Zeitalters führt zu der Auflösung des Systems, das, in seiner Verknüpfung mit der Zeit, bereits ein inneres Prinzip der Selbstzerstörung enthält, sozusagen eine Zeitbombe. Von diesem Standpunkt aus ist das sogenannte „Ende der Geschichte" nichts anderes als die von Hegel selbst durchgeführte Begrenzung der historischen und theoretischen Gültigkeitszone der eigenen Philosophie. In Hegels Anliegen gibt es also keinerlei Willen, die Zukunft zu negieren — wie auch BLOCH meint —, sondern nur den Willen zu bejahen, daß jedes neu entstehende Zeitalter mit einem qualitativen Sprung entsteht, dessen Ergebnisse nicht voraussehbar sind tmd das eine neue Philosophie erforderlich macht. Die wichtigste Konsequenz daraus ist, daß die Philosophien durch

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einen dem System fremden Anstoß sich verändern^ durch die Umwandlung (nach dem Muster der Infinitesimalanalyse) von verschwindenden Quantitäten in neue Verhältnisse, die eine neue Philosophie erforderlich machen. Die vom Zeitgeist unterirdisch erzeugten Veränderungen übersetzen sich in der Philosophie, die den formalen Höhepunkt der eigenen Zeit erreicht hat, in das „diamantene Netz" {Enzykl., Zusatz zum § 246) des Systems. Wir dürfen diese funktionale und unausweichliche Dialektik zwischen den blinden Mechanismen und der Therapie des Sehens, zwischen Geschichte und Philosophie, zwischen dem „Instinkt der Vernunft" und der selbstbewußten Vernunft nicht übersehen. Indem Hegel das Vorhandensein dieses doppelten Regimes von Instinkt und Vernunft, von unbewußter geschichtlicher Bewegung und bewußter Philosophie anerkennt, gibt er indirekt auch zu, daß es noch eine große Ausweitung der Wirklichkeit gibt, die sich der Kontrolle des Bewußtseins und der menschlichen Praxis entzieht, daß alle bisher von den Menschen erprobten Formen gesellschaftlicher Organisation jene blinden Kräfte noch nicht einzäumen konnten. Die Menschen sind folglich, trotz allem idealistischen Triumphalismus Hegels, noch nicht imstande, die Wirklichkeit vollkommen zu beherrschen und zu planen, die Wirklichkeit, die so zum Teil weiterhin hinter ihrem Rücken sich bewegt; die unüberwindlichen Konflikte der bürgerlichen Gesellschaft, der Rückfall der Staaten in den Naturzustand durch die Kriege, die Härte der Geschichte, alles das zeigt klar und deutlich, daß auch die zweite Natur des Menschen, die sozial-historische, zum Teil noch ebenso blind ist wie die erste. Das heißt jedoch keineswegs, daß Hegel ein Apologet dieser instinkthaften Kräfte wäre; im Gegenteil, die Philosophie strebt gerade danach, deren Macht durch das Wissen zu begrenzen. Doch zugleich nimmt die Philosophie für sich nicht in Anspruch, die ganze Blindheit der Wirklichkeit in einem Atemzug zu vertilgen. Deshalb bleibt das unbewußte Wühlen des Maulwurfs wesentlich; deshalb muß die Philosophie ihm Gehör schenken. Auf diese Weise ist das System der weiteste Horizont der Verständlichkeit der eigenen Zeit, der einfache Brennpunkt, in dem das Zeitalter in Bewegung begrifflich zusammenläuft. Es ist also nicht der mythische Blick der Medusa, der die eigene Zeit zu einer bloßen Allegorie der Veränderung versteinert; und die Dialektik ist kein scheinbares perpetuum mobile, das ein perpetuum immobile verbirgt. In ihrer Umschrift auf die Ebene des Denkens wird die Zeit mit Hilfe vielschichtigerer Formen strukturiert als jener der einfachen linearen Reihe; sie wird nichts weniger als aus der Totalität der Kategorien des jeweils herrschenden Systems strukturiert. Die chronologische Zeit ist, so wie sie äußerlich und eindimensional

System und Geschichte in Hegels Denken

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abläuft, für Hegel die simpelste Art und Weise der Vereinigung und des Verständnisses des geschichtlichen Vielfachen. Dagegen ist die Philosophie als begriffliches Verständnis der eigenen Zeit deren Umsetzung in sich entwickelnde Denkformen; sie ist, im Sinne CUVIERS, die Wiederherstellung des Verständnis-Skeletts der eigenen Zeit aus Fragmenten; sie ist, sozusagen, vertebrierte Geschichte, kein indifferenziertes Fließen. Die strukturierte Zeit innerhalb des Systems ist nicht nur pünktliche Gegenwart, sondern die Gegenwart als fortschreitende Front der gesamten Vergangenheit; sie ist Vergangenheit, insofern sie dem magnetischen Feld des Verständnisses der Gegenwart unterworfen ist. Die logischen Kategorien und das System sind das Resultat des geschichtlichen Prozesses, sind die dialektische Reihe der höchsten begrifflichen Äußerungen eines jeden Zeitalters, eingekapselt in die fließende Struktur des letzten Systems, das alle anderen aufhebt und relativiert. Eine jede logische Kategorie ist historisch gesehen in der Tat die eigene „Zeit in Gedanken erfaßt" gewesen (zum Beispiel das „Sein" mit PARMENiDES und so weiter), so daß die Hegelsche Logik das abgekürzte begriffliche Bild der eigenen Zeit in Gedanken erfaßt sein will, insofern sie sich aus der formalen Unterwerfung der begrifflichen Vergangenheit unter das herrschende Gefüge des jeweiligen Systems bildet. Auf diese Weise ist sie das theoretische Stenogramm der gesamten menschlichen Geschichte, die so zum Selbstverständnis der eigenen Zeit beigetragen hat. Die Aufeinanderfolge der Kategorien, die sich als autokinesis oder als autarke Bewegung darstellt, ist unter diesem Gesichtspunkt nur die kategoriale Erfahrung, die eine bestimmte Zeit durch die — bereits in der geschichtlichen Wirklichkeit statt gefundene — Bewegung des Denkens selbst von sich macht. Der Effekt einer autarken Entwicklung des Systems ergibt sich daraus, daß man das System, so wie es beispielsweise in der Enzyklopädie dargestellt wird, als eine vom phänomenologischen Weg losgelöste Konstruktion betrachtet und dabei vergißt, daß sich die Philosophie auf der systematischen Ebene, im aufgebauten Wissen, in ihrem eigenen Äther zu bewegen scheint, ohne auf irgendeinen Widerstand zu stoßen, und zwar deshalb, weil ihr Weg geschichtlich bereits geebnet ist, weil sich die Kategorien bereits vorher in Bewegung gesetzt haben, und nicht, weil sie sich durch Partenogenese eine aus der anderen entwickeln. Einzig in der didaktischen Darstellung, im System, als weitere begriffliche Einweihung in die eigene Zeit, legen die Kategorien mit einer scheinbar selbständigen Bewegung den geschichtlichen Weg zurück.

KLAUS DÜSING (BOCHUM)

SPEKULATIVE LOGIK UND POSITIVE PHILOSOPHIE Thesen zur Auseinandersetzung des späten Schelling mit Hegel

Zu den zahlreichen, noch offenen Fragen, die die Beziehungen und Unterschiede zwischen der Philosophie SCHELLINGS und der Philosophie Hegels betreffen, gehört auch das Problem des Verhältnisses der Spätphilosophie SCHELLINGS ZU Hegels System, insbesondere zu dessen spekulativer Logik. Ohne daß dem alten Streit zwischen SCHELLING und Hegel, ScHELLiNGianern und Hegelianern zu einer unzeitgemäßen Neuauflage verhelfen werden soll, seien hier die Vorwürfe des späten SCHELLING gegen Hegels Logik unter systematischem Aspekt betrachtet und ein kritischer Vergleich der jeweiligen Argumente angestellt, mit denen SCHELLING sowohl wie Hegel eine metaphysische Grundlegung der Philosophie anstreben. Dabei geht es nur um die endgültigen Konzeptionen SCHELLINGS und Hegels; die allmähliche Herausbildung dieser späten Ansätze und die damit verbundenen jeweiligen Änderungen früherer eigener Systementwürfe werden vorausgesetzt. ^ — Beide, Hegel wie SCHELLING, suchen in ihren späten Theorien ‘ Die folgenden Darlegungen können auf die perspektivenreidien und für mich sehr fruchtbaren Diskussionsbeiträge zu meinem Kurzreferat zwar nicht im einzelnen eingehen; ich habe sie jedoch durdi Hinweise oder Zusätze bzw. durch vorsichtigere Formulierung meiner Thesen wenigstens teilweise zu berücksichtigen versucht. — Die Beurteilung der Hegel-Kritik des späten Schelling hängt in der neueren Schelling-Literatur wesentlich von der Beurteilung des Ansatzes der Spätphilosophie, insbesondere der positiven Philosophie selbst ab. So grenzt H. Fuhrmans {Schellings letzte Philosophie. Berlin 1940) Schellings Spätphilosophie von Hegels System dadurch ab, daß er sie wegen ihrer Betonung der geschichtlich-theologischen Erfahrung bei gleichzeitiger Begrenzung der Vernunfterkenntnis in die Nähe der spätidealistischen Theorien setzt; vgl. auch — freilich ohne Bezug auf den Spätidealismus — ders.; Der Ausgangspunkt der Schellingschen Spätphilosophie. In: Kant-Studien. 48 (1956/57), 302—323. W. Schulz (Die Vollendung des Deutschen Idealismus in der Spätphilosophie Sdiellings. 2., erw. Aufl. Pfullingen 1975) erkennt darin eine Vernachlässigung der negativen Philosophie. Für Schellings Theorie der Selbstbegrenzung der auf sich reflektierenden Vernunft sowie der Voraussetzung des reinen Daßseins ist nach Schulz die Auseinandersetzung des späten Schelling mit Hegel von entscheidender Bedeutung (vgl. 102—112). Schellings Position ist für Schulz als Darstellung der Selbstreflexion

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die idealistische Grundlegungsproblematik zu lösen. Diese besteht wohl nicht allein in der Frage nach der Struktur der Selbstreflexion und ggf. ihrer Grenzen oder ihrer Absolutheit, sondern m. E. inhaltlich in der Bestimmung des Verhältnisses von selbstbezüglicher Subjektivität und Absolutem sowie systematisch in der Zuordnung solcher inhaltlichen Bestimmungen zu Logik und Metaphysik. Hegel vereinigt Subjektivität und Absolutes in Einem Prinzip, das in der Logik als Metaphysik expliziert wird. Für den späten SCHELLING dagegen ist in der reinen Vernunftwissenschaft, in der die Vernunft sich selbst erkennt, noch nicht die wahre Erkenntnis des Absoluten, nämlich seiner Existenz, erreicht; diese liefert vielmehr erst die positive Philosophie. Zwischen Hegel und SCHELLING ist also in der Beantwortung der idealistischen Grundlegungsfrage zweierlei strittig, das inhaltliche Verhältnis zwischen vernünftiger Subjektivität und Absound der Selbstkritik der Vernunft idealistisch und — weil über Hegel hinausgehend — sogar die Vollendung des Idealismus (vgl. 187—270). Gegen diese die weitere Erforschung des späten Schelling vielfach motivierende Konzeption wandte z. B. W. Kasper (Das Absolute in der Geschichte. Mainz 1965) ein, daß damit die negative Philosophie überbelichtet werde (vgl. 14 ff, zu Schellings Hegel-Kritik 97—105). Schellings eigentliche Leistung in der Spätzeit sei eine neue theologische Theorie der Geschichte. Dabei werde die negative Philosophie nicht auf gegeben; das Verhältnis von negativer und positiver Philosophie sei „dialektisch" (149, 16). Dies ist freilich eher die Bezeichnung eines Problems als dessen Lösung. Harald Holz (Spekulation und Faktizität. Bonn 1970) stimmt Kaspers Vermittlungsversuch grundsätzlich zu (vgl. etwa 319 Anm., 323 Anm., 336 Anm. u. a.), hebt selbst jedoch deutlicher die prinzipientheoretische Problematik in Schellings Doppelbestimmung der Philosophie als negativer und positiver hervor. — Die Forderung, die entwicklungsgeschichtlichen Unterschiede in der Ausbildung der Spätphilosophie Schellings zu beachten, wird erst von X. Tilliette (Schelling. Une philosophie en devenir. 2 Bde. Paris 1970) eingelöst. Schon in seinen Aufsätzen über Schellings Auseinandersetzung mit Hegel (Schelling contre Hegel. In: Archives de Philosophie. 29 (1966), 89—108; Schelling Critique de Hegel. In: Hegel-Tage Urbino 1965. Hrsg. v. H.-G. Gadamer. Bonn 1969. 193—203) deutet Tilliette gewisse Unsicherheiten Schellings in seiner Kritik und Wandlungen in seiner systematischen Perspektive an. In seiner Schelling-Monographie zeigt er dann Unterschiede etwa in den Konzeptionen von Rationalismus — Empirismus und negativer — positiver Philosophie auf und stellt verschiedene, von Schelling erwogene Möglichkeiten des Verhältnisses von negativer und positiver Philosophie dar, wobei jedoch die prävalierende Bedeutung der positiven Philosophie aufgewiesen wird (vgl. Schelling. Bd 2. 27—66, 297 ff, 356 ff). — Zur Interpretation des Ansatzes von Schellings Spätphilosophie sei außerdem verwiesen auf M. Theunissen: Die Dialektik der Offenbarung. In: Philosophisches Jahrbuch. 72 (1964/65), 134—160, worauf Tilliette näher eingeht, Chr. Wild: Reflexion und Erfahrung. Freiburg/München 1968. Bes. 75 ff, 88 ff, 116 ff, G. Semerari: La critica di Schelling a Hegel. In: Incidenza di Hegel. A cura di F. Tessitore. Napoli 1970. 453—496 und Tilliettes Forschungsbericht: Bulletin de l'idealisme allemand. III. Schelling — Jacobi — Schleiermacher. In: Archives de Philosophie. 34 (1971), 287 ff, bes. 298—317. Vgl. auch J. A. Bracken: Freiheit und Kausalität bei Schelling. Freiburg/München 1972. Bes. 102—111 und M. Frank: Der unendliche Mangel an Sein. Frankfurt a. M. 1975. Bes. 120—168.

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lutem und der systematische Ort, an dem das Prinzip, das existierende Absolute, zu entwickeln ist. I. Die Kritik des späten Schelling an Hegels spekulativer Logik 1. Das Kardinalproblem der spekulativen Logik Hegels ist nach SCHELLINGS Auffassung ihr ontologischer Anspruch. Zu Recht wird für SCHELLING in der Logik Hegels die Reihe der Potenzen, der Möglichkeiten oder des Wasseins in logischer Folge dargestellt; sie bildet einen legitimen Teil der negativen Philosophie, zu der jedoch auch die Natur- und Geistesphilosophie gehören, wie SCHELLING sie früher im IdentitätsSystem konzipierte. Die Identitätsphilosophie ist für ihn in der Spätzeit der Inhalt der reinen Vernunftwissenschaft oder rein rationalen Philosophie, die er — nicht ohne Berücksichtigung der Hegelschen Logik — als negative Philosophie ansieht. ^ Aber die spekulative Logik überschreitet nach SCHELLING die Grenzen der Erkenntnisfähigkeit der reinen Vernunft, wenn sie zugleich die Erkenntnis des Daßseins, der Existenz und Wirklichkeit des Seienden beansprucht; dies leistet vielmehr nur die positive Philosophie. SCHELLING setzt also für seine Hegel-Kritik den Unterschied von negativer und positiver Philosophie als Argument voraus. Im einzelnen sucht SCHELLING seine Kritik an Hegels Logik anhand von zwei in der Tat neuralgischen Punkten zu exemplifizieren, nämlich anhand des Anfangs und des Endes dieser Logik. Nach SCHELLING läßt der Anfang mit dem Sein als dem reinsten Abstrakten keinen Fortgang zu. Eine Entwicklung weiterer Kategorien ist nur dadurch möglich, daß es „ein reicheres und inhaltsvolleres Seyn gibt" etwa den denkenden Geist selbst. SCHELLING betont hiermit nicht nur, daß die Kategorie des Seins abstrakt, bloß logisch ist, sondern auch, daß die logische Fortentwicklung uneingestandenermaßen auf Existierendem von reicherer Struktur beruht. Daher kann die Logik an ihrem Anfang, so wie Hegel ihn darstellte, nach SCHELLING sicherlich keine positive Philosophie, keine Erkenntnis des wirklich Existierenden sein. — Auch nach Hegels Auffassung ist übrigens vom abstrakten, leeren Sein aus kein Fortgang möglich, wenn es rein für sich ^ Vgl. F.W.J- Schelling: Werke. Hrsg. v. K. F. A. Schelling. Stuttgart, Augsburg 1856—1861 (im folgenden nur mit römisdier Bandzahl zitiert). X 148 £ Anm., 126 ff. Vgl. H.E. G. Paulus: Die endlich offenbar gewordene positive Philosophie der Offenbarung, Darmstadt 1843. 377; dazu W. Schulz: Die Vollendung des Deutschen Idealismus. 103 f; X. Tilliette: Schelling. Bd 2. 42. 3 X 131.

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festgehalten werden soll; aber ein solches Sein könnte, wie Hegel mit Rückgriff auf PLATO zeigt, nicht einmal gedacht werden. Wird dagegen das Sein gedacht, nämlich als Kategorie oder als der Begriff, wie er noch in seinem Ansichsein ist, so ist eine kategoriale Fortentwicklung nicht nur möglich, sondern notwendig. ^ — Ebenso ist nach SCHELLINGS Ansicht Hegels Behauptung von der Entäußerung der absoluten Idee in die Natur nicht einsichtig. Hegel bediene sich mit dem „Sich-Entschließen" oder „SichEntlassen" der Idee zweideutiger, metaphorischer Ausdrücke. Dahinter verbirgt sich für ScHELLiNG die Unmöglichkeit, aus der reinen Idee in die Wirklichkeit zu gelangen. ® So berechtigt es sicherlich ist, diesen Teil der Hegelschen Theorie zu kritisieren, so wenig ist auch hier SCHELLINGS Kritik immanent. SCHELLING untersucht nicht Hegels Argument für eine in der Idee selbst begründete Änderung ihrer Seinsweise beim Entschluß der Idee, zur Natur zu werden, sondern setzt voraus, daß auch die Logik der Idee nur das Wassein und niemals das Daßsein erfaßt. 2. SCHELLING verkennt vor allem die Konzeption einer idealistischen Subjektivitätstheorie und deren metaphysische Bedeutung in Hegels Logik. Zwar bemerkt er, daß in der spekulativen Logik das Denken des Denkens, also dasjenige Denken, das sich selbst zum Inhalt und Gegenstand hat, dargelegt wird. Aber er geht weder auf Hegels Lösung der spezifisch idealistischen Problematik ein, wie das Denken sich selbst vergegenständlichen könne, noch auf den von Hegel damit in der Logik verbundenen ontotheologischen Sinn. — SCHELLING gesteht zwar ARISTOTELES zu, mit dem Begriff der voT]ai; voTjaeroi; als reiner evspye^ct das höchste Ziel der rein rationalen, negativen Philosophie erreicht zu haben; für seine eigene Identitätsphilosophie, die nun zur negativen Philosophie umgedeutet ist, nimmt er dasselbe durch den Begriff Gottes als des Subjekt-Objekts in Anspruch. Aber Hegels Begriff des sich denkenden Denkens stellt SCHELLING als leer, als abstrakt-logisch mit Ausschließung der Beziehung auf * Vgl. Wissenschaft der Logik. Hrsg. v. G. Lassen. 2. Aufl. Leipzig 1934. T. 2. 487 ff, T. 1. 85, ferner die 1. Aufl. Nürnberg 1812. 33 ff. Vgl. zum Problem des Anfangs der Hegelsdien Logik vor allem D. Henrich: Anfang und Methode der Logik (zuerst 1961). In: Ders.: Hegel im Kontext. Frankfurt a. M. 1971. 73—94. Zur Erinnerung an Platos Parmenides in diesem Zusammenhang vgl. bes. H.-G. Gadamer: Die Idee der Hegelschen Logik. In: Ders.: Hegels Dialektik. Tübingen 1971. 58 f. ® Vgl. X 151 ff; 213; XIII 124. — Zu Hegels Theorie selbst vgl. K.-H. VolkmannSchluck: Die Entäußerung der Idee zur Natur. In: Heidelberger Hegel-Tage 1962. Hrsg. V. H.-G. Gadamer. Bonn 1964. 37—44. — Zu Hegels Ausdruck: „frei entlassen" und zur Diskussion des Endes der Logik bei Schelling und bei Hegelianern sowie Hegel-Gegnern im 19. Jahrhundert vgl. H. Braun: Zur Interpretation der Hegelschen Wendung: frei entlassen. In: Hegel et l'esprit objectif. L'unite de l'histoire. Lille 1970. 51—64.

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Existierendes hin. Er vergleicht diese Inhaltsarmut mit derjenigen der romantischen Poesie über die Poesie obwohl gerade Hegel den Begriff des reinen Denkens seiner selbst metaphysisch-inhaltlich bestimmte, so daß er ihn mit Hilfe einer Aufnahme und Interpretation von ARISTOTELES' vÖTiuig voT)0ECO5 explizieren konnte. Nach SCHELLINGS Auffassung erreicht also die spekulative Logik durch ihren bloß logischen Charakter nicht einmal das Ziel der negativen Philosophie. Diese Überlegungen SCHELLINGS zur unterschiedlichen Erfüllung der Aufgaben der negativen Philosophie durch ARISTOTELES' Metaphysik bzw. die Identitätsphilosophie einerseits und durch Hegels Logik andererseits führen zu einer weiteren grundsätzlichen These über die Hegel-Kritik des späten ScHELLiNG. ScHELLiNG erkennt nicht nur von seinem Ansatz der positiven Philosophie, sondern auch von seiner Konzeption der negativen Philosophie her die Grundlegungsfunktion der spekulativen Logik nicht an. Hegels Logik ist nach SCHELLING nicht nur unfähig, das allem Denken vorauszusetzende reine Daßsein zu erkennen; sie ist auch innerhalb der negativen Philosophie die bloß logische, abstraktive Formulierung der konkreteren vernünftigen Darstellungen der Identitätsphilosophie zur Stufenreihe von Subjekt-Objekt-Verhältnissen in Natur und Geist. Zwar neigt SCHELLING auch einmal dazu, die Vorstellung von der Logik als Grundlage der Philosophie wie eine Trivialität zuzugeben, und setzt den Erkenntnissen der Logik als dem nur Negativen lediglich das Positive der wahren Existenz entgegen. Aber der den späten SCHELLING leitende Gedanke bei der Gegenüberstellung von spekulativer Logik und Identitätsphilosophie ist im ganzen wie in den Einzelheiten ein anderer. SCHELLING ist der Ansicht, daß Hegel in seiner Logik „die von der früheren Philosophie [sc. der Identitätsphilosophie] im Realen verhüllten logischen Verhältnisse als solche hervorgehoben hat" und daß damit dessen Philosophie „ein gut Theil monströser geworden ist, als es die vorhergehende je war" ®. Hegel habe zwar den logischen Charakter der Identitätsphilosophie als rationaler Wissenschaft erkannt; aber er habe aus den inhaltsreicheren wesensbezogenen Untersuchungen seine Kategorienlehre nur abstrahiert. — Abgesehen von der sehr persönlichen Auffassung über die Entstehung der 3.

“ Vgl. X 141; XIII 101; ferner X 155, XI 559 Anm. u. a. 7 Vgl. X 143. ® X 128; vgl. auch zur abstrakt-logischen Position Hegels XIII 101 f, 173. Zu einzelnen Gegenüberstellungen, z. B. des „primum existens" und des abstrakten Seins vgl. X 129 ff, ferner H.E.C. Paulus: Die endlich offenbar gewordene positive Philosophie der Offenbarung. 374 ff, z. B. 376: „Die Begriffe [sc. in Hegels Logik] sind doch erst nach der Natur, nicht vor ihr; Abstracta können nicht eher seyn, als das ist, wovon sie abstrahirt sind."

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Hegelschen Logik, geht SCHELLING hierbei nicht auf das von Hegel zugrunde gelegte Argument ein, nach dem Logik und Ontologie den realphilosophischen und auch identitätsphilosophischen Erörterungen systematisch vorangehen müssen, nicht nur um wissenschaftliches Argumentieren formal zu ermöglichen, sondern vor allem, um wesentliche und grundlegende ontologische Begriffe der Realphilosophien erst zu konstituieren und in ihrer Bedeutung zu rechtfertigen. II. Zu Hegels Konzeption einer spekulativen Logik als Subjektivitätstheorie und Metaphysik Die kritischen Überlegungen zu SCHELLINGS Kritik an Hegels spekulativer Logik setzen u. a. eine bestimmte Auffassung von dieser Logik voraus, die wenigstens thesenartig skizziert werden soll. ® 1. Hegels spekulative Logik gehört in den Zusammenhang der verschiedenen idealistischen Entwürfe zur Aufstellung eines einheitlichen Prinzips der Philosophie. Er konzipierte nach mehreren andersartigen Versuchen, die er unternahm, die spekulative Logik als seine endgültige Lösung der idealistischen Prinzipienproblematik. Seine Logik ist Theorie nicht des endlichen, partikulären, zufälligen, sondern des reinen und allgemeinen Subjekts. In ihr wird durch die systematische Entwicklung von einfachen Kategorien und deren Relationen zueinander sowie von Kategorien, die in sich selbst Relationsbegriffe sind, schließlich ein solches Geflecht von Beziehungen hergestellt, daß daraus die Selbstbeziehung, und zwar die vermittelte, denkende Selbstbeziehung hervorgeht. Aus dem rein logischen Aufbau dieser denkenden Selbstbeziehung läßt sich entnehmen, daß für Hegel das reine Denken das ihm Andere, den „Gegenstand", das Gedachte setzt, sich im Gedachten selbst erkennt und nicht einfach das Identische beider ist, sondern sich als die hervorbringende Einheit jenes Gegensatzes und der vermittelten Beziehung beider weiß. Diese vollständige Bestimmung der Subjektivität ist nicht schon in einem Bestandteil, sei es einem Relatum oder einer davon unterschiedenen Relation, enthalten, sondern ergibt sich erst als Resultat der gesamten Explikation. Die Subjektivität ist schließlich „die sich selbst denkende Idee" Hegel denkt damit die Sub® Zur Ausführung und Begründung vgl. vom Verf.: Das Problem der Subjektivität in Hegels Logik. Systematische und entwicklungsgeschichtliche Untersuchungen zum Prinzip des Idealismus und zur Dialektik. Bonn 1976. (Hegel-Studien. Beiheft 15.) Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse {1830). Hrsg. V. F. Nicolin und O. Pöggeler. 7. Aufl. Hamburg 1969. § 236, vgl. § 213 Anm. u. a.

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jektivität und das Absolute, die in anderen idealistischen Theorien getrennt sind, in einem und demselben Prinzip zusammen. 2. Die Entwicklung dieses idealistischen Prinzips fällt für Hegel systematisch in die Logik, die selbst Metaphysik ist. Daher bedeutet die absolute, sich denkende Idee nichts anderes als die Methode, nämlich die Dialektik in spekulativem Sinn. Metaphysisch ist diese Logik insofern, als sie zugleich eine Ontotheologie der Subjektivität zu liefern sucht. — Bei der logischen Konstitution der Subjektivität dürfte, was hier nur genannt werden kann, einmal Hegels Theorie der rein logisch denkbaren konkreten Allgemeinheit problematisch sein, da in ihr die Lehre vom diskursiven Begriff widerlegt sein müßte, zum andern die von der Dialektik verlangte, von Hegel ausdrücklich formulierte Ungültigkeit des Satzes vom Widerspruch für spekulative Wahrheiten. 3. Innerhalb des Idealismus aber bildet die Aufstellung und Darlegung der Subjektivität als des Absoluten in der Logik, die zugleich Metaphysik ist, eine tragfähige systematische Grundlage. Andere Versuche, das idealistische Prinzip z. B. in einer Transzendentalphilosophie oder einer Metaphysik wissenschaftlich zu explizieren, die systematisch jeweils der Logik vorausgehen und sie fundieren, stehen vor dem Zirkelproblem, Bedeutung und Gültigkeit der Gesetze der Logik und ihrer kategorialen Inhalte schon voraussetzen zu müssen, die sie eigentlich begründen sollten. Zwar muß auch Hegel zur Ausführung der ersten Seinskategorien Sinnelemente und Termini aus der Logik des Wesens und sogar aus der Logik des Begriffs heranziehen. Aber hierbei handelt es sich um ein Problem der Darstellung, in der operativ Begriffe verwendet werden, die wegen des komplizierteren Relationsgefüges in ihrer Bedeutung erst später innerhalb einer und derselben Grundlegungswissenschaft, nämlich der mit dem Einfachen beginnenden Logik zu erörtern und zu rechtfertigen sind. Zudem bilden die Kategorien des Seins und des Wesens sowie deren Dialektik inhaltlich ohnehin nur einfachere Momente des eigentlichen, sie begründenden ** Zu Hegels logisdier Begründung der Theorie der konkreten Allgemeinheit vgl. Wissenschaft der Logik (Lasson). T. 2. 240 ff, 264 ff, 308 ff. — Zum Verstoß gegen den Satz vom Widerspruch vgl. z. B. T. 2. 496, 48 ff, ferner Hegel: Gesammelte Werke. Bd 4. Hrsg. V. H. Büchner und O. Pöggeler. Hamburg 1968. 208. Schon Rosenkranz versuchte nach der formallogischen Kritik Trendelenburgs, diese These Hegels abzumildern. Vgl. Wissenschaft der logischen Idee. Königsberg 1858—59. T. 1. XXII ff. Vgl. dazu D. Henrich: Anfang und Methode der Logik (oben Anm. 4). 85 ff. ** Vgl. hierzu die parallelen Überlegungen bei W. Wieland: Bemerkungen zum Anfang von Hegels Logik. In: Wirklichkeit und Reflexion. W. Schulz zum 60. Geburtstag. Pfullingen 1973. 395—414.

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Prinzips der Logik, der sich denkenden Idee. Wenn aber ein anderer eigenständiger Systemteil der Logik vorangehen und sie begründen soll, ergibt sich nicht nur eine Explikationsfrage, sondern ein systematisches Fundierungsproblem. 4. Hegels spekulative Logik enthält als Ontologie und Ontotheologie die Bestimmungen des Seienden selbst. Insbesondere aufgrund der Neufassung der Modalkategorien und des Verhältnisses von Wesen und Existenz bzw. Wirklichkeit ebenso wie aufgrund der schon erwähnten Theorie, daß die wahre logische Allgemeinheit nicht abstrakt, sondern konkret sei, kann Hegel beanspruchen, durch reine Kategorien das, was wirklich ist, zu erkennen. Zwar berücksichtigt er in den Realphilosophien, z. B. in der Naturphilosophie auch besondere Data der Erfahrung und naturwissenschaftliche Theorien seiner Zeit. Aber das einzige zureichende Erkenntnisvermögen ist nach Hegels Konzeption die Vernunft, die in logischen Kategorien denkt. Sie erkennt dasjenige, was ist, als wesentlich und konkret Allgemeines. Für die vom Begriff abweichende Mannigfaltigkeit der gegebenen Phänomene und Vorstellungsweisen stellt Hegel seine Lehre vom Zufall und Zufälligen auf. — Diese Auffassung vom Verhältnis der spekulativen Logik zu den Realphilosophien gibt in Hegels Konzeption den Grund ab für die Möglichkeit eines absoluten Idealismus, in dem die logisch denkende Vernunft und die in Natur und Geschichte waltende, erkannte Vernunft eine und dieselbe ist. UL Das Verhältnis der positiven Philosophie zur Logik in Schellings Spätphilosophie

Begründung der positiven Philosophie und ihre Unterscheidung von der negativen Philosophie als den Voraussetzungen für seine HegelKritik enthalten einerseits zwar berechtigte Motive, andererseits ist die von ScHELLiNG dabei verwandte theoretische Argumentation Hegels Logik gegenüber unzureichend und selbst nicht überzeugend. ScHELLiNGs

Das eigentliche, m. E. berechtigte Motiv, das SCHELLINGS Aufstellung der positiven im Gegensatz zur negativen Philosophie zugrunde liegt und das zugleich eine Wendung gegen Hegels Logik enthält, ist die von SCHEL1.

Vgl. z. B. Wissenschaft der Logik. T. 2. 170: „Das Wirkliche ist darum Manifestation; es wird durch seine Äußerlichkeit nicht in die Sphäre der Veränderung gezogen ... es ist in seiner Äußerlichkeit es selbst ...". Vgl. auch 171 ff. Vgl. Enzyklopädie, § 250 und Anm. Vgl. dazu D. Henrich: Hegels Theorie über den Zufall. In: Hegel im Kontext. 157—186; zum Zufälligen in der Natur 165—170.

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LiNG gelehrte Begrenztheit der reinen Vernunfterkenntnis. Zwar hält auch ScHELLiNG im Denken von Bestimmungen der Vernunft ein Sich-Denken

der Vernunft für möglich aber er begrenzt das gesamte Feld der reinen Vernunfterkenntnis und restringiert seine frühere Identitätsphilosophie durch ein ontologisches Argument. Die Vernunft, die sich in der negativen Philosophie nüt sich selbst befaßt, erkeimt, für sich genonunen, nur die Reihe der Potenzen, der Möglichkeiten oder des Wasseins, nicht aber das Existierende und Wirkliche selbst. Das reine Daßsein oder das Wirkliche liegt außerhalb ihres Umkreises. Dieses reine Daßsein und Wirkliche zu erkennen, ist nach SCHELLING dagegen Aufgabe der positiven Philosophie.

Die systematische Theorie aber, die hinter SCHELLINGS Ein wänden gegen Hegel steht, ist als Gegenposition zu Hegels Logik nicht ausreichend. SCHELLING verwendet zur Abhebung der negativen von der positiven Philosophie die traditionellen ontologischen Unterschiede von Möglichkeit und Wirklichkeit, von Wassein und Daßsein oder von Wesen und Existenz. Das bedeutet aber, daß die für SCHELLINGS Spätphilosophie grundlegende Unterscheidung von negativer und positiver Philosophie nur durch logisch-ontologische Kategorien, speziell durch Modalkategorien möglich ist. Sinn und Gültigkeit dieser Begriffe hätte in einer eigenen, jener Unterscheidung systematisch vorangehenden Logik der Modalkategorien entwickelt und gerechtfertigt werden müssen. Wie wenig selbstverständlich die von SCHELLING übernommene Bedeutung dieser Kategorien ist, läßt sich gerade aus Hegels spekulativer Logik ersehen, in der sie teilweise neu definiert, in jedem Fall aber in einen inneren notwendigen Zusammenhang gebracht werden, der eine naive Verwendung modallogischer Gegensatzpaare ausschließt. 2.

Vgl. z. B. XIII 62 f; XI 364 u. a., s. auch Anm. 6. IV. Schulz interpretiert die negative Philosophie daher als Theorie der sich erkennenden und sich begrenzenden Subjektivität. Vgl. Die Vollendung des Deutschen Idealismus. Bes. 144—167, 42 ff. — M. Frank sucht dagegen zu zeigen, daß Schelling Aporien der Selbstbezüglichkeit des Subjekts erkannt habe und daher zur positiven Philosophie gelangt sei (vgl. Der unendliche Mangel an Sein. 120—160, 75 ff). — Eine derartige Argumentation läßt sidi aber wohl weniger an Schelling als an Fichte aufzeigen, der in der Wissenschaftslehre von 1804 u. a. aufgrund von Aporien in der Selbsterfassung des Ich zur Voraussetzung des reinen Seins gelangte. i'' Schelling beruft sich hierfür an mehreren Stellen auf Aristoteles. Vgl. XI 313 f, 384 f, 406, auch 588 u. a. Die an einer Stelle geäußerte Überlegung Schellings, seine Seinsprinzipien seien keine Modalkategorien, weil sie nichts Allgemeines, sondern „ein höchst Besonderes" (XIII 244) betreffen, ist kein stichhaltiger Einwand gegen eine Modallogik, da eben dieses ja durch Modalkategorien gedacht und bestimmt werden muß; das Argument ist insbesondere gegen Hegel angesichts der spekulativen Theorie des konkreten Allgemeinen nicht zu verwenden.

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In spezifischer Weise ist SCHELLINGS Begründung der positiven Philosophie von diesem Fehlen einer zugrunde liegenden Kategorienlehre und Logik betroffen. SCHELLING erklärt mehrfach, die positive Philosophie dürfe nicht von der negativen abhängig sein oder diese voraussetzen, sondern müsse für sich anfangen können. Der Inhalt des Anfangs der positiven Philosophie ist nach Schelling das reine unvordenkliche Daßsein oder das ens necessarium, das nicht bloßer Gedanke ist. Im Verlaufe der weiteren Entwicklung müßte die positive Philosophie, wenn sie selbständig sein sollte, auch von sich aus — und nicht nur durch Übernahme aus der negativen Philosophie — die rationalen Prädikate bereitstellen, durch die jenes rein Wirkliche zu bestimmen ist. Diese positive Philosophie soll Wissenschaft sein. Es bleibt jedoch unklar, wie das unvordenkliche Daßsein und notwendig Existierende ohne vorangehende Modalkategorien und wie weitere rationale Bestimmungen ohne eine zugrunde liegende Kategorienlehre überhaupt gedacht und erkannt werden können, ferner wie auch nur die ersten Sätze einer wissenschaftlichen positiven Philosophie ohne die Voraussetzung der Gültigkeit der Regeln der formalen Logik möglich sind. SCHELLING hat sich zwar nicht dieses logisch-ontologische Problem gestellt, da er der Logik nicht die Bedeutung einer Grundlegung zugestand; er bemerkte jedoch offenbar die Schwierigkeiten, die sich bei der Konzeption einer selbständigen positiven Philosophie ergaben, und hielt daher in anderen Ausführungen die negative Philosophie nicht nur als Gegenpol oder aber als Hinführung zur positiven, sondern auch als Bestandteil der positiven Philosophie für erforderlich. Dennoch soll die negative Philosophie eigenständig, wenn auch in der positiven fundiert sein; zugleich soll die negative nur um der positiven Philosophie willen betrieben werden. — Solche Schwankungen in SCHELLINGS Auffassung vom Verhältnis der negativen zur positiven Philosophie dürften wohl auf einem zugrunde liegenden, ungelösten systematischen Problem beruhen. SCHELLING gelang es nicht, seine inhaltliche These vom voraussetzungslosen, außerhalb der Vernunft gesetzten reinen Daßsein systematisch eindeutig mit den Erforderrüssen des wissenschaftlichen Begreifens und Darstellens zu verbinden, da er Logik und Kategorienlehre, die allein den wissenschaftlichen Charakter dieser ersten Erkenntnis der positiven Philosophie ermöglichen, zwar als Bestandteile der negativen Philosophie, aber doch nur als von Konkreterem abstrahierte leere Gedankengefüge ansah. 3.

Vgl. z. B. XIII 161,151, 92 f; XI 564. Tilliette hat sorgfältig die hier genannten und noch weitere von Schelling erprobte und nicht zurückgenommene Bestimmungen des Verhältnisses von negativer und positiver Philosophie unterschieden. Vgl. Schelling. Bd 2. 49—66, 298.

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4. Für die Erkenntnis des Existierenden führt SCHELLING als Erkenntnisquelle neben der Vernunft in der Regel die Erfahrung an. Während SCHELLiNGS Begrenzung der Vernunfterkenntnis derjenigen KANTS zumindest analog ist weicht sein Erfahrungsbegriff erheblich von dem KANxischen ab. Erfahrung ist für ihn nämlich nicht nur sinnliche Erfahrung; sie kann durchaus auch „Erkenntniß des Uebersinnlichen" sein, und ihre philosophische Theorie ist dann ein „metaphysischer Empirismus" Die zweite ursprüngliche Erkenntnisquelle, die SCHELLING also annimmt und die eine Erfahrung des Übersinnlichen ermöglichen soll, hat zwar nicht einfach die Bedeutung einer unmittelbaren, theosophischen oder mystischen Anschauung. Aber sie ist, wie SCHELLING andeutet, der intellektuellen Anschauung ähnlich, wie er sie früher konzipiert hat. In kritischer Aufnahme Hegelscher Bestimmungen bezeichnet er diese Erkenntnisweise auch als Vorstellung im Unterschied zum Denken. Während Hegel allerdings die Vorstellung, die er als Wissensart der Religion zuspricht, im philosophischen Denken aufhebt, hält SCHELLING an der Differenz beider fest. Denn Vorstellung ist für ihn in diesem Zusammenhang die Erkenntnis des Existierenden, das außerhalb der Vernunft besteht. Zwar wird das reine Daßsein oder das notwendig Existierende am Anfang der positiven Philosophie nicht als solches erfahren, aber man weiß durch die Erfahrung seiner Folgen von ihm selbst als dem absoluten Prius. — Gerade wenn jedoch ScHELLiNGS Begrenzung der Vernunfterkenntnis als begründet anzusehen ist, stellt seine Annahme, daß es dennoch ein Vermögen der metaphysischen Erkenntnis von wirklichem, übersinnlichem Seienden gebe, eine petitio principii dar. Hiermit wird keine Beurteilung seiner Welt- und Lebensanschauung, sondern nur seiner philosophischen Theorie gegeben. Da SCHELLING aber der Auffassung war, daß die Annahme eines eigenen Vermögens der Erfahrung des Übersinnlichen auch Bestandteil seiner Philosophie sein solle, hätte er ein solches Vermögen auch erkenntnistheoretisch aufweisen und systematisch — etwa in der Einheit der Subjektivität — fundieren müssen. Aus der Hegel-Kritik des späten SCHELLING und dem Vergleich seiner Konzeption der Spätphilosophie, die die Grundlage für seine Hegel-Kritik bildet, mit Hegels spekulativer Logik selbst läßt sich wohl entnehmen, daß Vgl. z. B. XIII 83. XIII 113, 114. Zur untersdiiedlichen Rolle der Erfahrung in der negativen und der positiven Philosophie vgl. Chr. Wild: Reflexion und Erfahrung. 116 ff. ** Vgl. X 150, vgl. auch IX 229. Sie ist freilich keine Selbstanschauung des Ich mehr. Vgl. zur Selbstanschauung des Ich beim jungen Schelling den Beitrag von Werner Marx in diesem Band. 77 ff. Vgl. XIII 172 ff.

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es sich hier um zwei durchaus verschiedene Versuche zur Lösung der idealistischen Prinzipienproblematik handelt. Hegels Lösung, die in der Vereinigung von Subjektivität und Absolutem in der absoluten Idee und in der Entwicklung dieses Prinzips innerhalb der Logik als Metaphysik besteht, ist — wie nur angedeutet wurde — nicht ohne Schwierigkeiten hinsichtlich des Beweises und der Rechtfertigung der vernünftigen, logischontologischen Erkenntnis des Absoluten. Die Antwort des späten SCHELLiNG, in der eine Metaphysik des reinen Seins und des Wirklichen als anfängliche Erkenntnis konzipiert wird, die Sinn und Bedeutung einer philosophischen Subjektivitätstheorie und Logik in mehrfacher Hinsicht fundieren soll, bringt beträchtliche argumentative und systematische Probleme mit sich. So dürften Zweifel daran aufkommen, ob man die eine oder die andere idealistische Theorie eigentlich als „vollendete" Lösung jener Grundlegungsfrage ansehen kann.

Kolloquium II SCHELLINGS SYSTEMWANDEL

HERMANN ZELTNER (ERLANGEN) t

DAS IDENTITÄTSSYSTEM - UND WAS DANN? Über Schellings Systembegriff, seine Aus- und Umformungen und seine Bedeutung

Was hat SCHELLING unter System verstanden? Ich vergegenwärtige kurz, und der Kürze wegen in freiem Referat, Reflexionen darüber zu Beginn der Erlanger Vorlesungen von 1821 (9, 209 ff): Das Streben nach einem „System des menschlichen Wissens" — wir können dafür setzen: nach einem System der Philosophie — setzt voraus, daß dieses Wissen „ursprünglich und von sich selbst nicht im System", sondern ein sich Widerstreitendes ist — der menschliche Geist mußte also zuvor ,;sich in allen möglichen Richtungen schon versucht haben". SCHELLINGS Beispiel: Die griechischen Naturphilosophen, dann „der Dualismus des Anaxagoras", schließlich die Eleaten mußten vorausgehen, „ehe im Platon" — manche würden vielleicht lieber sagen: in ARISTOTELES — „auch nur die wahre Idee eines Systems erscheinen konnte". Es muß aber ferner die Einsicht hinzukommen, daß jener Widerstreit nicht etwas Zufälliges oder gar, „wie manche Seichtlinge sich vorstellen, in bloßen Logomachien", sondern „in den ersten Wurzeln alles Daseins" Gegründetes ist. Prinzipiell erklärt SCHELLING: Alle einander ausschließenden Systeme sind etwas Partielles, Untergeordnetes; darum kann „zwar scheinbar und für eine Zeit .. . ein System des anderen Meister werden, wirklich und in die Länge nicht". Der Idee des Systems im großen Sinn dagegen muß die Einsicht vorausgehen, „daß an sich jedes System gleiches Recht habe, gleichen Anspruch zu gelten . . . Solange der Materialist noch dem Intellektualisten oder der Idealist dem Realisten sein Recht nicht zugesteht, ist an das System kat'exochen nicht zu denken". SCHELLING bemerkt aber, daß dies alles nur von Systemen gilt, „die wirkliche Momente der Entwicklung darstellen", wobei dann entwicklungsmäßig sehr wohl eines auf einer höheren Stufe stehen kann als andere. Ein weiterer Gesichtspunkt von allgemeinem Interesse scheint mir der zu sein: Man sollte die Philosophie nicht gering schätzen, weil es in ihr einen

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Systempluralismus gibt. Gegenbeispiel: „In der Geometrie" — von damals, werden wir hinzufügen müssen — „gibt es keine Systeme, weil es kein System gibt, und in der Philosophie muß es wohl Systeme geben — eben weil es ein System gibt." Man kann aber darum nicht eine Einheit anstreben, in welcher sich alle gegenseitig vertilgen, „sondern die Aufgabe ist eben, daß sie wirklich zusammenbestehen". Ich breche hier ab, so lohnend es wäre, SCHELLINGS weiterem Gedankengang, der dann allerdings einer ausführlicheren Interpretation bedürfte, zu folgen. Wenden wir uns also unserem eigentlichen Thema zu, der Besonderheit von SCHELLINGS Systembegriff und seiner Wandlung insbesondere in der sogenannten Spätphilosophie. Es ist auffallend, daß der Begriff „System" in den Schriften bis 1806 wiederholt schon im Titel erscheint, während dergleichen später nicht mehr festzustellen ist. So scheint also die des öfteren geäußerte Vermutung nahezuliegen, daß es später SCHELLINGS Sache nicht mehr war, systematische Philosophie zu betreiben. Diese Vermutung wird weiter gestützt durch den eigentümlichen Denk- und Sprachstil der Weltalter-Entwürfe: Hier wird im allgemeinen nicht mehr argumentiert, sondern erzählt. Allerdings: schon in den Erlanger Vorträgen, aus denen ich zitierte, und ganz besonders in den Vorlesungen zur Geschichte der neueren Philosophie kehrt SCHELLING wieder zurück zu Argumentationen im Stil der philosophischen Tradition, und schließlich enthält der riesige Vorlesungskomplex, der die letzten vier Bände der ersten Gesamtausgabe beansprucht, eine Fülle untereinander sehr verschiedenartiger wissenschaftlicher Darlegungen und Auseinandersetzungen. Manchmal freilich scheint es, als ob SCHELLING nunmehr frei, d. h. ohne Bindung an ein System, und schon gar nicht an eines seiner früheren Systeme, über die Gegenstände philosophierte, die ihn gerade interessierten, und als ob er Philosophie als ein Ganzes aus dem Auge verloren hätte. Ich möchte zeigen, daß dieser Schein trügt, daß SCHELLINGS Denken auch später systematische Philosophie war, so daß also System und Methode seines Philosophierens sich zwar sicherlich gewandelt haben, ohne daß jedoch von einem Bruch mit seiner philosophischen Vergangenheit die Rede sein könnte. Am Beginn von SCHELLINGS philosophischer Entwicklung steht bekanntlich die Begegnung mit dem FICHTE der ersten Wissenschaftslehre, deren Systematik sich in strenger Deduktion und aus den drei ersten Grundsätzen ableitet. Diese Deduktionen besitzen, hat man ihre Prämissen erst einmal akzeptiert, die eigentümliche Stringenz eines rein bei sich selbst bleibenden Denkens. Ein so geartetes Denken ist SCHELLING im Grunde

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immer fremd geblieben. Gemeinsam hat er mit FICHTE die Berufung auf die Erfahrung des Mit- und Nachdenkenden im Vollzug des Dargelegten. Aber es sind jeweils verschiedene Erfahrungen^ zu denen FICHTE und SCHELLING ihre Leser auffordern, und daraus, oder jedenfalls mit daraus ergibt sich auch eine wesentliche Verschiedenheit ihres Systembegriffs. SCHELLING

beschreibt sein ganz andersartiges Verfahren sehr deutlich

in der Schrift Über den wahren Begriff der Naturphilosophie und die richtige Art, ihre Probleme aufzulösen von 1801, der Beantwortung einer Polemik ESCHENMAYERS gegen SCHELLINGS Ersten Entwurf eines Systems der Naturphilosophie. SCHELLING bemerkt dazu, er habe die Naturphilosophie darin nur erst einmal bis zu dem Punkt geführt, „von welchem aus sie anfangen konnte System zu werden .. . Die Keime des Systems liegen alle darin zerstreut", so sei insbesondere die Theorie des dynamischen Prozesses, die SCHELLING ja schon das Jahr zuvor gesondert herausgegeben hatte, „die Grundlage der ganzen spekulativen Physik und selbst der organischen Naturlehre" (4. 93). Daraus läßt sich entnehmen: Als Voraussetzung für ein System der Naturphilosophie betrachtet SCHELLING vor allem die Idee des Prozesses, und wir können hinzufügen: die Ideen des Fortschritts, der Entwicklung — selbstverständlich immer innerhalb des Naturganzen. „Prozeß" ist aber bei SCHELLING konkret bestimmt durch das Verhältnis bestimmter Phänomene bzw. der ihnen zugrundeliegenden Faktoren, genauer und zugleich abstrakter gefaßt als Potenzen.

Was aber sind Potenzen? Da der Terminus noch mehrfach Vorkommen muß, rasch eine kurze Information: Von Potenzen ist bei SCHELLING zunächst die Rede in der Naturphilosophie; hier werden bestimmte Phänomene von elementarem Charakter, etwa Materie, Schwere, Licht, einander zugeordnet durch die Bezeichnung erste, zweite, dritte Potenz, so daß also Licht eine analoge Funktion hat wie Schwere — nur eben auf höherer Ebene. Entsprechend sucht SCHELLING später auch im geistig-geschichtlichen Bereich solche Zusammenhänge hervorzuheben, und das damit Bezeichnete ist nun selbst als wirkende Realität gemeint, wie zuvor etwa Schwere oder Licht. Es geht hier in erster Linie um Momente, die wir denkend am göttlichen Sein unterscheiden können, so — bereits in der Freiheitsschrift — Egoität und Liebe, die einander ausschließen und doch nur zusammen das Wesen Gottes ausmachen; analog verhalten sich zueinander das Existierende und das, was Grund seiner Existenz ist. Anlaß zu derartigen Überlegungen gibt vor allem der Schöpfungsbegriff. Für die Entstehung eines Systems erhalten wir von SCHELLING an der zitierten Stelle folgenden Hinweis: „In einer solchen Darstellung mußten notwendig alle möglichen Reflexionspunkte, auf welchen die Naturphilo-

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Sophie stehen kann, durchlaufen und bezeichnet werden," — in der Naturphilosophie nennt SCHELLING diese Reflexionspunkte „Hemmungspunkte der allgemeinen unendlichen produktiven Naturtätigkeit"; sie liegen in den ursprünglichen Qualitäten der Naturphänomene offen zu Tage (3. 20 f) — „und der höchste, der alle anderen unter sich begreift, und der in einem wirklichen System das Prinzip sein muß, kommt vielmehr als das Resultat vor" (4. 93 f). Es zeigt sich also: ein System der Naturphilosophie verlangt zunächst eine genaue Analyse der unterschiedlichen Naturphänomene, angefangen von der Unterscheidung des organischen und des anorganischen Naturbereiches, und die dabei auftretenden Momente innerhalb des Naturprozesses als ganzen sind die Ansatzpunkte für ein System der Naturphilosophie. Aber nun ist dies nur der eine Teil des Systems der Philosophie überhaupt. Daneben steht die unter dem Titel System des transzendentalen Idealismus entfaltete Philosophie des Geistes. Sie beantwortet, wieder in einem stufenweisen Aufbau, die Frage, wie das Bewußtsein zu einem mit seinen Vorstellungen übereinstimmenden Objekt kommt, wobei diese Entfaltung ihren dreifachen Höhepunkt außer im theoretischen und praktischen Bewußtsein im ästhetischen Bewußtsein erreicht. SCHELLING hat diesen Systemteil, oder besser: dieses Teilsystem, gestützt auf eine reiche Tradition und vor allem auf FICHTE, sogleich in einer voll ausgereiften Form vorgelegt. Leitend ist wiederum die Idee eines Prozesses, hier: „die fortgehende Geschichte des Selbstbewußtseins, für welche das in der Erfahrung Niedergelegte nur gleichsam als Denkmal und Dokument dient". Um diese Geschichte genau und vollständig zu entwerfen, sind deren einzelne Epochen und in diesen wiederum die einzelnen Momente genau zu sondern und in einer Aufeinanderfolge vorzustellen, bei der die Methode, durch die diese Aufeinanderfolge aufgefunden wurde, die Gewißheit bietet, daß kein notwendiges Mittelglied übersprungen ist. So entsteht „eine Stufenfolge von Anschauungen" oder besser: Anschauungsweisen, „durch welche das Ich bis zum Bewußtsein in der höchsten Potenz sich erhebt" (3. 331). Wir haben also zwei parallele Prozesse in der Natur und im Intellektuellen, bzw. in der Naturphilosophie und in der Transzendentalphilosophie; diese beiden Wissenschaften müssen streng unterschieden werden, sie müssen einander „ewig entgegengesetzt" bleiben und können „niemals in Eins übergehen". Sie sind andererseits miteinander verbunden durch die jeweiligen Potenzen, ja sie sind darin, aber nur darin, nicht dagegen in der Weise der Darstellung, sogar eine Strecke weit miteinander identisch; erst beim Übergang von der theoretischen in die praktische Philo-

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Sophie kommt mit der menschlichen Freiheit ein prinzipielles Novum herein (3. 331 ff).

Die Philosophie als Ganzes, wie er sie damals versteht, ist also für ScHELLiNG eine „Zusammenstellung" und in diesem Sinne System aus zwei voneinander getrennten, lediglich im Moment der Potenzen partiell identischen Teilen. Man muß jedoch hinzufügen, daß die beiden Teile komplementär zueinander sind, was sich an den Prinzipien ablesen läßt, auf denen die Darstellung aufbaut.

Nach seiner eigenen späteren Darstellung war dies „der Weg, den ich zuerst und noch eben von Fichte herkommend, einschlug", um „meinerseits ins Objektive zu kommen . .. ein Versuch, den Fichteschen Idealismus mit der Wirklichkeit auszusöhnen" (10. 95).

orientiert sich dabei also an den beiden großen überindividuellen, überpersönlichen Gegebenheiten, Objektivitäten von Natur und Geist, die zusammen das Ganze der Wirklichkeit ausmachen. Solches Philosophieren ist nach SCHELLINGS eigenen Worten bestimmt durch „die Überzeugung, daß was in uns erkennt, dasselbe ist, mit dem, was erkannt wird" (10. 121). Es gibt also für den Philosophierenden prinzipiell keine Fremdheit gegenüber irgendwelcher Wirklichkeit. In SCHELLINGS Identitätsphilosophie wird die in jenem Satz ausgesprochene Überzeugung zur Prämisse: „Die erste Voraussetzung alles Wissens ist, daß es ein und dasselbe ist, das da weiß, und das da gewußt wird", und zwar ist notwendig dasselbe Eine in allen möglichen Fällen des Wissens und des Bewußtwerdens. Dieses Eine bezeichnet SCHELLING dann weiter als Vernunft (6. 137, 141). Er hat diesen Ansatz mit geradezu hartnäckiger Konsequenz weiterverfolgt und durchgehalten. Der ausführlichste Beweis dafür sind die aus seinem Nachlaß veröffentlichten Würzburger Vorlesungen über das System der gesamten Philosophie. Als Beispiel für die aus dem Identitätssystem gefolgerten Thesen zitiere ich die folgende Bestimmung des Bösen: Bloß nach dem Grad ihrer Realität betrachtet, ist jede Handlung vollkommen, „und wir würden in ihr keine Unvollkommenheit bemerken, wenn wir sie absolut und nicht in Vergleichung mit anderen Dingen betrachteten". Im Vergleich des Bösewichts mit anderen erkennen wir zwar in denen, die anderen zum Heil tätig sind, einen höheren Grad von Realität und also auch von Perfektion; „absolut, d. h. in Bezug auf die Natur betrachtet", schließt aber „auch sein Handeln eine offenbare Vollkommenheit ein". Man soll eben Handlungen und Dinge nicht in Bezug auf das Subjekt, sondern an sich selbst und in Bezug auf die Ordnung der Natur betrachten. SCHELLING bezeichnet es in diesem Zusammenhang als „die Frucht einer universellen, den Menschen zur Natur ScHELLiNG

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zurückführenden Philosophie . . daß sie die heitere Betrachtung der Welt und der Menschen lehrt" (6. 544 f). Ich habe dieses Beispiel zitiert, weil SCHELLINGS Ansichten gerade über Recht und Unrecht, über die menschliche Freiheit und über das Böse sich in der Folgezeit entscheidend gewandelt haben und so zum Anlaß für eine Modifikation seines Systems wurden. Andere Überlegungen, etwa zur Gesdiichtsphilosophie, scheinen wie Fremdkörper in sein damaliges Denken eingelagert, z. B. die These, daß die moderne Welt aus der antiken nicht durch ein stetiges Fortschreiten, sondern durch eine gänzliche Umkehrung hervorgegangen sei. Grundlage dieser Relativierung der Fortschrittsidee ist eine Differenzierung zwischen Verstand und Vernunft, die allerdings in SCHELLINGS damaligem Denken kaum weitere Spuren hinterlassen hat: „Nur im Verstände gibt es Fortschritt, in der Vernunft keinen." (6. 564) Überlegungen geschichtsphilosophischer und anthropologischer Art treten hervor bereits in Philosophie und Religion von 1804. Hier macht sich die Überzeugung geltend, daß das gegenwärtige Sein des Menschen nicht sein eigentliches ist; so wird die alte Lehre vom Sündenfall, wird allgemein der Sündenbegriff für ihn aktuell, und im Zusammenhang damit rückt der Begriff des Willens in das Zentrum seines Nachdenkens, und zwar sowohl als menschlicher wie als göttlicher Wille. Alle diese Ansätze relativieren das Identitätssystem. Rückblickend hat ScHELLiNG darüber gesagt; Dieses System kann nicht falsch sein, aber es ist nicht die letzte Wahrheit, es ist wahr „innerhalb einer gewissen Begrenzung". Ausdrücklich rühmt er dann u. a., daß das Identitätssystem als erstes den Begriff des Prozesses eingeführt und so auch die Geschichte zu denken vermocht hat als den Prozeß „des unvermeidlich sich verendlichenden, aber aus jeder Verendlichung siegreich wieder hervortretenden Subjekts" — des Menschen und letztlich Gottes (10. 119 ff). Und doch: Diese ganze Bewegung mit ihrer Dynamik in der Weise eines Prozesses „war eigentlich nur eine Bewegung des Denkens", sofern sie nämlich Gott als Resultat dieses Prozesses dachte — Gott, als welcher er erst am Ende ist. Diese Unzulänglichkeit hätte jene Philosophie ergreifen sollen; sie war zwar in sich widerspruchsfrei, aber eben als eine Wissenschaft, „in der von Existenz, von dem was wirklich existiert, und also auch von Erkenntnis in diesem Sinn gar nicht die Rede ist, sondern nur von den Verhältnissen, welche die Gegenstände im bloßen Denken annehmen". Existenz aber ist überall das Positive — „was gesetzt, was versichert, was behauptet wird", und „so mußte sie sich als rein negative Philosophie bekennen, aber eben damit den Raum für die Philosophie, welche sich auf die Existenz

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bezieht, d. h. für die positive Philosophie, außer sich frei lassen, sich nicht für die absolute Philosophie ausgeben, für die Philosophie, die nichts außer sich zurückläßt" (10. 123 ff). Mit diesem abschließenden Urteil SCHELUNGS über die Identitätsphilosophie sind wir gleichsam unversehens an den Kreuzweg von negativer und positiver Philosophie versetzt, und dies ist zweifellos der für die weitere Entwicklung von Schellings Systembegriff entscheidende Punkt. Um das damit bezeichnete intrikate Problem ist vor mehr als zwanzig Jahren eine heftige Schlacht entbrannt, die noch andauert — das ganze letzte Drittel meines Forschungsberichtes ^ handelt davon. Um aber etwas Sachhaltiges darüber sagen zu können, muß man sich zunächst die gegenständliche Bestimmtheit von SCHELLINGS Altersphilosophie und deren systematische Bedeutung vergegenwärtigen. Die Altersphilosophie ist bekanntlich in ihrem wesentlichen Teil Philosophie der Mythologie und der Offenbarung — beide als durch einen historischen Zusammenhang bestimmte Einheit betrachtet. SCHELLINGS Denken hat damit nicht so sehr ein neues Gebiet erreicht als vielmehr eine Thematik von unmittelbarer systematischer Bedeutung. In der Mythologie und analog in der Offenbarung, die beide ihm von frühester Jugend vertraut und auf seinem philosophischen Weg immer wieder begegnet waren, erkennt SCHELLING nunmehr eine geschichtliche Wirklichkeit allerhöchsten Ranges, und ihre philosophische Erfassung wird alsbald das wichtigste Ziel seiner philosophischen Bemühungen. Dazu muß die Philosophie sich erweitern, sich öffnen gegenüber einer Wirklichkeit, die bisher außer ihrer Sicht und Reichweite lag. Die Philosophie erhält damit — das ist SCHELLINGS Erfahrung — eine neue Dimension und eine neue Physiognomie, und sie überragt dank dieser Modifikation durch ihre Aufgeschlossenheit gegenüber der Realität des Mythos alle philologisch-historische Forschung, die diesem Gegenstand gewidmet ist. Leitfaden für das philosophische Verständnis des Mythos ist der neugeschaffene Begriff des theogonischen Prozesses. Es geht dabei nicht um Realität in dem Sinn, daß Theseus den Minotaurus wirklich erschlagen hätte, sondern um einen Bewußtseinsprozeß von menschheitlichem Ausmaß. Das Ganze von Philosophie der Mythologie und Offenbarung ermöglicht somit ein neues und wesentlich eindringlicheres Verständnis der Geschichte des menschlichen Bewußtseins. Zugleich wird damit ein neues geschichtliches Fimdament für das Bewußtsein der Gegenwart gewonnen. 1 H. Zeltner; Sdielling-Forsdiung seit 1954. Darmstadt 1975. (Erträge der Forschung. Bd 42.) 68-101.

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konkret für die christliche Offenbarung. Im Mythos lebt das höchste menschliche Bewußtsein, er ist selbst eine geschichtliche Gestalt, eine geschichtliche Wirklichkeit dieses Bewußtseins, das sich, unter Zugrundelegung des theogonischen Prozesses interpretiert, als reell, als wahr tmd als geschichtlich notwendig erweist. Aber ist dieser Prozeß nicht seinerseits eine Fiktion, bestenfalls eine Hypothese? SCHELLING antwortet auf diesen Einwand etwa folgendes: Es ist ein Prozeß, den das Bewußtsein wirklich vollbringt, und andererseits hat er seinen Ursprung in einem wirklichen Verhältnis des menschlichen Bewußtseins zu Gott — dieses Bewußtsein ist das natürlicherweise {natura sua) Gott setzende Bewußtsein. Reell sind aber insbesondere die darin wirksamen Potenzen. Wir folgen also SCHELLINGS eigenen Intentionen, wenn wir die Philosophie der Mythologie als legitime Wiederaufnahme seines ursprünglichen systematischen Ansatzes verstehen: „Ein Verhältnis zum Innern der Mythologie hat die Philosophie erst mit ihrer eigenen innerlich-geschichtlichen Gestaltung erhalten, seit sie selbst durch Momente fortzuschreiten anfing, sich als Geschichte wenigstens des Selbstbewußtseins erklärt" — wobei aber dieses Verfahren nunmehr durch die Einbeziehung der Geschichte des mythischen Bewußtseins eine wesentliche Erweiterung erfuhr (11. 223). Die Philosophie der Mythologie ist also von vornherein systematisch, im Kontext eines philosophischen Systems gedacht. Aber SCHELLING fordert noch mehr: „eine Philosophie, die imstande wäre, begreiflich zu machen, d. h. als möglich darzutun", was wir in Mythos und Offenbarung erkannten: „ein reales Verhältnis des menschlichen Bewußtseins zu Gott", und die Voraussetzimg dafür wäre ein philosophisches Bewußtsein, das dieser Realität entspräche (11. 250; vgl. 252). Ehe wir jedoch die daraus für SCHELLINGS Systemkonzeption sich ergebenden Konsequenzen bedenken, müssen wir uns die aus der Philosophie der Offenbarung resultierenden Anforderungen vergegenwärtigen. SCHELLING erklärt: Offenbarung ist zu denken als etwas, „das einen Actus außer dem Bewußtsein und ein Verhältnis voraussetzt, das die freieste Ursache, Gott, nicht notwendig, sondern durchaus freiwillig sich zum menschlichen Bewußtsein gibt oder gegeben hat". Das Verhältnis von Mythos und Offenbarung ist das von exoterischem Prozeß und innerer Geschichte: Im Bereich der Offenbarung ist Freiheit und Geschichte, Mythen dagegen sind „Erzeugnisse eines notwendigen Prozesses, einer Bewegung des natürlichen, bloß sich selbst überlassenen Bewußtseins, auf welche, wenn sie einmal gegeben ist, keine freie Ursach außer dem Bewußtsein einen weiteren Einfluß hat" (14. 3).

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Wie also kann eine göttliche Offenbarung, wie kann ein reales Verhältnis des Menschen zu Gott — vorausgesetzt bereits durch die Mythologie — philosophisch gedacht werden? Dieses Problem hat SCHELLING mit voller Deutlichkeit gesehen, und es scheint mir bewundernswert, wie er sich ihm gestellt hat. Freimütig erklärt er, daß wir hier mit der Potenzenlehre und ihrer Zwangsläufigkeit nicht auslangen. Das theologische Problem, das bei SCHELLING zum Problem einer philosophischen Theologie wird, sind zunächst die Schwierigkeiten, welche die Schöpfungslehre und die Lehre vom Sündenfall dem Denken bieten. Einen Willen in Gott zu denken, ist undialektisch nicht möglich. Um der Schöpfer zu werden bzw. zu sein, braucht Gott ein Gegenprinzip, das er überwinden muß, er braucht — als „VorAnfang", sagt SCHELLING — ein Prinzip, das nicht er selbst ist, das er setzt, um es sogleich, in seinem wahren göttlichen Willen, zu überwinden. Dieses „Unprinzip", wie SCHELLING es nennt, hat sich gewissermaßen von Gott emanzipiert, und bereits die Mythologie ist ein Versuch, es zu überwinden. Den mythischen Göttern gelingt das aber nur, soweit sie selbst von ihm negiert werden, also in einem durch die Potenzen als notwendig bestimmten Prozeß (14. 51 ff). Dabei ist jedoch nicht die Möglichkeit vorgesehen, daß ein mythischer Gott auf seine Unabhängigkeit von dem einen wahren Gott verzichtet und dadurch das Prinzip, dem er in seiner „Außergöttlichkeit" gleich ist, auch innerlich aufhebt — nur dann hätte er nicht nur die Wirkung jenes Unprinzips ausgeglichen, sondern seine Macht gebrochen. Das vermag einzig ein freier Entschluß des einen wahren Gottes — und SCHELLING hat sich gehütet, auch diesen letzten, entscheidenden Schritt wiederum durch die Potenzenlehre zu erklären (14. 57 f). Bis zu diesem Punkt also vermag die Einsicht der spekulativen Philosophie voranzukommen — mit einer wesentlichen Einschränkung freilich: dergleichen Überlegungen können immer nur der Nachvollzug eines vorgängigen Geschehens sein. Das gilt prinzipiell schon für die Philosophie der Mythologie — aber hier läßt sich rational argumentieren, indem wir den Wirkungszusammenhang aufzeigen, der zur Entstehung der Mythen geführt hat. Bei Schöpfung und Menschwerdung Christi ist ein solcher Aufweis nicht mehr zu führen, sie sind freie Tat Gottes. Gleichwohl besteht eine Analogie zwischen Mythos und Naturprozeß auf der einen, auf der anderen Seite zwischen menschlicher Geschichte und „jener inneren, göttlichen, transzendenten Geschichte .. ., welche eigentlich erst die wahre Geschichte, die Geschichte kat'exochen ist" (14. 220). In der Einschränkung des Bereiches, in dem Spekulation möglich ist, geht SCHELLING aber noch einen Schritt weiter: Man darf hier nicht so argumentieren, als ob die Vernunft sich in diesen transzendenten Gehal-

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ten selbst erkennen könnte — als ob diese für sie eine Bekanntheitsqualität hätten, ihr Erkennen ist hier vielmehr reines Anerkennen, ermöglicht dadurch, daß die Vernunft aus sich heraustritt und bekennt, daß sie nun die Objekte gefunden hat, welche sie suchte; aber gerade durch dieses Eingeständnis ihrer Negativität eröffnet sie selbst und spontan den völlig neuen Kreis der positiven Philosophie. Daß die Philosophie damit der Realität den Vortritt läßt, ist jedoch keine Kapitulation — Entsprechendes geschah bereits in der Naturphilosophie, es geschah bei der erwähnten Neuorientierung der Anthropologie, und es geschah insbesondere in der Philosophie der Mythologie. Aber hier, angesichts der Offenbarung, ist es nun doch etwas Neues und Radikaleres: ein entschlossener Verzicht darauf, ein Prinzip nach Art des theogonischen Prozesses (oder auch des Naturprozesses) zu konstituieren, das eine Ableitung auch der freien Tat Gottes ermöglichen sollte. Es ist, kann man sagen, ein Verzicht aus wirklicher Einsicht, welche, auch sie, noch der übergreifenden Vernunft entstammt. Vernunft, als das Grundfaktum der ScHELLiNGschen Philosophie, besteht also ihre höchste Bewährung im „Begreifen der Unbegreiflichkeit", um die großartige Formulierung KANTS ^ einmal auf den letzten SCHELLING anzuwenden, der in seinem Denken KANT doch so ganz und gar fremd geworden zu sein schien.

* Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Schlußanmerkung.

HANS JÖRG SANDKÜHLER (BREMEN)

DIALEKTIK DER NATUR NATUR DER DIALEKTIK Schelling in der widersprüchlichen Entwicklung der klassischen bürgerlichen Philosophie zwischen Materialismus und Idealismus

In der Auseinandersetzung der gegenwärtigen ScHELLiNG-Forschung um die Angemessenheit der philosophiegeschichtlichen Zurechnungskategorien ^deutscher Idealismus' oder ,klassische bürgerliche deutsche Philosophie' scheint Einverständnis zu herrschen: SCHELLING ist ein Kronzeuge des Idealismus; man mag streiten, ob des /subjektiven', ,objektiven' oder ,spekulativen'. Diese kurze Untersuchung blendet sich in die Entwicklung der SCHELLiNGSchen Philosophie ein in einer ihrer entscheidenden Phasen. Es geht um ScHELLiNGS Konzeption der ,Natur'. Also um die Naturphilosophie? Bemerkenswert ist, daß ,Natur' nicht allein naturwissenschaftlich und naturphilosophisch eine Rolle spielt, sondern auch — rechtstheoretisch. ,Natur' als Kategorie der Naturphilosophie zu diskutieren, bedeutet also eine Einschränkung gemessen am kategorialen Geltungsbereich. ,Natur' organisiert in der ScHELLiNGschen Philosophie bis 1800 und um 1800 mit anderen Kategorien der Objektivität und Notwendigkeit die in der zeitgenössischen bürgerlichen Philosophie mögliche partielle Einheit von Natur- und Gesellschafts-(Geschichts-)Wissenschaft. Hier soll es darum gehen, die Notwendigkeit einer dialektischen Einheit zwischen idealistischen und materialistischen Elementen des ScHELLiNGSchen Denkens zu begründen. SCHELLING war, in den Kategorien der Naturtheorie denkend, kein ,Idealist', wenn ,Idealismus' typologisch als jeden Materialismus ausschließende Form der Weltanschauung gefaßt werden sollte. Und eben diese Vorstellung von ,Idealismus', gar deutschem, ist theoriehistorisch kanonisiert worden. Im Gegenzug hierzu drei Thesen:

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1. Einen ,deutschen Idealismus' hat es reintypisch nie gegeben. 2. Die Formel ^klassische bürgerliche deutsche Philosophie' ist teilweise von der idealistischen Selbsteinschätzung des Idealismus durch Hegel belastet und kann präzisiert werden, sodaß sie die Spezifik der Wissenschafts- und Ideologieentwicklung in den deutschen Ländern abbildet, ohne deren Charakter als Element der Ideologie der Bourgeoisie zur Zeit der europäischen Freisetzung der bürgerlichen Gesellschaft zu verdecken. 3. Die Geschichte der Philosophie zur Zeit der bürgerlichen Revolutionen kann nur als Geschichte der dialektischen Theorieentwicklung geschrieben werden. Aufgabe der Philosophiehistorie ist es, diese Geschichte als die der Einheit des Widerspruchs von Materialismus und Idealismus zu erforschen und den ideologischen ,Kompromiß' des Idealismus mit dem Materialismus darzustellen. Der materialistische Historiker der Philosophie geht dabei von einigen theoretischen und methodischen Voraussetzungen aus, deren Angemessenheit im Gesamtsystem der materialistischen Dialektik und der mit ihr zusammenwirkenden Wissenschaften begründet wird: von der Gesetzmäßigkeit der Entwicklung der Philosophie, von der Bestimmung der Philosophie als spezifischer Form des gesellschaftlichen Bewußtseins und als Widerspiegelung der materiellen gesellschaftlichen Verhältnisse, von der konkreten Bestimmung des Charakters der jeweiligen ökonomischen Gesellschaftsformation und Epoche, von der relativen Selbständigkeit der Widerspiegelungsform ,Philosophie', welche nicht unmittelbar ökonomische Daten abbildet, sondern vermittelt durch die Tradition des philosophischen Denkens wie insgesamt durch das in historisch-logischer Form sozialhistorisch akkumulierte gesellschaftliche Wissen. Die klassische bürgerliche Philosophie in Deutschland ist — wie wenige Philosophien — charakterisiert durch eine dreistufige Widerspiegelungsrelation: Theorie Realität -> Theorie. Sie bildet die bestehenden bürgerlichen Produktionsverhältnisse und den Kampf der Bourgeoisie gegen das feudale System nicht fotomechanisch ab; soziologistische und ökonomistische Reduktionsformeln — wie sie in der behaupteten ,Parallelität von Sozialgeschichte und Theorie' immer wieder variiert werden — verbieten sich. Diese Philosophie begreift ohne nationale Bornierung ihre Zeit in einer besonderen Perspektivik: in der Perspektive der in Frankreich und England wie in der deutschen Aufklärung erarbeiteten Kategorien, — Kategorien der Philosophie wie der Wissenschaften, nicht zuletzt der Naturwissenschaften. Vorgängige Abstraktionen zur Erfassung der Realität: Hegel findet sie in der klassischen bürgerlichen Ökonomie, KANT im englischen Empirismus und Sensualismus und im Stand der Naturwissenschaf-

Dialektik der Natur — Natur der Dialektik

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ten, ScHELLiNG in den empirischen Naturwissenschaften, FöRSTER im Materialismus des französischen ,Systems der Natur' und der ,histoire naturelle' z. B. BUFFONS. ES handelt sich hier um keinen Katalog mit Vollständigkeit, wohl aber um wesentliche Perspektiven. Die klassische bürgerliche Philosophie, auch in Deutschland, ist ohne den klassischen englischen Empirismus, Sensualismus und idealistischen Skeptizismus sowenig denkbar wie ohne den kontinentalen Rationalismus. Daß die Wahrheitsfrage aus dem Kontext theologischer Lösungsversuche — menschliches Wissen hat die Garantie der Teilhabe an göttlicher Allwissenheit — herausgelöst wurde, daß die Unterscheidung von Wahrheit und Irrtum ihr Kriterium aus sinnlicher Erfahrung und aus dem rationalen Verstandesprozeß der Theorie gewann, — dies steht am Anfang einer Geschichte, die hier in wenigen Stadien vergröbert skizziert werden soll. 1610 kritisierte GALILEI gegenüber KEPLER die Ungeheuerlichkeit einer Philosophie, welche sich auch nur durch das Fernrohr zu blicken weigere und statt dessen Wahrheit aus autoritätsgebundener Hermeneutik — aus biblischer Exegese und Textvergleichung — zu gewinnen suchte. In der Abkehr von spekulativer Metaphysik und vom Offenbarungsglauben etabliert sich die Erfahrungswissenschaft, und zwar als Alternative zur Tradition. Der ,codex scriptus' als Glaubensgrund verliert seine Verbindlichkeit; gleichrangig zunächst, dann ihn ablösend tritt seit CAMPANELLA der ,codex vivus' einer Natur auf, die als verifizierbares Erkenntnisobjekt begriffen wird. Daß nichts Gegenstand der rationalen Tätigkeit des Verstandes sein könne, was nicht vorher Objekt der Sinneswahmehmung gewesen sei, rückt als Kem-Topos der bürgerlich-gesellschaftlichen Wissenschaft in den Vordergrund. FRANCIS BACONS Magna instauratio imperii humani in naturam vertraut der Naturwissenschaft die Wiederherstellung (besser: die Herstellung) der Herrschaft des Menschen über die Natur an. Weil nur objektiv verbürgtes Wissen diese Macht garantiert, wird das Problem der Erkenntnissicherheit vorherrschend; und damit die Frage nach Bedingung und Möglichkeit von Irrtum und Täuschung wie nach der Form der Kritik des Scheins. Das antiARiSTOXELische Novum Organon widmet sich nicht zuletzt der Kritik der ,Idole'. Kritik bedeutet: Begründung aus Ursachen. KausaZifäts-Denken setzt sich gegen Teleologie durch. Erfahrung und Experiment gelten als methodisch zuverlässige Verfahrensweise der Wissensgewinnung. Induktion setzt sich durch gegenüber der Deduktion aus Allgemeinsätzen der Schulphilosophie der Autoritäten. In der Auseinandersetzung mit dem kontinentalen Rationalismus, vor allem DESCARTES', der das traditionelle Theorem ,angeborener Ideen' vor aller Wahrnehmung weiterdenkt und bewahrt, erhält die klassische physikalische Mechanik immer

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größere Bedeutung. Mechanik ist Gesetzeswissenschaft mit der Möglidvkeit, Allgemeinaussagen trotz der induktiven Beschränkung der Methode des Erkenntnisprozesses zu formulieren. Mechanik erlaubt die Idee des Determinismus in den Kategorien der Kausalität und erweist sich als wichtiger /Ersatz' des historischen Finalismus: Mechanik kann in ihren Aussagen induktiv verifiziert werden und beweist mit der Erkenntnis der Gesetzmäßigkeit und Notwendigkeit aller Bewegung der Wirklichkeit zugleich die Objektivität der Erkenntnis selbst. Die Analogie zwischen Materieprozeß und Denkprozeß ist ohne die Lehre der Mechanik nicht zu begründen. Die Bedeutung dieser Analogie nicht erkannt oder dementiert zu haben, ist einer der folgenreichsten Fehler der idealistischen, seit langem bewußt oder unbewußt neukantianischen Philosophiehistorie; deren dualistischer Ansatz der Trennung von exakter Naturwissenschaft und idiographischer, verstehender Kultur- oder Geisteswissenschaft hat die tatsächliche Geschichte des Widerspruchs von Idealismus und Materialismus bis zur Unkenntlichkeit verzerrt. Die Analogie von Materie und Bewußtsein steht am Anfang der Begründung der modernen Gesellschaftstheorie durch die Naturwissenschaft. Regelhaftigkeit, Gesetzmäßigkeit und Notwendigkeit werden — hier liegt die Beschränktheit der mechanischen Gesellschafts- und Geschichtslehren — von der Natur auf Praxis und Denken als Naturprozesse übertragen. Die klassische Mechanik steht an der Wiege bürgerlich-gesellschaftlicher Theorien; TH. HOBBES konstruiert mit Hilfe einer mechanischen Anthropologie seine Souveränitätslehre; B. SPINOZA konzipiert seine Ethik nach dem Modell der Geometrie; die Metapher von der ,Staats-Maschine' und selbst noch die liberalistische Konzeption vom Ausgleich der konkurrierenden Kräfte, ohne das Modell der Mechanik gäbe es sie nicht. Theorie und Methode der naturwissenschaftlichen Mechanik bieten das Modell von Theorie und Methode der entstehenden Gesellschaftswissenschaften; die frühe kapitalistische Produktionsweise wird als Regelsystem erkannt (und anerkannt) wie das Regelsystem der naturwissenschaftlich-technologischen Produktivkraftentfaltung. Das Vertrauen auf die Erfahrung trotz der empiristischen Verabsolutierung der Erfahrung — so in LOCKES Bild vom ,Geist als weißem Papier' — und trotz der antirationalistischen Leugnung der Abstraktions- und Theorie-Gebundenheit der Erfahrung ist alles andere als eine /idealistische' Illusion; es läßt sich mit Worten wie ,Apologie des autonomen bürgerlichen Subjekts' nicht kritisieren. BACONS Entdeckung einiger Ursachen von /Idolen' ist wie die Entdeckung des Experimentators im Experiment ein durch und durch objektiver und notwendiger Ausdruck materieller

Dialektik der Natur — Natur der Dialektik

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Bedingungen: der Entwicklung qualitativ neuer Produktionsverhältnisse und neuer Antagonismen, der Entfaltung der Produktivkräfte seit der ursprünglichen Akkumulation in Richtung einer effektiven, gesellschaftliche Nutzung optimierenden Ausbeutung der Natur (einschließlidi der Menschen, deren Rechte als solche der ,Natur' zu begründen durchaus ambivalente Wirkungen hinterließ). Wenn in diesem kurzen Abriß die Naturwissenschaft als Quelle der Entwicklung der Gesellschaftswissenschaft erscheint, Theorie Geschichte zu machen scheint, dann, weil es sich tatsächlich um eine wesentliche Erscheinung der bürgerlichen Gesellschaft handelt: Naturwissenschaft und Technik sind Produktivkräfte, deren Entwicklung jener der Geschichts- und Gesellschaftswissenschaft vorausläuft und die als Produktivkräfte in ihren vergegenständlichten ökonomischen, zunehmend industriellen Formen eben die Realität mit prägen, deren Wesen gesellschaftswissenschaftlich zu durchdringen noch nicht gelingt. Die Lektüre etwa von J. D. BERNAL'S ,Science in History' beweist diesen Sachverhalt zur Genüge. Die klassische bürgerliche Philosophie in Deutschland hat das Grundproblem der Philosophie — Problem der Objektivität der Erkenntnis — in der Theorie der Dialektik von Subjekt und Objekt radikaler formuliert. Sie fragt nicht nur nach den Bedingungen der Adäquation von Objekt tmd Erkenntnis, sondern verlagert zunehmend die Ursache der kognitiven Abbildrelation aus dem Bereich der Objektivität, der materiell-gegenständlichen Determinanten der Erkenntnis, in den der menschlichen Macht, zu erkennen, was der Mensch geschichtlich selbst schafft. KANT gebührt dabei das Verdienst, ungeachtet der für sein Denken kennzeichnenden Zurückweisung des Materialismus als Atheismus die objektive Verbindung von Philosophie und Naturwissenschaft zum Ausgangspunkt seiner Empirismus- wie Rationalismus-Kritik gemacht zu haben. Naturwissenschaft provoziert die systematische Lösung des Problems einer nicht-spekulativen Metaphysik, die als Wissenschaft Anerkennung forderte. KANT hat den Zusammenhang von Philosophie und aus Gründen technologischer Naturbeherrschung notwendiger naturwissenschaftlicher Methodologie und Gnoseologie nicht dementiert. Für ihn wie für den frühen SCHELLING ist vorrangig zu bewältigen das Auseinanderklaffen von tatsächlicher subjektiver intellektueller Macht tmd Anerkennung der bewußtseinsunabhängigen Realität. Beide entwickeln Lösungsversuche in Richtung der Dialektik; bei beiden werden unumgängliche materialistische Elemente mit eingeschlossen: die Prinzipien der Unendlichkeit der materiellen Natur, der Irreversibilität der Entwicklung, der Einheit von Natur und erkenntnisgeleiteter Naturbeherrschung. Weder ein reiner Idealismus auf dem Niveau der

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Autonomie der Subjektivität noch ein reiner Idealismus auf dem Status quo ante der Mechanik und der historischen Zyklenlehren konnten die Entwicklung der Technik und der Wissenschaften philosophisch verallgemeinern, konnten den mit den Naturwissenschaften gegebenen theoretischen Vorlauf der Produktivkraftentwicklung in der bürgerlichen Gesellschaft angemessen begreifen. So ist es kein Zufall, daß das Problem der Erkenntnissicherheit — Vorbedingung jeder objektiven effektiven Planung, Technologie und Industrie — zur philosophischen Zentralaufgabe wurde und zu einem ,transzendentalen Erkenntnismaterialismus' führte. Es ist die Frage aufgeworfen, die ScHELLiNG 1800 erneut stellt und beantwortet: wie ist miteinander zu vereinbaren, daß unsere Erkenntnis durch die objektive Realität determiniert ist und die Form der Erkenntnis zugleich den Gesetzen des Denkprozesses entspricht? Wie ist subjektive Erkenntnis als objektives Wissen begründbar? Der Idealismus stößt bei der Beantwortung dieser Fragen an seine Grenzen. Für KANT wie für SCHELLING, HERDER, HAMANN und JACOBI hat MANFRED BUHR die „Problematik, die als Materialismusproblem der Entwicklungsgeschichte des klassischen bürgerlichen deutschen Denkens bezeichnet werden kann", erörtert. Deren philosophiegeschichtliche Erforschung steht in letzter Konkretion noch aus. Bereits beim gegenwärtigen Forschungsstand freilich kann eine „durchgehende partielle Materialismusrezeption" behauptet werden. ^ Die Geschichte der klassischen Dialektik kann auf dieser Grundlage geschrieben werden. KANTS Idee der ,synthetischen Einheit des Mannigfaltigen' gehört zur Tradition der Dialektik wie Hegels Definition des Begriffs im ersten Hauptteil der Phänomenologie des Geistes, die ohne KANT undenkbar ist. Die Notwendigkeit der Vernunftkritik ergab sich weniger aus dem Zwang, die idealistische Konzeption der Vernunftautonomie abzusichern, als aus dem objektiven Widerspruchsverhältnis, welches den Idealismus zum Kompromiß mit dem Materialismus treibt: dem Verhältnis von wissenschaftlich-rationaler Erkenntnis und ökonomischer und technologischer Beherrschung von Natur- und Gesellschaftsprozessen. Daß dabei der sozial-historische Prozeß ,Kapital' in den Kategorien der Natur, der ,Naturwüchsigkeit' gedacht wird, wirkt sich in der philosophischen Theorie über ,Kausalität und Freiheit' aus: die soziale Bewegung über das feudale System hinaus wird nicht historisch-materialistisch erklärt; Erkenntnistheorie mit materialistischer Tendenz dominiert * M. Buhr / G. 247 Anm., 246.

Irrlitz: Der Anspruch der Vernunft. Teil

1.

Berlin

1968. 205,

vgl.

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über Gescbichtsmaterialismus. Aber gerade aus dem Blickwinkel der menschlichen ^autonomen' Produktivkraftentwicklung ergeben sich für den Idealismus zwangsläufig Probleme mit der ^Natur'. Weder FICHTES Theorie der Subjektivität noch der bürgerlich-anarchische Ansatz der frühen ScHELLiNGschen Naturrechts-Schrift (1796) kommen um den Anstoß des ,Nicht-Ich', der Objektivität vor aller Erfahrung, herum. Wichtig ist: ,Vernunft' wird nicht verabsolutiert, nicht alternativ gegen ,Natur' ausgespielt. Es geht weit an der Realität des Widerspiegelungsverhältnisses zwischen Idealismus und bürgerlicher Produktionsweise vorbei, behauptet man, der /deutsche Idealismus' habe „keinen Erkenntnisschritt über den Materialismus" der Franzosen hinaus getan Natur sei, was eben nur für Hegel zutrifft, „nichts als bloßes Anderssein des Geistes", und „die Verabschiedung der mechanisch-metaphysischen Denkweise" sei mit „der Absetzung der Natur kongruent" Aufgehoben wird das mechanistische Verständnis der Natur als alleiniger Erkenntnis- und Praxisdeterminate. Und selbst dies nicht ersatzlos, wie einige Hinweise auf SCHELLING belegen können. Den Arbeiten von M. BUHR, G. IRRLITZ, G. STIEHLER, W. FöRSTER und S. DIETZSCH in der DDR, von V. F. ASMUS, M. MAKSIMOV, M. SLOTOV, R. CAGIN, M. F. OVSJANIKOV, S. B. SENDEROVIC und E. S. LINKOV in der UdSSR und von W. HARTKOPF (West-Berlin) ist es zu verdanken, daß die lange umstrittene Stellung SCHELLINGS in der klassischen bürgerlichen deutschen Philosophie heute weitgehend geklärt ist. ^ Begrüßenswert ist die Konzentration auf die frühen Schriften von 1795 bis 1800, also auf die Philosophischen Briefe über Dogmatismus und Kritizismus (1795), die Abhandlungen zur Erläuterung des Idealismus der Wissenschaftslehre (1796197), die Einleitung zu den Ideen zu einer Philosophie der Natur (1797), die Ideen zu einer Philosophie der Natur (1797), auf die Schrift Von der Weltseele, eine Hypothese der höheren Physik (1798), den Ersten Entwurf eines Systems der Naturphilosophie (1799), auf die Einleitung zu dem Entwurf eines Systems der Naturphilosophie oder über den Be* G. Stiehler: Der Idealismus von Kant bis Hegel. Darstellung und Kritik. Berlin

1970. 375.

» G. Stiehler. 373. ^ Vgl. M. Buhr: Zur Geschichte der klassischen bürgerlichen Philosophie. Leipzig 1972. 79—90; M. Buhr / G. Irrlitz: Der Anspruch der Vernunft. Teil 1. 141—185; S. Dietzsch: Zeit und Geschichte. Untersuchungen zur Identitätsphilosophie F. VV. J. Schellings. Phil. Diss. Leipzig 1973 (mit Bibi, der sowjetischen Schelling-Literatur); W. Förster: Die Entwicklungsidee der deutschen Naturphilosophie am Ausgang des 18. und zu Beginn des 19. lahrhunderts. In: Veränderung und Entwicklung. Studien zur vormarxistischen Dialektik. Hrsg, von G. Stiehler. Berlin 1974. 171—210; H. Seidel / I. Kleine: Einleitung zu: F.W.I. Schelling: Frühschriften. Berlin 1971. Bd 1. V-LXXII.

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griff der spekulativen Physik' (1799) und endlich auf das diese Epoche abschließende System des transzendentalen Idealismus (1800). In diesen Schriften fand MARX den ,aufrichtigen Jugendgedanken' SCHELLINGS; sie begründeten HEINES Urteil, „Herr Schelling" habe „die Natur wieder ein(gesetzt) in ihre legitimen Rechte". Mit vollem Recht hatte schon Hegel SCHELLING als den „Stifter der neueren Natur-Philosophie" gewürdigt. ® Die bürgerliche ScHELLiNG-Forschung — heute vielfach theologisch am Spätwerk orientiert ® — hat die Vermutung, SCHELLINGS Materialismus endlich entdeckt zu haben, erfolgreich dementiert. Weder E. v. ASTERS umfassende Geschichte der neueren Erkenntnistheorie noch — hier wäre es zu suchen — F. A. LANGES bedeutende Geschichte des Materialismus kommen SCHELLING auf die Spur. Die tatsächliche Funktion des Naturbegriffs in der idealistischen Transzendentalphilosophie wird nirgends überprüft. H. ZELTNER sieht in ihm eine „Revolte gegen den Geist der modernen Naturwissenschaft" und attestiert SCHELLING einen „Materialismus", der keiner ist, sondern auf den „Schelling gelegentlich hinauszukommen scheint". W. WIELANDS These von der notwendigen Ambivalenz des Natur-Konzepts verbindet sich der weit interessanteren, gleichfalls nicht verifizierten, die Naturphilosophie sei „ihrer Intention nach zugleich eine Selbstkritik der Philosophie überhaupt". ® A. HOLLERBACH reduziert das Interesse an der Naturphilosophie auf die sozialphilosophisch einschlägige OrganismusIdee ®, wie auch W. SCHULZ im Naturbegriff vereinseitigend nur das Problem der Objektivität des Geistes gestellt sieht Aufschlußreicher ist die Interpretationsfigur D. JäHNIGS: SCHELLINGS Naturphilosophie widmet sich Aufgaben der praktischen Philosophie. O. MARQUARD formuliert „zugespitzt": „Für Schellings Philosophie ist .. . die Vernunft der Gesellschaft ist keine Vernunft der Gegenwart"; Folgerung: „die philosophische Wende zur Natur wird erzwungen durch einen Schwächezustand der ,in weltbürgerlicher Absicht' geschichtlichen Vernunft: Ohnmacht der Vernunft eta® H. Heine: Werke und Briefe. Hrsg, von H. Kaufmann. Berlin 1961. Bd 5. 302. — G. W. F. Hegel: Werke. Berlin 1832 ff. Bd 15. 672 f. ® Vgl. Forschungsbericht und Schelling-Bibliographie in: H.J. Sandkühler: F.W.J. Schelling. Stuttgart 1970. ’’ H. Zeltner: Schelling. Stuttgart 1954. 111,133. ® W. Wieland: Die Anfänge der Philosophie Schellings und die Frage nach der Natur. In: Natur und Geschichte. Karl Löwith zum 70. Geb. Hrsg, von H. Braun und M. Riedel. Stuttgart 1967. 433, 422. • A. Hollerbach: Der Rechtsgedanke bei Schelling. Quellenstudien zu seiner Reditsund Sozialphilosophie. Frankfurt 1957. 140 f. W. Schulz: Einleitung zu: F.W.J. Schelling: System des transzendentalen Idealismus. Hamburg 1957. XX ff. D. Jähnig: Schelling. Die Kunst in der Philosophie. Bd 1. Tübingen 1966. 71 f.

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bliert die Macht des zur Vernunft Anderen, die Macht der Natur" kein Zweifel, die ,Wende' zur Natur ist erzwungen. Aber durch Vernunft-Ohnmacht? ,Vemunft' und ,Natur' gehören für SCHELLING zusammen und dokumentieren die Macht der bürgerlichen Vernunft, die ihre Genesis aus Natur und Materie widerspiegelnd anerkennt. Die gegenwärtigen gesellschaftlichen erkenntnisleitenden Bedingungen bürgerlicher ScHELUNG-Forschung lassen diese Anerkennung nicht mehr zu. Ihr gelingt nicht, was — nach dem Modell der LENiNSchen Hegel-Lektüre — fällig ist: eine materialistische Lesart der ScHELLiNGSchen Theorie. HABERMAS' Mutmaßungen zum „heimlichen Materialismus der Weltalterphilosophie" sollen eine „heimliche" Nähe von MARX und SCHELLING nachweisen und instrumentalisieren den ,jungen MARX' für die Idee einer „Resurrektion der Natur durch die Produktion der Menschengattung" SCHELLING — gewendet gegen SCHELLING und MARX und beider schwer vergleichbare Theorien der Objektivität der Natur, unabhängig vom Menschen. Radikalisiert ist diese Inanspruchnahme SCHELLINGS gegen Hegel/MARX mit F. W. SCHMIDTS Apodiktum, „der Weg vom Idealismus zum historischen Materialismus geht über Schelling und Feuerbach zu Marx; Hegel war für Marx ein so fruchtbarer wie verhängnisvoller Umweg" Einzig die dritte nicht-marxistische materialistische ScHELLiNG-Deutung nimmt ihn ohne ideologischen Hintergedanken ernst und kommt zu der plausiblen, philologisch belegten These, daß — wie W. HARTKOPF formuliert — „Schelling in seiner Naturphilosophie das Modell einer Dialektik der Natur entwickelt hat, und zwar das erste gedanklich voll durchkonstruierte Modell einer solchen". Was bei G. W. PLECHANOW noch episodische Andeutung blieb — der ScHELLiNGsche ,Jugendgedanke' sei „im Sinne eines materialistischen Monismus" zu verstehen — wurde von M. BUHR / G. IRRLITZ ausgewogen präzisiert. Zwar habe SCHELLING, was nicht vergessen werden darf, „den O. Marquard: Über einige Beziehungen zwischen Ästhetik und Therapeutik in der Philosophie des 19. Jahrhunderts. In; Literatur und Gesellsdiaft. Vom 19. ins 20. Jahrhundert. Hrsg, von H. J. Schrimpf. Bonn 1963. 32, 30. 12 7. Habermas: Dialektischer Idealismus im Übergang zum Materialismus. Geschichtsphilosophische Folgerungen aus Schellings Idee einer Contraction Gottes. In: Theorie und Praxis. Sozialphilosophische Studien. 4. Aufl. Frankfurt 1971. 215 f. 12 F. kV. Schmidt: Zum Begriff der Negativität bei Schelling und Hegel. Stuttgart 1971. X, vgl. 65—69. 12 kV. Hartkopf: Die Dialektik in Schellings Frühschriften. In: Zeitschr. f. philos. Forschung. 23 (1969), 3—23; Die Dialektik der Natur bei Schelling. In: Hegel-Jahrbuch 1970, 164; Studien zur Entwicklung der modernen Dialektik. Die Dialektik in Schellings Ansätzen zu einer Naturphilosophie. Meisenheim/Gl. 1972. 1® G. JV. Plechanow: Grundprobleme des Marxismus. Berlin 1958. 15.

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Übergang zum objektiven Idealismus mit der Aufgabe der revolutionären Orientierung, die der transzendentalen Tathandlung Fichtes innewohnte, mit der Aufgabe jeder historisch-gesellschaftlichen Orientierung erkauft"; und doch sei ihm nicht abzusprechen, eben in der Abkehr von FICHTE „Grundsätze einer entwickelten dialektischen Naturphilosophie erzielt" zu haben Erst die materialistische Dialektik, vor allem der Natur, bietet den hermeneutischen Schlüssel zu SCHELLING. Seine frühe Natur- und Erkenntnistheorie verhält sich tatsächlich „zur bewußt dialektischen Naturwissenschaft wie die Utopisten zum modernen Kommunismus" Diese Naturphilosophie ist in guten Stücken materialistisch, und doch reflektiert sie noch nicht, was ihren Materialismus eigentlich begründet; die Dialektik der Arbeit an und in der Natur und die Bedingungen, unter denen sich die Materie im Bewußtsein in höchster Form produziert. Sie begreift nicht, was sie widerspiegelt: daß sie als Träger in einem „System der allgemeinen Exploitation der natürlichen und menschlichen Eigenschaften" fungiert, d. h. als Wissenschaft und Ideologie, für die das Kapital die geschichtlichen Voraussetzungen der „universellen Anneigung der Natur wie des gesellschaftlichen Zusammenhangs selbst" geschaffen hat. Die Phase der vorkapitalistischen „Naturidolatrie" ist überwunden und „die theoretische Erkenntnis ihrer [der Natur] selbständigen Gesetze erscheint selbst nur als List, um sie den menschlichen Bedürfnissen ... zu unterwerfen". Daß das Naturverhältnis auch der philosophischen Theorie den Widerspiegelungsdeterminanten aus dem Kapitalverhältnis unterworfen bleibt, Nflfnrgeschichte und Gesellschaftsgesc/iic/ife sich pervers vertreten, — dies sind Kritikpunkte, die die zeitgenössische Leistung SCHELLINGS nicht schmälern. SCHELLING glaubt transzendental-theoretisch vereinen zu können (und zu müssen), was nur der Erscheinungsweise nach in der Arbeitsteilung getrennt ist: Naturprozeß und Bewußtseinskonstitution. Gleichwohl enthält seine Philosophie die Ahnung, die ENGELS später begründet: daß diese Gegensätze „in der Natur zwar Vorkommen, aber nur mit relativer Gültigkeit, daß dagegen jene ihre vorgestellte Starrheit und absolute Gleichgültigkeit erst durch unsere Reflexion in die Natur hineingetragen ist" Rückblickend nennt SCHELLING als Grundsatz seiner Frühphilosophie, „die M. Buhr / G. Irrlitz: Der Anspruch der Vernunft, Teil 1. 144, 182. I® Karl Marx / Friedrich Engels: Werke. Hrsg, vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Berlin 1956—1971. Bd 20. 12. K. Marx: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie. Berlin 1953. 313. Marx/Engels: Werke. Bd 20. 14.

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Genesis der Natur zu erklären" diese Erklärung der Natur-für-uns sei die Leistung seines „Real-Idealismus" wie auch, die „von unserer Freiheit schlechterdings unabhängige ... Vorstellung einer objektiven Welt durch einen Prozeß" begreifbar gemacht zu haben. Seine Prozeßtheorie folgt dem Prinzip, „die Momente dieser sukzessiven Überwindung" der Trennung von Natur und Geist „als identisch . . . mit den Momenten der Natur" nachzuweisen Dem Verfasser des Systems geht es 1800 um die „Darstellung jenes Zusammenhangs, welcher eigentlich eine Stufenfolge von Anschauungen ist, durch welche das Ich bis zum Bewußtsein in der höchsten Potenz sich erhebt"; selbst das System, Umschlagspunkt zum verschärften identitätssüchtigen Idealismus, geht noch aus vom „Parallelismus der Natur mit dem Intelligenten" ,Parallelismus' — in dieser Vorstellung drückt sich die Situation der idealistischen Philosophie aus: gleich HELVETIUS und D'HOLBACH kann SCHEELING die Konstitution des Bewußtseins ohne die Analogie zur Natur nicht erklären; anders aber als die französischen Materialisten des 18. Jh. betont SCHEELING, daß auch diese Analogie der Reflexion des Bewußtseins entspringt; SCHEELING sieht im Bewußtsein mehr als den Reflex der objektiven Welt und in der objektiven Welt nicht mehr nur das Objekt der Anschauung; die Natur wird nach dem Muster menschlicher Tätigkeit aufgefaßt, — aber nicht der materiellpraktischen, sondern der intellektuellen Tätigkeit, der Kopfarbeit. Gleichwohl fragt der Idealismus der Bewußtseinstheorie nicht nur, wie „die Gegenstände als sich richtend nach den Vorstellungen gedacht werden" können; die KANT revidierende Doppelfrage wird eingeleitet mit: „wie können die Vorstellungen zugleich als sich richtend nach den Gegenständen" erklärt werden; Verbindung beider Fragen ist kein ,Oder', sondern „und" FICHTE habe — kritisiert SCHEELING noch 1801 — „die Natur annihiliert" ^®, und zwar mit schwerwiegenden Folgen für die Begründung der Objektivität der Erkenntnis. Was setzt SCHEELING dagegen? Kein System des absoluten Geistes; vielmehr eine gegenüber den bisherigen Naturauffassungen ,revolutionäre' Naturphilosophie, die „nichts anderes als Naturwissenschaft" sein wollte Im Vergleich zu Hegel fällt gart 22 22 22 22 22 21 28

F. kV. 7. Sdielling: Sämtliche Werke. Hrsg, von K. F. A. Schelling. Abt. 1. Stutt1856—1861. Bd 10. 85. Ebd. 107. Ebd. 96 f. Schelling: Werke. Bd 3. 330 f. Ebd. 348. Schelling an Fichte, 3. 10. 1801. Schelling: Werke. Bd 3. 644. Schelling: Werke. Bd 2. 6.

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die — heute gewiß kurios anmutende — Fülle empirischer naturwissenschaftlicher Belege für die Spekulation auf. SCHELLING kennt die naturwissenschaftlichen Ergebnisse seiner Zeit, in Physik, Chemie und Medizin. Er nennt sein Ziel: „Wir wollen nicht, daß die Natur mit den Gesetzen unseres Geistes zufällig . .. zusammentreffe, sondern daß sie selbst notwendig und ursprünglich die Gesetze unseres Geistes nicht nur ausdrücke, sondern selbst realisiere." Die Assoziation mit ENGELS' Aussage über das ,Zusammenstimmen' der Natur- und Erkenntnisgesetze ist nicht so irrig, wie man voreilig unterstellen möchte. Mit der Emphase „Kommet her zur Physik und erkennt das Wahre" wird das Erkenntnisziel umschrieben, „daß . .. auch das Ideelle ... aus dem Reellen entspringt und aus ihm erklärt werden muß" Die Idee des Systems, die Natur erreiche ihr Ziel, „sich selbst ganz Objekt zu werden, .. . erst durch die höchste und letzte Reflexion", durch die Vernunft, und kehre so in sich zurück ist fraglos idealistisch. Ihr fehlt die historisch-materialisitische Vermittlungskategorie ,Arbeit'. Aber sie beinhaltet die Idee des Primats der Materie und der objektiven Tendenz der Materie, sich zu ihrer höchsten Form, zum Bewußtsein, zu organisieren. Die Einheit von Ontologie und Gnoseologie wird derart ontologisch begründet und nicht nur transzendentalphilosophisch. ,Natur' bezeichnet ein Subjekt sui generis und gilt nicht als Kategorie zur Bezeichnung eines ideellen Konstrukts, dessen bewußtseinsunabhängige Realität zu überprüfen eben an der Konstruktion des Intellekts scheiterte. Zu erinnern ist deshalb an SCHELLING, weil für ihn die Natur — nicht der ,Geist' — „die Schöpfung selbst" ist und das „System der Natur . .. zugleich das System unseres Geistes" SCHELLING warnt mit aller Deutlichkeit davor, „daß die Notwendigkeit, die der Begriff [der Materie] ursprünglich mit sich führt, unter der Hand verschwindet, und daß man verführt wird, ihn selbst als einen willkürlichen, selbstgemachten Begriff zu betrachten, so daß am Ende keine andere als bloß logische Bedeutung übrig bleibt". „Wahrheit" sei, lautet die Begründung für diesen gnoseologischen Realismus wenig später, „die Übereinstimmung der Vorstellung mit ihren Gegenständen". Zwischen der ScHELLiNGSchen KonzepEbd. 55 f.

31 32 33 33 3» 33

Schelling: Werke. Bd 4. 76; vgl. Bd 2. 378. Schelling: Werke. Bd 3. 272.

Ebd. 341.

Schelling: Werke. Bd 2. 378. Ebd. 39. Ebd. 214.

Schelling: Werke. Bd 3. 339.

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tion der Materie und dem dialektischen Materialismus klafft der Antagonismus der entwickelten bürgerlichen Gesellschaft; und doch gibt es zum von ScHELLiNG Vertretenen vordialektischen Realismus eine Spur zurück, vergegenwärtigt man sich MARX' und ENGELS' Sätze: „Die Materie selbst hat der Mensch nicht geschaffen. Er schafft sogar jede produktive Fähigkeit der Materie nur unter der Voraussetzung der Materie." ENGELS, zitiert gegen die Praxis-Philosophen des neuen Idealismus: „In Wahrheit . .. ist es die Natur der Materie, zur Entwicklung denkender Wesen vorzuschreiten." Diese Sätze umfassen sowohl den Monismus des Materialismus wie die Dialektik. Bei ScHELLiNG lassen sich zu nahezu allen Belegen mit materialistischer Tendenz idealistische Gegenbelege finden; aber es geht auch nicht darum, ScHELLiNG zum Materialisten zu stilisieren. Der philosophische Fall SCHELLiNG gibt Auskunft über den idealistisch-materialistischen Doppelcharakter bürgerlicher Theorie wie über die Realitätshaltigkeit bürgerlicher Wissenschaft in der Phase der revolutionären Freisetzung der bürgerlichen Gesellschaft. Der ,Real-Idealismus' ist kein Zwitter; er stellt sich dar als eine Einheit von Widersprüchen. Es kann nicht mehr überraschen, daß SCHELLING gleich KANT die theoretische Notwendigkeit des ,Idealismus' nicht in Konkurrenz zu, sondern auf der Basis der (gleichwohl kritisierten) Naturwissenschaften begründet. Er habe, faßt er im System 1800 zusammen, „gezeigt, daß den . .. Momenten in der Construction der Materie, so wie sie auch durch die bloße Physik abgeleitet werden können, ... Momente in der Geschichte des Selbstbewußtseins entsprechen"; gewiß noch keine ökonomisch-materialistische Sichtweite, aber: „Dies ist ... eine bloße Folge des fortgesetzten Potenzierens der Natur . . . und so gibt die Naturphilosophie zugleich eine physikalische Erklärung des Idealismus und beweißt, daß er an den Grenzen der Natur gerade so ausbrechen muß, wie wir ihn in der Person des Menschen ausbrechen sehen." Nicht die philosophische Spekulation begründet den Idealismus; denn „die Natur hat von Ferne schon die Anlage gemacht zu dieser Höhe, welche sie durch die Vernunft erreicht". Der dominante Idealismus läßt nicht mehr als eine idealistische Teleologie zu statt deterministisch-kausaler Begründungen, — aber eben der Natur. So bricht SCHELLINGS Argumentation bei der These, der Idealist sei im Recht, „wenn er die Vernunft zum Selbstschöpfer von allem macht", durchaus noch nicht ab; SCHELLING fährt unmittelbar fort, dies sei „in der Natur Marx/Engels: Werke. Bd 2. 49; vgl. Bd 3. 44; Bd 23. 57f. Marx/Engels: Werke. Bd 20. 479.

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selbst gegründet"; und weiter: der Idealist bat „die eigne Intention der Natur mit dem Menschen für sich"; und endlich, worauf es bei seiner Selbsteinschätzung dieses Idealismus ankommt; „aber eben weil es die Intention der Natur ist. .. wird jener Idealismus selbst wieder zum Schein; er wird etwas Erklärbares — und damit fällt die theoretische Realität des Idealismus zusammen". Dieser Real-Idealismus kennt die Täuschung, welcher der Philosoph erliegt, „weil er sein Objekt . . . schon in der höchsten Potenz, — als Ich, als mit Bewußtsein begabtes auf nimmt"; nur „der Physiker" komme „hinter diese Täuschung". Der Kritiker des Scheins kapitalistischer Ökonomie und Ideologie steht historisch-klassenmäßig noch aus. Die philosophische Ortsbestimmung der Kategorie ,Natur' aber ist bereits fällig: die wirkliche Differenz von Natur und Bewußtsein wird für den Geltungsbereich des philosophischen Denkens festgestellt und begrifflich aufgehoben. Denn ohne diese Differenz „wäre [bloße] Identität, absolute Ruhe, und auch kein Streben nach Identität" Für ScHELLiNG wird der Widerspruch zum allgemeinen Prinzip der Bewegung: „Es ist erstes Prinzip einer philosophischen Naturlehre, in der ganzen Natur auf Polarität und Dualismus auszugehen." Hervorzuheben ist: Widerspruch und Identität und deren dialektisches Wirken; SCHELLINGS Frage lautet: „Wie läßt sich nun denken, daß aus der Entzweiung Einheit, aus der Einheit Entzweiung hervorgehe, wenn nicht das Heterogene sich sucht und das Homogene sich flieht?" SCHELLINGS Antwort: „Dies ist also das durch die Natur herrschende Gesetz, in diesem innern Widerspruch liegt der Grund aller ihrer Tätigkeit." Ist ScHELLiNG also ein dialektischer Denker? Wollte man den mit der materialistischen Dialektik erreichten Status der philosophischen Theorie reprojizieren — nein. Im Gang des philosophischen Denkens aber kennzeichnet SCHELLINGS Prinzip ,Polarität' einen Schritt nicht nur zur Dialektik, sondern der Dialektik als Theorie und Methode. Dieser Schritt wird getan, um zwei Perspektiven zu vereinen: die der theoretischen ,Konstruktion' des Real-Idealismus, d. h. die der transzendentalen Reflexion, und die der theoretischen Verifikation der Erkenntnisobjektivität des IdealRealismus, d. h. die der Objektdetermination der Erkenntnis. Der methodische Monismus dieses Denkens in Real-Widersprüchen ist SCHELLINGS Beitrag zum Versuch, die Philosophie in der Form des Systems zu formulieren. Die formale Natur dieser Dialektik entspricht dem Stand der Einsicht in die Dialektik der Natur. ää Schelling; Werke. Bd 3. 309. “ Schelling: Werke. Bd 2. 459. “ Schelling: Werke. Bd 3. 251.

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Der idealistische metaphysische Subjektivismus wird dialektisch und mit materialistischen Einlassungen überwunden; der dialektische Idealismus der Naturphilosophie bricht vor zur Idee der Einheit von Objektivität und intellektueller Widerspiegelung, zur Einheit von Realität und Logik. In der Allgemeinen Deduktion heißt es: „Wenn die ganze Natur sich bis zum Bewußtsein potenzierte, oder wenn sie von den verschiedenen Stufen, die sie durchläuft, nichts — kein Denkmal — hinter sich zurückließe, so würde sich zu reproduzieren ihr selbst mit der Vernunft unmöglich sein, deren transzendentales Gedächtnis, wie bekannt, durch die sichtbaren Dinge aufgefrischt werden muß." Die Philosophie ist als „Naturlehre unseres Geistes" historisch-logisch geworden oder — mit SCHELLING — „genetisch" Die philosophiegeschichtliche Formel /deutscher Idealismus' bietet keinen gemeinsamen Nenner der widersprüchlichen Entwicklungen der bürgerlichen Philosophie zur Zeit der bürgerlichen Revolutionen. Nicht weil ihr uneingestandener Chauvinismus anzulasten wäre, ist sie sinnlos, sondern weil die Philosophie, soweit überhaupt idealistisch, ein europäisches Phänomen war wie die sozial-ökonomische Ordnung, die zu ihren materiellen Bedingungen zählt; weil zweitens die Philosophien in den deutschen Ländern keineswegs dem homogenen Idealismus gehorchten, den diese Kanonisierung unterstellt. Die Hegelianische Sichtweise der Trennung von revolutionärem Denken in Deutschland und revolutionärer Aktion in Frankreich ist selbst angesichts der Phasenverschiebung der ökonomischen und politischen Revolution in Europa unhaltbar. Der im Idealismus als dominanter Ideologie der Bourgeoisie auftretende Materialismus kennzeichnet den Widerspiegelungs-Status der Philosophie als Form des gesellschaftlichen Bewußtseins unter den Bedingungen der Widersprüchlichkeit der bürgerlichen Gesellschaft. Die materialistischen Kategorien der Einheit der Naturentwicklung, der gesellschaftlichen, staatlichen ,zweiten' Natur, der unaufgehobenen Naturbasis des Bewußtseins bilden nicht ,die' bürgerliche Gesellschaft ab; sie widerspiegeln in antifeudaler parteilicher Absicht der Begründung der neuen Ordnung in Kategorien der Notwendigkeit und Gesetzmäßigkeit bestimmte, wesentliche Seiten von deren Produktion und Reproduktion. Mit gutem Recht schreibt A. W. GULYGA in seinem zu wenig beachteten Werk Der deutsche Materialismus am Ausgang des 18. Jahrhunderts; „Die Theorie von der einheitlichen idealistischen Entwicklung der deutschen Philosophie befindet sich in direktem Gegensatz zu den Tatsachen." Begrüßenswert seine selbstkritische Ein“ Schelling: Werke. Bd 4. 76 f. Schelling: Werke. Bd 2. 39.

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Schätzung der MARxistischen Forschung: ^,Die Einschätzung der deutschen Philosophie am Ende des 18. und Beginn des 19. Jh. als eine aristokratische Reaktion auf den französischen Materialismus schloß sogar die Möglichkeit aus, die Frage nach der Existenz materialistischer Ideen in Deutschland zu stellen." Der deutsche Materialismus am Ende des 18. Jahrhunderts, der Einfluß der französischen Materialisten, der deutsche Jakobinismus der Mainzer Republik und der Theorien FöRSTERS, REBMANNS, REIMARUS' und der utopische deutsche Sozialismus z. B. FRöLICHS werden noch immer unterschätzt. Die These vom idealistischen Primat der ,Vernunft' führt dazu, die Bedeutung des innerhalb des Idealismus durch SCHELLINGS Naturphilosophie vertretenen Materialismus einer ,Dialektik der Natur' zu gering zu werten, sozusagen als bloßen Zufall. Aber sollte die klassische bürgerliche Philosophie von BACON bis FEUERBACH vom historischen Widerspruch ,Idealismus/Materialismus' ausgenommen sein? Nimmt man den materialistischen Historismus ernst und schreibt die Geschichte der Theorie nicht als reine Theoriegeschichte, sondern als Geschichte des gesellschaftlichen Bewußtseins und der Dialektik von Produktionsverhältnissen und Produktivkräften (darunter der modernen Wissenschaften), so werden die Möglichkeiten und Grenzen der idealistischen Philosophie klar. Möglichkeiten und Grenzen ergeben sich aus der zu Beginn des 19. Jahrhunderts politisch noch nicht gebrochenen Feudalstruktur, aus dem national unterschiedlichen Stand der kapitalistischen Produktionsweise, aus dem Widerspruch der Bourgeoisie gegen Adel und vorproletarische Volksbewegungen, endlich: aus dem Zwang, zugunsten einer effektiven, rationellen technologischen Planung der Ökonomie naturwissenschaftlich gesicherte Verfahren und sozialtheoretische Erkenntnisse über den Strukturwandel von der feudalen zur bürgerlichen Gesellschaft auszubilden. Das durchaus widersprüchliche Ensemble ,bürgerliche Gesellschaft' drückt sich theoretisch, auch philosophisch aus im widersprüchlichen Ensemble eines Ideologiesystems, das bei allseitiger Analyse als objektive Reproduktion der sozialen Beziehungen erkannt werden kann. Widersprüchlich ist nicht allein die Selektion der Widerspiegelungsbereiche (Natur oder Geschichte), nicht allein die Verschränkung von mechanischer Naturwissenschaft und dialektischer Naturtheorie; widersprüchlich ist die gesellschaftlich notwendige Vermittlung von ideologisch dominantem Idealismus und noch nicht systematisiertem Materialismus — auch bei SCHELLING. Für den historischen Materialisten ** A. tV. Culyga: Der deutsche Materialismus am Ausgang des Berlin 1966. 2 f.

18.

Jahrhunderts.

Dialektik der Natur — Natur der Dialektik

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nicht überraschend die Feststellung, daß inmitten der bürgerlichen Gesellschaft und der idealistischen — vor allem: juristischen — Weltanschauung deren manifester Widerspruch, der Materialismus, wirkt. Zweifellos war der Idealismus der Vemunftautonomie der notwendige Ausdruck des revolutionären Subjektanspruchs des Bourgeois, zugleich aber auch der realen Trennung von geistiger und körperlicher Arbeit. Aber; das Interesse der bürgerlichen Klasse, ihre Herrschaft ökonomisch und politisch und ideologisch anzutreten und zu sichern, drängt zu Kategorien der Objektivität der Geschichte und der Erkenntnis der Geschichte. Kategorien der Gesetzmäßigkeit und der Einsicht in die Naturnotwendigkeit des revolutionären Bruchs mit der Feudalgeschichte konnte der Idealismus weder KANTS noch FICHTES formulieren. ScHELLiNGS historisch-idealistische Erkenntnistheorie erreicht ihr Ziel erst durch die unhistorisch-materialistischen Kategorien der Natur und der Naturgeschichte. Die MARxistische Dialektik der Natur verdankt SCHELLING Ideen der Einheit von Natur und Bewußtsein; die MARxistische historischmaterialistische Dialektik blickt zurück auf die Einsicht in den Zusammenheng von Natur- und Menschengeschichte; diese Erkenntnis ist im materialistischen Historismus der politischen Ökonomie aufgehoben, aber so wenig dementiert worden wie der gnoseologische Fortschritt zum Begriff des ,transzendentalen Gedächtnisses', dieser idealistischen Vorform der Einsicht in die historisch-logische Akkumulation gesellschaftlichen Wissens. Der bürgerlich-revolutionäre Ideologe SCHELLING zollt vor seiner Kehrtwende in politische Reaktion und philosophische Restauration der bürgerlich-gesellschaftlichen Verabsolutierung der Kopfarbeit seinen Tribut: im Erkenntnis-Materialismus. Eines zumindest setzt sich schon vor Hegel und nicht allein bei SCHELLING bürgerlich-theoretisch durch: der Mensch herrscht kraft Vernunft über die Natur und zwar mit „Zweck und Absicht", nachdem er sie „gleichsam im Werke belauscht"; aber die Menschen herrschen nicht aus der Vernunft selbst; denn daß „die Ausübung dieser Herrschaft möglich ist, verdankt er doch wieder der Natur, die er vergebens zu beherrschen strebte, könnte er sie nicht in Streit mit sich selbst und ihre eigenen Kräfte gegen sie in Bewegung setzen" In noch abstrakter erkenntnistheoretischer Beschränkung erscheint der „Kopf" bereits hier als jene ,Naturmacht', die MARX im Kapital im Kontext von ,Arbeit' definierte. Es kommt nicht darauf an, SCHELLINGS Erbe zu überschätzen; der MARxismus hat mehr ,vollendet' als — wenn überhaupt — SCHELLINGS Werk. Mit diesen Pfunden zu wuchern ist trotzdem nicht sinnSchelling: Werke, Bd 2. 11 (Hervorhebung vom Verf.).

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los. Erst das Kapital hat als ,Logik' in Verbindung mit ENGELS Dialektik der Natur die materialistische ScHELLiNG-Lektüre ermöglicht. Es begründet, warum auch im Idealismus als gesellschaftlich-notwendiger bürgerlicher Ideologie ,Natur' und ,Materie' nicht verloren gehen konnten.

J. F. MARQUET (TOURS)

IDEE SCHELLINGIENNE ET CONCEPT HEGELIEN Hegel a toujours reconnu que sa philosophie et celle de SCHELLING avaient le meme contenu et que ce contenu etait ,/le vrai" (das Wahre), c'est-ädire „le concret, l'unite du subjectif et de l'objectif". On sait d'autre part que chez Hegel ce „concret", lorsqu'il est pense en lui-meme, apparait comme concept {Begriff) et, plus precisement encore, comme concept absolu, ayant en lui meme sa propre objectivite — comme Idee. Or, ce meme terme d'Idee est un des mots-cle de la philosophie de l'identite SOUS la forme (si l'on peut dire) provisoirement definitive qu'elle a revetu entre 1802 et 1806, au cours de cette periode exceptionnelle ou SCHELLING a eu si vivement le sentiment — qu'il ne retrouvera plus — d'un bonheur de pensee oü il etait vraiment lui-meme. A partir de 1809, au contraire, le meme terme, quand il ne disparait pas completement des exposes scHELLiNGiens, se trouve reduit ä ne plus signifier qu'une etape transitoire de la manifestation de l'absolu, et la primaute dont il jouissait auparavant se trouve meme soumise ä un curieux refoulement — au point qu'il n'apparait pas une fois dans le cours de Munich ou SCHELLING, en conclusion d'une histoire de la philosophie moderne, entreprend de resumer son Premier Systeme. A vrai dire, SCHELLING aurait eu pour cette omission une excuse toute trouvee — c'est que le mot Idee n'apparait pas davantage dans l'Expose de 1801 Darstellung meines Systems der Philosophie — le seul que, dans sa vieillesse, il ait reconnu comme exprimant ce qui etait alors sa pensee. L'Idee n'aura donc ete, dans la philosophie SCHELLiNGienne, qu'une passante, ä vrai dire considerable, et dont nous voudrions ici marquer la place par rapport ä l'Idee triomphante ou nous avons dit que la philosophie hegelienne reconnaissait son veritable sujet: cette parente compromettante etant d'ailleurs peut etre une des sources du discredit dont SCHELLING a ensuite frappe ce terme, au für et ä mesure que l'hegelianisme lui est apparu comme la survie grimagante et quasi demoniaque de sa premiere philosophie. Au Premier abord, en effet, l'accord pourrait sembler complet entre nos deux philosophes. Chez l'un comme l'autre, l'idee se distingue du

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concept (Begriff) dans la mesure oü ce dernier represente, comme le disait dejä la Critique du Jugement, le ,,general-analytique", le pole unilateral de l'identite subjective infinie dans son Opposition au ^,particulier" (defini par KANT comme „mtuition empirique donnee)"; chez l'un comme chez l'autre, eile apparait, toujours dans le sillage KANxien, comme le „generalsynthetique", c'est-ä-dire comme totalite qui se multiplie dans le particulier tout en restant une. La parente, ici, reposerait donc sur une genealogie commune, Idee scHELLiNcienne et Idee hegelienne etant pour ainsi dire la forme pleine de ce qui apparait en creux dans l'Idee KANxienne, objet impossible d'un savoir paradoxal qui joindrait l'unite du concept ä la richesse de l'intuition — qui serait intuition intellectuelle de V "Ev a:avxa. Mais dejä ici nous voyons apparaitre la possibilite, sinon la realite, d'une divergence: en effet, cette totalite peut etre con^ue soit comme totalite initiale, c'est-ä-dire donnee, et c'est dans ce cas seulement qu'elle pourra d'ailleurs etre objet d'intuition; soit comme totalite finale, comme recapitulation, Er-innerung oü tout se trouve repris en meme temps que fonde. On sait que la premiere solution a ete celle de SCHELLING, et c'est du reste la seule que KANT ait envisage — pour la declarer incompatible, il est vrai avec la nature d'un entendement fini: SCHELLING s'est bome, Sans rien cbanger ä la problematique du maitre, ä affirmer l'inanite de ces limites et non seulement la possibilite, mais l'unique realite de l'intuition intellectuelle. La deuxieme solution, qui est celle de Hegel, pose evidemment plus de problemes: en effet, sous peine de retomber au point de vue de la reflexion finie, c'est-ä-dire ä l'hypothese d'une particularite initialement prescrite que le concept viendrait identifier du dehors, il nous faut admettre que l'Idee ne recapitule que ce qu'elle a pose, ou qu'elle pose, plutot, dans l'intemporalite de son Entlassung; nous ne pouvons donc l'admettre ni comme donnee originelle, ni comme resultat final, mais seulement comme l'intervalle souverain qui dispose ces deux termes, comme le chemin qui va de l'un ä l'autre, c'est-ä-dire, litteralement, comme la methode. Encore faut il ici eviter de se laisser prendre au piege de la metaphore spatiale: un chemin terrestre, en effet, unit un „point de depart" et un „point d'arrivee" qui lui preexistent et entre lesquels il n'est qu'un intermediaire parmi d'autres, alors que l'idee-methode est une mediation qui previent les deux termes qu'elle unit et du meme coup prevaut sur eux; le point de depart (l'immediat, l'etre) n'est proprement lien, puisque nous ne le posons que pour en prendre conge, et le point d'arrivee (le lieu oü l'Idee est en elle-meme) n'est pas davantage quelque chose de particulier, puisqu'il est seulement la fin du chemin et le moment ou celui-ci se ressaisit, se retrouve et se totalise. D'oü l'inevitable decep-

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tion du lecteur naif qui irait chercher d'emblee au chapitre ultime de la Logique ou de la Phenomenologie de l'esprit, le „dernier mot" de Hegel: car ce demier mot n'est, dans les deux cas, que le point final d'une longue phrase qu'il conclut en lui donnant, du meme coup, un sens global et, pris en lui-meme, il n'a pas plus de contenu ni meme de presence que n'en aurait graphiquement un tel point considere ä part. L'idee hegelienne est donc processus, alors que l'idee scHELLiNcienne apparait au contraire comme un etre, ou plutot comme l'Etre meme —

comme Tactualisation ou 1' „eclosion" de l'identite absolue. Mais ni cet „etre" ni ce„processus" ne sont en eux memes quelque chose de simple — ils se presentent au contraire l'un et l'autre comme une structure articulee, et c'est au niveau de la structure que nous allons retrouver un parallelisme frappant entre ces deux visages de l'idee. Le processus hegelien articule en effet un commencement qui est pense comme l'etre, l'immediat, l'universel, l'etre en soi — puls un moment de partage (Ur-teil) ou surgissent simultanement l'etre pour soi et l'etre pour un autre, le Sujet et le predicat, la conscience et l'objet, bref deux termes qui se particularisent mutuellement — enfin un troisieme moment, celui de la singularite (Einzelnheit) qui nous rend, mais maintenant posee pour elle-meme, l'identite initiale qui est desormais celle de quelqu'un (ou du Quelqu'un). Or, ä un niveau evidemment plus statique, c'est de la meme maniere que se dispose l'idee scHELUNoienne. En tant qu'elle apparait comme l'etre ou l'existence de l'absolu, eile renvoie tout d'abord ä l'absolu lui-meme dans sa pure „essentialite" ou „subjectivite" oü il est, anterieurement ä toute manifestation, ferme et cache en lui-meme (c'est la fameuse „nuit ou toutes les vaches sont noires" mais qui, pour SCHELLING comme pour Hegel, ne represente en fait qu'un premier moment, celui de l'Universel, de l'eternel passe de Dieu). Cette identite abyssale et par consequent, vide ne pourra s'actualiser que comme identite de quelque chose ou, plus precisemment, comme identite d'une difference qui devra donc, par ailleurs, etre de quelque maniere posee: moment qui correspond ä V Ur-teil, au „partage originel" de Hegel et qui va, lui aussi, se presenter comme dedouble. En effet, si la difference est la forme necessaire sous laquelle apparait l'identite, elle-meme peut surgir de deux manieres: soit comme difference purement formelle ou equilibree (A = A), soit comme difference effective (A = B, A = C etc . ..), la copule signifiant l'identite de maniere tres differente dans les deux cas puisque, dans A = A, l'identite est manifeste, alors que, dans A = B, eile est implicite et exterieure (c'est ainsi que, dans la nature, le lien manifeste apparait comme lumiere et le lien tacite comme pesanteur). Nous obtenons ainsi ime forme absolue (A

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= A) et une multiplicite de formes particulieres dont nous ne saurions d'ailleurs faire abstraction sous peine de voir la manifestation de l'absolu demeurer ä l'etat simplement potentiel. Or l'idee elle-meme va apparaitre comme la ,,synthese" de la forme absolute et de la forme particuliere; autrement dit, eile va etre le retablissement, sous un exposant particulier, de l'equilibre unique qui manifeste Tidentite, mais qui ne peut le faire qu'ä condition de se soumettre ä la loi implacable qui He revelation et dissymetrie. Par exemple, la „particularite" d'une chose est son corps, par quoi eile est soumise ä la loi de l'identite nocturne, de la pesanteur; mais dans la mesure oü eile reprendra en eile, en l'interiorisant, le lien universel et manifeste de la lumiere, la meme chose, sans cesser (au contraire) d'etre particuliere, laissera transparaitre en eile ce qui constitue son Idee — c'est-ä-dire, ici, sa vie. La vie est la meme partout, mais ne peut apparaitre que comme vie particuliere d'etres vivants dont chacun est absolument unique, de meme que chaque dieu est, sous sa „puissance" particuliere, rensemble de la divinite. L'idee est donc equilibre de l'equilibre (universel) et du desequilibre (particulier) — eile est presence du Tout sous une de ses puissances, eile est monde ou microcosme: atteindre l'idee d'un objet quelconque (nature, art, Etat) consistera ainsi, pour le philosophe, ä y retrouver et ä y degager l'ensemble de toutes les autres puissances, montrant par lä comment l'univers entier s'y reflete, et par delä l'univers l'identite initiale, puisque c'est celle-ci qui s'annonce dans la forme absolue et totale de l'equilibre. L'etre de l'idee scHSLUNcienne et le processus de l'idee hegelienne nous

presentent donc une meme succession de moments, sauf que cette succession apparait comme figee dans un cas et dynamique dans l'autre; on part du meme en soi universel, on passe par un moment de dedoublement formel dont les termes sont eux aussi paralleles (nous avons montre ailleurs que la „forme absolue" de SCHELLING, en se posant pour elle-meme, joue le meme role que l'etre pour soi hegelien, et la „forme particuliere" equivaut naturellement ä l'etre pour un autre) et tout s'acheve sur une Synthese qui est l'idee elle-meme et ou les differents moments precedemment distingues rentrent en quelque Sorte les uns dans les autres. Mais c'est precisement ä ce moment ultime que va ressurgir la divergence que nous avions dejä rencontre plus haut lorsque nous avions souligne la commune ascendance KANiienne de nos deux philosophes. En effet, si le Wesen scHELLiNcien correspond bien ä Yuniversel hegelien, si le deuxieme moment est pour l'un comme pour l'autre le moment de la particularite, peut-on identifier sans plus de question Yldee teile que l'entend SCHELLING ä l'Einzelnheit hegelienne? Sans doute, pour SCHELLING,

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Tidee est monde et microcosme, mais eile n'est pas pour autant individualite singuliere;, et du reste Besonderes et Einzelnes, loin de s'opposer, sont chez lui deux termes qui caracterisent le meme type d'etre, le premier du point de vue de la forme, l'autre du point de vue de la realite existentielle. Mais si nous allons plus loin, nous voyons que ce qui fait de Tldee hegelienne une individualite, c'est le fait qu'elle est moins, comme nous l'avons dit improprement, la ,;synthese" des moments anterieurs que leur jeu alterne, leur consumation mutuelle et leur extinction dans un sens ultime qui les resume et les regenere. Or, SCHELLING con9oit l'Idee tout autrement — comme lien ou comme equilibre de deux termes qui s'y trouvent souverainement mesures, et non pas abolis dans ce que Hegel nommerait „la simple innocence de leur devenir": le sens pour SCHELLING implique essentiellement Organisation et non pas, comme pour Hegel, devenir. C'est peut etre ce caractere essentiellement structural de l'Idee scHELLiNcienne qui l'obligera ä s'evanouir ä partir du moment ou s'amorcera, avec les Recherches Philosophiques sur l'essence de la liberte humaine de 1809, le renversement de la philosophie de l'identite en narration des „Ages du Monde"; et c'est sous une forme quasi fantomatique qu'elle reparaitra dans la demiere philosophie de notre auteur sous la forme de l'Idee (ou du concept) de l'Etre (das Seyende), dont les trois puissances (A = B,A^ et A®) renvoient, par des intermediaires qu'il serait trop long de suivre, ä la „forme particuliere", ä la „forme absolue" et ä la „synthese" des exposes d'Iena, mais avec ä la base, au lieu d'une essentialite vide, une existence totalement objective que seul la representation, et non la pensee, peut atteindre. L'Idee n'est plus des lors l'auto-realisation ou l'automanifestation de Dieu, mais seulement l'unique maniere dont nous pouvons le penser, c'est-ä-dire le seul nom que nous ayons pour l'existence necessaire que nous ne pouvons pas ne pas poser. Ainsi, apres l'illusion lyrique d'Iena, SCHELLING vieillissant revient curieusement ä KANT — au KANT de la Dialectique transcendantale, dont l'Ideal de la raison pure servira de modele ä l'idee de l'Etre, et plus encore peut etre au KANT precritique de l'Unique fondement possible d'une preuve de l'existence de Dieu. Hegel, on le sait, ignorera ce repentir. Sans doute est-ce bien par SCHELLING qu'il a requ l'impulsion decisive (issue d'ailleurs de la Critique du fugement) qui l'a guide vers la decouverte du sujet de sa philosophie — „l'Universel synthetique", l'Universel qui produit de lui-meme sa propre particularisation. Mais son coup de genie a ete de decouvrir la de du Probleme ainsi pose dans le troisieme terme logique que ses predecesseurs s'etaient accordes a dedaigner — ä savoir das Einzelne, le singulier.

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Tindividuel, que KANT se borne ä aligner ä la suite de l'universel et du particulier, et que SCHELLING considere comme le sujet existentiel de la particularite. Ce qu'a vu Hegel, c'est que ces trois notions formaient non pas une ligne, mais un cercle — l'absolument singulier, le moi par exemple, etant en meine temps absolument universal — et qu'elles constituaient autant de moments d'un sujet unique qui, dans sa singularite ultime, apparait comme concept et finalement comme idee absolue. Que cette trinite logique s'articule selon une economie analogue ä la trinite theologique, c'est lä un point qui n'avait d'ailleurs pas echappe ä SCHELLING; mais, dans la Philosophie de l'identite, tout reste soumis ä l'instance quasi Jupiterienne du Pere, equilibre ä la fois actuel et abyssal de la forme particuliere (le Fils) et de la forme absolue (l'Esprit): c'est peu ä peu seulement, et au prix du sacrifice de l'Idee, qu'une autre disposition s'instaurera, oü le Fils deviendra l'indispensable present de la philosophie, entre l'insondable passe du Pere et l'avenir espere de l'Esprit. L'idee hegelienne, au contraire, est d'emblee esprit, c'est-ä-dire moment final, recapitulation rememorante. Et pourtant eile aussi aura une histoire — histoire singuliere qui aura pour principales figures ,,1'individu generique" de MARX, l'„Isole" de KIERKEGAARD, l',,Unique" de STIRNER (autant de formes devergondees de la singularite absolue, donc de l'idee). Cette histoire, nous n'entreprendons certes pas de la raconter ici: qu'il nous suffise d'avoir indique, par cette allusion ul time, la continuite du Probleme qui a occupe la philosophie allemande durant son äge d'or (lequel, d'ailleurs, coincide pratiquement avec la vie du penseur que nous commemorons aujourd'hui) — probleme qui pourrait se resumer en une seule question: de qui (et non pas de quoi) parle la philosophie?

WILHELM G. JACOBS (MÜNCHEN) SYSTEM UND GESCHICHTE Neueste Forschungsergebnisse zu Schellings frühester Entwicklung

Das Thema unseres Kolloquiums „Schellings Systemwandel" behandle ich in einer Beschränkung auf SCHELLINGS letzte Studienjahre in Tübingen 1792—1795. Die Meinung der Forschung über diese Jahre läßt sich etwa, wie folgt, formulieren: Nach seinen — in Anlehnung an NOHLS Bezeichnung der entsprechenden Hegelschen Schriften so genannten — theologischen Jugendschriften von 1792/93 habe sich SCHELLING 1794 plötzlich mit Begeisterung der FiCHTESchen Wissenschaftslehre zugewandt und den Ansatz eines philosophischen Systems entwickelt. In diesem abrupten Themenwechsel zeige sich zum ersten Male SCHELLINGS Proteusgestalt. ^ Gegen diese Meinung stelle ich folgende Thesen auf: 1. Die Schriften von 1792/93 sind philosophische Schriften; sie enthalten ein philosophisches Geschichtskonzept. 2. In dieses Geschichtskonzept ordnet sich die FiCHTErezeption und Systemkonzeption von 1794/95 organisch ein. 3. Somit kann das Wort vom Proteus auf SCHELLING in dem zur Rede stehenden Zeitraum im bekannten Sinne nicht angewandt werden. Diese Thesen stütze ich durch Hinweise a) auf die als philosophisch bekannten Schriften von 1794/95, b) auf die sogenannten theologischen Jugendschiiften. a) Im ersten Teil seiner Abhandlung lieber die Möglichkeit einer Form der Philosophie überhaupt ^ löst SCHELLING das Problem einer Form der 1 Vgl. z. B. Horst Vuhrmans in seiner Ausgabe: F.W.J. Schelling. Briefe und Dokumente, Bd 1. Bonn 1962. Vgl. weiter: Karl Jaspers: Schelling. Größe und Verhängnis, München 1955. Manfred Schröter: Der Ausgangspunkt der Metaphysik Schellings, — In: Kritische Studien. Über Schelling und zur Kulturphilosophie. München 1971. 11—51. ® Tübingen 1795 (vielmehr 1794). Im folgenden zitiert nach F. W. J. Schelling: Sämmtliche Werke. Hrsg, von K. F. A. Schelling. Abt. 1, Bd 1. Stuttgart und Augsburg 1856. 85—112. Siehe auch Anm. 21.

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Philosophie im Anschluß an FICHTE dahingehend auh daß er als einzige der Philosophie angemessene Form die des Systems erklärt. ® Im zweiten Teil vergleicht er seine Lösung mit den vorliegenden Lösungen DESCARTES', SPINOZAS, LEIBNIZENS und KANTS. * Er entwirft einen Abriß der Geschichte der Form der Philosophie. Diese Form entwickelt sich zu einer jeweils höheren Stufe, bis sie in der Wissenschaftslehre FICHTES und SCHELLINGS Höhepunkt und Vollendung erreicht. Diese Entwicklung ist nicht der Willkür der Philosophen überlassen, sondern hat ihren Grund im menschlichen Geiste selbst; dieser leitet sie, bis er endlich selbst bewußt wird. ® SCHELLiNG deklariert somit das System der Wissenschaftslehre zu einer Erscheinung der Geschichte der Philosophie, welche durch den in der Wissenschaftslehre dargestellten Grund im menschlichen Geiste hervorgebracht ist. Die Wissenschaftslehre ist „Wissenschaft xar’ e|oj(Triv", sie ist die „Urwissenschaft" ®, die alle anderen begründet. So wie die Philosophie in der Wissenschaftslehre ihre Einheit findet, so müssen „aus allen verschiedenen Wissenschaften am Ende nur Eine werden". ^ Somit kann man die Philosophiegeschichte als Prototyp der Wissenschaftsgeschichte auffassen. SCHELLING sieht die Geschichte der Wissenschaft im Gesamtzusammenhang der Menschheitsgeschichte. In den Wissenschaften, dem Bewußtsein der Menschheit, stellt sich nunmehr die höchstmögliche Einheit her: das System. Die Einheit des Wissens weist über sich hinaus auf die höhere Einheit des Wissens, Glaubens und Wollens hin, die SCHELLING emphatisch als „das letzte Erbe der Menschheit" bezeichnet ®. Erst in dieser Einheit findet die Menschheit ihr endgültiges Ziel. Die Einheit der Wissenschaft ist eine wesentliche Etappe auf dem Wege zu diesem Ziel; im Wissen wird deutlich, was im Handeln realisiert werden muß. Der Mensch „muß theoretisch gut seyn, um es praktisch zu werden" ®. Vom Auftreten des wissenschaftlichen Systems an kann die Menschheit mit Bewußtsein die Ziele der Geschichte zu erreichen suchen, auf die sie vorher nur dunkel geleitet wurde. „Es ist schwer der Begeisterung zu widerstehen", schreibt SCHELLING, „wenn man den großen Gedanken denkt, daß, so wie alle Wissen* Vgl. * Vgl. ® Vgl. ® Vgl.

ebd. ebd. ebd. ebd.

89—95. 101—110. 89—90. 92.

^ Vom Ich als Princip der Philosophie oder über das Unbedingte im menschlichen Wissen. Tübingen 1795. In: Werke. Bd 1. 149—242. Vgl. 158. ® Ebd. 112. ä Ebd. 157. Vgl. ebd. 90; 156—159.

System und Gesdiichte

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schäften, selbst die empirischen nicht ausgenommen, immermehr dem Punkt vollendeter Einheit entgegeneilen, auch die Menschheit selbst, das Princip der Einheit, das der Geschichte derselben von Anfang an als Regulativ zu Grunde liegt, am Ende als constitutives Gesetz realisiren werde; daß . . . auch die verschiedenen Wege und Abwege, die das Menschengeschlecht bis jetzt durchlaufen hat, endlich in Einem Punkte zusammenlaufen werden, an dem sich die Menschheit wieder sammeln und als Eine vollendete Person demselben Gesetze der Freiheit gehorchen werde." b) Solche programmatischen Erklärungen, wie die zitierte, werden verständlich auf dem Hintergrund des Geschichtskonzeptes, das SCHELLING vor allem im Paragraphen VII seiner philosophischen Dissertation entwickelt. Anfangs- und Endpunkt der Geschichte sind, wie schon bei KANT der Natur- und der Vernunftzustand. Die zwischen diesem Anfang und Ende liegende Geschichte gliedert sich in drei Epochen. Gemäß dem Rahmen der Geschichte können diese Epochen nur solche auf dem Wege von der Natur zur Vernunft sein; sie beschreiben also Stadien der Entwicklung der Vernunft. Nachdem die Vernunft in der KANiischen Kritik sich selbst durchschaut und ihre Struktur erkannt hat, können die Stadien der Geschichte durch die Vermögen der Vernunft bezeichnet werden, und zwar als Epochen der Einbildungskraft, der Urteilskraft und der Vernunft (im engeren Sinne). Bei dieser Übertragung der KANxischen Vemunftstruktur auf die Geschichte ist vorausgesetzt, daß die Vernunft sich zu sich selbst entwickelt hat. Die Struktur der Vernunft wird als Resultat der Geschichte der Vernunft genommen und erklärt rückwirkend diese Geschichte. Die in der KANTischen Kritik vollzogene Selbsterkenntnis der Vernunft wird nicht “ Ebd. 158. Antiquissimi de prima malorum humanorum origine philosophematis Genes. UL explicandi tentamen criticum ei philosophicum. Tübingen 1792. In: Werke. Bd 1. 1—40. Vgl. 32—39. Vgl. auch den im Zusammenhang mit der Dissertation entstandenen Aufsatz: Lieber Mythen, historische Sagen und Philosopheme der ältesten Welt. In: Memorabilien. Stück S. Leipzig 1793. 1—68. Auch in: Werke. Bd 1. 41—83. 1® Vgl. die von Schelling in der zitierten Dissertation (Werke. Bd 1. 3, 4, 17, 29) genannten Schriften von Kant: Muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte. In: Berlinische Monatsschrift. Bd 7. Berlin 1786. 1—27; Lieber das radikale Böse in der menschlichen Natur. In: Berlinische Monatsschrift. Bd 19. Jena 1792. 323—385. 11 Vgl. „Unter jedem in der Kindheit lebenden Volke ist die Einbildungskraft das wirksamste Seelenvermögen." (Werke. Bd 1. 52) „Verum ubi feliciora sensim generi humano tempora illuxerunt, et ad altius spontaneitatis dominium evecti sumus, illa se coepit in intellectu maxime et facultate judicandi exserere." (Ebd. 35 f) „Anteaquam vero ad illam nobis evehi altitudinem continget, tempus praecedat necesse est, in quo pro re maxime sua jam primum spontaneitate dominante, ratio ipsa praecipue excolitur". (Ebd. 37 f)

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nur, wie bei KANT selbst, strukturell, soirdem zugleich geschichtlich verstanden.

Wie versteht nun SCHELLING die Geschichte auf der Folie der Vemunftkritik? Sie beginnt für ihn, wie schon für KANT, mit der Erhebung des Menschen aus dem puren Naturzustand zur Freiheit und Vernunft. Diese Erhebung ist keine zur Freiheit ausgesprochen sittlicher Entscheidung oder auch nur zu der Freiheit abstrakten Denkens; sie ist viel weniger, nämlich gerade soviel Distanz vom reinen Naturzustand, daß eine Hemmung des Instinktes eintritt. Im Naturzustand bewirkt der Instinkt, daß der Mensch das nächste Objekt zur Befriedigung seiner Bedürfnisse ohne jede Überlegung nimmt. Nunmehr sieht der Mensch verschiedene Möglichkeiten der Befriedigung seiner Bedürfnisse und wählt unter diesen aus. Die hier zu Tage tretende Spontaneität steht im Dienste der Bedürfnisbefriedigung, d. i. der Natur. Die Wahl der Befriedigung setzt aber voraus, daß die verschiedenen Möglichkeiten miteinander verglichen, d. i. beurteilt werden. Die Vernunft weiß nicht, daß sie urteilt; sie tut es. Indem aber das Urteilsvermögen durch langen Gebrauch mehr und mehr geschärft wird, wird es als solches bewußt. Durch ihren Dienst an der Bedürfnisbefriedigung hat sich die Vernunft zu einer neuen Gestalt und größeren Freiheit emporgearbeitet. Die Erfahrung des Bewußtseins mit der Natur ist zugleich seine Selbsterfahmng. Die neue Erfahrung charakterisiert und prägt die neue, zweite Epoche. Die in der skizzierten Erfahrung gewonnene Freiheit ist die des freien Gebrauchs der Urteilskraft zur Gestaltimg der Natur. Man könnte sie mit einem modernen Terminus die Freiheit der instrumenteilen Vernunft nennen, jener Vernunft, die genau den Freiheitsgrad eines Instrumentes besitzt; es gestaltet einerseits die Natur, ist aber andererseits nur zur Gestaltung der Natur im Dienste der Bedürfnisbefriedigung brauchbar. SCHELLING übersieht nicht die Gefährdungen der Menschheit durch deren Erhebung zur Vernunft, insbesondere zur instrumenteilen. Das höhere Vernunftvermögen führt auch die größeren Übel und die schlimmere Bosheit mit sich. SCHELLING bewundert jedoch einen höchstweisen Plan ^®, uns ist Hegels Wort von der List der Vernunft geläufiger, der das Böse und Üble zum Vehikel des Fortschritts macht. Beides wirkt weniger niederdrückend, als daß es zu seiner Überwindung anstachelt. Die in der zweiten Epoche auftretenden Übel und Bosheiten werden durch immer besser gelingende Vgl. ebd. 35. „Admiremur autem in bis maxime malis sapientissimum rerum humanarum Consilium, ex quo haec ipsa tandem mala ad summos humani generis fines perficiendos mirum quantum contulere." (Ebd. 37)

System und Geschichte

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Organisation der Bedürfnisbefriedigung, d. i. zugleich Organisation der Natur, überwunden. An dieser Organisation erkennt die Vernunft allmählich nicht nur, daß sie die Natur im Dienste der Bedürfnisbefriedigung gestalten kann, sondern zuletzt, daß sie überhaupt gestalten kann, d. i. daß sie gesetzgebend sein und herrschen kann. In dem Augenblick, in dem die Urteilskraft (instrumentelle Vernunft) total wird, im Augenblick der industriellen Revolution, erkennt sie sich zugleich als gesetzgebend (in den KANTischen Kritiken) und formuliert in der Idee der Aufklärung das Programm einer die instrumentelle Vernunft übersteigende Humanität und Freiheit. Indem die Vernunft sich dieser Freiheit inne wird, muß sie sich für ihre eigene Sache ausbilden; sie muß sich aufklären, damit dem rechten Handeln, das rechte Wissen um das rechte Handeln vorangehe. Die Aufklärung ist demnach insbesondere die Erforschung der letzten in uns selbst gegründeten Prinzipien des Wahren und Guten oder anders: Selbsterkenntnis der Vernunft Die Aufklärung ist die dritte Epoche der Geschichte und geht in die Realisierung der Vernunftherrschaft über, in jenen Vernunftzustand, der das Ende der Geschichte bezeichnet. Das Modell der Geschichte ist für SCHELLING, SO können wir nach dieser Skizze sagen, Geschichte als Aktualisierung oder Potenzierung der Vernunftvermögen. Die Vernunft gewinnt in der Arbeit an der Natur nach und nach das Bewußtsein ihrer Vermögen, bis sie sich selbst zuletzt ganz durchschaut und sodann im vollen Bewußtsein ihrer selbst die Natur beherrschen wird. Die Vernunft ist also zugleich der tiefste Grund der Geschichte, der sie bis zur Vollendung leitet, und als aktualisierte Resultat der Geschichte. Die Vernunft bringt, wie die Geschichte überhaupt, so auch die Erkenntnis ihres Systems hervor. Die Erkenntnis des Systems ermöglicht ihrerseits aber erst die Rekonstruktion der Geschichte als Vernunftgeschichte. Erst wenn die Vernunft sich ihrer selbst inne wird, begreift sie auch ihre Geschichte. Die Selbsterkenntnis der Vernunft als System macht es selbst erst möglich, das System in seine Geschichte zu stellen und es aus dieser zu verstehen. Der Entwurf der Geschichte als Prozeß der Vernunft ist zugleich Indiz dafür, daß die dritte Epoche der Vernunftgeschichte, die Aufklärung, erreicht ist. Der Eintritt ins Zeitalter der Aufklärung ist nicht mehr zu leugnen, seit die Vernunft sich selbst kritisch durchleuchtet hat, d. i. seit dem Erscheinen der Kritiken KANTS. SCHELLING sieht sich am Beginn des Zeitalters der Aufklärung; aufgeklärt ist das Zeitalter noch nicht; zuviele Aufgaben bleiben noch zu lösen. Allerdings ist die Einsicht in die noch zu lösenden Aufgaben selbst eine Frucht der Auf” Vgl. ebd. 37—39.

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klärung. Diese Einsicht wird nicht mehr dunkel geleitet, sondern vollzieht sich im Lichte der durch sich selbst erhellten Vernunft. Die Menschheit wird im Maße ihrer Aufklärung Subjekt ihrer Geschichte. Die erste Aufgabe ist die Darstellung der Einheit des Wissens. Ehe diese Einheit nicht erreicht ist, kann die des Handelns nicht folgen. KANT hatte zwar die Vernunft kritisch erhellt, er hatte auch vorausgesetzt, daß sie ein System sei, dargestellt aber hatte er das System nicht die Ableitung der verschiedenen Gestalten der Vernunft aus einem Prinzip, d. i. die Darstellung des Systems der Vernunft, stand noch aus. Die Philosophie hatte noch nicht die ihr gemäße Form. Wenn man SCHELLINGS Worten zu Anfang der Schrift Über die Form der Philosophie glauben darf, traf ihn FICHTES Begriff der Wissenschaftslehre gerade bei Überlegungen zu eben diesem Problem. SCHELLING hatte die Darstellung des Systems als die geschichtliche Notwendigkeit der Stunde begriffen und ergriffen. Die Systemkonzeption folgt konsequent auf das Geschichtskonzept und gliedert sich in dieses ein. Wenn man Proteus zu überwältigen sucht, so erzählt HOMER wechselt er seine Gestalt. Diese Eigenart des Proteus wurde das Interpretationsmuster, in welches die ScHELLiNGsche Philosophie eingespannt wurde. HOMER erzählt weiter: Falls die, die Proteus zu überwältigen suchen, von ihm trotz seiner wechselnden Gestalten nicht ablassen, wendet er ein letztes Mittel zu seiner Befreiung an, — er zeigt sich in seiner wahren Gestalt und gibt wahre Auskunft. Dann aber, so rät die Göttin, muß man ihn freilassen.

Vgl. ebd. 104. Vgl. ebd. 88—89. 2» Odyssee. IV. 382—570. Nach Abschluß des Manuskripts ist erschienen Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Historisch-Kritische Ausgabe. Hrsg, von H. M. Baumgartner, W. G. Jacobs, H. Krings und H. Zeltner. Bd 1. Werke 1. Hrsg, von W. G. Jacobs, J. Jantzen und W. Schieche. Stuttgart 1976. Von den in diesem Beitrag zitierten Werken enthält er: De malorum origine 47—181, Über Mythen 183—246 und Form der Philosophie 247—300. Die Seiten der Ausgabe von K. F. A. Schelling sind am Rand vermerkt, so daß sich die hier nach den Sämmtlichen Werken zitierten Schriften auch in der Historisch-kritischen Ausgabe finden lassen.

Kolloquium III SCHELLINGS POSITIVE PHILOSOPHIE UND DAS ENDE DES SPEKULATIVEN IDEALISMUS

MICHAEL THEUNISSEN (HEIDELBERG)

DIE IDEALISMUSKRITIK IN SCHELLINGS THEORIE DER NEGATIVEN PHILOSOPHIE

Die folgenden Interpretationen sollen einen Beitrag zur Begründung der These leisten, daß die Spätphilosophie SCHELLINGS auf eine Aufhebung des ihr geschichtlich vorgegebenen Idealismus abziele. ^ Bereits die Antwort des späten SCHELLING auf die Frage des Kongresses „Ist systematische Philosophie möglich?" läßt die Reichweite dieser These ahnen. Der späte SCHELLING sagt Ja zum System des spekulativen Idealismus, indem er es vollends in die Bewegung auflöst, auf die der idealistische Systemgedanke von Anfang an angelegt war. ^ Läßt sich schon diese Form der Anerken1 Der ihnen zugrunde liegende Vortrag, der auf dem Stuttgarter Hegel-Kongreß 1975 das von Hans Michael Baumgartner geleitete Kolloquium über Schellings positive Philosophie und das Ende des spekulativen Idealismus eröffnet hat, wurde dementsprechend unter dem Titel Die Aufhebung des Idealismus in der Spätphilosophie Schellings gehalten. Die Änderung des Titels trägt dem Umstand Rechnung, daß im Rahmen dieses Vortrags nur die Aufhebungsbewegung der negativen Philosophie mit gebührender Ausführlichkeit dargestellt werden konnte. Für den Drude habe ich zwar die abschließenden Thesen über die positive Philosophie, wie auch einige andere Passagen, geringfügig erweitert, aber im übrigen auf die Bewahrung der Form geachtet, in der sie diskutiert worden sind. Die mir besonders wichtig erscheinenden Diskussionsvoten habe ich wenigstens anmerkungsweise festzuhalten versucht. Zur Ergänzung verweise ich auf meinen unter dem ursprünglichen Titel des Vortrags im Philosophischen Jahrbuch 83 (1976) erschienenen Aufsatz, der auch den hier nur anvisierten Ort der Idealismuskritik Schellings im Felde des nachhegelschen Denkens genauer bestimmt. Alle Schelling-Zitate beziehen sich auf die Ausgabe: F.W.J. Schelling: Sämmtliche Werke, Hrsg, von K .F.A. Schelling. Die römische Ziffer gibt jeweils den Band, die arabische die Seite an. * Die Zweideutigkeit dieser Antwort verbietet es, Schellings unmittelbar ausgesprochenes Ja zum System für bare Münze zu nehmen. Ich bezweifle auch, ob man, wie Christoph Wild in der Diskussion meines Vortrags, sagen kann, die in der Spätphilosophie Schellings geübte Idealismuskritik sei nicht radikal genug, weil sie sich noch am Systemgedanken orientiere. Die Stellungnahme zu dem Problem, ob insbesondere die positive Philosophie tatsächlich noch in systematischer Gestalt auftrete oder nicht, ist — wie Walter Schulz in der Diskussion mit Recht hervorgehoben hat — von Vorentscheidungen über den Systembegriff abhängig. Das System verändert sich durch seine vollständige Auflösung in Bewegung jedenfalls so wesentlich, daß seine verbale Affirmation für sich noch gar nichts bedeutet.

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nung als Aufhebung beschreiben, so erst recht die Bewegung selber, in die ScHELUNG sein eigenes System verflüssigt. Eine Aufhebung des Idealismus geschieht nicht irgendwo, in einem mehr oder weniger abgelegenen Winkel der Spätphilosophie SCHELLINGS; sie geschieht in der Bewegung, in der diese Philosophie sich systematisch entfaltet. Wer heute von einer Aufhebung des Idealismus in der Spätphilosophie SCHELLINGS spricht, muß nicht nur sagen, was er unter Idealismus verstehe oder was nach seiner Meinung SCHELLING darunter verstanden habe; er muß vor allem auch erklären, wie ein solcher Titel sich zur Vollendungsthese von WALTER SCHULZ ® verhält. Es liegt in der von mir vorausgesetzten Hegelschen Bedeutung des Aufhebungsbegriffs, daß der Vorschlag, die Idealismuskritik SCHELLINGS auf diesen Begriff zu bringen, an jene These anknüpft und sie sich zu eigen macht. Die Umakzentuierung, die in der Wahl des Aufhebungsbegriffs zum Ausdruck kommt, entspringt einer besonderen Interessenlage. In historischer Hinsicht ist die Themenstellung durch das Interesse motiviert, den Ort der Idealismuskritik SCHELLINGS im Felde des nachhegelschen Denkens zu erkunden und die spezifische Differenz dieser Kritik zu bestimmen. „Aufhebung" meint eine eigentümliche Stellung zum Idealismus zwischen seiner versteckten Fortführung einerseits und seiner offenen Verabschiedung andererseits. MARX und KIERKEGAARD, um nur die Größten auf dieser Seite zu nennen, versuchten den Idealismus, wie man weiß, schlechterdings hinter sich zu lassen; die Spätidealisten hingegen ebenso wie die Junghegelianer gehören, sosehr sie einander entgegengesetzt sind, zu denen, die auf dem Boden des Idealismus selber, mit KIERKEGAARD ZU reden, bloß „weitergehen" wollten, sei es nach links in die Öde des abstrakten Prinzips menschlichen Selbstbewußtseins, sei es nach rechts in einen redogmatisierten Theismus, der sich seine Sache von der Theologie vorgeben ließ, ohne sie mit vernünftiger Einsicht zu durchdringen. Es gibt indessen Anlaß zu vermuten, daß auch MARX und KIERKEGAARD den verabschiedeten Idealismus in Wahrheit nicht loswurden. KIERKEGAARDS Existentialisierung idealistischer Denkbestimmungen trägt allzu deutlich den Stempel der Herkunft dieser Bestimmungen, und der MARXsche Materialismus, fixiert auf starre Umkehrungsformeln, droht dem Schicksal zu verfallen, dem alle Umkehrungsparolen bis hin zu NIETZSCHE ausgesetzt waren: abhängig zu bleiben von dem, was da bloß umgekehrt wird. Solche Beobachtungen erlauben, meine ä Walter Schulz: Die Vollendung des deutschen Idealismus in der Spätphilosophie Schellings, Stuttgart 1955. 2. Aufl. Pfullingen 1975. Auf Gemeinsamkeiten zwischen der Interpretation von Schulz und meinem Deutungsversuch weise ich in mehreren nachfolgenden Anmerkungen ausdrücklich hin.

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ich, wenigstens die Frage, ob nicht vielleicht die Spätphilosophie SCHELLINGS Momente einer Kritik enthalte, die den Idealismus tiefer erschüttert, als das seine abstrakte Verabschiedung vermochte. In sachlicher Hinsicht steht hinter der Anwendung des Aufhebungsbegriffs auf sie das Interesse an dieser Frage. Sollte die Frage zu bejahen sein, so wäre Aufhebung als eine Vollendung zu denken, die den Idealismus zugleich überwindet. Den Idealismus könnte die Spätphilosophie SCHELLINGS nur überwinden, wenn es ihr gelänge, ihn von innen aufzusprengen. Eine Chance hierfür wird sichtbar, sobald wir ins Auge fassen, als was SCHELLING den Idealismus inhaltlich begreift und worin er ihn historisch verwirklicht findet. Der Idealismus beruht für ihn inhaltlich auf dem Glauben an die unendliche Macht der Vernunft ^ oder, schärfer ausgedrückt, auf der Überzeugung, daß Vernunft mit der unendlichen Macht identisch sei. Mit der Relevanz der vom späten SCHELLING geübten Kritik setze ich zugleich die Angemessenheit dieser Bestimmung voraus. Um zu sehen, daß Idealismus tatsächlich durch die Annahme der absoluten Vernunftmacht definiert ist, genügt schon ein flüchtiger Blick auf seinen Anfang und sein Ende, auf PLATON und Hegel. Der „einzige Gedanke", den nach Hegel die Philosophie im Verstehen von Geschichte „mitbringt", ist „der einfache Gedanke der Vernunft". Denn in ihm liegt, meint Hegel, unmittelbar das Vertrauen auf die „unendliche Macht" der Vernunft, das Vertrauen darauf, „daß die Vernunft die Welt beherrscht". ® Zu einem solchen Vertrauen auf die Macht der Vernunft ruft bereits PLATON auf. Wenn er SOKRATES im Phaidon vor dem Sterben des Logos warnen läßt (88 c 1 — 91 c 5), so hat er die Gefahr im Auge, daß wir das unser Denken tragende Zutrauen zur Macht der Vernunft verlieren, eine Macht, an die wir auch in der Ohnmacht unserer subjektiven Logoi, unserer stets vom Irrtum bedrohten Argumentationen, glauben müssen. Die scheinbar bloß eingeschobene, von GERHARD KRüGER ® als Kernstück des Dialogs identifizierte Unterredung, in der SOKRATES seine Gesprächspartner dazu ermahnt, nicht zu [naoLoyoi, * Der späte Schelling hat, anknüpfend an Kant, einen weiten und einen engen Vernunftbegriff. Der weite schließt Erfahrung ein, der enge aus. Vgl. XIII 55 ff, 152 f. In der Regel richtet sich der späte Schelling an dem weiten Vernunftbegriff aus. Dieser tritt, vermutlich nicht ohne Rücksicht auf Hegel, an die Stelle des früheren Begriffs vom absoluten Ich. ^ Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte. Bd 1: Die Vernunft in der Geschichte. Hrsg, von J. Hoffmeister. Hamburg 1955. 28. Vgl. Verf.: Begriff und Realität. In: Denken im Schatten des Nihilismus. Festschrift für Wilhelm Weischedel. Darmstadt 1975. 164—195, bes. 189 ff; Krise der Macht. In: Hegel-]ahrbuch 1974. Köln 1975. 318—329, bes. 318. * Vgl. G. Krüger: Einsicht und Leidenschaft. 2. Aufl. Frankfurt/M. 1948. 299 ff.

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zu Verächtern der Vernunft zu werden, bereitet den Boden, auf dem im weiteren Gang des Dialogs die Vemunftherrschaft immer deutlicher hervortreten kann, zunächst als Herrschaft der Seele über den Leib, sodann als die Teilhabe, als die sich von den Dingen her darstellt, was die Herrschaft der Ideen über sie ausmacht. Sollte es der Spätphilosophie SCHELLINGS überhaupt möglich gewesen sein, den Idealismus von innen aufzusprengen, dann nach dessen Erklärung aus dem Glauben an die Vemunftmacht nur dadurch, daß sie, in der radikalisierenden Wiederaufnahme früherer Motive, die Ohnmacht in der Macht der Vernunft aufdeckte, eine Ohnmacht, die ihr gerade deshalb erfahrbar wurde, weil sie den Machtanspruch anerkannte und auf die Spitze trieb. Als Entmächtigung der Vernunft oder als eine bestimmte Art jener „Depotenzierung", die ODO MARQUARD bereits aus der Naturphilosophie der Jahrhundertwende rekonstruiert hat ließe sich die Bewegung der negativen, der positiven und der Spätphilosophie SCHELLINGS im ganzen beschreiben. Im eng begrenzten Rahmen dieses Referats kann eingehend imd mit dem Anspruch auf Begründetheit der einzelnen Schritte nur die Bewegung der negativen Philosophie verfolgt werden; was die der positiven betrifft, so werde ich mich auf perspektivische Andeutungen beschränken müssen. ® Diese Gewichtsverteilung rechtfertigt sich m. E. aus der — allerdings selbst noch zu rechtfertigenden — Annahme, daß zwar auch die positive Philosophie dem Aufhebungsprogramm verpflichtet ist, daß aber nur die negative dieses wirklich erfüllt. An die negative Philosophie müssen wir uns auch wenden, um Einblick in die historische Konkretion zu bekommen, in der sich dem späten SCHELLiNG der Idealismus als Theorie der absoluten Vernunftmacht darstellt. Dabei ist allerdings zu beachten, daß die negative Philosophie ein Konstrukt ist und als solches auf historisch reale Systeme nicht direkt abbildbar. Zu unserem Zweck genügt es vorläufig, ihre Beziehung zu dem von ScHELLiNG idealistisch genaimten Denken überhaupt anzugeben, ohne dieses schon in seine verschiedenen Erscheinungen auseinanderzulegen. Die Einleitung in die Philosophie der Mythologie entfaltet einen Begriff von negativer oder „reinrationaler" Philosophie, der zwar abhebt auf die durch ’’ Odo Marquard: Schelling — Zeitgenosse incognito. In: H. M. Baumgartner (Hrsg.): Sdielling. Freiburg/München 1975. 9—26, bes. 12. Marquards noch unveröffentlichte Habilitationsschrift Über die Depotenzierung der Transzendentalphilosophie (Münster 1962) ist mir leider nicht bekannt. ® In der Diskussion hat Christoph Wild Zweifel an der Richtigkeit der Behauptung angemeldet, daß auch die Spätphilosophie Schellings im ganzen als Aufhebung des Idealismus gedeutet werden könne. In meinem oben angeführten Aufsatz im Philosophischen Jahrbuch habe ich versucht, diese Zweifel auszuräumen.

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heraufgeführte Entwicklung, aber seinem umfassenden Sirm nach die ganze europäische Metaphysik PLAXONiscH-ARiSTOTELischer Herkunft meint; die Einleitung in die Philosophie der Offenbarung hingegen beschreibt damit speziell das „mittelbar von KANT, unmittelbar von FICHTE ausgegangene Denken" (XIII 62). Als Idealismus bezeichnet SCHELLING diese durch KANT eingeleitete Vemunftwissenschaft (vgl. XI 466). Die Identität in der Differenz der beiden Bedeutungen von negativer Philosophie beruht auf der Auffassung, daß erst das nachKANxische Denken die seit der Antike wirksame Intention auf reine Rationalität erfüllt habe (XI 374/ 75). Insofern ist alle negative Philosophie tendenziell oder realiter Idealismus (vgl. X 148 Anm. 1). Wie sich aber das Konstrukt den verschiedenen Idealismen zuordnet, die im Anschluß an KANT hervorgetreten sind, zeigt sich erst in der Besinnung auf die eigentümliche Wendung, durch die nachKANxisches Denken, SCHELLINGS Theorie der negativen Philosophie zufolge, die Vernunftwissenschaft in dieser Weise auf den Begriff gebracht hat. Der Theorie zufolge wird die reinrationale Philosophie im Idealismus zu dem, was sie ist, indem Vernunft die ihr gebührende Macht ergreift. ® Als Potenz, genauer: als die „unendliche Potenz des Erkennens", deren ursprünglicher Inhalt die „unendliche Potenz des Seyns" ist, bestimmt SCHELLING die Vernunft mit Rücksicht auf diese Macht. Aus KANxischer Perspektive erblickt er die Macht der Vernunft darin, daß sie in eine „apriorische Stellung gegen alles Seyn gesetzt" ist. Hiermit ist von den zwei Vermögen, auf die sich die Vemunftmacht vornehmlich gründet, das eine benannt: die Fähigkeit, jeder Begegnung mit Einzelnem voraus der Welttotalität innezusein. Aber Vernunft weiß sich nicht nur im vorhinein des gesamten Seinsinhalts versichert; sie vermag ihn auch in sich selbst und aus sich selbst zu entwickeln (vgl. XI 265/6). Zu ihrer Macht gehört außer dem Ausgriff aufs Ganze auch vollkommene Autarkie. Mit der Betonung der Vemunftautarkie nimmt der späte SCHELLING das antiKANxische Motiv der nachKANxischen Philosophie auf. Gegen KANT beharrt er darauf, daß Denken, um wirkliches Erkennen zu sein, auf Erfahrung nicht angewiesen sei. Seine klare, nachdrücklich vorgetragene Aussage ist hinlängDESCARTES

® Im folgenden halte ich mich an die 4. Vorlesung der Einleitung in die Philosophie der Offenbarung. Innerhalb der 4. Vorlesung beziehe ich mich wiederum besonders auf den nach meiner Auffassung zentralen Text XIII 62—67. Ich erspare mir in der Regel Einzelverweise auf diesen Text und beschränke mich auf die Angabe von Parallelstellen in der Einleitung in die Philosophie der Mythologie. *• Als Weisen der Macht denkt Schelling auch die Potenzen, in die er das „Seyende" auseinanderlegt. Als die höchste ist die dritte Potenz „das sich selbst Besitzende, seiner selbst Mächtige" (XI 290).

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lieh vertraut: Negative Philosophie geht ebensowenig wie positive von Erfahrung aus, sondern bloß auf sie zu, und dies so, daß für sie Erfahrung lediglich eine bestätigende Instanz ist und nicht die erweisende Funktion ausübt, die sie für die positive Philosophie immerhin hat (XIII 126—29). Den Inhalt auch des in der Erfahrung vorkommenden Seins leitet sie dadurch ab, daß sie ausschließlich im Gedanken fortgeht. Es ist wichtig zu sehen, daß der späte SCHELLING sich mit dieser Position des Frühidealismus rückhaltlos identifiziert. Thema ist ihm die „auf dem Standpunkt der Philosophie", d. h. jeder möglichen Philosophie, „zum Objekt gewordene, demnach selbst ganz objektiv zu betrachtende Vernunft", zu betrachten im Absehen von der Subjektivität des Subjekts, in welchem sie faktisch gesetzt ist. Sicherlich ist es in Wirklichkeit nicht die Subjektivität, von welcher er die Vernunft loslöst. Wohl aber schattet er die in der Angewiesenheit auf Erfahrung liegende Endlichkeit der Vernunft ab; und damit wiederholt er den Ansatz, durch den der Frühidealismus über KANT hinausgegangen ist. Ja, er geht über diesen Ansatz seinerseits noch hinaus. Die Befreiung der Vernunft von den Schranken der Endlichkeit befreit die Vernunft zur unumschränkten Macht. Indem SCHELLING die Vernunft aber nach Analogie des Willens und letztlich als Wille auslegt (vgl. XIII 68), deckt er den im Frühidealismus noch verborgenen Grund ihrer Macht auf. Er gründet die Macht der Vernunft auf den Willen, der sich selber will. Als die unendliche Potenz, die sich noch nicht aktualisiert hat, vergleicht er die Vernunft mit dem „Willen, der nicht will", d. h. kein bestimmtes Etwas will; gerade ein solcher Wille aber ist „unendliche Macht" (XI 294), die Macht, die in der idealistisch gedachten Vernunft insgeheim immer schon wirksam war. Es ist diese Macht, die sich in der Spätphilosophie SCHELLINGS als Ohnmacht erfährt. Worauf der späte SCHELLING die Ohnmacht der Vernunft zurückführt, glaubt man zu wissen: Vernunft erkennt wohl, was alles ist, nicht hingegen, daß es ist; verfügend über die quidditas, die Washeit oder Auch der — von Vernunft allerdings unterschiedene — Geist ist nach Schelling ursprünglich „Wollen, und zwar das nur Wollen ist um des Wollens willen, das nicht etwas will, sondern nur sich selbst will" (XI 461). Zum Unterschied von Geist und Vernunft vgl. XIII 248. Sofern schon die antike Philosophie auf Vernunftwissenschaft aus war, Vernunftwissenschaft aber von Anfang an den Keim des Idealismus in sich trug, der wesentlich Theorie der Macht ist, weiß die antike Philosophie auch schon von der Ohnmacht der Vernunft. Dementsprechend konstatiert Schelling eine „lange, seit dem Alterthum andauernde Krisis der philosophischen Wissenschaft" (XI 464). Er präfiguriert damit in gewisser Hinsicht den Krisisgedanken des späten Husserl oder, genauer gesagt, Heideggers Radikalisierung dieses Gedankens.

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das Wesen, entzieht sich ihr die quodditas, das Daß des faktischen Daseins. Doch ist dantit tatsächlich schon hinreichend getroffen, was die Vernunft nach SCHELLING zur Ohnmacht verurteilt? Daß damit eine Schranke der Vernunftmacht markiert ist, liegt auf der Hand. Ebenso evident ist freilich, daß eine Unterscheidung von Was und Daß, die den Inhalt der Welt gegen die Faktizität des darin Existierenden abhebt, keineswegs in die Tiefe reicht, aus der SCHELLINGS Idealismuskritik schöpft. Das ist aus sachlichen wie auch aus historischen Gründen evident. Was die historische Seite betrifft, so ist ja festzuhalten, daß SCHELLINGS Idealismuskritik den Anspruch erhebt, den Idealismus von innen aufzubrechen. Die Erfüllung dieses Anspruchs setzt voraus, daß SCHELLING sich in den Idealismus hineinbegibt. Mit der Unterscheidung von Was und Daß legt er aber einen Maßstab an ihn an, den er von außen nimmt, genauer: aus einem vergangenen Denken. Er selbst führt diese Unterscheidung, wie auch die von Potenz und Akt, auf die antike Ontologie zurück (vgl. XI 384/5). In die antike Ontologie „hebt" er den Idealismus so „auf", daß er sich damit auch aller Korrekturinstanzen entledigt. Deshalb meint er jeder Begründung überhoben zu sein, wenn er erklärt, Vernunft habe es mit „gar nichts anderem" als dem Seienden zu tun; und deshalb teilt er das Sein des Seienden in Essenz und Existenz auf, ohne darüber auch nur mit einem Wort Rechenschaft abzulegen (vgl. XIII 60). Daß Vernunft nach den Kriterien des Anspruchs, unter den sich SCHELLINGS Idealismuskritik stellt, nicht schon deshalb als ohnmächtig gelten kann, weil sich ihr das actu Existierende entzieht leuchtet aber auch in der Sache ein. Denn die Ohnmacht, die darin besteht, daß es für die Vernunft außer ihrer Machtsphäre eine andere Sphäre gibt, in der sie keine Macht hat, kann noch nicht eigentlich die Ohnmacht in ihrer Macht sein. Diese müßte sich ‘ä W. Schulz bemerkt mit Recht, die dem Denken als solchem unzugängliche Wirklichkeit der Erfahrungswelt sei „überhaupt kein Problem, das dem späten Schelling um seiner selbst willen wichtig ist" (Die Vollendung des deutschen Idealismus in der Spätphilosophie Schellings. 78). Etwas anderes ist, daß Schelling nicht mehr so unbeschwert wie Hegel über den Verlust hinweggehen kann, den Vernunft im Eingeständnis des individuum ineffabile zu tragen hat. Nach Hegel braucht die Vernunft im Grunde auf nichts zu verzichten, da hinter der inhaltlichen Bestimmtheit der Denkformen für ihn nur die Leere zurückbleibt, die kein substantielles Interesse verdient. In Schellings Besinnung auf Ontologie hingegen erscheint das Sein, das nur in der Existenz es selbst ist, als die vollkommene Fülle, deren Entzug das Denken vor dem unerklärlichen Daßsein auch des geringfügigsten Dinges zu spüren bekommt. Mit Schelling zieht im europäischen Denken die Schwermut herauf, die gleicherweise über Kierkegaard und seinen existenzphilosophischen Nachfahren, gleicherweise über Benjamin und Adorno liegt: Alle sie können des Inhaltsreichtums der Gedankenwelt angesichts der vorenthaltenen Fülle des faktischen Daseins nicht mehr recht froh werden.

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vielmehr innerhalb der Grenzen zeigen^ in denen Vernunft des Seins habhaft wird; und sie müßte die Vernunft gerade dort überfallen, wo diese am mächtigsten ist. Die größte Macht besitzt nun die Vernunft, sofern sie bereits im Ansatz über sich hinaus ist und durch die unendliche Potenz des Seins hindurdi das „Seyende selbst" berührt, mit dem die positive Philosophie anfangen wird. Daß dies der Fall ist, folgt aus ihrer Beziehung zur unendlichen Potenz des Seins. Die Seinspotenz bezeichnet SCHELLING als „Inhalt" der Vernunft. Damit meint er einerseits nichts, was der Vernunft real immanent wäre, wie etwa deren Inventar, die von KANT untersuchte „Einrichtung" unseres Erkenntnisvermögens (XIII 57). Die unendliche Potenz des Erkennens soll der unendlichen Potenz des Seins lediglich „entsprechen", also zu ihr im Verhältnis einer Korrelation stehen, die jene Immanenz ausschließt. Andererseits scheint SCHELLING von „Inhalt" nur deswegen zu sprechen, weil er den Gedanken an eine Getrenntheit femhalten möchte, den der Gebrauch des Gegenstandsbegriffs hervorrufen würde. Indem die Vernunft „von ihrem eigenen ursprünglichen Inhalt" ausgeht, geht sie nämlich, wie SCHELLING unterstreicht, „von sich" aus. Die unendliche Potenz des Seins oder, nach der Terminologie der Mythologie-Vorlesungen, das Seiende ist „nur das, worin die Vernunft sich gefaßt und materialisiert hat, die unmittelbare Idea, d. h. gleichsam Figur und Gestalt der Vernunft selbst" (XI 375). Zu denken ist also eine Identität von Identität und Differenz. Zwar steht der Vernunft, die sich auf ihren ursprünglichen Inhalt bezieht, entgegen, was in keiner Weise sie selbst ist, aber so, daß es geradezu in sie hineinsteht, sie restlos und ohne Abstand mit sich durchdringt. Die derart durchdringende und sich unabweisbar aufdrängende Präsenz hat SCHELLING im Blick, wenn er die unendliche Potenz des Seins den unmittelbaren Vernunftinhalt nennt. „Unmittelbarkeit" besagt hier, daß Vernunft immer schon beim Sein ist und nicht bei ihm sein könnte, wenn nicht das Sein selber oder das Absolute — nach der auf SCHELLING anspielenden Formulierung in Hegels Kritik der Unmittelbarkeitsphilosophie — „an und für sich schon bei uns wäre und sein wollte" Dieser Begründungszusammenhang impliziert mehr als eine Umkehrung: Er zeigt an, daß die Initiative, welche die Vernunft scheinbar bloß an ihren Inhalt abgibt, in Wirklichkeit an das Seiende selbst übergeht. Die Unmittelbarkeit, die im Verhältnis zwischen der Vernunft und In der Sprache der Mythologie-Vorlesungen: „das Seyende, das schlechthin Allgemeine, die Idee selbst fordert Etwas oder Eines, von dem es zu sagen, das ihm Ursache des Seyns (attiov TOO elvai) und in diesem Sinne es ist" (XI 291 f). Hegel: Phänomenologie des Geistes. Hrsg, von J. Hoffmeister. 64.

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der Seinspotenz waltet^ fordert als Bedingung ihrer eigenen Möglichkeit eine bestimnate Annahme über das Verhältnis der Seinspotenz zum Seienden selbst, nämlich eben die, daß dieses bereits im unmittelbaren Vernunftinhalt mitaufscheint. Denn da jene Potenz als solche der „Begriff" ist (XII 64), der das Sein notwendig vermittelt, muß die unmittelbare Seinspräsenz letztlich die Gegenwart dessen sein, was das schlechthin Andere der Potenz ist, der actus purus. Erst diese Unmittelbarkeit verleiht der Vernunft die Macht ihres autarken Ausgriffs auf Totalität; nur weil Vernunft unmittelbar beim Sein ist, kann sie über den Inhalt alles Seins verfügen. Indessen begründet die Möglichkeitsbedingung der Unmittelbarkeit zugleich die wesentliche Ohnmacht der Vernunft. Diese ist zutiefst ohnmächtig, weil das Seiende selbst in ihrem unmittelbaren Inhalt bloß als abwesendes anwesend ist. Es verbirgt sich in der unendlichen Potenz des Seins, was bedeutet, daß es zwar wirklich mit da ist, aber in der Weise seines Entzugs. Die Vernunft gewahrt es, ohne es zu besitzen. Von hier aus versucht SCHELLING die gesamte Bewegung der negativen Philosophie in den Griff zu bekommen. Aus der beschriebenen Absenz in der Präsenz schließt er, daß Vernunft nichts anderes will als das Seiende selbst zu ergreifen (vgl. XI 319), d. h. hinter ihren unmittelbaren Inhalt auf dessen Ursprung zurüc/czugreifen. Ins Negative gewandt: Vernunft will gar nicht von der unendlichen Potenz zum Inhalt alles Seins fortgehen. Indem sie aber doch dazu fortgeht, tut sie, was sie nicht will. Damit werden ihrer ganzen Bewegung Züge fundamentaler Ohnmacht aufgeprägt. Ich möchte auf zwei solche Züge hinweisen. Der Hinweis zielt ins Herz der in der Theorie der negativen Philosophie enthaltenen Idealismuskritik. Um uns dessen zu versichern, müssen wir die vorhin zurückgestellte Frage aufnehmen, wie diese Kritik sich zu den verschiedenen Erscheinungen des nachKANxischen Idealismus verhalte. Zweifellos ist nach dem Selbstverständnis des späten SCHELLING die negative Philosophie vor allem eine idealtypische Konstruktion seiner eigenen Frühphilosophie. Ungeklärt bleibt in seinen Aussagen nur, welche Stellung sie gegenüber dem Denken Hegels einnimmt. Einerseits erscheint das Hegelsche System, wie auch bei KIERKEGAARD, als trübe Mischung aus negativer und positiver Philosophie, andererseits dienen viele seiner Elemente offensichtlich als Aufbauprinzipien der Vernunftwissenschaft selber. In der Tat kommt es in der Spätphilosophie SCHELLINGS sozusagen zweimal vor, nämlich als Adressat von zwei Arten der Kritik. Die eine Kritik mißt das, was Hegel zu tun vorgibt, an seinem faktischen Tun; ihr Objekt ist ein Denken, das Anspruch auf Positivität erhebt, obwohl es tatsächlich ganz im Negativen

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verharrt. Die andere Kritik hingegen untersucht das, was Hegel faktisch tut, selber, seine wirkliche Denkpraxis; und sie geht mit ein in die kritische Darstellung der negativen Philosophie. Obwohl SCHELLING je nach den strategischen Zielen, die er verfolgt, auch Unterschiede geltend machen kann, ist sein Konstrukt im ganzen doch so sehr von Interpretationen des Hegelschen Systems überformt, daß sich zwischen dem einen und dem andern keine eindeutige Grenze ziehen läßt. Die Bewegung der negativen Philosophie bildet insbesondere die Gedankenentwicklung in Hegels Logik nach. Der logische Prozeß im Sinne Hegels ist aber nicht zuletzt durch zweierlei gekennzeichnet: Er findet erstens im Element der Ewigkeit statt und hat zweitens den Charakter einer Notwendigkeit, deren Wahrheit die Freiheit ist, eine Freiheit, die sich am Ende als die „Verhältnisweise des Begriffs" offenbart Diese Bestimmungen der reinen Ewigkeit und der freien Notwendigkeit bilden die Folie, gegen die SCHELLING die beiden Grundzüge der ohnmächtigen Vernunftbewegung abhebt. Die Notwendigkeit, die Hegel dem logischen Prozeß zumutet, sagt auch SCHELLING durchaus der von ihm konstruierten Vernunftbewegung nach (XIII 67, 128). Doch wird sie unter seiner Hand zur Unfreiheit, zur „unerbittlichen Notwendigkeit" (XI 381) eines Schicksals, dem die Vernunft wider Willen anheimfällt. Diese dvdyxT], diese „völlig blinde Gewalt" (XI 264), denkt er im Begriff der „Nöthigung" (XIII 63). Vernunft ist genötigt, zum Inhalt alles Seins fortzugehen. Es ist nicht eigentlich das Denken, das diesen Fortgang betreibt. Vielmehr geht, wie SCHELLING sich ausdrückt, „dem" Denken (XIII 65) die Potenz ins Sein über; das Denken ist dieser Bewegung unterworfen. Verständlich wird die Nötigung allerdings nur, wenn man die vorhin aufgestellte Hypothese zugrunde legt, daß die Vernunft in der unendlichen Potenz des Seins bereits dem Seienden selbst begegne. SCHELLING leitet sie zwar aus dem inneren Zwang der potentia activa zur Aktualisierung ab. Sofern sich darin aber zugleich die unendliche Potenz des Erkennens aktualisiert, müßte man ja erwarten, daß die Vernunft, welche die unendliche Potenz des Erkennens ist, in der Aktualisierung der Seinspotenz ihr eigenes Wesen frei entfalte. Wenn sie statt dessen einem Verhängnis ausgeliefert ist, so deshalb, weil das In den beiden Arten der Hegelkritik spiegelt sich die Zweidimensionalität der Idealismuskritik Schellings im ganzen. Diese ist einmal, im Wortsinn von xpiveiv, Ausscheidung des prätendierten Positiven aus dem Bereich der Vernunftwissenschaft und zum andern eine Kritik der Vernunft selbst, die deren notwendiges Tun darstellt. Nach meinem Verständnis liegt der substantielle Kern der Idealismuskritik Schellings in dieser Vernunftkritik. Hegel: Wissenschaft der Logik. Hrsg, von G. Lasson. Teil 2. 214.

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Seiende selbst sie zum Fortgehen nötigt. Und zwar wird sie zum Fortgehen genötigt, eben weil sie sich in die entgegengesetzte Richtung bewegen, d. h. in ihren Grund zurückgehen will. Um hinter der unendlichen Potenz des Seins dieses selber anschauen zu können, muß sie alles hinwegschaffen, was ihr den Anblick des actus purus verwehrt, und das vermag sie allein dadurch, daß sie die Potenz ins Sein übergehen läßt. Mit dem Übergehen mitgehen will sie nur, sofern ihr die Ausscheidung dessen, das nicht das Seiende selbst ist, als der einzige Weg zum Ziel offenbleibt. Das auf einem solchen Weg erreichbare Ziel ist freilich durch eine doppelte Negation definiert, die keineswegs Affirmation ist. SCHELEiNG nennt die negative Philosophie negativ zunächst vor allem aufgrund der hinwegschaffenden Funktion ihrer Bewegung (XIII 68) und sodann im Hinblick darauf, daß sie nicht weiter als bis zum Begriff des Seienden selbst kommt (XIII 70/l). Negativ aber ist dieser Begriff, weil er das Andere des Seienden selbst seinerseits verneint. Am Ende der Bewegung steht lediglich dasjenige, das nicht ist, was nicht das Seiende selbst ist. Das Ende der Vernunftwissenschaft ist mithin kein Ziel in dem Sinne, daß die Bewegung von ihm angeleitet würde. Ihre Direktive kann die Vernunft nur aus ihrem Grunde empfangen, vom Seienden selbst. Da sie dieses als die Möglichkeitsbedingung der unmittelbaren Seinspräsenz erfährt, ahnt sie in ihm die reine, immerwährende Gegenwart. Das Sein durchschaut sie auf Ewigkeit hin. An der Ewigkeit hat sie den Maßstab, nach welchem sie unterscheidet, was das Seiende selbst sein könnte und was nicht. Ausscheiden wird sie also das Vergängliche. Sofern ihr Tun aber gar nichts anderes ist als Ausscheiden, wird sie selber in die Vergänglichkeit hineingerissen. Diesem Sachverhalt versucht SCHELLING gerecht zu werden, indem er dem Ausdruck „Unmittelbarkeit", den wir bisher nach seiner positiven Bedeutung ausgelegt haben, auch eine negative Bedeutung gibt und so zum Zeichen für die Einheit von Macht und Ohnmacht aufrichtet. Artikuliert die positive Bedeutung an der Gesamtstruktur, die als unendliche Potenz des Seins zu denken ist, das Sein, so fällt die negative auf die Seite der Potenz. Es ist der „Begriff des Seyns", den SCHELLING in einem negativen Verstände unmittelbar nennt (XIII 64). Diese Unmittelbarkeit bedeutet ihm soviel wie Zufälligkeit (XIII 66). Vielleicht sollte man statt dessen „Hinfälligkeit" sagen. SCHELLINGS paradoxaler Satz, daß die unendliche Potenz des Seins „das Seyende ist und nicht ist" (XIII 69), verweist auf den Widerstreit zwischen dem Währen als Sinn des Seins und der in der Potentialität gelegenen Hinfälligkeit. Als hinfällig läßt sich die unendliche Potenz des Seins unter demselben wesentlichen Gesichtspunkt bestimmen, der sie nach SCHELLING zum Begriff qualifiziert;

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ihre Hinfälligkeit liegt darin^ daß sie je schon im Begriff ist, in den Inhalt alles Seins überzugehen (XIII 64/5). Haltlos und unaufhaltsam stürzt sie in den Inhalt fort. Und mit ihr die unendliche Potenz des Erkennens, die Vernunft. Wie die dväyxr) die negativierte Gestalt der hegelisch als Freiheit gedeuteten Notwendigkeit darstellt, so ist dieses Fortstürzen der Vernunft ins Vergängliche die idealismuskritische Version dessen, was Hegel als ihr ruhiges ¥oitschreiten im Reiche der Ewigkeit beschreibt. Ewigkeit, am Anfang geschaut, aber nicht begriffen, wird der Vemunftwissenschaft begreifbar nur in jener nicht-affirmativen Doppelnegation, die das Ende markiert. Die Vernunft stürzt nicht nur in den Inhalt, sondern von Inhalt zu Inhalt fort, weil jeder sich als hinfällig erweist. Insofern reißt sie alles in den Strudel des Verschwindens. Zum Verschwinden aber bringt sie das Verschwindende. Das nicht nicht Seiende, das sie am Ende berührt, ist dasjenige, das im Verschwinden des Verschwindens übrigbleibt, das der Vergänglichkeit Entzogene, in dessen negierter Negativität sich die anfängliche Intention der Vernunft auf die für sie allein mögliche Weise erfüllt. Mächtig und ohnmächtig ineins ist, so sahen wir, die von SCHELLING dargestellte Vernunft, weil in der unendlichen Potenz des Seins, von der ihre Reflexion in der negativen Philosophie ausgeht, das Seiende selbst sich verbirgt. Die Doppelbödigkeit des Anfangs der negativen Philosophie erscheint im Rückblick von der positiven Philosophie her als Einheit des Negativen mit dem Positiven. Wenn es auch problematisch ist, das in der Vemunftwissenschaft abwesend-anwesende Seiende selbst als das Positive zu deuten — eine eigentümlidi geartete Einheit haben wir gewiß vor uns. Damit entsteht die Frage, wie jene Doppelbödigkeit sich zu der von SCHELLING behaupteten Nichteinheit verhalte, d. h. zur Trennung von negativer und positiver Philosophie. Statt einer sich vollständig ausweisenden Antwort kann ich nur noch einige Thesen zu dieser Frage formulieren. Die Das Diskontinuierliche und Plötzliche dieses Fortstürzens liest Schelling aus dem Wort „unmittelbar" m. E. nicht willkürlich heraus. Unter dem Unmittelbaren verstehen wir ja auch in unserer gewöhnlichen Sprache oft das Plötzliche. Der durch Hegels Jacobikritik offenbar nicht ausgeschöpfte und sich deshalb immer wieder neu aufdrängende Topos nimmt den Gedanken des £|a.icpvTig aus der dritten Hypothese des platonisdien Parmenides auf und kehrt in Kierkegaards Philosophie des Augenblicks in diesen seinen Ursprung zurück. Schelling freilich wendet die von Platon vorgegebene Bedeutung ganz ins Negative. Nicht zuletzt hinsichtlich der starken Betonung dieser Doppelbödigkeit glaube ich mich in Übereinstimmung mit Walter Schulz zu befinden. Schulz spricht, im Rückgriff auf Schellings eigene Begrifflichkeit, von der „ursprünglichen ,Amphibolie', der ,Zweideutigkeit', in der die unmittelbare Potenz als Seiendes selbst und als Veränderliches erscheint" (Die Vollendung des deutschen Idealismus in der Spätphilosophie Schellings. 48).

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vier abschließenden Thesen deuten immerhin vielleicht an, wie von dem Vorgetragenen aus zur Interpretation und Kritik der positiven Philosophie fortzugehen wäre. 1. Ihre vorherrschende Tendenz schreibt der positiven Philosophie eine Bewegung vor, die nicht von dem aus seiner Verborgenheit hervorgetretenen „Seyenden selbst" ausgeht, sondern vom „bloß Existirenden". Aus der Bewegung der negativen Philosophie, der Elimination aller Potentialitäten, zieht die positive, soweit sie unter der Herrschaft dieser Tendenz steht, die Konsequenz eines begrifflosen Anfangs bei einem Sein, das als das „ganz Idee-Freie" (XI 570) erst eigentlich positiv im Sinne SCHELLINGS ist, nämlich im Sinne einer puren, negationslosen Positivität (vgl. XIII 212). Mit dieser Schlußfolgerung vollzieht SCHELLING auch erst die Scheidung der beiden Philosophien, und dies so, daß er die im Ansatz der reinrationalen Philosophie noch festgehaltene Einheit von Vernunft und Wirklichkeit aufkündigt. Die im Grunde des Denkens erfahrene, immanenttranszendente Wirklichkeit gerät zum „absolut außer dem Denken befindlichen Seyn", zu einer Wirklichkeit, die SCHELLING nun undialektisch als „schlechterdings transscendente" bezeichnet (XIII127). Xavier TilUette hat in der Diskussion gegen meine Kritik des Ausgangs der positiven Philosophie von einer puren, negationslosen Positivität eingewandt, daß das bloß Existierende für Schelling aus dem Zusammenspiel der ontologischen Potenzen des Seinkönnenden, des rein Seienden und des Seinsollenden hervorgehe. In der Tat besitzt es insofern — diese Unterscheidung wurde von TilUette vorgeschlagen — zwar ein reines, aber kein blindes Sein. Indessen geht es mir ja nicht um eine eindeutige Festlegung der positiven Philosophie auf die Faktizität des factum brutum, sondern im Gegenteil um die Enthüllung ihrer Zwiespältigkeit. Zwiespältig ist aber desgleichen Schellings ontologische Potenzenlehre. Ist er sich doch gar nicht sicher, ob er die Potenzen dem Seienden selbst zumuten darf. Die Einleitung in die Philosophie der Mythologie rechnet sie dem bloß „Seyenden" zu und nicht dem, „was das Seyende ist"; die drei Potentialitäten des Subjekts, des Objekts und des SubjektObjekts sind danach durchaus noch Gegenstand der Vernunftwissenschaft. 2* W. Schulz interpretiert auch diese Transzendenz noch paradox-dialektisch. Er bemerkt, daß „sie die Transzendenz der Vernunft ist: die umgekehrte Vernunft als das reine transzendente, d. h. undenkbare Sein ihrer selbst". Und weiter: „Diese Transzendenz ist eine neue Unmittelbarkeit, in der sich die Vernunft zu ihrem Inhalt befindet, die Unmittelbarkeit, in der sie sich als reines Absolutum immer schon entgegensteht" {Die Vollendung des deutschen Idealismus in der Spätphilosophie Schellings. 67). Den Fortgang deutet Schulz als Vermittlung dieser Unmittelbarkeit: „Die Vernunft hebt in dieser Vermittlung die Unmittelbarkeit, die zwischen ihr und dem notwendig Seienden gewaltet hatte, auf (cf. 67), indem sie es vom Denken ablöst durch die Anerkenntnis seiner Selbstvermittlung" (72). Es gibt m. E. nur diese beiden Interpretationsmöglichkeiten: entweder wie Schulz eine dialektische Einheit herauszuarbeiten, die Schelling selber nicht auszudrücken vermag, oder in der Fortsetzung der Arbeit von Jürgen Habermas {Das Absolute und die Geschichte. Von der Zwiespältigkeit in Schellings Denken. Diss. Bonn 1954) wie oben die Voraussetzung einer wesentlichen Ambivalenz des Ansatzes der positiven Philosophie zu machen.

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Wer den Wahrheitsgehalt in SCHELLINGS Spätphilosophie retten will, muß die Einheit des Positiven und des Negativen vor deren Trennung schützen. Er kann sich dabei auf SCHELLINGS eigene Bemühungen berufen, den Unterschied von negativer und positiver Philosophie so zu fassen, daß zugleich deren Zusammengehörigkeit sichtbar wird. Dem Versuch einer Freilegung der die beiden Philosophien übergreifenden Einheit widmet ScHELLiNG die ganze Schlußvorlesung seiner Einleitung in die Philosophie der Offenbarung (XIII 147—174). Das hermeneutische Problem, das dieser Text aufgibt, ist freilich, daß die Zwiespältigkeit der positiven Philosophie, in die er gehört, fast ununterscheidbar macht, was Ausdruck von SCHELLINGS tatsächlicher Denkpraxis und was nur verbale Versicherung ist. Verläßlicher scheint demgegenüber die in der Einleitung zu den Mythologie-Vorlesungen spürbare Intention, schon die negative Philosophie auf einen Begriff zu bringen, welcher der abwesenden Anwesenheit des Seienden selbst in der unendlichen Seinspotenz entspricht. Weil das „Positive" selber das eigentlich Seiende in der Negativität der unendlichen Seinspotenz ist, kann SCHELLING hier auch von der positiven Philosophie in ihrem Verhältnis zur negativen sagen: „Die positive ist es, die ... in der negativen eigentlich ist, nur noch nicht als wirkliche, sondern erst als sich suchende" (XI 564/5). Demgemäß entsteht, „sobald der Begriff der ersten Wissenschaft da ist, auch schon der Gedanke einer zweiten, welche das Princip (Gott) nicht bloß als Princip, sondern zum Princip hat" (XI 366/7). Indem aber die negative Philosophie dergestalt auf die positive hin transparent wird, verliert diese den Schein ihrer Selbständigkeit. Ja, als Gegenstand der Vernunftwissenschaft enthüllt sich die Totalität, in der die ihr und der positiven Philosophie primär zugeordneten Momente immer schon aufgehoben sind: „es wird, sage ich, Princip dieser Wissenschaft weder das eigentliche Princip, das als solches erst zu erkennen ist, noch allerdings auch das bloße Seyende seyn können, wohl aber das Ganze als Gleichmöglichkeit (Indifferenz) von beiden" (XI 366). Ungeachtet dessen hat SCHELLING die positive Philosophie von der negativen nicht nur unterschieden, sondern auch getrennt und zu einer abstrakt selbständigen Wissenschaft hypostasiert. Die Meinung, sie „könnte möglicherweise rein für sich anfangen" (XI 564) hat in dieser Hyposta2.

Diese Meinung vertritt Schelling auch in seiner Einleitung in die Philosophie der Offenbarung. Dagegen scheint zwar der Satz zu sprechen: „Erst die recht verstandene negative Philosophie führt die positive herbei, und umgekehrt die positive Philosophie ist erst gegen die recht verstandene negative möglich." (XIII 80) Doch berichtigt Schelling an einer späteren Stelle die Bedeutung, die man dem Satz, nimmt man ihn für sich, zu geben geneigt ist: „In ihrem Ende enthält die

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sierung ihren Grund. Die Kritik der Trennung von Positivem und Negativem wendet sich gegen die solchermaßen von der Vernunftwissenschaft abgetrennte positive Philosophie selber und erinnert SCHELLING an die Einsicht, die er einmal selber ausgesprochen hat: „Jede Philosophie, die nicht im Negativen ihre Grundlage behält, und ohne dasselbe, also unmittelbar das Positive, das Göttliche erreichen will, stirbt zuletzt an unvermeidlicher geistiger Auszehrung." (X 176) Die Kritik hätte des näheren zweierlei zu zeigen: daß eine verselbständigte Wirklichkeitswissenschaft sich in sich selbst verstrickt und daß sie die Aufgabe verfehlt, die ihr der Anspruch der ScHELLiNGschen Spätphilosophie im ganzen vorschreibt. 3. Die positive Philosophie verstrickt sich in sich selbst, weil sie ihren Ansatz bei der begrifflosen Positivität des bloß Existierenden nicht durchhalten kann. Ihre Absicht zielt auf eine Umkehrung des überkommenen Gottesbeweises: Nicht die Existenz Gottes ist zu erweisen, sondern die Gottheit des bloß Existierenden. Diese Absicht zeichnet auch die Figur der Bewegung vor, welche die positive Philosophie beschreiben soll. Die Umkehrung des überkommenen Gottesbeweises bedeutet zugleich, daß sich im Übergang von der negativen zur positiven Philosophie die Bewegungsrichtung des Denkens selber umkehrt. Die Umkehrung dieser Richtung läßt sich an SCHELLINGS Versuch ablesen, negative und positive Philosophie als „Apriorismus des Empirischen" und „Empirismus des Apriorischen" zu unterscheiden (XIII 130). Auf den ersten Blick kann diese Unterscheidung nur verwirren. Unterschlägt sie doch die von SCHELLING selber angebrachte Differenz zwischen dem absoluten Prius, als das allein negative Philosophie selbst die Forderung der positiven, und allerdings die ihrer selbst bewußte, sich selbst ganz verstehende hat das Bedürfniß die positive außer sich zu setzen; in diesem Sinne könnte man sagen, daß die negative die positive ihrerseits begründe, aber nicht umgekehrt hat die positive ebenso das Bedürfniß von ihr begründet zu werden." (XIII 92) Die Behauptung, derzufolge die positive Philosophie gleichwohl erst gegen die recht verstandene negative möglich sei, ist so zu verstehen, daß diese Philosophie in der historischen Situation, in der sie faktisch hervorgetreten ist, solange unmöglich war, als die Vernunftwissenschaft noch ihren Anspruch auf Positivität aufrechterhielt, und insofern die Besinnung der Vernunftwissenschaft auf ihre Negativität zur Voraussetzung hatte. Darin liegt: Grundsätzlich kann sie auch „rein für sich anfangen". Schellings ungeschützte Formulierung weist darauf hin, daß sich seine Wesensbestimmung der positiven Philosophie, die ja eine philosophia secunda sein soll, an seiner historischen Situation ausrichtet. Als „geschichtliche Philosophie" (XI 571) ist die positive auch mit Rücksicht auf ihren geschichtlichen Kontext konzipiert. Von den zahlreichen Stellen, an denen Schelling diese Absicht kundgibt, sei hier nur XIII 159 angeführt: „Ich kann also zwar nicht vom Begriff Gott ausgehen, um Gottes Existenz zu beweisen, aber ich kann vom Begriff des bloß unzweifelhaft Existirenden ausgehen, und umgekehrt die Gottheit des unzweifelhaft Existirenden beweisen."

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das Seiende selbst zu gelten hat, und dem bloß relativen Prius der unendlichen Potenz des Seins. Ihr verborgener Sinn ist aber der, daß negative Philosophie das Empirische, das in der Welt vorkommende Sein, im Horizont der unendlichen Seinspotenz thematisiert, während positive Philosophie das Seiende selbst im Horizont des Empirischen zum Thema hat. Maßgeblich für die Unterscheidung von Apriorismus und Empirismus ist also nicht das jeweilige Thema, sondern der Horizont, in dem es erscheint, nicht das objectum materiale, sondern das objectum formale. Obwohl der unmittelbare Gegenstand der positiven Philosophie das Seiende selbst und nur das Seiende selbst ist, also das absolute Prius und damit, in der nivellierenden Sprache des Textes, das Apriorische, ist sie doch Empirismus, weil sie es vom empirischen Faktum der Welt her betrachtet. Negative Philosophie geht von der Welt aus und auf den Begriff des Seienden selbst zu; positive Philosophie geht vom Seienden selbst als dem bloß Existierenden aus und auf die Welt zu, um aus ihr die Gottheit des bloß Existierenden zu erweisen. Um eine Umkehrung der Bewegungsrichtung handelt es sich dabei auch insofern, als positive Philosophie hiermit nicht mehr wie die negative regressiv, sondern progressiv verfährt. Sie geht nicht in den Grund zurück, sondern schreitet in der Ausbreitung des Reichtums der empirischen Welt voran. Denn Welt ist für den späten SCHELLING Geschichte; und diese ursprüngliche Welt-Geschichte, von der die Weltgeschichte nur einen Teil darstellt, ereignet sich als ein zur Stunde noch unabgeschlossener Prozeß, als das aktuell prozessierende Weltgeschehen, das in die Weite offener Zukunft hinausläuft. Der Erweis der Gottheit des bloß Existierenden ist „ein durch die gesammte Wirklichkeit und durch die ganze Zeit des Menschengeschlechts hindurchgehender . .., der insofern nicht ein abgeschlossener, sondern ein immer fortgehender ist und . .. in die Zukunft unseres Geschlechts hinausreicht" (XI 571). Allein, in SCHELLINGS Durchführung seiner Absicht, den überkommenen Gottesbeweis umzukehren, kehrt sich die Umkehrung ihrerseits wieder um; positive Philosophie fällt zurück in einen ganz traditionellen „Beweis der Existenz der über dem Seyn waltenden Macht" (XIII 132), der „Existenz des persönlichen Gottes" (XI 571). Zu dem Rückfall kommt es, weil SCHELLING dem angeblich „bloß Existirenden" im vorhinein die Göttlichkeit zusprechen muß, die nach seiner Terminologie erst „per posterius", durch die sogenannte „Folge" der faktisch bestehenden Welt, erwiesen Schellings Anerkenntnis einer noch unabgeschlossenen und prinzipiell offenen Zukunft betont mit Recht Walter Kasper: Das Absolute in der Geschichte. Philosophie und Theologie der Geschichte in der Spätphilosophie Schellings. Mainz 1965.

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werden soll. Denn wenn SCHELLING auch bemüht ist, in seinen Ansatz nicht schon die Vorstellung einfließen zu lassen, daß aus dem bloß Existierenden notwendig eine solche Folge hervorgehe, so setzt er doch ausdrücklich voraus: „es kann eine solche Folge haben, wenn es will" (XIII 129), und indem er dies voraussetzt, schleust er in das „absolute Prius" eine mit Willen begabte Persönlichkeit ein. Die positive Philosophie widerruft so durch ihren eigenen Gang die aus der Trennung des Positiven und des Negativen entsprungene Unterscheidung, wonach Gott nicht eine res naturae, nicht Sache des Denkens ist, sondern nur eine res facti (XIII 128), ein Faktum, dessen Faktizität SCHELLING aus der Tatsache der Welt glaubt herleiten zu können, obwohl er sie in Wahrheit von Anfang an angenommen hat, nämlich als Implikation seiner Deutung der Welt als einer Folge, die er des näheren als Folge aus Gott und damit als Schöpfung versteht 4. Daß die positive Philosophie die unvordenkliche Wirklichkeit auf bare Positivität reduziert, das macht ihren von CONSTANTIN FRANTZ bis HANS JöRG SANDKüHLER beklagten Positivismus aus. Ihre positivistische Tendenz zielt auf ein Ende des spekulativen Idealismus, das keine Vollendung mehr ist. Im Verfolg dieser Tendenz verfehlt sie mithin die Aufgabe, die ihr der Anspruch der ScHELLiNGSchen Spätphilosophie im ganzen vorschreibt: die Aufhebung des Idealismus. Eine solche Aufhebung kann auch sie nur unter den Bedingungen leisten, welche die Theorie der negativen Philosophie erfüllt: Sie muß den Idealismus in der Reflexion seines eigenen Ansatzes über sich hinausführen und ihm in der Ferne zugleich ganz nahe bleiben. Das vermochte sie nur. Vgl. XIII 129 f und insbesondere XIII 130 Anm. 1, wo Schelling den Begriff der Welt ohne weiteres mit dem der Folge gleichsetzt. — Zu retten wäre die Methode der positiven Philosophie nur, wenn man sie im Blick auf einige Formulierungen, die dies durchaus nahelegen, nach dem Muster des dreistufigen Verfahrens deuten dürfte, das Heidegger in Sein und Zeit wählt, indem er die anfängliche Explikation eines Vorbegriffs, den er im weiteren an phänomenalen Befunden ausweist, in einer abschließenden ontologischen Interpretation gleichsam einholt. Entsprechend könnte man sich denken, daß Schelling in der Anschauung des Seienden selbst einen Vorbegriff Gottes entwirft, mit dem er an das faktische Material der Welterfahrung herangeht, um daraus den vollentfalteten Gottesbegriff zu gewinnen. So sieht W. Schulz auf dem Grunde des Textes das „Schema eines hypothetischen Vorentwurfes und seiner Bestätigung" (Die Vollendung des deutschen Idealismus in der Spätphilosophie Schellings, 77). Aber eine solche Deutung würde erst gar nicht die Voraussetzung mitmachen, die hier in Frage steht: daß begrifflos vom bloß Existierenden auszugehen sei. Vgl. Constantin Frantz: Schellings positive Philosophie. Göthen 1880. 177 i-, Herbert Marcuse; Vernunft und Revolution. 2. Aufl. Neuwied/Berlin 1962. 283 ff; HansJörg Sandkühler: Freiheit und Wirklichkeit. Frankfurt/M. 1968. 242. 2’ Vgl. dazu meinen Aufsatz: Die Aufhebung des Idealismus in der Spätphilosophie Schellings. In: Philosophisches Jahrbuch. 83 (1976).

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insoweit sie im Gegenzug gegen ihren heimlichen Positivismus den Anfang der Vernunftwissenschaft in sich selbst vertiefte. Denn allein dadurch war die erforderliche Einheit von Nähe und Ferne im Verhältnis zu SCHELLiNGs Grundmodell des Idealismus gewährleistet, zur Hegelschen Logik. Nahe blieb die Vernunftwissenschaft der Hegelschen Logik, indem sie trotz aller schon in ihr wirksamen Trennungen doch noch so etwas wie eine Einheit des Positiven und des Negativen zugrunde legte. Denn diese Einheit ist das durchgehende Thema der Hegelschen Logik. An der freilich ganz anderen Bedeutung, welche die Theorie der negativen Philosophie nicht nur der Einheit selber, sondern auch ihren Momenten gibt, ließe sich vielleicht am genauesten ermessen, wieweit sie sich zugleich von der Hegelschen Logik entfernt. Am augenfälligsten wird die Entfernung an der unterschiedlichen Zuordnung des Negativen zur Dialektik von Macht und Ohnmacht. In der Hegelschen Logik gewinnt das Negative in aller Ohnmacht die „ungeheure Macht", die ihm schon die Phänomenologie zutraut aus sich selbst, aus der Autonomie seiner Selbstbeziehung; nach ihrer kritischen Reformulierung durch SCHELLING hingegen ist das Negative für sich allein genommen nichts als ohnmächtig und ermächtigt nur durch das Positive. Wo die positive Philosophie ihren Auftrag erfüllt, greift sie genau diese Konstellation von Macht und Ohnmacht auf, und zwar so, daß sie sich durch die Radikalisierung beider Elemente von der Hegelschen Logik bis ins Unendliche entfernt, um in der unendlichen Ferne von ihr wieder mit ihr zusammenzutreffen. Indem die Vernunft aus sich heraustritt und vor der unvordenklichen Wirklichkeit verstummt, steigert sich ihre Ohnmacht ins Maximum. Eben in der Ekstase aber, in der sie scheinbar gänzlich in Unfreiheit versinkt, wird ihr die Macht einer nie gekannten, auch von Hegel nicht gekannten Freiheit zuteil: der Freiheit von sich selbst, die sie dazu ermächtigt, „in einem freien Denken Ln urkundlicher Folge" (XIII 129) die Geschichte zu erzählen, in der Gott sich offenbart Vgl. Hegel: Wissenschaft der Logik. Teil 1. 69 f. Hegel: Phänomenologie des Geistes. 29. Manfred Frank hat in der Diskussion darauf aufmerksam gemacht, daß die höhere Einheit des Positiven und des Negativen, welche die in der negativen und in der positiven Philosophie auf je eigentümliche Weise thematischen Einheiten übergreift und durch die beiden Philosophien hindurchgeht, eo ipso weder mit den Mitteln der einen noch mit denen der andern begreiflich werde. Hiermit ist, meine ich, der Grundmangel der Spätphilosophie Schellings bezeichnet: das Fehlen einer Wissenschaft, die auf die den beiden Philosophien gemeinsamen begrifflichen Grundlagen reflektierte. Nach W. Schulz erscheint der Begriff des freien Denkens „bei Schelling immer dort, wo das Denken von sich frei geworden ist" (Die Vollendung des deutschen Idealismus in der Spätphilosophie Schellings. 82).

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hat. ScHELLiNG destruiert die Freiheit, die im System der Notwendigkeit wesentlich schon erfüllt sein soll, um Platz zu schaffen für diese ganz andre Freiheit, die als Freiheit überhaupt mit dem Ziel der Hegelschen Logik übereinkommt, aber als Freiheit von sich selbst ins Offene einer nicht mehr systematisierbaren Geschichte hinübertritt.

HARALD HOLZ (BOCHUM, JETZT MÜNSTER)

DIE ABLÖSUNG DER TRANSZENDENZ, EIN ENDE ODER ANFANG? Einige Marginalien anläßlich der Spätphilosophie Schellings Das Thema, das ich hier behandle ’*■, richtet sich auf den weiten Umkreis der Spätphilosophie SCHELLINGS, und dies so, daß hinter der rein historischen Darstellung die Frage nach möglichen weiteren Implikationen oder systematischen Konsequenzen gestellt werden soll, die SCHELLING selber nicht mehr bedacht hat, die aber in seinem Denkansatz mitenthalten sind. ^ Gewiß schließt ein solches Verhalten dem Denken SCHELLINGS gegenüber bei allem Interesse an seiner Altersphilosophie zugleich auch die Distanz ein, die durch den erweiterten Interessenhorizont gegeben ist, der uns nun einmal von der philosophischen Situation des späten SCHELLING unterscheidet. Seine Spätphilosophie scheint jedoch in besonderem Maße, wie sich schon seit einigen Jahren zeigt, wegen bestimmter fundamentaler Fragen unser Interesse auf sich zu ziehen. ^ Die interessenbedingte Nähe und problemgeschichtliche Distanz zugleich sind es daher, die unser Verhältnis zu SCHELLING bestimmen. — Die Formulierung dieses Vortragsthemas selber zeigt nun eine Art Diagramm an für das, was soeben skizziert * Der Vortragstext wurde für die Drucklegung geringfügig erweitert sowie mit Anmerkungen versehen. Der Ductus der mündlichen Rede wurde im wesentlichen beibehalten. 1 Vgl. dazu V. Verf.: Spekulation und Faktizität. Zum Freiheitsbegriff des mittleren und späten Schelling. Bonn 1970. Bes. in der Einleitung 3 ff, 9 f. 2 So vgl. außer der in der vorigen Anm. genannten Arbeit noch IV. Schulz: Die

Vollendung des deutschen Idealismus in der Spätphilosophie Schellings. Stuttgart 1955, 2. Aufl. 1959; W. Kasper: Das Absolute in der Geschichte. Mainz 1965; X. Tilliette: Schelling. Une philosophie en devenir. 2 Bde. Paris 1970; außerdem die Hinweise in der Bibliographie des Sammelbandes: Schelling. Hrsg, von H. M. Baumgartner. Freiburg 1975. 191 f; ferner noch: H. Czuma: Der philosophische Standpunkt in Schellings Philosophie der Mythologie und Offenbarung. Innsbrudc 1969; E. Heintel: Philosophie und Gotteserkenntnis im Altersdenken Schellings. In: Wissenschaft und Weltbild. 7 (1954), 439—450; K. Hemmerle: Gott und das Denken in Schellings Spätphilosophie. Freiburg 1968.

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wurde: Es ist einmal die alte Gottesfrage, die im Anschluß an SCHELLING thematisiert werden soll; aber es ist zugleich eine Umformung dieser Frage zu einer Frage, die damit das Wesen und die Existenz des Menschen mit in den Mittelpunkt des Gefragten hereinnimmt; das macht uns heute die Position ScHELLiNGS angesichts dieses Themas interessant. Und dies rückt auch die gewiß sehr tief reichende Verschiedenheit unserer Frage nach einem Absoluten nun gerade in die Nähe zur entsprechenden Frage des späten Schelling. Wir haben m. a. W. die geistesgeschichtlichen Umbrüche, die der alte SCHELLING gelegentlich geahnt hat, mittlerweile in einer von ihm nicht vorausgesehenen Gründlichkeit hinter uns gebracht oder stecken noch mitten darin. Kurz und thesenartig zusammengefaßt, könnte man sagen, daß neben manchem anderen immer noch ein Thema der heutigen Philosophie, sofern sie sich überhaupt noch als Erbin der älteren metaphysischen Tradition versteht, die Ersetzung des alten transzendenten Letztprinzips — umgangssprachlich Gott — durch ein entsprechendes weltimmanentes Prinzip ist, wie auch immer dies letztere gefaßt sein mag. Daran arbeitet, vereinfacht gesagt, die Philosophie nun schon seit geraumer Zeit: Ich brauche darauf nicht weiter einzugehen, da darüber schon viel Kluges und Richtiges gesagt worden ist. ® — Ich meine nun, das Entscheidende daran ist, daß diese Problematik in sich die subtilere Frage enthält: nicht, ob überhaupt dieser Prozeß der ,Emanzipation' der Vernunft von einer unhinterfragten Transzendenz stattzufinden habe (oder wie immer man dies bezeichnen mag, was in der Philosophie mit DESCARTES begonnen hat und mit KANT und den Denkern des Deutschen Idealismus einen gewissen Höhepunkt erreicht hat); sondern die Frage ist allein, wie er stattzufinden habe. D. h. genauer, es ist damit die Frage gestellt, ob beispielsweise mit der Ersetzung gewisser funktionaler Letztinstanzen zugleich auch die gesamten metaphysischen Inhalte ausgewechselt werden müssen. Also z. B. hinsichtlich der uns hier interessierenden Frage geht es darum, ob mit der Übernahme gewisser prinzipieller Funktionen durch den Menschen die alte Transzendenz in ihrer Kompetenz gewissermaßen gänzlich ortlos und damit sinnlos würde, oder ob nicht u. U. hier nur eine Auswechslung funktionaler Subjekte bei gleichbleibendem und fortdauerndem funktionalem Gesamtkontext stattgefunden hat und noch stattfindet. Solche funktio® Dazu vgl. im Rahmen dieses Themas etwa H. U. v. Balthasar: Die Gottesfrage des heutigen Menschen. Wien/München 1956; tV. Schulz: Der Gott der neuzeitlichen Metaphysik. 3. Aufl. Pfullingen 1957; H. de Luhac: Über die Wege Gottes. Freiburg 1598; 7. Collins: God in modern philosophy. London 1960. — Zur Begriffsgeschichte vgl. 17. Dierse / F. Wagner in: Hist. Wörterbuch d. Phil. Bd 3. Bes. 783—798, 801—808,

811—814.

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nalen Kontexte sind z. B. Selbstbestimmung des Lebens, des Denkens und Handelns im weitesten Sinn nach Maßgabe der Vernunft, d. h. nach einem sich prinzipienhaft kritisch und konstruktiv verfassenden Denken. Für ein sog. unmittelbares, gegenständlich artikuliertes Wirken Gottes im intramundanen Bereich wäre dann kein Raum. Noch anders gesagt, wäre damit die Frage, ob die radikale Beseitigung einer Transzendenz, die irgendwelche Kompetenz für sich beansprucht, und sei es auch nur ihrem Begriff nach, oder aber ob Sublimierung des Transzendenzverhältnisses des Menschen eine befriedigendere Lösung für uns sein kann, wenn und sofern bestimmte Funktionen jener Transzendenz von uns übernommen worden sind. Diese Sublimierung hätte dann allerdings für beide Seiten dieses Verhältnisses zu gelten. ^ Diese Alternative soll für jetzt nicht weiter diskutiert werden; aber einmal angenommen, eine derartige Sublimierung werde dem sachlichen Problem besser gerecht, so erhebt sich die Frage, in welcher Gestalt denn nun besagtes Verhältnis neu entworfen werden könne, ohne daß damit dem Selbstbehauptungs- und Selbstvollziehungswillen des Menschen Eintrag geschähe. Es möchte sein, daß uns nun gerade in dieser so gestellten Frage SCHELLING, wie gesagt, mit seiner Altersphilosophie und den darin implizit enthaltenen Denkanstößen einen nicht unwichtigen Schritt weiterbringen kann. Ich muß daher im Zusammenhang des bisher formulierten Problems zunächst etwas auf den Gottesbegriff oder besser: auf die Gottesfrage im Kontext seiner Spätphilosophie eingehen. Zweifellos ist dies die zentrale Frage dieser Philosophie. Daß es trotzdem zugleich in diesem Denken ebensosehr um den Menschen geht, wird sich noch zeigen. — Gott ist in der ScHELLiNGschen Spätphilosophie in doppelter Weise Gegenstand des Fragens, einmal innerhalb der sog. negativen Philosophie, die von ihm selbst auch als „rein rational" gekennzeichnet worden ist, und zum anderen in der sog. positiven Philosophie, die bei ihm ungefähr diejenige Stelle vertritt, die in den früheren metaphysischen Systemen, etwa der mittelalterlichen Scholastik und der frühen Neuzeit, die eigentliche Theologie innegehabt hat. ® ^ Diese Frage bestimmt sich somit näher als (unvollständige) Alternative von Atheismus oder einer Religion der Weltimmanenz. Die letztgenannte Möglichkeit kann dann wiederum teils (eingeschränkt) atheistisch, teils pantheistisch, teils auch eigentlich theistisch konzipiert werden, wobei hier auf genauere begriffsspezifische Differenzierungen verzichtet werden soll. Nur mit der zuletzt genannten Möglichkeit beschäftigen sich diese Überlegungen. ® Der Verf. stützt sich hier vor allem auf die Arbeiten von W. Kasper und fV. Schulz (vgl. oben Anm. 2) sowie auf den 2. Teil der eigenen Arbeit über Schelling (vgl. oben Anm. 1), bes. das V. und VI. Kapitel.

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Gott als Gegenstand der negativen Philosophie besagt die letzte Möglichkeit der Vernunft, auf ihre ureigenen Fragen Antwort zu finden, auf Fragen also, die an ihrer Eigenstruktur und der eigenen Leistungsfähigkeit als Vernunft ursprünglich ansetzen. Alle möglichen Antworten sind somit schon von vornherein als in einem Horizont apriorischer Begrifflichkeit geltend entworfen. Nun ist freilich auch diese als Letztprinzip relevante Vernunft für SCHELLING keineswegs etwas wiederum bloß Gedachtes, etwas, das nominalistisch gleichsam als im Letzten beliebige Vorstellung in einer Art von leerer Begriffssphäre, also sozusagen axiomatisch, fungieren würde. Vielmehr hat diese Vernunft als Prinzip durchaus einen realistischen Stellenwert, einen realistischen Bewertungsrang, jedoch darin eben wiederum als eigentliche Vernunft, die von sich aus das Allgemeine, nämlich Formen und Begriffe apriori, thematisiert. — Der äußerst mögliche und schlechthin umfassende Begriff von seiten ihres Gegenstandes, und zwar nicht nur dem Begriffsumfang, sondern auch gerade der Inhaltlichkeit nach, ist nun hier der Begriff Gottes. Er ist von seinem begrifflichen Gehalt her das, was selbst noch einmal die schlechthin absolute Voraussetzung der Möglichkeit nach für die gesamte Operabilität der Vernunft in sich schließt. — D. h. sodann, daß einerseits die Vernunft zwar vollkommen autonom in ihrem Leistenkönnen ist, daß sie andererseits aber im letzten Woraufhin und Umwessent-Willen eben dieses ihres Leistenkönnens an eine Voraussetzung gebunden ist, die über sie selbst hinausgeht. Insofern ist Gott dann als „unvordenklich" bestimmt und auch als „Sein", das allem Denken und Gedachtwerdenkönnen vorangeht. Dies aber wird in dieser Weise notwendig gedacht aufgrund der Denkstrukturen, der Denknotwendigkeiten von Vernunft überhaupt. Insofern ist dies Denken also durchweg „rational". — Zugleich aber zeigt sich die Grenze dieses Denkens darin, daß hier eben doch letztlich immer nur ,gedacht' wird; auch das Sein als „unvordenklich" wird letztlich noch einmal zunächst begrifflich erschlossen; und so ist auch noch der mögliche prinzipale Endpunkt dieses Denkens ein Gedachtes, Gott ist nur begrifflich zureichend bestimmt: als rein durch Denken begriffener Gott, in seiner Prinzipienfunktion für alles mögliche Denken ®, auch wenn dies sich gerade in seinem prinzipialen Leistenkönnen problematisch wird. Die positive Philosophie geht darüber noch einen Schritt hinaus. Die Vernunft in der Tendenz, ihre eigene Negativität gegenüber der Wirklichkeit an sich als bloße Begrifflichkeit zu negieren, gelangt über das ® Vgl. dazu die Ausführungen bei IV. Schulz 192 ff; W. Kasper 111 ff; H. Holz

350 ff, 355 ff.

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Reich reinen notwendigen Denkens hinaus in den Bereich wahrer und genuiner Wirklichkeit: Diese ist einerseits durch ihr Negativ-Verhältnis zur genannten Begrifflichkeit charakterisiert; andererseits bestimmt sich eben dadurch auch die innere Möglichkeit einer gewissermaßen transempirischen Erfahrung — hier berühren wir den Bereich personaler Existenzialität —; und endlich geschieht dieser Schritt selbst methodisch in der ihm allein angemessenen Gestalt: Der Übergang von der negativen zur positiven Philosophie und dem entsprechenden Gottesbegriff vollzieht sich, wie angedeutet, durch einen SCHELLING eigentümlichen „Gottesbeweis". — Die innere Struktur dieses Beweises zeigt in nuce alle Abschattungen und Facettierungen dieser Doppelansicht von Philosophie. Als Beweisstruktur zeigt er in sich das Schema des sog. ,ontologischen Beweisganges'. Ohne für jetzt auf eine ausführliche Bewertung einzugehen, zeigt er in seinem Schlußfortgang genau das, was ein solcher Beweisgang immer zu leisten versucht hat: Es wird von einer kontingenten Vemunftbestimmung, in welcher diese Vernunft als prinzipial wirkliches Denkvermögen fungiert, als Ausgangspunkt geschlossen auf die notwendig zu fordernde Entfaltung dieses Ausgangspunktes in einem absoluten Prinzip als Endpunkt; dabei muß dieses Endprinzip seiner Eigenbestimmung nach gerade die Beschaffenheiten und Bestimmungen des Absoluten in schlechthin vollkommener Form verwirklichen. So gelangt SCHELLING dann zur eigentlichen Bestimmung Gottes als des sich selbst: aus sich selbst, vollkommen vermittels seiner selbst setzenden und bestimmenden — und genau gesehen: sich immer schon gesetzt und bestimmt habenden — Grunds. Das aber ist dann Etwas, das allein einigermaßen zureichend nur durch den Begriff des Willens wiedergegeben werden kann. D. h. also dann, daß Gott als das absolute Letztprinzip schlechthin sachlich vor dem Denken, aber auch noch vor dem Letztprinzip des Denkens erscheint, sofern sich dies auf Gott selber hinwendet, nämlich vor dem Sein: Gott ist so Endpunkt des Denkens, und er ist Ausgangspunkt und „Herr" des Seins, und dies kraft eigener Machtvollkommenheit. — Es sind also zwei Perspektiven, denen gemäß er erfaßt werden kann, die sich zueinander komplementär verhalten, von denen aber die zweite doch ein inneres Rangübergewicht hat. D. h. für SCHELLING, Gott ist zugleich, wenn auch in verschiedener Hinsicht, apriori und aposteriori erkennbar: das eine Mal im Raum des sich selbst gemäßen Denkens, das andere Mal im Raum der durch Willen gesetzten und bestimmten Wirklichkeit. Das eine Mal ist damit der Bereich der philosophischen Spekulation (im engeren Sinn), das andere Mal der Bereich der geschichtlichen Tatsächlichkeit als Zugangs-

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medium abgesteckt. Allerdings ist von SCHELLING damit eine eigentlich auf Transzendenz bezogene Geschichte gemeint. Der strukturelle Boden dieser Geschichte ist nicht primär die alltägliche sinnenhafte Erfahrung, sondern eine Sphäre von Willensbezügen zwischen verschiedenen willentlich und frei sich verhaltenden Subjekten. Dabei müssen eben aufgrund der Wesensform der menschlichen Subjekte solche Willensbezüge sich wiederum geschichtlich darstellen, einverleiben, gewissermaßen ,inkarnieren'. — Hier liegt der Zugang des späten SCHELLING ZU einer neuen, revidierten Sicht des traditionellen Christentums. ’’ Mit dem Begriff des Willens, der schlechthin subsistent als er selbst prinzipial fungiert, erledigt sich dann übrigens auch das Problem der Schöpfung für SCHELLING relativ leicht: Ein derartiger Wille, wenn und sofern er nur streng als solcher in seiner unendlichen Absolutheit und ,Primordialität', d. h. Unvorgreiflichkeit gedacht wird, verliert ex definitione nichts, wenn er z. B. irgend etwas ,außer sich' will und dann setzt. Es ist ihm sozusagen ein unendlicher Überschuß an ihm selbst eingefaltet. Umgekehrt ist hier auch der Zugang zu der SCHELLING eigentümlichen transphysischen und dennoch aposteriorischen Auffassung von Geschichte zu suchen. Wenn also Gott in dieser Weise als schlechthin übervemünftig und vorvernunftlich gedacht wird, so doch nicht widervemünftig. Hier liegt zweifellos ein gewisses Paradoxon der ScHELLiNGSchen Prinzipienspekulation vor; doch soll darauf für jetzt nicht mehr eingegangen werden. Wichtig ist, daß SCHELLING unter dem Begriffstitel des reinen selbstbestimmenden Willens Gott hinsichtlich seiner angemessenen Eigenbestimmung notwendigerweise als Individuum denkt, als Person bzw. sogar als ,Persönlichkeit'. Es ist dies freilich ein Individuum, das zugleich als Prinzip von allem auch dies Alles in sich prinzipial enthält: Als Einzelwesen ist Gott so actualiter und apriori, nämlich als der umfassende und ausschöpfende Grund, Allem voraus. — Im Gegensatz dazu befindet sich der ARISTOTELische Nus poietikös, der gewissermaßen im Nachhinein Alles zu werden vermag. Diesen Begriff gerade als treffendste Charakterisierung menschlicher Verstandeserkenntnis anzuwenden, zögert SCHELLING nicht. Stichwortartig und etwas vergröbert könnte man auch sagen, Gott ist transzendent, der Mensch aber transzendental schöpferisch. ® ’’ Erheblich treffender als z. B. K. Hemmerle hat W. Kasper derartige Gesichtspunkte herausgearbeitet: vgl. dort etwa § 9—16 (in TI II und III), bes. 209 ff, 216 ff, 287—315. ® Diesen Aspekt teils transzendentaltheoretisch, teils metaphysisch begründet herausgearbeitet zu haben, rechnet Schelling sich selbst als spezifisches Verdienst zu; zugleich ist dies auch Bestandteil seiner späten Hegelkritik. Vgl. dazu etwa H. Holz,

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Aus dieser prinzipiellen Konzeption hat nun SCHELLING selber eine etwas eingeengte Konsequenz gezogen: Grundsätzlich ergibt sich daraus die Möglichkeit einer umfassenden Partner schuf tlichkeit auf gleicher Ebene, die gleichwohl der Rangverschiedenheit beider Pole keinen Eintrag tut. D. h. Gott und Mensch handeln gemeinsam in einer gemeinsamen Geschichte, allerdings mit verschiedenen Rollen, mit verschiedenen Beweggründen, mit verschiedenen Folgen usw., aber doch letztlich in all diesem als echte, genuine Partner. — Einschränkend muß jedoch sofort gesagt werden, daß ScHELLiNG eben dieses Verhältnis gewissermaßen nur idealtypisch denkt: Er wendet es im strengen Sinne nur auf einen exemplarischen Fall an. Der exemplarische Fall ist für SCHELLING nun bekanntlich nächst dem Menschen, der den Abfall von Gott vollzieht, der Stifter der christlichen Religion. Er bildet für SCHELLING das alle wesentlichen Züge der besagten Partnerschaft ausschöpfende Muster. Für das Verhältnis von Mensch und Gott braucht es dann grundsätzlich keines weiteren Ansatzes. ® — Darin liegt gewiß auf der einen Seite eine tiefgreifende Korrektur eines Großteils der christlichen Dogmatik; und diese scheint allerdings wiederum davon nur vereinzelt Kenntnis genommen zu haben. Auf der anderen Seite zeigen sich hier jedoch auch Punkte, zu denen wir uns nur kritisch verhalten können, auch und gerade dann, wenn man einmal das zentrale Anliegen SCHELLINGS ernst nimmt. So könnte man gegen diesen Entwurf einwenden — was allerdings hier wiederum nur stichwortartig geschehen soll —, daß sich in dieser Ausführung die Idee der Partnerschaftlichkeit eben doch nurmehr in gebrochener Weise zeigt: Es ist eben gerade nicht der Normalmensch in seiner alltagsgeschichtlichen Vielheit und Vielfalt, sondern ein einziges, herausgehobenes Individuum, das stellvertretend für alle stehen soll. Aber auch dies einmal als Möglichkeit zugestanden, so bleiben dann doch die Maßstäbe gerade für den 310 ff; mit Bezug insbes. bei Schelling: Sämtliche Werke. Hrsg, von K. F. A. Schelling. XI 289, 295 ff, 302 u. ö.; zur Hegelkritik vgl. noch XI 125, 133, 151 ff; zur Schöpfungslehre Schellings in diesem Kontext vgl. bes. XIII 263 ff (die ganze 13. und 14. Vorl.); dazu noch: H. Holz 380 ff. ® Vgl. dazu bei H. Holz im II. Teil das ganze V. Kapitel, bei Kasper §§ 13—16, bei Tilliette 435 ff. — Zur idealtypischen Reflexion auf den Stifter der christlichen Religion vgl. außerdem noch v. Verf.: Das Problem des vollkommenen Menschen bei Kant und Schelling. In: Kantstudien. 64 (1973), 336—362, bes. 347 f und 354 (Anm. 80 u. 81) mit Bezug z. B. auf: XIII 371. — Genauer differenziert sich diese Problematik noch einmal in dem Prinzipienentwurf der theoretischen Philosophie: Hier artikuliert sich dies Verhältnis als das von transzendentaler Prinzipiensphäre und deren eigentümlichem Transzendenzbezug; zum anderen bestimmt sich dies Verhältnis aus im Bereich der Grundlegung praktischer Philosophie: Hier thematisiert Schelling den betreffenden Wechselbezug, wie gesagt, in exemplarischer Weise.

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Repräsentationswert dieses Einzelnen im letzten zweifelhaft. — Es mag also sein^ daß hier doch noch, wenn auch in eigenartig verdeckter und gebrochener Weise, ein gewisses PLAXONisierendes Prinzipienschema im Hintergrund wirksam gewesen sein mag (wie man es einmal abgekürzt nennen kann). Das aber scheint den Wert und auch die eigentliche Verwertbarkeit dieser ScHEtuNGschen Konzeption für unsere Gegenwartsprobleme trotz aller Großartigkeit der Spekulation in Frage zu stellen. — Was uns gerade interessiert, ist ja der Einzelne nicht in einem solcherart durch dogmatische Prämissen schon prädisponierten Rahmen. Es wäre also gleichsam das humanistische gegen das dogmenreformierende Interesse (etwas überspitzt ausgedrückt), was unseren Standpunkt gegen denjenigen SCHELLiNGS absetzen würde. Trotzdem aber — das ist die These, die hier vertreten werden soll — enthält dieser ScHELLiNGsche Ansatz auch für unser heutiges Interesse einen noch ,ungehobenen Schatz' von Ideen und Anregungen, auf die wir schwer Verzicht tun dürfen. An dieser Stelle muß nun ein kurzer Blick geworfen werden auf die mannigfachen geistesgeschichtlichen Prozesse, die geschichtlich auf SCHEEUNGs Spätphilosophie gefolgt sind, damit dann der Gedankengang von einem neuen Ansatzpunkt aus fortgeführt werden kann. — Die ideengeschichtlichen Ablösungen, Überholungen, Depotenzierungen usw., durch welche sich das spätere 19. Jahrhundert ideell vom spekulativen Idealismus abgesetzt hat, sind ja bekannt; es genüge, hier nur einiges namentlich zu nennen. So läßt sich einmal die bekannte Linie über die LinksHEGELianer und FEUERBACH ZU K. MARX ziehen; eine andere Linie führt ebenfalls über Hegel und KIERKEGAARD zur dialektischen Theologie, in gewisser Weise auch noch zu K. JASPERS, HEIDEGGER und SARTRE; eine noch andere Linie zieht sich über NIETZSCHE und die spätere Kulturkritik in Die komplizierten Erörterungen über die Möglichkeit bzw. auch Notwendigkeit der stellvertretenden und zugleich konstitutiven Repräsentation einer ganzen Gruppe von Einzelnen innerhalb der Gattung durch einen Einzelnen (von eben diesen), — diese und ähnliche Überlegungen bilden einen großen Teil der Philosophie der Offenbarung; nähere Hinweise sowie auch Belege vgl. in der Literatur, wie sie zu Beginn der vorigen Anm. aufgeführt wurde. — Es ist allerdings richtig, daß Schelling selber versucht hat, einen allzu einseitigen exemplarismus-theoretischen Standpunkt durch die Einbeziehung gewisser Ansätze bei Aristoteles sowie des eigentümlich ,ökonomischen' Aspekts im Verhältnis ,Gott—Welt' zu kompensieren. Doch betrifft dies im ganzen gesehen mehr nur die Charakteristik bestimmter prinzipialer Momente innerhalb der primordialen Struktur des Absoluten — so etwa in bezug auf Begriffsmerkmale wie: Sein, Vollzug, Akt (actus), Potenzialität (Dynamis) u. ä. Die besondere Form von Geschichte, wie sie als „Heilsgeschichte" sich in diesem Zusammenhang als Vermittlungsbereich darstellt, könnte — im Blick auf die methodische Funktion des ,Schematismus' etwa in der Kantischen Philosophie — dann auch als ,Schema' dieses Absoluten charakterisiert werden.

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ihren mannigfachen Ausformungen — man denke etwa an SPENGLER oder FREUD — bis zur Gegenwart hin. Und so ließe sich noch manches nermen, doch soll das Genannte genügen. Man hat jedenfalls nicht zu Unrecht das 19. Jahrhimdert ganz gegen seine ,Verniedlichung' auf Epigonismus hin als einen, weltgeschichtlich gesehen, „großen Grabenbruch" bezeichnet. Indem man sich dieser Sicht anschließt, könnte man auch mit Bezug auf die Philosophie von einer ,ideentektonischen Verwerfung' sprechen, die von allergrößter Bedeutung ist. Das Entscheidende scheint einfachhin, wie schon anfangs gesagt, die Abdankung der Transzendenz zugunsten einer so bisher noch überhaupt nie dagewesenen Zentralstellung des Menschen und des Menschlichen zu sein. Der Deutsche Idealismus, zu dem wir auch den späten SCHELLING zählen, steht aber dann in unserem Bewußtsein heute zumindest vordergründig gesehen — einer tiefer eindringenden Sehweise dürfte sich der Sachverhalt anders darstellen — auf der anderen Seite dieser ideentektonischen Verwerfung. So erscheint für eine philosophische Unternehmung, die sich im wesentlichen auf solcherart aus unserem aktuellen Problembewußtsein entschwundene Philosopheme stützen wollte, als Gefahr, daß man (um im Balde zu bleiben) sein ideelles Haus gleichsam mitten auf einer tektonischen Kontinentalrandspalte aufbauen würde. Der erneute Zusammenbruch wäre dann nur eine Frage der Zeit. Nun sind derartige Bilder und Vergleiche auch immer nur von begrenztem Belang. Und gerade die Philosophie als Prinzipienwissenschaft ist noch weniger als andere gezwungen, sich unter das scheinbare Diktat der Geschichte zu beugen, so als ob ein tatsächlicher Ablauf auch schon ohne weiteres irgend etwas über das Wesen und die inneren Gründe bzw. Strukturen dessen, was da prozediert, aussagen würde. Innerhalb des Denkens gibt es keine eigentlichen Naturereignisse, denen wir gleichsam schütz- und wehrlos ausgesetzt wären, so daß es allenfalls nur noch darum gehen könnte, sich der herrschenden oder kommenden Strömung anzupassen, dem Weltgeist oder dem Gesetz der Geschichte sich einzuordnen usw. Gegen solche Irrlehren, mögen sie so verbreitet sein, wie sie wollen, sollte man sich auf die große Tradition des Selbstdenkens und des Selbstentscheidens stützen. ” Vgl. bei Schulz den 4. Teil (271—306) oder auch bei VJ. Kasper den § 18 (423 ff) sowie noch in dem erwähnten Sammelband (oben Anm. 2): O. Marquardt: Schelling, Zeitgenosse incognito (9—26); A. Pieper: Schellings Wirkung im Überblick (139—150). So etwa A, Mirgeler: Revision der europäischen Geschichte. Freiburg/München

1971. 9, 260 ff.

Es ist also nicht so, als ob der Fortgang geistesgeschichtlicher Prozesse einfachhin aus einer Kraft resultierte, welche die Entscheidungs- und Steuerungsmöglichkeiten

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Was uns möglich und in gewisser Hinsicht, wie ich glaube, für uns auch notwendig ist, ist demnach eine kritische Hinwendung und Anknüpfung an die Traditionen, von welchen auch der (bildhaft) erwähnte große ,Grabenbruch' selbst mit ausgegangen ist und die uns daher sogar in unserer Modernität, werdgstens mittelbar, noch mitbestimmen: Für unser Thema bedeutet eine solche kritische Anknüpfung aber dann, daß gerade das noch Lfnausdrückliche, das nurmehr linentfaltete, das nicht mehr in der Geschichte offen Thematisierte, uns interessieren sollte: D. h. genauer also: Es sollen uns die eigentümlichen weiterreichenden Konsequenzen bzw. bestimmte Extrapolationen dieser Philosophie angesichts einer neuen Problemstellung und somit in der Konfrontierung mit ihr beschäftigen, wie schon vorhin angedeutet. Das bedeutet aber nun zweierlei: Einmal wird man die ideen- oder besser geistes- und bewußtseinsgeschichtlich geschehene Ablösung und Ersetzung Gottes durch den Menschen, genauer: die Auswechslung eines theonomen durch einen anthroponomen Kosmos, nicht als gleichsam unabwendbares geistiges Naturereignis verstehen. Vielmehr zeigt sich darin eine Entwicklung, an deren Grund wie auch in deren Verlauf letztlich immer wieder auch die freie Entscheidung menschlicher Vernunft, menschlicher Rationalität wirksam gewesen ist und es noch ist. Insgesamt wird man so dies Gesamtereignis der Zentrierung um das Humanum bis in die letzten metaphysischen Verzweigungen als freie Tat, zwar nicht eines Einzelnen allein, aber doch einer Gemeinschaft von Freien ansehen können. Als diese Gemeinschaft kann man wohl, sehr verkürzt ausgedrückt, mit Fug und Recht die neuzeitliche abendländische Menschheit in ihrer selbstverantwortlichen Subjektivität ansetzen; — worauf aber jetzt nicht weiter eingegangen sei. der Einzelnen grundsätzlich und absoluterweise überstiege. Sofern auch ein solcher Anschein entsteht, ist er doch prinzipiell immer kontingent strukturiert. — Es ist heute freilich nicht überflüssig, in diesem Zusammenhang an die Binsenwahrheit zu erinnern, daß der Einzelne zugleich in seiner Entscheidungsfähigkeit als von den Umständen (im weitesten Sinn) bedingt und als frei anzusehen ist. — Vgl. dazu auch noch von der Sache her R. Vierhaus: Politische und Soziale Krisen. Zum Problem der Deutung historischer Prozesse. Vortrag gehalten auf der Jahresversammlung des Stifterverbandes der deutschen Wissenschaft 1975 in Essen. In: Wirtschaft und Wissenschaft. Heft 3. Essen 1975. 14—21. Vgl. dazu die auf Krisenfälle solcher Rationalitäts-Setzung hin orientierten Untersuchungen von H. Blumenberg; Die Legitimität der Neuzeit, 2. Aufl. Frankfurt 1974; ferner noch v. Verf.; Vom Mythos zur Reflexion. Freiburg 1975. Als Hinweis, in welcher Richtung hin dies zu verstehen ist, vgl. vom mehr philosophischen Standpunkt noch das oben Anm. 3 genannte Werk von W. Schulz: Der Gott der neuzeitlichen Metaphysik, sowie in geistesgeschichtlicher Sicht die Arbeiten von P. Hazard: Die Krise des europäischen Geistes. Hamburg 1939; Die Herrschaft

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Zum anderen ergibt sich daraus die Folgerung: Wenn und sofern dies so ist, ist die tatsächliche Gestalt dieses Prozesses der Ablösung und Ersetzung selbst grundsätzlich offen, d. h. auch korrigierbar, komplementierbar, kompensierbar, kurz: durch eine weiterführende entsprechende Herausstellung der inneren noch unausgeschöpften Korrelationen vervollkommbar. Da dieser ganze Prozeß durchaus noch nicht abgeschlossen, sondern weiter in Fluß ist, kann immer noch und grundsätzlich zu jeder Zeit dieser Ablauf mitgesteuert werden, — und dies auch, insofern es richtig ist, daß mit zunehmendem Fortgang gewisse Ablaufgesetzlichkeiten stärker und zwingender zu werden scheinen. Ich komme nun in der Wiederaufnahme des zu Anfang Gesagten zu gewissen Folgerungen: Inhaltlich würde das einmal ein grundsätzliches fa zu dieser Entwicklung, zu diesem epochengeschichtlichen Schritt der Ablösung und Ersetzung bedeuten: Und zwar als Affirmation zur funktional gleichen Strukturierung des Fundamentalvollzugs menschlicher Sinndeutung : D. h. wenn und sofern der Mensch in umfassender Rücksicht in die Prinzipienstelle eingerückt ist, die zu den Zeiten der klassischen Metaphysik Gott innegehabt hat — und ihr kann durchaus als einer ihrer letzten Höhepunkte SCHELLINGS Spätphilosophie zugerechnet werden —: So nimmt der Mensch ein ungeheures Feld der genannten theoretischen und praktischen Sinndeutung seines Lebens selbst als eigene Aufgabe in seine Hand. So ist ein sich immer noch rapide ausdehnender Bereich ehemals transzendenzbezogener Existenzialität durch die modernen Wissenschaften, durch die Technik, aber auch durch die Formen moderner aufgeklärter Politik, Wirtschaft usw. in eigene Vollmacht der Bestimmung übernommen worden. Und grundsätzlich scheint, theoretisch oder praktisch gesehen, dies erst dort ein Ende zu haben, wo auch das Universum, in dem wir leben, uns praktisch unzulänglich wird. Es liegt also ein praktisch unendlicher Prozeß vor inkraft einer proportional unendlichen Vollmacht. Dies hat dann die Konsequenz gerade für den Bereich des Humanen, daß eben auch dort der Mensch die ehemalige Prinzipienlunktion der der Vernunft. Hamburg 1949, ferner noch etwa außer dem in Anm. 12 genannten Werk A. Mirgeler: Geschichte Europas. 4. Aufl. Freiburg 1964, sowie E. RosenstockHuessy: Die europäischen Revolutionen. Jena 1931 (2. Aufl. 1931); D. de Rougemont: L'aventure occidentale de l'homme. Paris 1957; C. Curcio: Europa, Storia di un idea. Florenz 1958. — Des weiteren auch die Stichwortartikel ,Aufklärung' (F. Schalk / Th. Mahlmann in: Hist. Wörterbuch d. Phil. Bd 1. 620—635) und ,Fortschritt' (7. Ritter ebd. Bd 2. 1022—1059) auf den ungefähren Verstehenshorizont hin, der hier gemeint ist. Dies ist eine Möglichkeit, die sich uns heute zumindest anbietet. Die geschichtliche Wahrscheinlichkeit spricht allerdings dafür, daß sie nicht nur nicht entsprechend genutzt wird, sondern u. U. sogar ein tiefgreifender Rückfall stattfinden dürfte.

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transzendenten Letztinstanz übernommen hat: jedenfalls ist ihm diese Aufgabe unabweisbar gestellt. Was dies beispielsweise für die Themen einer weltweit herzustellenden und zu garantierenden Gerechtigkeit, einer damit verträglichen Freiheitsordnung, zusammen mit einer durch und durch auf die Dauer als menschlich zu bezeichnenden, auch und gerade materiellen, Lebensordnung bedeutet, beginnen wir heute langsam alle zu ahnen. — Und man stellt, sofern man sich den an der Tradition geschärften Blick bewahrt hat, mit Erstaunen fest, daß die ehemals sehr spekulativen Probleme, etwa eines Freiheitsausgleichs zwischen transzendentem Subjekt, also Gott, und dem Menschen, nunmehr auf einer inhaltlich veränderten Ebene in ihrer alten formalen Struktur und mit mindestens gleicher Dringlichkeit wiedererscheinen. Die soeben genannten Probleme sind aber nach wie vor metaphysische Probleme (um das alte, außer Kurs gekommene Wort einmal zu gebrauchen). Konnte man mit Recht als das Zentralthema der alten Metaphysik, zumindest in ihrer Spätphase, z. B. bei LEIBNIZ, das der Theodizee bezeichnen, so wird man als das Zentralthema dieses neuen Bewußtseins das einer Anthropodizee nennen müssen. — Auch auf diese Problematik soll jedoch für jetzt nicht näher eingegangen werden. Angesichts dieser Problemlage scheint mir aber nun durchaus eine große, ja vielleicht eine außerordentliche Chance zu bestehen, diesen genannten Bewußtseinsschritt in seinem weiteren Fortgang unter Ausklammerung bzw. sogar unter Berichtigung jener Zusatzbedingungen eines vielfältig gefärbten Sentiments, wie es die genannten Namen — NIETZSCHE, FREUD u. a. — verraten, weiterzubestimmen: Und zwar gerade in der Richtung einer Konzeption, welche die Einseitigkeiten, mögen sie in welcher Dialektik auch immer formuliert sein, vermeidet und statt dessen den Ausgleich, die Kompatibilität und Verträglichkeit, ja wagen wir es ruhig auszusprechen, die strukturale Harmonisierung des in dieser modernen Entwicklung Auseinander- und Gegeneinandergetretenen hervorbringt. SCHELLiNGS Spätphilosophie aber vermag uns gerade hier vielleicht mehr als andere Philosopheme Fingerzeige zu geben. Zunächst einmal möchte es allerdings scheinen, daß innerhalb des Schemas der Auswechslung der inhaltlichen Kompetenzrelate des funktionalen Vgl. zum diesbezüglichen Denken bei Schelling vom Verf. den schon erwähnten Artikel: Das Problem des vollkommenen Menschen ... (oben Anm. 9), sowie noch: Das Weltalterprogramm und die Spätphilosophie. In: Schelling. Hrsg, von H. M. Baumgartner. 108—127, bes. 118 ff, aber auch schon 114 ff. — Es ist somit nicht nur die Frage nach einer ,richtigen' menschenwürdigen Praxis de facto in diesem neuen Horizont gestellt, sondern gerade darüber hinaus auch die Frage noch einmal nach der zureichenden Legitimation einer jeden solchen Praxis.

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Kontextes bei gleichbleibender und fortdauernder Formalstruktur des Problems selbst in eben diesem Kontext sogar die Gefahr einer ins Unendliche gesteigerten Schwierigkeit droht: So etwa, wenn man die SCHELLINGsche Bestimmung Gottes als des Herrn des Seins, d. h. als dessen, der grundgebend vor dem Sein fungiert, heranzieht und funktional auf den Menschen überträgt: An die Stelle des erschaffenden Gottes scheint dann der selbstschöpferische Impetus des Menschen zu treten, wobei freilich die letzte Verantwortung für diesen Impetus ins Zwielicht gerät. — Jedoch zeigt sich gerade bei einer genaueren und sorgfältigen Betrachtung der Spätphilosophie SCHELLINGS ein anderes strukturales Muster der grundlegenden Prinzipienfunktionen, das geeignet erscheint, uns aus der Schwierigkeit herauszuführen: Es ist, wenn nicht schon der Begriff, so doch das Muster einer fundamentalen Polarität oder Korrelation, das es hier anzuwenden gilt. Dies gilt gerade für die beiden Grundinstanzen, auf die sich die beiden Seiten des erwähnten geistesgeschichtlichen Grabenbruchs stützen, für Transzendenz und Immanenz also zwischen Gott und Mensch. Strukturell und etwas abstrakt kann die innere Form dieses Verhältnisses, wie es von SCHELLING in seinem Altersdenken gefaßt worden ist, dem Ansatz nach als eine einzige, in sich eindeutige Beziehung zwischen zwei Bezugsgliedern oder -polen vom jeweils gleichen Rechtsanspruch bezeichnet werden. Damit ist ein neuer Typ nicht nur von Korrelation, sondern auch von Relation überhaupt und als solcher gedacht. SCHELLINGS Denken ist freilich an dieser Stelle ambivalent und keineswegs bis zur letzten wünschenswerten Klarheit durchgedrungen. Bei ihm fehlt z. B. eine thematisch reflektierte Theorie eben solcher Relationen. Sein Denken orientiert sich innerhalb dieses Problemkontextes primär an den Inhalten, die er wiederum, wenn auch durchaus in origineller Weise, der metaphysischen und philosophisch-theologischen Tradition entnimmt und entsprechend abhandelt. Wie schon gesagt, steht dabei im Mittelpunkt seines spekulativen Interesses eine für die Gesamtheit des einen Pols repräsentative Gestalt, an welcher der ethischen und existenzialen Befindlichkeit nach dann die übrigen, welche repräsentiert werden, teilhaben, partizipieren können, und auch sollen. — Damit aber wird eigentlich im Letzten doch die Ausfaltung des eigenen Ansatzes vereitelt: Die Korrelation zwischen diesem einen repräsentativen Pol der Menschheit Vgl. dazu auch noch die, wenn auch in anderem Zusammenhang, weiterführenden Überlegungen des Verf.: Omnipotenz und Autonomie. Über das Problem der Handlungseinheit eines endlichen, aber autonomen und eines schlechthin absoluten Subjekts. In: Neue Zeitschr. f. syst. Theol. u. Religionsphil. 16 (1974), 257—284.

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bzw. des Menschseins und dem anderen Pol des transzendenten Subjekts ist zwar eine solche von Gleichen^ wie umschrieben, und das meint dann weiter, von solchen, die letztlich in ihrer Freiheit gleich sind. Der schon zuvor gemachte Einwand, es handle sich dabei dann eben doch letztlich nur um eine sehr subtile Gestalt einer z. B. platonisierenden Partizipationsbestimmung auf seiten des Menschen mit allen ihren Nachteilen, wird durch diese Konzeption jedoch nicht ausgeräumt. Insofern bleibt auch diese Konzeption hinter dem, was die heutige Problemlage erfordert, natürlich zurück. Es bleibt allerdings, wie ich meine, auch angesichts dieser Einschränkung trotzdem noch ein vielversprechender Ansatz im Gedanken einer einen einzigen Relation zwischen zwei durch Freiheit Gleichen, die sich aktual, entschluß- und seinsvollziehend zueinander verhalten. M. a. W. was diese Wechselbeziehung neuen Typs ermöglicht, ist im Grunde wiederum Wille, die Bestimmung des Willens, und zwar nun nicht eines irrationalen Dranges oder sonstwie von etw'as Ähnlichem, wie man in der ScHELLiNcforschung längere Zeit gemeint hat, sondern eines durch und durch rationalen, vernunfthaften Willens. Die Vernunft ist in diesen Willen aufgehoben, sie ist dabei, ideenhistorisch betrachtet, von der einen Seite her bestimmt durch ihre funktionale Verwandtschaft mit der praktischen Vernunft KANTS, von der anderen Seite her aber durch ihre spekulative Nähe zu der überintellektualen höchsten Einsicht mancher Neuplatoniker und Denker des patristischen Zeitalters. Die alte Frage, wie eine einzige Beziehung von sich aus mehrere, also mindestens zwei Bezugspunkte haben könne, wird hier auf einer sehr hoch angesetzten Argumentationsebene geklärt mit dem Hinweis auf die Freiheit, die sich in dem von beiden Seiten gleich ursprunghaft entstehenden Anspruch auswirklicht; dies gilt jedenfalls hinsichtlich der ethischen Relevanz dieses Verhältnisses. Anders und konkreter gesagt, ist es genau die Frage, wie zwei Personen als solche, d. h. als von und in sich frei sich Vgl. dazu die Literaturangaben oben Anm. 8 und 9, ferner bei H. Holz: Spekulation und Faktizität die beiden Exkurse 338 ff und 464 ff. Dabei läßt sich zusammengefaßt die Sachlage etwa so begreifen, daß die praktische Vernunft — in Kantischer Sicht — einerseits in die systematisch-funktionale Stelle des letzten Prinzips einer umfassenden Geistmetaphysik transformierterweise einrückt. Andererseits wird eben dies Letztprinzip — als fundamentales Element einer Geistmetaphysik — doch wiederum dem letzten Interessenaspekt der Kantischen ,praktischen Vernunft' unterstellt, nicht ohne daß hierbei freilich eine außerordentliche Vertiefung des ursprünglichen Kantischen Ansatzes in Richtung einer Metaphysik absoluter Personalität erfolgte. Für die Problemanalyse bei Schelling ist hier noch heranzuziehen 7. A. Bracken: Freiheit und Kausalität bei Schelling. Freiburg 1972.

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vollziehende Wesen (supposita) ursprünglich und genuin eine substanziierte Einheit akthaft, vollzughaft konstituieren können. Auf die hier verborgenen weiteren Fragen soll nicht weiter eingegangen werden, es genüge dieser Hinweis auf eine Neuformulierung des Problems. — Man sieht jedoch sofort, wenn man dies strukturale Muster im Sinn der modernen Fragestellung auf die Beziehung zwischen den vielen Einzelnen und ihrer Existenz anwendet, daß bei konsequenter Explikation des hier Denkmöglichen eine ganze Reihe von Problemen, die uns gerade auf dem Feld der Intersubjektivität u. ä. bedrängen, gegebenenfalls leichter gelöst werden könnten. — Und wiederum: Jene allem zugrundeliegende Spaltung oder Trennung von Transzendenzhorizont und Immanenzhorizont läßt sich selbst als geistesgeschichtlich in sich kontingent und damit letztlich auch als sachlich lösbar denken. Das Programm, das damit gegeben ist, kann ich nur skizzenhaft andeuten: So ist klar, daß damit eine ganze Reihe verwandter Probleme mitbetroffen sind, so (um nur diese zu nennen) die Frage nach den zureichenden Bedingungen und Gründen menschlicher grundlegender Kommunikation, sei es in Form von Sprachlichkeit oder aber durch freies Handeln oder durch schöpferisches Spiel oder in Form überindividueller Normen, mit und ohne Sanktionen. Entscheidend ist, daß in dieser Perspektive gerade das Anliegen des Humanen, des eigentümlich Menschlichen, d. h. also der eigentlichen menschlichen Würde, die Möglichkeit einer neuen Grundlegung erhält, die zwischen den beiden Gefahren eines vereinseitigten Aposteriori-Standpunkts, bis hin zu den verschiedenen Varianten des Empirismus, und eines vereinseitigten Apriori-Standpunktes, bis hin zu den verschiedenen Spielarten eines anthropologischen Idealismus oder besser: Spiritualismus, hindurchführen und vermitteln kann. Die Integration der wesentlichen Anliegen eines jeden dieser beiden Standpunkte schließt die Integration jeweils ihrer systematischen Schwerpunktinteressen in sich: so etwa das Anliegen einer sachentsprechenden Bewertung des Allgemeinen als eines konkret das Wesen des Menschen und des Menschlichen bestimmenden Elements, etwa in Gestalt von Institutionalität, oder auch umgekehrt das Anliegen einer proportionalen Einschätzung des je Vgl. dazu noch den Literaturhinweis oben Anm. 18. Es ist bekannt, daß eine umfassende Untersuchung über Schellings Theorie der Kommunikation und insbesondere der Sprache heute noch ein Desiderat ist. Noch anders gesagt, läge Schellings Aktualität gerade darin, Ansätze zur Lösung einer sachlich bis heute unerledigten Problematik zu geben, wobei die Entfaltung der impliziten Strukturen möglicher Problematisierungen als Modellentwurf für inhaltlich z. T. ganz andere Fragen, als Schelling sie selbst behandelt hat, im Mittelpunkt einer derartigen Aktualisierung zu stehen hätte.

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Besonderen als eines Moments, das prinzipiell ebensosehr das Wesen des Menschen mitbestimmt wie das Allgemeine, etwa in Gestalt von Personalität. Für die Philosophie nun angesichts ihrer Konfrontation mit der Historie und den davon mitbestimmten Wissenschaften und Lebensbereichen einerseits und der Forderung nach letztverbindlichen Sachantworten andererseits besagt diese soeben skizzierte Neuformulierung der uns hier leitenden Problematik dann zweierlei: Zum einen kann für die Philosophie, jedenfalls in einem gewissen Kernbereich, unmöglich die historische Perspektive Zefzfkonstitutive als Wissenschaft sein; denn gerade dadurch begäbe sie sich der Beantwortung der immer unausweichlich an sie gestellten Frage nach der eigentlichen Sache, hier also nach dem Verhältnis zwischen den verschiedensten Subjektivitäten, kontingenter und absoluter, schlechthin und relativ absoluter Art: Eine bloße Problemgeschichte eben solcher Verhältnisse ist letzten Endes unfruchtbar und steril, nicht nur für die menschliche Praxis im weitesten Sinne, sondern sogar auch für das theoretische Interesse selbst; denn dann wäre dies ja nur ein Begriffsspiel neben vielen anderen, die miteinander beliebig austauschbar, weil letztlich in ihrem Wahrheitswert unverbindlich wären. Philosophie muß also von sich aus unmittelbar sachentscheidend sein können, und dies gerade hinsichtlich der zentralsten menschlichen Fragen. Zum anderen, und das hängt aufs engste mit dem soeben Gesagten zusammen, ist sie aufgrund ihres eigenen Anspruchs als Wissenschaf gehalten, eben nicht nur reine Faktenauskunft zu gewähren, oder auch Auskunft über rein theoretisches Sosein, sondern darüber wesentlich hinaus gehört in ihren Aufgabenbereich die Erkenntnisermöglichung in die grundlegenden Normen, in dasjenige also, was nicht nur aussagt, was und wie etwas ist oder prozediert, sondern wie etwas sein oder werden soll bzw. muß. Schauen wir von dieser programmatischen Skizze noch einmal auf das Denken SCHELLINGS in seiner Spätphase, wie es hier kurz Umrissen wurde, zurück: Es könnte sich dann methodologisch für die uns hier leitende Hauptfrage als ein Modell erweisen, das uns einige Hinweise auf noch unausgeschöpfte Denkmöglichkeiten bereitstellt, zumindest jedenfalls solche Möglichkeiten anzuregen vermag. Eine Analyse aber, die aufzeigt, wie in solcher Weise ein Philosophem als Modell für einen anderen sachorientierten Standpunkt fungieren kann, geht im übrigen selbst wiederum über eine rein historische Betrachtungsweise hinaus und ist allemal von der Sache her systematisch; andererseits erscheint gerade durch das — methodisch kritisch reflektierte — Operieren mit Modellen die historische Perspektive mit einbezogen und integriert. Das meint für unser Thema:

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Die Auswertung eines älteren Systems in einigen seiner tragenden Theoreme zugunsten einer bedrängenden und noch unerledigten Frage in der Gegenwart geschah hier, in diesem skizzenartigen Rahmen so, daß bestimmte Problemkontexte in einem historisch vorliegenden System, hier demjenigen SCHELLINGS, noch einmal abstrakter und in ihrer funktionalen Leistung herausgearbeitet wurden, hier in dem kurzen relationstheoretischen Hinweis. Ein solcher formaler Funktionalismus kann sodann auf seine Konsistenz, Vollständigkeit und Leistungsfähigkeit untersucht und entsprechend ergänzt oder umgewandelt werden. In einem weiteren Schritt läßt sich endlich wiederum eine Anwendxmg auf eine konkretere Problemlage machen, also hier etwa auf das Problem von Intersubjektivität. — In diesem Sinne also kann schließlich dann SCHELLINGS Spätphilosophie auch für uns Heutige ein echter Anlaß sein für die Entlassung unseres eigenen Denkens in den heute geforderten und ihm möglichen Raum von Kreativität.

MANFRED BUHR (BERLIN-OST)

ZUR STELLUNG SCHELLINGS IN DER ENTWICKLUNGSGESCHICHTE DER KLASSISCHEN BÜRGERLICHEN DEUTSCHEN PHILOSOPHIE Die Bedeutung SCHELLINGS für die Entwicklungsgeschichte der klassischen bürgerlichen deutschen Philosophie ist seit SCHELLINGS erstem Auftreten in der wissenschaftlichen Öffentlichkeit der Zeit bis auf den heutigen Tag umstritten. Das hat seinen Grund nicht nur in möglichen Unzulänglichkeiten der Philosophiegeschichtsschreibung, sondern in SCHELLINGS philosophischer Entwicklung selber. Diese ist „System ohne Systemanspruch" besser; System ohne Systemrealisation. Man kann SCHELLINGS Philosophie, genauer: SCHELLINGS philosophische Entwürfe, die in den ersten anderthalb Jahrzehnten seines Schaffens rasch aufeinanderfolgten, als Entfaltung eines Grundprinzips ansehen oder SCHELLINGS philosophische Entwicklung als von Brüchen, Sprüngen, wechselnden Grundanschauungen durchzogen betrachten — in beiden Fällen wird man dafür im Werk SCHELLINGS unschwer Belege finden. Dieser Tatbestand ist bereits von SCHELLINGS Zeitgenossen erkannt worden. Schon 1843 konnte H. F. W. HINRICHS in seinen Politischen Vorlesungen, die Stellungnahmen der Zeitgenossen zur Philosophie SCHELLINGS zusammenfassend, festhalten: „Einige behaupten: seine (Schellings) Philosophie habe Änderungen erlitten; andere sagen: Prinzip und Methode seien sich von Anfang bis zum Ende gleich geblieben." ^ Geht man die philosophiehistorische Literatur zu SCHELLING seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts durch, so wird man diese Feststellung HINRICHS bis in die Gegenwart hinein mehr oder weniger bestätigt finden. Allein, einen adäquaten Zugang zur Philosophie SCHELLINGS — und damit zu ihrer richtigen Beurteilung und Einordnung in den philosophischen und wissenschaftlichen Prozeß der Zeit — wird man nur finden, wenn diese ‘ Hans Jörg Sandkühler: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling. Stuttgart 1970. 82. * H. F. W. Hinrichs: Politische Vorlesungen. Halle 1843. Bd 2. 418.

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MANFRED BUHR

einmal als Bestandteil der Entwicklungsgeschichte der klassischen deutschen Philosophie genommen und zum anderen als aus jener herausfallend, ja gegen diese gerichtet, betrachtet wird. SCHELLING gehört mit wesentlichen Teilen seiner Philosophie, vor allem mit wesentlichen Teilen seines Werkes bis um die Jahrhundertwende, legitim zu jener philosophischen Bewegung des letzten Drittels des 18. und der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts in Deutschland, die unter dem Namen „klassische bürgerliche deutsche Philosophie" in die Ideologiengeschichte eingegangen ist. Zugleich steht SCHELLING mit ebenso wesentlichen Teilen seiner Philosophie dieser progressiven bürgerlichen ideologischen Entwicklung, eben der klassischen bürgerlichen deutschen Philosophie, auch entgegen. Damit hat er einen Prozeß vorbereitet, der als die im Zusammenhang mit der nachthermidorianischen Entwicklung einsetzende Zurücknahme der progressiven klassischen ideologischen Entwicklung der Bourgeoisie bezeichnet werden kann. Diese Widersprüchlichkeit, die die Philosophie SCHELLiNGs insgesamt durchzieht, ist als erstes festzuhalten, um einer unkritischen Bewunderung wie ebenso unkritischen Verurteilung dieser Philosophie zu entgehen. Grundlage dieser Widersprüchlichkeit der Philosophie SCHELLINGS ist die Problematik des Übergangs von der feudalen zur bürgerlichen Gesellschaft in Deutschland um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert. Kann die klassische bürgerliche deutsche Philosophie — bei allen unterschiedlichen Standpunkten, die ihr eigen sind — im Prinzip als die bürgerliche Ideologie der Zeit angesehen werden, so läuft dieser mit dem Thermidor eine andere ideologische Strömung parallel bzw. entwickelt sich aus dieser heraus, deren erklärtes Ziel, zumindest Produkt, es war, die feudale Ideologie zu restaurieren, indem sie die vorhandene und sich entwickelnde bürgerliche Ideologie mit feudalen ideologischen Elementen zusammenbrachte. Unübersehbarer Ausdruck dieser ideologischen Bewegung war die deutsche Romantik in ihren verschiedenen literarischen, philosophischen und staatsrechtlichen Manifestationen. In der deutschen Romantik vermischen sich feudale und bürgerliche Ideologieelemente zu einer bürgerlich-feudalen restaurativen Ideologie. SCHELLING hat sowohl an der Entwicklung und Fortbildung der klassischen bürgerlichen deutschen Philosophie Anteil als auch an der Herausbildung der bürgerlich-feudalen restaurativen Ideologie der deutschen Romantik. In dieser wie in jener ideologischen Entwicklung war SCHELLING mit seiner Philosophie Geburtshelfer. Innerhalb der klassischen bürgerlichen deutschen Philosophie wirkte er mit seiner Idee einer Naturphilosophie, bei der Herausbildung der deut-

Zur Stellung Schellings

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sehen Romantik mit seiner aristokratischen Erkenntnislehre und Philosophieauffassung sowie seiner Philosophie der Kunst als Anreger. Wir müssen es uns hier aus Zeitmangel versagen, unsere Thesen an Hand von ScHELUNG-Texten zu explizieren. Was die frühe Entwicklung SCHELLINGS angeht, so dürfen wir auf die Arbeiten von WERNER HARTKOPF verweisen, mit denen wir weitgehend übereinstimmen. Nur so viel sei noch gesagt; Man wird HANS JöRG SANDKüHLER zustimmen können, wenn er festgehalten hat; „Ohne eine umfassende Kurzformel für das Denken Schellings insgesamt fingieren zu wollen, wird man doch feststellen können; es verdient philosophische Aufmerksamkeit, weil es einen Typus theoretischer Reaktion auf den gesellschaftlichen und ideologischen Prozeß zwischen bürgerlicher Revolution und bürgerlich-feudaler Restauration — den es (reaktiv) freilich selbst beeinflußt — repräsentiert, der das Problem von Theorie und Praxis prinzipiell anders zu lösen sucht als die zeitgenössische Klassische Deutsche Philosophie, als Campe und Förster, Kant, Humboldt, Fichte und Hegel. Entschiedener als Schelling haben sich diese in ihrem Selbstverständnis (in ihrer Rolle als philosophische Theoretiker) der Theorie als veränderndem Verhalten gegenüber der Welt, der Objektivität der Praxis verschrieben." Und weiter; Schellings philosophische Theorie „der Subjektivität eröffnet gerade in der Abkehr von der objektiven Wirklichkeit, sei es mittels der nichtempirischen Selbstanschauung des Ich .. ., sei es durch die spekulative Schau der Offenbarung des absoluten Nicht-Ich (Gott), ein zeitunabhängiges Reservat für die Vernunft." ® Ein zeitunabhängiges Reservat für die Vernunft? In der Tat. Hier liegt ein entscheidendes Moment der Beurteilung der ScHELLiNGSchen Philosophie vor, weil von hier aus einsichtig wird, warum diese nur mit Einschränkung als zur Entwicklungsgeschichte der klassischen bürgerlichen deutschen Philosophie gehörig genommen werden kann. SCHELLING eliminiert ein entscheidendes, wenn nicht das entscheidende Moment der klassischen deutschen Philosophie; ihren Bezug zum historischen Prozeß und ihr Bekenntnis zur bürgerlichen Entwicklung in Deutschland. Deshalb auch konnte SCHELLINGS Philosophie für die politische Romantik so bedeutungsvoll werden. Im Gegensatz zur klassischen bürgerlichen deutschen Philosophie entläßt SCHELLING die Philosophie aus der Geschichte — und damit aus der Politik. Geschichte wird bei SCHELLING auf den künstlerisch-indivi® Hans Jörg Sandkühler: F. W. J. Schelling. 85 f.

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MANFRED BUHR

duellen Schaffensprozeß reduziert und Politik zum Synonym für subjektive Unverbindlichkeit. ^ Von diesem Vorgang hatte Hegel eine Ahnung, wenn er im Blick auf ScHELLiNG und auf seine Art festhielt: „Wie es eine dichterische Genieperiode gegeben hat, so scheint gegenwärtig die philosophische Genieperiode zu sein .. ., die roheste Empirie mit Formalismus von Stoffen und Polen, verbrämt mit vernunftlosen Analogien und besoffenen Gedankenblitzen." ® Bleibt festzuhalten: In Beziehung auf SCHELLING ist die Unterscheidung von klassischer bürgerlicher deutscher Philosophie und romantischem Idealismus unabdingbar. Untersuchung der Stellung der Menschen im Geschichtsprozeß, kurz: Betonung der Subjektivität zum Zwecke eines Eingriffs der Menschen in den gesellschaftlichen Prozeß — dies zeichnet die Philosophien und Theorien KANTS, FICHTES, FöRSTERS und Hegels, dies zeichnet die gesamte klassische bürgerliche deutsche Philosophie aus. Hingegen: „romantische elitäre Desintegration gegenüber der bürgerlichen Klasse, die Entstehung eines neuen Aristokratismus (des Geistes): dies zeichnet die literarische und politische Romantik aus, zu deren Protagonisten Schelling zählt". Dies sollte nicht vergessen werden. Vielleicht etwas übertrieben, sicher aber nicht unschlüssig kann deshalb formuliert werden : In ScHELLiNGS Spätphilosophie erlebt die bürgerlich-revolutionäre Philosophie ihren 18. Brumaire. ®

* Hans Jörg Sandkühler: Freiheit und Wirklichkeit. Zur Dialektik von Politik und Philosophie bei Schelling. Frankfurt a. M. 1968. 168. ® Dokumente zu Hegels Entwicklung, Hrsg, von J. Hoffmeister. Leipzig 1936. 355. * Vgl. Hans Jörg Sandkühler: F. W. J. Schelling. 86. — Zu unserer Schelling-Auffassung vgl. Manfred Buhr: Vernunft — Mensch — Geschichte. Berlin 1977. 179 ff; Manfred Buhr / Gerd Irrlitz: Der Anspruch der Vernunft. Die klassische bürgerliche deutsche Philosophie als theoretische Quelle des Marxismus. Berlin 1968. 141 ff.

CHRISTOPH WILD (MÜNCHEN)

ZUR APORETIK IDEALISTISCHER SYSTEMKRITIK Die sogenannte idealistische Philosophie SCHELUNGS oder Hegels ist weniger durch den Begriff des Idealismus als vielmehr durch den des Systems zu kennzeichnen. Beide hätten den Begriff „Idealismus" als umfassende Charakterisierung ihrer Philosophie abgelehnt. Sie hätten aber wohl beide der Behauptung zugestimmt, daß sie ihre Philosophie ganz wesentlich als System begreifen. Unter System verstehen allerdings weder SCHELLING noch Hegel ein starres, lebloses Gedankengebäude, sondern ganz im Gegenteil das Ganze, durch das der einzelne Gedanke erst das Element seiner Lebendigkeit empfängt. Erst im System fängt der einzelne Gedanke zu tanzen an, verliert seine Beschränktheit und schließt sich auf im unendlichen Leben des Denkens. Die allgemein verbreitete und beliebte, selbst von Systematikern wie NICOLAI HARTMANN wiederholte Rede von der Unmöglichkeit der Systemphilosophie hat uns glauben gemacht, daß philosophische Systeme Ausdruck philosophischen Titanismus seien. Der Systembegriff, der der Philosophie des deutschen Idealismus so gern unterstellt wird und der es einem dann leicht macht, diese Philosophie als endgültig passe abzutun, kommt in dieser Philosophie gar nicht vor. Von ihrer ganzen Tendenz her ist sie beständiger Widerstand gegen ein solches starres, geschichtsloses, die Lebendigkeit des Geistes einschränkendes „System". Die Sätze und Thesen, die das System SCHELLINGS oder Hegels ausmachen, werden in diesem nicht festgeschrieben und durch die systematische Begründung verabsolutiert, sondern in ihre Verweisungen aufgelöst und relativiert. Das System ist der Ort der Relativierung, der bestimmten Negation der es bildenden Thesen. Es schließt also das, was es zum Inhalt hat, nicht in sich ab, es schließt vielmehr alles, was es in sich hat, auf. SCHELLING wendet sich dennoch in seiner Spätphilosophie gegen das Hegelsche System und dessen Anspruch sowie gegen sein eigenes Identitätssytem. Das Instrument dieser Kritik ist bekanntlich die Unterscheidung zwischen negativer und positiver Philosophie. Der entscheidende Einwand

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CHRISTOPH WILD

gegen Hegel und seine eigene frühere Philosophie besteht darin, daß sowohl er selbst als auch Hegel eine bloß negative Philosophie für positiv genommen hätten. Was soll das heißen? Das heißt vor allem nicht, daß die Systematik als solche kritisiert wird. Sie wird zumindest dem Anspruch nach sowohl in der negativen wie auch in der positiven Philosophie aufrecht erhalten. Die Korrektur, die SCHELLING durch die Unterscheidung von negativer und positiver Philosophie anbringen will, bezieht sich einzig und allein auf das Selbstverständnis der Systematik als reiner Vernunftreflexion. Das Vernunftsystem ist nicht nur in sich selbst bestimmte Negation aller es bildenden Elemente, sondern es ist — und das macht die grundsätzliche Veränderung im Selbstverständnis der idealistischen Philosophie aus — Negation seiner selbst als ganzer. Das reine Vernunftsystem als ganzes setzt und begreift sich als bloß negativ. Die Aporetik in dieser Selbstkritik idealistischer Systematik, auf die ich hinweisen möchte, besteht nun darin, daß das Ergebnis der Selbstaufhebung des reinen Vernunftsystems seine unmittelbare Wiedereinsetzung im Rahmen der positiven Philosophie ist. Die Selbstnegation bleibt letztlich unwirksam. Was gegenüber der Vernunftsystematik freigesetzt werden sollte, die Wirklichkeit, die Geschichte, wird nur freigesetzt, um sofort wieder unterworfen zu werden. In der Selbstaufhebung der negativen Philosophie ermächtigt sich die Vernunft zum systematischen Ausgriff auf die Geschichte, zur systematischen Konstruktion der Geschichte. Welcher Schluß ist nun aus dieser Aporie zu ziehen, daß das Ergebnis der Kritik genau das reproduziert, was kritisiert werden sollte. Ob nun die Spätphilosophie SCHELLINGS als Aufhebung oder als Vollendung des Idealismus oder als beides zugleich zu begreifen ist, der Versuch der Selbstkritik des Idealismus scheint wie eine Seifenblase wirkungslos zu zerplatzen. Zwei Schlußfolgerungen bieten sich an: Entweder ist die Kritik an der Systematik nicht radikal genug oder diese ist in Wahrheit gar nicht zu kritisieren. In beiden Fällen wäre verständlich, daß das Kritisierte der Kritik unversehrt widersteht. Meine These ist, daß in gewissem Sinn beides zutrifft, daß also 1. der systematische Charakter der Philosophie unabdingbar und insofern die Systematik nicht zu verabschieden ist. Systematik ist gerade nicht Indiz eines philosophischen Dogmatismus, sondern Kennzeichen einer kritischen Philosophie, die sich einerseits vor jeder Verabsolutierung einer ihrer Thesen zu hüten versucht und die andererseits im systematischen Kontext den genauen Stellenwert jeder ihrer Einzelthesen anzugeben in der Lage ist und dadurch präzise Gegenargumentation ermöglicht, sich somit kritisierbar macht. 2. ist aber die Kritik der Spätphilosophie SCHELLINGS an ScHELLiNGs

Zur Aporetik idealistischer Systemkritik

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der idealistischen Systematik nicht radikal genug. Die Aufhebung des Systems der negativen Philosophie bleibt in der Vorstellung befangen, daß das System, und sei es das der positiven Philosophie, Endziel der philosophischen Arbeit sei. Der idealistische Chiliasmus verbindet sich hier mit der Idee eines vollendeten, endgültigen Systems. Das System wird von allen sog. deutschen Idealisten als Abschluß und Vollendung und nicht in seiner Funktion im Fortschritt der philosophischen Forschung gesehen. Die Funktion der philosophischen Systematik besteht nämlich darin, daß sie philosophische Theorien falsifizierbar macht (durch die Aufweisbarkeit eines expliciten inneren Widerspruchs zum Beispiel), daß sie philosophische Theorien historisch vergleichbar und aufeinander beziehbar macht. Kurz: Die Systematik hat die Funktion, philosophische Behauptungen kritisierbar zu machen. Die Aporetik immanenter idealistischer Systemkritik hat ihren Gnmd darin, daß das System als Endzweck und nicht als Mittel zur Klärung und Verständigung innerhalb der Philosophie angesehen wird.

C. IST SYSTEMATISCHE PHILOSOPHIE MÖGLICH?

Kolloquium IV DIALEKTIK UND SYSTEMATISCHE PHILOSOPHIE

HANS FRIEDRICH FULDA (BIELEFELD)

ZUM THEMA DES KOLLOQUIUMS Wer nach dem Zusammenhang von Dialektik und systematischer Philosophie fragt, kann in der einen oder anderen Richtung Antwort suchen. Von der Leitfrage des Kongresses ausgehend, wird er vor allem wissen wollen: Verbessern sich die Chancen systematischer Philosophie, wenn die Philosophie sich dialektisch zu entfalten versucht; oder sollte Dialektik vielmehr dazu dienen, alle Ambitionen auf philosophische Systematik im Keim zu ersticken? Mindestens einer der folgenden Beiträge nimmt zu dieser Alternative eindeutig Stellung. — Im Interesse an einer Konzeption von Dialektik, die durchsichtig erscheint und nicht müßig ist, kann man aber auch andersherum fragen: Sind die Aussichten, eine Dialektik-Konzeption zu entwickeln, an ein bestimmtes Konzept systematischer Philosophie geknüpft, oder sollte man sich nach Möglichkeit von jeder Bindung an ein solches Konzept lösen? Weniger explizit ist in den Beiträgen des Kolloquiums auch hierzu etwas gesagt. Natürlich wäre es unbillig zu erwarten, das Gesagte könne — die Frage in die eine oder andere Richtung gewendet — eine erschöpfende Antwort geben. Der Zusammenhang von Dialektik und systematischer Philosophie ist, mit FONTANES Briest zu sprechen, ein weites Feld. Das Feld ist heute wenig bearbeitet. Es ist wohl in den Augen vieler auch unfruchtbar. Ist es das? Wer hierüber nicht bereits seine fertige Meinung hat, sondern sich ein Urteil erst bilden will, dürfte zu sehr unterschiedlichen Vermutungen tendieren je nachdem, wie er die Titelbegriffe des Kolloquiums versteht. Hat man es mit systematischer Philosophie bereits dort zu tun, wo das Interesse der Philosophierenden nicht auf die Geschichte ihrer Disziplin, sondern direkt auf Sachfragen gerichtet ist? Oder soll man als systematisch erst eine philosophische Forschung betrachten, die nicht nur Detailfragen zu klären versucht, sondern außer analytischer Klarheit auch synoptische Klarheit anstrebt — um einen Ausdruck von H. H. PRICE ^ zu gebrauchen. Soll man die Systematik von Gedanken betrachten als etwas, dessen Exi‘ Clarity is not Enough. In: H.D. Lewis (ed.); Clarity is not Enough. London 1963.

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HANS FRIEDRICH FULDA

Stenz nur von uns abhängt; als etwas, mit anderen Worten, das durch die Philosophierenden gleichsam architektonisch entworfen ist? Reicht die so zu entwerfende Systematik nur so weit, als man die bereits etablierten ErfahrungsWissenschaften in ihren Grundlagen zu rekonstruieren vermag; oder besteht für den Systematiker darüber hinaus die Aufgabe, grundlegende Hypothesen, die im Licht wissenschaftlicher Erkenntnisse die plausibelsten sind, mit Überzeugungen, in deren Medium wir leben und die allen Versuchen der Kritik standhalten, zu einem kohärenten, sozusagen stereoskopischen Bild von uns selbst und von unserer Welt zusammenzufügen? ^ Ist dies angesichts der Aufgaben systematischer Philosophie gar keine letzte Alternative, weil — wie man in der Epoche Hegels und SCHELLiNGs dachte — Systematik etwas ist, als das die Gedanken, in denen sich unser Fürwahrhalten bewegt, und die moralische Weltordnung, in der wir als verantwortliche Subjekte existieren, sich selbst zur Einheit organisieren? Je nachdem, wie man hierauf zu antworten geneigt ist, wird man nicht nur der Frage nach der Möglichkeit systematischer Philosophie verschieden große Wichtigkeit zusprechen, sondern auch verschieden hohe Erwartungen in die Dialektik setzen. Aus jeweils anderen Gründen wird man sich von der Dialektik viel, wenig oder gar nichts für eine systematische Philosophie erhoffen. Kriterien, nach denen so globale Fragen zu entscheiden wären, sind allerdings schwer zu beschaffen. Verlegenheit aber und mangelnde Übersicht gehen Hand in Hand. Daraus wird der Systematiker ein Argument zugunsten seiner Ansprüche machen. Berechtigen solche Ansprüche zur Forderung einer dialektisch organisierten Philosophie? Diese Frage, die HERMANN SCHMITZ in seinem Beitrag entschieden verneint und die die anderen Autoren des Kolloquiums eher dahingestellt sein lassen, hat verschiedenen Sinn je nach der Auffassung von Dialektik, die in ihr vorausgesetzt wird. Um sich voll bewußt zu werden, wie unübersichtlich — um nicht zu sagen verwildert — das Feld ist, mit dem das Kolloquium zu tun hatte, wird man sich daher ins Dickicht der Frage begeben müssen, was denn unter Dialektik zu verstehen sein soll. Der Ausdruck „Dialektik" ist ja immerhin fast so alt wie die Philosophie. Vielleicht könnte es scheinen, was den Begriff der Dialektik angeht, habe es ein Hegel-Kongreß insofern einfach, als im Zusammenhang eines solchen Kongresses nur von Dialektik im Hegelschen Sinn die Rede zu sein braucht. Doch wenn der Ausdruck „Dialektik im Hegelschen Sinn" nicht ungefähr soviel besagen soll wie „Dialektik im Pickwick'schen Sinn", dann wird man sich wohl eingestehen müssen, daß Hegels Dialektik und alles, was * Vgl. W. Sellars: Science, Perception and Reality. London 1963. 1—40.

Zum Thema des Kolloquiums

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im Anschluß daran als Dialektik auftrat^ uns kaum weniger zum Interpretieren verdammt als der Begriff systematischer Philosophie. Besteht das Eigentümliche der Hegelschen Dialektik darin, daß Hegel das Widerspruchsfreiheitsprinzip verwirft und den haarsträubenden Versuch macht, den Widerspruch zu ontologisieren? ^ Oder beruht diese Interpretation insofern auf einer falschen Voraussetzung, als Hegel gar nicht die für Widersprüche unerläßliche Konstanz der Bedeutungsgehalte von Sätzen annimmt; und ist gerade dies für Hegels Auffassung von Dialektik spezifisch: die Preisgabe der in aller formalen Logik als erfüllt geltenden Forderung eines definiten Sinnes von Sätzen? ^ Wenn es sich so verhalten würde, — ließe dann die Hegelsche Dialektik noch irgendeine operationale Deutung zu? Wäre gegen die Verneinung dieser Frage geltend zu machen, die an Hegels Texten auffälligen Bedeutungsverschiebungen seien organisiert, getragen und beschränkt von einem einheitlichen Komplex gewisser Operationen, in deren Zentrum ein eigenartiger, vielleicht noch zu entdeckender Typus von Negation steht? ® Oder bedürfte eine Rekonstruktion der Hegelschen Dialektik, wenn sie möglich sein sollte, — dringender noch als der Auskunft über ihre Grundoperation — einer Theorie der Bezugnahme auf abstrakte Begriffe und der Aufklärung über Verfahren fortschreitender Beschränkung der Unbestimmtheit von Theorien? ® Welchen Erfordernissen hätte eine semantisch explizierte Dialektik zu genügen, um noch als Explikat der Hegelschen Dialektik gelten zu können? ^ Durch welches Spezifikum immer die Hegelsche Dialektik sich auszeichnen mag, — worin bestehen eigentlich ihre fundamentalen Rollen? Soll sie die Philosophie zu einem System von Sätzen organisieren oder nicht vielmehr zu einem System von Begriffen, deren Anwendung in Sätzen systematisch nicht vollständig festgelegt wird? Spielt sie ihre organisierende Rolle gar nicht alleine, sondern nur im Zusammenwirken mit methodischen Leistungen, die man oft kurzerhand zu berücksichtigen vergißt oder auch zu Unrecht vielfach sich angewöhnt hat, als Bestandteile der Hegelschen Dialektik zu betrachten? Geben die Rollen, die sie spielt, ihr ’ Vgl. G. Patzig: Hegels Dialektik und Lukasiewiczs dreiwertige Logik. In: Das Vergangene und die Geschichte. Festschrift für R. Wittram zum 70. Geburtstag. Hrsg, von R. V. Thadden u. a. Göttingen 1973. * Vgl. den Kolloquiumsbeitrag von H. Schmitz. ® Vgl. D. Henrich: Hegels Crundoperation. In: Der Idealismus und seine Gegenwart. Festschrift für Werner Marx zum 65. Geburtstag. Hrsg, von U. Guzzoni u. a. Hamburg 1976. ® Vgl. vom Verf.: Unzulängliche Bemerkungen zur Dialektik. In: Hegel-Bilanz. Hrsg, von R. Heede und J. Ritter. Frankfurt/Main 1973. ’’ Vgl. den Kolloquiumsbeitrag von A. Sarlemijn.

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HANS FRIEDRICH FULDA

nur eine Funktion in bezug auf jene abstrakten Begriffe, mit denen sich abzugeben höchstens Philosophen interessant finden und die man zuweilen undurchsichtigerweise „Kategorien" nennt; oder ist von Dialektik auch etwas zu erwarten in bezug auf Themen, die jedermann interessieren? Hat Dialektik ihre Bedeutung vornehmlich in der Diskussion wesentlicher Bestandteile derjenigen Meinungen, aus deren Streit sich die Wissenschaften mehr und mehr zurückgezogen haben? Besitzt sie Relevanz für die Kritik und Festlegung von Überzeugungen daher allenfalls im Bereich der sogenannten Lebenswelt ®, nicht aber innerhalb der wissenschaftlichen Forschung? Oder dient sie auch der Reorganisation wissenschaftlicher Grundbegriffe und Methoden? ® Glücklicherweise ist es nicht die Aufgabe einleitender Bemerkungen, die formulierten Fragen zu beantworten. Es wäre auch unbillig, mehr als die Beantwortung der einen oder anderen unter ihnen von den Beiträgen eines kurzen Kolloquiums zu erwarten. Wollte man angesichts eines Themas wie des dem Kolloquim gestellten alle wünschenswerte Klarheit in den Gebrauch seiner Ausdrücke bringen, so käme man innerhalb des vorliegenden Rahmens kaum über Worterklärungen hinaus. Ein weites, wenig bearbeitetes Feld wird man nicht wie einen Garten betreten, in dem es Unkraut zu jäten gilt. Eher wird man sich darin wie ein Vagabund tummeln und den Gewinn danach beurteilen, was die Streifzüge, die man unternimmt, zur Exploration eines Unbekannten beitragen. Es sollte Unbehagen verursachen, daß über zweitausend Jahre der Beschäftigung mit Dialektik nicht mehr ermöglicht haben als dies. Doch wird man, ohne sein Unbehagen zu rationalisieren, eine gewisse Ermutigung aus der Tatsache schöpfen, daß jüngst Bewegung in die starre Front gekommen ist, die bis vor kurzem Apologeten und Verächter der Dialektik — insbesondere der Hegelschen — voneinander geschieden hat. Es war zu wünschen und es gilt weiterhin darauf zu dringen, daß die „dialektisch" gewordene Verständigung über Dialektik sich auch auf Fragen der systematischen Philosophie fruchtbar auswirkt.

® Vgl. dazu R. C, Maurer in: Hegel-Bilanz. 269 f. • Vgl. dazu den Kolloquiumsbeitrag von Wolfgang Marx. Als Indiz hierfür nehme man beispielsweise den Umstand, daß in gewissen Kreisen der Frankfurter Schule während der letzten Jahre immer weniger von Dialektik die Rede war. Auf der anderen Seite hat sich 1974 J. Hinfikka an einem Kolloquium über Dialektik mit eigenem Beitrag beteiligt, und H. Putnam hat 1970 für das Boston-Symposium ein Papier über Dialektik angekündigt, das dann unter dem Titel The Nature of Dialectics zustande kam.

HANS WAGNER (BONN)

MEHR ALS EIN JAHRHUNDERT SEIT DEM ENDE DES DEUTSCHEN IDEALISMUS Als ScHELLiNG am 20. August 1854 verstarb^ war auch noch die lange Schlußphase jener großartigen philosophischen Bewegung zu Ende, die wir den deutschen Idealismus zu nennen pflegen. Das war in der Tat eine großartige philosophische Bewegung gewesen, in ihrem spekulativen Wollen so mutig und so anspruchsvoll wie keine jemals zuvor und auch ihr Zeitalter so weitgehend mitbestimmend wie kaum eine vorher. Nun aber hatte sie zuletzt in Melancholie, in enttäuschter Melancholie, geendet und Melancholie löst dieses Ende auch noch, nach mehr als hundert Jahren, beim Betrachter aus. Wir Heutige sind vom deutschen Idealismus durch mehr einschneidende Dinge getrennt als mit ihm in Einzelheiten noch verbunden. Zwar hat es inzwischen für einige Zeit ein bißchen Neufichteanismus und für einige Zeit auch, sogar in mehreren Varianten, innerhalb und auch außerhalb Deutschlands, einen ziemlich bedeutsamen Neuhegelianismus gegeben; aber auch sie sind bereits Vergangenheit. Heute ist der deutsche Idealismus Gegenstand historischer Studien, historischer Arbeit. Für FICHTE wie für Hegel und wie für SCHELLING sind die Arbeiten an abschließenden kritischen Gesamteditionen im Gang; und zahlreich sind die historischen Untersuchungen, die diesen drei Idealisten gewidmet werden: weniger natürlich SCHELLING, etwas mehr FICHTE, unvergleichlich mehr Hegel — geschehe letzteres mit gleichzeitigem oder ohne gleichzeitiges Interesse an MARX. Sowohl das editorische wie das historisch-interpretierende Interesse am Werk dieser Idealisten erscheint nicht nur verständlich, sondern auch völlig gerechtfertigt. Denn was wir Heutige auch von ihrem Gesamtwerk als solchem und von ihrer Art philosophischen Wollens letztlich halten mögen, dieses eine sehen wir doch ein, daß in ihrem Werk so viele und so vielerlei hervorragende Gedanken niedergelegt sind, daß wir ihr Werk auch dann nicht beiseite schieben oder vergessen dürfen, wenn jene ihre hervorragenden Gedanken allenfalls nur noch als Einzelstücke und als Trümmer aus Ruinen brauchbar sein sollten.

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HANS WAGNER

Der deutsche Idealismus ist Geschichte geworden, wir sind von ihm geschichtlich getrennt und wir verhalten uns zu ihm nicht mehr anders als historisch; das gilt selbst für den heutigen Systematiker, der etwa klug genug ist, seine eigene Arbeit nicht ohne genaues und eingehendes Bedenken der großen idealistischen Gedanken zu tun; denn gerade er auch weiß nur zu gut, wieweit wir doch im Ganzen und im Grundsätzlichen vom deutschen Idealismus entfernt sind. — Ich meine, wir sollten ein bißchen überlegen, was solches Entfemtsein eigentlich bedeutet. — Entferntsein, nun das besagt Differenz, Gegensatz — und zwar eben im Ganzen und im Grundsätzlichen. Und natürlich besagt Differenz etwas mit Bezug auf jede der beiden differenten Seiten: sie besagt etwas über den deutschen Idealismus, ebenso aber auch besagt sie etwas über uns, über uns Heutige. Wie immer wir Heutige über den deutschen Idealismus denken mögen — ob gut oder schlecht, wir verraten notwendigerweise dabei nicht wenig auch über uns selbst — sei es Gutes oder Schlechtes; an diesen Umstand sollten wir denken. Beginnen wir mit dem, was auf der Seite des deutschen Idealismus an dieser Differenz zwischen ihm und uns schuld ist, mit dem also, was uns an ihm mißfällt. — Als ein ganz außerordentliches ingenium praecox hatte SCHELLING seinen Weg begonnen; enttäuscht, verärgert und hilflos war er im Schlußabschnitt seines Weges. Alles, was in der idealistischen Bewegung erarbeitet worden war (von den anderen und, in seiner Glanzzeit, auch von ihm), das nannte er zuletzt negative Philosophie: bloße — negative — Bedingung, will das heißen, für eine wirkliche, ,positive', erst von ihm zu schaffende Philosophie; was er unter diesem Titel immer wieder ankündigte und niemals wirklich vorlegte, wovon wir uns nur behelfsweise eine entwickeltere Vorstellung machen können, lief auf eine Art spekulativmystische Theologie hinaus, auf eine ,Philosophie der Mythologie' und eine ,Philosophie der Offenbarung' (VOLKMANN-SCHLUCK hat neuerdings die erstere [1969], H. HOLZ die letztere [1970] eingehend untersucht). Man braucht bloß für einen Augenblick an KANT zurückzudenken, um betroffen festzustellen, was aus der idealistischen Bewegung, die doch von KANT ihren Ausgang genommen hatte, zuletzt geworden war. — SCHELLING war überzeugt, daß er es war, der die idealistische Bewegung zu ihrer Vollendung führte, daß keineswegs es Hegel war. Hegel sei nur Episode; er habe keinen Fortschritt gebracht, er habe nur bearbeitet, was allein SCHELLING erfunden habe, und es zudem falsch angewendet: nämlich das Logische an die Stelle des Realen gesetzt (MARX hätte das so ähnlich sagen können). — Seit SCHELLING die Vorrede zur Phänomenologie des Geistes

Mehr als ein Jahrhundert seit dem Ende des Idealismus

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im Hehbst 1807 gelesen hatte, war und blieb er Hegel gram; er fühlte sich angegriffen, weil Hegel da der Anschauung den Begriff entgegengesetzt hatte (Schelling an Hegel am 2. 11. 1807). Ich meine, SCHELLING spürte angesichts des Hegel'schen Buches sehr genau, was sich inzwischen ereignet hatte: Hegel hatte ihn nicht nur eingeholt, sondern war sich sicher, Schelling für immer überholt zu haben. Wenn SCHELLING Hegel nur für eine Episode halten wollte, so hielt Hegel seinerseits die Philosophien der anderen für Episoden, Etappen, Durchgangsphasen: die ,Reflexionsphilosophien der Subjektivität' von KANT, JACOBI und FICHTE, ganz zu schweigen von REINHOLD; und wenn er 1801 in der Differenzschrift SCHELLING noch FICHTE gegenüber im Vorteil hatte sein lassen, inzwischen wußte er längst, daß er selber einen höheren Standpunkt einnehmen wollte, den Standpunkt im Absoluten, in welchem FICHTES System der Intelligenz und SCHELLINGS System der Natur zu vereinigen seien. — Wie SCHELLING und Hegel diejenigen, die vor ihnen sich geäußert hatten, als Vertreter bloßer Durchgangsstufen betrachteten, so hatte schon FICHTE es mit KANT gemacht. Wie die übrigen so sah auch er in KANT den Ausgangspunkt der großen idealistischen Bewegung, und wie die übrigen so betrachtete auch er bereits KANT als den Mann, der auf halbem Wege stehen geblieben sei und über den man deshalb hinausgehen müsse, und sei es auch nur in dem Sinne: „von dem, was er wirklich sagt, sich erhebend zu dem, was er nicht sagt, aber, um das Gesagte sagen zu können, (es) voraussetzen mußte" (so noch 1804, in den Vorträgen zur Wissenschaftslehre) oder auch spekulativ das nachliefernd, wovon KANT noch recht unspekulativ als einer Voraussetzung einfach ausgegangen sei (daß nämlich ein Mannigfaltiges für die Synthesis des Bewußtseins eben gegeben sei), wobei FICHTE bereit ist, KANT seine Unzulänglichkeit zu vergeben: denn KANT „konnte, von dem Punkt aus, auf welchen er sich gestellt hatte, von keiner andern [Voraussetzung] ausgehen" (so schon 1795, im Grundriß des Eigentümlichen der Wissenschaftslehre . ..). Fassen wir diese historischen Beobachtungen kurz zusammen; von dem Augenblick an, in dem der erste — FICHTE — anfängt, mit spekulativer Zielsetzung über KANT hinauszugehen, setzt eine Entwicklung ein, innerhalb welcher jeder der nachfolgenden seine Vorgänger zu überbieten sucht, weil er in ihnen Repräsentanten bloß von Zwischenstufen, von ,Episoden', sieht. Ein bißchen verräterisch ist dabei, daß es sich keiner besonders schwer macht, seine Vorgänger bloß auf diese Weise zu betrachten und zu würdigen. Recht früh bildet sich Hegel sein Urteil nicht nur über KANT, sondern auch über FICHTE und dann bleibt er bei diesem Urteil; er wiederholt es oft und sichtlich gern. Und SCHELLING gar antwortet FICHTE

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(1801) auf dessen Befürchtung, daß SCHELLING die Wissenschaftslehre nicht „durchdrungen" habe; „Dies kann umso eher der Fall gewesen sein, da ich, als jene Briefe [die Briefe über Dogmatismus und Krüicismus] entstanden, von der Wissenschaftslehre in der Tat nur die ersten Bogen kannte. Aber freilich habe ich sie in diesem Sinne bis jetzt nicht durchdrungen, noch bin ich gesonnen, sie in diesem Sinne jemals zu durchdringen." Wenn wir nunmehr versuchen, uns dieses teils geniale, teils befremdliche Verhalten der Idealisten, diese Rivalität und dieses gegenseitige SichÜberbieten, begreiflich zu machen, so reicht es nicht aus, lediglich auf das Naturell dieser Männer und/oder auf den romantischen Geist der Epoche zu rekurrieren; ganz entschieden müssen wir vielmehr auch den Begriff von Philosophie miteinbeziehen, der diese Idealisten bestimmt und den sie recht eigentlich selber erst entwerfen und realisieren. Die Grundtatsache ist diese doppelte: an KANT knüpfen sie an, aber über KANT wollen sie auch entschieden hinaus. — Auf zwei verschiedene Stänune hatte KANT die Möglichkeit unserer Erkenntnis zurückgeführt; sollte es aber nicht möglich sein, hinter der Dualität eine Einheit, hinter der Differenz eine Identität zu denken? Wie eine bloß naturale Tatsache hatte KANT die Gegebenheit der sinnlichen Mannigfaltigkeiten behandelt; mußte nicht eine ,Deduktion' dieser sinnlichen Vorstellungstatsache möglich sein? In seiner Kategorientheorie hatte KANT das spekulative Prinzip des Idealismus berührt, aber hatte er es nicht dann sofort wieder fallen lassen? Mußte es nicht möglich sein, es uneingeschränkt durchzuführen? Nicht hoch genug kann KANT die Entdeckung der Dialektik angerechnet werden; aber mißverstand er nicht gleichzeitig ihren Sinn und ihre Funktion? Mußte man der Dialektik nicht — statt einer bloß negativ-kritischen Funktion — vielmehr die schlechterdings positive Funktion zudenken, geradezu die Methode spekulativer Erkenntnis darzustellen? Und war nicht die Folge der Vernunftkritik, diese Beschränkung der Vernunft, jeglichem Prinzip der Spekulation geradewegs entgegen? War es nicht unerträglich, ein gebildetes Volk nunmehr ohne Metaphysik zu sehen — wie einen Tempel ohne Allerheiligstes? Durfte man wirklich von dem, was für hundert Taler gelten mochte, auf das schließen, was von Gott zu denken ist? Sicherlich nicht ohne jeden Anlaß, aber möglicherweise weit entfernt von einem dafür zureichenden Grund gingen diese Idealisten entschlossen über die Schranken hinaus, die KANT der spekulativen Vernunft hatte auferlegen wollen. Von dem, was KANT an „Disziplin" von der reinen Vernunft gefordert hatte, blieb da wohl kaum mehr etwas übrig. KANT hatte gefragt: „Weil wir denn durch Kritik unserer Vernunft endlich so

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viel wissen, daß wir in ihrem reinen und spekulativem Gebrauche in der Tat gar nichts wissen können; sollte sie nicht ein desto weiteres Feld zu Hypothesen eröffnen, da es wenigstens vergönnt ist, zu dichten und zu meinen, wenngleich nicht zu behaupten?" Und dann hatte er sehr bestimmte strenge Bedingungen fixiert, unter denen allein solche Hypothesen gebildet werden durften, und ebenso sehr bestimmte strenge Forderungen auf gestellt, die sie in jedem Falle zu erfüllen hätten. — Ist es nicht dies, daß die Idealisten jede Grenzziehung für die spekulative Vernunft verachteten und sich im weiten und freien Feld spekulativer Hypothesen tummelten, was einmal den Grundcharakter ihrer Art von Philosophie ausmacht und was sodann auch uns Heutigen ihre Art von Philosophie so fremd macht? So ganz „überschwänglich", wie KANT sagen würde. KANT war kein Empirist: er wies der theoretischen Vernunft erfahrungsüberschreitende Aufgaben zu, aber gleichzeitig beschränkte er diese Aufgaben auch in strikter Weise; die theoretische Vernunft hat soweit über Erfahrung hinauszugehen (darf aber auch keineswegs weiter über sie hinausgehen wollen), wie es erforderlich ist, um Möglichkeit und Gültigkeit der Erfahrung zu erklären. Mit so wenig Möglichkeit und so wenig Aufgabe wollte sich die Spekulation der Idealisten nicht begnügen. Aber hat nicht eben dies zur unausbleiblichen Folge, daß sich diese idealistischen Konzeptionen, zum mindesten, wenn man sie jeweils als ganze nimmt, im luftigen Reich bloßer spekulativer Denkmöglichkeiten bewegen, in einem Reich, in dem sich nichts mehr als wirklich notwendig und darum allein als wahr erweisen, und vielerlei Entgegengesetztes mit gleich geringem Recht vortragen und vertreten läßt: jegliches vielleicht genial, aber keines eine gesicherte, sicherbare Erkenntnis? Ich meine, erst die Tatsache, daß sich diese Idealisten so weitgehend im genialen, aber luftigen Reich bloßer spekulativer Denkmöglichkeiten bewegen, erklärt zureichend das charakteristische Verhalten, das wir historisch an ihnen beobachten können: ihr unbesorgter Elan, ihre wechselseitige Rivalität, ihre Verletzlichkeit, ihr Wissen um die je eigene Unwiderlegbarkeit. Wenn der eine mittels seiner spekulativen Ichtheorie alle Rätsel lösen will, so kann ein anderer sie mittels seiner spekulativen Naturtheorie lösen wollen, ein dritter mittels seiner spekulativen Geistestheorie, aber auch mittels einer spekulativen Theorie von der Identität zwischen der Identität und Nicht-Identität von Subjekt-Objekt und ObjektSubjekt, nicht minder aber auch in der Weise, daß wiederum einer von ihnen alle diese Absolutheitstheorien ins bloße, ,negative', Vorfeld der wirklichen und ,positiven' Philosophie verweist, die erst ihm gelingen könne und in der sich ein unvordenkliches Sein Gottes als das wahre Ab-

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solute erweisen soll. — Aber nicht nur unter- und gegeneinander wetteifern sie, um sich wechselseitig zu überbieten, sie liegen zuweilen sozusagen auch jeder mit sich selbst im Wettstreit, sich selbst also — um recht zu behalten — von Phase zu Phase überbietend; so ist es mit FICHTE, der an seiner einen Wissenschaftslehre über die Zeit seines Lebens hinweg einschneidende Veränderungen vornimmt (vom Ich zum Sein und zum Licht) und doch ihre jeweilige Gestaltung mit dem Charakter der definitiven Wahrheit versehen will; so ist es mit dem wahren Proteus SCHELLiNG, der sich dabei aber doch über die Jahrzehnte hinweg völlig für einhellig mit sich selbst hält; ein bißchen anders ist es mit Hegel: Hegel hat lang gebraucht, bis er wirklich seinen Boden unter den Füßen hatte, aber dann, als er beisammen hatte, was er brauchte, hielt er für immer daran fest: an der Grundkonzeption wie an der durchgehenden Methode; im Detail freilich hat er zuweilen das eine und andere geändert und solche Änderungen sind dann fast immer etwas verräterisch; aber gleichgültig, ob er einmal etwas abändert oder ob er bei einmal eingenommener Position bleibt, in jedem Fall ist er überzeugt, daß die Dinge notwendigerweise so gedacht werden müssen, wie er sie denkt (und handle es sich auch, wie in seiner Habilitationsschrift, um eine vermeintliche Lücke zwischen den Planetenbahnen); die für jeden von uns empfehlenswerte Sorge, die Dinge ließen sich vielleicht doch auch anders denken, als man selbst meint, — diese Sorge, glaube ich, hat Hegel wenig zu schaffen gemacht: in der Tat, im luftigen Reich der freien Spekulation, in welchem alles, was man für eine Tatsache halten mag, auch absolut ,ableitbar' erscheint, sind Notwendigkeit von Gedanken und bloße Denkbarkeit kaum mehr voneinander unterscheidbar. Ganz gewiß zwar nicht mit Bezug auf seine eigene ,positive' Philosophie, wohl aber mit Bezug auf allen vorangegangenen Idealismus war da der älter gewordene SCHELLING erheblich skeptischer hinsichtlich des Notwendigkeitsmodus der spekulativen Theorien. Es ist auf die spekulative Logik des ungeliebten Hegel gemünzt, wenn er in seinen Münchner philosophiegeschichtlichen Vorlesungen (1827) sagt: „Ich glaube selbst, daß man diese sogenannte reale Logik leicht auf zehnerlei verschiedene Art machen könnte." Und es ist doch recht bezeichnend dafür, wie sich noch der Altgewordene den idealen philosophischen Zustand denkt, wenn er 1841 in seiner Berliner Antrittsvorlesung sagt: „Ich trete mit der Überzeugung unter Sie, daß . . . ich hier das Bedeutendste für sie [die Philosophie] tun werde, wenn es mir gelingt, sie ... wieder hinauszuführen in die freie, unbekümmerte, von allen Seiten ungehemmte Bewegung." —

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Wir sind dabei, nach den Gründen dafür zu suchen, daß uns Heutigen der deutsche Idealismus zu einem historischen Gegenstand geworden, in systematischer Hinsicht so ferne gerückt ist; und bisher haben wir nach solchen Gründen auf seiner Seite gesucht; jetzt aber sollten wir doch auch auf unserer eigenen Seite suchen. Da nun finden wir schnell, meine ich, daß uns Heutigen der deutsche Idealismus systematisch ferne gerückt sein muß, so gewiß wir im Zeitalter eines blühenden und früchtetragenden Empirismus leben. Was soll in der Tat dieser Idealismus einem erneuerten Empirismus bedeuten, welcher seit einigen Jahrzehnten auf der philosophischen Szene dominiert und zuletzt sogar auch hier in unserem Vaterland systematisch interessierte Köpfe zu bestimmen und zu fesseln begonnen hat! BERTRAND RUSSELL hat in seiner History of Western Philosophy zwar Hegel ein — übrigens nicht großartiges — Kapitel gewidmet (schließlich hatte er in Cambridge unter Mc TAGGART als eine Art Hegelianer begonnen), aber FICHTE nur 16 und SCHELLING gar nur 4 Zeilen; zu beiden bemerkt er, daß sie philosophisch nicht bedeutend gewesen seien. Wer immer, meine ich, heute systematische Arbeit in der Philosophie tut, ist in erheblicher Weise von den Grundgedanken und Grundmustern jener Denkbewegung bestimmt, die ich soeben als erneuerten Empirismus bezeichnet habe. Und dies einfach schon deswegen, weil diese Denkbewegung auf gar manchem Gebiet unleugbare Fortschritte gebracht hat, die der Systematiker so oder so zu integrieren gezwungen ist. Ich darf einiges wenige davon kurz andeuten. — Da haben wir beispielsweise die nun schon über hundert Jahre alte neuere Logik mit den vielen Klärungen, die sie gebracht, und dem für so viele Zwecke dienlichen Instrumentarium, das sie geschaffen hat. Aber ihr gesamtes Grundmuster ist so, daß die Kluft zwischen ihr und dem, was die deutschen Idealisten (KANT, FICHTE, Hegel) unter Logik (transzendentaler und spekulativer, ja selbst formaler) verstanden, unüberbrückbar erscheint. Was soll der ,moderne' Logiker von den Idealisten sich erwarten können? Nicht selten ist er darauf stolz, sagen zu können, daß er solche Logik nicht einmal verstehe. — Da haben wir, weiterhin, die neuere Wissenschaftstheorie; sie hat Klärungen erzielt, von denen noch zu Beginn unseres Jahrhunderts niemand auch nur hätte träumen können. Nie hat sie sich von den deutschen Idealisten irgendeine Hilfe erwartet und erwarten können, selbst zu KANT stand sie in entscheidenden Punkten völlig quer, wenn es auch gelegentlich (etwa bei POPPER) zu Achtungsbezeugungen und partiellen (sehr partiellen) Zustimmungen kam; was sollte sie aber mit den Naturspekulationen SCHELLINGS oder Hegels anfangen wollen? — Für reinen Plunder gar muß sie, selbst wo sie

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nicht an dem rigorosen Abgrenzungskriterium ihrer Anfänger festhält, die gesamte idealistische Metaphysik halten: von FICHTES früher Ich-Lehre an ausnahmelos alles bis zu SCHELLINGS ,positiver Philosophie'. — Innerhalb des Grundlagenrahmens neoempiristischer Art haben wir dann auch die sprachanalytische Philosophie; wo diese nicht etwa lediglich die Gewohnheiten und Strukturen der oder jener faktischen Sprache empirisch beschreibt, sondern logisch-kritische Analyse leistet, hat sie gar manche Dinge erfolgreich zu klären und gar manche langwierige Täuschungen auszuräumen verstanden, und es besteht kein Grund zur Besorgnis, daß sie nicht noch lange Zeit Stoff für ihre Arbeit haben wird. Aber die Spekulation des deutschen Idealismus kann ihr durchwegs Hekuba bleiben, und zwar nicht nur, soweit sie bloß deskriptiv sein und etwa beschreiben will, wie ,wir' über moralische Dinge zu reden, moralisch zu bewerten und moralische Gebote zu formulieren pflegen, sondern selbst auch dort, wo sie sich analytisch-kritische Aufgaben stellt: auch in diesem Fall braucht sie weder die Ethik-Konzeptionen noch die Freiheitsdoktrinen eines spekulativen Idealismus. Selbst von KANT braucht sie keinen seiner Hauptgedanken. In einer langen Kritik im ,Mind' hat sich 1972 WALTER CERF mit P. F. STRAWSON'S KANTbuch The Bounds of Sense (1966) auseinandergesetzt. Man könnte zum Paradigma für dieselbe Erscheinung natürlich auch andere Bücher, so etwa BENNETT'S zwei KANrbücher nehmen, aber vielleicht ist kein anderes gleichzeitig so klug und doch so wenig KANTisch wie das SrRAwsoN'sche; es ist in der Tat so, wie CERF es in Anknüpfung an den Buchtitel bemerkt: Die Sinnesschranken — „ein sehr KANTischer Titel für ein sehr SrRAWsoN'sches Buch"; quer zu KANT stellt sich dieses Kantbuch — oft ist überdies kaum zu sagen, ob mit Absicht oder unfreiwillig; natürlich kommt bei einem so klugen Autor auch so noch genug Interessantes heraus — nur freilich kaum etwas, was den Hauptgedanken der KANrischen Vernunftkritik, selbst den Problemstellungen nach, gerecht würde: STRAWSON'S eigene Probleme sind nicht nur in vielen Punkten mehr oder weniger andersartig, sie sind vor allem auch weniger weitreichend. — Dies letztere bringt uns auf ein weiteres für unseren heutigen Empirismus bezeichnendes Moment, das diese unzulängliche Auswahl aus seinen Charakteristica abschließen soll: die deutliche Abneigung gegen eine Systembildung und, korrelativ, die absichtliche Beschränkung auf, wie man überzeugt ist, bearbeitbare — allein erfolgreich bearbeitbare — EiuzeZprobleme. Dies war — negativ und affirmativ — schon das erklärte Programm RUSSELL'S {On Scientific Method in Philosophy, sein HERBERT-SPENCER-Vortrag 1914 in Oxford) und es ist mehr oder minder das allgemeine Leitbild aller Arbeitsrichtungen des neueren, gegen-

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wärtigen, Empirismus; es ist sicherlich diesem Leitbild verdankt, wenn wir heute über viele Dinge (in der Logik, Wissenschaftstheorie, usw.) erheblich Genaueres, Detaillierteres, wissen, als man jemals zuvor darüber gewußt hat; und darauf wieder stützt sich begreiflicherweise das Gefühl, daß man bei solcher Art philosophischer Arbeit, und bei ihr allein, ganz ähnlich wie in den empirischen Wissenschaften echte Fortschritte erziele, Probleme zur Entscheidung bringe, und so Schritt für Schritt in der Erkenntnis tatsächlich vorankomme — ganz anders eben als unter dem überholten Trugbild philosophischer Systembildungen, unter dem, wie es RUSSELL einmal formuliert, „jeder originelle Philosoph die Arbeit von vorne beginnen mußte, ohne eine Möglichkeit, von der Arbeit seiner Vorgänger irgend etwas Definitives zu übernehmen". — Da stehen nun freilich die deutschen Idealisten als die ganz Überholten und als die Blamierten da: mit ihren logischen Spekulationen — statt des Instruments einer zur wirklichen Arbeit tauglichen Logik; mit ihren erkenntnistheoretischen Spekulationen über den wahren Abgrund für die Identität des Subjekt-Objekts mit dem Objekt-Subjekt — statt einer die kontrollierbaren Verhältnisse wirklich aufklärenden Wissenschaftstheorie; mit ihren metaphysischen Spekulationen über den Hervorgang der Welt und des Bewußtseins von der Welt; mit ihren Spekulationen über eine abgründige Freiheit des Subjekts, welche nicht nur kein Graugänse- oder Primatenforscher bei sich oder anderen aufzufinden vermag; mit ihren Schlag auf Schlag sich ablösenden und überbietenden Systembildungen, zwischen denen sich allenfalls philosophische Herzen, aber keine nachprüfenden Köpfe zu entscheiden vermögen. Um das Bisherige zusammenzufassen: Weit in geschichtliche Ferne gerückt erscheint uns Heutigen der deutsche Idealismus, und zwar einmal aufgrund dessen, was er gewesen ist, aber dann auch aufgrund dessen, was wir Heutigen sind. — Welche tatsächlichen Folgen hat diese Sachlage? Vor allem aber: Was wären die Folgerungen, die wir aus dieser Sachlage in Wahrheit ziehen sollten? Die fast natürliche Folge der Sachlage ist das, was wir tatsächlich beobachten : zwei Gruppierungen, von denen die eine von solcher Philosophie wie der des deutschen Idealismus nichts wissen will — und wohl nicht selten auch wenig oder nichts Genaues weiß, und die andere weder vom älteren noch vom neueren Empirismus etwas wissen will — und vielleicht ebenfalls von der anderen Seite wenig oder nichts Genaues weiß. — Nun ist aber diese fast natürliche Folge jener Sachlage gewiß nicht auch das, was zu wünschen und zu fordern wäre. Zu wünschen und zu fordern wäre vielmehr so etwas wie ein Verhalten nach dem PoppER'schen Falsifikations-

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prinzip: ein hartes und unnachgie'biges Prüfen der je eigenen Grundpositionen. Allen Vorzügen und Errungenschaften der empiristischen Arbeitsrichtungen zum Trotz würde, meine ich, die philosophische Vernunft ihren Vertretern doch sagen wollen, was OLIVER CROMWELL dermaleinst (1650) zu den Kirchen von Schottland gesagt hat: „Ich beschwöre Euch, es für möglich zu halten, Ihr könntet Euch irren" — irren, meine ich, mit der Selbstsicherheit gegenüber allem spekulativen Idealismus. Und den Anhängern des deutschen Idealismus würde, meine ich wiederum, die philosophische Vernunft sagen wollen: so zweifellos notwendig das historische Studium dieses Idealismus ist und bleibt und also auch alle editorische und kommentierende Arbeit an ihm, so solltet ihr doch gleichzeitig jener Verhaltensweise gegenüber recht skeptisch sein, die ihr selbst gerne als Nachvollziehen bezeichnet; weil Nachvollziehen zwar nichts Gutes schlechter, aber eben auch nichts Schlechtes besser macht; und weil sich Gutes und Schlechtes gleicherweise nachvollziehen läßt, darum kann nur etwas recht anderes allein weiterhelfen: kritische Analyse, die sich, erstens, in den betreffenden Problemhorizont ein und auf das betreffende Problemniveau emporarbeitet, beides dann aber auch auf seine Echtheit und Gediegenheit prüft, und die, zweitens, die betreffenden Methoden und die damit erzielten Resultate sorgfältig würdigt, sie aber auch auf ihre Verläßlichkeit und ihren Wert prüft. — Aber, so scheint mir, diese an die beiden Adressen gerichtete Aufforderung ist beileibe nicht alles, was angesichts dieser gegenwärtigen Sachlage die philosophische Vernunft von uns verlangen will. Und ich meine, sie verlangt es unbedingt, sofern wir selber systematisch arbeiten wollen. Sobald wir nämlich selber systematisch arbeiten wollen, steht sofort dieses eine fest, daß es beim bloßen Außereinander, beim unvermittelten Gegeneinander, der beiden Grundpositionen schlechterdings nicht bleiben kann. Unmöglich kann der Systematiker für die eine der beiden unter Ausschluß der anderen optieren wollen. Zu jedem Zeitpunkt der Philosophiegeschichte gilt ja, daß die systematische Philosophie ihrer Aufgabe nicht gerecht werden kann, wenn sie nicht die Gesamtproblemlage so, wie sie sich jeweils ergeben hat, zu akzeptieren bereit ist. Das einzelne philosophische Individuum mag da zwar für sich Stücke auswählen und auf seine Beschränkung und deren Resultate dann vielleicht gar stolz sein; aber für den objektiven Fortgang der systematischen Philosophie selber zählt nichts als die jeweilige Gesamfproblemlage und das Ausmaß ihrer Bearbeitung. Mir scheint nun, daß heute die systematische Philosophie ihrer selbst so lange nicht wird froh werden können, wie sie nicht in dem bislang unvermittelten Gegensatz zwischen idealistischer Tradition und neue-

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rem Empirismus einen der Kernpunkte der gegenwärtigen Gesamtproblemlage zu erkennen bereit ist und an die Bearbeitung auch dieses Kernpunkts herangeht. — Es gibt ein paar Grundgesetze für die Arbeit in philosophischer Systematik; eines davon betrifft den leicht beobachtbaren und gut begreiflichen Umstand, daß man gewisse Fragen nicht in begründeter Weise bearbeiten und beantworten kann, wenn nicht schon bestimmte Theoreme wohlbegründet zur Verfügung stehen. So lautet denn das entsprechende Grundgesetz: Es gibt logische Relationen theoretischer Vor- und Nachordnung, und zwar innerhalb schon jedes größeren Stücks, dann innerhalb jeder Disziplin, schließlich zwischen allen Disziplinen, also innerhalb der Gesamtsystematik; darum ist ein konkreter Zustand philosophischer Systematik stets genau so viel theoretisch wert, wie weit er jenen logischen Relationen der Begründungsverhältnisse gerecht wird. Es sind diese Innenstrukturen, die die Systematik zur Systematik machen; ganz und gar nichts hat demgegenüber mit der Gesetzlichkeit der Systematik dasjenige zu tun, was einer törichten Tradition zufolge immer wieder einmal gegen den Systemgedanken vorgebracht wird: die Gefahr des gedanklichen Abschlusses; in Wahrheit gibt es gerade keine Gesetzlichkeit, der gemäß legitimer Systemabschluß möglich wäre; die Systematik schließt vielmehr jede Abschließbarkeit aus; sie bleibt notwendigerweise ,offene' Systematik; es sind eben wirklich die Innen-, nicht aber irgendwelche Grenzverhältnisse, die die Systematik zur Systematik machen. Macht man sich nun diese Gesetzlichkeit zur Grundlage der eigenen systematischen Arbeit, so entdeckt man sehr bald diejenigen Verhältnisse, die es erlauben, über die prinzipielle Unvereinbarkeit, über das unvermittelte Gegeneinander, des älteren Idealismus imd des erneuerten Empirismus hinauszukommen und wenigstens dem Grundsätze nach den Weg vor sich zu sehen, den wir heute hinsichtlich einer Überwindung der bisherigen Lage zu gehen haben. — Vielleicht ist das Allerwichtigste, was man dabei entdeckt, dies, daß sich die Überlegungen, Analysen und Theorien der beiden Denkrichtungen sehr weitgehend einfach auf verschiedenen Problemebenen bewegen: wie früher so auch heute bewegt sich der Empirismus vorzugsweise auf Ebenen, die der Ebene der ,Erfahrung', d. h. des Denkens des Alltags und des Denkens der Erfahrungswissenschaften, benachbart bleiben, und hier hat der Empirismus stets seine Art von Stärke und seine Weise der Unersetzbarkeit; das gilt für seinen Typus von Logik, von Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie, von praktischer Philosophie, Spraditheorie usw. Und genau auf diesen Ebenen hat, umgekehrt, der Idealismus seine Stärke in aller Regel nicht, und es wäre ein Irrtum, den

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traditionellen Idealismus da für konkurrenzfähig zu halten. Aber ebenso muß man dem Empirismus und Neoempirismus sagen, daß nun auch sein Irrtum um nichts geringer wäre, werm er seinerseits meinen möchte, daß auf jenen Überlegungsebenen, auf denen sich der Idealismus bewegt hat, nur Scheinprobleme oder gar Sinnlosigkeiten liegen würden. Mag der erneuerte Empirismus für diese Problemebenen uninteressiert bleiben und nur die Dinge bearbeiten, für die er sich interessiert; aber er muß es für möglich halten, daß manches ein echtes, ein bearbeitungsbedürftiges und bearbeitbares Problem ist, was ihm nur deswegen nicht begegnet und was er nur deshalb von seiner Arbeit ausschließt, weil er einmal selbst so hinterdenklich nicht sein will und weil sodann auch sein Grundlagenrahmen so beschaffen ist, daß eine Bearbeitungsmöglichkeit für ihn selbst in der Tat ausgeschlossen bleibt. Aber das ändert gar nichts an der Aufgabe, vor der wir objektiv stehen: nämlich zur Klarheit darüber zu kommen, wie es wirklich um die idealistischen Theorien steht, wo die einzelnen Theoreme systematisch hingehören, welche Fragen sie jeweils beantworten sollen, usw. Man mag hinsichtlich der Begründetheit dieser Positionen die stärksten Zweifel haben; man mag sogar daran zweifeln, ob sich in solchen spekulativen Bereichen überhaupt etwas auf den Modus gesicherten Wissens bringen lasse; aber nur in seltenen Fällen, meine ich, wird man leugnen können, daß die Fragen als solche, die die Idealisten vor sich sahen und die sie glaubten beantworten zu können, sich einem gründlichen Nachdenken in der Tat stellen und alles andere als sinnlose Fragen sind. Es genügt natürlich nicht, in dem Sinn Anhänger des Idealismus zu sein, daß man die Positionen des Idealismus ,nachvollzieht' und dabei meint, weil sie schwierig seien, seien sie auch schon die Wahrheit. Ebensowenig genügt es aber auch, in dem Sinn Anhänger des erneuerten Empirismus zu sein, daß man die Positionen dieses Empirismus erlernt, seine Attitüden imd seinen Grundlagenrahmen übernimmt und dabei meint, weil er so erfrischend nüchtern sei, bringe nun er alle Dinge ins wahre Licht. Wenn ich sage, daß meiner Meinung nach weder das eine noch das andere genügt, so habe ich damit auch schon gesagt, was ich, positiv, für erforderlich halte: die harte und langwierige Arbeit an einer umfassenden Systematik, die sowohl den Problemebenen, auf denen der Idealismus seine Stärke hatte, wie auch denen, auf denen der Empirismus stets seine Stärke gehabt hat, in kritischer Weise gerecht wird. In kritischer Weise — denn auf einen Synkretismus, der jedesmal fünf gerade sein läßt, kann es nicht hinauslaufen wollen. Weder der Idealismus noch der Empirismus werden in solcher Systematik einfach das bleiben können, was sie waren und was sie bislang sind. Dies läßt sich mit Sicherheit Voraussagen.

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Die Erarbeitung einer solchen Systematik ist eine so schwierige, vielfältige, umfassende Aufgabe, daß ohne Zweifel eine weltweite Zusammenarbeit der Philosophie notwendig sein wird. Aber lassen Sie mich, da ich ja auf deutschem Boden spreche, ein Wort einfügen, das speziell für uns deutsche Philosophen gelten will. Ich meine, uns verpflichtet die Aufgabe in besonderem Grade — und zwar aus einem ganz schlichten, technischen Grund: niemand anderem kann die kritisch-systematische Bearbeitung des deutschen Idealismus schon rein sprachlich so leicht fallen wie uns, und so haben wir denn unseren Anteil auch wirklich zu übernehmen. — Ich denke mit einigem Schrecken an die deutsche philosophische Situation in der Zeit nach dem 2. Weltkrieg bis anfangs der 60er Jahre. Da wollte man sehr weitgehend sich und den Nachwachsenden einreden, daß philosophische Systematik geschichtlich am Ende sei; es gehörte sozusagen zum guten Ton, insbesondere Logik, Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie vornehm beiseitezuschieben — als, wie man gelegentlich es formulierte, ,unwesentliches Denken'. Das mußte sich eines Tages rächen und es hat sich inzwischen gerächt. In einem Teil unseres Nachwuchses erwachte wieder das philosophische Urinteresse — und das ist nun einmal das systematische. Und natürlich wandte sich dieses systematische Interesse demjenigen zu, was gerade eindrucksvoll auf dem Markt war und dem Nachholbedürfnis entgegenkam; es war nun fast unvermeidlich, daß mit der Rezeption der neueren Logik, der neueren Wissenschaftstheorie, der Sprachanalytik die Rezeption auch des ihnen in der oder jenen Variante zugrundeliegenden Empirismus Hand in Hand ging. Man kann, meine ich, nur froh darüber sein, daß es zu diesem Nachholen, zu dieser Rezeption, bei uns endlich doch gekommen ist. Denn es ist damit die systematische Philosophie bei uns wieder einigermaßen in Gang gekommen. Wenn nun dieses wieder erlernte systematische Denken bei uns eines Tages bereit wäre, sich nicht mehr nur innerhalb desjenigen Grundlagenrahmens zu betätigen, innerhalb dessen es anfänglich seine Fähigkeiten erlernt hat, dann könnte bei uns tatsächlich möglich werden, was im Hinblick auf die große Aufgabe von uns gefordert wäre: nämlich den miterlernten empiristischen Grundlagenrahmen so zu modifizieren und vor allem so zu erweitern, daß eine ebenso kompetente wie kritische Auseinandersetzung mit den Positionen des deutschen Idealismus möglich würde. Eine solche Auseinandersetzung aber ist unerläßlich, wenn es nicht dabei bleiben soll, daß auf der einen Seite der Empirismus vornehm ignoriert und der Idealismus immer wieder bloß angepriesen und ,nachvollzogen', und auf der anderen Seite der Idealismus verkannt wird und die Grenzen des Empirismus für die Grenzen aller möglichen Philosophie überhaupt gehalten werden, — wenn viel-

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mehr das einzige, was uns letztlich interessieren kann, nämlich die systematische Philosophie, einen entscheidenden Schritt vorwärtskommen soll. Mehr als ein Jahrhundert ist seit dem Ende des deutschen Idealismus vergangen. Dieser deutsche Idealismus ist uns Heutigen unzweifelhaft geschichtlich fernegerückt. Das hängt zum einen Teil an ihm selbst: er hat seine deutlichen Mängel gehabt und er hat, je mehr ihn die höchsten spekulativen Probleme fesselten, sich um wichtige andere Dinge nicht oder zu wenig gekümmert, um die Fortbildung der formalen Logik beispielsweise oder um die Analyse der tatsächlichen Strukturen der Wissenschaften. Aber zu einem nicht geringeren Teil hängt die geschichtliche Ferne des Idealismus auch an uns, an unserem ausdrücklichen oder verschwiegenen Empirismus: wir beschränken uns auf einen Grundlagenrahmen, der so eng ist, daß wir fortwährend versucht sind, sogar die idealistischen Probleme als solche selbst für unsinnig zu halten, jedenfalls aber die idealistischen Theorien als unkontrollierbare Beliebigkeiten zu erachten, die wir beiseite lassen dürften und müßten. — Dieser gegenwärtige Kongreß hat ein merkwürdiges Doppelgesicht erhalten: einerseits nennt er sich ,Hegelkongreß 1975 im Schelling-Jubiläumsjahr' — und das ist ein historisches Moment; andrerseits ist er unter die Frage gestellt: ,Ist systematische Philosophie möglich?' — und das könnte einen Abschied von bloßer Philosophiehistorie und einen Mut zu neuer systematischer Arbeit andeuten. — Natürlich ist systematische Philosophie möglich; sie ist es von sich aus immer und de facto ist sie es stets dann, wenn nur die befähigten Köpfe nicht fehlen. Die wirkliche Frage ist eher die: Wie ist sie uns Heutigen möglich? Ich habe versucht, darauf die Antwort anzudeuten: In einer die philosophische Erkenntnis wirklich vorwärtsführenden Weise ist sie uns möglich durch eine harte, und sicher langwierige, Arbeit, in welcher erst einmal der traditionelle Irrtum zu überwinden ist, Idealismus und neuerer Empirismus müßten sich schlechthin und für immer wechselseitig ausschließen, und in welcher sodann, positiv, einfach am objektiven Leitfaden der Probleme sowohl der alte Idealismus wie der neuere Empirismus zu jener Art von unschätzbaren Steinbrüchen gemacht werden, aus denen sich die gesamte Philosophiegeschichte hindurch die Systematiker die Materialien zu holen pflegen, die sie brauchen, um die jeweils sich stellenden systematischen Aufgaben ihrer Epoche in Angriff nehmen zu können.

HERMANN SCHMITZ (KIEL)

DAS DIALEKTISCHE W A H R H E I T S V E R S T Ä N D N I S UND SEINE APORIE

Was Dialektik als Methode und Devise philosophischer Systematik ist, kann nur mit Bezug auf Hegel deutlich werden, wenn auch nicht nur an Hegel. Ohne diesen Bezug verstrickt sich die Suche nach einem spezifisch dialektischen Stil in der Geschichte des Denkens in ein wirres Knäuel heterogener Sinngebungen. Dennoch ist Hegel nicht höchster Gipfel eines durch die Geschichte erstreckten Gebirges dialektischer Bemühungen, sondern ein exzentrischer Randfall, als Dialektiker fast unvergleichbar mit allen Denkern vor und nach ihm. Im allgemeinsten hier einschlägigen, aber angesichts der Vielfalt geschichtlicher Verwendungen des Wortes „Dialektik" immer noch stark eingeschränkten Sinn möchte ich als dialektisch ein Denken bezeichnen, dem sich der Satz vom Widerspruch als eine Schranke, eine Hemmung darstellt, die es zu überwinden gilt. Das kann auf zwei Weisen geschehen: einmal durch Paradoxe, die dem Ideal der Widerspruchsfreiheit glatt ins Gesicht schlagen. Solche Paradoxe sind Sätze oder Aggregate von Sätzen, in denen etwas behauptet und zugleich dementiert wird. Das paradox-dialektische Denken ist nur deshalb widersprüchlich, weil es für gewisse Sätze Wahrheit sowohl in Anspruch nimmt als auch ablehnt. Auf der anderen Seite steht das dialektische Denken im Stil Hegels, das nicht in dieser Weise paradox ist und dennoch den Satz vom Widerspruch gleichsam überspielt, weil es gar nicht mehr für Sätze, sondern nur noch für gleitende Übergänge von Satzsinn zu Satzsinn Wahrheit in Anspruch nimmt. Ein solches Denken untersteht nicht dem Satz vom Widerspruch, der nur das Denken in Sätzen regelt, nicht das Satzsinngleiten; diesem kann der Widerspruch sogar als Motor dienen, ohne daß es auch nur in der Lage wäre, widerspruchsvoll zu sein. Hegels ursprüngliche dialektische Tat ist daher eine Umbestimmung des Substrats der Wahrheit: Nicht mehr Sätzen oder Satzsinnen (Sachverhalten) wird Wahrheit zugetraut, sondern geregelten Übergängen zwischen Satzsinnen. Dem entspricht eine Umbestimmung der Wahrheit selbst und damit des Erkenntnisinteresses: Wahr ist für Hegel nicht mehr ein Satz, der, ge-

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messen an einem „Gegenstand der Erkenntnis"^ richtig ist, sondern ein Satzsinngleiten, das durch seine integrierende Dynamik alle Einseitigkeiten möglicher Behauptungen zusammenwachsen läßt zu einem Ganzen, das auf diese Weise als Prozeß allseitig und konkret ist. Auf diesem spezifisch dialektischen Wahrheitsverständnis beruht Hegels Sonderstellung in der Geschichte der Dialektik und die von ihm eröffnete einmalige Aussicht, durch Dialektik eine allumfassende philosophische Systematik garantieren zu können, in Form geregelten Ineinandergleitens aller Satzsinne zu einer universalen Symphonie aller erdenklichen Sachverhalte. Sein Traum, auf diese Weise die Philosophie von der Liebe zum Wissen zu wirklicher Wissenschaft zu erheben scheitert aber, weil auch er nicht umhin kann, gegen seine Intention für gewisse Sätze (nämlich seine eigenen) Wahrheit zugleich zu beanspruchen und abzulehnen. An dieser Aporie des dialektischen Wahrheitsverständnisses, das Hegels Sonderstellung in der Geschichte der Dialektik ausmacht, scheitert von vornherein — abgesehen von allen Einzelbedenken — sein Versuch eines wissenschaftlichen Systems der Philosophie und damit die einzige Hoffnung, systematische Philosophie in wissenschaftlich haltbarer Weise auf Dialektik zu gründen; denn die andere Form der Dialektik, die paradoxe, ist dazu erst recht nicht in der Lage. Damit ist der Gedankengang vorgezeichnet, den ich im Folgenden ausführen und begründen möchte. Erstes Dokument methodisch betriebener paradoxer Dialektik ist PLATONS Parmenides, „wohl das größte Kunstwerk der alten Dialektik" wie Hegel meint. Von da ab gibt es solche Dialektik zwei Jahrtausende lang ausschließlich in der spekulativen Theologie auf der via eminentiae et negationis. Statt von den Neuplatonikern, die den Parmenides in diesem Sinn herangezogen haben, und der Mystik bis zu MEISTER ECKHART einschließlich zu sprechen, will ich hier nur kurz darauf hinweisen, daß HEINRICH SEUSE in seinem Büchlein der Wahrheit, Kapitel V, schon genau den Gedanken vorwegnimmt, den NIKOLAUS VON KUES bald darauf, aber hinter einer historischen Epochenschwelle, mit seiner Lehre von der coincidentia oppositorum entfaltet. ® Die coincidentia ist für NIKOLAUS „contradictio sine contradictione" in dem Sinn, daß der Widerspruch sich wie eine 1 Hegel: Phänomenologie des Geistes. Hrsg, von J. Hoffmeister. 6. Aufl. Hamburg 1952. Vorrede. 12: „Die wahre Gestalt, in welcher die Wahrheit existiert, kann allein das wissenschaftliche System derselben sein. Daran mitzuarbeiten, daß die Philosophie der Form der Wissensdiaft näherkomme, — dem Ziele, ihren Namen der Liebe zum Wissen ablegen zu können und wirkliches Wissen zu sein, — ist es, was ich mir vorgesetzt." 2 Ebd. 57. ä Heinrich Seuse: Deutsche Schriften. Hrsg, von K. Bihlmeyer. Stuttgart 1907. 341.

Das dialektische Wahrheitsverständnis und seine Aporie

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Mauer vor Gott als der Unendlichkeit aufbaut, in der alle Dinge einfach und Widersprüche ohne Widerspruch sind Gott als die Unendlichkeit ist „ultra murum coincidentiae" In den göttlichen Dingen muß man — so heißt es bei Erörterung der Trinitätslehre in De docta ignorantia — den Widerspruch, ihm zuvorkommend, umgreifen, insbesondere hinsichtlich Identität (indistinctio) und Verschiedenheit (distinctio); so kann 1 = 3 sein. ® Schon hieran wird deutlich, daß NIKOLAUS nicht, wie Hegel, den Widerspruch als Motor eines gleitenden Denkens benützt, das sich, Satzsinne durchlaufend, in sprachlicher, diskursiver Form entwickelt, ohne sich bei irgend einem Satzsinn behauptend aufzuhalten; vielmehr strebt NIKOLAUS hinter die Dialektik als Entfaltung des öiaA.EyEö'&ai, hinter die Hochstilisierung des Einander-Widersprechens im Gespräch zurück zu einer nicht-diskursiven Intuition des Unsagbaren, „ultra murum coincidentiae". Neben solcher Hegelfeme markiert die zuletzt herangezogene Stelle aber auch die größte Hegelnähe des CUSANERS, weil sie die Dialektik beim Verhältnis zwischen Identität und Verschiedenheit und damit an Satzsinnen oder Sachverhalten ansetzt, nicht an sinnlichen Objekten wie geometrischen Figuren, an denen NIKOLAUS sonst gern, ganz anders als Hegel, die coincidentia oppositorum demonstriert. Nach ihm ruht die Dialektik jahrhundertelang bis zu den deutschen Idealisten, die aus einer gelegentlichen Bemerkung KANTS über die triadische Organisation seiner vier Kategoriengruppen ® das Dreischrittschema These — Antithese — Synthese herauslesen, das FICHTE an Hand der zweiten Kategorientrias KANTS, der Synthese von Realität und Negation zur Einschränkung, als Grundfigur einer Kompromißdialektik verwendet, die unvereinbare Setzungen durch gegenseitige Beschränkung oder „Wechselbestimmung" verträglich machen möchte. Diese synthetische Dialektik zielt primär nicht, wie bei PLATON, SEUSE und NIKOLAUS, auf das Einfache und das Unendliche, sondern auf das Selbstbewußtsein, das den Denkern des deutschen Idealismus ein Rätsel mit der Frage aufgibt, wie Subjekt und Objekt, diese beiden, im Selbst* De visione Dei. Kapitel 13. Vgl. Nikolaus von Kues: Philosophisdi-theologisdte Schriften. Hrsg, von L. Gabriel. Bd 3. Wien 1967. 148. ® Ebd. 158 (De visione Dei. Kapitel 15). • Philosophisch-theologische Schriften. Bd 1. Wien 1964. 260 (De docta ignorantia. Buch 1, Kapitel 19). ’’ „Sodann wendete sich das Gespräch auf das Wesen der Dialektik. Es ist im Grunde nichts weiter, sagte Hegel, als der geregelte, methodisch ausgebildete Widerspruchsgeist, der jedem Menschen innewohnt..." (Eckermanns Gespräche mit Goethe, 18. Oktober 1827; s. Goethes Gespräche. Hrsg, von F. Frh. v. Biedermann. Bd 3. Leipzig 1910. 477.) ® Kant: Kritik der reinen Vernunft. 2. Aufl. Riga 1787. 111.

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Bewußtsein als Einunddasselbe zusammenfallen können. Ich habe dieses Scheinproblem durch meine allgemeine Mannigfaltigkeitslehre überholt. ® Einer der tiefsten und verhängnisvollsten Irrtümer an der Wurzel des deutschen Idealismus, der zu einer gründlichen FICHTE- und namentlich Hegelkritik reichlich Gelegenheit gibt, ist die Radikalisierung des üblichen Mißverständnisses der Mannigfaltigkeit, die fälschlich an Verschiedenheit gebunden wird. Ich gehe hier darauf nicht ein, sondern betrachte statt dessen die eigentümliche, wohl gar einzigartige Wendung, die der Dialektik in Hegels Denken durch Umprägung des Wahrheitsverständnisses widerfährt. In der frühesten Programmschrift seines dialektisch-spekulativen Denkens, dem Aufsatz Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie, geht Hegel von FICHTES Thema, dem Subjekt-ObjektVerhältnis, aus, behandelt es aber nicht wie dieser durch Synthese von Realität und Negation in der Einschränkung des Ich, der Freiheit, des Subjektiven, sondern eher mit der cusANischen Denkfigur der coincidentia oppositorum, indem er das Absolute als „Identität der Identität und der Nichtidentität" ausgibt. Anders als bei FICHTE und Früheren sind die dialektisch zu vereinenden Gegenteile hier nicht mehr konträr, wie Ich und Nichtich, Gott und Welt, Unendliches und Endliches, Einfaches und Vielfaches; Hegel betrachtet statt dessen Identität und Nichtidentität von Subjekt und Objekt, d. h. so etwas wie Sachverhalte, die vielleicht von Sätzen wie „Subjekt und Objekt sind identisch" bzw. „Subjekt und Objekt sind nicht identisch" beschrieben werden können. Damit erst wird der Widerspruch als dialektisches Konstruktionsprinzip konsequent einsetzbar; denn er kann gerade nur zwischen Sätzen und Satzsinnen (Sachverhalten) auftreten, während Gott und Welt, Ich und Nicht-Ich einander nie widersprechen können. Zugleich berührt Hegels Neuerung, die Dialektik bei Satzsinnen und damit beim kontradiktorischen Gegensatz statt beim konträren oder privativen zu beginnen, immittelbar das Wahrheitsverständnis; denn Wahrheit gilt üblicher und unbefangener Weise als Eigenschaft von Sätzen oder Satzsinnen. Während eine Dialektik, die sich auf Gott und Welt oder Ich und Nicht-Ich bezieht, dieses Wahrheitsverständnis gar nicht zu tangieren braucht, wird es anders, sobald der Satzsinn selbst in dialektische Bewegung gerät. Hegel hat sofort in der Differenzschrift die Folgerung gezogen: „Die Seite, von welcher das Erkennen ein Trennen, und ® Hermann Sdimitz: System der Philosophie. Bd 1; Die Gegenwart. Bonn 1964. Kapitel 4. Hegel; Gesammelte Werke. Bd 4. Hrsg, von H. Büchner und O. Pöggeler. Hamburg 1968. 64.

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ihr Produkt ein Endliches isE macht jedes Wissen zu einem beschränkten, und damit zu einer Falschheit; aber insofern jedes Wissen zugleich eine Identität ist, insofern gibt es keinen absoluten Irrthum." „Zu Jakobi's Ausdruk, daß die Systeme ,ein organisirtes Nichtwissen' seyen, muß nur hinzugefügt werden, daß das Nichtwissen, — das Erkennen Einzelner, — dadurch, daß es organisirt wird, ein Wissen wird." Falschheit ist hiernach so viel wie Beschränktheit, Einseitigkeit, Erkennen Einzelner (sc. einzelner Gegenstände), Wahrheit hingegen Organisation zum System, Identität und jeder Falschheit, jedem Irrtum beigemischt; ob die einzelne Behauptung für sich, in aller ihrer Beschränktheit, „stimmt", darauf kommt für die so verstandene Wahrheit nichts mehr an. Obwohl Hegel dieses Wahrheitsverständnis später nicht mehr so kraß hervorkehrt, hält er immer daran fest; Wahrheit gilt ihm als Einheit der früher für sich seienden Bestimmungen und von solchen Momenten sagt er, daß sie „zu ihrer Wahrheit, ihrer Identität integriert" seien Solche Identität und Einheit, die als Wesen der Wahrheit verstanden werden soll, ist „nicht abstrakt, tot, unbewegend, sondern konkret" sie ist Zusammenwachsen durch Übergang und Untergang der einseitigen Satzsinne ineinander, durch den dialektischen Prozeß. Der tiefere Grund dieser radikalen Verwandlung des Wahrheitsverständnisses wird erst in der Vorrede der Phänomenologie des Geistes ganz deutlich. Hegel wirft der Mathematik vor, daß sie „fixierte, tote Sätze aufstelle" und der folgende Satz jeweils neu anfange, „ohne daß der erste sich selbst zum andern fortbewegte" Natürlich ist nicht der Satz auf dem Papier gemeint, sondern der Satzsinn, also der Sachverhalt, den der Satz (genauer: der einzelne Satzausspruch) beschreibt. Auch kann Hegel in mathematischen Theorien kaum den gedanklichen Zusammenhang vermißt haben; sein Vorwurf richtet sich vielmehr dagegen, daß die Mathematiker einzelne Sätze mit abgeschlossenem Sinn aufstellen wollen, statt Satzsinne in einander gleiten zu lassen. An die Stelle des mathematischen Beweises will er demgemäß die „dialektische Bewegung des Satzes selbst" gesetzt sehen. Sogar beliebige Grundsätze, wie die formallogischen Denkgesetze, werden für Hegel ungültig, auch wenn ihr Inhalt keinen Anlaß zu Bedenken gibt, bloß weil sie einzelne Sätze sind, die sich Mit „ihr" ist „die trennende Thätigkeit" gemeint. Hegel: Gesammelte Werke. Bd 4. 71. Hegel: Wissenschaft der Logik. Hrsg, von G. Lassen. Leipzig 1934 u. ö. Teil 1. 43. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts. § 128. Phänomenologie. 37. Ebd. 53.

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der spekulativen Philosophie „als dasjenige zeigen, was sie in Wahrheit sind, nämlich einzelne verschwindende Momente, deren Wahrheit nur das Ganze der denkenden Bewegung, das Wissen selbst ist" Mit dem Satz oder Satzsinn, wo sie sonst ihren Sitz zu haben schien, kommt die Wahrheit selbst ins Gleiten: Sie „ist die Bewegung ihrer an ihr selbst", und das „Wahre ist so der bacchantische Taumel ... In dem Gerichte jener Bewegung bestehen zwar die einzelnen Gestalten des Geistes wie die bestimmten Gedanken nicht, aber sie sind so sehr auch positive notwendige Momente, als sie negativ und verschwindend sind." Daß die bestimmten Gedanken nicht bestehen und nur zu ihrem Verschwinden vorausgesetzt und zugelassen sind, würde von anderem Standpunkt als pathologischer Zustand (z. B. der Betrunkenheit, des Deliriums oder der Manie) gelten; für Hegel ist hingegen gerade der Taumel dieses Satzsinngleitens die Weise, wie sich die vielen einzelnen und schon darum falschen Gedanken zum Wahren organisieren. Für den herkömmlichen Korrespondenzbegriff der Wahrheit ist in diesem Denken kein Platz, nicht so sehr deshalb, weil kein „Gegenstand der Erkenntnis" zur Verfügung stünde, nach dem sich diese richten könnte, als aus dem umgekehrten Grund: weil die einzelnen Gedanken oder Satzsinne im bacchantischen Taumel, der das Wahre ist, nicht das Mindestmaß stabiler Bestimmtheit behalten, das nötig wäre, um sie auf einen solchen Gegenstand abzustimmen und daran zu messen. Motor des Satzsinngleitens ist für Hegel in erster Linie der Widerspruch, der nach seiner Meinung in jedem Begriff latent enthalten ist eine der Aufgaben seiner Logik ist die apologetische, schon in den elementarsten Kategorien — etwa des Einzelnen und Allgemeinen, des eigenschaftlichen und relationalen Bestimmtseins (Ansichsein und Sein für anderes) und weiteren — vermeintlich unvermeidliche Widersprüche aufzudecken, die einem um Konsequenz bemühten Denken den dialektisch-bacchantischen Taumel als einzige Rettung empfehlen sollen. Bei Widersprüchen schlagen Satzsinne in kontradiktorisch entgegengesetzte um; bliebe das SinngleiEbd. 223. Ebd. 40, 39.

Hegel weist den Korrespondenzbegriff der Wahrheit in Wissenschaft der Logik schon von der Schwelle der Philosophie zurück (Teil 1. 25); an späterer Stelle des Werkes (Teil 2. 231 f) beruft er sich freilich auf ihn, deutet ihn aber so um, daß Übereinstimmung nicht der Erkenntnis mit dem Gegenstand, sondern umgekehrt des Gegenstandes mit dem Begriff zur Wahrheit erfordert wird, d. h. die Organisation des Gegenstandes zum System dialektischer Konkretion, die Hegel „Begriff" nennt, durch das Medium des Sinngleitens, der „Vermittlung". 2» Wissenschaft der Logik. Teil 1. 183 f.

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ten allein auf diese Form angewiesen, wäre es freilich recht eintönig und unfruchtbar. Die hohe Kunst der Dialektik in Hegels Sinn besteht darin, dem primitiven Stoß des Widerspruchs einen komplizierteren Rhythmus beharrlich so aufzuprägen, daß ein reichhaltiger Gedankengang zu Stande kommt, in dem an die Stelle des stabilen Sinns einzelner Sätze, mit dem nicht mehr zu rechnen ist, die Stabilität des dialektischen Rhythmus, der das Gleiten regelt, tritt. Die berühmte Frage, von welcher Art dieser Rhythmus — die dialektische Methode bei Hegel — sei, kann ich hier nicht aufgreifen, um nicht zu breit zu werden, nicht einmal die Frage, ob sich überhaupt ein einziger Grundrhythmus dieser Art durch sein Werk zieht; sicher handelt es sich nicht um den für FICHTES Wissenschaftslehre von 1794 charakteristischen Dreischritt These — Antithese — Synthese. Dagegen möchte ich kurz ein Mißverständnis über die Rolle des Widerspruchs bei Hegel ausräumen, dem gelegentlich wohl gar dieser selbst zum Opfer gefallen ist. Hegel sucht zwar in allen Gedanken, die er zum Thema der Untersuchung macht, Widersprüche aufzudecken; dabei bleibt aber sein eigener, entlarvender Gedankengang — wenigstens der Tendenz nach — widerspruchsfrei und konventionell im Rahmen der klassischen Logik. Der Satz des Widerspruchs streitet ja nur Sätzen des Typs A und nicht A (für beliebige Sätze A) die Wahrheit ab, die Hegel solchen Sätzen keineswegs zugesteht, da er sie vielmehr einer Satzsinne durchlaufenden dialektischen Bewegung vorbehält. Deshalb kann er ohne Inkonsequenz den Widerspruch auch tadeln, wo ihm dieser in mathematischen Beweisen begegnet. Das Sonderbare seiner Denkart beruht nicht auf einer neuen Logik, die den Satz vom Widerspruch suspendierte, sondern auf einer Umbestimmung des Substrats der Wahrheit, wovon eine gründliche Wandlung des Wahrheitsverständnisses erzwungen wird. Neuere Versuche, nichtklassische Logiken mit mindestens drei Wahrheitswerten zum Verständnis der dialektischen Denkform Hegels zu nützen halte ich daher für aussichtslos. So wichtig für Hegel auch der Widerspruch als Motor des Sinngleitens ist, so wenig läßt sich dieses in den Gestalten, die bei Hegel bedeutsam hervortreten, restlos auf diesen Anstoß zurückführen. Einen anderen Typ gleitenden Satzsinns noch diesseits des Widerspruchs präsentiert Hegels Lehre vom spekulativen Satz. Der Sinn eines spekulativen Satzes ist nicht stabil, sondern wie eine Bewegung auf schiefer Ebene, wobei das Subjekt 21 Wissenschaft der Logik. Teil 2. 47. Vgl. besonders Gotthard Günther: Idee und Grundriß einer nicht-Aristotelischen Logik. Band 1. Hamburg 1959; dazu meine Besprechung in: Philosophische Rundschau. 9 (1962), 283—304.

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im Prädikat gleichsam versinkt und sich auflöst. Das vorstellende Denken erleidet dabei, wie Hegel behauptet, „einen Gegenstoß. Vom Subjekte anfangend, als ob dieses zum Grunde liegen bliebe, findet es ... das Subjekt zum Prädikat übergegangen und hiemit aufgehoben..In der Vorrede der Phänomenologie des Geistes, wo diese Charakteristik entwickelt wird, gibt Hegel die Sätze „Gott ist das Sein" und „Das Wirkliche ist das Allgemeine" als Beispiele an von gleicher Art, obwohl nicht ausdrücklich als spekulative Sätze gekennzeichnet, sind im 2. Buch von Wissenschaft der Logik Thesen wie „Das Wesen ist die Existenz" und „damit ist die Dingheit in die Eigenschaft übergegangen" Das Sinngleiten ist beim spekulativen Satz steril, da dessen Sinn nicht in einen anderen Satzsinn übergeht, sondern im Sinn des Prädikatausdrucks gleichsam versickert; das Vorkommen des spekulativen Satzes mit gleitendem Sinn, aber ohne Widerspruch bleibt dennoch bedeutsam als Symptom eines Vorrangs, den das Sinngleiten überhaupt bei Hegel vor dem spezifisch dialektischen, vom Widerspruch angestoßenen Sinngleiten besitzt, in der Weise, daß Hegel auch noch ein Sinngleiten anderer Art kennt, wenngleich er des Widerspruchs bedarf, um das Sinngleiten für die Gedankenentwicklung fruchtbar werden zu lassen. Die Rolle der Bewegung in Hegels Dialektik steht seit TRENDELENBURGS einflußreicher Kritik im Zwielicht des Verdachts, Hegel habe die Bewegung, die er sinnlich wahrnahm, mystifizierend in die vermeintlichen Urgedanken und Grundkategorien seiner Logik zurückprojiziert und dabei auch dem kontradiktorischen Gegensatz zwischen Sätzen den konträren sinnlicher Qualitäten unterschoben, da durch rein logische Verhältnisse und Operatoren wie Negation allein keine dynamische und produktive Phänomenologie. 50. “ Ebd. 51. 25 Wissenschaft der Logik. Teil 2. 105: „So ist die Existenz hier nicht als ein Prädikat oder als Bestimmung des Wesens zu nehmen, daß ein Satz davon hieße: Das Wesen existiert, oder hat Existenz; — sondern das Wesen ist in die Existenz übergegangen; die Existenz ist seine absolute Entäußerung, jenseits deren es nicht zurückgeblieben ist. Der Satz also hieße: Das Wesen ist die Existenz; es ist nicht von seiner Existenz unterschieden." ^5 Ebd. 113. Vgl. im vorstehenden Zitat die analoge Wendung! Vom spekulativen Satz handelt Hegel, ohne diesen terminus technicus zu gebrauchen, auch noch mit folgenden Wendungen: „Im Urteile hat das Erste als Subjekt den Schein eines selbständigen Bestehens, da es vielmehr in seinem Prädikate als seinem Andern aufgehoben ist." (Ebd. 495) „Weil der Gedanke, die Sache, um die es hier allein zu tun ist, nur im Prädikate enthalten ist, so ist die Form eines Satzes, wie jenes Subjekt, etwas völlig Überflüssiges." (Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. 3. Ausgabe 1830. § 85; „jenes Subjekt" ist der Ausdruck „das Absolute".)

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Entwicklung, wie Hegel sie dialektisch hervorzaubert, möglich sei. Hegel leistet solchen Bedenken Vorschub, indem er so tut, als könne der Widerspruch als Bewegung und als Schmerz sogar sinnfällig da sein. Über den Unterschied dialektischer und sinnfälliger Bewegung konnte er sich so wenig wie TRENDELENBURG und andere Zeitgenossen grundsätzlich klar sein, weil damals die Sachverhalte als Gegenstände besonderer Art noch nicht entdeckt waren. Die dialektische Bewegung vermöge des Widerspruchs ist offenbar nicht so etwas wie die Bewegung des fliegenden Pfeils, deren Erwähnung in ZENONS Paradox zusammen mit dessen übrigen einschlägigen Gedankenkunststücken Hegel dazu verleitete, die sinnfällige Bewegung als den daseienden Widerspruch auszugeben sie ist vielmehr eine Bewegung unter Sachverhalten, also solchen Gegenständen, die wir erfassen, wenn wir uns den Sinn von Sätzen vergegenwärtigen. Solche Bewegung unter Sachverhalten kann tatsächlich beobachtet werden. Das beste Beispiel ist der Witz. Ein Witz kommt nur zustande, wenn mindestens zwei Satzsinne schillernd ineinander übergehen oder eindringen, ohne ein stabiles Sinnganzes zu bilden; von der erlebten Dynamik dieser Bewegung doppel- oder mehrsinnigen Schillerns hängt ab, ob der Witz zündet. Diese Satzsinnbewegung braucht keine Zeit, als ob etwa der eine und der andere Gedanke sich in kurzen Abständen im Denken ablösten; das ergäbe keinen Witz, sondern geistige Verwirrung. Die Pointe des Witzes ist ein labiles und dramatisches Zusammentreffen mehrerer Satzsinne oder Sachverhalte, freilich auf ungeregelte Art, während die Dialektik in ein sonst vergleichbares Satzsinngleiten Rhythmus und Methode hineintragen soll. Worauf diese Methode letztlich hinauswill, kann man sich vielleicht an dem phantastischen Ideal eines Universalwitzes deutlich machen, in dem nicht bloß, wie in unseren Witzen, ein Doppel- oder allenfalls Dreifachsinn schillern würde, sondern ein unendlichfacher Allsinn aller erdenklichen Sachverhalte, und zwar in methodisch geregelter Weise. So etwas wäre das Wahre, das nach Hegel das Ganze ist ein Ganzes nicht von Dingen und Daten der Sinnlichkeit, sondern von Satzsinnen oder Sachverhalten, wie die Welt, von der WITTGENSTEIN sagt, sie sei alles, was der Fall ist, und dies, was der Fall ist, sei das Bestehen von Sachverhalten Was Hegel dabei vorzuwerfen ist, ist sicher nicht eine illegitime Anleihe bei der Sinnenwelt, sondern eher der umgekehrte Fehler, daß er — wie Adolf Trendelenburg: Logische Untersuchungen. Berlin 1840. 3. Aufl. Berlin 1870. 36—129, bes. 38—45. Bd 1, Kapitel 3. 28 Wissenschaft der Logik. Teil 2. 59, 424. 22 Phänomenologie. 21. 2“ Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus. Sätze 1 und 2.

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vielleicht auch WITTGENSTEIN — diese hinter die Satzsinne, die Sachverhalte, verdrängt. Nicht aber ist ihm vorzuwerfen, daß er die Sonderstellung der Sachverhalte, den Gegensatz von Objekten und Objektiven, wie MEINONG später sagt, noch nicht kennt; dafür war die Philosophie seiner Zeit noch nicht reif. Manchmal bezeichnet er die einfachen Formen, an denen die dialektische Bewegung entspringt, als Gedanken meist aber als Begriffe; nur jener, nicht dieser Titel paßt für Satzsinne. Die gleiche Unklarheit verführte MARX ZU der verfehlten Kritik, Hegel habe die Prädikate hypostasiert und das wirkliche Subjekt darüber vergessen. Es lohnt sich nicht, das Subjekt gegen die Prädikate auszuspielen; das wußte schon JOHN LOCKE. Wohl aber kann es sich lohnen, die Sinnenwelt der Dinge, der Farben usw. gebührend zur Geltung zu bringen, wenn sie verdeckt werden soll durch die Welt, die alles ist, was der Fall ist, nämlich das Bestehen von Sachverhalten. Hegels Dialektik strahlt trotz ihrer Unklarheiten, Hyperbeln, konstruktiven Verdrehungen und sonstigen kaum übersehbaren Mängeln bis zur Gegenwart mächtige Faszination aus. Eine wichtige Quelle, vielleicht die Hauptquelle dieser Anziehungskraft dürfte der Umstand sein, daß Hegel das Unsagbare, woran das diskursive Denken zu scheitern droht, mit einem Schlag aus dem Weg zu räumen scheint. Der Hegelianer hat, anders als die paradox-dialektischen Denker, gar keinen Anlaß, mit WITTGENSTEIN zu bekennen: „Meine Sätze erläutern dadurch, daß sie der, welcher mich versteht, am Ende als unsinnig erkennt, wenn er durch sie — auf ihnen — über sie hinausgestiegen ist." Hegel traut sich vielmehr zu, genau das hinzuschreiben, was er wirklich meint; man soll seine Bücher nur anders lesen als die gewöhnlichen: nicht in fixierender Besinnung darauf, was einzelne Sätze besagen, sondern gleitend, der dialektischen Bewegung der Satzsinne aufgeschlossen und hingegeben. Nicht mehr das diskursive Denken, nur noch der einzelne Gedanke zerbricht; wahr ist der Diskurs, in den die Gedanken von sich aus geraten sind, ohne daß sich der Denkende willkürlich einzumischen brauchte. Wovor das paradox-dialektische Denken, z. B. in der negativen Theologie, stammelnd zurückwich, das kann mit Hegel, wenn sein Anspruch sich halten läßt, elegant und gelassen gesagt und begriffen werden. Dieser vermeintliche Gewinn ist aber mit schweren Nachteilen erkauft. Allein schon der konsequente Verzicht auf Marx und Engels: Werke, Band 1. Berlin 1961. 224: „Eben weil Hegel von den Prädikaten der allgemeinen Bestimmung statt von dem reellen Ens (ünoxEi^Evov, Subjekt) ausgeht, und doch ein Träger dieser Bestimmungen da sein muß, wird die mystische Idee dieser Träger." (Aus: Kritik des Hegelschen Staatsrechts.) Tractatus logico-philosovhicus. 6. 54.

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ein WahrheitsVerständnis im Sinne des Korrespondenzbegriffs wäre im Alltag lebensgefährlich, wahrscheinlich tödlich. Ferner trägt Hegels Methode zu Unrecht den Namen „dialektisch", wenn dabei an SiaAsYEoHai gedacht wird; sie ist in Wahrheit radikal monologisch und gesprächsfeindlich. Für ein Gespräch sind nämlich bestimmte Stellungnahmen erforderlich, gegen die der jeweilige Partner etwas ein wenden kann; wer die Wahrheit in der Bewegung, im Sinngleiten sucht, ist dagegen zwar unangreifbar, weil er keinem Gegner die Stirn einer eindeutigen, beharrlichen Behauptung bietet, aber auch seinerseits, solange er konsequent bleibt, keiner Polemik fähig, weil er dazu etwas Bestimmtes behaupten müßte, das nicht gleich von sich aus verschwindet und sich aufhebt. Das schlimmste Verhängnis einer Theorie mit dialektischem Wahrheitsverständnis besteht aber darin, daß sie sich selbst verbietet. Hegel ist konsequent, wenn er, der nur der Satzsinne durchlaufenden dialektischen Bewegung Wahrheit zutraut, einzelnen Sätzen und Satzsystemen, die schrittweise solche Sätze begründen, die Wahrheitsfähigkeit abspricht. Er unterschätzt aber die Schwierigkeit, die sich für ihn daraus ergibt, daß er selbst nicht umhin kann, in Sätzen zu schreiben. Hegels Bücher lassen keineswegs die dialektische Bewegung frei strömen — das angemessene Sprachkostüm eines solchen Strömens wäre schwer vorzustellen —, sondern sind in einer undialektischen Metasprache geschrieben, die, mit konventioneller Logik räsonnierend, ständig vor- und zurückgreift, bei bestimmten Thesen analytisch, auf lauernder Suche nach latenten Widersprüchen, verweilt, vergleichend ab wägt usw. Anders könnte er sich kaum verständlich machen; er müßte sonst sogar darauf verzichten, auf irgend einen früher im selben Buch vorgebrachten Satz jemals zurückzukommen, da dessen Sinn dann schon dialektisch aufgehoben und in konkreter Identität mit anderen Satzsinnen zusammengeflossen wäre. Hegel wiegt sich in dem irrigen Glauben, solche metasprachlichen Reflexionen als entbehrliche Anhängsel seiner Darstellung leichthin abtun zu können. In Wirklichkeit ist sein 33 Wissensdiaft der Logik. Teil 2. 234: „Dies ist daher vielmehr das Unmögliche und Ungereimte, in dergleichen Formen, wie ein positives Urteil und wie das Urteil überhaupt ist, die Wahrheit fassen zu wollen." Phänomenologie. 40: „Es ist aber nicht schwer, einzusehen, daß die Manier, einen Satz aufzustellen. Gründe für ihn anzuführen und den entgegengesetzten durch Gründe ebenso zu widerlegen, nicht die Form ist, in der die Wahrheit auftreten kann." Enzyklopädie, § 31: „Ohnehin ist die Form des Satzes oder bestimmter des Urteils ungeschickt, das Konkrete — und das Wahre ist konkret — und Spekulative auszudrücken; das Urteil ist durch seine Form einseitig und insofern falsch." 34 Wissenschaft der Logik. Teil 1. 97: „Es hat hier auf den angegebenen Unterschied aufmerksam gemacht werden sollen; über alles aber, was die Reflexion sich

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Wahrheitsverständnis, das Wahrheit einer Satzsinne aufhebend und integrierend durchlaufenden dialektischen Bewegung vorbehält, unverträglich mit dem Wahrheitsanspruch der Sätze, die seine eigenen Bücher füllen und Behauptungen über den Gang der dialektischen Bewegung enthalten. Das ist die Aporie des dialektischen Wahrheitsverständnisses. Hegels systematische Theorie, die auf diesem Wahrheitsverständnis beruht, verbietet sich selbst und wird dadurch hinfällig. Daraus ergibt sich die Unhaltbarkeit seines systematischen Anspruchs, aber nicht schon die wissenschaftliche Wertlosigkeit seiner Dialektik. Diese läßt sich, ihrer Anwendung auf empirische Stoffe und zugehörige Idealtypen nach, unter zwei Titel bringen, als Standpunktdialektik und Realdialektik. Ein Standpunkt ist ein ganzheitlicher Komplex von Überzeugungen, die sich in ihm so wenig von vornherein sämtlich scharf abheben, wie etwa die grammatischen Regeln in einer gewachsenen Sprache. Weltanschauungen sind z. B. solche Standpunkte. Wo Hegel Standpunkte expliziert, ihre verborgenen Widersprüche und Zwiespältigkeiten ans Licht zieht und die Dynamik enthüllt, mit der ein Zwiespalt von einem Standpunkt zu einem anderen vorwärtstreibt, ist seine Dialektik in ihrem angemessenen Element; da geht es ja um Satzsinne, um Überzeugungen, die nicht alle gleichmäßig explizit und festgelegt, sondern mehr oder weniger in wandlungsfähige Ganzheiten der Überzeugung eingebunden sind, gleitend hervortreten und sich in andere aufheben können. Als Standpunktdialektiker hat Hegel die größten Erfolge, etwa in der Phänomenologie des Geistes oder auch den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Wenn Hegel dagegen beliebige naturhafte und geschichtliche Vorgänge, bei denen es sich nicht um Aggregate oder Komplexe von Satzsinnen handelt, dennoch mit seiner Methode des dialektischen Sinngleitens zu durchdringen sucht, handelt er als Realdialektiker, etwa in seiner Skizze der Weltgeschichte am Schluß seiner Rechtsphilosophie Solche Realdialektik, die Natur- und Geschichtsmassen illegitim wie bloße Standpunkte behandelt, ist sogar in Hegels eigenem System nicht gründlich und kritisch, sondern eher durch Handstreiche und Anmaßungen begründet. Sie hat es Späteren aber leicht gemacht, die durch sein Wahrerlauben kann zu bemerken, Rechenschaft zu geben, würde in die Weitläufigkeit führen, das zu antizipieren, was sich an der Sache selbst ergeben muß. Wenn dergleichen Reflexionen dienen können, die Übersicht und damit das Verständnis zu erleichtern, so führen sie wohl auch den Nachteil herbei, als unberechtigte Behauptungen, Gründe und Grundlagen für das Weitere auszusehen. Man soll sie daher für nichts mehr nehmen, als was sie sein sollen, und sie von dem unterscheiden, was ein Moment im Fortgange der Sache selbst ist." “ Grundlinien der Philosophie des Rechts. §§ 353—360.

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heitsverständnis geradezu inkommensurable Sonderstellung des Hegelschen Denkens zu übersehen und als Erben oder Gegner glatter an dieses anzuknüpfen, als rechtens möglich gewesen wäre. Der MARxismus wendet z. B. von ENGELS bis SARTRE einige, großenteils mißverstandene, Gedanken Hegels ausschließlich im Sinn einer Realdialektik an, ohne von der Besonderheit des Wahrheitsverständnisses, die der springende Punkt in Hegels Philosophie ist, irgend Notiz zu nehmen; ENGELS — und wer ihm gefolgt ist — verbindet seine sogenannte Dialektik mit einer äußerst plumpen Korrespondenztheorie der Wahrheit, die er gar noch Hegel selber Ln die Schuhe schiebt Als Überwinder wollte sich hingegen der alte SCHELLiNG über die Hegel'sche Philosophie erheben, und er findet für den Anspruch, auf solche Weise Vollender des Idealismus zu sein, sogar neuerdings Fürsprecher. Auch diese Konstruktion halte ich für ein Mißverständnis. Hegel hat alles, wogegen SCHELLING polemisiert, anders gemeint, nämlich im Sinne seines dialektischen Wahrheitsverständnisses, während SCHELLING sich um das Wesen der Wahrheit kaum gesorgt zu haben scheint, sondern in dieser Beziehung konventionell und unbefangen geblieben ist. Ich schließe mit einem kurzen Blick auf zwei moderne Dialektiker, ADORNO und KARL BARTH. ADORNO will in seiner negativen Dialektik die „Sache" als „Individuum ineffabile" vor dem Zugriff des identifizierenden, vereindeutigenden und verallgemeinernden Begriffsdenkens schützen. Während sich Hegel so sehr nur für das Sinngleiten der Gedanken, der Sachverhalte interessiert, daß er alle Dinge wie solche behandelt, will ADORNO gerade diese Dinge, die Individuen, ultra murum coincidentiae ® dem Zugriff des Denkens entziehen. Das individuum als ineffabile tritt bei ihm so an die Stelle des cusAnischen Deus absconditus. Bei diesem Marx und Engels: Werke. Band 21. Berlin 1962. 275, 292 f. (Friedrich Engels: Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie. Zuerst Stuttgart 1888.) Theodor W. Adorno: Negative Dialektik. Frankfurt 1966. 146: „Dialektik als Verfahren heißt, um des einmal an der Sache erfahrenen Widerspruches willen und gegen ihn in Widersprüchen zu denken. Widerspruch in der Realität, ist sie Widerspruch gegen diese. Mit Hegel aber läßt solche Dialektik nicht mehr sich vereinen. Ihre Bewegung tendiert nicht auf die Identität in der Differenz jeglichen Gegenstandes von seinem Begriff; eher beargwöhnt sie Identisches. Ihre Logik ist eine des Zerfalls: der zugerüsteten und vergegenständlichten Gestalt der Begriffe, die zunächst das erkennende Subjekt unmittelbar sich gegenüber hat. Deren Identität mit dem Subjekt ist die Unwahrheit. Mit ihr schiebt sich die subjektive Präformation des Phänomens vor das Nichtidentische daran, vors individuum ineffabile." In dem Kurzdialog De deo abscondito, wo Nikolaus von Kues die Dialektik als negative Theologie auf die Spitze treibt, spielt Gottes ineffabilitas eine wichtige Rolle.

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bleibt KARL BARTH mit seiner dialektischen Theologie indem er den Widerspruch nur ausnützt, um ultra mumm coincidentiae etwas Unsagbares, das dem diskursiven Denken unerfaßlich bleibt, dem ahnenden Glauben aufscheinen zu lassen. Der Abstand dieses Verfahrens zu der rationalen Dialektik Hegels, die die Wahrheit im Diskurs des diskursiven Denkens anzusiedeln unternimmt, ist groß, aber nicht so groß, daß er Verwandtschaft ausschlösse. Der dialektische Theologe BARTH verlegt die Wahrheit in einen irritierenden Prozeß des Setzens und Aufhebens, der sich, wie Hegels Methode, bei keiner Behauptung aufhalten soll, und findet, wie Hegel, das Stigma der Unwahrheit in der für Behauptungen unvermeidlichen Einseitigkeit. Seine Dialektik ist der Hegelschen näher als die der MARxisten, weil sie bei Behauptungen und Satzsinnen einsetzt, beim echten kontradiktorischen Gegensatz von Ja und Nein, nicht bei Verhältnissen sozialer Gliederung, wie SARTRE, oder der Orchideenzucht, aus der ENGELS eine dialektische Negation der Negation herauslesen wollte ADORNO und BARTH sind Dialektiker des alten, paradoxen Stils, der der negativen Theologie und NIKOLAUS VON KUES näher steht als Hegel. Aussicht auf ein philosophisches System gibt es dabei nicht. Diese Aussicht, mit der Hegel schmeichelt, ist für seine Dialektik an der Aporie seines dialektischen Wahrheitsverständnisses zerbrochen. Mein Resume für die thematische Fragestellung dieses Kongresses lautet daher so: Die Möglichkeit systematischer Philosophie in unserer Zeit bejahe ich emphatisch; sonst hätte ich nicht schon über 3000 Seiten unter dem Titel System der Philosophie dmcken lassen. Von der Dialektik erwarte ich mir aber keinen nennenswerten Beitrag dazu.

Die Texte sind gesammelt in der von Jürgen Molimann herausgegebenen Anthologie; Die Anfänge der dialektischen Theologie. München 1962—1963. Barth hat 1933 im Rückblick den Anschein erweckt, als sei seinem theologischen Bemühen das Etikett „dialektisch" erst 1922 von außen angehängt worden (Teil 2. 313). Tatsächlich hat er indes schon 1920 am biblischen Reden expliziert, was er „dialektisch" nennt und als Dialektik sich zu eigen macht (Teil 1. 62 f). Ich halte mich an Barths Aufsatz Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie von 1922, abgedruckt bei Moltmann. Teil 1. 197—218, bes. 212—214. Marx und Engels: Werke. Band 20. Berlin 1962. 126. {Anti-Dühring. Erster Abschnitt. Kapitel XIII.)

WOLFGANG MARX (HEIDELBERG)

DER DIALEKTISCHE SYSTEMBE G R I FF VOR DEM HINTERGRUND DES METHODENPLURALISMUS IN DEN WISSENSCHAFTEN Die EinsidiL daß verschiedenen Gegenständen bzw. Gegenstandsbereichen verschiedene Methoden in dementsprechend verfaßten Wissenschaften entsprechen und daß die Vielfalt und qualitative Besonderung der Methoden nicht auf ein gemeinsames Prinzip zurückgeführt werden kann, scheint die Annahme eines einheitlichen wissenschaftlichen Weltbildes und mithin auch eines verbindlichen Verständnisses von Wissenschaft als verständlichem System der Ordnungen unter den gewußten Gegenständen als Illusion erwiesen zu haben. Weil spezifische Methoden spezifische Gegenstände konstituieren und weil ohne überlegte Bezugnahme auf die Bestimmtheit, die bestimmten Voraussetzungen und Grenzen von Methoden eignen, weder von einer bestimmten Beziehung auf Gegenstände noch von bestimmten Merkmalen der Gegenstände sinnvoll gesprochen werden kann, ist es unmöglich, einen naiven Methodenmonismus oder gar eine ontologisch konstruierende Theorie der gegenständlichen Welt einfach bloß zu postulieren, nur um dem allerdings verständlichen Bedürfnis des Bewußtseins nach einem explikablen inneren Zusammenhang seiner Inhalte womöglich unbegründet zu entsprechen. Der Mannigfaltigkeit und qualitativ differenzierten Vielfalt der gegenständlichen Welt angemessen zu entsprechen, das bedeutet, die Methoden den je verschiedenen Aufgaben anzupassen. Methodologische Reflexionen sind gewiß mehr als nur Überlegungen, die den Gang einer wissenschaftlichen Disziplin einfach nachvollziehen, denn eine Methode tangiert nicht nur äußerlich den Gegenstandsbereich, auf den hin sie disponiert wurde, sie legt vielmehr sogar die Grundzüge der Gegenstände selbst fest, sofern diese im Kontext einer Methode allein Bestimmtheit haben. Reflexionen auf die Methode (n) der Erfassung von Gegenständen enthalten darüber hinaus die Möglichkeit der Einsicht in eine wesensmäßige Doppeldeutigkeit, die allen Methoden und Formen geistiger Weltbeziehung elementar anhaftet. Da alles, worauf erkennend und im Kontext einer Wissenschaft-

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liehen Disziplin verfahrend Bezug genommen wird, mit der Bestimmtheit der verwendeten Mittel zugleich als einseitig bestimmt und im Hinblick auf die wenigstens denkbare volle Konkretion der Aspekte als unterbestimmt und sogar verstellt angesehen werden muß, kaim man sagen, daß die erschließende Kraft von Methoden und Formen doch zugleich verdeckt, als wie bestimmt Gegenstände, unter anderen wählbaren Voraussetzungen betrachtet, angenommen werden können. Gegenstände sind aber unabhängig von den Voraussetzungen, unter denen sie begegnen und in ihren Zusammenhängen verstanden werden, nicht präsent. Man kann sogar die den Form- und Methodenbegriffen korrespondierenden Gegenstände so bestimmen, daß die Bedingung der Möglichkeit ihrer Bestimmtheit dependiert von der Bestimmtheit und somit Einseitigkeit und Begrenztheit der Voraussetzungen, unter denen sie allein als bestimmte angesehen werden können. Jedenfalls aber wird man sagen müssen, daß man auf Gegenstände sich nicht einfach wie auf bestimmte Instanzen berufen kann, die eine sichere Grundlage für eine Entscheidung über Wert oder Unwert einer bestimmten Methode abgeben; solche Instanzen sind notwendig entweder unbestimmte Unmittelbarkeiten und als solche ungeeignet, Basen einer rationalen Entscheidung über Wert und Tragweite von Formen und Methoden abzugeben, oder sie sind schon bestimmt, dann aber stehen sie schon unter den Vorentscheidungen, die mit Formen oder Methoden explizit oder implizit getroffen wurden. Es kann hier nicht erörtert werden, wie die kritische Berufung auf Gegenstandsmerkmale zu verstehen ist, welche die methodische Disposition des Zugangs zum Gegenstand oder Gegenstandsbereich zu verändern fordert. Daß Methoden danach kritisierbar sein müssen, ob sie ihrem Zweck entsprechen, die Bestimmtheit des Gegenstandes im Zusammenhang mit dependierenden Gegenständen und Gegenstandsdependenzen zu fassen, liegt im Sinne des Methodenbegriffs selbst schon beschlossen. Eine Methode ist eben nur eine Zugangsweise zum Gegenstand und erfaßt nur eine begrenzte Anzahl relevanter Aspekte. Aus der unübersehbaren Komplexion von Aspekten, die jeder Gegenstand in Wahrheit ist, kann eine Methode aus Gründen ihrer Bestimmtheit immer nur einen Ausschnitt thematisch machen. In den folgenden Überlegungen soll der eben bezeichnete Aspekt von Erkenntnisbegründung, der im Zusammenhang des logischen Positivismus u. a. als das Problem der Bestimmung der Eigenart tmd Funktion von sog. Basissätzen im und für den Zusammenhang einer empirischen Theorie diskutiert wurde, übergangen werden. Ins Zentrum der Überlegungen soll das Problem gerückt werden, welche Vorentschei-

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düngen in den Ansatz des Dualismus von Methode und Gegenstand eingehen. Nachdem der Positivismus seine dogmatisch-empiristische Phase überwunden hatte, setzte sich die Einsicht wieder durch, daß der Gang und Aufbau der Wissenschaften nur dann zureichend verstanden werden kann, wenn man allgemeine Prinzipien der Organisation des empirischen Materials annimmt, die nicht selbst empirisch begründet werden können. ^ Für die Anerkennung der Unabdingbarkeit von allgemeinen Prinzipien oder Aussagen, von theoretischen Termen oder Strukturen als aus einzelnen (beobachtbaren) Tatsachen nicht gewinnbaren Voraussetzungen der Wissenschaften ist es zunächst ganz gleichgültig, ob sie PLATONistisch oder als Setzungen eines reinen Willensaktes, die rational nicht gerechtfertigt werden können, wie REICHENBACH dies annahm, oder bloß als zweckmäßig zur „Lenkung" von „Erwartungen durch Ableitung von Vorhersagen über künftig beobachtbare Ereignisse aus beobachteten Ereignissen" ^ verstanden werden. Es gibt gewichtige Gründe, die es geraten erscheinen lassen, die Eigenart und den Status allgemeiner Prinzipien, theoretischer Terme etc. umsichtig zu interpretieren; als Mahnung zur Vorsicht hat CARNAPS Hinweis darauf durchaus einen guten Sinn, daß die Anerkennung von nicht empirisch-genetisch deutbaren Allgemeinheiten nicht eo ipso zu einer (in seinem Verständnis zwangsläufig naiven) Ontologie führen muß. Vorsichtiger Umgang mit und gründliche Auslegung der Bedeutung von allgemeinen Prinzipien ist geboten; allzuleicht kann der Charakter von Prinzipien, Bedingungen wissenschaftlicher Erkenntnis zu sein, zu der Annahme verleiten, Erkenntnisbedingungen seien Bedingungen auch des Erkannten. Es wird aber z. B. niemand im Ernst behaupten dürfen, daß die ,erfolgreiche' Verwendung von Funktionen sowie ihrer ersten und zweiten stetigen Differentialquotienten als Begründung der Etablierung des metaphysischen Prinzips natura non facit saltus oder des Kontinuitätsprinzips als Realprinzip verstanden werden darf. Die Verwendung von Differentialgleichungen, z. B. in der Wellenmechanik, wird den Physiker, darf den Philosophen nicht dazu verführen, die Struktur der mathematischen Theorie, die ihm die Quantifizierung physikalischer Ereigniszusammenhänge ermöglicht, einfach als die Struktur der gegebenen Ereignisse zu deuten. Diskontinuierliche Vorgänge im subatomaren Bereich verschwin* Vgl. B. Russell; Logischer Positivismus. In: Erkenntnisprobleme der Naturwissenschaften. Hrsg, von L. Krüger. Köln, Berlin 1970. 279 ff, bes. 292. * R. Carnap: Theoretische Begriffe der Wissenschaft. In: Zeitschrift für Philosophisdie Forschung. 14 (1960), 217.

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den nicht dadurch, daß eine bestimmte Methode, für die der Stetigkeitsbegriff konstitutiv ist, zu ihrer Berechnung eingesetzt wird. Daß Methoden und Prinzipien der Erfassung der Gegenstände nicht als direkte Grundcharakteristika derselben genommen werden dürfen, beruht u. a. darauf, daß der Zusammenhang, den eine Methode selbst darbietet, notwendig allgemein ist. Je spezifischer eine Methode angelegt ist, d. h. je genauer sie die Erfassung spezifischer Gegenstandsmerkmale leitet, um so partieller wird der Zusammenhang, in den sie den Gegenstand einordnet; letzterer wird, relativ zur Anlage und Bestimmtheit der Methode, bestimmt und unbestimmt sein. Je allgemeiner die Methode ist, je umfangreicher und somit der wenigstens nicht als erschöpfbar denkbaren Beziehungsmannigfaltigkeit des Gegenstandes angemessener sie ist, um so geringer wird ihr heuristischer Wert bezüglich der Spezifik eines Gegenstandes sein. Methoden repräsentieren dan Zusammenhang von Gegenständen; sie sind aber nicht Ergebnisse von Beobachtungen oder Abstraktionen von Gegebenem. Sie sind vielmehr Bedingungen, eine Struktur von und mit Begriffen derart aufzubauen, daß das empirisch Gegebene zwar nicht als solches, wohl aber insofern es im Zusammenhang mit anderem steht, verstehbar wird. Zwar bezieht sich die Einordnung in einen bestimmten Zusammenhang auch auf bestimmte Merkmale, aber der Begriff der Ordnung kann nur dann in Funktion gesetzt werden, wenn er sich gegenüber der Mannigfaltigkeit verschiedener Merkmale (oder Ereignisse) invariant verhält. Die Invarianzeigenschaft oder die Formalität der Methode gibt ihr erst ihren heuristischen Wert, markiert aber zugleich auch die Distanz zu den ,wirklichen' Vorgängen, die sich als Zusammenhänge nur zeigen, so aber verstehen lassen. Der Zusammenhang, den eine Methode verstehbar werden läßt, und der Zusammenhang, den sie selber darstellt, sind zwei wohlunterschiedene Sachverhalte. Der Zusammenhang, als der Methoden aufgefaßt werden, besteht in der Kohärenz verschiedener theoretischer Prädikate (z. B. Kategorien) und der formalen (logischen) Operationen, die gemeinsam die Bestimmtheit jeder Methode konstituieren und zugleich deren Invarianz gegenüber den einzelnen Anwendungsfällen ausmachen. Die exakte Beschreibung eines Systems von Dingen im Sinne physikalischer Objekte hängt davon ab, daß die topologischen oder metrischen Begriffe {mehr, weniger, länger, kürzer etc.), durch welche Dinge mit numerischen Werten charakterisiert werden können, ihrerseits untereinander (systematisch) Zusammenhängen, gleichgültig ob ihr Zusammenhang explizit gesetzt ist oder

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nicht. Die Beschreibung eines Systems (z. B. das der Himmelskörper) mit Hilfe topologischer Gesetze (z. B. ,je größer der Abstand zweier Massen, desto geringer ihre wechselseitige Anziehung') steht unter der Voraussetzung, daß die beschriebenen Objekte sich überhaupt mit Hilfe topologischer Begriffe kennzeichnen lassen; wenn dies aber der Fall ist, dann können diese Objekte bzw. ihre Dependenzen zueinander in Beziehung gebracht werden, und sei es auch nur vergleichend mit Beziehung auf andere ebenso charakterisierbare. Der innere Zusammenhang der eine Methode konstituierenden Begriffe sichert erst die Möglichkeit auch nur der versuchsweisen Anwendung auf Objekte, für die sie nicht eigens konzipiert wurde, und des Vergleichs. Der Begriff der Methode zeigt an, daß der systematische Zusammenhang, den man den Objekten selbst, gewissermaßen als Eigenschaft, attestieren möchte, doch nur das Muster des verstehenden Geistes selber ist, das er den Dingen aufzwingt. Das System bzw. die spezifische Bestimmtheit, welche Dinge in einem bestimmten System (z. B. funktionelle Relationen zwischen ihren Größen) haben, hängt von der Wahl der Begriffe ab; ihr gemäß bestimmen sich die Bezüge der Objekte untereinander. Eine methodisch konstruierte Ordnung von Dingen stellt nicht nur eine Vorentscheidung über die noch zu erwartenden Eigenschaften der Dinge dar; die methodische Ordnung verweist auf einen sachhaltigen Zusammenhang der Begriffe, die zusammen erst eine gegenständlich interpretierte Ordnung zu konstruieren gestatten. Die notwendige Allgemeinheit von Methoden, diese ihre Anwendungsbedingung, beschränkt notwendig den heuristischen Wert. Sie relativiert den Wert des Systems, in das sie die Objekte einordnet und bezüglich dessen sie bestimmte einzelne Eigenschaften verständlich macht. Der methodologisch überaus wichtige Gegensatz zwischen den (verschiedenen) theoretischen Begriffsgerüsten und den in Beobachtung präsenten Dingen ließe sich erst dann beseitigen, wenn auch die Verschiedenheit von theoretischen Begriffen und Systemen von Begriffen sich im Zusammenhang eines umfassenden Begriffs von Theorie verständlich machen ließe. Eine solche Theorie allein könnte die konkurrierenden Systeme der Weltbetrachtung und infolgedessen auch den systematischen Zusammenhang des Betrachteten so zueinander in Beziehung bringen, daß theoretischen Konstruktionen ihr partieller Charakter, nur Ausschnitte der Sache zu treffen, genommen wäre. Eine Theorie, die sich nicht aus Gründen ihrer Anlage schon als bloß partielle selbst verstehen muß, enthält die Konkretion der Gegenstände als unbegrenzte Möglichkeit zur immanenten Differenzierung

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ihrer eigenen Voraussetzungen. Das Bild der Realität, das sie ist, ist so ihr eigenes. ® Transzendentale und spekulative Begriffstheorien gingen von der Idee aus, daß eine rationale Durchdringung aller theoretischen Grundbegriffe (Kategorien), die als Bedingungen wissenschaftlicher Erfahrung überhaupt in Betracht kommen, derart durchzuführen ist, daß mit der vollständigen Entwicklung der Grundprädikate auch die Vollendung einer einheitlichen Vorstellung von der Welt wenigstens prinzipiell gesichert ist. Die Idee, wenn auch nicht die Durchführung, die den traditionellen Theorien über die Grundbegriffe und Grundlagen wissenschaftlicher Erkenntnis zugrunde lag, war für die Position COMTES ebenso leitend wie für den empiristischen Positivismus CARNAPS, der im Aufbau ein geschlossenes System der begrifflichen Konstituentien der Welt — aus Elementarerlebnissen und relationslogischen Grundbegriffen — zu erstellen unternahm. Auch Positionen, die den Theoriepluralismus als Bedingung der Auflösung von dogmatisch vertretenen Theorieeinstellungen zum Zweck der Verbesserung des theoretischen Wissens postulieren, müssen die Möglichkeit einer einheitlichen Konzeption von Theorie annehmen, wenn sie die Konkurrenz von Theorien und Modellen dem Zwang zum Austausch von Argumenten unterstellen. Den tradierten Begriffstheorien kann man mühelos Vorhalten, daß bestimmte inhaltliche Festlegungen sich in ihnen finden, die man insofern als dogmatisch bezeichnen kann, als sie zeitbezogene und zeitgebundene Entscheidungen inhaltlicher Art repräsentieren, die durch die Progression der Erfahrungs-, aber auch der Kulturwissenschaften als überholt anzusehen sind. Für eine Beurteilung der Chancen einer Theorie der Grundlagen von Theoriebildung überhaupt ist es nicht entscheidend, ob z. B. KANTS transzendentale Grundlegung in ihrer faktischen Durchführung an den Entwicklungsstand von Mathematik und Physik seiner Zeit gebunden ist. Wichtig ist nur dies, daß es darauf ankommt zu beachten, daß die für jede Theoriebildung und Konstitution grundlegenden Strukturen des Zusammenhanges ihrer Momente und Explikationsstufen so entfaltet werden müssen, daß sie möglichst frei und rein von solchen Bestimmungen bleiben, die sich erst durch den Kontext der Theorie überhaupt ergeben. Versucht man ein allen Methoden, der Wissenschaften wie der Philosophie, gemeinsames Moment zu sistieren, dann ist es zunächst dieses. • W. Sellars hält einen solchen Theoriebegriff für ein sinnvolles Ideal, das dazu dienen kann, die Voraussetzungen von Theoriebildung gründlicher zu analysieren. Vgl. dazu: Theoretische Erklärung. In: Erkenntnisprobleme der Naturwissenschaften (s. Anm. 1). 239 ff, bes. VII.

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daß alle Methoden bestimmt sind als geordnete Zusammenhänge von Begriffen, die sich in der konkreten Anwendung so dokumentieren, daß die begriffliche Erfasstmg eines bestimmten Gegenstandes einer geregelten Folge von eindeutig festgelegten Schritten unterworfen ist. Das Spezifische an einer Methode, das z. B. aus der spezifischen Zwecksetzung bezüglich eines besonderen Gegenstandsbereichs resultiert, berührt nicht die Grundlagen methodischen Denkens; mit Beziehung auf einen schon geordneten Bestand begrifflicher Voraussetzungen einen in geordneten Schritten ablaufenden Gang des Verstehens und der Materialordnung auszubilden. Damit aber ist sehr wenig über die vielen Methoden gesagt, der genannte formale Befund ist auffallend nichtssagend, Reflexionen auf Methoden müssen sich immer die Kritik gefallen lassen, daß die Dürre methodischer Dispositionen, und schon gar der Reflexionen auf solche, in einem krassen Mißverhältnis zum inhaltlichen Reichtum der methodisch grundgelegten Wissenschaften steht. Diese Einrede kann man aber auch dahingehend verstehen, daß der erstaunliche Umstand kenntlich gemacht wird, daß die in sich verbundene Vielfalt der gegenständlichen Welt gerade durch die Allgemeinheit der methodischen Voraussetzungen überhaupt erst verständlich wird; je allgemeiner die Voraussetzungen sind, um so größer wird der Bereich sein, der von ihnen erfaßt wird und sich als ein Gefüge dependierender Beziehungen auslegen läßt. Das fruchtbare Nebeneinanderbestehen verschiedener Methoden (bezüglich verschiedener oder identischer Gegenstandsbereiche) ist deshalb möglich, weil die formalen Voraussetzungen und die das System der Reflexionsschritte leitenden Regeln im Fall der Dualität von Methode und Gegenstand an — die Methode zwar determinierende, aber auch so erst möglich machende — spezifische Voraussetzungen gebunden sind, die nicht zu den eine Methode allgemein und überhaupt konstituierenden Bedingungen gehören. Es war nun dies der entscheidende Einfall der dialektischen Logik, das ,Mißverhältnis' zwischen der abstrakt-formalen Allgemeinheit der Voraussetzungen des Denkens (des Bestands der theoretischen Prädikate) und dem inhaltlichen Reichtum der gegenständlichen Welt, wie ihn die Wissenschaften präsentieren, dadurch zu beheben, daß die empirische Anwendungen ermöglichenden spezifischen Voraussetzungen von Methoden nicht nur in einen leeren Begriff von Methode als eines Verfahrens ohne Gehalt äußerlich eingesetzt werden, um ihn (sie) zu spezifizieren, sondern daß eben diese Voraussetzungen im Zusammenhang der Entfaltung der ein Verfahren überhaupt konstituierenden Momente mitkonstruiert werden. Auf diese Weise sollte der logisch plausiblen Forderung entsprochen werden, daß die Sache selbst, die nur im methodisch geordneten imd so kon-

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trollierbaren Zusammenhang als das, was sie wirklich ist, zu ihrem Recht kommen kann, nicht als darauf unbezogen gedacht werden darf, was doch die Bedingung ihrer Wesensbestimmung ist. Außerhalb der Methode oder des Denkens gibt es demnach konsequenterweise keine Sachverhalte, wenigstens keine solchen, die zu beachten wären. Die Einbeziehung der je spezifischen Anwendungsvoraussetzungen von Methoden in den Gang der Entfaltung der logisch-methodologischen Grundbegriffe, d. i. ihre logische Verallgemeinerung oder ihre Auslegung als Momente des logischen Zusammenhanges überhaupt, bedeutet aber nicht weniger, als daß die Pluralität der Methoden zu einer einzigen kontrahiert und daß die methodische Reflexion, die Reflexion auf die Bedingungen der Begreifbarkeit der gegenständlichen Welt, zur reflektierenden Bestimmung des Inhaltes selber wird. ^ Es ist klar, daß im Zusammenhang der Entfaltung der Elemente einer Methode, die mit ihrem Inhalt bzw. den spezifischen (gedanklich spezifizierbaren) Voraussetzungen ein homogenes Ganzes bildet, der für die gewöhnlichen auf Anwendung angelegten Methoden charakteristische Gegensatz zu der Pluralität der Inhalte entfällt. Dieser Umstand ist es, der dem Universalitätsanspruch des Hegelschen Methodenbegriffs bzw. der sich vollständig und in allen Wirklichkeitsformen gleichermaßen selbst auslegenden und bestätigenden, so konkreten und zum System der Gedanken entwickelnden Idee zugrundeliegt. Hegels Kritiker haben immer daran Anstoß genommen, daß, auch wenn man die Konzeption der Logik, dergemäß die internen Strukturen aller nur möglichen Gedanken, also die Momente der Methode der Dialektik vollständig entwickelbar sein sollen, für sinnvoll hält, der für wissenschaftliche Erkenntnis und deren methodologische Selbstaufklärung und Kritik wesentliche Dualismus zwischen den Gedankengerüsten und den in direkten und indirekten Beobachtungen präsenten Gegenständen nicht nur unverstanden bleibt, sondern sogar ganz sinnlos ist. Dies hat, zum Schaden einer unbefangenen und kritischen Fortführung der dialektischen Konzeption dazu geführt, daß die Progression der wissenschaftlichen Entwicklung nicht mehr als ein bewegendes und irritierendes Thema philosophischer Theorie im Rahmen der Dialektik werden konnte. Zwar hat Hegel an einigen Stellen den Wert von Erfahrung und Wissenschaft für die Entwicklung des Begriffs (Idee) ausdrücklich hervorgehoben ® und sogar die ganze objektive Logik als Theorie der Bestimmungen deklariert, die im Zusammenhang der Meta* Hegel: Wissensdiaft der Logik. Hrsg. v. G. Lasson. Teil 2. 486. ® Z. B. Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften. 2. u. 3. Ausgabe. § 12.

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physik und Wissenschaft (Transzendentalphilosophie) als die Elemente des Wissens von Realität exponiert wurden. ® Zugleich aber meinte er, mit seiner Theorie des Dialektischen und der Negativität die Grundstruktur alles Realen erkannt zu haben. ^ Sollte dies ein korrekt erzieltes Ergebnis seiner Theorie sein, so käme den empirisch-wissenschaftlichen Bemühungen in der Tat nur nebensächliche Bedeutung zu. Man müßte dann aber von der dialektischen Philosophie erwarten, daß sie in immanenten Begriffskonstruktionen den Sachgehalt erreicht, der von den Wissenschaften, wie unzureichend und verstellt auch immer, präsentiert werden konnte. Damit aber ist spekulative Philosophie gewiß überfordert. Überdies müssen schwere Bedenken gegenüber solchen Passagen der Logik angemeldet werden, die von der wissenschaftlichen Entwicklung überholte Einsichten zu ewigen Momenten einer reinen logischen Entwicklung hochstilisiert haben. Dies gilt mit Sicherheit für die Teile der Quantitätslogik, die den Entwicklungsstand der Infinitesimalrechnung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts reproduzieren. Will man einen Gesichtspunkt angeben, unter dem man die Konzeption der dialektischen Logik und Methode, ohne den speziellen Voraussetzungen, Dogmen oder gar Subreptionen der Hegelschen Fassung zu erliegen, betrachten und auswerten kann, dann wird man zunächst daran erinnern müssen, daß alle Reflexionen auf die allgemeinen, Methoden konstituierenden Bestimmungen, d. h. also Reflexionen, die nicht — auf eine bestimmte praktische Aufgabenstellung bezogen — spezielle Methoden entwerfen, sondern die Grundlagen des Entwerfenkönnens selbst betreffen, nicht von dem Dualismus bestimmt sind, der zwischen Methoden und verschiedenen Gegenstandsbereichen besteht. Das Spezifische an der Konzeption der dialektischen Logik besteht nun darin, daß die methodischen Mittel der Entfaltung der Grundbegriffe oder Kategorien in ihren Zusammenhängen selbst thematisiert werden können. Genauer muß man sagen, daß die Rekonstruktion der Mannigfaltigkeit der Gedankenbestimmungen zugleich auch die Rekonstruktion der Methode ist, dergemäß die verschiedenen internen Zusammenhänge sich in eine bestimmte, schrittweise nachvollziehbare Ordnung bringen lassen. Daß die Methode selbst ,Gegenstand' kategorialanalytischer Untersuchungen im selben Sinne wie jede einzelne Kategorie ist, dies geht daraus hervor, daß Hegel den Begriff Methode als eine Kategorie, wenn auch mit der besonderen Funktion der ordnenden Zusammenfassung aller anderen * Enzyklopädie. § 114. ’’ Enzyklopädie. § 81; Logik. Teil 2. 496.

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(diese Besonderung aber ist logisch bedeutungslos!), ausgezeichnet hat. Es ist klar, daß dann, wenn man Kategorien als je vereinzelte Strukturbestimmungen eines in sich homogenen Reflexionszusammenhanges deutet, die Reflexion auf die Kategorien bzw. die methodische Rekonstruktion des Aufbaus und der Gliederung ihrer wechselseitigen Verweisungszusammenhänge so verstanden werden muß, daß sie selbst schon bestimmt ist durch den Zusammenhang, der durch sie erst entdeckt und begriffen werden kann. Der hier auftretende Zirkel ist mit Recht immer kritisiert worden. Man kann ihm aber dann entgehen, wenn man die Grundbegriffe der Methode, d. h. alle die Begriffe, die sich auf den Verlauf der Entfaltung der Kategorienmannigfaltigkeit beziehen und sich darin nicht verändern, von den einzelnen Bestimmungen so unterscheidet, daß sie einen ganz eigenen Typus von Begriffen bilden. Das aber muß nicht notwendig dazu führen, daß zwischen dem Bestand der Grundbegriffe oder Grundoperationen, welche die dialektische Methode bedingen (wie etwa die doppelte Negation oder Negativität), und der Kategorienmannigfaltigkeit ein dualistisches Verhältnis entsteht, das sich formal vom Dualismus zwischen Methode und Gegenstandsbereich in den Wissenschaften nicht unterscheiden läßt. Das Verhältnis zwischen dialektischen Grundbegriffen und einzelnen Bestimmungen besteht in der Konzeption der dialektischen Logik darin, daß die Grundbegriffe (der Methode) das Wesen aller einzelnen Kategorien repräsentieren; daß diese als bestimmte in ihrer bestimmten Beziehung zu anderen sowohl als von dieser Beziehung unterschieden als auch als wesentlich auf diese Beziehung bezogen gedacht werden müssen. Hegel fordert ausdrücklich, daß Beziehungen im Zusammenhang einer dialektischen Entwicklung so charakterisierbar sein müssen, daß man mit Recht sagen kann, eine entwickelte Beziehung bzw. ein bestimmtes Verhältnis von Bestimmungen, die zueinander in Beziehung stehen, sei Produkt eines „immanenten Hinausgehens" über die Begrenztheit einer Bestimmung. ® Daß alle Bestimmungen für weitere Vermittlungen ihres Sinnes offen und doch in jedem bestimmten Zusammenhang, in den sie eingegangen sind, stabil sind, diese Doppeldeutigkeit — im Sinne von doppelter Bedeutung — ist gewiß keine spezielle Gedankenbestimmung unter anderen. Dieser Umstand charakterisiert vielmehr den Status einzelner Gedanken oder Kategorien. Es wird dadurch der für jeden vernünftigen Begriff von einem System grundlegende Unterschied zwischen Ganzem und Teil als der Unterschied zwischen der schon stabilisierten Bedeutung (einer Kategorie) Enzyklopädie. § 81

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und der in ihr enthaltenen Möglichkeit zu fortsetzbaren Sinndifferenzierungen speziell gedeutet und extrapoliert. Alle Gedanken können so auf die gleiche Weise zwar formal, aber doch auch wesentlich bestimmt werden: sie sind die verschiedenen Schritte eines Reflexionsganges, in dem sie als dessen bestimmte Momente fungieren, wobei der Gang der Reflexion bzw. die Konstruktion ihrer verschiedenen Stufen oder Momente so auf jede einzelne Bestimmung bezogen bleibt, daß er (sie) die Möglichkeit zur Sinndifferenzierung komplementiert, die nicht als Komponente einer einzelnen kategorialen Bedeutung verstanden werden kann. Dieser Versuch, einen Grundzug der dialektischen Methode herauszustellen, in der Absicht, ihn von speziellen Realisierungsformen zu lösen, kann mit Mitteln der Hegelschen Logik nicht kritisiert werden. Die Exposition der Begriffe Methode und System, Idee (Ganzes) und Moment (Teil) als transzendentale Voraussetzungen von (auch dialektischer) Theoriebildung überhaupt entspricht gewiß dem Selbstverständnis Hegels nicht; dies aber kann für Beurteilung oder Entscheidung über die Triftigkeit der Theorie oder theoretischer Möglichkeiten keine Bedeutung haben. Hegel hat an zentralen Stellen der Logik darauf hingewiesen, daß das Dialektische oder die Negativität die Seele alles Lebendigen und Wirklichen sei, daß es sich dabei um ein ontologisches Realprinzip handele. Aber er behandelt die Methodenbegriffe, die umstandslos als Realprinzipien gedeutet werden, ganz anders als alle anderen Gedankenbestimmungen, die ja auch Prinzipien im selben Sinne sind. Es ist nicht verwunderlich, daß die Begriffe, die die Einheit der Methode und letztlich des Systems gewährleisten sollen, und der Begriff Methode selber unterschieden und in gewisser Weise gegenüber den bestimmten Momenten der Theorie abstrakt stabilisiert werden. Diese Begriffe dürfen auch nicht in der selben Weise als durch Reflexion veränderbar und in neue, erweiternde Strukturen transformierbar gesetzt werden, wenn man nicht im Ansatz schon die Konsistenz der Theorie aufs Spiel setzen will. Nicht nur verändert der Begriff Moment z. B. im Verlauf der logischen Entwicklung seine Bedeutung nicht, er darf sich auch nicht ändern und muß sich letztlich ebenso starr verhalten, wie Hegel dies als Eigenschaft transzendentaler Kategorien behauptet hat. Wären nicht alle Kategorien in der gleichen Weise als Momente (Teile) der Idee (Ganzes) aufzufassen, dann ließe sich weder von einem immanenten, noch von Zusammenhang überhaupt reden, es sei denn eine Theorie verschiedener Weisen von zusammenhängenden Zusammenhängen ließe sich konstruieren; aber auch dann werden, bezüglich bestimmter Zusammenhangsweisen, invariante Begriffe benötigt. Die Logik ist in gewisser Weise eine Theorie von Zusammen-

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hängen von Zusammenhängen; die Verbindung ihrer Teile ist aber nicht zufällig ein logisch ungelöstes, wohl unlösbares Problem. Man kann nicht nur im Kontext einer dialektischen Begriffstheorie dafür argumentieren, daß Begriffe, welche die Bestimmtheit von Zusammenhängen und der Konstruktion von Zusammenhängen garantieren, auf konstruierte Begriffe und konstruierte Begriffe auf Grundbegriffe der methodischen Behandlung als bezogen gedacht werden müssen; apriorische Sinndifferenzierungen verlassen den Bereich des Apriori nicht. Aber es gibt sachhaltige Gründe dafür, Begriffe, die Methoden konstituieren, und die Methoden selber unterschieden zu halten von den ,Gegenständen', den einzelnen unterscheidbaren Schritten, auch wenn diese auf der gedanklichen Ebene situiert sind. Es ist hier ähnlich wie bei der Klärung der Struktur wissenschaftlicher Sprachen, daß die Forderung nach Eindeutigkeit und Bestimmtheit eine Differenzierung in Objekt- und Metaebene erzwingt. Würde man die methodischen Mittel der Konstruktion des Zusammenhanges von Kategorien auf der Ebene der Kategorien lokalisieren, sie damit als Kategorien unter Kategorien identifizieren müssen, dann wären z. B. schon Überlegungen unmöglich, die den Status der Konstruktion eines bestimmten begrifflichen Verhältnisses im Gesamtzusammenhang festzulegen ermöglichen würden. Es muß aber möglich sein, eine bestimmte Stufe irgendeiner Gedankenentwicklung, auch und gerade apriorischer, zu unterscheiden von und in Beziehung zu setzen zu der Methode bzw. dem System aller Bestimmungen. Die dabei verwendeten Bestimmungen kann man aber nicht mit Sinn wieder nach Art einzelner Schritte deuten; denn sie sind invariant ihnen gegenüber, oder aber sie haben die Bestimmtheit und Funktion der Schrittregelung nicht. Es ist klar, daß man auf wesentliche Gehalte der dialektischen Theorie verzichten muß, wenn man die Einheit von Methode und Sache nur für den Fall der Theorie der Grundbegriffe des Denkens und Erkennens annimmt. Das bedeutet aber nur, problematische und unbewiesene Annahmen sowie deren logisch widersinnige Folgen aufzugeben. Hegels These, daß Sache und Methode überhaupt nur um den Preis wechselseitiger wesentlicher Unbestimmtheit sich trennen lassen, ist nicht nur schlicht unbewiesen, sie enthält überdies die unlösbare Schwierigkeit, daß die Funktion des Methodenbegriffs eigentlich überhaupt nicht einsichtig gemacht werden kann; denn es kann nicht erklärt werden, wieso überhaupt die Differenz zwischen Methode und irgendwelchen ,Gegenständen' — seien es gedankliche Momente oder empirische Sachverhalte — entstehen kann, wenn doch jeder einzelne ,Gegenstand' oder Schritt angesehen wird, als

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enthielte er mit seiner Bestimmtheit die Vielfalt der Beziehungen zu anderen Bestimmtheiten in sich. Auch unabhängig von speziellen dialektischen Voraussetzungen wird man sagen können, daß die Annahme einer Methode für die Explikation des Sinnes der Grundbegriffe (auf die keine Wissenschaft verzichten kann) und ihres Zusammmenhanges einen guten Sinn hat, ohne daß dadurch die Grenzen verschiedener Wissenschaften und ihrer Inhalte beseitigt werden. Der Zusammenhang der Begriffe, welche die Einheit gegenständlicher Erkenntnis allgemein und vor allen Bezugnahmen auf qualitative Spezifikationen bestimmen, muß als explikabel und für jede Form des Gegenstandsbezug als verbindlich angesetzt werden, wenn Erkennen selbst noch verständlich und Erkenntnisformen vergleichbar sein sollen. Geht man von der Annahme aus, daß in den Wissenschaften auch Begriffe, die etwas bedeuten sollen, aber keine empirischen Referenten haben, ,gebraucht' werden, geht man wie der aufgeklärte logische Positivismus auch von theoretischen Konstruktionen bei der Begründung wissenschaftlicher Erkenntnis aus, dann müssen die Grundbegriffe, die Mittel der Darstellung ihrer Zusammenhänge und das ihre Bestimmung ,begleitende' Denken so angesetzt werden, daß empiristische Mißdeutungen ausgeschlossen sind. Begriffen und dementsprechend einer Reflexion ihres Zusammenhanges Apriorität zusprechen, das bedeutet nicht notwendig die Etablierung einer reinen gedanklichen Welt neben oder gar über empirische Tatsachen. Es ist sehr wohl denkbar, daß die Entfaltung der Bedeutung kategorialer Zusammenhänge von Bezugnahmen auf empirische Entwicklungen abhängt, ohne daß sie ihren apriorischen Status verlieren. Notwendige Bedingungen sind nicht immer hinreichende; Explikationsbedingungen sind nicht eo ipso Bedingungen der Explikate. Hegels Logik kann man als einen theoretischen Versuch deuten, den Systembegriff, wenn er schon nicht mehr in der Fülle der wißbaren Gehalte trägt, auf die Grundbegriffe und die Methode der Konstruktion von Zusammenhängen anzuwenden; dies muß freilich gegen den Anspruch seiner Theorie gesagt werden. Aber es kann ja wahr sein, daß die Allgemeinheit und Formalität von Grundbegriffen und der Methode, ihres Zusammenhanges sich zu vergewissern, dazu zwingt, den Systembegriff nur als System der nicht nur logisch differenzierbaren, aber in den Grundzügen gleichwohl einheitlichen Methodenpluralität gelten zu lassen.

ANDRIES SARLEMIJN (EINDHOVEN)

SEMANTISCH EXPLIZIERTE DIALEKTIK

Semantische Explikation. Die zentrale These dieses Beitrags ist die Behauptung, daß bei der Analyse von allgemeingültigen HandlungsVorschriften linguistisch-semantiche Subsumptionsprobleme auftreten, die eine sehr große Ähnlichkeit mit den Problemstellungen aus der dialektischen Tradition besitzen. Die letzten Paragraphen befassen sich mit dieser Ähnlichkeit. Zuerst sollen Beispiele illustrieren, was hier mit „allgemeingültigen Handlungsvorschriften" gemeint ist. Keine allgemeingültigen Handlungsvorschriften sind einmalige Befehle oder Anleitungen, die vorschreiben, wie eine einzelne Handlvmg durchzuführen ist. Allgemeingültige Handlungsvorschriften müssen ohne Sinnverlust in Sätze, die anfangen mit „Immer soll..oder „Jeder soll...", übersetzbar sein. Dieser Bedingung genügen die folgenden Beispiele: (HV a.a) Wer jemandem unrechtmäßig schadet, soll für den daraus entstandenen Schaden aufkommen. Diese Vorschrift hat das logische Schema eines bi-konditionalen Normsatzes Al ^ O (Bl). Nur wenn eine unrechtmäßige Tat begangen worden ist, ein Schaden aus dieser Tat entstanden ist und diese Tat einer Person zugeschrieben werden kaim, soll diese Person dem Benachteiligten den Schaden ersetzen. Wenn HV i.a im Recht eines Landes akzeptiert worden ist, dann verfügen die Richter über verschiedene Anhaltspunkte zur Lösung des semantischen Subsumptionsproblems. Erstens bestimmen die Gesetze des Landes, welche Handlungen unrechtmäßig sind, und zweitens gibt es in einem Land fast immer mehr oder weniger stabilisierte Interpretativsätze, die festlegen, was beispielsweise unter „Tat", „Unrecht" usw. zu verstehen ist. Ähnliche Probleme treten bei der folgenden Handlungsvorschrift auf, die sich in der Wissenschaftstheorie aus der Annahme der hypothetisch deduktiven Methode ergibt: (HV 1.2) Beurteile nur dann ein Ereignis als Bestätigung oder Falsifikation einer gesellschaftswissenschaftlichen Theorie, wenn die von der Theorie vorgeschriebenen Anfangs- vmd Randbedingimgen tatsächlich vorliegen O (B2) -c—A2. I.

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ANDRIES SARLEMIJN

Ähnlich wie bei HV i.i richtet man sich zur Feststellung, ob Ä2 (das tatsächliche Vorhandensein der gemeinten Bedingungen) wahr oder unwahr ist, nach den Interpretativsätzen und Definitionen der zur Diskussion stehenden Theorie. Als letztes Beispiel gilt der bi-konditionale Satz, der von Gesellschaftswissenschaftlern zwar akzeptiert wird, dessen semantische Interpretation aber problematisch ist, weil die Bedeutungen der darin enthaltenen Wörter nicht fest Umrissen sind. (HV 1.3) Insofern und nur insofern die Systemtheorie und die Kybernetik zur Bewältigung der brennenden Probleme der modernen Gesellschaften beitragen, sollen Gesellschaftswissenschaftler sich für die Weiterentwicklung dieser Doktrinen einsetzen A3 —> O (Bs). Solche Vorschriften kommen in der Praxis oft vor. Die meisten wissenschaftlichen und technischen Programme können nur in Sätzen dieser Art formuliert werden. Ihre Eigenart besteht darin, daß es keine akzeptierten Interpretativsätze gibt, auf Grund derer man über ihre Wahrheit oder Unwahrheit entscheiden könnte, und daß sie implizit zu ihrer eigenen linguistisch-semantischen Präzisierung auffordern. Genauer formuliert besagt nun die oben genannte These folgendes: Bei einem Bedeutungs- oder Begriffswandel gibt es gute Gründe sowohl für die Annahme, daß Ai, A2 und A3 wahr sind, als auch für die Annahme, daß Ai, A2 und As unwahr sind, so daß mit den Regeln der klassischen Logik (Abtrennungsregel und Widerlegungsregel) die Widersprüche O (Bi) & —1 O (Bi), O (B2) & —, O (B2) und O (B3) & — O (Bs) ableitbar sind. Aus diesen Widersprüchen kann keine bestimmte ,Konklusion' gezogen werden. Nur unter bestimmten Voraussetzungen gilt, daß zwangsläufig Präzisierungen durchzuführen sind. Das klassische Trivialisierungsprinzip (p & —■ p |— x) bleibt somit erhalten. Um Mißverständnissen vorzubeugen, sei noch bemerkt, daß der Beitrag nur insofern die alte Idee einer dialektischen Logik verfolgt, als „Logik" hier als Sammelbegriff für klassisch-mathematische Logik, logische Semantik und linguistische Semantik aufgefaßt wird. Unter „semantischen Problemen" werden hier also sowohl Matrizierungsprobleme als auch Probleme der inhaltlichen Sprache verstanden. I

2. Begriffsfalsifikation und Begriffswandel im Recht. Ein Standardbeispiel für einen Begriffswandel in der Niederländischen Jurisprudenz ist die neue Interpretation von „unrechtmäßige Tat" („onrechtmatige daad"), die sidi in den Jahren 1909—1919 durchgesetzt hat: Die Wasserleitungen eines Lagerhauses waren 1909 durch Frost gesprungen, weil die Nachbarin, Frl.

Semantisch explizierte Dialektik

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de Vries, sich geweigert hatte, den in ihrer Wohnung sich befindenden Haupthahn zuzudrehen. Dadurch war in diesem Lagerhaus ein erheblicher Schaden entstanden. Das Gericht konnte das genannte Fräulein nicht verurteilen, da nach den damals geltenden Interpretationen von „unrechtmäßige Tat" ihr kein Unrecht nachgewiesen werden konnte. Anläßlich eines ähnlichen Falles wurde 1919 eine neue Definition angenommen, nach welcher auch der Mangel an der für den gesellschaftlichen Verkehr erforderlichen Sorgfalt gegenüber anderen Personen oder deren Besitz unter „unrechtmäßige Tat" subsumiert werden konnte. Nach dieser neuen Definition könnte man die genannte Person verurteilen. Dieser Fall zeigt, daß es mehr oder weniger konsistente inhaltliche Systeme gibt — wie das niederländische Rechtssystem aus den Jahren 1909—1919 —, die einem Begriffswandel unterliegen. Dieses Beispiel ist jedoch kein Einzelfall. Fast alle Gesetze werden laufend neuinterpretiert. Und in den juristischen Fachbüchern, die sich mit diesem Thema befassen, stößt man öfters auf den Spruch: Je älter ein Gesetz, desto ausgedehnter auch seine Jurisprudenz. Dürfen wir also voraussetzen, daß alle wichtigen Gesetze ähnlichen Begriffsveränderungen unterworfen sind, dann wird der genannte Fall sehr relevant. Er zeigt uns, daß es nicht nur Falsifikationen von Hypothesen gibt — wie die Popperianer uns versichern —, sondern auch Begriffsfalsifikationen. Nicht die hypothetischen Aussagen des Rechtssystems, sondern dessen Terme werden problematisch. Der Widerspruch, der den neuen Interpretativsatz auslöst, beruht darauf, daß die Definitionen der Terme und deren stabilisierte Interpretativsätze nicht mit den Intentionen übereinstimmen, die dem Rechtssystem zugrundeliegen. In unserem Fall schrieb das verbreitete Rechtsgefühl vor: Die Frau sollte für den Schaden aufkommen. Auf Grund der Definitionen und stabilisierten Interpretationssätze konnte man dieses Gebot jedoch nicht aus den Gesetzen deduzieren. Die unerwartete Nichtableitbarkeit des Gebotes O (Bi) im besprochenen Fall zwingt zur Reflexion über die Frage, wie „unrechtmäßige Tat" verstanden werden sollte, damit dieser juridische terminus technicus der neuerworbenen Rechtseinsicht entspricht. Und sobald sich Probleme bezüglich der richtigen Bedeutung eines Wortes oder eines Satzes aufdrängen, werden die Fragen der logisch-semantischen Interpretation unentscheidbar. Dies hat Hegel m. E. zurecht betont. Mit Matrizen ist dieses Problem nicht zu bewältigen. Es steht nicht zur Debatte, ob man den Propositionen ein, zwei, drei oder n mögliche Werte zuschreiben kann. Der Satz A soll den Wert „wahr" erhalten, erhält ihn aber nicht. Dies löst eine juridische Reflexion aus; und da in dieser Reflexion die Bereiche der Terme von A zur Diskussion stehen, ist hypothetisch sowohl der Satz O (Bi) als

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auch der Satz —. O (Bi) ableitbar. Gleichzeitig sind jedoch dieser Reflexion bestimmte Grenzen gesetzt. Sie soll sich entscheiden, ob O (Bi) auch im vorliegenden Fall deduzierbar ist. Wenn sie sich dazu entschlossen hat, dann soll sie den terminologischen Handlungsvorschriften gehorchen: „Führe einen derartigen Interpretativsatz in bezug auf A ein, daß O (Bi) auch im vorliegenden Falle deduzierbar wird." Man soll nicht der Versuchung erliegen, den hier explizierten Begriffswandel wegzuinterpretieren und zu behaupten, es handele sich nur um eine Bedeutungsverschiebcmg in der Umgangssprache. Das Wort „unrechtmäßige Tat" fungierte sowohl vor als auch nach der Einführung des Interpretativsatzes von 1919 als juridischer terminus tedinicus. Außerdem kann die Frage nach dem neuen Interpretativsatz nur von dem Juristen, der mit Subsumptions- und Deduktionsfragen vertraut ist, sachkundig durchdiskutiert werden. Es handelt sich somit nicht um eine Bedeutungsverschiebung, die durch die zufälligen Eigenschaften einer Umgangssprache bedingt ist. 3. Gesellschaftswissenschaftliche Begriffsunterschiede und Interpretativsatzentwicklungen. Auch in der Geschichte der Naturwissenschaften treten eingreifende Begriffsveränderungen auf. In der klassischen Mechanik ist die Masse eine absolute Eigenschaft eines Körpers. In der speziellen Relativitätstheorie ist sie ein dreistelliges Prädikat. Auf Grund dieser Begriffsunterschiede nehmen die zeitgenössischen Methodologen an, daß es syntaktisch inkommensurable Theorien gibt, obwohl in ihnen dem Anschein nach die gleichen Terme und Fachausdrücke Vorkommen. Diese syntaktische Inkommensurabilität tritt auch in den Gesellschaftswissenschaften auf. „Autorität" ist als soziologischer Fachterm manchmal ein einstelliges, manchmal ein zweistelliges oder auch dreistelliges Prädikat. In der Literatur der Organisationskrmde kommen diese Begriffe sogar gleichzeitig vor. Dies zeigt zwar, daß WITTGENSTEINS These der Familienähnlichkeit nicht nur für die Eigenschaftswörter einer Umgangssprache, sondern auch für den Fachjargon gilt. Dennoch dürften diese Begriffsunterschiede nur den gesellschaftswissenschaftlichen Anfänger zu Begriffsverwechslungen führen. Viel ernsthafter ist die Problematik, die einerseits auf der Historizität gesellschaftswissenschaftlicher Gegenstände beruht und anderseits auf dem Fehlen der Möglichkeit, mit gesellschaftswissenschaftlichen Gegenständen Experimente durchzuführen. Diese beiden Umstände bilden zusammen eine Problematik, die charakteristisch für die gesellschaftswissenschaftliche Methodologie ist. Für einige Methodologen stellte der Mangel an Experimenten kein Problem dar. Sie forderten einfach, daß die Geschichte die zur Überprüfung einer Theorie benötigten Anfangs- und Randbedingungen

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liefern sollte. Dieser Vorschlag ist jedoch nur dann sinnvoll, wenn die gesellschaftswissenschaftlichen Terme sich nicht geschichtlich entwickeln; sonst gerät man in den verzwickten Kreis, daß man einerseits auf Grund von Definitionen und Interpretativsätzen feststellen muß, ob die Geschichte die erforderlichen Anfangs- und Randbedingungen geliefert hat, andererseits aber sich entscheiden muß, ob man auf Grund der geschichtlichen Entwicklungen zur Einsicht gekommen ist, daß der zur Diskussion stehenden Theorie neue Interpretativsätze hinzuzufügen sind. Wenn dieser Kreis vorliegt, kann die allgemein verbreitete logistische Methodologie ihn nur durchbrechen, indem sie ihre Beschränkung auf interpretationslose Kalküle aufgibt und sich zuerst auf Grund von Interpretationsvorschriften entscheidet, ob die logische Deduktion durchgeführt werden darf. Nun aber gibt es diesen Kreis; denn das Problem der gesellschaftswissenschaftlichen Interpretativsätze besitzt eine sehr große Analogie zu dem Problem der juristischen Begriffsveränderungen. Die Geschichte der Gesellschaftswissenschaften ist nicht nur — wie die hypothetisch-deduktive Geschichtsphilosophie uns glauben läßt — eine Aufeinanderfolge von kühnen Theorieaufstellungen und Falsifikationsversuchen. Viele Beispiele sprechen dafür, daß auch eine andere methodologische Tendenz verbreitet ist. Immer wieder wird nach neuen Interpretativsätzen der alten Theorien gesucht, so daß deren beschränkte Anwendungsmöglichkeit sich immer klarer herauskristallisiert. So ist beispielsweise die merkantilistische Quantitätsund Zinstheorie von den Klassikern der Ökonomie zurückgewiesen worden, aber in den dreißiger Jahren unseres Jahrhunderts präsentierte sie sich in einer neuen präziseren Form, und gleichzeitig wurde deutlich, warum diese Theorie sich in der klassischen Periode nicht bewähren konnte. Die Größe des Vermögens, wirtschaftliche Bedürfnisse zu befriedigen, korrelierte im i6. und 1.7. Jahrhundert tatsächlich mit dem Goldquantum und der Umlaufgeschwindigkeit. Aber im 18. xmd ig. Jahrhundert war dies nicht mehr so, und konnte es auch nicht mehr sein, weil die Produktion den Handel in den Hintergnmd gedrängt und ähnliche Tendenzen in den Wirtschaftswissenschaften hervorgerufen hatte. In den dreißiger Jahren tmd auch in der heutigen Wirtschaftslage erscheint das von dem Klassiker JEAN BAPTISTE SAY formulierte Gesetz, nach dem das Angebot seine eigene Nachfrage erschöpft, absurd. In dem industriellen Aufschwxmg der Nachkriegszeit stand es wieder zur Diskussion, so daß es in den heutigen Standardwerken der Ökonomie noch behandelt wird. Von SAY selbst war dieses Gesetz als Antithese zu der merkantilistischen und physiokratischen Theorie aufgestellt worden, nach welcher der Mangel an Kaufkraft die wirtschaftliche Entwicklung stagnieren kann. Der Klassiker SAY hat es nicht

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unterlassen, einige Anfangs- und Randbedingungen seines Gesetzes zu formulieren. Er hat sogar zugegeben, daß es unter bestimmten Bedingungen Überproduktion geben kann. Aber Wirtschaftslagen wie die heutige und wie die der 30er Jahre waren für SAY undenkbar. Diese und viele andere Beispiele, die man hier noch anführen könnte, zeigen, daß der Gesellschaftswissenschaftler wohl selten in der Lage sein wird, alle Interpretativsätze der Randbedingungen seiner Theorie zu formulieren. Jedesmal, wenn der Mangel an Interpretativsätzen auftritt, wird die obengenannte methodologische Handlungsvorschrift paradoxal und steht der Gesellschaftswissenschaftler vor der Wahl, die alte Theorie außer acht zu lassen oder sie zu präzisieren. Entscheidet er sich für das letztere, dann richtet sich seine Reflexion nach einer terminologischen Handlungsvorschrift, die der des Juristen aus § 2 ähnlich ist. 4.0 D-Interpretation, i-T-Interpretation und H-Explikation. Für eine Doktrin-Interpretation (D-Interpretation) würden die bisherigen semantischen Erörtenmgen ausreichen, denn es hat sich gezeigt, daß das dialektische Gesetz, nach welchem semantische Widersprüche unter bestimmten Voraussetzungen die Verändenmgen und Präzisienmg der Bedeutungen und Begriffe fördern, sich noch immer bestätigt. Für eine kritische historische Explikation (H-Explikation) reicht dieses Ergebnis jedoch nicht aus. Das fortwährende D-Interpretieren führt nur zur kritiklosen Kontinuation alter traditioneller Ideen in einer neuen Form. Eine H-Explikation soll klären, inwieweit das Ergebnis der Explikation noch mit einer intersubjektiven Textinterpretation (i-T-Interpretation) in Übereinstimmung zu bringen ist und inwiefern die traditionellen Ideen auf Grund wissenschaftlicher Entwicklungen nicht mehr vertretbar sind. Dementsprechend soll die vorausgesetzte i-T-Interpretation jetzt geklärt werden. Gleichzeitig wird die HV 1.3 analysiert; sie eignet sich am besten zur Explikation der traditionellen dialektischen Methode. 4.1 Wissenschaftsideologie und Bedeutungswandel. Nach der hier vorausgesetzten i-T-Interpretation besagt „doppelte Negation" in der Wissenschaft der Logik Hegels und im Kapital von MARX — insofern diese Arbeiten implizit oder explizit wissenschaftslinguistische Fragen behandeln — den folgenden Komplex von Regeln: Bei der Bedeutungsanalyse fachwissenschaftlicher und fachphilosophischer Eigenschaftswörter sind zwei Grenzfälle zu unterscheiden: erstens die Grenze der vagen Begriffsbestimmung, wo jedes Eigenschaftswort fast nichtssagend wird, und zweitens die Klasse von exakt bestimmten Bedeutungen, die von den terminologischen Regeln der philosophischen xmd wissenschaftlichen Fachsprachen reguliert

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worden sind. Für Hegels Logik gilt als Standardbeispiel „Sein" als Eigenschaftswort aufgefaßt, für MARX ist es „Sozialökonomisches Verhältnis als solches", für die heutige Situation in den Wirtschaftswissenschaften kann das Wort „Geld" als Beispiel angeführt werden, und für die unter den Sozialwissenschaftlern verbreitete Wissenschaftsideologie kann das Wort „System" angeführt werden. Für „Geld" gibt es keine einheitliche wirtschaftswissenschaftliche Definition. Es kann eine solche Definition auch nicht geben, da der Ausdruck in den unterschiedlichen Disziplinen und Theorien auch semantisch und syntaktisch unterschiedliche Bedeutungen annimmt. Ist man dennoch gezwungen zu sagen, was man unter „Geld" im allgemeinen versteht, dann werden solche nichtssagende Umschreibungen gegeben, wie „das, was etwas zum Zahlungsmittel macht" oder „das, was ein Verkäufer von einem Käufer akzeptiert, dessen Kreditwürdigkeit ihm unbekannt ist". Ähnliches gilt für das Wort „System" der modernen Systemtheoretiker. In der Hoffnung herauszufinden, was imter „System" in der modernen Systemtheorie zu verstehen ist, hat der sprachanalytisch orientierte Wissenschaftsphilosoph HANS LENK die unterschiedlichen Umschreibungen der führenden Autoritäten auf diesem Gebiet miteinander verglichen und ist zur Einsicht gekommen, daß es so etwas wie „Systemtheorie" nicht gibt. Aber es gibt Systemtheoretiker, und ihnen gemeinsam ist die Voraussetzimg, daß es gesellschaftliche steuerbare oder zumindest rationell beeinflußbare Totalitäten geben muß. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit kann man verschiedene Konzeptionen dieser fast niditssagenden Begriffsbestimmung aufzählen: i. die General-Dynamics-Systemth.eorien, die hauptsächlich von Elektrotechnikern entwickelt werden, 2. die an der phänomenologischen und funktionalistischen Tradition orientierten Systemtheorien und 3. die innerhalb bestimmter Grenzen von HEMPEL und STEGMüLLER zugelassene Systemkonzeption. Diese Systemkonzepte sind miteinander unvereinbar. Der Vertreter der einen Konzeption hält genau das für Systemtheorie, was der Vertreter einer anderen Tradition ablehnt. Das HV 1.3 ist somit auf Grimd entgegengesetzter Interpretationen paradoxal. Wenn man HV 1.3 dennoch zu verstehen versucht, dann stößt man auf psycholinguistische Gegebenheiten, die mit den Annahmen in der Wissenschaft der Logik Hegels weitgehend übereinstimmen: Erstens gibt es die vage Begriffsbestimmung, von der jeder dieser Theoretiker zugeben wird, daß sie fast nichts aussagt. Zweitens werden diese Theoretiker zugeben, daß diese Bestimmung, weil sie noch nichts aussagt, zu präzisieren ist. Und drittens verfolgen die Präzisierungsversuche entgegengesetzte Richtungen.

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Die linguistischen Subregeln der doppelten Negation sind — genauer formuliert — die folgenden: (a) Sobald man mit fast nichtssagenden Eigenschaftswörtern Sätze zu formulieren versucht, kommt man zu paradoxalen Aussagen, (b) Auf Grund dieses Widerspruchs wird der Übergang zur Klasse von exakt(er) bestimmten Bedeutungen gefordert, (c) Aber diese Klasse von exakt bestimmten Bedeutungen ist selbst unbestimmt, denn das Kriterium der Angehörigkeit zu dieser Klasse ist die Ähnlichkeit mit der fast nichtssagenden Begriffsbestimmung, (d) Statt seine Problemstellung aufzugeben, nimmt Hegel das Gesetz an; Jeder, der einsieht, daß die Begriffsbestimmung A nur eine begrenzte Präzisierung zuläßt, wird zu einer Begriffsbestimmung B übergehen, von der zu erwarten ist, daß sie zur Lösung der noch übriggebliebenen Problemstellungen führen wird, sobald auf dieser neuen Stufe Präzisierungsversuche durchgeführt worden sind, (e) Aber auch auf dieser neuen Stufe werden die Erfolge beschränkt sein, weil sich daim wiederum die Dichotomie von Bestimmtheit und Unbestimmtheit herausstellen wird. Auf die Psycholinguistik der Wissenschaftssprache angewandt, prognostiziert das Gesetz der doppelten Negation somit die Erschöpfung der Systemideologie; sie wird zu gewissen Präzisierungen in bezug auf unterschiedliche Bereiche der Gesellschaftswissenschaften führen, wonach sie von einer neuen Wissenschaftsideologie abgelöst werden wird. Nach Hegels Version der Dialektik findet diese Ablösung auf Grund des Inhalts dieser fast nichtssagenden Begriffsbestimmungen der Ideologie statt. Für MARX als Ökonom werden diese Ablösungen bedingt von technischen und wissenschaftlichen Umwälzimgen. In diesem Sinne ist die doppelte Negation im Bereich der psycholinguistischen Aspekte der Wissenschaftssprache diskutierbar. Der sog. dialektische Widerspruch ist nicht — wie so oft in der Geschichte der Hegelinterpretation behauptet worden ist — das schwierigste Moment der Hegelschen Methode. In moderner Sprache formuliert beschäftigt Hegel sich in seiner Logik mit der Semantik ideologisch-philosophischer Sätze. Obwohl diese nichts Genaues besagen, und obwohl sie paradoxale Interpretationen zulassen, versprechen die Philosophen und Ideologen sich sehr viel davon, diese Sätze für wahr zu halten. Manchmal wissen die philosophisch und ideologisch sprechenden Personen selbst, daß ihre Sätze extensional problematisch sind. Man soll nun nicht das Problem umkehren und behaupten: was für diese Menschen selbst noch problematisch ist und dementsprechend in ihren Sätzen zum Ausdruck kommt, ist auch eine logische Problematik. Wo die Anwendung der Logik problematisch ist, wird nicht ipso facto die Logik problematisiert. Hegel entnahm sämt-

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liehe von ihm behandelten Sätze einem System der philosophischen Tradition. Sein metaphysischer Evolutionismus beruht auf der Annahme, daß das logisch Problematische dieser Sätze sich zwangsläufig präzisieren muß. Diese Annahme läßt sich freilich nicht logisch begründen. Auch psychologisch ist sie nicht einwandfrei, denn es gibt Leute, die eine Vorliebe für extensional problematische Sätze haben. Was somit zur Diskussion steht, ist die Frage, ob die Annahme sich soziaZpsychologisch begründen läßt. In bezug auf unser Beispiel trifft es tatsächlich zu, daß die Systemtheoretiker nach Präzisierungen suchen. Aber die Tendenz zum Präzisieren ist erstens keineswegs allgemein verbreitet, und zweitens wird man wohl nicht sagen können, daß die Systemtheoretiker, die sich dafür einsetzen, gerade von dem Widerspruch motiviert werden. Außerdem steht auch die Ablösung der Wissenschaftsideologie nicht a priori fest. Was somit zu klären ist, sind die empirischen Voraussetzungen dieser Prozesse. Und diese Frage ist von der zeitgenössischen Soziolinguistik noch nicht gelöst. 5. H-Explikation versus i-T-Interpretation. Was sich somit in meiner Explikation nicht rechtfertigen läßt, ist der Deduktionsanspruch. Die Präzisierungen der Bedeutungen und die Veränderungen der Begriffe in der rechtswissenschaftlichen und gesellschaftswissenschaftsgeschichtlichen Reflexion unterliegen Entscheidungen, die nicht rein logischer Art sind. Hegel selbst hat diese transzendentale Deduktion nur durchführen können, indem er sich auf den sog. Standpunkt des Absoluten erhoben hat. Er hat vorausgesetzt, daß man über Bedeutungen und Begriffe unabhängig von ihrem Kontext verfügen kann, und daß es sinnvoll ist, eine hypothetische Situation vorauszusetzen, in welcher alle überhaupt möglichen Begriffsbestimmungen und Begriffe gegeben sind. In jedem Begriff hat Hegel eine Grenze gesucht, wo dieser Begriff sinnlos wird und wo er gleichzeitig den Übergang zum nächsten Begriff „impliziert". Da man damals nur eine Logik kannte, die traditionelle, und auch nur eine Mathematik verbreitet war, die euklidische, entsprach dieser Versuch Hegels durchaus seiner Zeit. Aber zwischen Hegel und uns Heutigen steht die Sicherheit, daß ein all-umfassendes Begriffssystem nicht konstruierbar ist. Hegel steht uns sehr nahe, weil er schon das Präzisieren selbst systematisch und historisch problematisierte. Aber für uns haben sich die Aussichten auf das All-Umfassende noch verschlechtert, weil wir auf Grund der mathematischen und logischen Ergebnisse wissen, daß es prinzipiell verschiedene Präzisierungsmethoden gibt und daß dem System der Präzisierungsmethoden überhaupt eine logische Unmöglichkeit anhaftet. Systematische Philosophie ist dadurch zu harter Detailarbeit verurteilt.

Kolloquium V ANALYTISCHE UND SYSTEMATISCHE PHILOSOPHIE

DIETER HENRICH (HEIDELBERG)

WAS HEISST ,ANALYTISCHE PHILOSOPHIE'? Einleitende Begriffsbestimmungen Als ,analytische Philosophie' gilt heute eine Tradition, ein grundlegender Konsens über philosophische Probleme und Arbeitsweisen. Sie entstand um die Jahrhundertwende in Cambridge, breitete sich langsam in England aus, und vereinigte sich mit Entwicklungen, die von FREGE und vom Wiener Kreis ausgingen. Seit etwa 1930 herrschte sie in der angelsächsischen Welt und in den skandinavischen Ländern vor, und seit dem Ende des letzten Weltkrieges findet sie wachsende Aufmerksamkeit und auch Aufnahme in von anderen philosophischen Traditionen bestimmten Staaten. — So könnte leicht eine kulturhistorische Beschreibung dessen, was ,analytische Philosophie' ist, beginnen. Eine philosophische Definition muß mit viel größeren Schwierigkeiten rechnen. Denn es gibt keinen einheitlichen Methodenbegriff von philosophischer Analyse und auch keine informelle Verständigung über einen solchen Begriff, die als allgemein akzeptiert gelten könnte. Insbesondere gilt das für die Abgrenzung gegenüber alternativen Positionen, die mit einer zureichenden Definition von ,Analysis' zugleich gegeben wäre, und also auch für die Bestimmung des Verhältnisses zwischen analytischer und systematischer Philosophie. Nicht immer sind Analyse und Systematik ausschließende Gegensätze gewesen. Aus der Geschichte des Terminus ergibt sich, daß es zwei ganz andere Gegensätze sind, in denen ,Analyse' vor allem zu verstehen ist: gegen ,Synthese' und gegen ,Intuition'. Die Analyse ist als solche niemals ein intuitives Erkennen; denn sie weist in einem gegebenem Ganzen seine Elemente auf; und sie zeigt, daß einunddieselbe Sache durch die Angabe der Elemente, aus denen sie sich aufbaut, deutlicher und angemessener beschrieben werden kann als in Beziehung auf die Weise, in der sie unmittelbar gegeben und aufgefaßt wird. Im Unterschied zur Intuition ist Synthese vom analytischen Verfahren zwar nicht durch seinen Begriff ausgeschlossen. Die Analyse geht aber vorzüglich darauf aus, in Komplexen Elemente zu entdecken. Sie kann darm weiter die Funktion dieser Elemente

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in dem Komplex beschreiben und vielleicht zeigen, in welcher Weise der Komplex ein Resultat der Zuordnung und des Fungierens seiner Elemente ist. Insofern kann auch noch eine Synthesis Teil eines analytischen Verfahrens sein; und dieses Verfahren würde mit Recht deshalb noch immer analytisda genannt, weil es einen Oberflächenausdruck durch einen aus der Erkenntnis der Elemente gewonnenen Tiefenausdruck zu ersetzen erlaubt, in dem der erste Ausdruck ,analysiert' ist. Innerhalb eines Verfahrens, das analytisch heißen soll, kann sich aber die Synthese nicht von dem Komplex ablösen, welcher der Ausgangspunkt der Analyse gewesen ist. Es muß ihn rückläufig wieder erreichen und darf auch nicht über ihn hinausgehen. Es kann also nicht, wie LEiBNizens Ars combinatoria, im Ausgang von den einfachen Elementen, die durch analytische Verfahren aufgewiesen wurden, zur Verselbständigung der Elemente und zu einem freien Kombinieren fortschreiten und so auf Entdeckungen aus rein formaler Synthesis ausgehen. Man kann diesen beiden Gegensätzen, in denen der Begriff der Analyse als der eines philosophischen Verfahrens verstanden werden muß, noch einen dritten hinzufügen: Philosophische Analyse ist unmöglich, wenn von Elementen in Komplexen legitim gar keine Rede sein darf, wenn vielmehr gelten muß, daß jeder Rückgang auf selbständige Elemente bereits das aus dem Blick bringt, was angeblich zur Analyse ansteht. ,Nicht durch die Entdeckung von Elementen, sondern nur in der Aufdeckung von Relationen vollzieht sich das philosophische Erkennen.' Nennt man diese Vorstellung ,Holismus', so hat man mit Intuitionismus, freier, analytisch unkontrollierter Kombinatorik und Holismus die drei Methodenbegriffe gewonnen, nach denen vom Gesichtspunkt der Analyse aus in der einen oder anderen Weise und Mischung auch die Theorie Hegels und derer, die ihm folgten, charakterisiert und abgewiesen werden muß. Aus solcher Abweisung des Hegelianismus ist bekanntlich die philosophische Analysis in Cambridge entstanden. Sie ist als solche nicht den Erkenntniszielen einer Philosophie entgegengesetzt, die ,systematisch' genannt werden kann. Das wird am deutlichsten im Blick auf BERTRAND RUSSELL. Analytische Philosophie ist natürlich ohnehin in dem ganz formellen Sinn systematisch, daß sie nach überlegten Regeln geordnet vorgeht. Sie kann aber auch insofern systematisch sein, als sie nicht partikulare Begriffe zum Thema der Analyse macht, sondern solche Begriffe, die eine ganze Domäne von Problemen zusammenfassen, wie etwa ,Materie' oder ,Geist' oder eine Gruppe von Begriffen, in denen ein solcher Bereich abgedeckt ist. Auch von solchen Begriffen und Gruppen von Begriffen lassen sich Analysen geben, — Analysen nicht ihrer Wortbedeutung, sondern söge-

Was heißt ,analytische Philosophie'?

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nannte ^reale' Definitionen, die das, was sie bezeichnen wollen, aus seinen Elementen verständlich machen. Es läßt sich leicht absehen, daß Analysen dieser Art nur vollständig gelingen können, wenn sie auch über den Bereich hinausgreifen, der ihr eigentliches Thema ist. Bei einer Analyse der Materie etwa, die auf eine reale Definition aus ist, stellen sich Fragen wie die nach dem Status von Zahlen oder von Sinnesdaten und -qualitäten; und solche Fragen können nur dann beantwortet werden, wenn auch in eine Analyse des Geistes übergegriffen werden kann. Analytische Philosophie, die von hinreichend allgemeinen Problemtiteln ausgeht, wird in diesem Sinne am Ende systematische Philosophie sein. So ist etwa auch CARNAPS Konstitutionstheorie auf ihre besondere Weise eine analytische Philosophie, die aus ihrer Erkenntnisabsicht heraus als solche zugleich systematisch sein muß. Gegen ein analytisches Programm von dieser Art können nun aber, und zwar unter dem Programmtitel der philosophischen Analyse selbst, grundsätzliche Bedenken aufkommen. Sie waren es auch, die zuletzt dahin wirkten, daß das heute geläufige Verständnis des Prädikats ,analytisch' in der Rede von ,analytischer Philosophie' eine Analyse von der Art auszuschließen scheint, die soeben beschrieben wurde und die einmal der natürliche Begriff von philosophischer Analyse war: Man kann finden und man fand, daß großräumige Analysen von zu vielen und problematischen Voraussetzungen ausgingen. Es gelte, zunächst für die Begriffe der alltäglichen Verständigung sichere und durchdringende Analysen zu finden, — und zwar nicht so sehr reale Definitionen, als nicht mehr zweideutige Bestimmungen dessen, was mit ihnen gemeint ist. Im übrigen sei Sicherheit von Resultaten auch dort möglich, wo über die alltägliche Bedeutung nicht hinausgegangen werden kann, wenn nur feststeht, daß Sätze, in denen solche Bedeutungen in Gebrauch sind, für uns über allen sinnvollen Zweifel hinaus gewiß sind. Aus solchen Sätzen kann man auch ohne Analyse verläßliche Folgerungen entwickeln. Auch eine solche Konzeption, die aus G. E. MOORES Schriften, aber auch aus KANTS mittlerer Periode gewonnen werden kann, muß sich nicht notwendig dem Programm einer systematischen Philosophie entgegenstellen. Sie läßt es zu, zum Teil aus gesicherten Analysen, zum Teil aus unleugbaren, aber unbeweisbaren Sätzen auch Folgerungen von allgemeinerer Art zu ziehen und schließlich zu einer allgemeinen, wie immer vorläufigen, Beschreibung des Ganzen einer Welt zu kommen. Anders als nach den Auffassungen von Analysis, die für RUSSELL und CARNAP charakteristisch waren, würde sich eine solche Systematik aber nicht im Gebrauch des ana-

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lytischen Verfahrens selbst ergeben. Sie beruht auf einer Methode anderer Art, welche die analytische legitim ergänzt. Die Zweifel MOORES an der Möglichkeit einer philosophischen Analyse, die zugleich synthetische Theorie ist, ließen sich weiter radikalisieren. Man wurde sich dessen bewußt, daß die Aufklärung der Bedeutung von Begriffen, in denen sich philosophische Grundfragen kristallisiert haben (wie etwa Wahrnehmung oder Wissen), zunächst Verständigung über ihren ursprünglichen wörtlichen Sinn verlangt. Solche Verständigung, so überzeugte man sich, kann nur im Rahmen einer Theorie über Wortbedeutung und sprachliche Bedeutung im allgemeinen, also einer philosophischen Semantik, gegeben werden. Und bei dem Versuch einer solchen Aufklärung schienen zwei Vorstellungen zugleich zu kollabieren, die in frühere Analyse als stillschweigende Voraussetzungen eingegangen waren: sprachliche Bedeutungen lassen sich nicht aus elementaren Bezügen auf einfache Gegebenheiten und Gegenstände erklären, mit denen wir vertraut sind; sie lassen sich sogar überhaupt nicht aus einfachen Elementen aufbauen. WITTGENSTEIN lehrte, daß ,elementar' in der Sprache Geflechte von sprachlichen Handlungsweisen sind, die jeweils nur mit nichtsprachlichem Handeln verbunden ihren Sinn haben und die nur locker, eher wie Treibholz oder Korallen und sicher nicht wie Konstruktionselemente, mit anderen Geflechten verbunden sind. Wird diese Konzeption angenommen, so sind damit nicht nur die Grundlagen für Synthesis und für Systematik, sondern auch für eine Analyse im Sinne von MOORE und RUSSELL hinfällig geworden. Es ist sinnlos, noch weiter Elementen nachzugehen, aus denen natürlicher Sprachgebrauch mittels eines Rekonstruktionsverfahrens verständlich gemacht werden könnte. Wortbedeutungen lassen sich nicht erklären, indem man sie in eine andere Sprache übersetzt, die auf der Einsicht in die Elemente beruht, aus denen sich die Gegenstände der natürlichen Wortbedeutungen aufbauen. Nur nach einer neuen Bedeutung des Terminus kann auch WITTGENSTEINS Verfahren als ,analytische Philosophie' bezeichnet werden. Es verständigt über sprachliche Bedeutungen, indem es die Verwendungsweisen sprachlicher Ausdrücke beschreibt. Solche Philosophie geht von den theoretischen Problemen der philosophischen Tradition zurück zur wirklichen Verwendung von geläufigen Wörtern, aus denen diese Probleme letztlich verständlich werden. Diesen Rückgang kann man aber nicht ,Analyse' im ursprünglichen Sinn dieses Wortes und Methodenbegriffes nennen. ,Analyse' heißt zwar wörtlich ,Auflösung', und im Gebrauch von WITTGENSTEINS Methode soll eine gewisse Art von Auflösung wirklich stattfinden. Auflösen soll sich nämlich der Schein von Sinn, der die Probleme der Phi-

Was heißt »analytische Philosophie'?

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losophie umgab. Doch als philosophisches Verfahren meint »Analyse' natürlich mehr als »zur Auflösung bringen'; man sieht das daran» daß man Nebel und Verstopfungen auflösen kann» ohne sie analysiert zu haben. Vor allem aber ist die Auflösung falschen Scheins nach WITTGENSTEIN gerade nicht das Ergebnis einer Analyse oder einer rekonstruierenden Definition der gewöhnlichen Sprachbedeutungen. Sie ergibt sich aus dem umsichtigen Offenbaren des Gebrauchszusammenhanges von sprachlichen Ausdrücken. Diese philosophische Methode» die man »sprachanalytisch' nennen kann» ist also analytisch nach einer neuen und ermäßigten Bedeutung nur insofern» als sie konsequent beschreibend verfährt» und zudem vielleicht noch insofern sie Resultate hat» welche der Philosophie eigene synthetische Verfahren a limine ausschließen. Diese Bedeutung von »analytisch' ist nach dem Wortsinn des Terminus weniger spezifisch als seine Bedeutungen bei RUSSELL oder bei MOORE es gewesen sind. Anders als bei diesen könnte sie auch angemessen gefaßt werden» wenn man von »Gebrauchsbeschreibung' oder von »Bedeutungsaufklärung' spräche. Es ist aber verständlich» warum man den Terminus »Analyse' auch in dieser Theorie der gewöhnlichen Sprache festhalten wollte: Die Gegenstellung zur traditionellen Synthesis und nun auch zur Systematik» sowie die Kontinuität von Problemstellungen mit MOORE und RUSSELL auch noch über den Wandel des Methodenbegriffes hinweg konnte so am leichtesten verdeutlicht werden. Nachdem die Wahrnehmungsfähigkeit für das» was jenseits der eigenen Traditionsgrenzen vorging» zwischen den beiden Weltkriegen abgestorben war» ist es diese letzte Form der analytischen Philosophie gewesen» die — beginnend nach 1960 — im zentralen Europa wachsende Beachtung fand. An der Oberfläche ließ sich leicht eine Übereinstimmung feststellen mit den hier vorherrschenden Tendenzen» — mit HEIDEGGERS Seinsdenken und mit der kulturkritischen Variante des MARxismus in der gerade modisch werdenden Frankfurter Schule. Sie schien sich aus der Orientierung auf die Sprache und aus dem beiden Traditionsstadien gemeinsamen radikalkritischen Gestus zu ergeben» der ständig anzeigte, man könne für sich in Anspruch nehmen» aus der Entdeckung einer neuen Dimension heraus über alle vorhergehende Theorie und in Einem damit über Theorie als solche hinausgekommen zu sein. Aufgrund dieser Ausgangsbedingungen der Rezeption ist noch heute die Meinung eingewurzelt und verbreitet» die analytische Philosophie sei durch einen Begriff von philosophischer Einsicht zu definieren» der unvereinbar sei mit jeglicher Perspektive auf ein systematisches Philosophieren» — was immer diese Rede ihrerseits im Einzelnen bedeuten möge.

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Die Philosophie der gewöhnlichen Sprache hatte aber die angelsächsische Welt niemals in dem Maße beherrscht, wie es zur Zeit ihrer verspäteten Rezeption im zentralen Europa den Anschein hatte. Von ihrem Ausgangsort Cambridge und dann von ihrem größeren Zentrum in Oxford aus hatte sie sich zwar weit verbreitet. Neben ihr waren aber stets Zentren anderer Formen von Analysis einflußreich geblieben, — vor allem in den Vereinigten Staaten. Dort hatte sich in der Nachfolge des Pragmatismus und vor allem durch QUINE eine neue Position herausgebildet. Sie kann ,analytisch' im klassischen Sinne von RUSSELL und CARNAP genannt werden, obgleich sie deren Fundamentalismus aufgegeben hat, — die Orientierung der Philosophie auf die Aufgabe einer definitiven Aufklänmg und Rekonstruktion von sprachlichen Bedeutungen und Grundbedingungen des Erkennens. Zwar hat CARNAP ausdrücklich zugestanden, daß man von verschiedenen Grundlagen aus ein Konstitutionssystem der objektiven Welt entwickeln könne. Und RUSSELL hat de facto verschiedene solche Systeme skizziert. Aber erst QUINE hat weitreichende theoretische Folgerungen aus der Möglichkeit eines solchen Relativismus gezogen. Sprachen können samt den Ontologien, die ihnen Struktur geben, gegeneinander nicht nur relativ, sie können sogar inkommensurabel sein. Es bleibt gleichwohl sinnvoll, jede von ihnen als ein System von Objektbeziehungen aufzufassen, das in seiner inneren Verfassung etwa die Form hat, die CARNAP als ,logischen Aufbau der Welt' im Auge hatte. Diese Position ist hier vor allem deshalb erwähnt, weil sie in einem der folgenden Referate (VUILLEMIN) eine wichtige Rolle spielt. Aber auch in der sprachanalytischen Philosophie selbst haben sich seit Ende der fünfziger Jahre Entwicklungen entfaltet, welche dem Partikularismus in WITTGENSTEINS Bedeutungstheorie entgegenwirken. So kam es zu Untersuchungen, welche die verschiedenen Typen von Ausdrücken und Verwendungsweisen von Ausdrücken möglichst umfassend unterscheiden und klassifizieren wollen. Man kann solche Untersuchungen systematisch in dem Sinn nennen, der für LINNES System der natürlichen Arten gilt. Es hatte sich gezeigt, daß er eigentlich Analyse gerade ausschließt. Sie sind aber niclit systematisch in dem Sinn dieses Wortes, der grundlegende Aufklärung im Ausgang von Elementen einschließt, — also nicht im Sinne von RUSSELL und CARNAP. Basale Aufklärung muß im Rahmen des auch von diesen Untersuchungen vorausgesetzten Philosophiebegriffes durch eine Beschreibung geleistet werden, die WITTGENSTEINS Methodenbegriff folgt. Eine systematische Untersuchung, die diesen Methodenbegriff garnicht in Frage stellt xmd die ihn nicht erweitert, kann über die bloße Klassifikation der Ausdruckstypen dadurch hinausgehen, daß sie funktionale Zusammen-

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hänge zwischen ihnen sichtbar macht. Sie könnte sogar — obgleich dann im Dissens mit WITTGENSTEIN — versuchen, diese Art der Aufklärung universal werden zu lassen, also auf zeigen, wie jeder Ausdruckstyp mit allen anderen an einem System von Lebens- und VerständigungsVerhältnissen zusammenwirkt. Ein solches Programm verfolgt neuerdings HABERMAS. ES ändert nichts an dem rein deskriptiven Charakter des Verfahrens, mit Hilfe dessen die einzelnen Ausdruckstypen in der Untersuchung zur Kenntnis gebracht werden, welche die eigentlich grundlegenden sind. Mit den Arbeiten von STRAWSON ergab sich innerhalb der sprachanalytischen Philosophie eine neue Perspektive für eine philosophische Theorie, die analytisch und in Einem damit auch systematisch sein kann. Sie gehen darauf aus, grundlegende Eigenschaften unseres Weltbezugs über Begriffe (conceptual framework) nicht durch Klassifikation von Ausdrücken, sondern durch Argumente zu gewinnen, die man transzendental nennen kann: Sie sollen deutlich machen, daß gewisse Begriffe gar nicht in Funktion sein könnten, wenn nicht auch andere zur Verfügung stünden, — der Begriff des Einzeldinges etwa nicht ohne raumzeitliches Bezugssystem und der Gedanke von bloß subjektiven Vorstellungsverläufen nicht ohne die Erkenntnis von Dingen und Ereignissen in einer wirklichen Welt. Es ist wichtig zu sehen, daß bei STRAWSON alle diese Argumente nach einem Leitfaden organisiert sind. Und nur durch ihn kann sich diese Theorie grundsätzlich von partikularen Gebrauchs- und Funktionsbeschreibungen abheben: Dieser Leitfaden ist das Programm einer Aufklärung über die Bedingungen, unter denen der Gebrauch einfacher assertorischer Sätze über einzelne Gegenstände (die Prädikation) möglich wird. Solche Untersuchungen kann man wieder im ursprünglichen Sinne des Terminus ,analytisch' nennen. Denn im Ausgang von einem Komplex gehen sie auf Elemente dieses Komplexes zurück, und sie binden auch die Synthese daran, zur Verständigung über diesen Komplex zurückführen zu müssen. Daß es so sein muß, leuchtet im Fall der Prädikation von vornherein ein. Denn es ist nicht möglich, die Satzform auf einfachere Einheiten so zu reduzieren, daß man von diesen Elementen her den Sinn der Satzform selbst gewinnt. Auf der anderen Seite ist die Form der Prädikation nicht suisuffizient, sondern zum einen (und das ist noch trivial) Form von Aussagen über solches, was selbst nicht Satz ist. Zum anderen ist aber die Satzform auch in formaler Hinsicht ein Kompositum in dem besonderen Sinne, daß sich in ihr Bestandteile unterscheiden lassen, die auf je besondere Art zu dem Sinn eines Satzes beitragen, — vor allem die Subjekt- imd die Prädikatstelle und die verschiedenen grundlegenden Weisen, wie sie zu besetzen sind. Einsicht in diese Modi von Subjekt- imd Prädikattypen ist aber nur zusammen mit einer Einsicht in

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die Bedingungen und die Arten des Satzgebrauches zu gewirmen. Und so wird eine semantisch orientierte Philosophie dann im eigentlichen Sinne analytisch und damit zugleich auch systematisch sein können, wenn es richtig ist, daß grundlegende Einsichten über unseren begrifflichen Weltbezug von einer Analyse der Bedingimgen der Prädikationsform her möglich sind. Diese Überzeugung verbindet, im Anschluß an den Ansatz von FREGE, die Arbeiten von STRAWSON und DUMMETT mit Teilen des Werkes von QUINE. STRAWSON hat seine eigene Theorie zwar ,deskriptiv' genannt. Im gegenwärtigen Zusammenhang ist diese Beschreibung aber irreführend. Sie kennzeichnet die Methode, mittels deren er Grundlagen des begrifflichen Weltbezuges aufdeckt, im Gegensatz zu einem Verfahren, das den wirklichen sprachlichen Weltbezug und die ihm innewohnende Ontologie durch eine andere ersetzen will, die strengeren Kriterien für logische Form entsprechen soll. Die Untersuchung über den begrifflichen Aufbau unseres Weltbezuges, der sich von der Prädikation her erschließt, ist nicht im gleichen Sinne deskriptiv wie die Philosophie der gewöhnlichen Sprache, sondern vielmehr genuin analytisch. Man kann unbesorgt feststellen, daß diese Form analytischer Philosophie schon längst größere Aufmerksamkeit verdient als die Aufklärung über den Gebrauch von Wortformen der Umgangssprache. Setzt sie sich mit Recht gegen die Theorien durch, die den semantischen Partikularismus in der Grundlagenfrage, die alles entscheidet, für unüberwindbar halten, so ist die Frage nach der Möglichkeit systematischer Philosophie auch innerhalb der auf Semantik orientierten Theorie im positiven Sinne entschieden. In der Auseinandersetzung zwischen ihr, der Analyse in RUSSELLS Sinn und systematischem Philosophieren, das in anderen Traditionszusammenhängen steht, bleibt dann nur noch die andere Frage offen, auf welche Weise systematische Philosophie verstanden imd vorangebracht werden muß. Um der Übersicht willen können also fünf Methodenbegriffe analytischer Philosophie unterschieden werden: (i) RUSSELLS und CARNAPS Analyse; sie ist nicht eigentlich semantisch orientiert, obgleich aus ihr wichtige semantische Einsichten hervorgingen, und sie ist wesentlich und in sich selbst zugleich systematische Philosophie. (2) QUINES Analyse, die sich von der RUSSELLS nur durch die Aufgabe des fundamentalistischen Programmes unterscheidet. (3) MOORES Analyse; auch sie ist nicht wesentlich semantisch orientiert, aber auch nicht in sich systematisch, obgleich sie systematische Philosophie nicht ausschließt. (4) Die Sprachanalyse der Umgangssprache; die eigentlich gar nicht analytisch verfährt und die in den Grundlagen auch dort partikularisch bleibt, wo sie Ausdrücke und Sprechakte

Was heißt ,analytische Philosophie'?

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klassifiziert. (5) Die semantische Analyse, die damit wieder Analyse im eigentlichen Sinn des Wortes wurde, daß sie sich an der Form der Prädikation orientierte. Die Referate dieses Kolloquiums setzen an ganz verschiedenen Orten in dem Problemfeld ein, über das die Bedeutimgsgeschichte orientiert, welche der Terminus ,analytische Philosophie' in diesem Jahrhundert hatte. JOHN FINDLAY greift jenes Konzept der analytischen Philosophie an, das ihr in allen ihren Varianten noch gemeinsam ist. Er begründet ein von aller Analyse grundsätzlich verschiedenes Verfahren der Verständigung über philosophische Grundbegriffe. MICHAEL DUMMETT ist einer der Hauptvertreter systematischer semantischer Analyse. Er kommt zum ersten Mal im zentralen Europa zu Wort, imd er wendet sich programmatisch gegen den semantischen Partikularismus. JULES VUILLEMIN, der einen langen Weg von Kant zur analytischen Theorie der Mathematik gegangen ist, geht von RUSSELLS Begriff der Analyse aus. Im Durchgang durch QUINES Revision und Relativierung von RüSSELS Verfahren entfaltet er ein Konzept systemamatischer Philosophie, das formal dem kritischen System Kants entspricht, welches nach der Herausforderimg des Skeptizismus ,allein noch' einen offenen Weg einzuschlagen vermochte. HELMUT FAHRENBACH lokalisiert in seinem Diskussionsbeitrag, der auf dem Kongreß selbst nicht mehr vorgetragen werden konnte, die Aufgabe der Sprachanalyse im Rahmen einer nicht auf die Grenzen von Semantik festgelegten Systematik; sie versteht sich zuletzt aus dem Primat der praktischen Vermmft über alle Aufgaben der Philosophie und über ihre Zuordnung zueinander. Obwohl sie kaum aufeinander bezogen sind, kommen alle Referate zu der Schlußfolgerung, daß es keinen Grund dazu gibt, an der Möglichkeit einer systematisch verfaßten Philosophie aus Gründen zu zweifeln, die sich aus den Traditionen und Evidenzen der Philosophie ergeben, die (nach welcher Bedeutung auch immer) die ,analytische' genannt wird.

JOHN N. FINDLAY (BOSTON)

SYSTEMATIC AND DIALECTICAL PHILOSOPHY VERSUS ANALYSIS Analytic philosophy was the overwhelming outburst of the Anglo-Saxon spirit — the spirit that had inspired DUNS SCOTUS and WILLIAM OF OCKHAM and later JOHN LOCKE and DAVID HUME — against the oppressive dominance of a somewhat narrow form of German idealism which, subtly blended with touches of Spinozism and with suitably reinterpreted teachings of PLATO and ARISTOTLE, prevailed in the British and American universities during the last quarter of the nineteenth Century. RUSSELL and MOORE, and later C. D. BROAD and the American New Realists of 1913, spread the new message in the opening decades of the present Century, while, a little later, LUDWIG WITTGENSTEIN with his three successive theories of Meaning — Meaning as Mirroring, Meaning as Verification and Meaning as Use — gave it all a new linguistic twist, and for a time spread it over the Continent as well as the Anglo-Saxon world. This new analytic, linguistic trend in philosophy developed together with the vast development of symbolic logic which, from being a curious, useless appendage of philosophy and mathematics, using an immense apparatus to prove only the quite obvious, became inflated with stränge, new claims to be alone capable of setting forth what we mean or ought to mean by being, truth, meaning, necessity, duty, knowledge and the ultimate undecidabilities, so that nothing whatever could pass for valid which could not be stated or proved in it. It must not be imagined that all this is unwelcome to me, though I cannot forget what FRANCIS BACON said about the ancestor of all this symbolic industry, the scholastic syllogism. HEGEL also said that the Verstand, the analytic Understanding, which above all delights in the fixed, separated sense and the exact equation or entailment, was indeed the Absolute Power, which is above all marvellous in that it can rend apart what can only exist inseparately, and can by so doing render the Work of the Vernunft, the healing, integrative Reason, both necessary and possible. I myself believe the Understanding to be a quite essential

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shape of the human spirit, even if my view of its role is no longer that of the Anglo-Saxon analysts. The philosophy which MOORE and RUSSELL opposed to the idealistic Absolutism of the latter part of the nineteenth Century was essentially a philosophy of the natural attitude, of the ordinary thinker and thought. It did not try to subvert unreflective certainties by means of new conceptions and arguments: it rather sought to strengthen them by removing some of their surface difficulties, or by explicating them in ways that met various natural objections. The Spinozistic view of the world as an indiscerptible unity, not even held together by anything so gross as a relation, was not one that it could stomach: it rather sought to clarify the nature of relations and their various species, so that philosophers might believe, with ordinary men, in relations of varying degrees of thickness, among the things in our world, which might thus avoid being thrown into an isolated limbo or an agglutinated mass. And it was greatly concemed to shed light on the relation of conscious acts to their objects, so that one might believe, with commonsense, in the genuine independence of some objects from our consciousness of them, while not denying that our consciousness was truly of them, and not of some ghostly mental Surrogate. And it was willing, in its opening years, to swell the ranks of being with many Platonic entities — propositions, facts, variables, classes, universals, logical constants, unanalysable properties of goodness, truth and so on — and was willing to take over sizeable lessons from the justly admired pages of ALEXIUS MEINONG : these entities, however, only clustered like attendant divinities round the great fixtures of commonsense, and illuminated but did not subvert them, and also left them in the same state of extemal side-by-sideness which they enjoy in the ordinary view of the world. The classic expression of this whole philosophy is of course G. E. MOORE'S magnificent Defence of Commonsense and other similar writings, where all subversive concepts and arguments are met by the simple assertion that MOORE knows the theses they are trying to contravert, or is at least much more sure of them than of the notions or premisses that contradict them, and that this knowledge exposes the invalidity of the notions and premisses in question rather than the other way round. And MOORE meets the contention that there are contradictions in commonsense theses by the sublime Statement that, since they are known to be true, there cannot be contradictions in them. The so-called contradictions in them can themselves be contradicted. HUME'S long and patient arguments to show that we are not truly justified in believing in unseen physical objects are simply met by the argument that since these arguments

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would prove that we do not have a pencil before us, and since we know a pencil to be the sort of thing that could exist unseen, these arguments or their premisses or the notions in them must be somewhere unsound. Against such gnosticism, fortified by brilliant dialectical performances, there can obviously be no appeal. The gnostidsm of MOORE is, however, open to the unordinary in another direction; while we know the whole corpus of propositions summed up in the commonsense view of the world, we do not know their analyses. We are as unable to say what elements they cover, and how these stand to one another, as were the young men and worthies whom SOCRATES teased. Thus MOORE, as is well known, thought that the recondite notion of a sense-datum must function as logical subject in all our sense-certainties, though what we are believing about our sense-data is to the last extent unclear. Is what I sense simply part of the surface of a physical object, or is it in some sense a manifestation of such a part, or is it only the actualization of a permanent possibility of being sensed? In the thirties, therefore, that inveterate realist, G. E. MOORE, who had refuted idealism at the beginning of the Century, and found mental transcendence even in the citadel of Sensation, was elaborately reducing physical objects to permanent possibilities of Sensation, at no great distance from the idealists he had earlier refuted. (His remarkable lectures on phenomenalism have for some reason never been published.) MOORE was, he claimed, merely giving an idealistic-sounding analysis which did not shake the realism of ordinary commonsense. RUSSELE'S similar liquidation of physical objects into classes of sense-data and of minds into other intersecting classes, showed a similar drift towards idealism. It remained, however, commonsensical in that it left worldly things in the same external posture towards one another and to the mind that knows them as in the certainties of commonsense. In the later thought of WITTGENSTEIN there is the same retention of ordinariness together with an extraordinary justification of such ordinariness. WITTGENSTEIN'S first work, the Tractatus Logico-philosophicus, has a deeply unordinary doctrine of simple objects unanalysably related: the doctrine is, however, devised to underpin, and to carry further, the externalities of commonsense, so that, while in ordinary talk, there are many synthetic entailments between being A and being B, all these, with the sole exception of differences of logical form, vanish when we dig down to the ultimate simples. Philosophical and logical pseudo-profundities are held to be such because they have no reflection in the simplicities of object and contingencies of fact. And the solipsism which at § 5.6 for a brief

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space kindles a transcendental glow in the bleak vista soon dies down to non-significance, and leaves the ordinary world just as one found it. The only effect of the insistence that the world should be my world is to exclude from it the troublesome presence of other minds who might disturb its ordinariness. In later works, the programnre of ordinariness goes yet further: the empty but uniform scaffolding of logic breaks up into an indefinite series of language-games whose rules can be followed, but not in any other sense understood or successfully formulated. These languagegames are played by the inhabitants of that world, who no longer have more than a verbal private life, since the one subject who contemplated the whole scene, and had feelings and sensations connected with it, has passed away through an utter lack of contrast. The tribesmen of the purged world of course have some language-games in which they discourse about their dreams or their imaginings or rehearse their memories: but all these games have public rules and criteria, even if these criteria amount to no more than peculiar ways of saying things in which others are prepared to join. The dream-telling game is all that there is to dreams, the memory-relating game all that there is to memory. And as to all the acts of mind which idealists and phenomenologists have explored, they are merely fagons de parier which have been artificially taught and learned, and which can with profit be unlearned. There are really no inner doings which concentrate situations and lines of response in a nutshell, though we like to talk as if there were. Everything is now so ordinary that it all takes place in the bright noontide of the public world: the talk can continue untiringly, and need never go on holiday, nor give rise to philosophical Problems. There will of course still be a few pathological Speakers who will go about beating their breasts, since the points they wish to make do not register with their interlocutors, but we may hope that they will soon give this up. In his last work on Certainty, written shortly before his death, WITTGENSTEIN even liquidates the work of his great predecessor MOORE. The things MOORE said he knew are not really knowable: they are merely the unquestioned backgrounds of certain languagegames. Oddly enough, one of these unquestioned backgrounds is the impossibility that a man should visit the moon. I am of course aware that I shall be held grotesquely to have misunderstood and distorted the views which on my view grotesquely misunderstand and distort the complex world that we inhabit. And it must not be imagined that I do not admire WITTGENSTEIN'S unrivalled dialectic, which I myself once experienced and wondered at. The remarks I have made are not malicious, and are not intended as jokes. They are meant to be a reductio ad absurdum, even

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though I doubt whether they will be seen as such by those who have embraced certain positions. From the would-be ordinariness of analytic thought I pass on to the extreme unordinariness of certain regularly recurrent types of thought that would be called 'revisionary', 'speculative' or 'metaphysical', and whose careful working out provides a systematic alternative to ordinary beliefs and their analytic restatements. Analytic philosophy believes that there are ordinary conceptions corresponding to such terms as 'knowledge', 'belief', 'good', 'bad', 'present', 'past', 'duration', 'necessity', 'possibility', 'existence', 'freedom' and so on, and that, while they be encrusted with ambiguities, and a few attendant obscurities and confusions, and perhaps a number of genuine 'difficulties', it will not be impossible to free them of all these, so that the resultant product will shine like a well-cut, polished jewel. The WiTTGENSTEiNian analysis may not approve of such perfect cutting and polishing, but may prefer the rougher state of the open-textured, family-related, imprecise type of working conception, whose rules are to some extent made up as one goes along. None the less it believes in the possibility of being clear as to the simple rules that one's conceptions follow in their applications, even if this clarity is a practical rather than a definitional matter. It is philosophers who discover difficulties in our ordinary conceptions, and this is simply because they do not consider how we actually use them. But what such analysis ignores, or inadequately regards, is the endemic presence of antinomy in all our common acceptances, and consequently in the notions which figure in them, the possibility, that is, of almost in any field constructing an antilogistic set of propositions, all intuitively acceptable in a high degree, and so evincing the working of ordinary conceptions, which none the less are such that any two of them entail the falsity of the third, and that one has a choice of accepting (1) and (2) and rejecting (3), or (1) and (3) and rejecting (2), or (2) and (3) and rejecting (1). (I am for convenience' sake limiting myself to antilogistic triads, though dyads, tetrads are equally constructible.) One can simply assert with MOORE that there cannot be contradictions in our ordinary concepts, since we know that and how they apply, but how is one to deal with the pervasive fact of antilogism? One can attribute it to the philosophical abuse of ordinary locutions, but where does one draw the line between an ordinary and an extraordinary use of certain locutions, and how is one to explain that uncultivated people, such as some West Afiicans I have known, readily light on antinomies in the use of such notions as 'truth', 'being', 'knowledge', 'pastness', 'infinity' etc.? And philosophy, unless specially programmed, does not lessen

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but rather deepens such antinomies, which put one in a position where concepts must be given alternative interpretations and so torn apart, and where whatever one holds will be in some way revisionary. The analyses of MOORE have not avoided these revisionary alternatives, and the linguistic principles and classifications of AUSTIN and WITTGENSTEIN are not what an unsophisticated Speaker would frame. That promises are performances and that talk about one's feelings requires public criteria are not notions that would recommend themselves to the ordinary man. I wish, however, to spend a little time spinning a few antilogisms on familiär themes. It seems clear, for instance, that we conceive of knowledge as (1) the grasp of something that we would call the real or actual state of things, and that (2) we conceive of the latter as being independent of knowledge, as being what it is whether we know of it or not, but at the Same time (3) that we do conceive of knowledge as something marked off by some inward or immediate mark, something not merely dependent on what goes on outside, but available and accessible to the knower. It is clear then that if (1) and (2) then not-(3), if the real is independent of knowledge then it is not to be pinned down by any intrinsic criteria, an unordinary view now acceptable to many analysts, and if (1) and (3) then not-(2), the real being determined by intrinsic criteria cannot be independent of knowledge, and finally if (2) and (3) then not-(l), knowledge being pinned down by internal criteria is never of reality, the position of KANTian phenomenalism. Please do not object to my hasty formulation of this antilogism; I could be much more persuasive. What I desire is that its piinciple should be feit. It is clear likewise that we conceive (1) of things and States of things as all lasting for some time, and that we also conceive (2) of what lasts for a while as having parts that are not yet there or parts that are there no longer, and that (3) there is something deeply repugnant in incorporating in things or States of things what is not yet there or no longer there. Now if (1) and (2) then not-(3), we should get over our repugnance to incorporating a bit of the past or the future into what presently is, a solution acceptable to many analysts but violating deep-set usages, or if (1) and (3) then not-(2), i. e. being occurs in durational drops or blocks, a solution by no means acceptable to the natural light, or if (2) and (3) then not-(l), existence is necessarily instantaneous, and a state of motion consists merely in being at different places at different times, a view which flies in the face of the appearances and Postulates something we have not experienced and cannot understand. In the same way we can argue (1) that the characters of things are plainly part of those things, that things (2) often exist far apart from one another.

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but that things (3) often have many common characters. Now if (1) and (2) then not-(3), not the same but like characters are to found in separate things, and if (1) and (3) then not-(2), so called separate things are merely the same character operating separately, or if (2) and (3) then not-(l), the identical characters we attribute to separate things also exist separately from those things. In the same way (1) a free act is one that could in all given circumstances have been omitted, and (2) no act could have been omitted in all given circumstances, and (3) some acts are free. If (1) and (2), no acts are free, if (1) and (3) acts could have been omitted in all given circumstances, and if (2) and (3) then not-(l), free acts cannot be such that they could have been omitted in all given circumstances. It is impossible to deny that the conceptions of freedom thus emerging have marked divergencies, and that none of them accords with our ordinary acceptances. In the same way (1) nothing that depends on feeling need hold for everyone, and (2) good and bad depend on feeling, and (3) good and bad sometimes hold for everyone. If (1) and (2) then not-(3), the banal thesis of relativism which no one can live with. If (1) and (3) then not-(2), values cannot depend on feeling, the thesis of PRICE and KANT. Again if (2) and (3) then not-(l), some feelings hold for everyone, the thesis of BRENTANO and SCHELER. In the same way (1) God being ontologically perfect cannot not be, and (2) nothing is such that its mere conception guarantees its being, and (3) God is. If (1) and (2) then not-(3), there can be no God, and if (1) and (3) then not-(2), existence and essence are one in a single privileged case, and if (2) and (3) then not-(l), God is not ontologically perfect. Finally let me give you (1) no mental state can occur without corresponding brain-change, and (2) no mental state can be identical with a brain-change, and (3) things not identical cannot correspond exactly. If (1) and (2) then not-(3), things not identical can correspond exactly, or if (1) and (3) then not-(2), a mental state can be identical with a brain-change, or if (2) and (3) then not-(l), mental States do not exactly correspond to brain-changes, the BERGSONian alternative. There are similar antilogisms that can be constructed about every concept interesting to philosophy: philosophy may indeed be described as an interest in antinomic concepts and a set of strategies for dealing with them.

The examples I have given may well have given you a sense of the eristic, of the paradoxes of EUTHYDEMUS and DIONYSODORUS and of the Topics of ARISTOTLE. One has for such a gratuitous rehearsal of conflicts the mild contempt that one feels for the often wanton and facile dialectic of NAGARJUNA or BRADLEY. And it is of course possible, if one develops a taste for antinomy, to construct antinomies with any degree of super-

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ficiality, some of which can be readily seen through. The true antinomies are however the insidious ones that lie in wait when one is most concerned to conceive clearly^ to assert evidently and to argue cogently, like the deadly logical paradoxes that put an end to the early confidence of RUSSELL and FREGE. Antinomies can of course be readily disposed of by simply rejecting one of the members of one's antilogistic triad, and by developing such a rejection systematically tili the whole of one's ordinary acceptances are revised. We can so interiorize knowledge that it all becomes an idealistic accomodation of thinking with itself, or so exteriorize it that even the unreal and the self-contradictory have their due place in being. We can so enrich the present moment that it contains in a flux of modes all that was or that is to be, and becomes in fact rather like Shiva Nataraja dancing on his exiguous pedestal, or we can alternatively so impoverish the present that process reduces to an ordered series of instantaneous non-states. The philosophies of ordinariness are merely those guided by a prevailing desire to sacrifice the least ordinary claim, but in so doing, as we saw, they cannot avoid being madly unordinary in the full development of their sacrifice. And if we complain that wouldbe ordinary Systems end by being very extraordinary, we may, by revenge, note that deliberately unordinary Systems end by becoming desperately ordinary when the full round of conceptual changes has been carried out. Thus FICHTE'S revolutionary conception of a seif which dreams up its opposite not-self in order to have a resistance to contend with, and by contrast to become aware of its own infinite power, ends up by being desperately ordinary, since the seif which does the imagining or positing is not in any ordinary sense a conscious subject, and since its acts of positing are not ordinary, introspectible conscious acts, and since its imaginings are not ordinary acts of imagination, so that the extemal world remains the same dark riddle that the new treatment was supposed to elucidate. In the same way a fully developed realism of PLATONIC universals, which stresses the unity and identity of conceptual meanings, and which emphasizes the vanishing elusiveness of the individual apart from the forms it exemplifies, must pass on to recognize that such a universal is nothing if not a function of possible instances, as PLATO does in his account of the Demiurge in the Timaeus, a function also of illuminating changeable minds in their thoughts about changeable objects, as was fully seen in the Parmenides and the Sophist. It would appear in fact, as we survey philosophical entanglements, that what are permanent in them are not the Solutions given to conceptual antinomies, but the conceptual antinomies themselves. Philosophy is like a golf-course whose terrain involves

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countless hazards and points of difficulty; how one copes with these hazards is a matter of individual strategy, but the hazards themselves are simply there. Philosophers are tolerant of those who come to very different conclusions, since they know that all that is fixed in their subject is the stränge, antinomic golf-course of being. Alternatively one may Vary a comparison borrowed from ST. TERESA, and say that philosophy is like a night spent in an inferior inn, where the bedcoverings are so inadequate that one cannot keep some parts of one's body warm without exposing others. There is a hardy game of pretending that all this is very comfortable, and as it should be, but no one accepts this in his heart of hearts. Even WITTGENSTEIN confessed to occasional cramps with ordinary usage, and the desire to experiment with so unordinary way of speaking as solipsism. I have therefore reached the position of accepting the pervasive presence of antinomy in a world structured by natural thought and language. Analytic approaches are as much attempts to cope with such pervasive antinomy as are wildly revisionist Systems: their main difference, which redounds to the advantage of revisionist Systems, is that while the latter do not aim at the ordinary, they none the less in their full development end by doing justice to our ordinary acceptances, the former, with an initial determination to maintain ordinary certainties, have to bring in so many stränge semantic or other acceptances as to end by being not truly ordinary at all. The revisionist Systems frankly aim at reducing loose diversity and contingency, and end by largely achieving their aim, even if they achieve it very differently. The analytic Systems aim only at maintaining the pluralistic looseness of ordinary discourse, but achieve this only by bringing in the strängest ad hoc principles which certainly conflict with their purpose. The advantage so far is with revisionism, which has at least given us a number of clearly conceived world-visions which is not tedious to contemplate. That the world can without absurdity be so differently conceived, and that one way of conceiving it can so readily be brought to 'swing over' into another, is at least an extraordinarily interesting fact about it and about us. Ordinary speech may be admirable and interesting since it changes its devices to suit its material and since, by a prescient wisdom, it manages to skate round the thin ice of paradox: when it is really cornered, it hums and haws, a supremely effective strategy. Such devices and avoidances are a worthy object of study as are the rules of kinship and marriage in primitive societies. A higher satisfaction is, however, provided by the revisionist Systems which endeavour neither to shift nor evade. They resemble in fact the

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precise legal and social arrangements which prevail in civilized societies. If WITTGENSTEIN and AUSTIN are nostalgist social anthropologists, ARISTOTLE, HUSSERL and HEGEL are constructive lawgivers and administrators. But if the aim of philosophy is really to reduce externality and contingency^ the plurality of ways in which revision can be effected remains a defect: it appears arbitrary, and therefore contingent upon temperament, whether we opt for one sytematic way of conceiving the world or another. The analytic Systems, with their determination to leave ordinary speech-structure intact, and to innovate only at meta-levels, have at least nothing arbitrary about them: they have a single conceptual aim and one that we cannot pronounce artificial or unnatural. The natural world-view is the sheet-anchor of our sanity, and if it can in any way be saved there is an interest in saving it. It is at this point that a new conceptual strategy emerges, which Combines the ordinary with the extraordinary, and the analytic with the revisionary. It is the technique practised only by the greatest of philosophers at the top of their form, but which resembles also the untutored sense of the unphilosophical. This is the technique of framing and using what I shall call, for want of a better expression, iridescent concepts, concepts which shift their focus from moment to moment, and which change their 'colour' in doing so. They evade and transcend, rather than violating, the norms of formal logic. PLATO used such an iridescent concept when he conceived of the instance as rolling about in an intermediate region between being and nothingness, between the ontically ontic reality of the Eide and the sheer emptiness which is the object of ignorance or of bastard arguments. Instances are after a fashion, since they instantiate what in an absolute sense is, but such a being is wholly parasitical on what it exemplifies, and differs from it only in an unintelligible manner. ARISTOTLE likewise, in all his better moments, used such iridescent concepts, as when he says that the convex and the concave are the same though their sivai or being is different, or that something is the convergent actualization of two wholly different potencies, or that something is in a sense potentially achievable though it will never be actually realized. The central conception of ouaia, which is at once the essence of many things and yet constitutes the individuality of each, is itself a prime case of an iridescent concept. The magnificent writings of PLOTINUS likewise abound in such iridescent wisdom: TO ev is supremely simple, yet it is none the less the power of all lower hypostases, they are separated from it by a gulf of difference, but a gulf that can nevertheless be crossed by a process of self-simplification, it develops into a System of knowables

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of which each is in all and all in each, and in which eacK and all coincide with an idealized System of knowings, and where all that is yonder is also here^ and all that is down here is represented yonder. Those who think of PLOTINUS merely in terms of emanation and of levels of being have absolutely failed to understand him. And AQUINAS follows PLOTINUS, much more than ARISTOTLE, in his often iridescent theology: he is if anything more severe in his combination of profound simplicity with a radiation outwards which extends even towards the contemptible and the contingent. It is through simply being his simple seif that God knows and creates everything. SPINOZA likewise among post-Renaissance thinkers is Willing to distinguish in God's indiscerptible unity what he thinks of as constituting the essence of this or that finite mode, and the love which some of the modes bear to God is also a part of God's eternal love towards himself. KANT likewise uses some iridescent concepts in the more insightful parts of his critical and pre-critical writings, e. g. in the notion of space and time as infinite given wholes embodying intuited differences that we cannot articulate conceptually, and in his notion of a self-consciousness which is nothing apart from an objective synthesis according to the categories. It is, however, of course, in HEGEL that the iridescent concept comes into its own, where not only things but also notions swing over into their others or their opposites, and where high unities such as the Absolute Idea or Absolute Spirit are never without their internal tensions, which means that we have to keep on turning them round in our minds, and reminding ourselves that they are only thus in so far as they are also and at the same time not thus. HEGEL'S basic conception, which he quarried out of the more obscure dialectic of FICHTE, is that of a task which, while incapable of being fully accomplished, is thereby also etemally at its goal. The Other, having its whole function and being in evoking the energies of Spirit, is also absolutely fulfilling that function when it retreats endlessly without vanishing. In being something that ought never to be finally abolished, it is also and by the same token etemally abolished. Such a systematic approach finally liquidates contingency, but only by making an underivable, inexplicable contingent weiter follow inexorably from the nature of absolute being. Only in and through an Entäußerung can the Absolute Idea be absolutely bei sich. And if we pass on to postHegelian thought we may perhaps single out HENRI BERGSON for his remarkable iridescences. ARISTOTLE before him had said of a state of motion that it was %akBnby löslv but evöe/opEvov eivai, and BERGSON, in his inimitable French, simply emphasizes the shifting, intuitive nature

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of the Vision which is at once so perfectly lucid and yet so teasing to our intellectual powers. Even G. E. MOORE in his later years made use of the iridescent concept, and I was privileged to listen to a series of lectures in which he discoursed on the many correct uses of ordinary language of the sentence 'It is and it isn't'. Bald men and Scotch mists were his traditional targets, but one was free to conclude that the universe was in some respects like a bald man or a Scotch mist. And there are also some cases of the iridescent concept in the later WITTGENSTEIN: it accords with his loosely improvised and structured language-games, and with his repeated adjurations to say what one likes. The commendation of iridescent concepts has, however, to be squared with the authority of the formal logical laws of Identity, Contradiction and Excluded Middle. These laws, empty and innocuous when intelligently used, and permitting one to say exactly what one likes if one knows how to say it, have none the less, with the vast rise in prestige of symbolic formalism, become dire instruments of intellectual tyranny, and of a multiplication of differences which are wholly senseless. Even PLATO abused the infant Law of Contradiction when he argued for distinct parts of the soul on the ground that one could not with the same part of oneself both want and not want something, and there are cases of grave abuse of the same law in the writings of ARISTOTLE among which I shall only mention the distinction of the Active from the Passive Intelligence and of both from the immaterial thinking of God. The Law of Contradiction is abused whenever it is concluded that there must be some special thing to Support each of a pair of coexistent contraries, even though no such special thing reveals itself. For the formal logical laws are not axioms but a Programme, and a programme which breaks down in all really deep or marginal enquiries from sheer lack of application. There is at a sufficiently refined or deep level nothing which is not the case in the wholly exclusive or exhaustive sense demanded by the Laws of Contradiction and Excluded Middle, nor anything which is wholly other than something in the strict sense implied in the formal law of Identity. We try to arrive at such applications, and at a crude level achieve them, as in the impressive sentence I have just formulated, but they always evade US if we take the matter further, and leave us only with contraries that do not exhaust the field or are capable of reconciliation. Everything is indeed what it is and not something eise, but its not being something eise is either not irreconcileable with its being something eise, or eise everything is the one and only Absolute, and is not per absurdum anything eise. For the use of negation in significant contexts is that of something

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which puts a distance between something and something, but not the unbridgeable gulf that the formal concepts of negation and diversity entail. Significant negations are gaps in a continuum which depend on an environing spectrum and what it reaches out towards but does not achieve. The negation shades into a corresponding affirmation, and there cannot, as in all genuine continua, be a clear gulf between them. The continuous shading of thing, and state and character into thing and state and character is a transitive relation, so that the most remotely distant things by this token shade into one another. It is only when we erect greater logical distance into a logical gulf, as we rightly do in practice and in certain abstract forms of theory, that the logical laws apply rigorously. John is not James, and his being my nephew is not reconcileable with his not being my nephew and so on. But p and not-p are always combinable in some cases, or altematively do not exhaust the field, and they are always combinable or non-exhaustive in any really deep enquiry. The iridescent concept will, moreover, have other than mystical and transcendental uses: it will enable us to see how what they intend as object is a part and yet not a part of a state of mind, or how characters are part and yet not part of their instances, or how the present does and yet does not include the past and the future, and how everything is always everything and yet not more than the single definite thing it is. All these iridescent assertions are legitimate if made in the right circumstances by responsible Speakers, who both see the distinct shades which enter into the iridescences in question, and yet also the impossibility of isolating them from one another, even in thought. But of course one would not encourage iridescent assertions in situations involving broad, big differences, any more than one would wish to combine a High Mass with a convivial carouse. There are countless occasions on which X is, for practical or for abstract purposes, so distant from Y, as rightly to be treated as being not at all the same thing, nor a case of the same. I trust, in conclusion, that my paper will at least have illuminated the differences betweeen analytic, systematic and dialectical philosophy, and will have shown that, while all are indispensable, some occupy a more architectonically central position than others. England used to have two universities, one at Oxford which cultivated the ultimate iridescences, and one at Cambridge given to hard-line analysis. At present there is no such contrast: the Owl of Minerva has taken flight to the Continent and to America. I trust it will return to all its ivy-mantled towers, leaving the daylight traffic wherever such is appropriate.

MICHAEL DUMMETT (OXFORD)

CAN ANALYTICAL PHILOSOPHY BE SYSTEMATIC, AND SHOULD IT BE? The term 'analytical philosophy' denotes, not a schooh hut a duster of schools, sharing certain basic presuppositions, but differing amongst themselves in every other possible way. As in all movements, its most bitter quarrels have been internal ones. When I was a Student at Oxford in the late 1940's, the dominant philosophical influence was that of RYLE; and, despite the fact that RYLE had started his career as the English exponent of the philosophy of HUSSERL, and had in 1929 published a critical but highly respectful review of Sein und Zeit, the enemy, at the time when I was a Student, was not HEIDEGGER; HEIDEGGER was perceived only as a figure of fun, too absurd to be taken seriously as a threat to the kind of philosophy practised in Oxford. The enemy was, rather, CARNAP: he it was who was seen in RYLE'S Oxford as the embodiment of philosophical error, above all, as the exponent of a false philosophical methodology. Of course, the CARNAP whom RYLE taught us to reject was a caricature of the real CARNAP; but, so strong was this prejudice, that it took me, for one, many years to realise that there is much worthy of study in CARNAP'S writings. Nothing can more vividly illustrate the contrast between the philosophical atmosphere in which my British contemporaries grew up and that in which American philosophers of the same generation developed: for in the United States CARNAP was accepted as the leader of the analytical school, and the most influential American practitioners of analytical philosophy, from QUINE down, are people whose philosophical formation was CARNAPian, and whose thought can be understood only as the outcome of a painful effort to scrutinise and correct certain of CARNAP'S fundamental doctrines. The divergence of tradition between analytical philosophy as practised on one side of the Atlantic and on the other bears strongly upon the question we have to examine. It would be ridiculous to address the question, 'Can analytical philosophy be systematic?', to the author of Der logische Aufbau der Welt; and, though few American philosophers have

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followed their mentor so closely as to produce such rivals to that work as NELSON GOODMAN'S Structure of Appearance, most are unanimous in regarding philosophy^ with QUINE, as at least cognate with the natural Sciences, as part of the same general enterprise as they. In those English philosophical circles dominated by the later WITTGENSTEIN or by AUSTIN, on the other hand, the answer given to this question was a resounding 'No': for them, the attempt to be systematic in philosophy was the primal error, founded upon a total misconception of the character of the subject. The reason lay in what was thought to be the fundamental discovery, enunciated in WITTGENSTEIN'S Tractatus (Abhandlung), of the nature of philosophy: philosophy is not a Science. Here 'science' is used in the most general way, to embrace any discipline (art history, for example) whose aim is to arrive at and establish truths. According to WITTGENSTEIN, both in his earlier and his later phases, this is not the object of philosophy. Chemistry aims to discover chemical truths, and history to discover historical truths, but the successful outcome of philosophy is not a number of true propositions whose truth was not known before. Philosophy is concerned, not to establish truths of a very general kind, not even truths which can be arrived at by ratiocination alone, but to rectify certain kinds of misunderstanding, the misunderstandings we have of our own concepts; and this means our misunderstanding of our own language, since to possess a concept is to be the master of a certain fragment of language. Human language is an instrument of enormous complexity, and our mastery of it is largely an implicit mastery: we are able to employ it in practice, but, when we try to give an explicit account of that practice, we commit gross errors. Because it is in our nature to be reflective, to try to explain all that we observe, we do not rest content with being able to make practical use of our language for the ordinary transactions of life, but try to frame hypotheses about the general principles according to which that language functions; or, mistakenly regarding language as a mere external covering with which the thought is clothed, we attempt to Strip off this outer clothing and penetrate to the pure thought beneath. In doing this, we are like savages gaping at a machine whose working they have not the background to comprehend: we form fantastic misconceptions of the way our language works. Like all our thought, these misconceptions are themselves expressed in language; but language, when it is made to serve such a purpose, is like an engine racing while disconnected — it does no work, not even the wrong work; it does not issue even in propositions which are to be denied and replaced by true ones, but merely expresses characteristic kinds of intellectual confusion the only

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remedy for which is extended and patient treatment, in the sense in which a doctor treats an illness. It is this treatment which is the proper work of the philosopher; and a large part of it will consist in drawing the sufferer's attention to the actuak often humdrum, facts about our employment of language^ facts of which he is of course already aware, but wldch he had overlooked in the excitement generated by the misleading picture which had gripped his mind. If this is the nature of philosophy, then evidently it cannot be systematic. There can be no means by which every possible rrmsunderstanding can be blocked off in advance; each must be treated as we encounter it. And, even when we are concerned with the eradication of some specific misconception, we shall not accomplish it by substituting some correct theory for a mistaken one, because we are not operating in a region where theories are required at all. What we are aiming to do is to substitute a clear Vision for a distorted one. What there is to be seen is not a matter for philosophy at all, but for Science, for empirical observation; the philosopher has no more business saying what there is to be seen than does the oculist: what he is trying to prevent is a frame of mind in which whatever is seen is grotesquely misinterpreted. In so far as the philosopher has any business at all to state what there is to be seen, the facts which he has to recall will not be ones that the philosopher has discovered, but, rather, very familiär facts known to everybody, and he will recall them only because they fit badly into the theory, or pseudo-theory, in which the conceptual confusion is embodied. But such recalling of familiär facts, particularly facts about language, will not of itself provide a sufficient treatment of the confusion, because, until the confusion is removed, they will themselves be misperceived; the philosopher has to grapple with the seductive reasoning which so compulsively engendered the misunderstanding in the first place, or by which it defends itself against criticism. But the philosopher's reasoning does not issue, like the mathematician's, in theorems which he can then enunciate; when he has unpicked the tangle, and the Strands lie separated from one another, he has finished his work: then we see the world aright. There is, however, nothing that we can state as the result of the philosopher's work: an undistorted Vision is not itself an object of sight. The AusTiNian reason for rejecting System in philosophy is less powerful than WITTGENSTEIN'S, and needs less attention, partly because it no longer seems in the least attractive, and partly because, to a greater extent than with other philosophers, AUSTIN'S practice failed to tally with his official methodology. His official view was this: philosophical Problems are to be resolved by attention to the actual uses of words; so we

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may as well sei about studying the uses of words without keeping our eyes on the problems, which will take care of themselves, that is, evaporate, if we do our work satisfactorily. Philosophy, on this view, is not a therapy but an empirical study: we have to describe, in detail, particular uses of particular words. But it is not a systematic study, because its subject-matter is incapable of systematisation; we cannot arrange our results into some aesthetically satisfying deductive theory, because they form only a collection of loosely connected particular facts, as particular as those entered in the dictionary. I began by remarking that the term 'analytical philosophy' covers the work of philosophers of exceedingly diverse views and approaches: but, striking as these divergences have been in the past, my remark probably applies less to the strictly Contemporary scene than it does to any time in the past. There has been a very considerable rapprochement between the various branches of analytical philosophy; and this has been due to three interconnected facts. First, the ever more widespread knowledge of and attention to the work of FREGE. Up to, say, 1950, the influence of FREGE upon analytical philosophy had been very great, but it had been exerted largely at second hand, transmitted through a few rare, though influential, philosophers who had studied him directly — CHURCH, CARNAP, RUSSELL and, above all, WITTGENSTEIN; and so, for the most part, FREGE'S doctrines reached others only as understood by those writers, and not clearly distinguished from their own opinions. Now, a quarter-century later, and a half-century after FREGE'S death, every serious philosophy Student in Britain or the United States acknowledges a thorough study of FREGE'S writings as essential to a philosophical education; and the shift in perspective — and not merely in historical perspective — brought about by the recognition of FREGE as the fountain-head of analytical philosophy, rather than supposing it to have begun with RUSSELL, or with WITTGENSTEIN, or with the Vienna Circle, has had a profound, and unifying, effect. Secondly, the work of Contemporary American philosophers is at the present moment far more influential in Britain than it has ever been before; for the first time since I have been at Oxford, and probably for the first time since the influence of HEGEL was predominant there, work done in philosophy further away than Cambridge has come to occupy the centre of the stage. Finally, as cause or consequence of the first two, the focus of interest within the subject has altered. For several decades, the most vigorous brauch of philosophy within Britain was philosophical psychology — the study of questions concerning motive, Intention, pleasure, and the like: now it is the philosophy of language. Formerly, the

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most usual appellation for the type of philosophy practised at Oxford was 'linguistic philosophy': but that no more implied that its adherents worked principally upon questions concerning language than the name 'logical positivism' implied that the principal contribution of the members of that School was to logic. Just as for the positivists logic was an Instrument, not the field of study, so for linguistic philosophy the study of language was for the most part a means and not an end. In part this was due to the idea that no general doctrine about language was needed as a basds for the Investigation, by linguistic means, of philosophically problematic concepts, in part to the idea that such a doctrine was needed, but had already been attained. Neither idea would find much favour now: the philosophy of language is seen both as that part of the subject which underlies all the rest, and as that which it is currently most fruitful to investigate. This tendency within analytical philosophy is recent only so far as British philosophy is concerned: it represents an alignment of the British with the American school; and I should like to declare myself wholly in sympathy with it. In saying this, I am not wishing to endorse particular doctrines currently populär amongst American philosophers of language — linguistic holism, the rejection of a substantive distinction between sense and reference, the causal theory of reference, or possible-worlds semantics, all of which appear to me mistaken in whole or part — but only their general Orientation. In order to give my reasons for this, I must pose the question what distinguishes analytical philosophy, in all its manifestations, from other schools.

A succinct definition would be: analytical philosophy is post-pRECEan philosophy. FREGE'S fundamental achievement was to alter our perspective in philosophy, to replace epistemology, as the starting-point of the subject, by what he called 'logic'. What FREGE called 'logic' included, but only as a proper part, what everyone eise, before and since, has called 'logic': it also embraced precisely what is now called 'philosophy of language'. That would have sounded odd to FREGE, for he almost always used the Word 'Sprache' to mean 'natural language', and he had a strong contempt for natural language; but, even were that contempt completely justified, so that, as he believed, we have, for the purpose of serious philosophical study, to replace natural language by an artificially devised language purged of its defects, FREGE'S work has the interest that he Claims for it only if the resulting formalised language is a more perfect instrument for doing the same thing as that which we normally do by means of natural language, and if, therefore, in studying the formalised

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language^ we are studying the ideal whicli natural language strives after, but fails to attain. Thus we may cbaracterise analytical philosophy as that which follows FREGE in accepting that the philosophy of language is the foundation of the rest of the subject. For FREGE, as for all subsequent analytical philosophers, the philosophy of language is the foundation of all other philosophy because it is only by the analysis of language that we can analyse thought. Thoughts differ from all eise that is said to be among the contents of the mind in being wholly communicable: it is of the essence of thought that I can convey to you the very thought I have, as opposed to being able to teil you merely something about what my thought is like. It is of the essence of thought, not merely to be communicable, but to be communicable, without residue, by means of language. In order to understand thought, it is necessary, therefore, to comprehend the means by which thought is expressed. If the philosopher attempts, in the manner I mentioned earlier, to Strip thought of its linguistic clothing and penetrate to its pure naked essence, he will merely succeed in confusing the thought itself with the subjective inner accompaniments of thinking. We communicate thoughts by means of language because we have an implicit understanding of the working of language, that is, of the principles governing the use of language; it is these principles, which relate to what is open to view in the employment of language, unaided by any supposed contact between mind and mind other than via the medium of language, which endow our sentences with the senses that they carry. In order to analyse thought, therefore, it is necessary to make explicit those principles, regulating our use of language, which we already implicitly grasp. This task has both a general cmd a particular aspect. In its general aspect, our concem is with the fundamental outlines of an account of how language functions: and that constitutes the philosophy of language, which is accordingly that philosophical theory which is the foundation of all the rest. But, in its particular aspects, we may be concerned with the analysis of thoughts conceming this or that particular subject-matter, or involving this or that duster of concepts: and these are the branches of philosophy which spring out of the parent stem. Unless our general account of language is on the right lines, the analysis which, in particular branches of philosophy, we give of special types of sentence or special forms of expression is liable to be defective, which is why the philosophy of language lies at the base of the entire structure; this, of course, does not mean that all work in other parts of philosophy ought to cease until a fully adequate philosophy of language has been attained. FREGE himself

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did not make the claim that the only task of philosophy is the analysis of thought, and hence of language — that was left for WITTGENSTEIN to enunciate in the Tractatus; but by his practice in the one particular branch of philosophy in which he worked^ the philosophy of mathematics, he left little doubt that that was his view; the very same grounds on which he resisted the Intrusion of psydhological considerations into what he called 'logic', namely that thought is objective and common to all, whereas mental processes are private and subjective, are given by him for keeping them out of the philosophy of mathematics. The proper philosophical study of mathematics proceeds by analysing the language of mathematics. Only one who persisted in confusing thoughts with inner mental processes would think that this involved diverting our attention from the objects of mathematics to the experience of mathematical activity; experience does not come into it at all, and, as for mathematical objects, the philosopher will need to talk about these in so far as it is necessary to do so in order to give an adequate account of mathematical language. The difference between the mathematician and the philosopher of mathematics is not that the former is concemed with mathematical objects and the latter is concemed only with the inner experiences of the mathematician, but that the mathematician is concemed to establish the truth or falsity of mathematical Statements, while the philosopher is concemed with the way in which they are endowed with sense. There is no reason to suppose that FREGE would have adopted any different attitude to any other branch of philosophy, if he had chosen to work in it. In the foregoing remarks , I have attempted an account of certain fundamental views, expressly advocated by FREGE or implicit in his philosophical method, which may also be claimed, with some plausibility, to be shared by all practitioners of analytical philosophy; but, even if I have succeeded, in practice the effect of these common beliefs on the work of the various analytical philosophers has been very different. FREGE and the early WITTGENSTEIN both made direct contributions to the philosophy of language: but, when we reach the Vienna Circle, we have to do with philosophers whose interest in the subject was no longer much for its own sake, but rather because they saw it as an armoury from which they could draw weapons that would arm them for combat in other areas of philosophy. The principle of verification was for them a sword with which they could slay numberless metaphysical dragons; but, now that we look back, it is difficult to see how, out of that principle, could be fashioned a coherent philosophy of language, or theory of meaning, at all. It was not in itself even the summary of a theory of meaning, but a conse-

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quence claimed to follow from some theory even the outline of which was never once clearly formulated. And, if this is to be said of the positivists, something even stronger holds for the 'ordinary language' school dominant for a period at Oxford. They jettisoned the slogan 'Meaning is the method of verification' for the slogan, borrowed from WITTGENSTEIN, 'Meaning is use': but, while the former slogan hinted at some unitary theory of meaning, a key concept in terms of which a general model could be given for the understanding of a sentence, the latter slogan was expressly used to reject the idea that a uniform account is possible. Only particularity was acceptable; a general theory was a fatuus ignis, generated by the philosopher's vain hopes of finding a pattem where none existed. All that a philosopher ought to try to do was to explain the 'use' of each sentence, one by one; for that was all that can be done. Now, whatever be the right account of language, such a conception can be recognised offhand as wrong, for the obvious reason that we do not leam sentences one by one. It would fit a code of Signals, the significance of each of which has to be leamed separately, but not a language. It should hardly need pointing out to anyone, least of all to a school of philosophers who prided themselves on their attention to language, that we understand a sentence by understanding the words that compose it and the principles according to which they are put together. But the fact is that there is no formulation of the doctrine of total particularism advocated by this school that will fit that basic fact; for it is sentences, not words, that have a 'use' in the intended sense, sentences by means of which, in WITTGENSTEIN'S terminology, we 'make a move in the languagegame'. Any workable account of language must, therefore, represent a mastery of language as consisting in a grasp of some principles not relating to complete individual sentences, even if these consist solely of principles relating to individual words and to modes of sentence-construction. A grasp of such principles will issue in a knowledge of the 'use' that can be made of any given sentence of the language; but it will not be constituted by such knowledge. The question is what are the principles an implicit grasp of which composes an understanding of the language; and to answering this question the 'ordinary language' school had virtually nothing to contribute. The rejection of generality, the insistence on concentrating on the 'use' of each individual sentence, led to the giving of accounts of 'use' which were often remarkably superficial, even when subtle. They were superficial, because they employed psychological and semantic concepts which a theory of meaning has no right to presuppose as already understood.

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because it can be expected to explain them; what eise, after all, could anyone do but invoke such concepts if presented with some complex sentence and asked to describe its 'use'? So they would freely employ such a notion as that of expressing an attitude, or conveying a belief, or rejecting a question, without the slightest consciousness that it is the business of the philosophy of language to explain what it is to do any one of these things. Nowhere is this naore evident than in the constant use that was made of the concepts of truth and falsity, as needing no explanation: for these are concepts which have their home in the theory of meaning, which will have been fully elucidated only when we have understood the role which they have to play in a correct theory of meaning for a language; and yet they were employed in descriptions of 'use', and disputes were conducted over whether they should be applied to this or that sentence, under given conditions, or at all, not merely as if it were perfectly clear what is the connection between truth and meaning, but as if there were nothing to be known, and hence nothing capable of being said, about that connection. Moreover, particularism led to superficiality for another reason, which can be most tersely stated by saying that it promoted a conscious disregard for the distinction between semantic and pragmatic aspects. (I do not myself care for the 'semantic'/'pragmatic' terminology; but that is because I think it obscures the differences between several distinct distinctions.) Anyone not in the grip of a theory, asked to explain the meaning of a sentence like 'Either he is your brother or he is not' or 'I know that I am here', would be disposed to begin by distinguishing what the sentence literally said from what, in particular circumstances, someone might seek to convey by uttering it; but, from the standpoint of the orthodox 'ordinary language' doctrine, only the latter notion was legitimate — it was what constituted the 'use' of the sentence; and, if no circumstances could be excogitated, however bizarre, in which it might actually be uttered for some genuine purpose, then the sentence 'had no use' and was therefore meaningless. As for the former notion — that of what the sentence literally said — that was spurious, an illegitimate byproduct of the attempt to construct a theory of meaning in terms of general concepts. It was this, of course, more than anything eise which led hostile observers to form the Impression of the activities of 'ordinary language' philosophers as the practice of a solemn frivolity. Naturally, so grotesquely false a methodology could not be consistently adhered to by intelligent people. In consequence, in place of the general semantic concepts which had been expelled in the original determination

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to pay attention to nothing but the actual 'use' of particular sentences, new onesy such as the celebrated notion of presupposition, or that of conversational implicature, or AUSTIN'S distinctions between illocutionary and perlocutionary force, etc., were invented by the 'ordinary language' philosophers themselves; and, in the process, 'ordinary language' philosophy ceased to exist, almost without anyone noticing that it had. An era had ended, not with a bang, but a whimper; and the moment was propitious for the American counter-attack. The doctrines of 'ordinary language' philosophy were a caricature, but not a gross caricature, of the views of the later WITTGENSTEIN, from whom, as I remarked, the slogan 'Meaning is use' was borrowed. No-one can say about WITTGENSTEIN that, in his later phase, he neglected the philosophy of language, that he used ideas about meaning only as a tool to attack Problems in other areas of philosophy: large tracts of the Philosophische Untersuchungen are directly devoted to the philosophy of language. The most immediately obvious difference between his conception of 'use' and that of the 'ordinary language' school is that he emphatically did not envisage a description of use as making free appeal to psychological and semantic concepts: what he meant by 'use' is most readily seen from the analogy which he draws in the Untersuchungen with an account of the use of money. To understand the significance, that is, the conventional significance, of a coin involves understanding the institution of money; what would be needed to convey that significance to someone who came from a society in which money was unknown would be a description of the whole practice in which the transference of coins is embedded; such a description is therefore also needed if we wish to make explicit what it is that, in grasping the significance of a coin, we implicitly apprehend. A description of the institution of money that would serve this purpose would presuppose no economic concepts; it would give an account of what actually happens in terms of what is open to observation by someone innocent of such concepts. In the same way, what WITTGENSTEIN conceived of as constituting an account of the use of language is illustrated by the 'language-games' which he described in the Brown Book and elsewhere. In these, some very rudimentary language, or fragment of a language conceived of as existing in isolation, is displayed as being actually spoken: what is described is the complex of activities with which utterances of sentences of the language are interwoven; and, again, the description does not invoke psychological or semantic concepts, but is couched entirely in terms of what is open to outward view.

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This conception of a language-game illustrates for us what WITTGENwould consider to be an adequate account of the functioning of an entire actual language: such an account would, again, consist of a description of the language-game in which the language played a role, and would differ in principle from those described by WITTGENSTEIN only in its immensely greater complexity. It is important to notice the difference between this idea and the conception of a theory of meaning that can be derived from FREGE. Both are agreed that what is required is a description of the conventional principles which govern the practice of speaking the language, a description which does not invoke the notion of a sentence's expressing a thought, but, rather, displays that which renders any given sentence the expression of a particular thought. But, for FREGE, the institution of language is autonomous. A sentence expresses the thought it does in virtue of our being able to derive the condition for its truth in a particular way from its composition out of its constituent words; and the notion of truth can be understood only by grasping the various highly general types of linguistic practice that consist in uttering a sentence, with a given truth-condition, in accordance with one or another Convention that determines the linguistic act effected by the utterance — that of asserting that the condition for the truth of the sentence is fulfilled, for example, or that of asking whether it is fulfilled. Hence, on this account, it is largely irrelevant to our capacity to speak a language such as that which we have that we are able to engage in non-linguistic activities: we could speak much the same kind of language if we were a sort of intelligent and sentient trees, who could observe the world and utter sounds, but could engage in no other type of action. For WITTGENSTEIN, on the other hand, it is essential to our language that its employment is interwoven with our non-linguistic activities. In the language-games which he describes, what confers meaning on the linguistic utterances is their immediate and direct connection with other actions; for instance, the builder asks for a certain number of stones of a certain shape, and they are passed to him. What makes it difficult for us to see that it is use, in this sense, which confers meaning on the sentences of our actual language, or, better, in which their meaning consists, is the remoteness of the connection between linguistic activities (for example, that on which I am now engaged) and non-linguistic ones; it is nevertheless this connection which endows our words with the meanings they have. Now this idea, striking as it is as a first and, if correct, fundamental, STEIN

insight, remains in WITTGENSTEIN largely programmatic. FREGE did not, indeed, complete the task of giving even a general sketch of the kind of

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theory of meaning which he favoured: notoriously, his discussions of the notion of sense supply arguments for Holding that we need a theory of sense rather than merely a theory of reference, but do not provide any general model for what we should take a speaker's grasp of the sense of a Word of a given logical category to consist in; nor is it clear to what extent he thought it possible to give a non-circular account of the conventions governing the various types of linguistic act such as assertion, or how, if at all, such an account is to be framed. Nevertheless, despite these lacunae, we have an outline of the general form which a pRECEan theory of meaning must assume, sufficiently clear for us to be able to discuss the plausibility of the claim that by this means an adequate account of the functioning of a language can be given. But, of the sort of theory of meaning favoured by WITTGENSTEIN, we have no such outline: we do not know how to begin to set about constructing such a theory. The difficulty lies with those utterances which would normally be classed as assertoric. A command, after all, is aimed at eliciting a direct non-verbal response, a question at eliciting a verbal one. True enough, in the actual case, an utterance of either of these kinds may fail to elicit the response it aims at, and, at least in the case of commands, an adequate description of the linguistic institution must include a general Statement of the consequences of the hearer's failure to respond in the way called for. But an assertoric utterance is not, in the general case, aimed at evoking a specific response; how the hearer responds will depend on many things, in particular upon his desires and his existing beliefs. That is not to deny that an assertion will often have effects upon behaviour, and, in the long run, upon non-verbal behaviour; but it does cast doubt upon the possibility of giving an account of the meanings of assertoric sentences directly in terms of their Connections with non-linguistic activities. WITTGENSTEIN was not intending merely to make some observations about what it is that ultimately gives significance to our language. If that had been all that he had in mind, it could be accommodated within a pREGEan framework. The Connection between language and extra-Iinguistic reality would in that case be assured by the principles which govern the conditions for the truth of our sentences; the effect which an assertion might have upon the conduct of a hearer could then be indirectly accounted for by his grasp of this connection, taken together with his wants and his capacities for action. But it is plain from several passages in the Untersudtungen that WITTGENSTEIN intended, in this respect, flatly to oppose PREGE'S conception of meaning. In particular, the concept of assertion, considered as a type of linguistic act capable of being described in a manner uniform

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with respect to the truth-conditions of any sentence used to make an assertion, is to be rejected. Our difficulty is, not merely that WITTGENSTEIN has shown us no compelling reason why we must reject it, but that he has not given us any indication of what we are to put in its place. The particularism which was so marked a feature of the official doctrine of the 'ordinary language' schooI, though it became less and less discemible in their practice, took its source from WITTGENSTEIN. It was part of FREGE'S doctrine that, since a sentence is the smallest unit of language by the utterance of which it is possible to say anything, the meaning of a word is to be explained in terms of the contribution it makes to the meaning of any sentence in which it may occur; we derive the meaning of each particular sentence from the meanings of the words that compose it, but the general notion of sentence-meaning is prior to that of word-meaning. This idea has not been challenged by WITTGENSTEIN or anyone eise. Now suppose that we face the task of giving a general account of the meanings of the expressions of a language. We might begin by dividing into large categories the sentences of the language, on the basis of the different kinds of linguistic act — assertion, question, command, etc. — that are effected by uttering them; for, it would be natural to think, if sentence-meaning is to be taken as primary, we had better first distinguish types of sentence-meaning as possessed by sentences employed for such very different purposes. Now, for any given sentence, there will be two moments in the understanding of its meaning: the recognition of it as belonging to a particular category, and the grasp of its individual content, whereby it is distinguished from other sentences in the same category. Thus, if one sentence serves to give a command, and another to voice a wish, we must know these facts about the categories to which they belong if we are to understand them; and to know that involves knowing what it is, in general, to give a command or to express a wish. In order to understand those sentences, we must also grasp their individual contents: we must know which command the one conveys and which wish the other expresses; and this will, in each case, be determined by the composition of the sentence out of its constituent words. The difficulty now is that, if the sentences in each category possess a different type of sentence-meaning from those in any other category, and if the meaning of a Word consists in the contribution it makes to determining the meaning of a sentence containing it, it appears that the words in an imperative sentence must have a meaning of a quite different kind from the same words when they occur in an Optative sentence; and this is absurd. The escape from such an intolerable conclusion is provided by

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the obvious fact that most words in any sentence serve to determine, not the category to which it belongs, but its individual content as against that of other members of the category, together with the idea that the individual content of a sentence is determined in a uniform manner, regardless of its category. Thus it seems natural to suggest that, granted that we know the category to which each sentence belongs, we know the individual content of an imperative sentence by knowing in what circumstances the command it conveys will have been obeyed, and that we know the individual content of an Optative sentence by knowing in what circumstances the wish it expresses will have been fulfilled. In this way, we may think of the individual content of a sentence of most of the other categories as being determined by associating with that sentence a certain ränge of circumstances, the significance of that association depending upon the category in question. We thus arrive at the distinction, originally drawn by FREGE, between the sense (Sinn) of a sentence and the force (Kraft) attached to it. Those constituents of the sentence which determine its sense associate a certain state of affairs with the sentence; that feature of it which determines the force with which it is uttered fixes the conventional significance of the utterance in relation to that state of affairs (i. e., according as the Speaker is asserting that the state of affairs obtains, asking whether it obtains, commanding that it should obtain, expressing a wish that it obtain, etc.). It is difficult to see how a systematic theory of meaning for a language is possible without acknowledging the distinction between sense and force, or one closely similar. Whether the categories I have used as examples — assertoric, interrogative, imperative and Optative — are legitimate ones, or ought to be replaced by some others, is a secondary question; in this context, even the question whether the notion of the sense of a sentence which I have just sketched is correct is secondary. What seems essential is that we should have some division of sentential utterances into a determinate ränge of categories, according to the type of linguistic act effected by the utterance; that there should be some notion of the sense of a sentence, considered as an ingredient in its meaning and as capable of being shared by sentences belonging to different categories; that the notion of sense be such that, once we know both the category to which a sentence belongs and the sense wHch it carries, then we have an essential grasp of the significance of an utterance of the sentence; and that, for each category, it should be possible to give a uniform explanation of the linguistic act effected by uttering a sentence of that category, in terms of its sense, taken as given. I do not think that we have, at present, any

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conception of what a theory of meaning for a language would look like if it did not conform to this pattem. It is, however, just this conception which WITTGENSTEIN attacks. He does not stop at rejecting the claim that all assertoric sentences form a single category, of which a uniform account can be given; he denies that any surveyable list of types of linguistic act can be arrived at. This is preoisely to deny that the distinction between sense and force is available to simplify the task of explaining the meanings of sentences by distinguishing two different components of their meanings: our theory of meaning must, for each individual sentence, issue in a direct accoimt of the conventional significance of an utterance of that sentence, rather than one derived from a general description of the use of sentences of some general category to which it belongs. Not only do we not know in the least how to set about devising a theory of meaning in conformity with this maxim, but it leads to that neglect of the difference between semantic and pragmatic considerations which I noted in the practice of the 'ordinary language' philosophers. WITTGENSTEIN'S deliberately unsystematic philosophical method makes it difficult to be certain what his intention was. Did he have in mind some theory of meaning of a completely different kind from that proposed by FREGE? Or did he reject the whole idea of a systematic theory of meaning? I should not myself attempt to answer these questions; I think it better to approach WITTGENSTEIN'S later work bearing in mind different possible interpretations, without always trying to decide which is the intended one; frequently, his ideas will be found fruitful and stimulating under all possible interpretations of them. But the fact of the matter is that, powerful and penetrating as are many of his discussions of detailed questions in philosophy, including ones relating to language, we do not know how to go about extracting from his later writings any coherent general philosophy of language. The idea — if it is WITTGENSTEIN'S idea — that no systematic theory of meaning is possible is not merely one which is, at the present stage of enquiry, defeatist, but one that runs Counter to obvious facts. The fact that anyone who has a mastery of any given language is able to understand an infinity of sentences of that language, an infinity which is, of course, principally composed of sentences which he has never heard before, is one emphasised not only by the modern school of linguists, headed by CHOMSKY, but by WITTGENSTEIN himself; and this fact can hardly be explained otherwise than by supposing that each Speaker has an implicit grasp of a number of general principles governing the use in sentences of words of the language. If, then, there

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exist such general principles of which every Speaker has an implicit grasp, and which serve to confer on the words of the language their various meanings, it is hard to see how there can be any theoretical obstacle to making those principles explicit; and an explicit Statement of those principles an implicit grasp of which constitutes the mastery of the language would be, precisely, a complete theory of meaning for the language. On the other hand, if what WITTGENSTEIN intended was some theory of meaning of a wholly new kind, there is not sufficient indication in his writings for US to be able to reconstruct even the general outlines of such a new type of theory. It is undoubtedly the case that, given a sufficient background of the beliefs and desires of both Speaker and hearer, the making of an assertoric utterance will frequently have an effect upon the nonlinguistic behaviour of the hearer, and register the speaker's commitment to some course of action: but, just because these effects and this commitment depend so heavily upon the varying background, it appears impossible to see how a theory of meaning could be constructed which explained the meanings of assertoric sentences in terms of a direct connection between the utterance of such sentences and the non-linguistic behaviour of the Speaker and hearer. That is simply to say that the language-games devised by WITTGENSTEIN to give an account of some very small fragments of language do not appear a promising model for a systematic account of an entire language; and, if after all they are, WITTGENSTEIN has not himself shown us how we are to be guided by these models. Even amongst the analytical schooI, WITTGENSTEIN was, during his lifetime, a highly controversial figure. Some believed him to be the discoverer of the definitively correct method in philosophy; for them, he had charted the course which, henceforward, all must take who wished to practise the subject, if their contribution was to be of any value. To others, his work was confused, his ideas erroneous, and his influence disastrous. No-one not imbued with prejudice could deny that his personal intellectual capacity was that of a genius; unfortunately, this in no way settles the value of his contribution to philosophy, since genius may as often lead men astray on to a false path as it may set them on a correct but hitherto undiscovered track. Only now have we reached a moment at which it is beginning to be possible to arrive at an evaluation of WITTGENSTEIN'S work that can be generally agreed, at least among members of the analytical school. My own opinion is that he will come to be seen as an immensely fertile source of important and often penetrating philosophical ideas, whose work nevertheless does not constitute, as he and his followers believed that it did, and as FREGE'S work undoubtedly did, a solid foun-

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dation for future vvork in philosophy. By this I mean particularly that, although many of his detailed ideas remain interesting and important for US, his example, as regards the style in which he practised philosophy, is not to be imitated. This style was the outcome, not only of his unique Personality, but also of his general doctrines about the nature of philosophy itself. As I explained earlier, these general doctrines hinge upon the contention that philosophy is not concerned with any topic about which a systematic theory is possible; it seeks to remove, not ignorance or false beliefs, but conceptual confusion, and therefore has nothing positive to set in place of what it removes. As I have said, I do not feel certain from WITTGENSTEIN'S observations about language and about meaning that he held a systematic theory of meaning for a language to be an impossibility in principle; the strongest ground for attributing to him such a view is that it appears to be the only premiss from which his thesis about the nature of philosophy could be legitimately derived. I have already given my reasons for supposing that, on the contrary, a systematic theory of meaning must be possible; and, even if it should prove in the end not to be possible, we certainly have no adequate insight at present into what makes it impossible, and shall therefore learn much that is of the greatest value if we continue for the time being in our endeavours to construct such a theory. If this analysis is correct, the most urgent task that philosophers are now called upon to carry out is to devise what I have been calling a 'systematic theory of meaning', that is to say, a systematic account of the functioning of language which does not beg any questions by presupposing as already understood any semantic concepts, even such familiär ones as those of truth and of assertion. Such an account will necessarily take the form of a theory, because it is evident that the mastery of a language involves the implicit apprehension of a vast complex of interconnections, and does not merely consist in a number of in principle isolable practical abilities. We are by no means as yet agreed even upon the general form which such a theory of meaning ought to take; but, thanks primarily to FREGE, we understand enough both about the underlying syntactical structure of our language and about what is demanded of a theory of meaning to be able to undertake the investigation as a collective enterprise to the same extent that advance in the Sciences is also the result of co-operative endeavour. These remarks apply directly only to the philosophy of language, not to other branches of philosophy; but I speak as a member of the analytical school of philosophy, of which I have already observed that the characteristic tenet is that the philosophy of language is the foundation

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for all the rest of philosophy. This is not to suggest that work in all other branches of philosophy must wait upon the completion of a satisfactory theory of meaning; intellectual construction is not like architecture, in that we do not, in the former case, need to complete the foundation before work on the upper storeys can begin. But it does mean, I think, that the correctness of any piece of analysis carried out in another part of philosophy cannot be fully determined until we know with reasonable certainty what form a correct theory of meaning for our language must take. I am maintaining that we have now reached a position where the search for such a theory of meaning can take on a genuinely scientific character; this means, in particular, that it can be carried on in such a way, not, indeed, that disputes do not arise, but that they can be resolved to the satisfaction of everyone, and, above all, that we may hope to bring the search within a finite time to a successful conclusion. The history of the subject indeed makes it very tempting to adopt the frequently expressed view that there are never any agreed final conclusions in philosophy; but, few as they may be, there exist counter-examples to this thesis, examples, that is, of Solutions to what were once baffling problems that have now been accepted as part of the established stock of knowledge; for such an example, we need look no further than to FREGE'S resolution, by means of the quantifier-variable notation, of the logic of generality. Whether, once we have attained an agreed theory of meaning, the other parts of philosophy will then also take on a similarly scientific character, or whether they will continue to be able to be explored only in the more haphazard manner that has been traditional in philosophy for many centuries, I do not claim to know. It will have been noticed that I have slipped into discusing simultaneously whether or not, from the standpoint of the analytical school, future work in philosophy can and ought to be systematic in two distinct senses of 'systematic'. In one sense, a philosophical Investigation is systematic if it is intended to issue in an articulated theory, such as is constituted by any of the great philosophical 'systems' advanced in the past by philosophers like SPINOZA or KANT. In the other sense, a philosophical Investigation is systematic if it proceeds according to generally agreed methods of enquiry, and its results are generally accepted or rejected according to commonly agreed criteria. These two senses in which it may be asked whether or not philosophy can and ought to be systematic are independent of one another. Most, perhaps all, the natural Sciences are systematic in both senses; but history, for example, is systematic only in the second sense, namely that there are agreed methods of Investigation and agreed

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criteria for testing what are claimed as results of such investigation, and not in the first sense, since historical research does not issue in any articulated theory. When, in the past, philosophy has been systematic, it has generally been systematic in the first sense only, not in the second: I have been advancing the view that, at least in the philosophy of language, philosophy ought henceforward to be systematic in both senses. The subject-matter of this part of philosophy demands an articulated theory; and we have reached a stage in our investigations at which that minimum has been established which makes it possible for future research to proceed according to more or less agreed methods of enquiry, and for its results to be judged in accordance with generally accepted Standards. For those who value it at all, it has always been something of a scandal that philosophy has, through most of its history, failed to be systematic in the second sense, to such an extent that the question, 'Can there be progress in philosophy?', is a perennial one. If philosophy is regarded, as most of its practitioners have regarded it, as one — perhaps the most important — sector in the quest for truth, it is then amazing that, in all its long history, it should not yet have established a generally accepted methodology, generally accepted criteria of success and, therefore, a body of definitively achieved results. (On the same assumption, it is to be expected that the truths discovered by philosophical enquiry should permit themselves to be arranged into an articulated theory or System, that is, that philosophy should be systematic in the first of the two senses, since the manifold interconnections between one part of philosophy and another are a matter of common philosophical experience; but this expectation gives rise to no scandal, since, as already remarked, the work of individual philosophers has frequently resulted in the creation of just such theories or Systems.) We should expect any activity which has as its goal the establishment of truths to be systematic in the second sense, precisely because it is of the essence of the concept of truth that truth should be an objective feature of the propositions to which it attaches; wherever commonly agreed criteria for the correctness of a proposition appear to be lacking, we naturally entertain the suspicion that that proposition cannot rightly be supposed even to be capable of possessing the property of being true. (The step from saying that there exists no agreed Standard by which the correctness of a proposition may be judged to saying that there is no notion of objective truth which may be applied to that proposition is, however, far from being a certain one; it remains an as yet unresolved question within the theory of meaning — which, as already remarked, is where the concept of truth has its home — what is the exact relation

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between the notion of truth and our capacity for recognising a proposition as trae.) In any case, even if the apparent failure of philosophers to make their subject systematic in the second sense does not lead us to doubt whether it is the business of philosophy to arrive at truths at all, the whole enterprise seems somewhat pointless if its goal cannot be attained or, at least, cannot be attained to the satisfaction of most of its practitioners. What is the use of conducting any enquiry if it cannot be told when the results of that enquiry have been achieved? In this respect, philosophy shows at great disadvantage when compared with mathematics; both appear to represent different sectors in the quest for truth, both appear to proceed solely by means of ratiocination, but mathematics has amassed a great body of established results, while philosophy appears to engender nothing but unending disagreements. It is this scandalous Situation which renders attractive such a conception of philosophy, as not being, after all, in the least concerned with establishing true propositions, as that held by WITTGENSTEIN; on such a view, there may indeed be progress in philosophy, namely as philosophers become better at curing conceptual confusions, without there being any body of established doctrine to show for that progress. I have contended in this lecture for a more traditional view of the character of philosophy than WITTGENSTEIN'S, a view, namely, that does indeed accept it for what it purports to be, a sector in the quest for truth. If that claim is accepted, then the fact that philosophy failed, throughout most of its long history, to achieve a systematic methodology does indeed cry out for explanation; and I shall not here attempt to give any adequate explanation of this remarkable fact. From WITTGENSTEIN himself we have a striking analogy to illustrate how it is that we may claim that progress occurs in philosophy, even though so little remains settled. He compares philosophical activity with the task of rearranging in systematic order the books of a great library hitherto haphazardly disposed: in carrying out such a rearrangement, a vital Step may be taken by placing a number of volumes together on a single shelf, even though they remain there only temporarily, and, when the final arrangement is completed, none of those particular books remain on that shelf or together on any shelf. The illuminating power of this analogy does not depend upon WITTGENSTEIN'S particular conception of the nature of philosophy, and it could be applied, though with much less force, to some of the Sciences; but that does not explain why the analogy is so much more apt when it is applied to philosophy than to any other intellectual discipline. Presumably, the analogy is liable to apply most fittingly to those subjects which remain in their

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early stages; so what needs explanation — an explanation which I have already said I am not going to attempt to offer — is how it comes about that philosophy, although as ancient as any other subject and a great deal more ancient than most, should have remained for so long 'in its early stages'. The 'early stages' of any discipline are, presumably, to be characterised as those in which its practitioners have not yet attained a clear view of its subject-matter and its goals. If the thesis for which I have contended in this lecture is correct, philosophy has only just very recently struggled out of its early stage into maturity: the turning-point was the work of FMGE, but the widespread realisation of the significance of that Work has had to wait for half a Century after his death, and, at that, is still confined only to the analytical school. Such a claim may at first sight appear preposterous, until we remember that logic, as a subject, is almost as ancient as philosophy, and that it, too, came of age only with the work of FREGE. What has given philosophy its historical unity, what has characterised it over all the centuries as a single subject, is the ränge of questions which philosophers have attempted to answer: there has been comparatively little Variation in what has been recognised as constituting a philosophical problem. What has fluctuated wildly is the way in which philosophers have in general characterised the ränge of problems with which they attempt to deal, and the kind of reasoning which they have accepted as providing answers to these problems. Sometimes philosophers have claimed that they were investigating, by purely rational means, the most general properties of the universe; sometimes, that they have been investigating the workings of the human mind; sometimes, again, that they have been providing, when these exist, justifications for our various claims to knowledge concerning different types of subjectmatter. Only with FREGE was the proper object of philosophy finally established; namely, first, that the goal of philosophy is the analysis of the structure of thought; secondly, that the study of thought is to be sharply distinguished from the study of the psychological process of thinking; and, finally, that the only proper method for analysing thought consists in the analysis of language. As I have argued, the acceptance of these three tenets is common to the entire analytical school; but, during the interval between FREGE'S time and now, there have been within that school many somewhat wayward misinterpretations and distortions of FREGE'S basic teaching, and it has taken nearly a half-century since his death for us to apprehend clearly what the real task of philosophy, as conceived by him, involves.

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I know that it is reasonable to greet all such claims with scepticism, since they have been made many times before in the history of philosophy. Just because the scandal caused by philosophy's lack of a systematic methodology has persisted for so long, it has been a constant preoccupation of philosophers to remedy that lack, and a repeated Illusion that they had succeeded in doing so. HUSSERL believed passionately that he at last held the key which would unlock every philosophical door; the disciples of KANT ascribed to him the achievement of at last devising a correct philosophical methodology; SPINOZA believed that he was doing for philosophy what EUCLID had done for geometry; and, before him, DESCARTES supposed that he had uncovered the one and only proper philosophical method. I have mentioned only a few of many examples of this Illusion; for any Outsider to philosophy, by far the safest bet would be that I was suffering from a similar Illusion in making the same claim for FREGE. To this I can offer only the banal reply which any prophet has to make to any sceptic: time will teil.

JULES VUILLEMIN (PARIS)

DE LA PHILOSOPHIE ANALYTIQUE Ä L'IDEE D'UN SYSTEME CRITIQUE

Comme Pont dit ses createurs, RUSSELL et MOORE, la philosophie analytique naquit d'une revolte contre Hegel. Si le vrai c'est le tout, il parait impossible d'atteindre une seule certitude theorique ou pratique. Comment, en effet, connaitre la verite d'une proposition finie isolee et comment, dans le dedale de la vie, marcher d'un pas ferme et assure? En particulier, pour nous bomer comme nous le ferons ici a la theorie de la connaissance, une fois pose que toute assertion finie contient quelque faussete, dont la marque visible nous force ä passer a quelqu'autre assertion propre ä nier et ä conserver la premiere en la limitant jusqu'ä ce que nous parvenions ä l'infinite de l'esprit absolu, les Sciences, telles que nous les pratiquons, les mathematiques et la physique, doivent etre ravalees au rang de vues finies et exterieures prises sur les manifestations d'un esprit qui les depasse et qui les fonde. A la fin du XIXe siede, l'etat de la connaissance scientifique plaide decidement contre une teile conception. Pour qui, sur les bords de la Cam, medite sur la theorie CANXORienne des ensembles et sur la mecanique de HERTZ, cette connaissance vient d'etablir une unite qui avait jusqu'ici defie les efforts et peut-etre les reves. Et comme eile l'a fait sans rien emprunter ä l'Absolu ou ä la preuve ontologique, on peut dire, ä la fa^on de WITTGENSTEIN, qu'elle assure elle-meme ses propres fondements.

Qu'on relise les derniers chapitres des Principles of mathematics de 1902. En face du dogmatisme et de l'encyclopedie de Hegel, la description orgueilleuse et epique des Sciences rationnelles foumit un autre Systeme dogmatique et encyclopedique. Dans les deux cas, la logique est promue au rang de sdence fundamentale et de Science nouvelle par rapport a la syllogistique d'ARiSTOTE. Mais, extension inattendue de la logique formelle au domaine des mathematiques tout entieres, la logique RUSSELLienne fait l'economie de ce que les bons esprits tiennent pour inacceptable dans la logique hegelienne, cette contradiction, principe moteur dans la construction du concept vivant de l'Absolu.

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On examinera comment la philosophie analytique s'est d'abord exprimee sous la forme d'un dogmatisme logique, substitut scientifique du dogmatisme hegelien. On montrera ensuite comment les difficultes internes du Systeme ont fourni l'occasion de mettre en doute ses postulats fondamentaux et de donner une Version sceptique de la philosophie analytique. De la reflexion sur cette evolution naitra enfin l'idee d'un Systeme proprement critique. I. La Version dogmatique

Quelles que soient les differences qui les opposent quant ä la nature de la logique, RUSSELL et Hegel s'accordent pour reconnaitre son caractere absolu. Aucune reflexion, qu'elle soit subjective ä la fa^on de la reflexion transcendantale, ou objective ä la fa^on d'un meta-langage, n'a ä critiquer ou ä fonder de l'exterieur la seule Science qui, puisqu'elle fournit ä la raison son outil propre, la demonstration, releve exclusivement de ses seules lumieres. Subjectivisme et formalisme commettent la meme erreur ou plutöt le meme cercle, en pretendant assigner une methode ä la pensee qui definit la methode meme. On a reproche ä RUSSELL de confondre parfois l'usage et la mention des termes. C'est qu'en realite, une fois purifie de ses elements adventices, le corps des propositions logiques ne doit contenir auame mention et les termes qui ne servent d'ailleurs qu'ä communiquer les manifestations de la raison en acte n'y figurent que par l'usage. Une fois la logique mathematique substituee ä l'inquietude du concept pour determiner cette raison en acte, le programme logiciste se trouve completement assigne. Toutes les mathematiques devront etre reduites ä la logique. Leurs concepts devront etre definis et leurs theoremes devront etre demontres en fonction d'un petit nombre de concepts et d'axiomes immediatement per^us ou re^us en vertu de leur seule forme. On ecartera tout fondement extra-logique qui emprunterait des lumieres aux formes exterieures du langage ou aux formes interieures d'une intuition specifique. Aucune experience, qu'elle soit celle de signes formeis ou d'operations mentales, ne doit se meler ä la productivite de la logique pure. Cette distinction tranchee entre logique et experience constitue le Premier dogme de la philosophie analytique. Les analystes du XlXeme siede avaient fourni le paradigme pour cette reduction logiciste des concepts, lorsqu'ils avaient defini les nombres reels comme des ensembles de nombres rationnels soumis a des conditions

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n'enveloppant elles-memes que des nombres rationnels. Ils avaient ensuite reduit les nombres rationnels a certains ensembles de nombres naturels, puls les nombres naturels eux-memes ä certains ensembles d'ensembles. Qu'elles appartiennent ä l'analyse ou ä l'arithmetique, on peut donc definir logiquement toutes les entites mathematiques, ä condition de recevoir la notion d'ensemble parmi les entites fondamentales de la logique. Cette condition remplie, il est en effet possible de reduire ä des definitions explicites les definitions par induction complete, specifiques^ selon PoiNCARE, des syntheses a priori arithmetiques. II est possible egalement de reduire ä des definitions non-contextuelles et nominales les definitions contextuelles et creatives — autrement dit formalistes —, dont PEANO venait de formuler la theorie. Selon PEANO, la direction de a est identique ä la direction de b si et seulement si a et b sont des droites paralleles d'un meme plan, et le nombre Cardinal de a est identique au nombre Cardinal de b si et seulement si a et b sont deux ensembles qui peuvent etre mis en correspondance bi-univoque. De telles definitions ne permettent pas d'isoler les expressions: „la direction de a" ou „le nombre Cardinal de a" hors des contextes d'identite ou elles figurent. Mais, avec RUSSELL, recevons le concept d'ensemble parmi les entites logiques fondamentales. La direction de a ou le nombre Cardinal de a se reduiront alors ä l'ensemble de toutes les droites parallMes ä a ou ä l'ensemble de tous les ensembles equipotents avec a. Et tout surplus linguistique propre ä distinguer les concepts mathematiques des concepts logiques aura donc disparu. Quant aux principes necessaires pour fonder les mathematiques, il semble aise de les determiner, puisqui'ils ne font qu'exprimer les possibilites dont la logique dispose pour mettre en relation ses propres entites, c'est-ä-dire pour en faire des propositions. On distinguera ceux qui gouvernent les relations entre les propositions considerees independamment les unes des autres, ceux qui reglent leur analyse en elements et ceux que requiert la formation d'ensembles de tels elements. Les premiers ont trait ä la simple coordination. Les seconds, qui portent sur la quantification, se reduisent ä preciser les conditions de validite de la generalisation et de l'instantiation. Les demiers precisent l'usage du mot „ensemble" et tiennent dans deux propositions evidentes, le principe d'extensionalite qui dit deux ensembles identiques quand ils ont memes elements, et le principe de comprehension, selon lequel toute condition ä laquelle obeit ime entite determine l'appartenance de cette entite ä un ensemble. La decouverte de l'antinomie de l'ensemble de tous les ensembles nonelements d'eux-memes vint bouleverser l'edifice et concentrer le doute

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sur ce demier principe. RUSSELL examina, pour les ecarter, deux Solutions de ce doute, qui evoquent les deux versions fondamentales de la theorie axiomatique des ensembles. ^ Developpees systematiquement, ces Solutions auraient conduit ä definir implicitement la notion d'ensemble, ä revenir ainsi ä PEANO et ä abandonner le logicisme au profit du formalisme. Si cependant, pour RUSSELL, l'antinomie ne detruit pas la philosophie analytique en son principe, c'est qu'elle repose precisement sur une construction linguistique et formaliste incompatible avec l'evidence logique authentiquement consultee. Lorsque nous parlons d'un ensemble element ou non-element de lui-meme, cette evidence nous avertit que nous formons un signe depourvu de sens et que Tantinomie s'explique donc parce que nous avons implicitement viole les regles qui gouvernent l'ecriture des expressions bien formees correspondant aux concepts logiques authentiques. La sui-reflexivite, qui permettrait, en effet, de prediquer une propriete d'elle-meme, n'est qu'une illusion verbale, si la predication exige que la propriete prediquee d'un objet n'appartienne pas au meme type logique que ce demier, puisqu'en tant qu'universel eile sert precisement a subsumer des individus au nombre desquels eile ne saurait figurer. Pour etre legitime, la predication doit donc obeir au principe du cercle vicieux, qui repartit les fonctions dans une hierarchie complexe, en leur assignant un ordre qui depend a la fois de l'ordre de leurs arguments et de l'ordre des fonctions qui entrent dans leur definition par le moyen de la quantification. Que cette theorie ramifiee des types resulte d'un principe logique fondamental et non d'une Convention introduite ad hoc c'est ce que montre l'analogie et la liaison entre deux formes de l'analyse. Une premiere forme permet d'eliminer les descriptions definies. On reduira l'enonce disant que l'individu ayant la propriete P a la propriete Q ä la conjonction des enonces: „II y a au moins un individu ayant la propriete P", „il y a au plus un individu ayant la propriete P", et „tout individu ayant la propriete P a la propriete Q", ou chacun de ces enonces est necessairement vrai ou faux. De meme, l'enonce disant que l'ensemble des individus ayant la propriete P a la propriete Q pourra s'analyser dans l'equivalence suivante: „tous les individus ont une certaine propriete R lorsque et seulement lorsqu'ils ont la propriete P et que la propriete P elle-meme a la propriete Q". Cette seconde forme de l'analyse elimine les ensembles et 1 B. Russell: On some Difficulties in the Theory of transfinite Numbers and Order Types. Proceedings of the London Mathematical Society. Second Series. Vol. 4 (1907), 29—53.

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previent la formation d'expressions sui-reflexives depourvues de signification, puisqu'on ne pourrait assigner la valeur d'aucune fonction R si Ton substituait dans Q cette meme fonction Q ä la place de son argument P. Certes l'analyse porte dorenavant sur la signification des expressions et non plus sur la verite des enonces^ mais les expressions des fonctions ne sont, ä leur tour, acceptables que si la proposition derivee de la fonction equivalente qui les traduit en eliminant le Symbole de classe ou bien est immediatement vraie comme il arrive pour les fonctions predicatives, ou bien le devient par le moyen d'un axiome plausible de reductibilite comme c'est le cas pour toutes les fonctions non-predicatives recevables. La theorie ramifiee des classes n'est donc qu'une theorie „pas de classe", en vertu de laquelle „toutes les propositions signifiantes touchant les classes peuvent etre regardees comme des propositions concernant tous ou quelques-uns de leurs elements". ^ Une fois elimines de la predication les deux sortes de pseudo-sujets; description definies et classes, les enonces restants porteront sur des individus. Lorsque ces demiers sont denotes par le moyen de la quantification, notre connaissance est encore dite par description, particuliere ou universelle. Ce n'est que lorsque toute construction logique a disparu et que le sujet de la predication exprime directement l'experience que nous connaissons par contact. Alors les atomes empiriques se degagent de la langue logique et portent immediatement temoignage de la verite des enonces dans lesquels ils figurent. Tel est le cas d'un enonce elementaire tel que „j'ai chaud". Au premier dogme caracteristique de la philosophie analytique, qui assurait la reductibilite des mathematiques ä la seule logique, purifiee de tout element emprunte a l'experience, s'en ajoute un second: les verites d'experience peuvent etre separees de tout element descriptif et donc etre reduites ä des contacts empiriques purs. C'est par ce second dogme que la philosophie analytique se rattache ä HUME et rejette toute necessite hors de l'experience pour la reserver ä la logique. Contre LEIBNIZ et Hegel, qui tendent a effacer la distinction de principe entre les verites de fait et les verites de raison, RUSSELL rappelle le principe des relations externes. Logiquement, ce principe maintient l'irreductibilite du calcul des relations au calcul des predicats monadiques. Metaphysiquement, il signifie que, loin d'avoir ä etre assimilees ä des proprietes des substances, les relations pourront desormais se substituer ä ces dernieres, entendues comme faisceaux de relations. Selon LEIBNIZ, 2 B. Russell: Les Paradoxes de la Logique. Revue de Metaphysique et de Morale. Vol. 14 (1906), 636.

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lorsqu'un Komme vivant en Europe vient ä perdre, sans en etre averti, sa femme vivant aux Indes, il subit un changement intrinseque ä l'instant de cette mort. C'est ä la substance des monades, etrangeres ä l'espace et au temps, ä fonder reellement l'individuation, que les relations de coexistence et de succession ne font qu'expliciter idealement. Deux choses distinctes dans l'espace et le temps sont donc analytiquement differentes en vertu d'xme distinction metaphysique qui leur vient de leur indiscemabilite substantielle. Concevons, en revanche, toute substance pretendüment permanente comme une construction logique impliquant l'heredite relative d'un faisceau de qualites. L'ordre externe des relations absorbera l'obscurite et l'interiorite de la predication et les evenements sensibles qui constituent les moments de l'espace-temps substitueront a l'identite metaphysique des substances des suites phenomenales de faits atomiques, ou meme l'individuation qui resulte de l'ordre n'aura qu'une valeur presomptive et probable. D'analytique, la difference entre deux choses situees differemment deviendra synthetique. Le Programme de la Constitution du monde sensible se trouve ainsi trace. Pour reduire une experience complexe, c'est-ä-dire melee ä des descriptions, l'analyse devra montrer comment on peut la construire logiquement ä partir de faits foumis par la perception directe ou par sa rememoration. Considerons, par exemple, les concepts et les propositions de la geometrie. Quand nous disons qu'une sphere a teile ou teile propriete, le sujet de notre enonce, la sphere, peut etre reconstruit ä partir d'une „abstraction extensive", puisqu'il represente un ensemble convergent de certaines entites sensibles, les boules materielles, lesquelles seules sont accessibles aux sens et doivent seules devenir le sujet ultime de notre discours. Des notions telles que l'espace et le temps, la matiere et le moi peuvent etre ainsi analysees, en termes de constructions logiques fondees sur quelques donnees empiriques ultimes. Ce que les Principia mathematica avaient ete au programme logiciste, l'ouvrage de CARNAP La construction logique du monde le fut au programme empirique, la seule donnee sensible retenue etant la ressemblance memorielle. Les deux dogmes explidtes de la philosophie analytique, logicisme et empirisme, n'epuisent pas cependant son contenu dogmatique. Comme le prouvent en effet les exemples choisis et l'ampleur des programmes, cette Philosophie a les memes pretentions universelle et encyclopedique que le hegelianisme. Elle fournit une methode uniforme, l'analyse, qui permet, une fois etablis les concepts et les principes logiques ainsi que les donnees empiriques fundamentales, de reconstruire l'univers, en rejetant dans les illusions subjectives tout ce qui echappe ä la reconstruction. Deux dogmes

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implicites viennent ainsi preciser le champ d'action des deux dogmes explicites. 1°) L'univocite de Tanalyse entraine l'unidte de la construction logique. A la difference des methodes axiomatiques et intuitionnistes^ la theorie ramifiee des types foumit la seule solution naturelle et logique aux difficultes propres ä la theorie naive des ensembles. 2°) La Constitution est universelle. Elle s'applique egalement au langage commun et au langage scientifique: l'article defini a le meme sens et la meme fonction lorsque je dis que le present roi de France est chauve ou que la racine carree de -1 est un nombre imaginaire. Elle est encore identique pour la perception et pour la Science: la chose perfue et l'objet physique sont deux lectures differentes d'ensembles d'apparences^ la premiere formant rensemble des perspectives ou contenus d'un point de vue, le second formant l'ensemble des vues ou contenus d'un tableau. ® Les deux dogmes explicites definissent la nature de la methode analytique dans son application logique et empirique. Ils font de la philosophie analytique un Systeme methodique. Les deux dogmes implicites en fixent la validite et l'etendue. Ce sont eux qui la transforment en un Systeme dogmatique ä proprement parier, qu'on caracterise justement par l'atomisme logique. II. La Version sceptique Le developpement de la philosophie analytique illustre bien comment le scepticisme accompagne inevitablement le dogmatisme comme son ombre. La theorie ramifiee des types pretendait exprimer nos intuitions logiques naturelles. Mais connaissons-nous cette nature? En demontrant que l'ensemble des parties d'un ensemble est plus grand que cet ensemble, le theoreme de CANTOR viole la regle des types. N'est-il pas aussi plausible qu'elle? Surtout, deux axiomes sont requis des que la theorie des types doit acquerir meme puissance que la theorie des ensembles. Ils font voir qu'il est impossible de separer logique et experience externe ou interne, contrairement au premier dogme explicite de la philosophie analytique. L'axiome de l'infini, necessaire pour distinguer un nombre de son successeur, est un enonce sur le monde, qui mele donc logique et experience externe. L'axiome de reductibilite, necessaire pour engendrer, comme B. Russell: Mysticism and Logic and other Essays. 158—161. (cf. ]. Vuillemin: La logique et le monde sensible. Flammarion. 1971. 108 sq.) *

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l'exige l'analyse, des ensembles ä partir de fonctions non-predicatives, nous pennet de postuler ce que nous ne pouvons pas definir, et mele donc logique et epistemologie. Comme les definitions peuvent etre regardees comme une affaire de notations^ cette demiere confusion revient ä celle de l'usage et de la mention des tennes, de la logique et du langage. Mais si l'ordre d'une fonction n'a trait qu'ä la notation, on est en droit d'abandonner toutes les fonctions non-predicatives, qui ne different que linguistiquement, et, avec eiles, l'axiome de reductibilite. Une fois les ordres disparus, rien n'oblige enfin ä retenir les types des fonctions predicatives. Les types sui-referentiels etaient interdits en vertu d'une regle controlant la signification des expressions. Mais on peut, avec QUINE, traduire la theorie simple des types con^ue comme une theorie ä plusieurs sortes de variables en une theorie maintenant des types de classes mais n'admettant que des variables universelles. Des deux methodes d'analyse qui se fondent l'une sur la verite, l'autre sur la signification, la seconde se reduit alors ä la premiere. ^ Ces modifications une fois admises, le premier dogme explicite, celui du logicisme, doit etre formule d'une faqon nouvelle. Ce n'est plus la logique, c'est le langage formel propre ä l'exprimer qu'on declare independant de l'experience. Ce sont les enonces de ce langage qu'on declare analytiquement vrais. Mais, ainsi formule, le dogme est intenable. La theorie de la demonstration a prouve, en effet, que seul le calcul des enonces admet un procede de decision general qui permet d'affirmer si une formule donnee est ou n'est pas une tautologie. La logique generale du premier ordre, bien que complete, n'admettant pas de procede de decision general, on ne voit plus comment caracteriser ses enonces, au point de vue logique. Quant ä la logique du second ordre, eile est incomplete, et declarer ses enonces analytiques ne retiendrait aucun des criteres classi* Cette critique et ces corrections apportees ä la theorie de Russell sont dues ä Quine (Set Theory and its Logic, Cambridge, Mass. 2. ed. 1969. 245, 252—259 et § 38; Russell's ontological development. The Journal of Philosophy. Vol. 63. 657—667). Cette critique et ces corrections, pour plausibles qu'elles soient, ne laissent pas de gauchir les intentions de Russell. En fait, ce que la theorie ramifiee des types a introduit dans le logicisme, c'est non pas la consideration d'entites linguistiques, mais celle d'entites epistemologiques (sur ce point. J. Vuillemin: On Russell's Principia Mathematica. Revue internationale de Philosophie. N° 102. 1972. Fas. 4. 534—556). Toutefois la rmnterpretation historique des Principia Mathematica ne changerait rien ä l'impossibilite intrinseque du Programme logiciste, qu'on critiquerait alors pour avoir mele epistemologie et logique plutot que linguistique et logique. Mais je ne connais pas d'application de la methode sceptique en un sens epistemologique, qu'on puisse comparer, pour la precision et pour l'ampleur, ä celle faite par Quine en un sens linguistique.

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ques qu'ARiSTOTE et KANT avaient, d'emblee, circonscrits au domaine de la syllogistique. Ce qui vicie le Programme logiciste^ c'est que, lorsqu'on reduit une entite complexe ä un ensemble d'entites simples, le cadre de reduction introduit dans la definition des proprietes formelles inattendues et incompatibles avec une demarcation claire entre enonces analytiques et synthetiques. Le Programme echoue des qu'on traduit „analytique" par „mecaniquement decidable". Les mathematiques se reduisent ä la theorie des ensembles, mais si les enonces logiques ont en propre d'etre tautologiques, la theorie des ensembles ne se reduit certainement pas ä la logique. Les doutes sur le premier dogme explicite ne se separent pas des doutes sur le second dogme. Car si l'on passe continüment des enonces synthetiques aux enonces analytiques, on ne rencontrera nulle part de Separation tranchee entre experience et theorie. Que signifie „Je" dans l'enonce „J'ai chaud"? Et comment limiter les propositions empiriques elementaires aux connaissances par contact, si, comme le requiert toute Constitution du monde sensible, nous devons pouvoir tenir compte de l'experience d'autrui et des faits qui ne tombent sous le coup d'aucune perception, c'est-ä-dire d'enonces ou des inferences viennent meler au contact brut d'inevitables descriptions? La coordination bi-univoque, proclamee par le second dogme, entre concepts ou propositions empiriques elementaires et contacts empiriques purs fait donc defaut. Les propositions empiriques sont sous-determinees eu egard aux observations, comme les enonces mathematiques le sont relativement ä leur traduction dans une theorie rivale ou comme les enonces de la langue commune le sont relativement a leur interpretation dans les autres langues. La these sceptique de DUHEMQUINE, en vertu de laquelle on ne peut decider de la verite ou de la faussete d'aucune hypothese isolee, est donc la contrepartie de la these sceptique mettant en cause le caractere absolu et pur du langage logique. La Philosophie analytique dogmatique etait nee du refus de voir les verites isolees se dissoudre dans le tout d'une theorie indeterminee puisque changeant Sans cesse. Un demi-siecle aura suffi pour lui faire retrouver, exprime dans le langage positiviste, le meme ferment hegelien de dissolution. Ainsi, toute verite finie particuliere n'est qu'un decoupage subjectif, plus ou moins commode, que nous pratiquons dans une totalite, seule digne qu'on lui attribue l'etre. Le hegelianisme masquait le scepticisme derriere 1'Absolu. Le masque tombe, le pragmatisme ne se distingue plus du scepticisme, d'un scepticisme du moins qui compose avec les contraintes pratiques de la vie sociale et scientifique.

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S'ils ruinent les dogmes explicites du dogmatisme, les doutes sceptiques ne touchent pas ä ses dogmes implicites. A premiere vue, on prend acte de la pluralite des methodes de reconstruction qui s'est substituee ä l'unicite de l'analyse. Or on avait reconnu que les enonces mathematiques, dans la mesure oü ils ne peuvent pas etre dits analytiques, entrament des engagements ontologiques concemant les entites qui servent de variables de quantification, une langue, des qu'elle devient assez riebe, ne pouvant etre separee de la realite qu'elle decrit. Mais, des lors que sont possibles plusieurs langues, les engagements qui sont propres ä Tune d'elles et les traductions qu'on y fera des autres langues perdront toute validite generale. Ainsi l'appareil de la quantification objective et de l'identite n'est que subjectivement determine, en sorte qu'il y aura inscrutabilite de la reference et relativite ontologique complete. Cependant, si la pluralite des langues relativise Tontologie au point de mettre en cause certains des arguments qu'on avait fait valoir pour critiquer la distinction entre analytique et synthetique, eile n'est ni acceptee, ni analysee pour elle-meme. Dans la mesure ou l'on ne parvient pas ä traduire, au moins partiellement, ces langues dans le formalisme de la quantification objective — comme on le fait pour la quantification substitutive quand on la traduit en termes de quantification sur des noms —, elles demeurent des enigmes depourvues de finalite propre et de sens, bornes inintelligibles placees aux confins de l'unique analyse qui soit reconnue comme operante bien que relative. Quant ä l'universalite de cette analyse, les incertitudes que revele la Constitution du monde sensible ne parviennent pas ä la mettre en doute. Ces incertitudes sont liees ä l'inexactitude des concepts empiriques et particulierement au defaut de transitivite qui s'attache ä la relation de ressemblance memorielle, quand on fonde la Constitution sur cette relation. La seule consequence, toutefois, qu'on tire de ces difficultes est de corriger localement l'analyse ou d'accuser le phenomenalisme inherent aux Premiers essais de Constitution. Faisons alors l'economie de la notion d'apparence subjective, de toute faqion impropre ä etre formulee. Partons du comportement dans la mesure oü il est simultanement mot et ob]et, langage et experience, signification et Stimulus. On verra emerger peu ä peu de l'analyse les concepts fondamentaux de la Psychologie, du langage ordinaire et du langage scientifique. Les Sciences, comme l'univers, sont soumis au principe de continuite, et c'est ce principe qui garantit l'universalite de l'analyse, depuis les constatations empiriques les plus concre-

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tes jusqu'aux theories les plus abstraites, depuis les „faits" de la pychologie jusqu'aux „principes" de la logique. III. L'idee d'un Systeme critique

La Philosophie analytique s'est donc trouvee irresistiblement portee ä nier les principes qui lui faisaient distinguer entre logique et Synthese comme entre verification empirique et theorie. A travers le conflit qui les oppose explicitemenL dogmatisme et scepticisme s'accordent toutefois tacitement ä maintenir l'unicite et l'universalite de la methode analytique entendue au sens de la construction logique. Une fois les evidences logiques rabaissees au rang d'enonces vrais en vertu de leur seule forme linguistique, le Programme logiciste est mis en doute, sans que la multiplicite presomptive d'autres langages possibles ait pourtant d'autre effet que de relativiser les engagements ontologiques propres au langage logiciste, seul idiome clair pour des traductions globales et toujours hypothetiques. Quant ä l'impossibilite d'isoler experience et theorie, eile distingue la Constitution pragmatiste que QUINE propose dans Word and Object et l'oppose ä la Constitution empiriste qu'avait tentee CARNAP dans Der logische Aufbau der Welt, mais, comme le dogme qu'elle combat, eile est suposee s'appliquer egalement ä la perception dans son rapport avec le langage commun ou ä l'experimentation dans son rapport avec la theorie physique. Or ce sont les deux dogmes implicites de l'unicite et de l'universalite

qui imposent ä la philosophie analytique la forme d'un Systeme lineaire, decalque des systemes hypothetico-deductifs de la Science, quelque paradoxale que soit cette expression quand on l'applique ä la Version sceptique de l'analyse. Si l'on excepte le substitut formaliste de la traduction, la reflexion n'a pas sa place ici et l'on ne retrouve rien qui evoque les architectoniques des philosophes classiques, la composition en profondeur de systemes, oü la reflexion retrouve des desseins analogues et distincts sur les plans differents ici du phenomene et de l'etre, lä de la series et du nexus, lä encore de la connaissance, de l'action et de la reflexion meme. Et l'on peut douter que le besoin de profondeur se redidse ä une nostalgie subjective, lorsqu'on en retrouve la trace dans certains travaux analytiques comme ceux de M. GOODMAN: la comparaison cherche alors ä peser les merites respectifs tantöt d'un calcul nominaliste des individus et de la theorie des ensembles, tantöt de teile ou teile Constitution selon qu'on

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y pari de principes concrets ou abstraits, particuliers ou universels, phenomenaux ou physicalistes. Tirons la morale de ces essais. Puisque les antinomies admettent plusieurs Solutions dont aucune n'a le privilege d'etre naturelle, abandonnons le dogme de l'unicite de l'analyse et reflecbissons sur la pluralite des fondements possibles des mathematiques en nous enquerant de la teleologie propre ä chacun d'eux, je veux dire en examinant comment notre preference, exclusive quand un choix devient inevitable, s'attache ä l'un des divers aspects de la perfection que la raison propose. Efficacite et simplicite demande la theorie classique; effectuabilite et controle exige l'intuitionnisme. Approprions-nous d'autre part les critiques que la philosophie analytique des langues naturelles n'a cesse d'adresser ä la philosophie analytique du langage scientifique, en montrant la specificite des premieres. Gardons-nous, ce faisant, de ressusciter le dogme de l'universalite en imaginant de reduire la specificite du second. Reconnaissons que la perception, la langue commune, la physique poursuivent des fins differentes avec des methodes differentes et doivent etre jugees selon des criteres propres. Le sceptique imposait du dehors ä la connaissance des criteres pretendument universels qu'il empruntait en fait ä un domaine particulier. En revanche, nos doutes sur les dogmes implicites de l'analyse sont critiques, puisque, partant de la connaissance teile qu'elle est et non pas teile qu'elle devrait etre, c'est ä ses differents langages et ä ses differents champs que nous empruntons les criteres de la verite. Mais, en brisant l'unite des cadres de reference, ces doutes critiques brisent egalement l'unite des dogmes explicites et de la negation qu'on leur opposait. Y a-t-il coupure ou continuite entre analyse et synthese? De meme qu'un procede general de reduction des defirdtions recursives aux definitions explicites existe ou n'existe pas suivant qu'on se refere ä la theorie des ensembles ou ä la seule arithmetique, de meme un enonce devra etre considere comme analytique ou synthetique suivant la puissance du langage auquel on referera l'enonce, en sorte que la reponse dependra de la teleologie propre au cadre de reference. Y a-t-il coupure ou continuite entre experience et theorie? A ce dilemme, la philosophie critique opposera le principe de la specificite des niveaux. Car il n'y a pas de Statut unique des propositions empiriques et l'atome d'experience n'a pas le meme sens quand l'enonce qui l'exprime appartient ä une theorie physique d'autant plus parfaite qu'elle est plus vulnerable, ou ä la langue commune, etrangere, par nature, ä l'esprit de falsifiabilite systematique de la Science.

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Conclusion II resterait, pour conclure, ä examiner quel type de Systeme la philosophie critique qu'on propose requiert ou du moins tolere.

On a ecarte jusqu'ici aussi bien les architectoniques de type hegelien que les systemes lineaires et scientifiques de Tanalyse. Un Systeme philosophique est-il encore possible, une fois l'unidte et l'universalite de l'analyse remplacees par la pluralite des langages et l'autonomie des domaines? On pourrait en douter, si Ton reflechit aux architectoniques critiques que l'histoire nous presente, celles de DESCARTES ou de KANT, par exemple. Qu'elles se fondent sur la constructibilite intellectuelle de l'objet conformement au critere de la clarte et de la distinction, ou qu'elles soumettent cette constructibilite aux conditions sensibles de la possibilite de l'experience, ces entreprises supposent en effet qu'une Solution et une seule est valable pour resoudre les difficultes de la connaissance. En consequence, la possibilite de l'architectonique: la Superposition CARTEsienne des verites de la chose aux verites de la Science ou la superposition KANxienne des categories aux intuitions et des categories dynamiques aux categories mathematiques, cette possibilite depend expressement d'un choix primitif et injustifiable de la raison se bomant ä une forme de construction particuliere, qui, d'emblee, eliminerait par exemple en mathematiques la theorie impredicative des ensembles.

Mais supposons divers et multiples les desseins de la raison. Admettons que perception, langue ordinaire et Science obeissent ä des finalites etrangeres. Cessons de les subordonner les unes aux autres dans une serie simple comme de subordonner les principes de l'intuitionnisme mathematique ä ceux de la theorie classique des ensembles. Concevons les Premiers non comme une partie des seconds, mais comme un choix specifique. Alors se pose la question de savoir si la philosophie critique peut encore decrire le Systeme complet de ces intentions incompatibles de la connaissance. La reponse a une teile question releve de la reflexion et depasse les bornes de la philosophie analytique. On aura du moins montre, je l'espere, que ce sont les peripeties de cette philosophie qui l'ont posee.

HELMUT FAHRENBACH (TÜBINGEN)

SPRACHANALYSE IM RAHMEN SYSTEMATISCHER PHILOSOPHIE 1. Begriff und Status der Sprachphilosophie Trotz der zentralen Bedeutung, die der Sprachanalyse^ methodisch und sachlich in der gegenwärtigen Philosophie zukommt, kann man nicht sagen, daß ihr systematischer Ort im Rahmen der Philosophie bereits klar bestimmt sei. Dieser Tatbestand hängt systematisch gesehen sicher letztlich von der mangelnden bzw. divergenten Bestimmung des Philosophiebegriffs selbst ab, als Charakteristikum der Problemsituation beruht er jedoch zunächst darauf, daß inmitten der sprachtheoretischen Konjunktur kaum in hinreichend prinzipieller und umfassender Weise auf den Begriff der Sprachphilosophie oder auf den systematischen Zusammenhang von Philosophie und Sprachthematik reflektiert wird. So bleiben sowohl a) der Begriff der Sprachphilosophie als auch b) der Status der Sprachreflexion im Rahmen der Philosophie unklar, mehrdeutig und kontrovers. ® An diesen Punkten muß darum ein Klärungsversuch ansetzen. 1.1. Sprachphilosophie kann 1. als eine spezielle Disziplin der Philosophie neben anderen verstanden werden, die durch eine besondere thematische und methodische Einstellung zum Sachbereich ,Sprache' definiert und von der Sprachwissenschaft unterschieden sein soll, etwa durch die (phänomenologische) Frage nach dem „Wesen" (oder der „Konstitution", dem „Begriff") der Sprache, d. h. nach den grundlegenden und allgemeinen Bedingungen, Strukturen und Bezügen des Sprachphänomens. Eine solche Problemstellung ist heute thematisch aber kaum noch von der einer allgemeinen Sprachwissenschaft bzw. universalen linguistischen Sprach^ Der Begriff ,Sprachanalyse' wird hier in einem weiten Sinn und gleichbedeutend mit Sprachreflexion u. ä. gebraucht. In 3.11—3.13 wird eine Differenzierung der methodischen Ansätze und der thematischen Aspekte philosophischer Sprachanalyse skizziert. ^ Das ließe sich gerade auch an neueren divergierenden Bestimmungen des Begriffs der Sprachphilosophie zeigen — etwa an: W.P. Aisfon: Philosoph}/ of Language (1964); 7. J. Katz: Philosophie der Sprache (1970); J. R. Searle: Sprechakte (1971).

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theorie abzugrenzen und schon gar nicht abzulösen. Sprachphilosophie, so definiert, könnte nur noch im Konnex mit der allgemeinen Sprachtheorie ein spezifischer — etwa kritisch reflexiver — Sinn zukonunen. Wollte man diese thematisch notwendige Verbindung dadurch überschreiten, daß man die sprachphilosophische Thematik — über die sprachtheoretische hinausgehend — auf das Grundverhältnis von Mensch — Sprache — Wirklichkeit ausdehnte, dann würde damit — abgesehen von der sprachtheoretisch analogen Ausweitung zur „Pragmatik" — auch der Rahmen einer Sprachphilosophie als spezieller philosophischer Disziplin überschritten und der Boden einer fundamentalphilosophischen Sprachreflexion betreten. Als Konsequenz aus 1., d. h. der zumindest notwendigen Verknüpfung der Sprachphilosophie mit Sprachwissenschaft, kann Sprachphilosophie 2. überhaupt oder primär als Philosophie der Sprachwissenschaft, d. h. als deren wissenschaftstheore tische Reflexion oder Metatheorie aufgefaßt und betrieben werden. Als solche hätte sie — unter weitgehendem Verzicht auf einen thematisch und methodisch besonderen philosophischen Zugang zur Sprache — die kritische Überprüfung, Korrektur und Integration (einseitiger) linguistischer Perspektiven, Theoreme und Methoden zum Thema, d. h. so etwas wie die „Axiomatik der Sprachwissenschaft" (K. BüHLER). Dazu müßte sie freilich eine die verschiedenen linguistischen Perspektiven und Voraussetzungen umgreifende Hinsicht auf die Sprachthematik gewinnen, die sich aus den unterschiedlichen Aspekten der Linguistik nicht einfach zusammensetzen und folglich auch nicht aus einer analytischen Metatheorie der Sprachwissenschaft entwickeln und begründen läßt. Die für die wissenschaftstheoretische Reflexion der Linguistik nötige umfassendere Hinsicht auf die Sprache könnte dann als spiadiphilosophisch angesehen werden. Die Frage bliebe freilich, wie jene sprachphilosophischen Gesichtspunkte gewonnen und als solche ausgewiesen werden können. Zunächst ist jedoch festzuhalten, daß die unter 1. und 2. skizzierten Möglichkeiten offenbar nur zusammen, d. h. im Wechselbezug eine spezielle Sprachphilosophie konstituieren könnten, die — im Grenzgebiet von Philosophie und Linguistik — Sprache und Sprachwissenschaft unter thematisch umfassenderen und grundlegenderen „philosophischen" Gesichtspunkten als die Linguistik zum „Gegenstand" hätte. Die Bestimmung und Ausweisung der sprach-philosophischen Gesichtspunkte bzw. eines genuinen Begriffs spezieller Sprachphilosophie könnte freilich nur im Rückgriff auf eine zugrunde gelegte Philosophiekonzeption und die aus ihr begründbaren Hinsichten auf das Sprachthema erfolgen. Somit führen schon die Begriffe spezieller Sprachphilosophie (seien sie nun phänomenologisch di-

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rekt oder wissenschaftstheoretisch indirekt gegenstandsbezogen konzipiert) auf die Ebene des Grundverhältnisses von Philosophie und Sprachthematik und seiner Klärung. Für die gegenwärtige Problemlage der Philosophie ist es überdies kennzeichnend, daß sie den Begriff der Sprachphilosophie als einer speziellen Disziplin als prinzipiell unzureichend erwiesen und demgegenüber den Begriff einer „fundamentalen Sprachphilosophie" erforderlich gemacht hat, demgemäß Sprachphilosophie 3. als eine Grundlagenthematik der Philosophie überhaupt verstanden wird. ® Die fundamentaler gefaßte Konzeption von Sprachphilosophie wird vor allem durch folgende Tatbestände motiviert: 1. die zunehmende Einsicht in die methodische Notwendigkeit der begriffsanalytischen und sprachkritischen Reflexion aller Problemstellungen der Philosophie; 2. die stärkere sachliche Verknüpfung einer Reihe grundlegender philosophischer Problemkomplexe mit dem Sprachthema (etwa der Logik, Erkenntnistheorie, Anthropologie, Gesellschaftstheorie); 3. die Ausbildung philosophischer Positionen, in denen das Sprachthema als Grundlagenreflexion der Philosophie in theoretischer und praktischer Hinsicht angesetzt wird (das ist in sprachanalytischer bzw. -konstruktiver, hermeneutischer und — im weiteren Sinn — transzendentalphilosophischer Ausrichtung geschehen). * Der Begriff fundamentaler Sprachphilosophie ist gegenüber den (direkt oder indirekt) vom Gegenstandsbezug her konzipierten Begriffen spezieller Sprachphilosophie methodisch-systematisch vor allem dadurch ausgezeichnet, daß er überhaupt nur vom Philosophiebegriff selbst (und dem darin gesetzten Bezug zur Sprachreflexion) her entworfen, aber auch begründet werden kann. Damit wird die Ebene der grundsätzlichen Beziehung zwischen Philosophie und Sprachanalyse, auf deren Erörterung die „philosophischen" Gesichtspunkte spezieller Sprachphilosophie bereits verwiesen hatten, explizit betreten. Freilich zeigen sich auf dieser prinzipiellen Ebene auch z. T. weitreichende Differenzen zwischen den Positionen fundamentaler Sprachphilosophie und vor allem gegenüber solchen Philosophiekonzeptionen, die der Sprachanalyse lediglich den Rang einer speziellen Thematik neben anderen einräumen. Diese Differenzen betreffen also den systematischen Status der Sprachphilosophie bzw. Sprachanalyse im Rahmen der Philosophie. ® Vgl. dazu K. O. Apel: Transformation der Philosophie. Frankfurt a. M. 1973; G. Jänoska: Die sprachlichen Grundlagen der Philosophie. Graz 1962; E. Heintel: Einführung in die Sprachphilosophie. Darmstadt 1972; H. Fahrenbach: Philosophie der Sprache. In: Theologische Rundschau. 35 (1970), Heft 4; 36 (1971), Heft 2 und 3; K. Lorenz: Elemente der Sprachkritik. Frankfurt a. M. 1970; H. Schnelle: Sprachphilosophie und Linguistik. Reinbek 1973. * Vgl. Anmerkung 3.

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1.2. Die Spannweite der Möglichkeiten, den systematischen Status der

Sprachanalyse im Rahmen der Philosophie überhaupt zu bestimmen, kann durch zwei extreme Positionen umgrenzt werden, nämlich 1. Sprachphilosophie bzw. Sprachanalyse lediglich als spezielle Thematik („Disziplin") bzw. als einen besonderen methodologischen Aspekt der Philosophie anzusehen — oder 2. Philosophie systematisch mit Sprachanalyse und Sprachkritik (sei diese nun deskriptiv oder konstruktiv angelegt) zusammenfallen zu lassen. Bleibt die erste Position ohne Zweifel unterhalb des Problemniveaus der gegenwärtigen Sprachreflexion als einer Grundlagenthematik der Philosophie, so reduziert die zweite auf diesem Niveau offenbar die Thematik und das Erkenntnisinteresse der Philosophie. Die verkürzende Identifikation der Philosophie mit Sprachanalyse bzw. Sprachkritik scheint vor allem ein Signum der sprachanalytischen Philosophie zu sein (und zwar sowohl der formalsprachlich als auch der umgangssprachlich orientierten Richtung), unbeschadet der Verdienste, die beide für eine methodische Neuorientierung der Philosophie aufzuweisen haben. Diese Kennzeichnung betrifft insbesondere den späten WITTGENSTEIN ® und seine Nachfolger, wenngleich einige von ihnen — etwa P. F. STRAWSON ® — versucht haben, die Sprachanalyse einem umfassenderen Rahmen philosophischer Problemstellungen einzuordnen, indem sie gleichsam WITTGENSTEINS Satz, daß die Sprachbeschreibungen ihr Licht, d. h. ihren Zweck von den philosophischen Problemen erhalten, von einem erweiterten Problembegriff aus eine systematische Wendung gaben. Die an den extremen Positionen feststellbare Reduktion oder Verfehlung entweder des Sprachbegriffs (in seiner philosophischen Relevanz) oder des Philosophiebegriffs läßt sich offenbar nur dadurch aufdecken imd aufheben, daß man den systematischen Status der Sprachthematik im Rahmen der Philosophie aufzuklären und zu bestimmen sucht. Eine solche Erörterung hätte zu klären, aus welchen Gründen und in welchem Sinn und Ausmaß Philosophie sachlich und methodisch Sprachreflexion (d. h. Sprachanalyse und Sprachkritik) einschließt oder gar durch sie erst kon® Siehe L. Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen. In; Schriften 1. Frankfurt a. M. 1960. Bes. §§ 90—133. * Vgl. P. F. Strawson: Construction and Analysis. In: The Revolution in Philosophy. Ed. by A. J. Ayer. London 1963. ’ Von E. Tugendhat ist inzwischen eine systematische Konzeption sprachanalytischer Philosophie entwickelt worden, in der die prinzipiellen Problemstellungen der Ontologie und Bewußtseinsphilosophie (als bisheriger Formen der „ersten Philosophie") methodisch kritisiert und zugleich auf sprachanalytischer Basis neu formuliert werden: Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische Philosophie. Frankfurt a. M. 1976.

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stituiert wird. Die Fragestellung nach den systematischen Bezügen zwischen Philosophie und Sprachanalyse kann freilich nur vom Begriff und Bezugsrahmen systematischer Philosophie her entwickelt und beantwortet werden. Obwohl für die Klärung des Grundverhältnisses von Philosophie und Sprachreflexion von den Positionen fimdamentaler Sprachphilosophie wesentliche Ansatz- und Gesichtspunkte beigebracht worden sind, die aufgenommen werden müssen, kann die systematische Erörterung doch nicht direkt an diese anschließen, weil sie systematische Differenzen in der Bestimmung jenes Grundverhältnisses enthalten. Diese betreffen zumeist alle drei Aspekte, die eine Position fundamentaler Sprachphilosophie konstituieren, nämlich: 1. den leitenden Begriff von Philosophie, d. h. die Auffassung von den grundlegenden Erkenntniszielen/Erkenntnisinteressen und Fragestellungen der Philosophie; 2. die Funktion der Sprachthematik, d. h. die Bestimmung des thematischen und methodischen Zusammenhangs von Philosophie und Sprachanalyse; und 3. die implizierte bzw. zugrunde gelegte Sprachtheorie, d. h. das maßgebende Verständnis der Sprache nach ihren wesentlichen Strukturen, Funktionen und Bezügen. Dabei liegen die systematisch entscheidenden Differenzen sicher im Felde des 2. Aspekts, die aber ihrerseits (ob explizit gemacht oder nicht) vom 1., d. h. der leitenden Philosophiekonzeption abhängen. Es ließe sich leicht zeigen, daß die Differenzen zwischen den Hauptpositionen fundamentaler Sprachphilosophie nicht etwa nur auf unterschiedlichen Sprachauffassungen beruhen, sondern letztlich auf verschiedenen Philosophiekonzeptionen und dem damit gesetzten Bezugsrahmen für die Sprachanalyse. So führen die mit Begriff und Status der Sprachphilosophie verbundenen Probleme der Klänmg des systematischen Zusammenhangs von Philosophie und Sprachanalyse auf die Notwendigkeit, den Begriff systematischer Philosophie zu umreißen, um den Ausgangspunkt und Bezugsrahmen für die Bestimmung des philosophischen Ortes und Ranges der Sprachthematik zu gewinnen. Im folgenden soll darum ein Ansatz exponiert werden, der, von einem regulativen Begriff systematischer Philosophie ausgehend, den systematischen Status der Sprachanalyse im Rahmen der Philosophie in einer Weise bestimmbar macht, daß die wesentlichen Gesichtspxmkte der differenten Positionen fimdamentaler Sprachphilosophie in ihm zur Geltung kommen können, und die grundsätzliche Frage, ob Sprachanalyse als Grundlagenthematik der Philosophie bzw. als ihr eigentlicher Gehalt oder doch nur als spezielle „Disziplin" zu gelten habe, nicht vorentschieden, sondern systematisch offengehalten, aber auch entscheidbar gemacht wird.

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2. Rahmenbestimmung systematischer Philosophie 2.1. ,Systematische Philosophie' wird im folgenden nicht nur gegen ein bloß historisch reproduzierendes Denken abgesetzt, sondern auch gegen eine ,Systemphilosophie', die als Universal- und Grundlagenwissenschaft beansprucht, die Totalität des Wissens nach seinen Prinzipien und sachlogischen Zusammenhängen zu entwickeln und darzustellen. Der Ausdruck ,systematisch' soll demgegenüber eine nach thematischen und methodischen Gesichtspunkten differenzierte und verbundene Formbestimmung philosophischer Reflexion bezeichnen, also eine im weiteren Sinne methodische Bestimmung; während die im Systembegriff stets mitgedachte inhaltliche Systematik von Sachbereichen und Disziplinen zumindest als sekundär und offen angesehen werden muß. Die systematische Form philosophischen Denkens und die Offenheit seiner materialen Systemansprüche läßt sich am ehesten über die Bestimmung philosophischer „Fragestellungen" kennzeichnen (und nicht im Ausgang von einem vorgängig festlegbaren „Sachbereich"). Diese Bestimmrmg ist Aufgabe eines regulativen Begriffs systematischer Philosophie, dessen Explikation die philosophischen Fragestellungen nach ihrer thematischen Differenzierung und Verweisung, ihrer methodischen Struktur und ihrem teleologischen Sinnzusammenhang umreißen und begründen müßte. Denn dies sind Grundbestimmungen systematischer und reflektierter Fragestellung überhaupt: es wird aus einem ihren Sinn/Zweck motivierenden Interesse — in bestimmter Weise — und in bestimmter thematischer Hinsicht nach etwas gefragt. Die angedeuteten Aspekte philosophischer Fragestellung können als die des motivierenden Interesses bzw. teleologischen Sinnes, der methodischen Form und der thematischen Hinsicht differenziert und als Reflexions- bzw. Erkenntnisinteresse, -form! -methode und -thematik der Philosophie bezeichnet werden. Der strukturelle Zusammenhang und die methodische Folge der Aspekte, die in verschiedenen Philosophiekonzeptionen auch unterschiedlich akzentuiert werden können, geben eigene systematische Probleme auf, deren Erörterung hier jedoch über die analytische Differenzierung und einige Hinweise auf Zusammenhänge hinaus nicht aufgenommen werden kann. Soll die Motivation philosophischen Fragens einsichtig werden, dann muß der Entwurf bei dem der philosophischen Reflexion zugrundeliegenden Erkenntnisinteresse ansetzen und über die Differenzierung der damit verbundenen sachlichen Reflexionsthematik zu den methodischen Bedingungen seiner Einlösung, d. h. zur Reflexionsform fortgehen. Festzuhalten aber ist auf jeden

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Fall, daß ein hinreichend differenzierter regulativer Begriff von Philosophie nach allen drei Aspekten bestimmt sein muß. Freilich werden dadurch lediglich die allgemeinsten (thematischen, methodischen und teleologischen) Gesichtspunkte philosophischer Reflexion bezeichnet, die für die verschiedenen konkreten Problemfelder spezifiziert werden müssen. In diesem Sinne ist von einem „regulativen" Begriff von Philosophie die Rede. Das schließt auch ein, daß die im folgenden gegebenen inhaltlichen Kennzeichnungen der Gesichtspunkte philosophischer Fragestellung den Charakter eines Entwurfs mit regulativer Funktion haben, d. h. daß sie prospektiv (programmatisch) leitende und zugleich hypothetische, d. h. noch zu bewährende und korrigierbare Bestimmungen darstellen. Als eine Grundbedingung ist jedoch festzuhalten, daß nicht von einer Philosophiekonzeption ausgegangen werden darf, die bereits inhaltlich und methodisch reduktive Vorentscheidungen enthält, sondern vielmehr ein thematisch möglichst umfassender, aber auch methodisch reflektierter Philosophiebegriff in Ansatz gebracht werden muß. Das ist auch im Hinblick auf seine Funktion als möglicher Bezugsrahmen für die Bestimmung des systematischen Status der Sprachanalyse im Rahmen systematischer Philosophie zu fordern. Der in Ansatz gebrachte regulative Begriff systematischer Philosophie muß die Reflexion auf die sprachlichen Aspekte des Philosophierens bzw. seine möglichen sprachlichen Grundlagen und Grenzen zulassen und darf sie nicht apriori verhindern oder vorentscheiden. Denn schließlich vollzieht sich das Philosophieren (wie alles Denken) im „Medium" der Sprache und läßt sich als eine vielleicht besondere Art des (reflexiven) Denkens erst in und an seinen sprachlichen Ausdrucksformen (Fragestellungen, Grundbegriffen, Argumentationsweisen u. a.) erfassen. Ein angemessener Begriff von Philosophie müßte also auch für mögliche rückläufige Korrekturen offenbleiben, die sich für ihn (d. h. für seine Festsetzungen) u. U. aus der Reflexion auf die sprachlichen Bedingungen des Philosophierens ergeben. Gleichwohl könnte eben eine solche Möglichkeit oder Notwendigkeit nur über die Klärung der systematischen Relevanz der sprachlichen Aspekte der Philosophie imd d. h. die Erörterung des Grundverhältnisses von Philosophie und Sprachreflexion ersichtlich werden, und dies wiederum erfordert den Ausgang von einem (möglichst umfassenden) regulativen Begriff von Philosophie. In einem solchen Rahmen würde die Frage, ob Sprachanalyse als Grundlagenthematik der Philosophie oder nur als spezielle sachliche oder methodologische Disziplin zu gelten habe, systematisch offengehalten und entscheidbar werden.

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2.2. Der im folgenden skizzierte regulative Begriff systematischer Philosophie schließt an die in der Transzendentalphilosophie (seit KANT und FICHTE) entwickelte Konzeption philosophischer Fragestellung an. Darin ist ein thematisch umfassender und methodisch reflektierter Begriff systematischen Philosophierens entworfen worden, dessen Sinnbestimmung im ethisch-praktischen Interesses der Vernunft festgemacht war. Der Anschluß an die Transzendentalphilosophie kann heute freilich nicht die einfache Wiederholung einer ihrer „klassischen" Positionen (von KANT bis HUSSERL) bedeuten, sondern lediglich die Grundorientierung am Entwurf transzendentalphilosophischer Reflexion (auf die strukturell-apriorischen Bedingungen der Möglichkeit und Gültigkeit menschlicher Erfahrung und Erkeimtnis in theoretischer und praktischer Hinsicht); eine Reflexion, die bereits manche methodische Veränderung und thematische Erweiterung im Hinblick auf historisch-gesellschaftliche, anthropologische und sprachliche Konstitutionsbedingungen möglicher Erfahrung und Erkenntnis erfahren und auch zu einer transzendentalphilosophischen Sprachreflexion geführt hat. ® In Orientierung am Entwurf transzendentalphilosophischer Problemstellung und im besonderen Hinblick auf die daran aufweisbaren systematischen Ansatzpunkte der Sprachthematik ® läßt sich der regulative Begriff systematischer Philosophie durch folgende Gnmdbestimmungen kennzeichnen: 2.21. Das dem philosophischen Fragen motivierend und sinngebend zugrundeliegende Erkenntnis- bzw. Reflexionsinteresse ist keineswegs „rein theoretischer", sondern praktisch vermittelter Art, sofern es durch das Vemunftinteresse des Menschen an möglichst umfassender und begründeter Erkeimtnis zum Zwecke seiner emanzipatorisch-praktisch relevanten Selbstverständigung und Handlungsorientierung in der Welt motiviert ist. KANT hat die „teleologische" Beziehung des Philosophierens im „Weltbegriff" der Philosophie zu fassen gesucht, nach dem der höchste Vernunftzweck der Philosophie überhaupt (also auch ihres „Schulbegriffs" als des „Systems der Erkeimtnis, die nur als Wissenschaft gesucht wird", Kritik der reinen Vernunft B 866) in ihrer „weltbürgerlichen Bedeutung" für das liegt, „was jedermann notwendig interessiert" (B 867 Anmerkung), weil es die Bestimmung des Menschen als Endzweck betrifft. Die Aus® Siehe die in Anm. 3 genannten Arbeiten von Apel, Fahrenbach, Heiniei. ® Es ließen sich weitere Ableitungen, etwa der „praktischen" und „anthropologischen" Thematik kennzeichnen. Näheres, auch zu den Voraussetzungen dieses Philosophiebegriffs und dem hier nicht thematisierten Verhältnis von Philosophie und Wissenschaft, siehe H. Fahrenbach: Zur Problemlage der Philosophie. Frankfurt a. M. 1975 (bes. 53 ff, 26 ff). Wesentliche Züge der im folgenden skizzierten Philosophiekonzeption verdanke ich den neueren Arbeiten von Jürgen Habermas.

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Zeichnung des Weltbegriffs der Philosophie bedeutet für KANT, daß die Philosophie der praktischen Vemtmft mit ihrer Beantwortung der Grundfrage: Was soll ich tun? — und deren Grundlagenfunktion für die weiteren Fragen: Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch? {Logik A 25) — nicht nur als besonderer (praktischer) Teil der Philosophie neben dem theoretischen bzw. spekulativen aufzufassen ist, sondern unter dem teleologischen Gesichtspunkt den Primat irmehat und als die eigentliche Realisierung des Sinnes bzw. der Idee der Philosophie zu gelten hat. Der Primat des praktischen Vernunftinteresses hebt freilich die Notwendigkeit theoretischer Fragestellungen für die methodisch-systematisch begründete Einlösung des philosophischen Erkenntnisinteresses nicht auf. Die erkenntniskritische Frage: Was kann ich wissen? — in der es um den Aufweis der Bedingimgen, Möglichkeiten und Grenzen objektiven und gültigen Wissens geht — ist vielmehr auch für KANT die theoretisch grundlegende, genuine und erste Frage philosophischer Reflexion, obwohl der Sinn der theoretischen Erkenntnis im Rahmen des letztlich praktischen Interesses der Vernunft bestimmt wird. In (xANTischer) Paraphrasierung eines Satzes von E. BLOCH ließe sich sagen: der (teleologische) „Primat" des praktischen Vemunftinteresses und einer vernunftbestimmten Praxis schließt das (methodologisch-erkenntniskritische) „Prius" der Theorie und die methodische Form der Philosophie (als „Wissenschaft") nicht aus, sondern ein, deim sie sind Bedingungen begründeter kritischer Erkenntnis — auch der praktischen Philosophie. Das praxisbezogene Erkenntnisinteresse der Philosophie muß also hinsichtlich der thematischen Aspekte und methodischen Bedingungen seiner Einlösung näher bestimmt werden, wenn ein auch nur allgemein differenzierter Philosophiebegriff Umrissen werden soll, der zudem die systematischen Ansatzpunkte der Sprachreflexion sehen läßt. 2.22. Die durch erkenntnistheoretische Probleme und Begründungsfragen motivierte Reflexionsthematik der Philosophie betrifft in ihrer transzendentalphilosophischen Orientierung vor allem Aufweis, Erörtenmg und Bestimmung der konstitutiven („apriorischen") Bedingungen lebensweltlicher Erfahrung und Praxis und der Kriterien gültiger Erkenntnis in theoretischer und praktischer Hinsicht, d. h. der strukturellen und normativen Prinzipien menschlichen Erkennens und Handelns. Man kann diese erkenntniskritische Thematik (mit APEL und HABERMAS) in die einer Konstitutionstheorie der Erfahrungswelt und Lebenspraxis und die einer wahrheitstheoretischen Geltungsreflexion von Erkenntnisansprüchen gliedern. Siehe K. O. Apel: Sprediakttheorie und transzendentale Spradipragmatik zur Frage der ethischen Normen (bes. die Einleitung). In: Spradipragmatik und Philoso-

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Die Konstitutionsthematik verlangt zunächst eine strukturell möglichst unreduzierte Analyse der konstitutiven Bedingungen und Strukturen menschlicher Welterfahrung und kommunikativer Praxis, d. h. des lebensweltlichen Bewußtseins nach seinen kognitiven und praktischen (interaktiven) Bezügen. Dieser Komplex umfaßt an Bewußtseinsmodi nicht nur das wahmehmungsbedingte „Realitätsbewußtsein", sondern auch das Phantasie- und handlungsbezogene „Möglichkeitsbewußtsein", an Erfahrungsdimensionen: sinnlich-gegenständliche und kommunikative Welt- und Selbsterfahiung und an erfahrungs- und handlungskonstitutiven Faktoren: kognitive Schemata (PIAGET), Interaktionsstrukturen und die sprachlichen Mittel der Verständigung (d. h. der Objektivation, Kommunikation und Reflexion von Erfahrungen und Intentionen). Eine solche sozialanthropologisch konkretisierte Konstitutionsanalyse der lebensweltlichen Erfahrung und Praxis hätte auf der Bezugsebene von Erfahrung, Handeln und Sprache anzusetzen imd die strukturellen und genetischen Beziehungen zwischen kognitiver, interaktiver und sprachlicher Kompetenz zu entwickeln. Aufgrund der zentralen Vermittlungsfunktion der Sprache für die Intelligibilität und Kommunizierbarkeit von Erfahrung und Handeln bzw. des für diese konstitutiven „Verstehens" könnte der gesamte Komplex als Thematik einer den Zusammenhang von (erfahrungs- und handlungsbezogenem) Verstehen und Sprache reflektierenden „Sprach-Anthropologie" gefaßt werden. Wenngleich die sprachanthropologische Konstitutionsanalyse von Erfahrung und Handeln für den erkenntnistheoretischen Ansatz einer transzendentalphilosophischen Problemstellung elementar und grundlegend ist, muß sie auf die im engeren Sinne sprach- und erkenntniskritische Ebene der wahrheitstheoretischen Geltungsreflexion von Erkermtnisansprüchen (vorwissenschaftlicher, wissenschaftlicher und philosophischer Art) hin überschritten werden, deren wahrheits- bzw. verifikationstheoretisches Kernstück heute eine auf die Logik theoretischer und praktischer Diskurse gestützte Konsensustheorie der Wahrheit sein könnte. Der prinzipiell phie. Hrsg. v. Apel. Frankfurt a. M. 1976; J. Habermas: Erkenntnis und Interesse. 3. Aufl. Frankfurt a. M. 1973 (bes. Nachwort 1973); ders.: Wahrheitstheorien. In: Wirklichkeit und Reflexion. W. Schulz zum 60. Geburtstag. Hrsg. v. H. Fahrenbach. Pfullingen 1973. Siehe Habermas in J. Habermas / N. Luhmann: Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie. Frankfurt a. M. 1971. Bes. 101 ff und 202 ff; ders.: Zur Entwicklung der Interaktionskompetenz. Manuskript MPI Starnberg. Siehe H. Fahrenbach: Zur Konzeption einer philosophischen Sprach-Anthropologie. In: Die Beziehung zwischen Arzt und Patient. Hrsg. v. S. Goeppert. München 1975. Siehe J. Habermas: Wahrheitstheorien (oben Anm. 10).

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umfassende Charakter der philosophischen Geltungsreflexion auf die Voraussetzungen imd Grenzen von Wissensansprüchen theoretischer und praktischer Art erfordert allerdings eine Erweiterung bzw. Radikalisierung der (sprachkritischen) Erkenntniskritik in Richtung auf Gesellschaftstheorie und Ideologiekritik, sofern sich die historisch-faktischen Voraussetzungen und Begrenzungen theoretisch und praktisch geltenden Wissens wesentlich im Rahmen seiner gesellschaftlichen Entstehungs- und Verwendungszusammenhänge bestimmen. Die Notwendigkeit einer Vermittlung der erkenntnis- und ideologiekritischen Perspektiven ergibt sich überdies aus dem zuhöchst praktischen Erkenntnisinteresse der Philosophie. Derm sofern dieses auf die Praxisvermittlung bzw. das Praktischwerden der Philosophie (MARX) im Sinne emanzipatorisch relevanter Bewußtseins- und Realitätsveränderung zielt, deren praktisch-kritische Intention im Kommunikationsmedium der Sprache ansetzen muß, wird auch eine sprachkritische Ideologiekritik notwendig, d. h. eine über die erkenntniskritische Thematik (im engeren Sinn) hinausgreifende Verschränkung von gesellschaftsbezogener Sprach- und Ideologiekritik. Eine solche Notwendigkeit ergibt sich auch aus dem methodischen Anspruch der Philosophie auf prinzipielle Selbstreflexion. 2.23. Philosophie kann ihr Erkenntnisinteresse und die mit ihm verbundene Reflexionsthematik in der Form begründeter, d. h. ausweisbarer Erkeimtnis (theoretischer und praktischer Art) nur auf eine methodisch reflektierte Weise realisieren. Dem Anspruch dieser methodischen Idee bzw. Reflexionsform nach ist Philosophieren ein hinsichtlich der Sinn- und Wahrheitsbedingungen prinzipiell selbstreflektiertes kritisches und systematisches Denken. Denken vollzieht sich jedoch wesentlich im „Medium" der Sprache bzw. als Sprechen (Rede), worin es allererst bestimmt, entwickelt, objektiviert, mitgeteilt und kritisch reflektiert bzw. kommunikativ geprüft werden kann — und zwar als wissenschaftliches, methodisches Denken in der Form begrifflich bestimmter, argumentativ entwickelter und hinsichtlich des Geltungssinnes und Wahrheitswertes ihrer Aussagen geprüfter bzw. prüfbarer Rede. Philosophie muß folglich als prinzipiell selbstreflektiertes und (gerade auch als Meta- oder Prototheorie wissenschaftlicher Erkenntnis) universal gerichtetes sinn- und geltimgskritisches Denken die sprachlogischen Bedingungen wahrheitsfähigen Denkens thematisieren. Das heißt, sie hat die Kriterien und Mittel für die sinnkritische Klärung von Ausdrücken, Sätzen und Fragestellungen sowie für die argumentationslogische und wahrheitstheoretische Prüfung der Geltungsansprüche von Behauptungen, Normen, Theorien zu erörtern und zu ent-

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wickeln. Die Reflexionsform des Philosophierens und die universale Sprachvermitteltheit allen Denkens bedingen also die methodisch grundlegende Bedeutung der Sprachanalyse und Sprachkritik für die Selbstkonstitution der Philosophie und ihre Problemstellungen. Philosophie hat Sprache folglich nie bloß als „Objekt" zum Thema, sondern wesentlich immer auch als Medium und Bedingung des Philosophierens selbst (wie jeglichen Denkens). Das praxisbezogene Erkenntnisinteresse der Philosophie xmd die universale Bedeutung ihres sinn- und geltungskritischen Reflexionsanspruchs verlangen allerdings einen thematisch möglichst weit gefaßten, d. h. Theorie- und Praxisaspekte umgreifenden, Bezugsbereich erkenntnisund ideologiekritischer Art, wie er in 2.22. umrissen wurde und hinsichtlich der damit verbundenen sprachanalytischen Aspekte nun näher zu bestimmen ist. 3. Folgerungen für eine systematische Konzeption philosophischer Sprachanalyse Die Thesen zu einem regulativen Philosophiebegriff kennzeichnen — in einem zwar umfassenden, aber auch programmatischen Rahmen — 1. die systematische Notwendigkeit und die Ansatzpunkte philosophischer Sprachanalyse und 2. die daraus folgenden Gesichtspunkte einer als philosophisch ausweisbaren Sprachphilosophie, werde diese nun in einem fundamentalen oder partikularen Sinn verstanden. Die angedeuteten systematischen Bezüge machen jedoch bereits deutlich, daß der Sprachthematik im Rahmen der umrissenen Problemstellung systematischer Philosophie eine sachlich und methodisch zentrale Bedeutung zukommt, die den Horizont einer speziellen Disziplin „Sprachphilosophie" jedenfalls überschreitet und die Konzeption einer „fundamentalen Sprachphilosophie" als einer Grundlagenthematik im Rahmen systematischer Philosophie rechtfertigt. 3.1. Der Aufweis der mit den Grundbestimmungen des Philosophiebegriffs systematisch verknüpften Sprachreflexion ergibt auch die Gesichtspunkte für die notwendige Differenzierung ihrer Grundaspekte bzw. Ebenen. Diese sind zwar miteinander verschränkt und gehören zusammen, können aber doch spezifische Schwerpunkte in einer Philosophiekonzeption und für die mit ihr verbundene und ausgezeichnete Form der Sprachanalyse bilden. Im Anschluß an die Grundbestimmungen des Philosophiebegriffs (insbesondere 2. und 3.) und im Blick auf die gegenwärtige Problemlage philosophischer Sprachreflexion lassen sich folgende Haupt-

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aspekte und Ansatzebenen der Sprachanalyse im Rahmen systematischer Philosophie differenzieren. 3.11. Der methodenkritische (methodologische) Aspekt philosophischer Sprachanalyse betrifft primär das Verhältnis von Denken — Sprache — Sinn. Auf dieser Ebene geht es — aufgrund der unabdingbaren Sprachvermitteltheit allen Denkens und der prinzipiellen Reflexionsstruktur des Philosophierens — um Sprachanalyse als elementare Bedingung eines in seinen sprachlich-logischen Ausdrucksformen sinnkritisch geklärten Denkens tmd als methodisches Mittel sachlicher Analysen, d. h. um die sprachkritische Selbstreflexion und methodische Propädeutik philosophischen und wissenschaftlichen Denkens, bzw. „vernünftiger Rede" überhaupt. Sprachanalyse als methodischer Ansatzpunkt und Element der Methodenlehre der Philosophie kann durch folgende Charakteristika gekennzeichnet werden: a) Ein methodisch sprachanalytischer Ansatz bedeutet, daß die philosophische Reflexion nicht direkt oder primär bei ,Phänomenen', ,Gegenständen', ,Sachverhalten', ,Erfahrxmgen' usw. ansetzt, sondern bei sprachlichen Äußerungen, d. h. Sätzen bzw. Sprechakten, Texten, die über Sachverhalte, Phänomene, Handlungen, Einstellungen usw. gemacht werden oder solche zum Ausdruck bringen. Die sprachanalytische Methode ist durch diesen Ansatz sowohl von der phänomenologischen Methode unterschieden als auch von traditionellen Sprach- und Begriffsanalysen, sofern diese einen methodisch sekundären und sachlich von ontologischen, erkenntnistheoretischen oder phänomenologischen Sachverhalten abgeleiteten Status hatten, also nicht den primären methodischen Zugang zu den Sachfragen der Philosophie darstellten. Der sprachanalytische Ansatz bei der primären Gegebenheitsweise von sprachlichen Äußerungen ist freilich durchaus im Sinne des Zugangs zu den darin artikulierten Erfahrungen, Sachverhalten, Phänomenen usw. zu verstehen — und nicht als Analyse ,bloßer' Worte. In diesem Sinn spricht J. L. AUSTIN methodisch aufschlußreich und treffend von „linguistischer Phänomenologie" (linguistic phenomenology), d. h. einer sprachanalytisch ansetzenden und orientierten Phänomenanalyse. Für die Entwicklung der systematischen Aspekte der Sprachanalyse empfiehlt es sich — auch im Blick auf die gegenwärtige Diskussionslage — auf der Ebene ihrer elementaren methodologischen Relevanz anzusetzen. I® fV. Kamlah / P. Lorenzen: Logische Propädeutik. 2. Aufl. Mannheim 1973. Dieser wesentlich methodische Sinn des Ausdrucks „linguistic phenomenology" (und seine kritische Beziehung zur deskriptiven Phänomenologie) wird durch die von K. Lorenz vorgenommene, aber wörtlich und sachlich irreführende Übersetzung „lingui-

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b) Sprachanalyse als wesentliches Element philosophischer Methode und Methodenlehre ist im Rahmen der Philosophie kritisch motiviert. Denn sie geht von der Erfahrung sprachbedingter bzw. sprachbezogener Irreführungen, Widersprüche, Leerheit, Sinnlosigkeit des Denkens aus, wie sie sich vor allem in den Problemfeldem und oft schon in den Fragestellungen der traditionellen Philosophie finden. Die in einem unkritischen Sprachgebrauch bzw. in Mißverständnissen der Sprachlogik oder auch in Täuschungen ideologischer Rede gründenden Irreführungen des Denkens sollen durch Sprachanalyse bzw. sprachanalytische Schulung identifiziert und fallweise oder prinzipiell behoben werden. Philosophische Sprachanalyse ist also wesentlich Sprachkritik, d. h. sinnkritische Kennzeichnung und Auflösung sinnleerer oder täuschender sprachlicher Ausdrucksformen des Denkens und Klärung der Bedingungen und Möglichkeiten sinnvollen Redens. Diese Aufgabenstellung erfordert systematisch-strukturelle Sprachanalysen und ihre konkrete Anwendung auf verschiedenen Ebenen, nämlich „semantische" Klärungen der Bedeutung von Ausdrücken (Begriffen) und des Sinnes von Sätzen (Aussagen) in Äußerungen (Sprechakten), „logische" Analysen der Struktur von Fragen, Argumentationen, Diskursen, aber auch „empirisch-pragmatische" Untersuchungen faktischer Kommunikationsprozesse (das letztere besonders im ideologiekritischen Aspekt). Philosophische Sprachanalyse hätte in methodologischer Hinsicht die Aufgabe — auf der Basis einer möglichst umfassenden, nämlich universalpragmatischen Sprachtheorie — die strukturellen und normativen Kriterien für die sprachlich-logische Kritik und Bestimmung sinnklaren, sachhaltigen und wahrheitsfähigen Denkens bzw. Redens zu entwickeln. c) Im Rahmen einer prinzipiell sprachanalytischen Methodik sind freilich verschiedenen Ansätze und Formen möglich und entwickelt worden, die sich hinsichtlich des primären Gegenstandes, der Maßstäbe, der Basis und der Zielsetzung philosophischer Sprachkritik und Sprachanalyse unterscheiden. Eine erste wesentliche Differenz zeigt sich bereits in der für den methodischen Aspekt philosophischer Sprachanalyse maßgeblich gewordenen „sprach-analytischen Philosophie", nämlich zwischen der konstruktivformalsprachlich und der deskriptiv-umgangssprachlich orientierten Richtung (CARNAP U. a. — später WITTGENSTEIN, AUSTIN U. a.); eine Differenzierung, die inzwischen durch Positionen re-konstruktiver (normierender) stischer Phänomenalismus'' und die daran angeschlossene Interpretation verdeckt; siehe K. Lorenz: Elemente der Sprachkritik. Frankfurt a. M. 1970 (bes. 142). Zum systematischen und methodischen Status sprachanalytischer Philosophie siehe jetzt E. Tugendhat (oben Anm. 7), bes. I. Teil.

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Sprachkritik bzw. Sprachanalyse („Erlanger Schule" — HABERMAs/Universalpragmatik) und Ansätze einer gesellschafts- und ideologiekritisch ausgerichteten „dialektischen" Sprachkritik (MARCUSE, LEFEBVRE, ROSSI-LANDI u. a.) ergänzt und modifiziert worden ist. Die deskriptiven, rekonstruktiven und dialektischen Ansätze und Formen philosophischer Sprachanalyse lassen sich m. E., jedenfalls z. T., korrektiv bzw. komplementär dem Zusammenhang einer nach Analyseebenen, sprachtheoretischen Voraussetzungen und philosophischen Zielsetzungen differenzierten sprachanalytischen Methodik einordnen. Bedingung dafür ist allerdings, daß die den differenten methodischen Ansätzen jeweils zugrundeliegenden Philosophiekonzeptionen, die die methodischen Differenzen zu systematischen Gegensätzen fixieren, überschritten werden, und zwar in Richtung auf einen nach Erkenntnisthematik und Erkenntnisinteresse möglichst umfassend bestimmten Begriff systematischer Philosophie und die mit ihm verbundenen weiteren (erkenntnis- und ideologiekritischen) Bezüge philosophischer Sprachanalyse. 3.12. Der erkenntniskritische Aspekt philosophischer Sprachanalyse betrifft primär das Verhältnis von Erkennen/Handeln — Sprache — Wahrheit/Richtigkeit. Auf dieser Ebene geht es im Anschluß an die transzendentale Reflexionsthematik der Philosophie (Grundbestimmung 2) um Sprachanalyse im Sinne der Aufdeckung und Erörterung der u. U. konstitutiven sprachlich-logischen Bedingungen und Kriterien objektiver Erfahrung, gültiger Erkenntnis und richtigen Handelns. Die damit gestellte Frage nach der transzendentalen Funktion der Sprache muß aber entsprechend der bereits angedeuteten Aufgliederung der transzendentalen Problemstellung differenziert werden: nämlich a) in den Komplex einer „sprachanthropologisch" orientierten Konstitutionstheorie lebensweltlicher Erfahrung und (kommunikativer) Praxis (bzw. des diese leitenden „Verstehens") und b) die erkenntniskritische Geltungsreflexion des objektiven Erkenntniswertes sprachanthropologisch bedingten Verstehens und der Wahrheit (Verifizierbarkeit) von sprachlich formulierten Erkenntnisansprüchen theoretischer und praktischer Art. Zu a) Eine sprachanthropologische Konstitutionsanalyse kann aufweisen, daß Welterfahrung und kommunikatives Handeln des Menschen grundsätzlich sprachvermittelt und sprachbedingt sind, sofern Sprache/Rede nicht nur als unumgängliche Artikulationsform des Erfahrung und HanDie Programmatik dieses Abschnittes schließt eng an Arbeiten von 7. Habermas an, in denen die Thematik im Rahmen der gegenwärtigen Diskussionslage am umfassendsten exponiert wird.

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dein leitenden Verstehens fungiert, sondern darüber hinaus dessen konstitutive, d. h. ermöglichende Bedingung im informativen und kommunikativen Aspekt darstellt. In der strukturell-funktionalen (und genetischen) Perspektive läßt sich zeigen, daß die Verfügbarkeit und Offenheit der menschlichen Welterfahrung, des voraussehenden Handlungskönnens und die Verständigungsbasis für Interaktionen erst mit der Sprachkompetenz sich so entwickeln, daß der Mensch als „weltoffenes" und gesellschaftlich handelndes Wesen voll existenzfähig wird (HERDER, GEHLEN, PiAGET, MEAD U. a.). Das ist vielleicht an keinem Punkt so einsichtig zu machen wie an dem der Sprachbedingtheit des für die menschliche Lebenspraxis notwendigen Zukunftsbezuges. Denn erst aufgrund der sprachlichsymbolischen Repräsentation auch von Nichtwirklichem, Abwesendem, bloß „Vorgestelltem" gewinnt der Mensch die Befreiung von der Jetztsituation und die Möglichkeit, sich im Medium sprachgeleiteter Vorstellimg und Phantasie auf Mögliches, Seinkönnendes zu richten, d. h. es zu entwerfen, vorauszusagen, zu wünschen, zu hoffen usw. und damit Zukünftiges zu antizipieren und Gegebenes auf Mögliches hin auch praktisch zu überschreiten. Auf der hermeneutisch-kommunikativen Ebene zeigt sich die strukturelle und inhaltliche Sprachvermitteltheit bzw. -bedingtheit menschlicher Erfahrung und Kommunikation daran, daß die Mittel und Strukturen der Sprache dafür sowohl eine nachbildende als auch eine vorstrukturierende Bedeutung haben. Denn mittels der bzw. einer Sprache (als des intersubjektiv verbindlichen Unterscheidungs- und Verständigungssystems) werden über die Nachzeichnung erfahrungsmäßig real vorgegebener Unterschiede hinaus Unterscheidungen und Gesichtspunkte erst eingeführt, die Hinsichten auf die Realität (und damit bestimmte Erfahrungs-, Verstehens- und Interpretationsmöglichkeiten) allererst vorzeichnen und eröffnen. So vermittelt erst Sprache das Vorverständnis der allgemeinen Züge der Erfahrungswelt sowie des kommunikativen Verstehens und Handelns, und dies nicht nur in einem strukturellen, sondern auch im inhaltlichen Sinn der einzelsprachlichen und geschichtlichen Bestimmtheit der „Weltansicht". (Darauf haben nach HUMBOLDT insbesondere die hermeneutische Richtung der Sprachphilosophie, die „inhaltsbezogene Grammatik" und die „kontrastive Linguistik" /WHORF U. a. hingewiesen.) Aufgrund der hier nur angedeuteten Zusammenhänge ist es berechtigt und notwendig, der Sprache (bzw. den Sprachen) eine faktisch apriorische Funktion für die Ermöglichung und Strukturierung möglicher Näheres siehe H. Fahrenbach (wie Anm. 12) und, insbesondere auch unter genetischem Aspekt, 7. Habermas (Manuskript, oben Anm. 11).

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Erfahrung, Handlungsorientierung und kommunikativer Verständigung zuzusprechen. Die Durchführung der sprachanthropologischen Konstitutionsanalyse stößt freilich auch auf einen immanent kritischen (dialektischen) Aspekt im Bedingungsverhältnis von Verstehen und Sprache. Denn die konstitutive Funktion der Sprache/Rede für die Strukturierung des Erfahrung und Handeln erschließenden Vorverständnisses bedeutet immer auch eine (sprach-, geschichts- und gesellschaftsspezifisch) begrenzende Bestimmung des Verstehenshorizontes. Aufgrund der mit der Sprachbedingtheit verknüpften Dialektik von Erschließung und Begrenzung (und d. h. möglicher Einschränkung und Beirrung) des Verstehens ergibt sich die Notwendigkeit einer erkenntniskritischen (und weiterhin ideologiekritischen) Geltungsreflexion auf den Erkenntnis- und Wahrheitswert sprachanthropologisch bedingten Verstehens und seiner Äußerungen. Zu b) Die erkenntniskritische Geltungsreflexion muß sprachanalytisch nach zwei Aspekten differenziert werden. Sie richtet sich 1. auf den Konstitutionszusammenhang von „Sprache und Verstehen" im Sinne einer prinzipiellen Beurteilung des Erkenntniswertes der erfahrungs- und verständigungskonstitutiven Leistung der Sprache/Rede und damit der Bestimmung der Objektivitätsgeltung und des Wahrheitswertes sprachanthropologisch bedingter („relativer") Erfahrungs-, Erkenntnis- und Handlungsorientierung (bzw. ihrer kognitiven und normativen Implikationen). Sofern diese Reflexion den sprachanthropologischen Konstitutionszusammenhang einerseits zur lebensweltlichen (und phänomenologischen) Voraussetzung hat, wenngleich sie ihn andererseits zum Gegenstand der erkenntniskritischen Beurteilung macht, könnte sie freilich noch zu einer kritisch konzipierten Konstitutionstheorie gerechnet werden. Der 2. Aspekt der erkenntniskritischen Reflexion (der eher als wahrheits- bzw. verifikationstheoretisch zu bezeichnen wäre) hebt sich stärker von der strukturellen Ebene der Konstitutionsthematik ab. Er betrifft die geltungskritische Prüfung von Erkenntnisäußerungen in Sprechakten bzw. Aussagen/Sätzen (Tatsachenaussagen, Werturteilen, Sollsätzen), Argumentationen, Theorien, in denen allein Erkenntnisansprüche sich darstellen und an denen sich ihre Geltung kritisch prüfen (d. h. verifizieren und falsifizieren) läßt. Der Differenzierung der erkenntniskritischen Problemstellungen korrespondiert in der sprachanalytischen bzw. sprachkritischen Perspektive eine unterschiedliche Bezugnahme auf jeweils vorrangig relevante Sprachaspekte. 1. Für die erkenntniskritische Reflexion der Konstitutionsthematik steht mit der primären Orientierung am „Gegenstandsbezug" der Er-

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kenntnis die „semantische Dimension" der Sprache (bzw. ihre Darstellungs- und Referenzfunktion) im Vordergrund, d. h. die Objektivitätsgeltung der semantischen Relation von Sprache/sprachlicher Bedeutung und gemeinter Sache (Gegenstand). Damit ist freilich noch nichts darüber ausgemacht, wie die semantische Relation (die im propositionalen Bestandteil von Sprechakten zum Ausdruck kommt) sprachphilosophisch zu bestimmen ist, d. h. vor allem, ob sie überhaupt als isolierbare semiotische Dimension, etwa im Sinne einer auf die Beziehung bzw. Zuordnung von Sprach-Zeichen und bezeichneten Gegenständen reduzierten Referenzsemantik angemessen konzipiert werden kann und nicht vielmehr nur in einem pragmatisch-kommunikativen Bezugsrahmen. 2. Die wahrheitstheoretische Geltungsreflexion ist explizit auf sprachliche Äußerungen und deren kommunikative Basis bezogen, d. h. auf die nach sprach- und argumentationslogischen Kriterien vorzunehmende Prüfung von Erkenntnisbzw. Geltungsansprüchen, die in Behauptungen, Bewertungen, Geboten (u. a.) zum Ausdruck kommen bzw. impliziert sind. Sofern die in Frage stehende Wahrheit von Propositionen und Gültigkeit von Handlungs- und Bewertungsnormen nur in einem argumentativ erzielbaren Konsenus intersubjektiv eingelöst und bewährt werden kann, müssen die Prinzipien der Geltungsreflexion bzw. die Kriterien möglicher Verifikation im Rahmen einer Konsensus- oder Diskurstheorie der Wahrheit bestimmt werden, deren differentielle Basis die Logik theoretischer und praktischer Diskurse darstellt. Auf dieser Ebene wird auch erst die Vermittlung von Erkenntniskritik und Wissenschaftstheorie möglich, sofern die Objektivität und die Geltung wissenschaftlicher Erkenntnis sowohl von strukturellkonstitutiven Erfahrungsbedingungen als auch von diskurslogischen Verifikationskriterien abhängt, also von beiden Aspekten der transzendentalen bzw. erkenntniskritischen Thematik. Der systematische Zusammenhang der beiden zentralen Gesichtspunkte einer transzendentalphilosophischen Sprach- und Erkenntniskritik ist freilich noch kaum exponiert. HABERMAS expliziert vor allem die analytisch unterscheidbaren Aspekte und verweist lediglich darauf, daß „die Bedingungen der Objektivität der Erfahrung, die in einer Theorie der Gegenstandskonstitution erklärt werden können . . ." und „die Bedingungen der Argumentation, die in einer die Logik des Diskurses entfaltenden Wahrheitstheorie geklärt werden können . . ., über die Strukturen der sprachSiehe 7. Habermas: Was heißt Universalpragmatik? In: Sprachpragmatik und Philosophie. Hrsg. v. Apel. Frankfurt a. M. 1976. Bes. 209 ff, 228 ff; H. J. Schneider: Pragmatik als Basis von Semantik und Syntax. Frankfurt a. M. 1975. Siehe J. Habermas: Wahrheitstheorien (oben Anm. 10). Ich verstehe die Diskurstheorie der Wahrheit primär als Verifikationsmethode.

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liehen Intersubjektivität in Verbindung . . . stehen" (nämlich über die „Doppelstruktur" der Rede, die den (propositionalen) Bezug auf Erfahrungen, Sachverhalte und den (illokutiven) Modus der aufgenommenen interpersonalen Beziehung (mit den implizierten Geltungsansprüchen) voneinander abhebt und verknüpft. Die systematische Entwicklung der Gesamtthematik des erkenntniskritischen Aspektes der Sprachreflexion steht noch aus. 3.13. Der ideologiekritische Aspekt philosophischer Sprachanalyse betrifft primär das Verhältnis emanzipatorische Reflexion — Sprache — gesellschaftliche Praxis (und ihre Veränderung). Auf dieser Ebene geht es — auch im methodischen Unterschied zur (rekonstruktiven) Analyse der strukturell universalen sprach-anthropologischen und diskurslogischen Bedingungen von Verstehen und Erkennen, um die Aufdeckung der historisch-faktischen Ursachen ideologischen, d. h. gesellschaftlich bedingten „falschen Bewußtseins". Die Falschheit ideologischen Bewußtseins wurzelt jedoch nicht einfach in Irrtümem oder „naturwüchsigen Vorurteilen", sondern in gesellschaftlich produzierten Bewußtseinsformen, d. h. Auffassungsweisen und Einstellungen, in denen (z. T. undurchschaut) Herrschaftsverhältnisse und Klassen- oder Gruppeninteressen zum Ausdruck kommen und zugleich durch eine scheinhafte Begründung ihrer sachlichen oder normativen „Notwendigkeit" (in Ideologien) legitimiert und stabilisiert werden. Die Irrationalität ideologischer Rechtfertigungslehren zeigt sich strukturell daran, daß ihre (faktische) Geltung „durch systematische Einschränkung willensbildender Kommunikation gesichert" wird indem sie sowohl gegen (wissenschaftliche) theoretische und praktische Diskurse als auch gegen eine utopisch-praktische Kritik und Überschreitung des Bestehenden theoretisch und praktisch abgeschirmt werden.

Da ideologisches Denken sich nicht nur wie alles Denken in sprachlicher Form artikulieren und objektivieren muß, sondern seine spezifische ideologisch-praktische Funktion (der Herrschafts- und Interessenlegitimierung) nur im sozialen Kommunikationsmedium der Sprache wirksam ausüben kann, ergibt sich eine notwendige funktionale Verschränkung von Ideologie und Sprache, die in der gesellschaftlichen Funktion beider gründet. Infolgedessen kann Sprache im Sinne pragmatisch situierter Rede (Sprachverwendung) auch selbst ideologisch werden, d. h. ideologische Gehalte

7. Habermas: Erkenntnis und Interesse. 3. Aufl. 1973. 389; vgl. Sprachpragmatik und Philosophie. Hrsg. v. Apel. Bes. 25 ff. Die umfassendste sprachphllosophische Erörterung ist m. E. immer noch geleistet bei W. M. Urban: Language and Reality. London, New York 1939. 7. Habermas in: Habermas/Luhmann (oben Anm. 11). 279, vgl. 239 ff.

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vermitteln und Funktionen ausüben und doch zugleich, weil Ideologie in ihr zur Darstellung kommt und identifizierbar wird, die Ansatzebene und Ansatzpunkte ihrer sprach-kritischen Analyse und Enthüllung abgeben. Aufgrund der strukturell und faktisch feststellbaren Verflechtung von ideologischem Bewußtsein und Sprache ergibt sich ein sachlich-methodischer Verweisungszusammenhang zwischen Sprachkritik und Ideologiekritik. Philosophische Sprachkritik, die — dem praktisch-emanzipatorischen Erkenntnisinteresse der Philosophie (nach ihrem Weltbegriff) gemäß — konkret und praktisch relevant werden will, muß die Sprachanalyse Ideologie- und gesellschaftskritisch konkretisieren, indem sie die ideologischen Gehalte und Funktionen der „im gesellschaftlich herrschenden Universum der Rede und des Verhaltens" (H. MARCUSE) gesprochenen Sprache in ihrem gesellschaftlichen Kontext aufdeckt. Dies ist auch im Sinne der kritischen Selbstreflexion der Philosophie erforderlich, weil sich die ideologischen Elemente der herrschenden Sprache auch in wissenschaftliche und philosophische Sprach- und Denkformen hinein fortsetzen und deren rückwirkende ideologische Funktion ermöglichen. Andererseits muß Ideologiekritik jeglicher Art Sprachkritik methodisch einschließen, weil ideologisch bestimmtes Bewußtsein sich notwendig in sprachlichen Ausdrucksformen darstellt und „realisiert" und darin erst analytisch faßbar wird. Ideologiekritische Sprachanalyse kann freilich nicht „sprachimmanent" verfahren, weil sie gerade die Spiegelung und gegenseitige Abhängigkeit symbolischer und realer Verhältnisse zum Gegenstand der Analyse und Kritik hat. Das heißt, sie muß die konkreten ideologiebildenden Verschränkungen und Spannungen zwischen Sprachformen („Sprachspielen" verschiedener Ebenen, insbesondere auch der politischen Rede) und gesellschaftlicher „Lebensform", also Gehalt und Funktion herrschender Redeweise in ihrem gesellschaftlichen Kontext kritisch reflektieren. Das ist jedenfalls nötig, wenn nicht nur eine am Maßstab empirisch-wissenschaftlicher Aussagen orientierte (theoretische) Kritik der Erkenntnisansprüche von Ideologien (im Sinne „positivistischer Ideologiekritik") geleistet werden soll, sondern eine gesellschaftsanalytisch aufschlußreiche Erklärung ihres Zustandekommens und ihrer Funktion, an der eine emanzipatorischpraktisch relevante Reflexion und Kritik ansetzen kann. Eine in diesem Sinne angelegte Sprachkritik als Ideologiekritik ist nur im Zusammenspiel von Sprach- und Gesellschaftsanalyse, d. h. im Rahmen einer kritischen Gesellschaftstheorie möglich (MARCUSE), freilich einer solchen, die Vgl. H. Marcuse: Der eindimensionale Mensch. Neuwied 1967. Bes. Kapitel 4 und 7; siehe auch E. Bloch: Experimentum Mundi. Frankfurt a. M. 1975. 33 ff.

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sich ihrer sprach- und kommunikationstheoretischen Grundlagen versichert hat (HABERMAS). Dafür gibt es bislang auch erst Ansätze, und zwar — neben „positivistisch" reduzierten Analysen bei E. TOPITSCH, T. D. WELDON u. a. — vor allem im Bereich dialektisch-kritischer Gesellschaftstheorie und Sprachanalyse (insbesondere bei H. MARCUSE, J. HABERMAS, H. LEFEBVRE, F. ROSSI-LANDI) 2®.

3.2. Aus der skizzierten systematischen Ableitung und Differenzierung der sprachanalytischen Thematik folgt, daß dieser insbesondere für die methodischen und theoretischen Grundlagenfragen systematischer Philosophie (in; methodischer Propädeutik, allgemeiner Methodologie, Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie) eine zentrale Bedeutimg zukommt, deren methodische Funktion sich aber auch auf die Probleme der praktischen Philosophie und die Realisierung des emanzipatorisch-praktischen Erkenntnisinteresses der Philosophie erstreckt. Philosophie muß als methodisch selbstreflektiertes, erkenntniskritisches und emanzipatorisch-praktisch engagiertes Denken die sprachlich-logischen Bedingungen, Möglichkeiten und Grenzen begründeten Erkennens und rechtfertigimgsfähigen Handelns in strukturell-universaler und historisch-faktischer Hinsicht analytisch klären und wo nötig konstruktiv bestimmen oder ideologiekritisch auflösen.

Obgleich Philosophie aufgrund ihrer Reflexionsstruktur Sprache nie bloß als „Objekt" der Analyse, sondern immer auch als Bedingimg ihrer eigenen Möglichkeit zum Thema hat schließt die philosophische Sprachreflexion eine partiell „gegenständliche" Beziehung auf strukturelle Gegebenheiten und funktionale Aspekte der Sprache xmd deren sprachtheoretische Explikation durchaus ein. Denn die für die philosophische Sprachanalyse selbst notwendigen sprachtheoretischen Grundlagen — die mit den Hinsichten und Bezügen, in denen Sprache philosophisch thematisiert wird nicht eo ipso identisch sind — entspringen keinem exklusiven philosophischen Wissen vom Wesen der Sprache, sondern müssen sich wie andere Aussagen über Sprache auch phänomenologisch und interdisziplinär als sachlich zutreffend aufweisen und bewähren lassen. Hier bleiben also auch im Bezugsrahmen fundamentaler Sprachreflexion Ansatzpunkte für eine „spezielle" Sprachphilosophie, die im Konnex mit der allgemeinen Sprachwissenschaft bzw. linguistischen Sprachtheorie eine möglichst umfassende H. Lefebvre: Spradie und Gesellschaft. Düsseldorf 1972; F. Rossi-Landi; Sprache als Arbeit und Markt, 2. Aufl. München 1974; vgl. Anm. 23, 24. Vgl. dazu auch: F. v. Kutschera; Sprachphilosophie. 2. Aufl. München 1974; VJ. Luther: Sprachphilosophie als Grundwissenschaft. Heidelberg 1970. Vgl. G. Jänoska (oben Anm. 3).

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Explikation der allgemeinen und grundlegenden Strukturen, Funktionen und Bezüge der Sprache zum Thema hätte; eine Aufgabenstellung, die m. E. auf der Basis einer „universalpragmatischen" Thematisierung der Sprache adäquat durchgeführt werden kann. Der philosophische Sinn einer solchen Sprachphilosophie würde sich aber gleichwohl erst aufgrund der Beziehung ihrer Sprachinterpretation zu den im Rahmen systematischer Philosophie vorgezeichneten Problemaspekten erweisen. Sprachphilosophie oder philosophische Sprachanalyse (ob mit fundamentalem oder partikularem Anspruch) gewinnt und bewährt ihren philosophisch genuinen Sinn, ihre Berechtigung und ihre Notwendigkeit (gegenüber der Sprachwissenschaft) erst und nur dann, wenn sie als Thematisierung der Sprache unter den für die philosophischen Problemstellungen relevanten und notwendigen Gesichtspunkten begriffen und entwickelt wird. Die für die gegenwärtige Problemlage der Philosophie kennzeichnende zentrale Bedeutung der Sprachanalyse läßt sich also im differenzierten Rahmen einer möglichst umfassenden Konzeption systematischer Philosophie als eine methodisch universell relevante und sachlich alle wesentlichen Problemaspekte der Philosophie betreffende Grundlagenthematik ausweisen. Durch die Bestimmung des systematischen Ranges der Sprachanalyse, die ihre Einschätzung als einen speziellen oder sekundären Aspekt des Philosophierens notwendig überschreitet, wird aber zugleich auch eine Eingrenzung ihrer Funktion im Rahmen philosophischer Erkenntnisinteressen und Problemstellungen vorgenommen, die deren Identifikation mit Sprachanalyse verhindert. Die den Sinn und die Notwendigkeit der Philosophie motivierenden Erkermtnisinteressen und Probleme sind und bleiben der sprachanalytischen und sprachkritischen Reflexion vorgängig, so wichtig diese schon für die Sinnklärung philosophischer Fragestellungen und deren Durchführung auch ist. Wird Sprachanalyse in einem engeren (gar nur deskriptiven) Sinn verstanden, dann hat sie ihren Schwerpunkt ohnehin auf der methodologischen Ebene und in phänomenologischer Funktion, während ihre Bedeutung für die erkermtniskritische und wahrheitstheoretische Problemstellung einen transzendentalphilosophisch erweiterten und differenzierten Bezugsrahmen erfordert. Sieht man darüber hinaus Motivation und Sinn des Philosophierens durch sein emanzipatorisch-praktisches Erkenntnisinteresse bestimmt, dann schließt dessen Realisierung zwar auch (ideologiekritisch bezogene) Sprachanalysen ein, fordert aber Die sinnkritische Reflexion schon der Fragestellungen hat F. VJaismann als Novum der sprachanalytischen Philosophie betont: The Principles of linguistic Philosoph}/. London 1965; deutsch u. d. T.: Sprache, Logik, Philosophie. Stuttgart 1976.

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ebenso deren Situierung und Überschreitung im Hinblick auf die Analyse der ihr zugrundeliegenden gesellschaftlichen Praxis und den Primat der praktischen Philosophie überhaupt Wird der skizzierte Rahmen systematischer Philosophie in seiner regulativen Funktion für einen thematisch möglichst umfassenden imd differenzierten Begriff von Philosophie im Blick behalten, dann läßt sich innerhalb seiner die Relevanz der Sprachanalyse für alle wesentlichen Aspekte philosophischer Problemstellung begründen und ihr systematischer Status umgrenzen, ohne daß dies mit einer Reduktion des Problemhorizontes der Philosophie erkauft werden müßte.

Im Unterschied zu anderen Sprachanalytikern konzipiert auch E. Tugendhat einen (durch die praktische Grundfrage nach dem Guten absolut motivierten) höchsten praktischen Begriff von Philosophie, von dem er mit Recht sagt, daß dieser als solcher „kein sprachanalytischer Begriff von Philosophie" sei (oben Anm. 7, 128), wenngleich seine Einlösung methodisch auf die sprachanalytische Thematik der semantischen Klärung praktischer Aussagen zurückführt.

Kolloquium VI WISSENSCHAFTSTHEORIE UND SYSTEMATISCHE PHILOSOPHIE

PAUL LORENZEN (ERLANGEN)

WISSENSCHAFTSTHEORIE UND WISSENSCHAFTSSYSTEME Hegel war bekanntlich vielerlei. Er war Schwabe und Preuße, progressiv und konservativ, voller Widersprüche und immer wieder konsequent. Seine Sprache war bildhaft-literarisch und formelhaft-wissenschaftlich zugleich. Hegel war sogar Wissenschaftstheoretiker, denn seine Enzyklopädie war ein Versuch, die Gesamtheit unseres Wissens in ein System zu bringen. Sein System begann mit der Logik, sozusagen einer allgemeinen Wissenschaftstheorie, und führte über die Naturwissenschaften zu den Kulturwissenschaften, um im „absoluten" Wissen zum Ende, d. h. „zu sich" zu kommen. Absolutes Wissen erreichte man in einem Dreischritt der Reflexion über Kunst und Religion — imd war dann in der Philosophie am Ende, d. h. „bei sich". Dieser wissenschaftstheoretische Versuch, alles Wissen als Teile eines Systems zu begreifen, war historisch sehr erfolgreich, denn MARX entwickelte daraus sein allumfassendes System, das seit 1917 imd 1949 die Weltpolitik bestimmt. Nur in der sog. westlichen Welt ist Hegels enzyklopädischer Versuch fast wirkungslos geblieben. Er wurde schon in der Mitte des 19. Jh. durch das CoMXEsche System der „positiven" Wissenschaften ersetzt. Daher wird seit gut 100 Jahren das englische Wort „Science" und das französische „Science" üblicherweise auf Wissenschaften beschränkt, die die Naturwissenschaften, speziell die klassische Physik, als methodische Paradigma haben. Wenn auch aus anderen Gründen galt in der Antike eine ähnliche Beschränkung: die Geschichtsschreibung gehörte zur Literatur, sie war keine EJtiOTrifXTi, keine scientia. Ohne vorgreifen zu wollen, möchte ich hier den Terminus „Wissenschaft" für jede institutionalisierte Form von Wissen gebrauchen. Zur Wissenschaft soll also alles Wissen gehören, das für wert gehalten wird, in Schulen von professionellen Lehrern gelehrt zu werden. Werden verschiedene Wissenschaftssysteme vertreten, so geht der Streit letztlich um die Frage, welche Wörter und Sätze wissenswert sind.

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Aus dem CoMTESchen System hat sich ein Naturalistisches System entwidcelt, das sich in dem folgenden Schema darstellen läßt: Kosmologie Astronomie

Anthropologie

1

Biologie

Physik ■

Geologie Protophysik

Statistik

Mathematik (Logik)

Nur aus architektonischen Gründen beschränke ich mich auf 3 mal 3 Termini. Zu diesem Schema gehört als „naturalistische" These, daß alle Kulturwissenschaften, um Wissenschaften zu sein, als Teil der Anthropologie (dieser Teil wird Soziologie genannt) — und damit als Teil der Biologie zu betreiben seien. Der Rest sei Literatur, schöne Literatur, aber kein Wissen. Die Kulturwissenschaftler sind, so scheint mir, anderer Meinung. Sie möchten mit den Physikern erst darüber argumentieren, warum gerade ihre Wörter und Sätze in den Schulen gelehrt werden sollen. Schulen seien doch nur ein Teil der Gesamtkultur, Wirtschaft und Politik hätten Priorität. Einfacher gesagt: Schulen kosten Geld — und man verlangt daher keine naturwissenschaftliche Erklärung der Wirtschaft, sondern eine wirtschaftliche Begründung der Naturwissenschaften. Man braucht kein besonderer Kenner imserer Gegenwart zu sein, um zu wissen, daß dieses Argument faktisch allgemein anerkannt wird. Nur in den an der Physik orientierten Wissenschaftstheorien wird es nicht zur Kenntnis genommen. Läßt man sich aber einmal darauf ein, so betritt man damit ein System der Kulturwissenschaften, das mit der Kunstlehre des begründenden Argumentierens beginnt — ich möchte sie „rationale Grammatik" nennen — und das sich (mit etwas Großzügigkeit) ebenfalls in einem 3 mal 3 gliedrigen Schema darstellen läßt:

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Erziehungstheorie

Naturwissenschaften

Politologie

Ökonomie Ingenietuwissenschaften

Handltmgstheorie

Rat. Grammatik (Logik)

Darf ich zu den gewählten Termini anmerken, daß „Noologie" für das englische „theory of mind" (im Gegensatz zu „psychology") stehen soll. Statt „Handlungstheorie" hätte man früher „Ethik" gesagt. Zu diesem Schema der Kulturwissenschaften gehört als „kulturalistische" These, daß alle Naturwissenschaften, um Wissenschaften zu sein, als Teil unseres technischen Wissens, also als „Hilfsdisziplin" der Ingenieurwissenschaften zu betreiben seien. Der Rest sei ein Spiel, ein interessantes Spiel, aber kein Wissen. Um Mißverständnisse zu vermeiden, füge ich hinzu, daß diese Thesen durchaus verträglich damit sind, daß auf nicht-wissenschaftlichen Schulen schöne Literatur und interessante Spiele gelehrt werden — die Thesen formulieren nur, was Wissen ist, aber nichts darüber, was sonst noch zur Bildung gehören sollte. Thesen darüber fielen unter die Erziehungstheorie. Im folgenden möchte ich versuchen, die naturalistische These zu widerlegen. In seinem letzten Buch The Roots of Reference hat QUINE eine Verteidigung versucht, indem er skizziert, wie sich naturwissenschaftlich erklären ließe, daß gewisse Lemtiere — nämlich wir — Naturwissenschaften treiben. Diesen Verteidigungsversuch immanent zu kritisieren, ist m. E. möglich, aber das scheint mir eine unökonomische Strategie zu sein. Wenn man die kulturalistische These direkt beweisen könnte, brauchte man die Gegenthese nicht mehr zu widerlegen. Den Kulturalismus zu beweisen, das ist allerdings leichter gesagt als getan. Zunächst haben wir ja — hier im Westen — keine allgemein als Wissenschaft anerkannten institutionalisierten Kulturwissenschaften — der

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Verdacht, daß es sich um bloße Literatur handelt (bis herunter zum politischen Journalismus) ist bisher nicht ausgeräumt. Also muß ich in einem Teil I den Aufbau einer allgemeinen Kulturtheorie erst skizzieren, um sie in Teil II dann auf das Kulturgebilde „Naturwissenschaft" anzuwenden. Das System der Kulturwissenschaften beginnt mit einer Reflexion auf das Argumentieren selbst, also beginnen wir mit elementaren Sätzen, aus denen wir später alle komplexen Sätze zusammensetzen. Ein elementarer Imperativsatz ist z. B.: „Peter, hol Wasser mit Eimer!" Eine rationale Grammatik hat solche Strukturen zu rechtfertigen und zur Analyse geeignete Unterscheidungen bereitzustellen: „Peter" ist ein Eigenname, „hol" ist ein Tatprädikator, „Wasser" und „Eimer" sind Objektprädikatoren und „mit" ist die Partikel für den Instrumentalis. Das ist rationale Grammatik, nicht deutsche Grammatik, weil jede Sprache, die diese „Kategorien" wie Tatprädikatoren, Objektprädikatoren usw. nicht hätte, gut beraten wäre, sie — wenn nicht syntaktisch, dann jedenfalls im Lexikon — zur Verfügung zu stellen. Beispiele elementarer Indikativsätze sind: „Tilman geht zur Schule" „Dieser Baum fällt zur Erde" Neu tritt der Indikator „dieser" auf und eine Lokalpräposition „zur". Das Deutsche unterscheidet zwischen „gehen" und „fallen" syntaktisch nicht, aber „fallen" ist kein Tatprädikator wie „gehen", sondern ein Geschehnisprädikator. Für ein wissenschaftliches reformiertes Deutsch wäre dies ernsthaft zu bedenken. Als letztes Beispiel nehme ich den Satz: „Dieser Baum ist grün" Die Kopula „ist" ist hier neu, sie ist weder Tat- noch Geschehnisprädikator. Und „grün" ist weder Geschehnisprädikator noch Objektprädikator, sondern ein Apprädikator (Adjektiv oder Adverb, wie die traditionelle Grammatik sagt). Für eine rationale Grammatik empfiehlt sich, einen Leerprädikator wie „Gegenstand" zu ergänzen: „Dieser Baum ist grüner Gegenstand". Auf der Basis einer solchen rationalen Grammatik läßt sich zwischen Handlungsimperativen „Tue p" (mit einem Tatprädikator p) und Zweckimperativen „Bewirke A" unterscheiden. A ist ein Satz, der den bezweckten Sachverhalt darstellt.

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Aus den Elementarsätzen werden komplexe Sätze konstruiert, zunächst mit Hilfe der sog. logischen Partikeln. Wir haben die argumentative Verwendung zumindest von 3 Partikeln: Negator, Konjunktor und Allquantor zu rechtfertigen. Im Deutschen sind das die Wörter „nicht", „und" und „alle". Schon die Rechtfertigung allgemeiner Verwendungsregeln, z. B. der Schluß von „nicht nicht A" auf „A", ist schwierig, werm Allquantoren in A Vorkommen. Der einfachste Weg, den ich kenne, führt über die konstruktive Logik, die zusätzlich den Subjunktor (wenn — dann), den Adjunktor (oder) und den Einsquantor (einige) einführt. Ich muß das überspringen, um zur Modallogik, einer kritischen Rekonstruktion der modalen Hilfsverben „müssen, können" tmd „sollen, dürfen" zu kommen. Relativ zu einem Satzsystem S heißt ein Satz A notwendig, wenn das System S den Satz A logisch impliziert. Bei Zweckimperativen und Systemen von Zweckimperativen definiert man die relative Gebotenheit durch die logische Implikation zwischen den darstellenden Indikativsätzen. Handlungsimperative sind nur mittelbar über Zweckimperative „geboten". Dazu werden bedingte Allsätze gebraucht: Wenn Du p tust, wirst Du A bewirken. Hier heißt „p tun" ein Mittel für den Zweck A. Schon jetzt können wir zwei Arten von Wissen unterscheiden. Technisches Wissen mit generell bedingten Voraussagen („Gesetzen") und praktisches Wissen mit generell bedingten Zweckimperativen („Nonnen"). Was man aufgrund eines solchen — wenn auch nur vermeintlichen — Wissens tut, heißt Handeln. Damit hätten wir die Handlungstheorie (oder Ethik) erreicht. Die Noologie (oder Theory of Mind) deute ich nur an, weil dazu nur zusätzlich zur Handlungstheorie neben dem Reden über unser Sprechen ein Reden über „Denken" (im Sinne sprachlichen Denkens, das Bilderdenken ist hier irrelevant) eingeführt wird. „Denken" steht für das lautlose Reden mit sich selbst. Dann können wir den Sinngehalt einer Person N definieren als das System der Sachverhalte, Gesetze und Normen, die durch Sätze dargestellt werden, die N — zu einer bestimmten Zeit — denkt. Zum Sinngehalt von N gehören nicht die Sätze, sondern nur die dargestellten Sachverhalte, Gesetze und Normen. Der Kulturwissenschaftler muß dazu die Sätze von N in seine eigene wissenschaftliche Sprache übersetzen. Genau dazu braucht er eine Wissenschaftssprache, die — nach bestem Vermögen —

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transkulturell ist. Eine Person N werde nun „subjektiv rational" genannt, wenn N aufgrund seines Sinngehaltes handelt. Subjektive Rationalität ist mit den alten ethischen Tugenden des Mutes identisch: Man braucht in einer neuen Situation Mut zum Denken (anstatt unmittelbar zu reagieren) und man braucht Mut zum Handeln, nachdem man gedacht hat (anstatt dann aus Furcht oder Hoffnung doch nichts oder etwas anderes zu tun). Diese ethischen Tugenden sind zu unterscheiden von den intellektuellen Tugenden, die bloß subjektiven Sinngehalte zu transzendieren, so daß die bloßen Meinungen durch Wissen ersetzt werden. Technisches Wissen besteht aus wissenschaftlich geprüften empirischen Daten und (technischen) Gesetzen. Praktisches Wissen besteht aus wissenschaftlich geprüften historischen Fakten und (praktischen) Normen. Der Terminus „wissenschaftlich geprüft" steht hier für nichts anderes als das Prinzip allen Wissens, für das Prinzip der Transsubjektivität: das bloß Subjektive ist von Anfang an in allen Argumentationen zu transzendieren. Die intellektuellen Tugenden allein genügen nicht, weil die Menschen nicht reine Vernunftwesen sind. Immer wieder handeln sie nicht aufgrund ihres Sinngehaltes — wie unwissenschaftlich dieser auch sei — immer wieder reagieren sie bloß auf eine Situationsänderung. Verhalten heißt eine Bewegung gemäß Normen, die nicht zum Sinngehalt des Täters gehören. Der Terminus „Verhalten" kommt aus der Biologie der Lemtiere. Die Normen, gemäß denen ein Tier sich verhält, gehören nur zum Sinngehalt des Wissenschaftlers, der die Bewegungen des Tieres beobachtet. Wenn sich ein Tier an eine neue Situation anpaßt, dann sagen wir, daß es neues Verhalten lernt. „Anpassung" ist dadurch definiert, daß sich die Überlebenschancen verbessern. Lemtiere werden wie wir durch Schmerz und Lust zur Anpassung getrieben. Daß wir Lust suchen und Schmerz vermeiden, wenn wir bloß reagieren — das ist analytisch wahr. Wenn ein Tier versucht, eine frühere Situation wieder zu erreichen, dann werden wir diese Situation niemals „schmerzhaft" nennen. Das gilt auch für den Menschen, es sei denn, wir erklären sein Tun als Handeln. Die Umgangssprache ist in ihren Unterscheidungen zwischen „mögen" und „wollen" schwankend. Man mag, was als „lustvoll" gefühlt wird — aber man will, was als „recht" gedacht wird. Diese Sätze sind in einem wissenschaftlichen Reformdeutsch analytisch wahr. Eine Hauptschwierigkeit der Kulturwissenschaften ist, daß wir selten die klaren Grenzfälle von bloßem Verhalten oder von (rationalem) Handeln haben. Meistens lebt der Mensch als ein Lemtier in einer Kultur-

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Situation, die er nicht als eine von ihm selbst — als Redetier — hervorgebrachte Situation versteht. Er lebt als Fremder in seiner eigenen Kultur. Er ist von seiner Kultur „entfremdet", insbesondere von seiner Arbeit, wie MARX in Übernahme der universalgeschichtlichen Terminologie Hegels es zunächst formulierte. KäSTNER formulierte noch krasser: Die Ahnen kletterten im Urwald, wir sind die Affen im Kulturwald. Die Entfremdung von den ökonomisch-politischen Systemen, in denen wir leben, hat zu den neuzeitlichen sog. Ideologien geführt. Ideologien sind künstliche Sinngehalte, die das Verhalten von Teilgruppen oder Klassen (die durch das ökonomisch-politische System definiert sind) als subjektivrationales Handeln zu deuten gestatten. Diese ideologischen Sinngehalte werden von Intellektuellen produziert, die sich meistens — hierfür wird um Verständnis gebeten — den herrschenden Teilgruppen oder Klassen anschließen. Wie ist das aber im Ernst zu verstehen, daß Intellektuelle die Forderung, die doch zur Definition ihres Berufes gehört, nämlich in transsubjektiver Weise für alle anderen zu denken, so schlecht erfüllen? Nun, mir scheint, daß auch Intellektuelle nicht von der Entfremdung ausgenommen sind. In einem unverstandenen ökonomisch-politischen System zu leben ist eine sekundäre Entfremdung. Eine primäre Entfremdung haben wir schon, wenn wir in einem Begriffssystem denken, das wir nicht als unsere eigene Konstruktion verstehen. Nach der linguistischen Wende aller Wissenschaften heißt das: wir reden in einer Sprache, die wir nicht als unsere eigene Konstruktion verstehen. Diese primäre Entfremdung tritt schon innerhalb der Familien auf — und auch die Intellektuellen sind von ihrer eigenen Sprache entfremdet. Nach KäSTNER wären auch wir Intellektuellen noch „Affen im Sprachenwald". Innerhalb der Familien, wie immer die ökonomisch-politischen Verhältnisse seien (ich behaupte damit nicht, daß die Institution Familie von diesen Verhältnissen unabhängig ist), innerhalb der Familien kann die primäre Entfremdung zu sog. Neurosen führen. FREUD deutete das neurotische Verhalten als ein Handeln aufgrund eines zweiten Sinngehaltes, dem sog. Unterbewußtsein. Das ist, wie SKINNER gezeigt hat, eine irreführende Metapher: in der Psychotherapie sollte Verhalten als Verhalten erklärt werden. Dies anzuerkennen heißt nicht, deshalb ein Behaviorist wie SKINNER ZU sein, der alle Sinngehalte aus der Wissenschaft ausschließt, nur weil sie nicht mit naturwissenschaftlichen Methoden zu behandeln sind.

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Primäre und sekundäre Entfremdung, Ideologie und Neurose imd die kritische Rekonstruktion faktischer Sinngenesen (die ich in der rationalen Grammatik angewandt habe) — das sind die Grundbegriffe einer allgemeinen Kulturtheorie. Ich bin bisher auf keine Besonderheiten unserer gegenwärtigen Kultursituation eingegangen. Aber die Aufgabe der Kulturwissenschaften wäre, selbstverständlich, genau dieses: eine wissenschaftlich überprüfte Kritik unserer Gegenwart, so daß über Reformvorschläge rational argumentiert werden könnte. Und trivialerweise hätte hier das ökonomisch-politische System Priorität. Wir Intellektuellen sollten also der Kritik und Reform solcher Wissenschaften wie der Ökonomie und Politologie ebenfalls Priorität geben. Bedauerlicherweise scheint es jedoch nicht ratsam, sich dieser Aufgabe, die Kulturwissenschaften zu reformieren, unmittelbar zuzuwenden. Es scheint besser zu sein, erst die Naturwissenschaften zu bedenken. Jedenfalls möchte ich vorschlagen, erst eine Kritik der Naturwissenschaften als einer unserer Kulturinstitutionen vorauszuschicken. Ich möchte also zunächst die „kulturalistische" These verteidigen, daß die Naturwissenschaften als ein Teil unseres technischen Wissens zu verstehen sind. Die Begründung für diese Strategie liegt in der gegenwärtigen Vorherrschaft des Naturalismus. Physikalische Theorien werden immer wieder als Paradigma allen wissenschaftlichen Denkens genommen. Durch unsere gesamte Denkgeschichte hindurch haben die Intellektuellen niemals die Chance gehabt, unmittelbar mit dem Aufbau moralisch-praktischer Wissenschaften zu beginnen. Als PLATON und ARISTOTELES diesen Versuch zum ersten Mal unternahmen, hatten sie gegen kosmische Mythen zu kämpfen. Wie wir alle wissen, hatten sie keinen Erfolg. Das Christentum übernahm die intellektuelle Führung. Daher hatten im gesamten Mittelalter alle Versuche kritischen Denkens über ökonomisch-politische Dinge gegen die Theologie zu kämpfen. Erst mit der Entwicklung der Naturwissenschaften in den letzten vier Jahrhunderten wurden diese Hindernisse überwunden — aber wir haben jetzt aufgrund der Naturwissenschaften den Naturalismus, der für uns ein neues, vielleicht noch größeres Hindernis bildet. KANT hat als erster versucht, dieses Hindernis aus dem Wege zu räumen, indem er kritisch fragte, wie denn Naturwissenschaften „allererst möglich" seien. Wir können heute, nach der linguistischen Wende, nach FREGE und WITTGENSTEIN, freilich erkennen, daß auch im Falle von KANT die primäre Entfremdung von seiner eigenen, weitgehend bloß traditionellen Sprache, ein wesentlicher Grund für das Mißverständnis der kritischen Philosophie in der nachfolgenden Generation und damit ihres geschieht-

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liehen Scheiterns war. Über den historischen Teilerfolg von HEGEL und MARX habe ich eingangs gesprochen. Aber wir sind hier im Westen. Ich wende mich daher Teil II zu, in dem ich als ein Beispiel kritischer Kulturwissenschaft die These verteidigen möchte, daß die Naturwissenschaften zur Technik gehören. Von der Selbstdeutung der Physiker sehe ich dabei ab. Wir haben statt dessen darauf zu achten, was sie tun bzw. getan haben. Wir müssen die faktische Genese der Naturwissenschaften, die — wie niemand leugnet — in der verwissenschaftlichen Technik ihren Ursprung haben, kritisch rekonstruieren. Dazu werde ich hier nur in großen Schritten die Entwicklung der Technik von ihren Anfängen bis zur modernen Technik, etwa bis 1900, skizzieren. Ich schließe die post-klassische Physik seit 1900 aus, weil sich diese — wie EDDINGTON bemerkt hat — im Zustand des völligen Umbaus befindet. Es sollte ein Zaun um die moderne Physik errichtet werden mit einem Schild: Wegen Umbau Betreten verboten. *■ Ich beginne mit den verwissenschaftlichen Techniken des Bauwesens und der Geräteherstellung. Wir haben zunächst Techniken der Herstellung geometrischer Formen, z. B. bei Ziegelsteinen, Tischplatten, Rädern. Schon die frühesten Handwerker bearbeiteten hartes Material. Um nämlich einem Körper reproduzierbar eine bestimmte Gestalt zu geben, hat man folgendes zu tun. Man hat einen Körper und bearbeitet ein Stück der Oberfläche. Davon macht man einen Abdruck. Ein Abdruck des Abdrucks ist eine Kopie des Originals. Setzt man dieses Verfahren fort, so muß dabei ein Abdruck der Kopie zugleich ein Abdruck des Originals sein. Es ist eine historische Tatsache, daß seit der Steinzeit — die daher so heißt — Steine als hartes Material technisch hinreichend gut diese Forderung erfüllt haben, daß jeder Abdruck einer Kopie wieder auf das Original paßt. Später lernte man Metall als besser formbares hartes Material technisch zu beherrschen. Für hartes Material läßt sich definieren, wann ein Stück der Oberfläche eben ist. Wir nennen ein Oberflächenstück genau dann „eben", wenn jeder Abdruck gestaltgleich mit ihm ist, also schon eine Kopie ist. Es gilt dann, daß zwei ebene Stücke stets aufeinanderpassen. Würden sie sich nämlich nur berühren, so würden die Abdrücke einander durchdringen — im Widerspruch dazu, daß die Abdrücke mit den Originalen gestaltgleich sind. Dieser Beweis zeigt, daß die Ebene eine ideale Gestalt ist: sie ist durch die Definition eindeutig bestimmt und wird in hartem * Für einen Versuch, den Bauplatz wieder betretbar zu machen, vgl. P. Lorenzen: Relativistische Mechanik mit klassischer Geometrie und Kinematik. In: Mathematische Zeitschrift 155, 1977. 1—9.

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Material nur unvollkommen^ aber technisch hinreichend gut realisiert. Damit haben wir die Geometrie als Theorie „idealer" Gestalten oder /Tormen" (in der PLATONisch-ARisroxELischen Terminologie) erreicht. Die Sätze der Geometrie sind diejenigen, die aus den idealen Normen der Symmetrie (daß nämlich der Abdruck eine Kopie ist) logisch folgen. Man erhält die ganze Geometrie, wenn man die ideale Norm für die Orthogonalität zweier Ebenen hinzufügt. Das ist wieder eine Symmetrieforderung. Im Detail erfordert das noch viele Überlegungen, aber ich hoffe, daß die vorwissenschaftliche Technik der Formung harten Materials als Basis geometrischer Theorie deutlich geworden ist. Eine Kante, die von zwei ebenen Flächenstücken gebildet wird, realisiert die geometrische Form der Geraden. Durch zwei beliebige Teilpunkte einer Geraden wird eine Strecke begrenzt. Alle Kantenstücke, ob klein oder groß — die Wörter „klein" und „groß" gehören nicht zum Vokabular der Geometrie — realisieren dieselbe geometrische Form: die Form der Strecke. Dadurch ist schon die EUKLioische Geometrie gegenüber den sog. nicht-EUKLiDischen Geometrien ausgezeichnet. Eine Strecke mit einem zusätzlichen Teilpunkt ist nur dann eine Form, wenn das TeilungsVerhältnis durch eine Zahl definiert ist. Das kann eine rationale Zahl sein oder eine reelle Zahl — aber selbstverständlich muß dazu die Arithmetik, die hier in die Geometrie hineinkommt, selbst eine konstruktive Begründung haben. Die Naivitäten, auch die axiomatischen Naivitäten der Mengenlehre haben hier keinen Platz. Der nächste Schritt führt von der Geometrie zur Kinematik. Ausgehend von der vorwissenschaftlichen Technik, Körper zu bewegen, vergleichen wir geführte Bewegungen, machen „ähnliche" Bewegungen reproduzierbar und definieren schließlich eine ideale Bewegungsgestalt, die Bewegungsform der gleichförmigen Bewegung. Geräte, die gleichförmige Bewegungen technisch hinreichend gut realisieren, heißen Uhren. ARISTOTELES nahm als „ideale" Uhr den Umschwung der Himmel, also die Erdrotation. Das war ein methodischer Fehler, weil das nur ein natürlicher Vorgang ist. Die moderne Physik nimmt Schwingungen von Cäsium-Atomen. Das ist nicht viel besser. Aber man hat hier die Möglichkeit, bei der Reproduktion von Schwingungsvorgängen einige als „gestört" auszusondern. Genau dazu brauchte man allerdings eine ideale Norm für die Gleichförmigkeit. Mit Uhren lassen sich Zeitdauern messen, nämlich über Längenmessungen. Wir erhalten wieder nur Verhältnisse von Zeitdauern. Dann lassen sich auch Geschwindigkeitsverhältnisse definieren, wiederum keine absoluten Geschwindigkeiten. Die Wörter „langsam" und „schnell" gehören nicht

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zum Vokabular der Kinematik. Das ist eine Konsequenz schon der EUKUoischen Geometrie. Gehen wir nach dem Vorbild von DESCARTES zur Benutzung von Koordinatensystemen über, so erhalten wir sog. analytische Theorien: die analytische Geometrie und Kinematik. Die entstehende analytische Kinematik heißt GALiLEi-Kinematik. Zu ihr gehören insbesondere die GALILEITransformationen. Der nächste Schritt, der über die Kinematik hinausführt, ist die Einführung einer Stoßdynamik, historisch zuerst bei DESCARTES und HUYGENS. Die Basis dieser Dynamik ist die vorwissenschaftliche Technik der Bewegung von Massen. Je massiger der Körper, desto kräftiger muß man stoßen. Die Realisierung von Stoßvorgängen ist am einfachsten beim inelastischen Stoß, bei dem die zusammenstoßenden Körper nach dem Stoß zusammenbleiben. Wir versuchen, die Masse so zu definieren, daß der Körper, der beim (horizontalen) Stoß dem anderen seine Richtung aufzwingt, die größere Masse hat. Seit dem 17. Jh. ist es den Ingenieuren (diese entstehen als eine Mischung aus Handwerkern und den zukünftigen Physikern) gelungen, ideale Stoßvorgänge reproduzierbar so zu realisieren, daß das Verhältnis der erzwungenen Geschwindigkeitsänderungen nur von den Körpern abhing. Durch dieses Verhältnis ließ sich daher ein „Massenverhältnis" der Körper definieren. Mathematisch folgt aus dieser Definition der Impulserhaltungssatz. Die Basis dieses Satzes ist also die technisch erfolgreiche Realisierung einer idealen Norm für inelastische Stoßvorgänge. Gegen den Buchstaben, aber im Sinne NEWTONS, läßt sich dann Kraftwirkung als Impulsänderung pro Zeiteinheit definieren. Seit NEWTON besteht das Programm der — hierdurch definieren — klassischen Physik darin, Kraftfunktionen zu finden, die — in linearer Superposition genommen — eine solche Impulsänderungsrate für die Körper ergeben, auf die die Kräfte wirken, daß sich empirisch überprüfbare kinematische Gesetze möglichst einfach deduzieren lassen. LEIBNIZ hielt dieses Programm für „absurd" — aber der spektakuläre Erfolg dieses Programms im Fall der Planetenbewegung hat die Einwände verstummen lassen. Technisch bestehen auch keine Einwände. Im Fall der Planetenbewegung lag der Sonderfall vor, daß die Massen der beteiligten Körper nicht durch Stoßvorgänge meßbar waren. Sie mußten rückwärts so berechnet werden, daß die empirisch gewonnenen KEPLERschen Bewegungsgesetze deduzierbar wurden. Gegen Ende des 18. Jh. kam die letzte fundamentale Meßgröße der klassischen Physik hinzu: die elektrische Ladung. Die Technik des Umgangs mit geladenen Körpern wurde so vervollkommnet, daß man die Kraftwirkungen zweier geladener Körper auf einen —

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ebenfalls geladenen — Probekörper so isolieren konnte, daß das Verhältnis der Kraftwirkungen (also der Impulsänderungsraten) bei allen Wiederholungen unabhängig von der Distanz und Ladung des Probekörpers waren. Diese gelungene Realisierung wiederum einer idealen Norm hat erst die Definition eines Ladungsverhältnisses ermöglicht: es wird dem Verhältnis der Kraftwirkungen gleichgesetzt. Vom Probekörper aus betrachtet, liefert diese Definition eine elektrische Feldstärke als die Kraftwirkung pro Ladungseinheit. Die CouLOMBSche Kraftfunktion ist ein Bestandteil der LoRENTZschen Kraftfunktion, die in linearer Superposition mit den mechanischen Kraftfunktionen jetzt empirisch überprüfbare kinematische Gesetze zu deduzieren gestattet, nach denen sich Körper bewegen, die neben ihrer Masse auch elektrische Ladungen besitzen.

Für diese Elektrodynamik kommt die Schwierigkeit hinzu, daß die LoRENTZsche Kraftfunktion nur über den Zwischenschritt der MAXWELLSchen Gleichungen aus der kinematischen Beschreibung sich bewegender Massen und Ladimgen zu berechnen ist. Die elektrodynamischen Feldstärken, die nur mathematische Hilfsgrößen sind, werden daher von den Physikern gern als „real" bezeichnet. Aber das ist, technisch gesehen, ein überflüssiger Sprachgebrauch.

Ich übergehe den weiteren Ausbau der klassischen Physik zur Thermodynamik, Akustik und Optik. Die Wahrnehmungstermini „Wärme", „Schall" und „Licht", von denen die Namen dieser physikalischen Teildisziplinen abgeleitet sind, werden durch kinematisch definierte Termini ersetzt: für die Physik gibt es nur bewegte Massen und Ladungen. Diese Ersetzung ist, wie wir alle wissen, technisch sehr erfolgreich. Alle unsere Maschinen funktionieren hinreichend gut: die Autos, die Heizungen, die Radios, die Fotoapparate, usw. Werm sie nicht funktionieren, so nicht aufgrund der Technik, sondern aus ökonomisch-politischen Gründen: die guten Apparate sind für die meisten Leute zu teuer. Auf diese kritische Genese der Physik zurückblickend, können wir jetzt sagen, daß wir die Physik als eine Teildisziplin der Technik rekonstruiert haben. Als Methodologie der so begriffenen Physik haben sich dabei die folgenden 3 Hauptschritte ergeben: 1. Schritt: Expliziere die idealen Normen der Protophysik. Das sind die Normen, die die 4 fundamentalen Meßgrößen definieren: Länge, Dauer, Masse und Ladung (m, sec, kg und Cb). Die Basis dieser Normen ist die erfolgreiche vorwissenschaftliche Technik der Formung von Körpern, der Bewegungsführung von Körpern und der Isolierung von Stoßvorgängen und elektrischen Kraftwirkungen. Wer an diesen fundamentalen Meßgrößen etwas

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ändern wollte, müßte zunächst diese verwissenschaftlichen Techniken durch andere ersetzen. 2. Schritt: Sammle systematisch, insbesondere durch gezielte Experimente, Beobachtungsdaten, die mit den Mitteln der Protophysik meßbar sind, und stelle technisch nützliche „Gesetze" auf, die zu den Daten passen. Diese Gesetze liefern Voraussagen für die Bewegungen von Massen und Ladungen. 3. Schritt: Erfinde ein System von Kraftfunktionen, so daß nach dem NewTONschen Programm möglichst viele empirische Gesetze möglichst einfach deduzierbar werden. Es ist klar, daß das Sammeln von Daten, das Aufstellen von Gesetzen rmd das Erfinden von Kraftfunktionen niemals nur eine Lösung haben wird. Hier herrscht der sog. Theoriendarwinismus, der aber als Kriterium die technische Nützlichkeit haben sollte. Nur der erste Schritt, der die Explikation der faktisch seit altersher und auch in der Gegenwart erfolgreichen Fundamentaltechniken verlangt, läßt eine eindeutige Lösung zu: von der EuKUDischen Geometrie über die GALiLEische Kinematik imd HUYGENSSche Stoßdynamik bis zur CouLOMBschen Elektrostatik. Gewiß ist denkbar, daß auch das NswiONSche Programm durch ein anderes ersetzt würde — aber wer das versuchen sollte, dürfte sich z. B. nicht auf die MAXWELLschen Gleichungen berufen. Diese sind nur im NEWTON sehen Programm sinnvoll. Ich will mich jedoch an das EDDINGTONsche Verbotsschild vor der post-klassischen Physik halten — und dieses im Umbau befindliche Gebäude nicht betreten. Eine fünfte fundamentale Meßgröße ist jedenfalls bisher nicht hinzugekommen. Mit der vorgetragenen technischen Begründung läßt sich alles, was die Physiker bis 1900 getan haben, rechtfertigen — notfalls allerdings gegen ihre Selbstdeuttmg. Wir beginnen mit erfolgreichen vorwissenschaftlichen Techniken — das ist also keine Science-fiction, sondern wir explizieren nur, was auch heute noch wirklich und technisch wirksam getan wird — der Rest ist eine Reihe von bewundernswerten Leistungen, die unsere Technik immer effizienter gemacht haben. Füllt man die hier gegebene Skizze einer kritischen Genese der Physik in allen erforderlichen Details aus, dann hat man einen Beweis der kulturalistischen These, daß die Naturwissenschaften ein Teil der Technik sind. Denn ein Beweis dieser These ist nicht anders als durch eine kritische Genese zu führen. Ich komme daher zum Schluß auf Teil I zurück. Die kulturalistische These zu beweisen, war hier kein Selbstzweck. Dies war nur erforderlich.

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um die Wege frei zu bekommen zu kritischen Kulturwissenschaften, die Reformen als ihren Zweck haben. Die Kulturwissenschaften müssen ja erst noch auf den Weg ernsthaft fortschreitender Wissenschaften gebracht werden, so daß sich die Denkergebnisse langsam kumulieren. Dieser Weg ist z. Z. blockiert durch unbegründete Deutungen der Naturwissenschaften. Die analytische Wissenschaftstheorie der Physik hat leider den Effekt, diese sonst unreflektierten Deutungen durch einen großen Aufwand an Scharfsinn als wissenschaftlich überprüft erscheinen zu lassen. Eine kritische Kulturwissenschaft in Gang zu bringen, insbesondere unsere ökonomischen und politischen Institutionen wissenschaftlich kritisieren zu können, um über Reformen rational argumentieren zu können — das erfordert die Erarbeitung kritischer Sinngenesen der Normensysteme, die diese Institutionen definieren. Es bedeutet aber nicht, daß wir die Methodologie der Naturwissenschaften, schon gar nicht das NEWxoNsche Programm, auf unsere Kulturgebilde anwenden. Die Kulturgeschichte und auch die empirischen Sozialwissenschaften hören dadurch auf, Gesetzeswissenschaften zu sein. Es sind deskriptive Wissenschaften, die den faktischen Wandel der Sinngehalte, die Sinnesänderungen der Menschen, erforschen. Das Wissen um die gegenwärtigen faktischen Sinngehalte, zumindest ein statistisches Wissen über ihre Verteilung, ist unerläßlich für jeden, der etwas verändern will. Weiß man, welche Sinngehalte in den Köpfen stecken, und — das ist entscheidend — weiß man wenigstens statistisch, wie die subjektive Rationalität verteilt ist, dann kann man die Wirkung von Reformmaßnahmen Voraussagen. Denn, daß jemand, der subjektiv rational ist, aufgnmd seines Sinngehaltes handeln wird, das ist analytisch-wahr. Es handelt sich hier nicht um Gesetze, die — unter Heranziehung der Geschichte — empirisch zu überprüfen wären. Historisches Wissen hat keine prognostische Kraft, denn die Sinngehalte früherer Zeiten sind mit ihren Trägem verschwunden. Historisches Wissen liefert aber die faktische Genese der gegenwärtigen Sinngehalte — und nur durch Kritik faktischer Genesen (wobei das einzige Kriterium das Prinzip der Transsubjektivität ist) kommen wir zu kritischen Genesen unserer gegenwärtigen Kultur, also zu begründeter Kulturkritik. Historisches Wissen hat — für sich genommen — keine Kraft, aber wenn es für die Gegenwart kritisch benutzt wird, hat es reformerische Kraft. Vorbedingung kritischer Kulturwissenschaft ist, daß sie sich von der Methodologie der Naturwissenschaften befreit. Diese Methodologie ist — auf den Menschen angewendet — nur sinnvoll, insofern der Mensch auch ein Stück Natur ist. Menschliche Körper können technisch wie alle anderen Körper bewegt werden. Und da wir Organismen sind, ist alles, was

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wir aus der Biologie der Pflaivzen wissen, auf Menschen anwendbar — sogar alles, was wir aus der Biologie der Lerntiere, aus der sog. Verhaltensforschung, wissen. Wenn wir aber erst einmal den Naturwissenschaften den ihnen gemäßen Platz im umfassenden System unserer Kultur gegeben haben, dann ist damit schon entschieden, daß der naturalistische Ansatz, die Kultur naturwissenschaftlich zu behandeln, unangemessen ist. Wissenschaft beginnt nicht, indem wir uns zuerst als Naturdinge beobachten, sondern wir haben damit zu beginnen, daß wir als Mitglieder einer Kulturgemeinschaft zumindest den Versuch machen, unsere bloßen Subjektivitäten zu transzendieren. Wir haben nicht zu erklären, wie sich Kultur im Naturprozeß entwickelt hat. Wir haben vielmehr Theorien über den Naturprozeß, z. B. die Evolutionstheorie, als Teil unserer Kultur zu begreifen. Den Naturwissenschaften der letzten 4 Jahrhunderte ist es gelungen, Mythen und Theologie aus dem Wege zu räumen, so daß sie die kritische Prüfung unserer Kulturinstitutionen, insbesondere der Wirtschaft und der Politik, nicht mehr blockieren können. Aber mm hat gerade dieser Erfolg der Naturwissenschaften ein neues Hindernis hervorgebracht: den Naturalismus. Dieses können wir nur dadurch aus dem Weg räumen, daß wir ims eine kritische Genese der Institution der Naturwissenschaften erarbeiten. Erst dann wird der Weg frei sein, die praktischen Institutionen, in denen über die Zwecke (nicht über die Mittel) entschieden wird, kritisch zu prüfen. Das wird allerdings auch im günstigsten Falle keine leichte Aufgabe sein. Denn die Situation des modernen Intellektuellen ist immer noch die der ersten Intellektuellen in der griechischen Antike: wir leben immer noch in der primären Entfremdung von unserer eigenen Sprache. Es gibt keine Möglichkeit, zu einer Wissenschaft von unseren Kulturinstitutionen, einschließlich der Sinngehalte der Träger dieser Institutionen, zu kommen — es sei denn, wir beginnen ernsthaft damit, eine Wissenschaftssprache zu konstruieren, die wir als von uns selbst hervorgebracht begreifen, herunter bis ins letzte syntaktische Detail. Der Anfang aller Kulturwissenschaften liegt in der Rationalen Grammatik einschließlich Logik. Daß zumindest die Logik den Anfang aller Wissenschaften bildet, darin stimmen sogar beide Wissenschaftssysteme überein.

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ZUR FRAGE DER MARXISTISCHEN POSITIVEN AUFFASSUNG DES PHILOSOPHISCHEN SYSTEMS Zu Beginn unseres Jahrhunderts wurde das Verhältnis des MARxismus zur Philosophie des öfteren als ein uneingeschränkt negatives interpretiert. Nicht nur Gegner, sondern auch Anhänger des MARxismus behaupteten manchmal, diese Lehre hätte der Philosophie den Garaus gemacht. So schrieb zum Beispiel KARL KAUTSKY, daß er den Marxismus nicht als eine philosophische Lehre, sondern als eine „empirische Wissenschaft", als eine „besondere Gesellschaftsauffassung" betrachte Eines der großen Verdienste G. V. PLECHANOWS bestand in seinem hiergegen geführten Nachweis, daß der MARxismus die Philosophie nur im alten, traditionellen Sinne des Wortes verneint, jedoch gerade eine Philosophie neuen Typs schafft — den dialektischen und historischen Materialismus. Was verneint nun der MARxismus an den philosophischen Lehren der Vergangenheit? Er verneint die Entgegenstellung von Philosophieren und von nichtphilosophischer, ihrer Natur nach praktischer Tätigkeit auf der einen, und von nichtphilosophischer Forschung auf der anderen Seite. Diese Entgegenstellung hatte in der Vergangenheit ihre historische Berechtigung, wurde jedoch bereits im 19. Jahrhundert zu einem Anachronismus. Einerseits wurde sich die Philosophie dessen bewußt, daß sie nicht ein außenstehender Beobachter der sozialen Kataklysmen sein kann. Andererseits haben die großen wissenschaftlichen Entdeckungen ad oculos demonstriert, daß nichtphilosophische Forschungen große philosophische Bedeutung haben. Die philosophische Vernunft beginnt sich dessen bewußt zu werden, daß sie sich nicht als ein reines, souveränes, sich selbst bewertendes Denken über der unvernünftigen empirischen Realität erhebt. Philosophen, so schrieb der jimge MARX, „wachsen nicht wie die Pilze aus der Erde, sie sind die Früchte ihrer Zeit, ihres Volkes, dessen subtilste, kostbarste und unsichtbarste Säfte in den philosophischen Ideen roulieren. Derselbe Geist baut die philosophischen Systeme in dem Hirn » Vgl. Der Kampf. 1909. Heft 10. 452.

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der Philosophen^ der die Eisenbahnen mit den Händen der Gewerke baut." ^ Indem also der MARxismus eine philosophische Vernachlässigung der nichtphilosophischen Wirklichkeit ablehnt, deckt er eine historische Perspektive der schöpferischen Entwicklung der Philosophie auf Grund ihres Bündnisses mit der nichtphilosophischen Theorie und mit dem praktischpolitischen Kampf gegen all das auf, was Philosophie — im besten Falle — auf nur spekulative Weise verurteilte. „Bisher hatten die Philosophen die Auflösung aller Rätsel" — so sagte MARX ironisch — „in ihrem Pulte liegen, und die dumme exoterische Welt hatte nur das Maul aufzusperren, damit ihr die gebratenen Tauben der absoluten Wissenschaft in den Mund flogen." ^ Mit seiner Ablehnung einer solchen Einstellung zu den wirklichen Problemen der Menschheit vom Standpunkt eines in sich abgeschlossenen, selbstzufriedenen Systems der Philosophie aus hat MARX jede Art utopischer Erwägungen über die Zukunft der Menschheit verworfen und an ihre Stelle die Bestrebung gesetzt, vermittels der Kritik der kapitahstischen Wirklichkeit einen gesetzmäßigen, durch die historische Entwicklung bedingten Weg in diese Zukunft zu finden. Er hält seine Kritik des Daseienden nicht für eine von diesem unabhängige Kraft. Im Gegenteil: er verbindet diese Kritik mit dem sich schon irmerhalb der bürgerlichen Gesellschaft entfaltenden Befreiungskampf des Proletariats. Indem er die wissenschaftliche Bedeutung dieser parteilichen Position bestimmte, führte er aus: „Wir treten dann der Welt nicht doktrinär, mit einem neuen Prinzip entgegen: Hier ist die Wahrheit, hier kniee nieder! Wir entwickeln der Welt aus den Prinzipien der Welt neue Prinzipien." ^ Diese Aussagen von MARX machen den eigentlichen Sinn seiner letzten pEUERBACHthese verständlicher: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es gilt aber, sie zu verändern." Im Gegensatz zu zahlreichen nichtMARXistischen Deutungen dieser These gilt es zu unterstreichen: MARX hat keineswegs eine philosophische Interpretation der Welt abgelehnt. Er trat nur gegen die Einschränkung der Aufgaben der Philosophie auf eine Interpretation des Seienden ein; denn solch eine Selbsteinschränkung der Philosophie stellt sie dem Kampf für die radikale Umgestaltung dieses Seienden entgegen. Der wahre Sinn dieser These bestand daher in dem kategorischen Imperativ, die Philosophie zur theoretischen Begründung der Notwendigkeit der radikalen Verändenmg der Welt zu machen. * K. Marx / F. Engels: Werke. Bd 1. 97 » Ebd. 344. * Ebd. 345.

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Ein weiterer Grundaspekt der MARxistischen Ablehnung der traditionellen philosophischen Systeme bestand, wie schon gesagt, in der Verneinung einer Entgegenstellung von Philosophie und nichtphilosophischer Erforschung der Wirklichkeit. Eine derartige Erforschung der Wirklichkeit bleibt immer unabgeschlossen, ihre Ergebnisse sind eine nur annähernde Widerspiegelung der Wirklichkeit. Innerhalb dieser Entgegenstellung setzte sich die Philosophie das Ziel, ein von der weiteren Entwicklung der Erkenntnis unabhängiges System des endgültigen Wissens zu schaffen. Es wäre kurzsichtig, nicht zu sehen, daß dieses Ideal eines absoluten Wissens, welches der Naturwissenschaft und der Geschichte entgegengestellt wurde, von der Philosophie — mag dies auch paradox klingen — gerade aus der Wissenschaft selbst übernommen worden war. Im Verlauf von über eineinhalbtausend Jahren erschien die EuKLioische Geometrie nicht nur den Philosophen, sondern auch den Männern der Wissenschaft als ein abgeschlossenes, von der Erfahrung schlechterdings unabhängiges, keiner weiteren Entwicklung bedürftiges System endgültiger Wahrheiten. Niemandem kam es in den Sinn, daß die Axiome der Geometrie nur in annähernder Weise die Wirklichkeit widerspiegeln. Niemand wagte es, auch nur die abstrakte Möglichkeit einer anderen Geometrie zu erwägen. Etwa eine ähnliche Situation gab es in der formalen Logik, die auch als eine Wissenschaft galt, die den Gegenstand ihrer Forschung erschöpft habe. Die Logik war Teil der Philosophie. So ist es nicht verwunderlich, daß die Philosophen bestrebt waren, auch das Ganze des philosophischen Wissens mit dessen, wie es schien, abgeschlossenem Teil gleichzusetzen. Die philosophischen Systeme waren somit ein unmittelbarer Ausdruck dieser Gegenüberstellung von Philosophieren und nichtphilosophischer Forschung. Diese Systeme schufen nicht nur Rationalisten, sondern auch Empiristen, nicht nur Idealisten, sondern auch Materialisten. DESCARTES versuchte das gesamte System möglichen philosophischen Wissens aus dem cogito zu deduzieren, SPINOZA baute sein System more geometrico auf. KANT hat richtig aufgezeigt, daß das cogito nicht eine voraussetzungslose Grundlage ist, da es implizit ein „Bewußtsein des Daseins anderer Dinge außer mir" ® voraussetzt. Der axiomatischen Methode SPINOZAS setzte KANT die von ihm begründete These entgegen: Axiome und Definitionen im mathematischen Sinne des Wortes sind in der Philosophie nicht möglich. Und doch unternahm KANT einen großartigen Versuch des Aufbaus eines Systems der reinen Vernunft als eines Systems des abgeschlossenen, absoluten Wissens. Die Illusionen seiner Vorgänger teilend. *

I. Kant: Kritik der reinen Vernunft. B 276.

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schrieb er über seine Philosophie: „In dieser Unveränderlichkeit wird sich dieses System, wie ich hoffe, auch fernerhin behaupten." ® FICHTE verwarf den Dualismus KANTS, kehrte zum cogito zurück, das er jedoch nicht einfach als Axiom ansah, sondern als Tathandlung, vermittels welcher das Ich sich selbst und das Objekt seiner Tätigkeit — das Nicht-Ich — setzt. Eben deswegen hat FICHTE auch die Deduktion der Grundkategorien des Systems als schöpferische Tätigkeit des absoluten Ich, als dessen Selbstentwicklung betrachtet. Ähnlich wie KANT nahm FICHTE an, daß sein System den Gegenstand der philosophischen Forschung vollständig erschöpft, also ein System aller philosophischen Wahrheiten darstellt. Diese Illusion teilte auch SCHELLING — wie sich versteht, nur bezüglich seines eigenen Systems. Die absolute Autonomie bildet laut SCHELLING eine attributive Charakteristik des wahren Philosophiesystems, welches, wie der Philosoph sagte, „sich selbst trägt, und in sich selbst zusammenstimmt" Hegel unternahm einen genialen Versuch, im Ausgang von einer dialektischen Entwicklungskonzeption ein System des philosophischen Wissens aufzubauen und damit den entfalteten Begriff eines philosophischen Systems zu liefern. Dabei ging er von dem richtigen Gedanken aus, daß das Vergängliche in den philosophischen Lehren der Vergangenheit eben gerade die Systeme waren, die durch Verabsolutierung von Prinzipien aufgebaut wurden, welche nur in bestimmten Grenzen wahr sind, über diese Grenzen hinaus jedoch einer dialektischen Negation unterliegen. Philosophie ist das Wissen einer bestimmten Epoche, ist ein Bewußtsein, dessen Prinzipien, befreit von ihrer historischen Begrenztheit, ihre Bedeutung “ Ebd. B XXXVIII. An anderer Stelle der Vorrede zu der zweiten Auflage dieses Werkes drückt Kant die Hoffnung aus, daß er ein System „für die Nachwelt als einen nie zu vermehrenden Hauptstuhl zum Gebrauch niederlegen kann". B XXIV. ’ F. W. 7. Sdtelling; System des transcendentalen Idealismus. Tübingen 1800. 25. — Es gilt hervorzuheben, daß eine solche rein spekulative Auffassung des philosophischen Systems auch heute noch nicht verschwunden ist. Sie wird etwa in der französischen „Philosophie der Philosophiegeschichte'' wieder belebt, deren führender Kopf M. Gueroult meint, daß jede hervorragende philosophische Lehre „eine Welt, die in sich selbst geschlossen ist, ein Weltall des Gedankens, das auf sich selbst beruht, kurz gesagt, also ein System" sei. Jedes System ist in Wahrheit „eine Demonstration seiner selbst, es schließt sich in sich und in Grenzen ab, die es sich a priori selbst setzt, d. h. entsprechend den Normen, die durch das grundlegende Ausgangsurteil gesetzt werden. Diese Selbstbefriedigung ist ein Merkmal des Absoluten und es enthält in sich den Anspruch auf ein allumfassendes und ausschließliches Wissen." (Zitiert nach Ch. Perelman: Le reel commun et le reel philosophique. In: Etudes sur l'histoire de la Philosophie. Paris 1964. 131.) M. Gueroult führt somit jene subjektivistische Auffassung von der Natur philosophischer Systeme bis zu dem logischen Abschluß, der implizit schon in den klassischen Lehren enthalten war.

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auch für die darauffolgende Entwicklung des philosophischen Wissens behalten. Deswegen ist die Negation der je vorhergehenden Stufe der philosophischen Entwicklung gleichzeitig auch die Aneignung des von ihr Erreichten und die Bewegung zu einer neuen, höheren Stufe des philosophischen Wissens. Die Wahrheit ist ein Prozeß, d. h. ein sich entwickelndes Wissen, das von einer Bestimmung zur anderen aufsteigt, zu immer Konkreterem, dabei ein sich weiterentwickelndes System kategorialer Bestimmungen bildend. Hegel schrieb: „Die wahre Gestalt, in welcher die Wahrheit existiert, kann allein das wissenschaftliche System derselben sein." ® Somit sehen wir, daß Hegel sich einem grundsätzlich neuen Begriff von philosophischem System nähert. Er verneint eben jene Merkmale des Begriffs des Systems, welche seinen Vorgängern als konstituierende Merkmale jeden philosophischen Systems galten. Er verwirft auch die Vorstellung, nach welcher man philosophische Systeme aus grundlegenden Axiomen deduzieren könne. Das Kategoriensystem der Hegelschen Wfsseuschaft der Logik ist, von diesem Standpunkt aus betrachtet, nicht das Resultat einer Deduktion oder, genauer gesagt, die Deduktion ist die Reproduktion des objektiven Entwicklungsprozesses, dessen allgemeine Form, laut Hegel, das Logische, verstanden als Substanz-Subjekt, ist. Deswegen ist nach Hegel das Endergebnis des philosophischen Systems dessen Anfang, der jedoch den ganzen Weg seiner Entwicklung, seiner Entfaltung und Verwirklichung durchlaufen ist. Deswegen müssen alle vorherigen philosophischen Lehren als Momente des sich historisch herausbildenden Systems wahrer Philosophie gewertet werden. Hegel schrieb: „So ist Philosophie System in der Entwicklung, so ist es auch die Geschichte der Philosophie." ® Diese Auffassung von der Philosophie (und der Philosophiegeschichte) als einem sich entwickelnden System ist ein genialer Beitrag Hegels zur Entwicklung des philosophischen Wissens. Und doch blieb Hegel im Endergebnis auf dem alten Standpunkt stehen, da er seine historische Epoche (und damit auch seine Philosophie) als den Abschluß der philosophischen Entwicklung der Menschheit verstand. Hegels Idealismus hat theoretisch diese antidialektische Konzeption des philosophischen Systems vorbereitet und bestimmt, wie auch die dieser Konzeption entsprechende rein retrospektive Deutung der Entwicklung der Philosophie. Denn Philosophie ist laut Hegel das Selbstbewußtsein des göttlichen Absoluten, und in ihrer Entwicklung in der Zeit ist sie nur ® G. W. F. Hegel: Phänomenologie des Geistes. Hrsg, von J. Hoffmeister. 12. • G. VJ. F. Hegel: Werke. Berlin 1832 ff. Bd 13. 42.

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eine Widerspiegelung, eine Abbildung dessen, was ewig schon in der „absoluten Idee" existiert. Diese erfaßt sich selbst vermittels der intellektuellen Tätigkeit der Menschheit, die sich im Verlauf der Weltgeschichte vollzieht, weswegen die Entwicklung nie aufhört. Somit erweist sich sowohl die Philosophiegeschichte, wie auch die Philosophie der Geschichte als jenes Spiel der Gottheit mit den Menschen, welches Hegel nicht ohne Verschlagenheit als die List der Weltvernunft bezeichnet hat. Indem Hegel sein System als Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften erarbeitete, mußte er unumgänglich den Weg der Gegenüberstellung von Naturphilosophie und Naturwissenschaft, von Geschichtsphilosophie und Geschichtswissenschaft, von Rechtsphilosophie und Rechtskunde usw. betreten. Die Aufstellung des spekulativen Systems Hegels vollzog sich auf dem Wege der Verabsolutierung des erreichten Niveaus der wissenschaftlichen Erkenntnis. Dabei zeigten sich unumgängliche Lücken. Doch die Philosophie will sich nicht mit der Existenz weißer Eelder abfinden; sie radiert diese aus der Weltkarte mit Hilfe naturphilosophischer oder philosophiehistorischer Spekulationen einfach aus. HEINRICH HEINE hat in überzeugender Art den psychologischen Mechanismus dieser systemschöpfenden Tätigkeit aufgedeckt. Er schrieb: „Zu fragmentarisch ist Welt und Leben! Ich will mich zum deutschen Professor begeben. Der weiß das Leben zusammenzusetzen. Und er macht ein verständlich System daraus; Mit seinen Nachtmützen und Schlafrockfetzen Stopft er die Lücken des Weltenbaus." Hegels Lehre hat überzeugend — wie sich versteht, entgegen dem Vorhaben des Schöpfers dieser Lehre — bewiesen, daß jegliche metaphysische Systemschöpfung unhaltbar bleibt, d. h.: jeder Anspruch auf den Ausbau eines Systems abgeschlossener philosophischer Erkenntnis erweist sich als unhaltbar. „Systematik" sei „nach Hegel unmöglich" — schrieb F. ENGELS. „Daß die Welt ein einheitliches System, d. h. ein zusammenhängendes Ganzes vorstellt, ist klar, aber die Erkenntnis dieses Systems setzt die Erkenntnis der ganzen Natur und Geschichte voraus, die die Menschen nie erreichen. Wer also Systeme macht, muß die zahllosen Lücken durch eigne Erfindungen ausfüllen .. ." Diese Bemerkung von ENGELS ist von größter Bedeutung, vor allem als Anerkennung des ontologischen Gehalts des Systembegriffs. Der Begriff des Systems ist nicht auf eine rationale K. Marx / F. Engels: Werke. Bd 20. 574.

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Gruppierung, Klassifizierung, Systematisierung von Kenntnissen zu reduzieren. Die Welt ist ein zusammenhängendes Ganzes, ein System. Diese These ist selbstverständlich keine einfache Feststellung, sie beruht vielmehr auf einer Zusammenfassung der Daten, die dank der Erkenntnis von qualitativ unterschiedlichen Fragmenten des Universums an die Hand gegeben werden. Eine Verallgemeinerung dieser Art ist gerechtfertigt, soweit sie nicht in Widerspruch zu neuen Erkenntnissen tritt. Und da der Begriff des Weltsystems ein sich entwickelnder Begriff ist, enthält er in sich keinerlei dogmatische Imperative. Mit anderen Worten, die Anerkennung des Systemcharakters, der systematischen Einheit der Welt, ist zugleich die Anerkennung dessen, daß die Erkenntnis des Weltsystems nie abgeschlossen werden wird. Die Unabgeschlossenheit ist nicht nur eine quantitative, sondern auch eine qualitative Charakteristik des Wissens, das heißt, sie bezieht sich auch auf einzelne Fragmente desselben. Eben deswegen sind nicht nur alle Systeme der Metaphysik und Naturphilosophie unhaltbar, sondern auch alle die in Natur- und Gesellschaftswissenschaft vor gekommenen Versuche, dem Erreichten (als eines immer historisch Beschränkten) den Charakter eines abgeschlossenen Systems endgültiger Wahrheiten zu verleihen. Die Negierung metaphysischer Systeme, d. h. der dogmatischen Verabsolutierung eines bestimmten Systems miteinander verbundener philosophischer Sätze, stellt keineswegs die Möglichkeit und Notwendigkeit einer systematischen Einheit der philosophischen Lehre in Frage. Philosophische Systeme entstehen nicht aus überheblichen Ansprüchen hervorragender philosophierender Individuen; sie sind im Gegenteil notwendige Ergebnisse des Erkenntnisprozesses. Philosophische Erkenntnisse, wie auch jedes Wissen überhaupt, sind beschränkt — zumindest durch das Niveau der eigenen Entwicklung. Doch diese Begrenzung wird durch die darauffolgende Entwicklung aufgehoben, welche, versteht sich, auch nicht von Beschränkungen frei ist. F. ENGELS schrieb, daß ein jedes philosophisches System „aus einem unvergänglichen Bedürfnis des Menschengeistes hervorgeht: dem Bedürfnis der Überwindung aller Widersprüche" Doch ist die Lösung aller Widersprüche ebenso unmöglich, wie etwa die gezählte Unendlichkeit unmöglich ist. Dieser Umstand stellt jedoch der systematischen Weiterentwicklung der philosophischen Erkenntnis keinerlei Grenzen. Soweit die genannte Gesetzmäßigkeit eingesehen ist — und das verdanken wir in bedeutendem Maße Hegel — geht die gesamte Philosophie im alten, traditionellen Sinne des Wortes ihrem Ende entgegen. “ K. Marx / F. Engels: Werke. Bd 21. 270.

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Hegels Philosophie schließt die vorherige Entwicklung der Philosophie damit ab, daß sie, allerdings in unbewußter Weise, den Weg aufzeigt, der, wie ENGELS sagte, „aus diesem Labyrinth der Systeme zur wirklichen positiven Erkenntnis der Welt" führt Somit stellt ENGELS der metaphysischen Konzeption eines philosophischen (wie im übrigen auch eines wissenschaftlichen) Begriffssystems den Begriff der systematischen Erkenntnis entgegen, der nicht einfach rationale methodische oder gar methodologische bzw. epistemologische Gruppierung vorhandener Erkenntnisse meint, sondern gerade Erkenntnis des Systemaufbaus selbst, der sowohl der Welt als Ganzer, als auch allen ihren Bestandteilen eigen ist. Es versteht sich, daß systematische Erkenntnis und Systemaufbau nicht nur in der Philosophie, sondern auch in jeder beliebigen Einzelwissenschaft völlig verschiedene Dinge sind. Wenn jedoch der Gegenstand systematischer Erkenntnis ein qualitativ bestimmtes System darstellt, so wird die Erkenntnis dieses von der Erkenntnis unabhängigen Systems zum Ziel der Forschung. In diesem Falle tritt die Entwicklung des Systems der Erkenntnisse als fortschreitende Erkenntnis eines bestimmten Systems von Erscheinungen auf. Ein solches System von Erkenntnissen ist synonym für Wissenschaft im modernen, heutigen Sinne des Wortes. Hegel stellte die Wissenschaft einer „Sammlung von Kenntnissen" entgegen. Wissenschaftlichkeit, Wahrheit, Systematik waren für Hegel Begriffe von gleichem Rang. Hegel vertrat den Standpunkt, daß das „Wahre als konkret nur als sich in sich entfaltend und in Einheit zusammennehmend und haltend, d. i. als Totalität ist" Dieses Prinzip bezog Hegel vor allem auf das philosophische Wissen. „Ein Philosophieren ohne System” — so schrieb er — „kann nichts Wissenschaftliches sein." Hier fällt also Hegels Begriff der Philosophie als Wissenschaft — im Gegensatz zur traditionellen „Weisheitsliebe", mit dem Begriff eines dialektisch verstandenen philosophischen Systems zusammen. Darin besteht augenscheinlich der Sinn folgender These Hegels: „Unter einem Systeme wird fälschlich eine Philosophie von einem beschränkten, von anderen unterschiedenen Prinzip verstanden; es ist im Gegenteil Prinzip wahrhafter Philosophie, alle besonderen Prinzipien in sich zu enthalten."^® Dieser 12 Ebd. 270. 13 G. W. F. Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830). § 16. 1* Ebd. § 14. 13 Ebd. 1» Ebd.

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Satz Hegels enthält, entgegen allen Meinungen seiner Kritiker, überhaupt nichts von Eklektizismus. Es handelt sich hier um die dialektische Negation aller besonderen Prinzipien vom Standpunkt des grundlegenden, allgemeinsten Prinzips aus, als welches Hegel den idealistischen Grundsatz seines Systems betrachtete. Hegel war sich durchaus des Dilemmas bewußt: Materialismus oder Idealismus? Indem Hegel ein idealistisches System von Ansichten erarbeitete, wollte er beweisen, daß die Unvereinbarkeit verschiedener philosophischer Lehren innerhalb der Grenzen einer und derselben Richtung die Folge der Verabsolutierung besonderer Grundsätze ist. Hegel war bestrebt, die idealistischen Lehren zu synthesieren, denn er meinte, daß die dialektische Negation ihrer besonderen Prinzipien dieselben in miteinander vereinbare Elemente des wahren philosophischen Systems umgestaltet. Hegel hat als einziger die historische Entwicklung der idealistischen Philosophie bilanziert. Doch kraft seines idealistischen Inhaltes stand sein System im Widerspruch zu der von ihm selbst erarbeiteten dialektischen Entwicklungskonzeption. Der „Absolute Geist" erfordert einen endgültigen Abschluß der philosophischen Entwicklung. Das Prinzip der Identität von Sein und Denken reduziert, trotz aller dialektischen Ausreden, das Sein auf ein ontologisch interpretiertes Denken, schließt damit das epistemologische Prinzip der Widerspiegelung aus. Wissen erweist sich als mit dem Sein identisch; das System des Wissens, der Erkenntnisse, wird als Seinssystem gedeutet, das seine Bestimmungen entfaltet und sich ihrer bewußt wird. Hegel schenkte dem menschlichen, subjektiven Charakter der Erkenntnis zu wenig Beachtung, und daher auch den Widersprüchen zwischen jedem System von Erkenntnissen und dessen Gegenstand — dem von der Erkenntnis unabhängig existierenden System. Die Auflösung dieser Widersprüche, genauso wie die Entstehung neuer Widersprüche — das ist ein wesentlicher Aspekt der Entwicklung der Erkenntnis, ist jener Aspekt, der auch aus dem Blickfeld Hegels herausfiel. Dabei sind die Widerspiegelung der Wirklichkeit, die Verzerrung ihrer Gestalt und (in bestimmten Grenzen) die Überwindung dieser Verzerrung wesentliche Momente der Dialektik des Erkenntnisprozesses, der Dialektik von Wahrheit und Irrtum. W. I. LENIN schreibt: „Wir können die Bewegung nicht vorstellen, ausdrücken, ausmessen, abbilden, ohne das Kontinuierliche zu unterbrechen, ohne zu versimpeln, zu vergröbern, ohne das Lebendige zu zerstückeln, abzutöten. Die Abbildung der Bewegung durch das Denken ist immer eine Vergröberung, ein Abtöten — und nicht nur die Abbildung durch das Denken, sondern auch durch die Empfindung, sondern auch

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die jedes Begriffs. Und darin liegt das Wesen der Dialektik. Gerade dieses Wesen wird auch durch die Formel ausgedrückt; Einheit, Identität der Gegensätze." LENIN unterstreicht damit, daß eine Verzerrung der Gestalt der zu erkennenden Wirklichkeit nicht nur in Urteilen, Schlüssen und Theorien erfolgt. Die Wurzeln der Verzerrung des zu erkennenden Gegenstandes zeigen sich schon in den elementaren Akten der Erkenntnistätigkeit, in der Erkenntnisfähigkeit als solcher, die zugleich auch die Fähigkeit zu irren ist, denn es gibt natürlich keine besondere Fähigkeit zu irren. Die Überwindung dieser verzerrten Abbildung der Wirklichkeit, die Herausbildung einer adäquaten Abbildung des Objektes — das ist ein komplizierter Prozeß, dessen Erforschung innerhalb des Systems Hegels eben deswegen keinen Platz erhielt, weil das erkennende Denken idealistisch als Substanz interpretiert wurde, die zum Subjekt wird, als das Absolute, das im Besitz der vollen Gesamtheit möglichen Wissens ist. Somit fehlt bei Hegel eigentlich die Fragestellung nach dem Verhältnis des Systems von Erkenntnissen zu den wirklichen Forschungsobjekten, die auch Systemcharakter tragen. Der Systembegriff als Begriff eines ganzheitlichen Komplexes, der die ihn bildenden Elemente bestimmt und der gleichzeitig durch deren Wechselwirkung selbst bestimmt ist, wurde zuerst von MARX im Verlauf seiner Erforschungen des kapitalistischen Systems der Produktionsverhältnisse erarbeitet. Die vorMARXschen Systembegriffe hatten eine sehr beschränkte heuristische Bedeutung, da sie von der Annahme der Existenz unveränderlicher Elemente — etwa in der Art der demokritischen Atome — ausgingen. Systemforschung wurde als Analyse möglicher Kombinationen unveränderlicher Bestandteile aufgefaßt. Das Ganze wurde auf die es bildenden unveränderlichen Bestandteile reduziert; es galt also als durch seine Teile bestimmt. Deren Stellung als dieses Ganze bildende Teile verlieh diesen keinerlei neue qualitative Charakteristiken. Die Zahl der Elemente, die das jeweilige System (genauer gesagt — das Ganze) bilden, wurde auch als unveränderlich, als ein für allemal gegeben vorgestellt. Deswegen dachte man sich auch das System als sich in einem Gleichgewicht befindend; eine Vorstellung von Veränderung, von Entwicklung des Systems gab es faktisch nicht. Im Gegensatz zu einer derart antidialektischen Auffassung des Systemganzen erforscht MARX die Entwicklungsgesetzmäßigkeiten des kapitalistischen Systems. Die Elemente der ökonomischen Struktur der bürgerlichen Gesellschaft werden von ihm als solche betrachtet, die sich qualitativ von den ökonomischen Elementen W. I. Lenin: Werke. Bd 38. 246.

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des feudalistischen Produktionssystems unterscheiden, ungeachtet dessen, daß es auch im Feudalismus Warenwirtschaft, Geld- und Handelskapital, Profit und Wucherzinsen, Rente usw. gab. So wird bei MARX zum Beispiel die Ware als die ökonomische Zelle des kapitalistischen Systems charakterisiert. Es versteht sich von selbst, daß die Ware nicht die ökonomische Zelle der feudalistischen Produktion war. MARX erforschte die erweiterte Reproduktion des kapitalistischen Systems, die Transformation der dieses bildenden Elemente, die durch diese Prozesse entstehenden Veränderungen, die Entwicklung neuer qualitativer Wesenszüge des kapitalistischen Systems, neue Tendenzen, Widersprüche, die Konzentration und Zentralisation von Kapital, das heißt alle jene Prozesse, die, wie LENIN später bewiesen hat, das Hinüberwachsen des Systems freier kapitalistischer Konkurrenz in ein System des monopolistischen und im weiteren staatsmonopolistischen Kapitalismus bedingen. Am Beispiel der von MARX gelieferten ökonomischen Untersuchungen über den Kapitalismus wird ersichtlich, daß das MARxistische Systemverständnis eine Konkretisierung, Vertiefung und Begründung der dialektisch-materialistischen Entwicklungstheorie darstellt. Dies unterscheidet es vor allem von jenen Systemauffassungen, die in der modernen westlichen Soziologie vorherrschen. In unserer Zeit hat der Systembegriff universale Bedeutung erhalten. Systemanalyse wird erfolgreich in der Linguistik, der Biologie, der Mathematik, der Mineralogie, der Logik und anderen Wissenschaften angewandt. Das Vorhandensein einer Mannigfaltigkeit qualitativ verschiedener Systeme erschwert es immer mehr, eine eindeutige Definition des Systembegriffs zu geben. Anscheinend ist es auch hierbei notwendig, dem bekannten Hinweis von MARX zufolgen, daß eine konkrete Bestimmung (in diesem Falle die des Systems) als eine Einheit verschiedener, mehr oder weniger abstrakter Definitionen zu betrachten sei. Somit wird die Systemdefinition selbst systemartig. Von diesen methodologischen Positionen aus muß man auch das Problem des philosophischen Systems diskutieren. Wenn der Systembegriff universelle Bedeutung hat, so muß er auch auf alle philosophischen Lehren anwendbar sein. Sie alle stellen Systeme dar, unabhängig von den Vorhaben ihrer Schöpfer und von der Weise ihrer Darstellung. Von diesem Standpunkt aus gesehen erweist sich die Negation philosophischer Systeme durch solche Philosophen wie KIERKEGAARD, NIETZSCHE, G. MARCEL nur als subjektive Seite der Sache, die man von der objektiven, dem Systeminhalt ihrer Lehren, unterscheiden muß, — und dies völlig unabhängig davon, daß diese Lehren in Form von Aphorismen, Tagebuchaufzeichnungen oder dergleichen dargelegt worden sind.

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Die MARxistische Negation der traditionellen philosophischen Systeme und der Philosophie im alten Sinne des Wortes überhaupt ist die Begründung eines philosophischen Systems neuen Typs. MARX und ENGELS schufen das dialektisch-materialistische System der Philosophie. Die Philosophie des MARXismus lehnt die Vorstellung von der Existenz eines ein für allemal gegebenen Systems ihrem Inhalt nach unveränderlicher philosophischer Kategorien ab. Vom Standpunkt des dialektischen Materialismus aus enthalten die Kategorien in sich ein bestimmtes Wissen von der Wirklichkeit, ein Wissen, das sich historisch entwickelt, sich bereichert, zu einer immer adäquateren Abbildung des objektiv Existierenden wird. Auch die Anzahl der philosophischen Kategorien ist nicht unveränderlich. Hegel hat die Frage nach einem System der sich entwickelnden Kategorien richtig gestellt. Der Hegelsche „Panlogismus" verzerrt jedoch den Entwicklungsprozeß der Kategorien und engt ihn ein, er trennt diesen Prozeß von der gesamten nichtphilosophischen Entwicklung. Die objektiven Wahrheiten, die durch die philosophischen Kategorien fixiert werden, werden durch die Erforschung der gesamten Mannigfaltigkeit der Tatsachen, aber nicht vermittels immanenter Selbstentwicklung des Begriffs ermittelt. Philosophische Kategorien stellen historische Entwicklungsstufen der Erkenntnis dar, bilden eine spezifische Art der Zusammenfassung der Geschichte der Erkenntnis. Ebenso wie die Kategorien der Einzelwissenschaften — zum Beispiel der Begriff der Masse in der Mechanik oder der des Elementes in der Chemie — sind philosophische Kategorien annähernde Abbilder der objektiven Wirklichkeit. Hegel hat die Schöpfer der metaphysischen Systeme des 17. Jahrhunderts richtig dahingehend kritisiert, daß sie dem Sein seine grundlegenden ontologischen Bestimmungen von außen zuschreiben. Es sei aber notwendig, so lautet Hegels Behauptung, diese Bestimmungen logisch aus den Bestimmungen des sich immanent entwickelnden Seins abzuleiten. Eine solche Problemstellung führte Hegel, trotz seines dialektischen Verfahrens, nicht zu einem historischen Verständnis des Ontologischen. Eben deswegen charakterisiert der epistemologische Historismus jedes Wissen — auch das Wissen von den ontologischen Grundkategorien — als ein solches, das in sich zweierlei Beziehungen einschließt: das Verhältnis zum erkennenden Objekt und das Verhältnis zum vorhergehenden Erkenntnisniveau. Mit anderen Worten: die Erkenntnis des Objektes stellt ein bestimmtes Niveau der Entwicklung der Erkenntnis dar. Deswegen müssen auch beliebige ontologische Bestimmungen des objektiv Seienden als ein beschränktes Niveau des errungenen Wissens betrachtet werden und folglich als solche, die der Veränderung, Berichtigung usw. unterliegen. So-

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mit interpretiert die Philosophie des MARxismus Ontologie und jedes Wissen überhaupt gnoseologisch, beugt damit deren Verwandlung zu einem Dogma vor und stimuliert dessen weitere Entwicklung. Die Philosophie des MARxismus verwirft den gnoseologischen Skeptizismus. Sie verwirft gleichzeitig auch die Illusion, es gäbe in der Philosophie sozusagen absolutere Wahrheiten als in den Einzelwissenschaften. Für sie stellt sich der Sachverhalt eher umgekehrt dar; denn Gegenstand der philosophischen Forschung sind jene Formen der Allgemeinheit, Ganzheit und Einheit, die in den Einzelwissenschaften in Teile, in begrenzte Forschungsgebiete zerlegt und dadurch der Erkenntnis eher zugänglich werden. Doch diese Allgemeinheiten, Ganzheiten und Einheiten, die Gegenstand der Philosophie sind, sind nicht Abstraktionen, sondern ein Konkretes, welches von den Einzelwissenschaften zergliedert und von der Philosophie wiedervereinigt wird. Daraus folgt, daß Philosophie als positives System von Erkenntnissen sich vor allem auf die Daten der Einzelwissenschaften stützt, die erfolgreich qualitativ bestimmte Fragmente jener ganzheitlichen systematischen Realitäten erforschen — die Natur, die Gesellschaft, den Menschen, die Erkenntnis usw., welche die Philosophie in ihrer Einheit zu erfassen bestrebt ist. Die MARxistische positive Auffassung der Philosophie als eines Systems bedeutet nicht nur die Anerkennung der Notwendigkeit einer wissenschaftlichen Philosophie, das heißt einer spezifischen philosophischen Wissenschaft, sondern auch die Anerkennung der qualitativen Veränderung ihres Platzes im System der wissenschaftlichen Erkenntnisse. Eine Philosophie, die in unseren Tagen den Anspruch erhebt, die Königin der Wissenschaften zu sein, macht einen tragikomischen Eindruck. Nicht nur die Selbstherrschaft der Philosophie, sondern auch ein Dasein der Philosophie mit den Rechten eines konstitutionellen Monarchen wäre ein entsetzlicher Anachronismus. Bedeutet das jedoch, daß sich die Lage der Philosophie verschlechtert, ihre Bedeutung vermindert hat? Ganz im Gegenteil. Philosophie, soweit sie wissenschaftlich wird, erringt immer mehr Bedeutung im System wissenschaftlicher Erkenntnisse. Eine solche Philosophie ist schon nicht mehr Sache der Zauberer; sie orientiert sich auf eine gemeinsame Forschungsarbeit von gleichgesinnten Philosophen. Die Formen der wissenschaftlichen Kooperation in der Philosophie sind im Prinzip dieselben wie die der Forschungsorganisationen, die sich in der modernen Wissenschaft entwickelt haben. Eine solche Philosophie ist ein offenes System, offen, versteht sich, nur für wirkliche, und nicht für vermeintliche philosophische Errungenschaften.

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In der demokratischen Gemeinschaft der Wissenschaften unserer Zeit stimulieren weltanschauhche und methodologische Verallgemeinerungen der Philosophie den Prozeß der Integration wissenschaftlicher Erkenntnis. Die Philosophie assimiliert die Errungenschaften der Wissenschaften von der Natur und der Gesellschaft. Resultate der philosophischen Entwicklung werden von den Einzelwissenschaften verarbeitet. Philosophische Probleme entstehen auf fast jedem Gebiet wissenschaftlicher Grundlagenforschung. An den Grenzen zwischen Philosophie rmd Einzelwissenschaften entstehen qualitativ neue Probleme, die gleichzeitig einen spezialwissenschaftlichen und einen philosophischen, weltanschaulichen Charakter tragen. Wissenschaftliche Philosophie wird zu gesellschaftlichem Bewußtsein nicht nur ihrem Inhalt nach, sondern auch nach der Art ihres Funktionierens. Bedeutet das nicht, daß die Zukimft der philosophischen Wissenschaft, der Philosophie als eines sich entwickelnden Systems wissenschaftlich-weltanschaulicher Erkenntnis, noch größere Chancen auf Anerkennung eröffnet?

Kolloquitim VII MATERIALISMUS UND SYSTEMATISCHE PHILOSOPHIE

WILHELM RAIMUND BEYER (SALZBURG)

SUBSYSTEM ODER PARASYSTEM? (V ortrags-Skizze) Philosophie erscheint in der Fassung eines Systems, also der Ganzheitsbetrachtung einer Lehre, nicht nur möglich; vielfach ist diese Denkform notwendig (inhaltlich, thematisch, epochal). Als „Denksystem” (SCHELLING) nützt Philosophie eine Systematisierungschance aus, deren Spannweite niemals größer ist, als der jeweilige, spezifische „System-Boden" (ENGELS) es gestattet, ja uor-schreibt. Von diesem aus denkend setzt MARxistisch-LENiNistische Philosophie an und stellt sich dabei selbst als „System". Die „systematische Erkenntnis der gesamten äußeren Welt" (ENGELS) setzt voraus, daß in dieser selbst, also materiell vorgegeben, soldie Ordnungszüge („Gesamtheit") wurzeln und zwar als erkennbar. Die durch ein Spezifikum jeweils ausweisbaren ordnungsfähigen Zusammenhänge in Natur, menschlicher Gesellschaft und Denken spiegeln bei solcher „systematischen Erkenntnis" Wesentliches der Wirklichkeit wider, nicht nur ihre Struktur, nicht nur Funktionen ihrer Ordnungsgehalte und erst recht nicht nur beide Sichtweisen unter Vortrittskämpfen der beiden Komponenten; dafür aber die materiellen Beziehungsverhältnisse aller Realität und damit den Reichtum der Materie. Wird Realität als „System von Systemen" erkannt, so ergeben sich Systemfassungen nicht nur in den Linien Ober-Untersystem, Dach-Subsystem, Gesamt-Teilsystem, sondern genauso wichtig ausgeprägt in der Figuration Teilsystem zu anderen Teilsystemen, Subsystem zu anderen Subsystemen, Untersystem zu anderen Untersystemen, wobei jeweils das aliud in der Gestalt eines Para-Systems fungiert. Die von vielen als unerläßlich angesprochene System-Hierarchie (SADOWSKY U. a.) verblaßt alsdann als unabdingbare System-Zwischenbeziehung, welche hingegen selbst wiederum systematisierbar aufscheint. Intersystemare Beziehungen verweisen auf heterarchisch wirkende Relationen und offenbaren den Systemcharakter aller binnensystemaren Beziehungen.

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Solch materialistischer Systemeinschätzung stehen drei (idealistisch verbleibende) Systemkonzeptionen in Abstufung gegenüber: 1. Der umgangssprachliche, oft journalistisch vorgetragene und ohne feste Abgrenzung zu Nachbarerscheinungen auftretende, häufig nur eine Programmverarbeitung darstellende Systembegriff, wie solchen das Schlagwort des Nationalsozialismus in den 20er Jahren belegte: „Weg mit dem System!" Hierbei war unter „System" nicht nur Rechtssystem, Staats- und Gesellschaftsordnung verstanden, sondern — negativ bewertet! — alles, was dem Begriffsbenutzer nicht zusagte. 2. Ernsthaft steht hingegen der Systembegriff des Deutschen Idealismus an, den wir als den „klassischen" bezeichnen dürfen. Daß sich hierbei das Denken Hegels und SCHELLINGS in den Vordergrund spielt, ist nicht nur dem Kongreßthema geschuldet, sondern dem Denken dieser Philosophien selbst. 3. Der moderne, von der klassischen Ausprägung sich distanzierende, unbewußt dem MARxismus-LENiNismus entgegengesetzte Systembegriff der gegenwärtigen „Systemtheorie" sieht gewissermaßen im Gegenzug zum Systembegriff sub i) alles, was dem Begriffsbenutzer zusagt, konveniert, als System und häufig, ohne nähere Begründung, als „Subsystem" eines imaginär konstruierten allgemeinen Systems (eines „menschlichen Handelns" z. B. bei PARSONS). Die Ausfüllung der aufgestellten Formel: System = „Reduktion von Welt" oder „Reduktion von Komplexität von Welt" (LUHMANN) liegt letzten Endes im Belieben dessen, der reduziert. (Zum Thema des „Systemerzeugers" siehe GüNTER KRöBER in Hegel-Jahrbuch 1972, 164 ff: „wissenschaftliche Tätigkeit ist systematische Erkenntnistätigkeit, die die wesentlichen, allgemeinen und notwendigen Zusammenhänge der objektiven Realität — die objektiven Gesetzmäßigkeiten der Natur und der Gesellschaft — gesellschaftlich verfügbar und praktisch nutzbar macht.") Die idealistische „Systemtheorie" hingegen kennt eine endlose „Reduktion", eine fortwährende Bildung von „Subsystemen", die sich niemals „unmittelbar auf die Produktion, Reproduktion, Distribution und Konsumtion von Erkeimtnissen, von systematischem und methodischem Wissen" (KRöBER) richten. So fordert HONDRICH, daß die Leistung eines Systems durch fortwährende Bildung von Subsystemen gesteigert werde, so daß die sozialökonomische Determinierung der Systemerzeugung verloren geht. Die Denksystem-Erzeugung erfolgt daher hier durch eine für die DauerReduktion verantwortliche Gruppe, die in der Philosophie „Schule" ge-

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nannt wird. Ihre Systeme sind multistabiler Natur; sie wehren bereits durch die Sprachbesonderung und den benützten Denkhabitus nichtsystemgebundene Kräfte ab. Trotz aller System- und vor allem Subsystem-Inflation der modernen „Systemtheorie" gelingt es dieser nicht, in den Beziehungen der Systeme unter- und zueinander Relationen intersystemarer Natur zu ermitteln und in der Gestalt von Parasystemen die Funktionsauslastung der konstruierten Systeme auszuwerten. Das Janusgesicht des Parasystems: die kollaborative Einstellung zu den anderen Subsystemen des gemeinsamen Dachsystems und die Frontstellung zu den spezifisch gleichthematisierten Subsystemen anderer Dachsysteme fehlt im spiel-theoretischen Vorfeld der „Systemtheorie". Beide Positionen aber — entsprungen dem jeweiligen System-Inhalt und der Kraft dessen Qualität — erweisen intersystemare Relationen. So kann z. B. die Qualität eines Moralsystems gerade daran gemessen werden, wie und in welchem Umfang und in welcher Intensität es auf seine Parasysteme, wie Rechtssystem, Kunstsystem, Religionssystem des gemeinsamen ideologischen Überbaus, einzuwirken vermag. Dies alles findet außerhalb einer hierarchischen Gliederung statt und kann nur als heterarchisch fruchtbar erkannt werden, ohne daß dabei dieses Phänomen irgendwie die Abhängigkeit (und Wechselwirkung!) der betreffenden Parasysteme vom eigenen Dachsystem ausschalten würde. Hegel. Auch er kannte Parasysteme. Dies muß nicht unbedingt an den allgemein abstrapazierten Zitaten aus der Differenzschrift expliziert werden. Zum Thema der „Glaubenssysteme" (Briefe. Bd i. 32) kann die Kraft der „Neben-einander"-Rolle gleich thematisierter Systeme erkannt werden. Diese Aufgabe (im systemtheoretischen Jargon: „Funktion") der ParaSysteme erhellt auch aus der hegelschen Stufentheorie (in der Naturphilosophie). Wichtig werden ferner die Systembegriffe, wie solche Hegel als „System der Staatsökonomie", als „System der Bedürfnisse" und vor allem als „philosophische Systeme" herausschälte: immer sind diese Systeme zugleich Para-Systeme zu im Denkhaushalt der Menschen ähnlich oder gar gleich gesteuerten anderen Systemen. Daß Hegel für die „philosophischen" Systeme als „Prinzip" die „Ausführung einer Weltanschauung" forderte {Werke. Berlin 1832 ff. Bd 13. 50), bringt einen für den MARxismus-LENiNismus wichtigen, für jedes historisch mit Geltungsanspruch auftretende Gesellschafts-System unerläßlichen, von der in dieser Hinsicht formal verbleibenden idealistischen „Systemtheorie" überhaupt nicht bewerteten Gedanken zum Tragen. Endergebnis: es kommt für Hegel bei aller Systembetrachtung und -auswertung auf den Inhalt des Systems an.

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Darum kann er Systeme historisch nehmen. Er kann sogar bis zum System der Systemlosigkeit denken. Er vermerkt, daß „in der Zeit der Gährung" eine „Abneigung gegen ausgebreitete Systematisierung" gelte {Logik. Erstausgabe. VI/VII). Dasselbe Problem greift später — sicherlich unabhängig von Hegel — LUKACS auf, wenn er in Ontologie-Marx (178) postuliert, daß „in krisenhaften Übergangszeiten" a-systematisches Denken am Platze sei. Damit setzt LUKACS den Blick nicht vom fortschrittlichen Denken her an, denn für dieses besteht gerade in Gährungszeiten oder Übergangsperioden der Zwang zum System-Denken. Nur so kann sich das Proletariat der Denk-Gewalt und Denk-Tradition der Herrschenden erwehren.

Der MARxismus-LENiNismus betont aber, daß auf alle Fälle in der Auseinandersetzung mit dem Idealismus und im Kampf gegen brüchig und abtretrmgsreif gewordene philosophische Systeme progressives Denken als System und zwar als „wissenschaftliches System" auftreten muß. Und dies — philosophisch formuliert — nicht pauschal um der Kategorie des Totum willen, sondern auch um der im Totum wurzelnden Beziehungen und ihrer Ausnützung willen.

Schelling. Für ihn gilt — aus meist unbeachtet gebliebenen Zitatstellen erarbeitbar — daß Para-Systeme in der Philosophie mit einander ringen. Er nahm sein eigenes Denken wörtlich und ständig als „System", allerdings als ein solches „in Entwicklung". Wer ihm den durchgängigen Systemcharakter absprechen wollte, den schalt er „halbunterrichtet" {Werke. Ed. Schröter. Erg.-Bd 6. 81). Der Spott gilt für alle diejenigen, die seine positive Philosophie verunstalten und als „Zerspringen des Systems" bezeichnen. Und das andere Grundprinzip seines Systems bleibt die Zweipoligkeit, ohne daß diese beiden Systeme zu „Subsystemen" (wie moderne Systemtheorie sofort sagen würde!) dichotomiert oder dualisiert werden. „Identität aus Duplizität" (Erg.-Bd 1. 582) verleitet SCHELLING sogar dazu, „zwei Systembegriffe" zuzulassen (Erg.-Bd 6. 133). Beide sind — genauso wie die beiden Systeme der Duplizität — als Para-Systeme definiert. Sie lassen sich nicht mit der modernen, alternativen Sicht von „offenem" oder „geschlossenem" System vergleichen. Der materialistische Denkansatz: „System" kann nicht als abstrakte Denk-Kategorie angesprochen werden, die inhaltlich leer und zeitlich perennierend gleichkräftig dem Denken dient. „System" hat auch keineswegs die Funktion einer unbesehenen „Legitimierung" oder gar einer „Stabilisienmg" gegebener Größen oder Sachverhalte. Es bleibt: Darstellung als Erkenntnisprodukt, gleichzeitig aber ausgestattet mit aller, Ordnungserkenntnissen innewohnenden Lernkraft und Handlungsanweisung. Es

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bleibt auch mit der Tendenz einer Weiterbildung (Selbsterhaltung) behaftet und dies nicht nur hinsichtlich des im Erkenntnisprozeß herausgeschälten „Ganzen", sondern auch der dem Ganzen einverleibten Teile und der Beziehungen dieser. Solche Aufgabenvielfalt repräsentiert die Dienlichkeit des Systemdenkens zur ständigen Vertiefung und Vermehrung der Erkenntnis der materiellen Vorgegebenheiten und gerade der Ordnungsmomente in diesen. Zur „Ordnung" rechnet aber nicht nur das „Ganze" in und mit seiner Gliederung, sondern genauso die Beziehungen und Beziehungsverhältnisse der am Systematisierungsprozeß teilnehmenden Größen zueinander und zu anderen systematisierten Größen. MARX hat den wissenschaftlichen Sozialismus als System entwickelt auf Grund der Erkenntnis der Prägungskraft aller materiellen Verhältnisse, aus denen solche Ordnungszüge in ihrer Wirkungsmöglichkeit auf ein Ganzes und desen Gliederung hin abgelesen werden können. Dagegen lehnte er es ab, als Erbauer eines „sozialistischen Systems" schlechthin zu gelten (MEW. Bd 19. 357). Ein solches wäre ihm nicht spezifiziert genug gewesen, um als echtes „System" fungieren zu können. Dies hinderte ihn aber nicht, die wissenschaftliche Darstellung und Einarbeitung der Erkenntnisse von Ordnungsgegebenheiten als wissenschaftliche Systembildung zu bekräftigen. Der „streitbare Materialismus" sieht Para-Systeme vor allem in Frontstellung gegen andere, ebenfalls als Para-Systeme fungierende Spezialsysteme einer gegensätzlichen Gesamtsystem-Gruppe. Daß diese dabei zugleich Subsysteme des anderen übergreifenden Dachsystems sind, ändert an der Anti-Para-System-Stellung im Einzelfall nichts. Die Zulassung solcher Einschätzung hat daher ebenfalls einen „streitbaren" Charakter. (So auf dem XV. Welt-Philosophiekongreß der FISP in Varna 1973, wo die praktische Darlegung von Parasystemen innerhalb des ideologischen Überbaus und ihr Verhältnis zu der Basis wie zu anderen Überbau-Systemen vom Idealismus als systemtheoretisch abwegig kritisiert wurde.) Die Akzentuierung der Qualitäten von Para- und Anti-Para-Systemen zerstört die idealistische Auffassung, daß mit Hilfe der „Systemtheorie" Klassenwidersprüche zwar nicht überwunden, aber — was weit mehr sein soll! — unbeachtlich, obsolet, gleichgiltig werden. Der Mensch sei letzthinnig nur noch „System-Teilnehmer" und zwar mehrerer. Um dieses Denken nicht als Anpassungstechnik bloßzustellen, wird, meist ohne systematischen Grund, eine Fülle von Subsystemen konstruiert, die immer nur im Blick zum Dachsystem operieren. Fast könnte man einen modern frisierten, partiellen Universalienstreit dabei erspähen: idealistische Systemtheorie sieht die Bäume vor lauter „Wald" nicht. Wie einst

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für den Frühscholastiker ROSCELLINUS nur den Teilen, nicht aber dem Ganzen Realität zukam, so kommen jetzt nur Subsysteme imd deren Beziehungen zum Dachsystem in den denkerischen Griff. Und selbst diese Beziehungsverhältnisse rügt noch die AooRNO-Schule getreu des Meisters Lehre vom „Unwahren des Ganzen". SCHWEPPENHäUSER mahnt, daß sich „System mit dem lebendigen Ganzen nicht verwechseln" dürfe (in: O. Negt (Hrsg.): Aktualität und Folgen der Hegelschen Philosophie. Frankfurt 1971. 85). Die materialistische Korrektur dieses Denkbereichs wäre: System verwechselt sich hier (in der „Systemtheorie") mit den Dachsystem-Subsystem-Beziehungen und stellt sich höchstens als eine Ausformung des längst langweilig gewordenen Grundsatzes des Mehrseins des Ganzen denn als Summe der Teile. Die Bäume gehen im Wald „auf" — oder besser: unter. Die Beziehungen der einzelnen Bäume zueinander bleiben unbeachtet. Für die Systemtheorie: die soziale Funktion der Systeme entfällt im Einzelbereich. Klassenwidersprüche gibt es nicht. „System" wird hierbei ein begriffliches Hilfsmittel nicht zur Erkenntnis einer vor-gegebenen Ordnung, sondern zur Verschleierung dieser und ihrer intersystemaren Ordnungszüge. Das Gerede von einer „Systemüberwindung" verkennt die relative Selbständigkeit der Systemglieder.

Für LENIN kann — in Anlehnung an Hegel — System nie ohne Inhalt gewertet werden. Dieser zwingt dazu, Systemabgrenzungen als Inhaltsbestimmung zu erkennen. So erscheint von selbst die Figur des ParaSystems. Inhaltsbestimmte Größen müssen gleichgelagerte neben sich vertragen können. Die einzelnen Elemente des ideologischen Überbaus stehen in solchem Nebeneinander; zu ihrer gemeinsamen Basis stehen sie im Verhältnis eines Sub-Systems. Die idealistische Sucht einer Aufspaltung aller Systeme in eine Gesamt- und Teil-System-Beziehung, oft mit schlecht unendlichem Progreß, wird durch die Figur eines Parasystems gebremst. Wenn heute PARSONS, LUHMANN, HONDRICH U. a. jede Denkgröße sofort sub-systematisieren, so unterschätzen sie mit der Verleugnung der Kraft der Parasysteme die Qualität der einzelnen Systeme. Das naheliegendste Beispiel: Rechtssystem steht zum Moralsystem des gemeinsamen BasisSystems in Para-Funktion, zum Rechtssystem wie zum Moralsystem einer anderen Basis-System-Gruppe aber in Anti-Para-Funktion. Erst durch diese Stellungen vermittelt gewinnt seine Subsystemeigenschaft zum eigenen Basis-System die genaue Bestimmung, eben ihre Qualität. Der Streit zwischen zwei gleich spezifizierten Para-(Unter-)Systemen geschieht gewissermaßen „im Auftrag" der feindlichen Basis-Systeme, die hinsichtlich ihres ideologischen Überbaus als Dach-, Ober- oder Gesamtsystem fungieren. (Statt „System" wurde früher vielfach „Ordnung" oder „Organismus"

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gesagt. Auch diese Termini verdeutlichen die jeweiligen Systembeziehungen. Der Mensch gilt nach kybernetischer Lehre als das vollendetste System. Früher hieß es: er sei der vollendetste Organismus. Heute werden Rechtsordnung und Rechtssystem synonym als Ordnungsbezeichnung gebraucht.) ENGELS hatte erarbeitet, daß jedes System einen Sockel, einen „SystemBoden" benötigt: die materiell vorgegebene Grundlage. Für das Denksystem stellt sie sich als die materiellen Verhältnisse, als Beziehungen (Brief an CONRAD SCHMIDT V. 27. 10. 1890). Nur auf diesem Boden kann von einer Selbststeuerung der Systeme, ihrer Selbstthematisierung und der Verflechtung der Systeme untereinander gesprochen werden. Die Beziehungen zwischen den Systemen sind daher nicht ausschließlich hierarchischer Natur. Die Teile-Ganzes-Beziehung, die „System" auszeichnet, birgt in sich und zwar als ebenfalls systematisierbar, die Teile-Teile-Beziehung. Praxis. Sie zeigt Systembeziehungen in Entwicklung, nicht nur die Entwicklung der Systeme, der Systemgrößen, sondern auch die der gegenseitigen Beziehungen. Im Blick zum Rechtssystem (selbst das BVerfG hat sich systemtheoretischem Denken zugewandt) und im Blick zum soziologisch faßbaren System, dem Gesellschaftssystem, ja bis zum Weltsystem „vermittelt" Systemdenken den Gewinn der universalen Vermittlung., Diese beruht auf der Erkenntnis, daß in Nachbarschaft, in Neben-Position, in Juxta-Fundierung stehende Größen auf Grund dieses „Neben" miteinander vermittelt sind. Auch im Planetensystem gibt es Para-Systeme. Die klimatischen Systeme (maritim und kontinental) stehen nebeneinander in Beziehimg. Wenn Philosophie ein Denk-System als Para-System zeichnet, muß sie bedenken, daß sie damit auch andere Systeme trifft, terminiert, fundiert. Wenn Soziologie (PARSONS bei seiner Schilderung des römischen Staatsund Rechtssystems) ein solches Para-System vollkommen falsch zeichnet, stört sie ihr ganzes „System". Entfällt in einer Systemkette ein Glied, kommt das Ganze zu Schaden. Das eben ist Kraft und Schwäche des „Systems". Das „Ganze" steht für seine Glieder und diese für das Ganze und die anderen Glieder. PARSONS schematische (und nicht aus lateinischen Quellen zu gewinnende inhaltliche) Zeichnung des römischen Staatssystems vernichtet seinen ganzen Systemaufbau. Und LUHMANNS „Wabuwabu"-System verkennt seine Anti-Para-System-Figur und geriert sich nur als Subsystem eines angeblich nur „fachlichen", in Wirklichkeit aber neokonservativen, jeglichem progressiven Universitätssystem feindlichen Obersystems „menschlichen Handelns". Die aggressive Natur dieses Systemdenkens hätte eigentlich von selbst die Position des „Anti" verdeutlichen

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können; die Sub-System-Eigenschaft dient daher nur als Tarnung. Moderne „Systemtheorie" leistet diese Aufgabe mit ihrer Intoleranz gegenüber dem Parasystem und der Leugnung eines inhaltlich relevanten Systembodens. MARXismus braucht keine eigene, isolierte „Systemtheorie". Für ihn bleibt „System" ein begriffliches Hilfsmittel zum Erkennen von Ordnungsgegebenheiten spezifischer Natur, die bei ihrer Thematisierung die Kategorie des Totum nicht außer Ansatz lassen. Dies aber bedingt kein ausschließlich hierarchisches Verhältnis der Glieder, sondern schließt die Gewichtigkeit der Teile-Teile-Beziehung ein. Erst durch diese mehrfachen Relationen entfaltet „System" seine inhalthche Qualität und seinen geschichtlichen Rang. Der Historische Materialismus hat in seinem Denkund Lehrgut genügend Raum (und Gelegenheit!), um diese Probleme wissenschaftlich einzubringen. Systemsucht und Subsysteminflation mit eigenen Rechenkünsten nimmt er als Wunschkonstrukte und als Versuche, Widersprüche zu verdecken. Vor solcher Abwertimg des Systembegriffs warnt er. Für die Systemdeutung wie für die Aufspähung intersystemarer Beziehungen gilt es, die „systemtheoretische" Anpassungstechnik zu entlarven. Hierbei hilft MARXENS GoETHE-Zitat; „Mit Worten läßt sich trefflich streiten, mit Worten ein System bereiten" (MEW. Bd. 19. 371).

JACQUES D'HONDT (POITIERS)

RECHERCHE ANALYTIQUE ET EXPOSITION SYSTEMATIQUE Comment faut-il traduire en fran^ais le mot Darstellung, quand il est employe par Hegel ou par MARX, et quelle conception du Systeme implique cette traduction?

La Darstellung est parfois presentee, en France, comme „le concept epistemologique—de de toute la theorie marxiste de la valeur", un concept „qui a precisement pour objet de designer le mode de presence de la structure dans ses effets, donc la causalite structurale elle-meme" Cette Darstellung aurait ete inventee par MARX, et serait „une forme nouvelle d'analyse demonstrative" Et l'on part de la distinction, faite par MARX, d'un „mode d'investigation" {Forschungsweise) et d'un „mode d'exposition" {Darstellungsweise), pour fonder la these selon laquelle MARX ne penserait pas que les concepts sont abstraits: ils n'auraient rien ä voir avec l'experience, dont ils ne derivent d'aucune maniere, mais, au contraire, ils sont „construits". Le mode de recherche, aventureux et analytique, ne serait pas depasse {aufgehoben), mais il serait efface completement dans le mode d'exposition qui n'obeirait qu'ä ses propres lois structurales, et parviendrait ainsi ä satisfaire ä des conditions de rigueur radicale. Meme, exigence idealiste ä vrai dire inexprimee chez MARX, il permettrait d'atteindre ä l',,apodicticite"! Cette presentation de la methode de MARX se trouve associee ä la negation de quelque rapport que ce soit entre eile et la dialectique de Hegel. Or la distinction des trois moments du processus de connaissance se rencontre frequemment chez Hegel et c'est bien de lui que MARX l'a reprise, ce dont on ne s'est guere avise. Hegel nous en avertit des la Preface de la Phenomenologie; „Quelque chose qui a du contenu et de la consistance, le plus facile c'est de le juger ‘ L. Althusser: Lire le Capital. Paris * Ibid. Tome 1. 60.

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{beurteilen). II est deja plus difficile de le saisir (fassen). Mais la plus grande difficulte, c'est ce qui reunit les deux; en produire l'exposition (die Darstellung hervorzubringen).'' ® Hegel distingue nettement ici la Darstellung de l'acte de la produire ou de la faire apparaitre {hervorbringen), ce qui interdit de traduire ici ce mot en fran9ais autrement que par l'exposition. Hegel et MARX appellent Darstellung la täche la plus difficile. Ce mot recouvre plusieurs sens en Allemand et tolere plusieurs traductions en Franqiais. II lui arrive de signifier representation, et, plus souvent, presentation. Mais, dans son sens fort, il designe la presentation dialectique d'un Systeme processuel ou d'un developpement systematique, et il se traduit au mieux par exposition. C'est lui qui avait ete choisi pour rendre en Allemand le titre du celebre ouvrage de LAPLACE, que Hegel avait lu ä la fois dans l'original fran9ais et dans sa traduction: Exposition du Systeme du monde, Darstellung des Weltsystems. * Toutefois, si MARX distingue le jugement (dogmatique), la recherche (analytique) et l'exposition (systematique), il ne conteste jamais leur interdependance, et il conseille le parcours entier de ces trois moments d'un meme processus qui s'acheve et culmine dans la Darstellung. Citant, par exemple, le jugement d'un economiste defavorable ä la societe de l'epoque, il note, dans le Capital: „Ce passage montre ä la fois la force et la faiblesse d'un genre de critique qui sait juger et condamner le present, mais qui ne sait pas le comprendre." ® Il critique, chez PROUDHON, la dogmatische Unterscheidung. Ailleurs, c'est SISMONDI lui-meme qui subira ce reproche: „Il fuge (beurteilt) d'une fa^on decisive les contradictions de la production bourgeoise, mais il ne les comprend (begreift) pas et en consequence il ne comprend pas non plus le processus de leur resolution (Auflösung)." ® Si „decisif" qu'il soit, le jugement n'est qu'un debut. Mais s'il vaut mieux comprendre (sich aneignen, fassen) que juger, celui qui comprend n'a encore effectue qu'une partie de la täche intellectuelle. C'est le cas de LASSALLE, dans ses travaux economiques, selon MARX : „Il apprendra ä ses depens que mener une Science, par la critique, jusqu'au point oü il devient possible de l'exposer (darstellen) dialectiquement, ® Phänomenologie des Geistes. Ed. Hoffmeister. Hamburg 1952. 11. ■* Voir sur ce point 7. D'Hondt; Hegel Secret. Paris 1968. 47—48. Trad. allemande: Verborgene Quellen des Hegelschen Denkens. Berlin 1972. 43—45. ® K. Marx / F. Engels: Werke. Berlin. Tome 23. 528, n. 324. ® Marx/Engels: Werke. Tome 26, 3. 51.

Recherche analytique et exposition systematique

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c'est tme toute autre chose que d'appliquer un Systeme de logique abstrait et acbeve ä des pressentiments d'un tel Systeme." ^

La Darstellung depend de l'investigation prealable, et ne peut se comprendre sans eile. Cette dependance est indiquee dans la Postface ä la deuxieme edition allemande du Capital: „Certes, le mode d'exposition {Darstellungsweise) doit se distinguer formellement du mode de recherche {Forschungsweise). A la recherche de faire la matiere sienne dans le detail, d'en analyser les diverses formes de developpement, et de depister leur lien intime. C'est seulement lorsque ce travail a ete accompli que le mouvement reel peut etre expose {dargestellt) adequatement." ® MARX l'indique nettement: ce qui est expose, ce n'est pas l'ordre autonome des concepts, mais c'est le mouvement reel {die wirkliche Bewegung). Les concepts ne caracolent pas ä leur fantaisie ä cote d'un reel qui n'exercerait sur eux aucun contröle, et dont ils ne proviendraient pas.

Certains, ici, Substituent la critique idealiste de l'empirisme ä la critique que MARX a faite de cet empirisme d'un point de vue materialiste. Et ils en viennent ä affirmer que l'expose systematique se construit independamment de l'experience, et donc de la realite, ainsi que des Resultats de la recherche analytique. En somme, le theoricien composerait tout seul la melodie qu'il offre au monde.

Mais MARX precise bien qu'il en va, selon lui, tout autrement! Le theoricien tente d'exposer adequatement le mouvement reel, et, dit MARX, „si l'on y reussit et qu'alors la vie de la matiere se reflete {sich widerspiegelt) ideellement, alors on peut croire que l'on a affaire ä une construction a priori" Au lecteur de ne pas se laisser abuser par cette apparence! C'est d'une fa9on extravagante que JOSEPH ROY avait traduit en fran^ais cette phrase de MARX Mais le lecteur qui se refere au texte allemand original ne peut en douter: il s'agit bien lä de la justification d'une theorie du reflet, qui comporte ses propres difficultes theoriques, mais qui est Sans cesse reaffirmee par MARX. Le savant n'a pas ä chanter sa propre chanson, mais il doit jouer aux rapports qu'il elucide „leur propre melodie dialectique". L'etude des relations entre la recherche analytique, d'un cöte, et l'exposition systematique, de l'autre, montre qu'il est tres perilleux d'introduire des categories structuralistes dans l'epistemologie de MARX et qu'il est ^ Marx/Engels: Werke. Tome 29. 275. ® Marx/Engels: Werke. Tome 23. 27. — Trad. fran?.: Le Capital. Livre 1, tome 1. Paris 1967. 29. 9 Ibid. Le Capital. Livre 1, Tome 1. Paris 1967. 29.

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JACQUES D'HONDT

difficile de rompre absolument la parente methodologique qui unit MARX ä Hegel. La systematidte de MARX n'a que peu de rapports avec la systematidte structuraliste.

D. M. ARMSTRONG (SYDNEY)

NATURALISM, MATERIALISM AND FIRST PHILOSOPHY In the first section of this paper I define and defend a spatio-temporal account of the general nature of reality. I call this doctrine "Naturalism". In the second section I define and defend the somewhat more specific, although still very general, doctrine of Materialism or Physicalism. (I take it to be a sub-species of Naturalism.) However, if we define ontology or "first philosophy" as the most abstract or general theory of reality, then it seems that neither Materialism nor even Naturalism is an ontology. In the third section I sketch very briefly the ontology which I favour. Unlike that adopted by many Naturalists and Materialists, it admits both particulars and universals. It is Realistic, not Nominalistic. I maintain, in particular, that only by adopting a Realistic (but not PLAxonistic) account of universals can the Naturalist and the Materialist solve the pressing Problems of the nature of causation and of law-like connection. I. Naturalism Naturalism I define as the doctrine that reality consists of nothing but a single all-embracing spatio-temporal System. It is convenient here to distinguish this proposition from the vveaker claim that reality at least contains as a part a spatio-temporal System. I will say something in defence of the weaker claim first, and then defend the view that reality is nothing but this spatio-temporal System. It is difficult to deny that a spatio-temporal System appears to exist. But, of course, many philosophers have denied that this appearance is a reality. LEIBNIZ is an example. He held that reality consists of the monads and that space and time are illusions, even if illusions which have some systematic link with reality. LEIBNIZ was at least a pluralist. But for PARMENIDES, for Hegel and for BRADLEY, reality is not a plurality but is

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simply one. The spatio-temporal System is an appearance which completely or almost completely misrepresents the one.

I will not spend any time considering such views, despite their importance. The arguments used to establish them are all a priori. I believe that they can all be answered. But in any case, as an Empiricist, I reject the whole conception of establishing such results by a priori argumentation.

But the Naturalist may seem to face a challenge to the view that there is a spatio-temporal System from a source which he must take more seriously: from natural Science itself. It is the impression of an Outsider like myself that some speculations in fundamental physics lead to the conclusion that, at deep levels of explanation, space and time dissolve and require to be replaced by other, more fundamental, principles.

However, I suggest that such speculations need not perturb the Naturalist. I believe that he should draw the familiär distinction between denying that a certain entity exists and giving an account of that entity in terms of other entities. It is a very extreme view to deny that the world has spatio-temporal features. I find it hard to believe that even the most farfetched speculations in fundamental physics require such a denial. But it involves no such denial to assert that the spatio-temporal features of things can be ultimately analyzed in terms which do not involve any appeal to spatio-temporal notions. The Naturalist, as I have defined Naturalism, is committed to the assertion that there is a spatio-temporal System. But why is he committed to asserting that spatio-temporality cannot be analyzed in terms of non-spatio-temporal principles? What is not ultimate may yet be real. I suppose that if the principles involved were completely different from the current principles of physics, in particular if they involve appeal to mental entities, such as purposes, we might then count the analysis as a falsification of Naturalism. But the Naturalist need make no more concession than this. Consider, as a parallel example, the attitude of Materialists towards purposes. There are some Materialists who deny that men and other organisms have purposes. This seems to me to be a quite foolish position to adopt. Materialism may be true — my hypothesis is that it is true — but it is a speculative doctrine. The existence of purposes, on the other hand, is a plain matter of fact. The prudent Materialist will therefore argue in the following way. There is no reason to believe that what it is for an organism to have a purpose involves anything more than the Operation of purely physical processes in the organism. (These mechanisms are, perhaps, very sophisticated cybernetic processes.) In this way, an account

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of purposes is proposed in terms of processes which do not themselves involve purpose. No doubt this is a somewhat deflationary view of what a purpose is. But it is a view of the nature of purposes, not a denial of them. Spatio-temporality may be analyzed, just as the Materialist Claims that purpose can be analyzed. However, in default of some quite extraordinary analysis of spatio-temporality — say, in terms of spiritual piindples — Naturalism is not thereby falsified. But, just as it is an incredible view that purposes can be analyzed away, so, I think, it is an incredible view that spatio-temporality could be analyzed away. A priori reasoning should not convince us of the unreality of space and time. Nor, I have just argued, is it at all plausible that a posteriori reasoning will ever drive us to the same conclusion. So much by way of brief defence of the positive content of Naturalism. I turn now to its negative contention: that the world is nothing more than a spatio-temporal System. Here we find that philosophers and others have postulated a bewildering variety of additional entities. Most doctrines of God place him beyond space and time. Then there are transcendent universals, the realm of numbers, transcendent Standards of value, timeless propositions, non-existent objects such as the golden mountain, possibilities over and above actualities ("possible worlds"), and "abstract" classes, including that most dilute of all entities: the null-class. Dualist theories of mind are interesting intermediate cases, because they place the mind in time but not in space. The same holds for some theories of God and also, apparently, for KARL POPPER'S recently proposed "third world" of theories which interacts with the "second" world of mind (POPPER 1973).

Despite the incredible diversity of these postulations, it seems that the Naturalist can advance a single, very powerful, line of argument which is a difficulty for them all. The argument takes the form of a dilemma. Are these entities, or are they not, capable of action upon the spatiotemporal System? Do these entities, or do they not, act in nature? In the case of many of these entities, they were at least originally conceived of as acting in nature. God acted in the world. The Forms in PLATO'S Phaedo are causes, and the Forms were apparently transcendent universals, as well as being transcendent numbers and transcendent Standards of value. DESCARTES' spiritual substances interact with matter, and POPPER'S "third world" interacts with the "second world" of mind, which in turn interacts with material things.

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Nevertheless, there are very great difficulties involved in Holding that any of these transcendent entities act upon the spatio-temporal System. First, there are logical or conceptual difficulties. A great many of these entities are not thought of as capable of change. This holds for transcendent universals, the realm of numbers and values, propositions, nonexistent objects, possible worlds and abstract classes. In many theological Systems, God is taken not to (hange. Now in typical cases of causation, one change brings about another. It follows that, if these entities work causally in the world, they do not work in this typical way. How, then, do they work? Could they be conceived of as sustaining certain features of the natural world, or as exerting some sort of steady, unchanging, pressure upon it which, when certain circumstances arise in nature, gives rise to certain effects? Such a notion is perhaps barely possible, but the actual identification of such alleged causal Operation is a major difficulty. For instance, where sustaining causes are postualted in nature, hypotheses about such causes can be tested by observing situations where the alleged sustaining cause is absent. If the alleged effect is also absent, the hypothesis is supported. But no such verification is possible, even in principle, in the case of unchanging entities. In the Parmenides 133b—i34e, PLATO goes so far as to raise logical difficulties for the conception of any relation at all (and so, a fortiori, a causal one) between the Forms and spatio-temporal particulars. Even in the relatively straightforward case of the interaction of spiritual substance with material body, conceptual difficulties have been raised. For instance, the impossibility of specifying any mechanism or other explanation of how the spirit acts upon its body has been thought to be a Problem. DESCARTES himself, as evidenced in particular by his correspondence with PRINCESS ELIZABETH, thought that the action of spirit on matter involved some conceptual difficulty. In the case of many of the postulated transcendent entities, there never was any thought of crediting them with causal power in the natural world. Possible worlds, for instance, are not thought to act upon the actual world. But even in the case of entities originally credited with power in the natural world, considerations of the sort just sketched have been an important pressure towards denying that they had such power. I confess, however, that it is not upon these conceptual difficulties that I, as a Naturalist, would place the most weight. Instead, I would appeal to natural Science. It seems to me that the development of the natural Sciences very strongly suggests that Nature, the spatio-temporal System, is a causally self-enclosed System. We have rather good scientific

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reasons to believe that, whatever occurs in this System, if it has a cause at all, is caused solely by other events (processes, etc.) in the spatiotemporal System. Of course, this proposition is not susceptible of strict proof. But in the present state of scientific knowledge, it looks a promising bet.

In the past, religious thinkers thought of God as intervening freely in the spatio-temporal world. He might give victory to the righteous or answer prayers for rain in defiance of the way that matters would have shaped if the spatio-temporal System had heen left to its own devices.

But even those who still believe in a transcendent God are increasingly reluctant to believe that he acts upon Nature in this way. They hold that he created it, and created it for a purpose which is working itself out. But does he ever intervene? Consider, again, the Dualist theory of the mind. DESCARTES saw clearly that, if Dualist Interactionism was to be made plausible, then he must postulate places in the human brain where physical events occurred whose immediate causes were, in part at least, spiritual happenings. He guessed that this happened in the pineal gland, but we now know that the pineal gland can play no such role. Where, then, do spiritual happenings have their immediate physical effects? Nobody has come up with a plausible Suggestion. Most neurophysiologists would be astounded to hear that what happens to the brain has any other cause except earlier States of the brain and its physical environment. Yet the cases of God and the soul are the two most plausible cases of things outside the spatio-temporal System acting upon it. (It is noteworthy that they are the two examples that non-philosophers would be most likely to give of things outside Nature acting upon Nature.) If the anti-Naturalist case is weak here, it is far more unpromising in the other cases. Suppose, for instance, that there is a transcendent realm of numbers. How scientifically implausible to think that this realm, or members of this realm, can act on brains! So let US now explore the other hom of the dilemma. Let us assume that no transcendent entity acts in nature. I maintain that this remedy is worse than the disease. The anti-Naturalist goes from a hot frying-pan into a blazing fire.

The argument is simply this. The spatio-temporal System certainly exists. Whether anything eise exists is controversial. If any entities outside the System are postulated, but have no effect on the System, there is no compelling reason to postulate them. OCCAM'S razor then enjoins US not to postulate them.

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Natural science has made spectacular advances as a result of the postulation of unobservable entities. Consider microbes, genes, atoms, molecules, electrons, quarks and black holes. The value of such postulations is a Standing reproach to any positivistic conception of natural science. Now, Contemporary analytic philosophers are deeply affected by the justified reaction against positivism. As a result, the fashionable defence of transcendent entities is to compare them with the theoretical entities of natural science of the sort just mentioned. For instance, "abstract" classes (classes over and above the aggregates of their members) are postulated on the ground that, by their means, we can explain what mathematics is about, mathematics which is in turn required for the truth of physics, which explains the workings of nature. The justification for the introduction of abstract classes is thus no different from the justification for the introduction of electrons. In fact, however, the resemblance is superficial only. There is this vital difference. Abstract classes, to continue with these as our example, provide objects whose existence, perhaps, can serve as the truth-conditions for the propositions of mathematics. But this semantic function is the only function that they perform. They do not bring about anything physical in the way that genes and electrons do. In what way, then, can they help to explain the behaviour of physical things? Physics requires mathematics. That is not in dispute. But must it not be possible to give an explanation of the truth-conditions of mathematical Statements purely in terms of the physical phenomena which they apply to? Consider, as a parallel, the dispute in the philosophy of perception between upholders of the Representative theory and the Phenomenalists. The former theory postulates physical objects behind the immediately perceived sense-data, the latter gives an account of physical reality in terms of sense-data alone. Although I reject both theories, I have no doubt that the former is by far the more satisfactory. Suppose, however, that we were to knock away the central prop of the Representative theory and deny that physical objects had any power to cause sense-data. The Representative theory would then be a worthless one. It would be a bad joke to Support it by pointing out that the postulated objects at least provide truth-conditions for physical-object Statements. If, furthermore, the only possible alternative theory was Phenomenalism, then we would be under intellectual necessity to accept some Phenomenalist account of physical-object Statements. Equally, I suggest, if the anti-Naturalist fails to endow his transcendent possibilities, numbers, classes, etc. with any this-worldly powers, then they explain nothing. We must insist, against

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him, that Statements about possibilities, numbers, classes etc. be given a this-worldly interpretation.

What these interpretations are to be is, of course, a very difficult matter. In the case of the Statements of mathematics, for instance, I do not know that we have a currently satisfactory this-worldly account of them. But there surely must be such an account. The incredible usefulness of mathematics in reasoning about nature seems to guarantee this. It must then be correct to prefer such an account to one which postulates powerless entities outside that world. In PLATO'S Sophist, the Eleatic Stranger suggests that power is the mark of being (274D—E). I think he ist at least this far correct; if a thing lacks any power, if it has no possible effects, then, although it may exist, we can never have any good reason to believe that it exists. Eike all Contemporary analytic philosophers, I reject the Verification principle. But perhaps the Verification principle does grope for a truth: the Eleatic Stranger's principle weakened in the way that I have suggested. And if it is only spatio-temporal things which have power, the principle bids US postulate no other realities. It seems, then, that the anti-Naturalist who nevertheless admits the existence of a spatio-temporal reality must try to endow his extra entities with power to affect that reality, on pain of making his postulation otiose. Yet, in the present state of scientific knowledge, it seems implausible to endow these entities with such power. I conclude that we have rather good reasons for accepting Naturalism. 11. Materialism

It seems best to take Materialism as a sub-species of Naturalism. Contemporary Materialism can, of course, claim to be no more than the descendent of the Materialism of LEUCIPPUS, LUCRETIUS and HOBBES. I follow J. J. C. SMART (1963) and identify Contemporary Materialism (or Physicalism) with the view that the world contains nothing but the entities recognized by physics. Contemporary Materialism takes a Realistic view of the theoretical entities of physics — molecule, atom, fundamental particle and so on — and then asserts that everything there is is wholly constituted by such entities, their Connections and arrangements. The Naturalist, we saw, has first to defend himself against the objection that, so far from being the sole reality, the spatio-temporal System is not real at all. In the same way, even after Naturalism has been accepted, the

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Materialist must defend himself against the objection that, so far from the theoretical entities of physics being the sole realities, all that is real are ordinary macroscopic objects. Such a view is held by those who take an Instrumentalist or Operationalist view of physics. They do not deny the truth of the propositions of physics, but they deny that the truthconditions of these propositions require the existence of any of the entities which the propositions appear to name. The propositions of physics do nothing but teil us how macroscopic objects behave. The credit of such doctrines is now deservedly low, as low as the credit of Phenomenalism about ordinary macroscopic objects. One striking argument, which I first heard put forward by C. B. MARTIN, is drawn from physics itself. According to physical theory, macroscopic objects consist of fundamental particles associated with each other in complex ways. But physical theory also allows that these particles may exist not so associated with each other, and it is theoretically possible that none of them should be so associated. In such a theoretically possible state of affairs there would be no macroscopic objects although there would be fundamental particles. But, if Instrumentalism or Operationalism is correct, this state of affairs should be logically impossible. I believe, therefore, that we should take a Realistic view of the entities of physics. We saw in discussing Naturalism that to accept the reality of the spatio-temporal System does not preclude the view that a deeper analysis of that System may yet be given in terms which do not involve spatio-temporal notions. In the same way, of course, to take a Realistic view of physics does not rule out the possibility of reaching a deeper level of analysis in terms of which a reductive account is given of the entities and principles currently treated as fundamental. The main difficulties proposed for Contemporary Materialism, at any rate by Contemporary philosophers, are those of the apparent irreducible intentionality of mental processes, and the apparent irreducible simplicity of the secondary qualities. A word about each.

First, intentionality. Given what I take to be the utter implausibility of Behaviourism, then it seems that a Materialist must follow HOBBES and identify mental processes with some sub-set of processes in the central nervous System. But now consider such paradigm examples of mental processes as purposes and beliefs. They have the characteristic of intentionality: they point to a possible reality — the thing purposed or believed — which may or may not exist. BRENTANO held that intentionality was a defining characteristic of mental processes; and, more to the current point, that it was an irreducible characteristic. If intentionality is irre-

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ducible, then Materialism is false. (Irreducible intentionality may be compatible with Naturalism.) For such an irreducible characteristic has no place in physics as we now conceive physics. The Materialist is therefore committed to giving some reductive account of the intentionality of mental processes. Such an account is not all that easy to give. A second objection to Materialism is provided by the alleged irreducibility of the secondary qualities, or, as HERBERT FEIGE calls them, the ''raw feels". (His phrase is somewhat tendentious because it begs the question in favour of a subjectivist account of these qualities.) If they are irreducible, they fall outside the scope of physics. They are, in FEIGL'S famous phrase, "nomological danglers". They can only be linked to physical States of affairs by arbitrary bridge-laws (FEIGE 1967). (Once again, irreducible secondary qualities seem to be compatible with mere Naturalism.) I believe, however, that the Contemporary Materialist can argue against irreducible intentionality and irreducible secondary qualities in much the same way that, as we have seen, the Naturalist can argue against transcendent entities. The argument involves posing a dilemma parallel to the dilemma posed for Naturalism. "Does intentionality, and do the secondary qualities, bestow any causal power?" Suppose first that they do bestow causal power. If they do, and if this power is to be detectable, then whatever entities have these properties will, in suitable circumstances, act according to different laws from objects which lack these properties. Entities lacking these properties will simply obey the laws of physics. But particulars which have these extra or emergent properties will also obey extra or emergent laws. I argued in the previous section that the anti-Naturalist does best to bestow causal powers on his transcendent entities. In the same way, I think that the Naturalist anti-Materialist who believes in irreducible intentionality and irreducible secondary qualities does best to treat these extra characteristics as bestowing extra powers. Nevertheless, as I now proceed to argue, to take this line is to embrace a scientifically implausible view. It is, of course, being assumed at this point that a Realist view is taken of the theoretical entities of physics. Physical objects will be arrangements of, say, fundamental particles and will obey the laws of physics. Given certain very complex arrangements of fundamental particles, however, certain further properties of the complexes emerge — the property of intentionality and the secondary qualities. Complexes which have these further properties are supposed to obey further laws besides the laws of physics. Now there seems no conceptual difficulty in this supposition.

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but, in the light of present knowledge, it seems scientifically implausible. I do not Claim that it is as scientifically implausible as the view that the spatio-temporal System is not causally self-contained. But the Materialist seems to be placing a good scientific bet if he bets against these emergent laws. There is little evidence, for instance, that the brain obeys any different laws from any other physical object. Yet it is the brain, if anywhere, where emergent laws might be expected.

At any rate, just as in the case of anti-Naturalism, many anti-Materialists are unwilling to credit their extra properties with bestowing any extra power. Intentionality and the secondary qualities, they conclude, are epiphenomenal, getting a free ride upon certain configurations of matter but doing no work themselves. In this way anti-Materialists seek to compromise with Materialism. I think, however, that the result is only to compromise their anti-Materialism. The argument against this second horn of the dilemma is the same as that against the anti-Naturalist. If these characteristics fail to endow the particulars which they characterise with causal powers, then, with regard to the rest of the world, it is as if they did not exist. The world goes on exactly as if they are not there — and note that 'the world's going on' includes everything that anybody says or thinks. We can have no more reason to postulate such causally idle properties than causally idle objects. For instance, since the causes of the anti-Materialist's beliefs, on this hypothesis, are something other than these alleged properties, there seems no reason to hold the anti-Materialist beliefs. Instead, I suggest, we do better to argue in this sort of way: (1) The cause of all human (and animal) movements lies solely in'physical processes working solely according to the laws of physics. (2) Purposes and beliefs, in their character of purposes and beliefs, cause human (and animal) movements. (3) Purposes and beliefs are nothing but physical processes working solely according to the laws of physics. Again, (1) The cause of the expansion of mercury in a thermometer is always a purely physical one. (2) Something's being hot can cause the expansion of mercury in a thermometer. (3) Something's being hot is a purely physical state of affairs. (For the first of these arguments see MEDLIN, 1967).

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In the case of Naturalism^ we saw that the arguments for it require to be supplemented by giving a this-worldly account of Statements which make ostensible reference to transcendent entities. That task is not easy, nor did I attempt it in this paper. In the case of Materialism, similarly, we require some positive account, at least compatible with Materialism, of the nature of intentional mental processes and of the secondary qualities. This task is not easy either, although I am hopeful that it can be accomplished. My own suggestions for accomplishing it may be found in my (1968) and (1973). III. First philosophy But if we mean by an ontology, or first philosophy, the theory of the most general categories of all — such notions as particularity, universality, number, substance and causality — then Materialism is not a first philosophy nor even is Naturalism. What is more, Naturalism and Materialism seem to be prima fade compatible with various different first philosophies. Historically, however, there is a link between Naturalism and Materialism, on the one hand, and Nominalism, interpreted as the doctrine that nothing exists except particulars, on the other. Naturalist and Materialists are regularly found denying the reality of universals. What these three doctrines appear to have in common is their commitment to Empiricism, to the method of observation and experiment, the method of the natural Sciences, as opposed to the attempt to gain knowledge by a priori reasoning. The central methodological postulate of natural Science is that knowledge is not to be gained a priori. As POPPER has insisted, scientific hypotheses need not be suggested by experience. But the testing and verification of hypotheses demands experience, observation and a Submission to the facts as found. Since Contemporary if not past Materialism claims to spring out of scientific results and plausible speculations, it is committed to Empiricism. It is true that Materialism has sometimes seemed to be an anti-Empiricist doctrine. Both older and Contemporary Materialism are doctrines which in some degree make rape of the senses, and hold that immediate observations give but a first and imperfect clue to the nature of reality. However, Materialism is only anti-Empiricist if we identify Empiricism with such doctrines as Phenomenalism, Positivism, Instrumentalism and Operationalism. These doctrines make immediate observation not merely

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the first, but the last, Word about the irature of reality. They are excesses of Empiricism. So the ontologies of Naturalism and Materialism have a natural link with the epistemology of Empiricism. Nominalism, it is often feit, has also a natural link with Empiricism. Realism about universals, on the other hand, is often linked with a priori reasoning (in particular, with the a priori Science of mathematics). In my view, there need be no such links. Naturalism and Materialism cannot, of course, have any truck with transcendent or PLAxonic Realism. But why cannot Naturalist and Materialists accept the more moderate doctrine of universalia in rehusl (And, for relations, universalia inter res7) Why should they not accept the view that particulars have objective properties and relations, properties and relations which are universals? Naturalism and Materialism could then be interpreted as very general theories about what properties and relations particulars have. I cannot take the time here to discuss the difficulties facing Nominalism, but I am convinced that they are overwhelming. No Version of Nominalism can ever explain the unity of the classes of particulars said to have the same property, nor give any coherent account of relations. (For some of the problems, see ARMSTRONG 1974.) Still more difficult is the attempt to combine Nominalism with Naturalism and Materialism, for then there is no question of calling in new entities, such as abstract classes or merely possible particulars, to make up for the missing properties and relations. It seems to me, indeed, that, despite tradition, it is intellectually most plausible to combine Naturalism and Materialism with moderate Realism. (Although the great American philosopher C. S. PEIRCE was not a Materialist, he was a Naturalist and a moderate Realist, and I think that he would have accepted the general stand I take here.) Why have Naturalists and Materialists been attracted to Nominalism? Is it simply the agreeably hard-headed sound of the doctrine that nothing exists except particulars? Not altogether, perhaps. There is one line of argument for Realism about universals which appears to me to have had the effect of discrediting Realism, at least among Empiricists. It is the argument from the meaning of general terms. This is the argument that general words are meaningful, meaning is a dyadic relation, hence there must be entities for such words to mean, these somethings cannot be particulars, hence they are universals. This argument is very weak, depending as it does upon the untenable assumption that meaning is a relation between an expression and the thing it means. But far worse than this, it has served to destroy the credit of Realism with Empiricists.

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For if it is legitimate to move from the meaning of general terms or predicates to universals in this automatic way, it is established a priori that for each general term with a distinct meaning there is a distinct universal to be that meaning. It is this, I suggest, that Empiricists were unable to swallow. It offended against their central epistemological principle that knowledge of the existence of entities is to be gained a posteriori. Unfortunately, however, as often happens in such matters, Empiricists mostly drew what I think was the wrong moral. They should have concluded that the Argument from Meaning is unsound, and rested the case for universals, as it is easy to rest it, upon other considerations. (In particular, upon PLATO'S "One over Many" argument.) Instead they rejected Realism altogether. I wish to combine Naturalism and Materialism with what may be called a posteriori Realism. Things (particulars) have objective properties and relations, and these properties and relations are universals, monadic and polyadic universals. But what properties and what relations there are is not to be read off from discourse. Universals are not meanings. It cannot be assumed that because a general predicate exists that a universal exists in virtue of which this predicate applies. Normally it doesn't. Instead we should look to total Science to teil us what properties and what relations there are. It is the properties and relations of particulars which determine the causal powers of the particulars. In this way, a posteriori Realism, Naturalism and Materialism are seen to rest upon a common intellectual basis. That basis is the view that the best guide we have to the nature of reality is provided by natural Science. Naturalism and Materialism, although of course still very general theories, then emerge as specifications of a posteriori Realism: they are views about the general nature of those properties and relations which particulars actually have. Much remains to be said in defence of, and in elaboration of, a posteriori Realism, but little of that much can be said here. (For something more, itself the precursor of a larger planned work, see ARMSTRONG X975.) I have space only to indicate, very briefly, how I think that such a Realism gives promise of solving the problem which, if it is not, at least ought to be, the central problem which faces a Naturalist and a Materialist philosophy. This is the problem of the nature of causation and lawlike Connection. That there is a deep problem here is very generally, if sometimes grudgingly, admitted by all Empiricists. It is difficult, I believe impossible, to make sense of causal connection apart from law-like connection, or of

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D.

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law-Iike connection apart from some sort of universal connection: 'constand conjunction' in HUME'S terms. Causation involves law, law involves regularity. So much seems to be indisputable. But then the question arises whether causation and law-like connection involve anything more than regularity. Here the difficulty has been to see what more could be involved. At the same time, it is a profoundly sceptical doctrine that nothing more is involved. The universe is surely more of a unity than HUME thought. Furthermore, it is a scepticism which seems unable to solve certain technical Problems, in particular the way that Statements of law-like connection appear to sustain contrary-to-fact conditional Statements while Statements of mere regularity do not. Yet the Empiricist who is also a Nominalist is locked, or, perhaps better, humed, in to this sceptical position with all its difficulties. It has long been recognized, however, — it appears that PLATO and ARISTOTLE realized — that the acceptance of a Realistic doctrine of universals is at least the first step to a solution of the problem. I would try to develop the solution further in the following way. I distinguish first between first-order universals, which are properties and relations of ordinary, first-order, particulars, and second-order universals. The latter are the properties and the relations of the first-order universals. Since the argument to universals from meanings has been rejected, the mere applicability of various one-place and many-place predicates to first-order universals does not automatically ensure that they themselves have properties and relations. But, although I make no attempt to argue the matter here, I think it can be successfully maintained that they do have certain properties and relations. However, these secondorder properties and relations are all of the purely formal or topic-neutral sort. With regard to the properties of universals, there will be such things as complexity (including, perhaps, infinite complexity) and other structural features. Whether certain universals are or are not, for instance, complex, is a matter to be determined a posteriori. As for the relations of universals, besides those of inclusion and overlap (partial identity), one universal may necessitate, probabilify in some degree, or exclude another universal. Let US concentrate upon the relation of necessitation which one particular universal may bear to another. It is not logical necessitation. The relation would not obtain "in every possible world". Following in the footsteps of many other philosophers, we may call it natural necessitation. It is to be discovered a posteriori, by the experiential and experimental

Naturalism, Materialism and First Philosophy

425

methods of natural Science. But if such a relation exists between certain universals, then it entails a "constant conjunction" between the particulars falling under these universals. A particular fact about the connection of certain universals logically necessitates a general fact about the connection of (first-order) particulars. Take an artificially simple example, and suppose that the universal being F necessitates being G. This non-logical necessitation entails that, for all x, if x is F, then x is G. But the reverse entailment does not hold. It might be the case that, for all x, if x is F, then X is G, but fail to be the case that being F necessitates being G. In the latter case there would be no more than an "accidental" universal conjunction of the two properties in the particulars. Nomic or law-like necessity I take to be such a relation between universals. Causal connection I take to be a particular (and very complex) case of law-like necessity, and so to involve relations between universals. I hope that this mere lightning sketch of a line of thought indicates some of the attractions that a moderate and a posteriori Realism has for an Empiricist like myself. It seems to me to be the natural first philosophy to combine with Naturalism and Materialism. But, more than that, a posteriori Realism, especially when linked with a doctrine of natural necessitation, furnishes a natural and fruitful perspective from which to view the whole dispute about the truth or falsity of these two very general cosmological hypotheses. REFERENCES Armstrong, D. M.; A Materialist theory of the Mind. London 1968. Armstrong, D. M.: Belief, Truth and Knowledge. Cambridge 1973. Armstrong, D.M.: Infinite Regress Arguments and the Problem of Universals. In: Australasien Journal of Philosophy. 53 (1974). Armstrong, D.M.: Towards a Theory of Properties. In: Philosophy 50 (1975). Peigl, H.; The "Mental” and the "Physical". Minnesota University Press 1967. Medlin, B.: Ryle and the Mechanical Hypothesis (Section 2). In: The Identity theory of Mind. Ed. by C. F. Presley. Queensland University Press 1967. Popper, K.R.: Objective Knowledge. Oxford 1972. Chapters 3 and 4. Smart, J.J.C.: Philosophy and Scientific Realism. London 1963.

PETERBIERI(HEIDELBERG)

EMPIRICAL FIRST PHIL050PHY? Comments on Armstrong's pa-per 1.

In his paper Professor ARMSTRONG sketches a general line of argument that summarizes and at the same time puts in a larger perspective the outstanding work he has published both in the philosophy of mind and in epistemology, and in both cases in a comprehensive way rarely found in present-day analytical philosophy. Most importantly, however, his paper develops his general approach one major step further by connecting it up with the issue of a 'first philosophy' which for a long time was declared unworthy of even being discussed in analytical quarters. Given the general title of this meeting^ it seems appropriate that my brief comments will focus primarily on this challenging aspect of his paper. 2.

I Start out by noting the two most general of his claims regarding this issue. First, we are told, a first philosophy has to be conceived as ontology which may be defined, materially speaking, as the theory of the most general and basic structure of reality, or, formally speaking, as an account of the most general and basic categories of all. Second, we are assured, it is by far the safest bet and the only intellectually justifiable attitude to rely on empirical Science in search of such an account. The justification for all Statements about what there is, ARMSTRONG contends, has to be a posteriori: We finally ought to get rid of a priori reasoning when talking about the world, be it in one or the other of its older forms sufficiently discredited by now, or be it in this last desperate form which has assumed but the new name of linguistic or conceptual analysis. What we ought to be looking for is a first philosophy on purely empirical grounds. The theses of naturalism, materialism, and moderate realism of universals which are outlined in the paper are put forward as substantial tenets in the context of that kind of philosophical program, and the manner of arguing for them is supposed to illustrate its methodological structure as well as the dose inferential interplay of substantial and methodological issues.

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PETER BIERI

3. Now the striking feature of this position may best be brought out by noting that it clearly flies into the face of a presently widespread view according to which there are only three consistent attitudes towards the notion of a first philosophy: Either, it is thought, we remain irr (or return to) the quarter of rationalistic metaphysics in one of its various forms and try to work out an account of reality which truly deserves the title 'first philosophy' as something more basic than empirical Science^ but which proceeds by a priori reasoning paying no attention to the criticism brought about by linguistic analysis. If we do not want to join some form of Hegelianism^ we may want to go along, for example, with WHITEHEAD or BLANSHARD. Or we believe that the linguistic turn in philosophy, though at first

clearly hostile to every notion of first philosophy, eventually has shown US the way to a conception of ontology which, though somewhat restrictedly, may still claim to be the purified form of this ambitious program. What comes to mind here is, of course, something like STRAWSON'S 'descriptive metaphysics' and related approaches. Or, finally, we once and for all turn our back on the whole notion of a first philosophy and proclaim empirical Science the only rational Standard for thinking about the world in the hope of a unified Science. The example here is, among many others, QUINE'S reduction of ontology to empirical Science with its consequence of ontological relativity backed by a pragmatism and conventionalism of theories which make the idea of a first philosophy seem definitely obsolete.

4. Viewed against these background distinctions ARMSTRONG'S unusual Position may be described in the following way: Against the first attitude he shares the familiär empiricist complaint that a priori reasoning about the World is not capable of rational control. Rationalistic metaphysics is just an inferential linking of concepts with no criterion available that might serve as test for the adequacy of the used concepts and the validity of their inferential connection. At best this kind of first philosophy has a Standard of logical consistency and may refer for the total of its propositions to a notion of coherence which is notoriously obscure. And this is clearly not enough for a theory which purports to state what the world is like. As for the second approach he might admit that SxRAWSONian descriptive metaphysics has one criterion more than merely consistency or coherence: It Starts from our factual verbal dispositions and tries to clarify the general features of the linguistic framework we actually use when talking

Empirical First Philosophy?

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about the world. But why, he may justifiably ask, should we believe that the answer to the question of what there is can be read off discourse? Insofar as descriptive metaphysics gives a description of the basic features of our language it may well be correct. But why should we suppose that information about language is true Information about the world? After all, the ontology embedded in our language might just be a false theory. The third position, finally, is welcomed by ARMSTRONG for its reliance on empirical, testable Science. What he disagrees with, however, is its claim that such reliance is incompatible with a first philosophy or ontology in a full-blown sense, i. e., without the implication of ontological relativity basically guided by purely pragmatistic and conventionalistic considerations. Reconstructing ARMSTRONG'S position in these terms makes it, I think, obvious that its crucial point is the conception of empiricism on which it rests, and that the basic question to be asked therefore is whether it is, in principle at least, possible to give a consistent account of empirical knowledge which allows us to hold on to the notion of a first philosophy as ontology without having to fall back on positions dangerously dose to either rationalistic or descriptive metaphysics. The following remarks are designed to cast some doubts on this possibility, and, based on the reasons for these doubts, to raise a problem about materialism as an empirical thesis. 5.

As a first step let me briefly survey the duster of assumptions that make up ARMSTRONG'S empiricism. The first of them is that the only correct view of empirical theories is scientific realism. Phenomenalism, operationalism and instrumentalism are held to be basically mistaken and are stigmatized as excesses of empiricism. Neither are ordinary macroscopic, observable objects merely 'logical constructions' out of phenomenal entities, e. g. sense-data, nor is the postulation of theoretical, unobservable entities by microphysical theories to be regarded as just a convenient device for talking about observable entities and their behavior. If despite notorious difficulties we use the familiär distinction between a phenomenal, an observational and a theoretical framework for talking about the world, this claim may be formulated as the thesis that theoretical frameworks are ontological contributions of full value. And it is clear why an empirical first philosophy needs scientific realism in its strongest form possible: If in ontological matters we want to rely exclusively on empirical theories, the only way to answer the question of what 6.

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PETER BIERI

there is is to look at the non-logical vocabulary of such theories and to accept the domain of entities it refers to at face value. And it is also clear why all Contemporary materialism needs a rigid scientific realism: It is precisely the microphysical States of affairs introduced to explain the human brain and central nervous System that the materialist hopes to identify the realm of mental States with. It is only the complexity of microphysical patterns that provides a suitable candidate to match the complexity of our mentalistic vocabulary which at first sight seems to be a stumbling block for every materialistic program. If microstructural explanations were taken to be just a sophisticated kind of fiction, that would leave as the only reality the brain as the surgeon sees it, and materialism would look silly right from the Start. 7. The second main assumption tries to do justice to the indisputable

fact that there are many different empirical theories which are not just competitive while working with the same sets of theoretical terms, but which differ from each other by postulating different theoretical entities, and which therefore represent different ontologies. If we want to stick to the notion of a first philosophy and avoid ontological relativity which needs not be disturbed by this fact, we have to say something convincing about the relationship between these different theories. Here ARMSTRONG takes up the topic of theory reduction couched in ontological terms and refers us to the distinction between denying that a certain entity exists and giving an account of that entity in terms of other entities. This distinction, of course, mirrors simply another one common in the philosophy of Science: that between reducing one theory to another one and replacing one theory by another one. ARMSTRONG holds the latter alternative to be an utterly incredible view because, he believes, it involves the concept of analyzing away entities, and he therefore advises us to work with the former, more conservative notion of giving an account of an entity in terms of other entities which leaves the reality of the former untouched. The third assumption essential to his form of empiricism is that OCCAM'S razor, the principle of ontological economy, is universally applicable in answering the question of what there is. This assumption reads, more precisely: The main criterion for justified belief in the existence of certain types of entities is whether there is good reason to believe that they act causally on other entities. By bringing in causality at this point ARMSTRONG wants to get rid of entities like abstract classes which are sometimes postulated to preserve the truth-conditions of mathematical propositions. And conversely, by drawing a distinction between the purely 8.

Empirical First Philosophy?

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semantic and the causal function of entities he hopes to justify his form of OCCAM'S principle. And this finally fits in with his claim that the central Problem of empiricism is the problem of lawlike connections which sustain counterfactual conditionals. Here we are told, surprisingly enough, that the only way out of HuMEan scepticism is to treat particular causal connections as second-order relations in rebus between particular first-order universals in rebus, both being discoverable by the very same Science that relies on them.

9. Now as I see it the basic problem of all Contemporary empiricism is to give a satisfactory account of the relationship between theoretical frameworks on the one hand and the phenomenal and observational framework on the other. And it is here, I think, that ARMSTRONG runs into serious difficulties regarding both the consistency of his empiricism and its compatibility with the notion of an empirical first philosophy. Given the shortness of my time, I confine myself to sketching only two of them which may both be given the form of a dilemma. 10. The first of them arises when we pursue the thesis of scientific realism far enough in this context. According to ARMSTRONG'S first assumption theoretical frameworks have the final authority in determining what there is, and let us grant him that all the difficulties regarding the extralinguistic meaning of theoretical terms can be overcome. Then the question comes up: Do the entities which the phenomenal and the observational framework refer to exist, or don't they? Whereas this question may be bracketed in the context of empirical Science itself and even in the context of what has come to be called 'rational reconstruction' of empirical Science, it is inevitable when we talk about ontology. Now if his third assumption is true and OCCAM'S razor may be applied universally, we must say bluntly that all the familiär entities like sensations and ordinary observable objects simply do not exist, however counterintuitive this claim may be. This consequence seems especially compelling if the principle of ontological economy is formulated in terms of causality, since it would certainly be odd to talk about entities of different ontologies acting causally on each other. But first of all this consequence runs contrary to ARMSTRONG'S second assumption which does not want to deny the existence of entities belonging to rival ontologies but rather to give an account of them in terms of others. And second, simply dropping the phenomenal and observational frameworks has, as FEYERABEND'S later writings show, a disastrous consequence: We lose the possibility of providing a criterion for distinguishing

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PETER BIERI

between empirical theories and rationalistic metaphysics^ because it is, after all, reference to what we obserce and to how things appear to us which is supposed to guarantee that what we are dealing with is not just an arbitrary inferential linking of concepts. This reference, in short, is what is supposed to make empirical theories empirical, thereby providing a basis for asking critical questions about descriptive metaphysics. If we drop the basis for this reference we are left with only the consistency and coherence of theoretical frameworks. Admitting, on the other hand, that the entities referred to by phenomenal and observational terms are real entails three things ARMSTRONG cannot accept: First, it would force him to restrict the applicability of OCCAM'S principle in a way that would jeopardize his general strategy of arguing for naturalism and materialism. Second, it would probably lead to the ontological degrading of theoretical entities which is what he opposes and must oppose in operationalism and instrumentalism. And third, even if we could still hold on to the reality of theoretical entities in this case, we would have to accept some form of ontological relativity which is incompatible with first philosophy. 11. A second, related dilemma arises, when we ask; What are theoretical frameworks theories ofl Or: What is the explanatory coherence of an empirical theory explanatory of? Here the dilemma of an empirical first philosophy centers around the distinction between internal and external subject matter of a theory. On the one hand, it seems, it belongs to the very notion of 'empirical' that we be able to uphold this distinction. It is precisely the fact that a theoretical framework makes intelligible the behavior of a domain of entities which is different from the one it postulates which makes it possible to check this framework for more than merely consistency and coherence. This external subject matter may at first be a domain of entities introduced by another framework which is itself theoretical. But eventually, it seems, all theoretical frameworks must be tested by reference to either the behavior of observable entities or the occurence of patterns of sensations, if talk of their being empirical theories is to make any sense at all. And this, of course, leads right back to the second horn of the first dilemma. On the other hand it is the distinctive feature of an ontological theory that the distinction between internal and external subject matter is not applicable to it. An ontological theory, one may say, is defined as a theory that determines by itself what it is a theory of. If we simply drop phe-

Empirical First Philosophy?

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nomenal and observable entities in favor of theoretical entities, theoretical frameworks acquire exactly this Status of strictly ontological theories, and ARMSTRONG'S claim that scientific realism provides the means for a first philosophy seems promising again. But then the first horn of the first dilemma shows up: We do not understand any more in what sense such theories may be called empirical and how they can be distinguished from rationalistic and descriptive metaphysics which share the same feature with them. Again: the notion of an empirical first philosophy begins to look inconsistent. 12. The perspective indicated by these two dilemmas which, needless

to say, are strongly oversimplified for brevity's sake, may now be applied to materialism and physicalism. It is ovious that their main problem is how to get rid of phenomenal and observable entities. Here the upshot of an extensive literature on the subject is, I think, that there are three strategies available: The first one is to claim that phenomenal and observable entities are 'contingently identical' with theoretical entities in the sense that the terms of these different frameworks, although different in meaning, refer to the same thing. This approach, as has become more and more clear, is backfiring, because identity, if a relation at all, is a symmetrical relation and therefore not capable of eliminating any entities. The second strategy is to apply the model of theory reduction: Just as one theoretical framework may be reduced to another one, so the phenomenal and observational frameworks may be reduced to theoretical frameworks. A 'reductive materialism' of this kind is what ARMSTRONG is driving at with the second assumption of his empiricism. But I think this approach will not do, either, because its key distinction between denying that an entity exists and giving an account of it in terms of others also runs into a dilemma in this context: Either the account given of phenomenal and observable entities preserves their reality. In this case materialism and physicalism are just false. Or this account denies their reality, resorting in the long run to the third assumption, the universal applicability of OCCAM'S principle, as some parts of the paper indicate. This would bring up the question: Why bother with giving an accoimt of the phenomenal and observational framework instead of simply replacing them by theoretical frameworks on the ground that these are the better theories? In other words: Why not go on to the third alternative which has come to be called 'eliminative materialism'? The reason for ARMSTRONG'S reluctance to follow this last course can well be understood in the light of the two dilemmas sketched above: If we eliminate phenomenal and observable

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PETER BIERI

entities, we cannot see any more what it would mean to call a materialistic and physicalistic ontology 'empirical'. Materialism seems to be either false or not an empirical thesis. 13. Let me dose these very sketchy remarks by indicating what I think is the basic problem which all these difficulties point to and which Stands in the way of every attempt at an empirical first philosophy. It is a dilemma involving the question what epistemology is and may briefly be put as follows:

Either we think of epistemology, folowing the CARXEsian and KANxian tradition, as an area of considerations which have a twofold characteristic: First, they try to defend a concept of knowledge against the epistemological sceptic, thereby providing a basis for making sense of concepts like 'empirical' and 'science' in the first place. Second, they provide reasons for postulating the existence of certain types of entities which have logical priority over the reasons empirical Science may have for such postulation, because the epistemological reasons are presupposed in all talk of 'empirical Science'. The two main examples of this traditional view are epistemological foundationalism with its postulation of phenomenal entities as the basis of epistemic justification, and transcendental arguments to the effect that in order to have a concept of knowledge at all we must have the conceptual framework of ordinary observable objects. If we think along these lines, we can hold on to the notion of a first philosophy: epistemology itself becomes the most plausible candidate for this title. But, of course, this result conflicts with all of ARMSXRONG'S intentions: We cannot call this first philosophy empirical, if we want to avoid the Charge or circularity; OCCAM'S principle does not apply to entities needed for epistemological reasons; materialism could no longer be established simply by reference to the best explanation of behavior; and so on. Or — the other hom of the dilemma — we stop worrying about the

epistemological sceptic and declare epistemology a branch of empirical Science, following QUIKE and showing ourselves undisturbed by the charge of epistemic circularity. We are then free to use OCCAM'S razor universally and may thereby establish eliminative materialism. But in this case, without epistemological foundationalism or transcendental arguments, I see no way to avoid either CARNAP'S conventionalism of linguistic frameworks or QUINE'S and GOODMAN'S pragmatism of theoretical frameworks in the explication of empirical knowledge. And this amounts to giving up the notion of a first philosophy, as DEWEY never got tired of pointing out. And it would raise a question I have not even touched upon yet:

Empirical First Philosophy?

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Why dodge OCCAM in the case of universals? Or, if the prime reason for this move is the problem of lawlike connections: Why take the sceptic seriously here, once we have naturalized epistemology? Why not turn to something like GOODMAN'S 'entrenchement' in handling this issue? My guess is that what ARMSTRONG would have to do in order to make his approach consistent and convincing is to show more explidtly that and how this very broad dilemma can be escaped.

D. M. ARMSTRONG (SYDNEY)

REMARKS READ AT THE CONFERENCE

I find Dr. BIERI'S remarks very flattering, and very helpful, although I do not believe that he has quite laid his finger on what may be the central difficulty in my position. He maintains that I ought to say that sensations and ordinary observable objects (in his terms, the phenomenal and the observational framework) do not exist. For he says: "it would certainly be odd to talk about entities of different ontologies acting causally on each other". (p. 431) But I maintain that the phenomenal, the observational and the theoretical framework are not different ontologies. Sensations exist, ordinary physical objects exist, and they act causally (in virtue of their properties

and relations). It is simply that they are, although real, reducible to, identical with, the objects of theoretical Science — microscopic States of the brain, light-waves, electrons etc. — which may themselves be reduced in later, more advanced, Science. (OCCAM'S razor simply forbids us to take sensations, ordinary objects, etc. as something more than the theoretical framework.)

But I think that there is a real difficulty for my position, one hinted at by Dr. BIERI at the beginning of his paper. Naturalism and Materialism are, I take it, scientific — empirical theses. There I do not see a difficulty. But what of the propositions which make up my first philosophy? My view is that the world contains nothing but particulars, these particulars having properties and standing in relations, properties and relations which may in turn have certain properties and relations, where properties and relations, whether of first or higher-order, are always to be determined a posteriori. Are these a posteriori propositions? Perhaps they ought to be on my philosophy. Yet I argue for them in a way that looks somewhat a priori. Consider WITTGENSTEIN'S problem in the Tractatus. What is the logical Status of the propositions of the Tractatus? Perhaps I am faced with another Version of this sort of problem.

D. THEORIE DER GESELLSCHAFT ALS NACHFOLGER DER SYSTEMATISCHEN PHILOSOPHIE?

Kolloquium VIII GESELLSCHAFTSTHEORIE UND PHILOSOPHIE

NIKLAS LUHMANN (BIELEFELD)

ZUR EINFÜHRUNG Im Rahmen des Gesamtthemas „Ist systematische Philosophie möglich?" werden wir uns in dieser Sitzung mit den Beziehungen zwischen Gesellschaftstheorie und Philosophie befassen. Die Sitzung ist geplant als Diskussion unter Philosophen, nicht als Diskussion zwischen Soziologen und Philosophen. Insofern erbitte ich für die Soziologie das Maß an Schonung, das man Abwesenden schuldet. Die Gründe für diese gewiß problematische Vorentscheidung möchte ich ganz knapp erläutern und damit zugleich die Auswahl der Themen begründen, die im folgenden ziur Diskussion stehen werden. Die soziologische Theoriebildung hat ihr Hauptproblem in der immensen Breite und Reichhaltigkeit des Faktenmaterials, das ihr zur Verfügung steht — eines Materials, das zudem in seiner Struktur und in der Tiefenschärfe möglicher Analysen abhängt von den Methoden konzeptueller und datenbeschafftmgsmäßiger Art, über die man verfügt. Angesichts dieser Berufserfahrung wird es für den typischen Soziologen kaum möglich sein, eines der großen klassischen Systeme der Philosophie — etwa Hegels Rechtsphilosophie — als einen bereits gelungenen Fall von Theorie anzusehen. Andererseits ergibt die gleiche Situation für die Soziologie in ihren fachspezifischen Bemühungen ein stark verkürztes, zur Desorganisation führendes Theorieverständnis. Unter diesen Bedingungen können Wunschträume nach großer Theorie entstehen, die, wenn nicht in den Supertheorien der Soziologie, dann doch in der Philosophie zu erfüllen wären. Diese Aufgabe kann sicher nicht durch ein bloßes Vorplausibilisieren grundlegender Begriffe, durch ihre Einführung mit Mitteln der Umgangssprache oder des alltäglichen und insofern gesunden Menschenverstandes erfüllt werden. Das gäbe nur punktuelle Zugriffe auf ein komplexes Theoriefeld und keine Sicherheit über das Gemeinte in der weiteren theoretischen Arbeit. Es käme statt dessen eher auf Eliminierungsleistungen der philosophischen Theorie an, also auf Negationen, und diese kann sie nur in einer eigenen Systematik begründen. Die gestellte Aufgabe setzt damit voraus, daß die Philosophen systematische Philosophie für möglich hal-

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NIKLAS LLTHMANN

ten; oder daß ihnen zumindest der Weg verbaut wird, unsystematische Philosophie für möglich zu halten. Über diese allgemeine Charakterisierung hinaus lassen sich einige Punkte näher bezeichnen, in denen soziologische Gesellschaftstheorie Systementscheidungen vermutet, sie aber nicht selbst oder jedenfalls nicht auf der Basis durchgehenden Fachkonsenses treffen kann. An diesen Stellen entstehen Rückfragen an die Philosophie. Ich möchte vier Punkte dieser Art wenigstens kurz bezeichnen und damit zugleich zu den Referatsthemen überleiten. Der erste Punkt könnte unter dem Stichwort selbstreferentieller Strukturen und Prozesse diskutiert werden. Selbstreferenz ist für die Soziologie nicht länger nur ein Merkmal des Denkens, des Erkennens, des Bewußtseins, sondern ein Merkmal ihres Gegenstandes selbst. Theoriefortschritte, die man genauer angeben könnte hängen davon ab, daß man von der Evolution der Evolution, von Kommunikation über Kommunikation oder davon sprechen kann, daß ein System sich als Differenz zur eigenen Umwelt identifiziert. Der zweite Punkt betrifft die Art und Weise, in der Limitationalität eingeführt wird als Bedingung der operativen Ergiebigkeit von Negationen. An dieser Stelle fallen für die Soziologie Systementscheidungen zwischen Dialektik, kritischem Rationalismus und Funktionalismus. Sowohl die Dialektik als auch das Falsifikationsprinzip der neueren Wissenschaftstheorie als auch der Begriff der funktionalen Äquivalenz setzen auf jeweils verschiedene Weise Limitationalität voraus. Angesichts dieser Lage hängen Theoriefortschritte davon ab, daß man die Einführung von Limitationalität logisch und begrifflich unterscheidet von der Operation des Negierens, die Limitationalität voraussetzt. Die eigentlichen Begründungsleistungen werden dann schon mit der Einführung von Limitationalität erbracht und nicht erst mit dem Prozessieren von Negationen. Eine dritte Frage führt imter anderem zum Demokratiethema. Ich möchte sie unter dem Stichwort der Inklusion formulieren. Funktional differenzierte Gesellschaften erfordern im Prinzip Ermöglichung der Teilnahme aller an allen notwendigen Funktionen auf der Basis dezentralisierter freier Wahl. Diesem Erfordernis entspricht eine Abstraktion der Teilnahmebedingungen, weil anders die Differenzierung selbst nicht aufrechterhalten werden kann. Diese Abstraktion verhindert dann ihrerseits eine Vollidentifikation der Teilnehmer mit der Gesellschaft und distanziert gerade durch die Form der Inklusion Person und Gesellschaft. * Hierzu näher Niklas Luhmann: Systemtheorie, Evolutionstheorie und Kommunikationstheorie. — In: Ders.: Soziologische Aufklärung. Bd 2. Opladen 1975.

Gesellschaftstheorie und Philosophie

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Die vierte Frage wird nicht zuletzt durch diese Sachlage, aber auch durdi das Problem selbstreferentieller Gegenstände prekär: Können wir Theorien über solche Sachverhalte gründen auf die Annahme, daß Erkermtnis zumindest in den Grundzügen homolog ist zum Gegenstand? Oder operiert die Erkenntnis fruchtbarer unter prinzipiell inkongruenten Perspektiven? In der Sprache von KLAUS HARTMANN: Begründen sich Theorien in der Affirmation ihres Gegenstandes oder werden sie fruchtbar, indem sie die Partikularität ihrer spezifischen Selektionsweise reflektieren? Steckt, mit anderen Worten, in den netten Theorien oder in den ironischen Theorien das höhere Reflexionspotential? Meine Vermutung ist, daß diese vier — und vielleicht noch weitere — Probleme sich nicht isoliert beantworten lassen. Vielleicht gibt es keine eindeutig richtige, auf alle Fälle überlegene Antwort. Aber eine Philosophie, die eine systematische sein will, müßte klären können, wie die Optionen in der einen Frage die jerügen in den anderen limitieren. Für die soziologische Theoriebildung zumindest dürften solche Zusammenhänge wichtiger sein als punktuelle Antworten, die durch Interpretation klassischer Muster oder durch analytische Umsicht legitimiert werden. Ich hoffe, daß nach diesen einführenden Bemerkungen leichter verständlich wird, wie die Themen der Referate und Kurzreferate miteinander Zusammenhängen — auch dann, wenn, wie man so sagt, verschiedene Positionen vertreten werden.

LOTHAR ELEY (KÖLN)

NEGATION ALS SOZIALE KATEGORIE SINN UND FUNKTION DER NEGATION IN DER SYSTEMTHEORIE 1.

1.1. Daß wir heute gleichzeitig in verschiedenen gesellschaftlichen Systemen leben, ist für uns selbstverständlich. Es läßt sich daher vermuten, daß Systeme sich durch ihre Abgrenzung gegen ihre Umwelt bestimmen, daß also Systeme negativ bestimmt sind. Systeme wären dann nicht Vorgefundene Felder; sie würden sich vielmehr durch Strategien der Negation bestimmen. Es soll daher versucht werden, dialektische Züge, die der Systemtheorie der Gesellschaft notwendig eigen sind, ans Licht zu bringen. Unter „Dialektik" ist hier das „Fassen . .. des Positiven im Negativen" ^ zu verstehen, so daß die eigene Fortbestimmung des Systems das wahrhaft Dialektische ausmacht. 1.2. Die formal-logische Bestimmung der Negation, die Einführung der Negation über eine Wahrheitstafel oder — wie in der operativen Logik — über ein Dialogschema, erweist sich in unserem Zusammenhang als unzulänglich. Wir fragen hier vielmehr nach der Negation als einer kategorialen Bestimmung. Daß und wie die Negation eine kategoriale Bestimmung sein kann, zeigt sich vor allem im Kontext der Ökonomie. An zwei Beispielen sei dieses verdeutlicht: Schon bei den Physiokraten ist der Wert nicht mehr Bestimmtheit eines Unmittelbaren, des Seienden; Werte zu bilden bedeutet nicht mehr unmittelbar einem Bedürfnis Genüge zu tun. Werte bilden meint vielmehr: Güter zu opfern, um andere dafür zu tauschen. FOUCAULT formuliert treffend diesen Sachverhalt: „Die Werte bilden das Negativ der Güter." Noch ein zweites Beispiel, ein Beispiel aus der heutigen Theorie der Ökonomie: Die Definiton der Kosten. Die Kosten werden als Nutzen‘ **

C. F. W. Hegel: Wissenschaft der Logik. Teil 1. Leipzig 1951. 38. M. Foucault: Die Ordnung der Dinge. Frankfurt 1974. 243.

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LOTHAR ELEY

einbuße — opportunity cost — definiert. LIPSEY definiert in seiner Einführung in die positive Ökonomie die Kosten im Rahmen eines Unternehmens auf folgende Weise: „Als Kosten für die Nutzung von irgend etwas in einem speziellen Unternehmen gilt der durch seine Nichtbenutzung für die beste alternative Verwendungsmöglichkeit entgangene Nutzen." ^ Es ist offenbar notwendig, den Begriff der Negativität, wie er sich am Beispiel des ökonomischen Systems zeigt, zu überprüfen. Dieses wird nur dadurch möglich, daß wir versuchen, die Negativität allgemeiner, d. h. abstrakter, als Bestimmtheit möglicher sozialer Systeme herauszuarbeiten. 1.3. Meine Darlegung ist notwendig abstrakt, also trocken. Abstrakt besagt nicht: Freiheit von Implikationen, sondern es bedeutet vielmehr: Setzung von Implikationen. Es geht nicht darum, die Implikationen in einem Formalismus abzuschneiden, um mit einer Interpretation des Formalismus diesem nachzuhinken, wobei man schließlich nicht sicher ist, ob man nicht wiederum in einen Formalismus verstrickt ist. Vielmehr verlangt die Abstraktheit, d. h. der Implikationsreichtum, daß die Analyse notwendig mit einer qualitativen Beschreibung des Systems, also mit Erläuterungen zu beginnen hat; allerdings mit der Maßgabe, diese so durchzuführen, daß ein Übergang in die Darstellung möglich und notwendig wird. Die Kürze der Zeit macht nur eine Erläuterung der Systeme möglich. 3 1.4. Da der Begriff der Negativität abstrakt bestimmt werden soll, läge es nahe, mit Hegel die Negativität lediglich als Bestimmtheit der Gesellschaft, verstanden als „Not- xmd Verstandesstaat" als „System der Bedürfnisse" zu begreifen. Heute ist aber der Staat selber eine gesellschaftliche Funktion. Wir müssen daher neuerlich versuchen, die Negativität als soziale Kategorie, und zwar abstrakt, zu bestimmen. Das besagt aber, die Negation erscheint als Gedoppeltes: sie ist einmal kategoriale Darstellung, doch so, daß eben diese Darstellung selber zugleich negiert wird, da sie ja abstrakt ist. Diese Doppelseitigkeit der Negation ist im weiteren zu reflektieren. R. Lipsey: Einführung in die positive Ökonomie. Köln 1971. 251. ’ Zur methodischen Bestimmung von Erläuterung und Gebrauch (Darstellung) siehe meine Arbeit: Hegels ,Wissenschaft der Logik'. Leitfaden und Kommentar. München 1976; ein erster Hinweis in: Transzendentale Phänomenologie und Systemtheorie der Gesellschaft. Freiburg 1972.129. * G. W. F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts. 4. Auflage. Hamburg 1955. 165. ® Ebd. 169. *

Negation als soziale Kategorie

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1.5. Derjenige Begriff nun, der soziale Systeme zureichend zu charakterisieren gestattet, ist nach LUHMANN Sinn. Wie der Begriff Wert in der Ökonomie, so ist erst recht der Begriff Sinn nicht primär dadurch bestimmt, daß er einem Erleben unmittelbaren Ausdruck verleiht. Es ist falsch, Sinn lediglich als das im Erleben Vermeinte, als das cogitatum der cogitatio zu begreifen. ® In Kürze seien noch einmal jene Momente des Sinnes herausgestellt, die LUHMANN in seinem Aufsatz Sinn als Grundbegriff der Soziologie ^ aufgezeigt hat. Die Funktion des Sinnes ist nach LUHMANN, „die Aktualität des Erlebens mit der Transzendenz seiner anderen Möglichkeiten zu integrieren" Die nichtgewählten Alternativen können nicht ausgemerzt werden; andernfalls würde auch gar nicht gewählt; vielmehr ist es erforderlich, „daß die Komplexität anderer Möglichkeiten im Erleben selbst konstituiert wird und erhalten bleibt" ®. Sinn ist daher primär eine Strategie negativer Dialektik. Es ist somit „der funktionelle Primat der Negativität im sinnkonstituierenden Erleben" herauszuarbeiten. In jedem aktuellen Erleben sind zugleich andere Möglichkeiten ausgeklammert, neutralisiert, in der Weise, daß deren Realisierung für später aufbewahrt ist. Damit ist eine erste Strategie der Negation bezeichnet. Eine zweite Form und Strategie der Negation ergibt sich sofort: Sirm integriert sich nur dadurch zum Sinnzusammenhang, daß er sich als Ganzes gegen eine Umwelt abgrenzt. Und die Funktion eines sozialen Systems besteht darin, einen sozialen Verweisungszusammenhang durch Abgrenzung gegen eine Umwelt zu institutionalisieren. ® Anders als in der „analytischen Philosophie" wird hier Sinn primär nicht als Sinn eines sprachlichen Ausdrucks verstanden. Nach Husserl ist z. B. auch die Wahrnehmung als Verhältnis von Intention und Erfüllung zu begreifen. Das Verhältnis von vorsprachlichem Sinn zum sprachlich artikulierten ist hier nicht zu erörtern; siehe dazu: L. Eley: Sprache als Sprechakt. Die phänomenologische Theorie der Bedeutungsintention und -erfüllung und die sprachphilosophisdie Theorie der Sprechakte (J. R. Searle). In: J. Simon (Hrsg.): Aspekte und Probleme der Sprachphilosophie. Freiburg/München 1974. 137 ff. ’ N. Luhmann: Sinn als Grundbegriff der Soziologie. In: 7. Habermas, N. Luhmann: Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie — Was leistet die Systemforschung? Frankfurt am Main 1971. 31. Es ist freilich völlig verfehlt, Luhmanns Systemtheorie dadurch philosophisch befragen zu wollen, daß man sie in bestimmte Traditionszusammenhänge der Philosophie einordnet; nach dem Motto: Luhmann als Neukantianer oder Luhmann als Phänomenologe oder Luhmann als Dialektiker oder Luhmann als Scholastiker... Es geht hier einzig um eine Sache. Nach wie vor gilt die Devise der Phänomenologie: Zu den Sachen selbst. 8 Ebd. 31. 8 Ebd. 35.

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Im bisherigen habe ich selbstverständlich vorausgesetzt, daß der Siim erfüllter Sinn, verwirklichte Möglichkeit ist, die sich gegen andere Möglichkeiten abgrenzt. Sinn ist aber ursprünglich das Intendierte (Erwartete), also noch nicht Erfüllte, in der Weise, daß die Intention im Falle sich auch nicht erfüllen, sondern auch enttäuschen kann. Sinn ist negativ bestimmt, und zwar als die Differenz zwischen der erwarteten Intention und der Erfüllung. Negation ist daher insbesondere die Negation der Intention selber — und zwar als Enttäuschung. Damit zeigt sich die Bestimmtheit des Sinnes als Verwirklichung einer Möglichkeit im Ausklammem anderer in einem neuen Licht: Auch eine erfüllte Intention weist wieder über sich hinaus, so daß die Negation anderer Möglichkeiten nur aufgeschoben ist. Von hierher verstehen wir die Funktion der Regel. Sie besteht darin, die Negation nach einem bestimmten Schema — nämlich als Anderes des Anderen — zu perennieren. Die Verwirklichung eines Sinnes im Ausklammem anderer Möglichkeiten schiebt die Negation auf. Wir sehen nunmehr, worin die Abstraktheit des Systems besteht: sie besteht im Aufschub der Negation. Damit zeigt sich auf bestimmtere Weise die Doppelseitigkeit der Negation: Die Negation ist — paradoxerweise — eine kategoriale Bestimmung, insofern sie abstrakt ist, d. h. insofern die Negation aufgeschoben, d. h. nicht negiert wird. Die Funktion des Sinnes besteht also gerade darin, die Negation aufzuschieben und durch den Aufschub zu generalisieren. Sinn ist damit eine riskante Selektivität; er steht ständig in Gefahr enttäuscht zu werden. 1.6. Es zeigte sich, daß Sinn die Ordnungsform des menschlichen Erlebens ist. Drücken wir es in den Termini der neuzeitlichen Philosophie aus: Sinn ist die Ordnungsform der cogitatio; Sinn ist damit ursprünglich nicht als das cogitatum, als das Vermeinte der cogitatio, die dann als Sinnstiftung zu verstehen wäre, zu begreifen. Sinn ist ursprünglich die Differenz von Intention und Erfüllung, insbesondere die Bestimmtheit der Erfüllung der Intention im Anderen. Indem aber andererseits die Intention sich im Anderen erfüllt, d. h. im Anderen unmittelbar, also seiend ist, ist Sinn nicht nur Bestimmtheit im Anderen, ist Sinn nicht nur negativ, sondern zugleich auch affirmativ bestimmt. Sinn ist daher zweideutig: einmal ist er cogitatum der cogitatio, andererseits ist er Bestimmtheit dieser Differenz. Die transzendentale Phänomenologie E. HUSSERLS versucht die Klärung dieser Bestimmung des Sinnes im Subjektbezug. Das Subjekt geht in der cogitatio lebend im cogitatum auf. Anstatt im Vollzug der cogitatio in der cogitatio aufzugehen, d. h. naiv den Sinn als seiend zu setzen, besteht die transzendentale Funktion darin, auf den Sinn als Dif-

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ferenz von cogitatio und cogitatum zu reflektieren, um das ego cogito statt als Verlebendes als sinnstiftendes Subjekt zu gewinnen. Gerade dieser Rückgriff auf das transzendentale Subjekt zur Erklärung des sozialen Sinnzusammenhanges wird von der Systemtheorie — wie LUHMANN sie vertritt — in Frage gestellt. Ich möchte daher in These und Gegenthese die Voraussetzung der Theorie, die den Sinn als Grundbegriff der Soziologie zu begreifen versucht, herausarbeiten. Ich beschränke mich dabei auf die Entwicklung des Gegensatzes von affirmativer und negativer Bestimmung des Sinnes. Zunächst ist der Versuch zu erörtern, die Zweideutigkeit von affirmativem und negativem Sinn als Differenz von naivem und transzendentalem Bewußtsein zu begreifen. Bekanntlich ist dieses die These von E. HUSSERL. Sodann ist in einer Gegenthese die Fragwürdigkeit der transzendentalen Sinntheorie herauszuarbeiten. Wie dereinst Hegel die Transzendentalphilosophie KANTS aufnahm und sie ihrer Unwahrheit überführte, so ist heute neuerlich Sinn und Grenze der Transzendentalphilosophie, dieses Mal als transzendentaler Theorie des Sinnes, in These und Gegenthese herauszustellen. 2.

Was versteht die transzendentale Phänomenologie HUSSERLS rmter Siim? Das im Bewußtsein Vermeinte ist Siim, insofern das Vermeinte über sich hinausweist. Im vermeinenden Bewußtsein ist mehr vermeint als aktuell bewußt ist und bewußt sein kann; dieses gründet darin, daß jedes, was aktuell bewußt ist, als „Objekt im Welthorizont'' bewußt ist. Wir müssen daher genauer sagen: Bedingung der Möglichkeit dafür, daß in einem jeden Bewußtsein von Etwas mehr gemeint ist als davon aktuell bewußt wird, ist, daß Etwas Etwas aus der Welt ist. In den Worten Hus2.1.

Zum Verhältnis von transzendentaler Phänomenologie und dialektischer Philosophie Hegels siehe L. Eley: Transzendentale Phänomenologie und Systemtheorie der Gesellschaft. 17 ff. Die transzendentale Phänomenologie Husserls nimmt noch einmal die Dialektik von Ansichsein und Sein-für-Anderes, Bestimmung und Beschaffenheit auf (siehe G.F.W. Hegel: Wissenschaft der Logik. Teil 1. 106 ff). Ich kann hier Husserls Ansatz nur insoweit reflektieren, als er die Dialektik von Ding an sich und Erscheinung erneut aufnimmt. Daß und inwiefern die transzendentale Phänomenologie die Hegelsche Dialektik von Ding an sich und Erscheinung nicht nur aufnimmt, sondern sie zugleich kritisch verändert, kann hier nicht mehr diskutiert werden. Das besagt insbesondere, daß die Frage nach der Zeitlichkeit, näherhin das Verhältnis von Zeit und Negation hier nicht mehr erörtert werden kann. u E. Husserl: Die Krisis der Europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Den Haag 1954. 146.

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„Jedes ist etwas, etwas aus der Welt, der uns ständig als Horizont bewußten." Sinn ist somit die Differenz der Seinsweise eines Objektes in der Welt (also des Vermeinten) und der Welt selbst. SERLS:

2.2. Die These der Transzendentalphilosophie ist nun, daß die Differenz der Seinsweise eines Objektes in der Welt und der Welt selbst die Differenz zweier grundverschiedener Bewußtseinsweisen ist. Das Bewußtsein lebt nach ihr zunächst und zumeist in die Welt hinein; es setzt somit schon ein Weltbewußtsein voraus. Das In-die-Welt-Hineinleben ist „In-Weltgewißheit-Leben"; HUSSERL nennt es auch ein Leben in „universalem Weltglauben" Sinn ist somit insofern affirmativ bestimmt, als ein jedes aktuelle Meinen schon Meinen im Rahmen des universalen Weltglaubens ist. Sinn ist aber zugleich auch negativ bestimmt, da seine Bestimmtheit die Differenz der Seinsweise eines Objektes in der Welt und der Welt selbst ist und daher allein der Welthorizont das jeweilige Weltleben in Frage stellen und als in Frage Gestelltes zugleich bewahren kann. Sinn ist somit affirmativ und zugleich nicht affirmativ bestimmt. Um diesen Widerspruch aufzuheben, verlagert die Transzendentalphilosophie die Reflexion auf die Bestimmtheit des alltäglich vermeinten Sinnes in eine andere Ebene, um ihn dort wieder beschreiben zu können. Der Sinn wird somit in zwei Ebenen beschrieben, in der alltäglich-naiven Einstellung und der transzendentalen. Voraussetzung dieser zweifachen Beschreibung des Sinnes ist aber, daß Welt der letzte, nicht weiter negierbare universale Boden einer jeden Praxis, sowohl der Praxis des Lebens als auch der theoretischen Praxis des Erkennens, ist. 2.3. Beschreiben wir zunächst die Funktionen alltäglicher Sinnstiftung. Das Weltbewußtsein wird nicht durch einen „im Lebenszusammenhang eigens auftretenden Akt der Seinssetzung, der Erfassung als daseiend oder gar des prädikativen Existentialurteils erworben" es kann daher auch nicht in einem Akt der Negation durchgestrichen werden. In solchen Akten ist das Welbewußtsein vielmehr schon vorausgesetzt. Das Weltbewußtsein ist ein positionales, das einer jeden Negation schon vorangeht. Nunmehr zeigt sich die Funktion der Negation im Rahmen der Transzendentalphilosophie: „Jede Verneinung ist Verneinung von etwas, rmd Ebd. 145. 12 Siehe ebd. 12 E. Husserl: Erfahrung und Urteil. Untersuchungen zur Genealogie der Logik, 12 Ebd. Hamburg 1972. 25.

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dieses Etwas weist auf irgendeine Glaubensmodalität zurück." Es ist jedoch zu beachten, daß das Glaubensbewußtsein eine Modalität ist; es gestattet Modifizierungen. Demgemäß ist die Negation eine „ ,Modifikation' irgendeiner ,Position'" Das Glaubensbewußtsein ist somit nicht konstant, nicht schlechthin unmittelbar, sondern es modifiziert sich. Die früher erwähnten drei Strategien der Negation sind daher Modifikationen der „Glaubensgewißheit". Das sei im einzelnen gezeigt. 2.3.1. Die Negation als Enttäuschung: Jedes aktuelle Bewußtsein weist in Leere über sich hinaus — mit der Aufgabe, diese Intention dem im bisherigen Verlauf gestifteten Erwartungshorizont gemäß zu erfüllen. Eine solche Erwartung kann sich enttäuschen. Ein Gegenstand erscheint uns z. B. als gleichmäßig rot, gleichmäßig kugelförmig. „Aber nun zeigt sich im Fortgang der Wahrnehmung allmählich ein Teil der zuvor unsichtig gewesenen Rückseite, und entgegen der ursprünglichen Vorzeichnung, die da lautet ,gleichmäßig rot, gleichmäßig kugelförmig' tritt das die Erwartung enttäuschende Bewußtsein des Anders auf: ,nicht rot, sondern grün', ,nicht kugelig, sondern eingebeult'." Der Enttäuschung eignet eine negative Kraft. Es streitet der nochlebendige Anschauungsmodus mit der neugestifteten Originalität, dem neuen Anschauungsmodus; es streitet Glaube mit Glaube. Der alte Glaube wird negiert; in unserem Beispiel erweist sich die Rückseite als ,nicht rot'. Damit wird auch das ursprüngliche Bewußtsein anders, allerdings nicht ein Anderes; es verändert sich nicht durch das Andere hindurch, es modifiziert sich nur. Negation ist nach HUSSERL eine Bewußtseinsmodifikation, und dieses in einem dreifachen Sinne: Erstens:

Etwas erscheint anders als es vermeint war; unser Beispiel: Die Rückseite der Kugel ist nicht rot, sondern grün. Der kontradiktorische Gegensatz wird zum konträren.

Zweitens: Das Bewußtsein wird anders, aber es wird nicht ein Anderes, es geht nicht in Anderes über. Unser Beispiel: Die Rückseite der Kugel ist grün und somit nicht rot. Ein neuer Sinn überlagert einen bereits konstituierten in eins mit dessen „Verdrängung" E. Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch. Den Haag 1950. 260. ” Ebd. Erfahrung und Urteil. 92. Ebd. 97.

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Drittens: Es streitet Glaube mit Glauben, aber auf dem Boden eine^, emheitlichen gegenständlichen Bewußtseins, letztlich des universalen Weltglaubens. Jede Negation setzt nach HUSSERL Affirmation voraus. In den Logischen Untersuchungen schreibt er: „Jeder Widerstreit setzt etwas voraus, was der Intention überhaupt die Richtimg auf den Gegenstand des widerstreitenden Aktes gibt, und diese Richtung kann ihr letztlich nur eine Erfüllungssynthesis geben. Der Streit setzt gleichsam einen gewissen Boden der Übereinstimmung voraus." Negation als Abgrenzimgsmodus: Insofern das Bewußtsein der Enttäuschungsgefahr ausgesetzt ist, insofern es sich ständig auf Risiken einzulassen hat, ist es kontingent. Ein Verweisimgszusammenhang kann sich als System nur konstituieren, wenn er sich gegen Erwartungsenttäuschungen absichert. Dieses geschieht dadurch, daß das System sich gegen eine Umwelt abgrenzt. Letzte Bestimmtheit der Systeme ist der eine Welthorizont, der als dieser eine negative Einheit aller möglichen Systeme ist. Nach den Worten HUSSERLS kaim der Welthorizont nur im Sonderbewußtsein aktuell sein. 2.3.2.

Negation als abstrakte Systemkonstitution: Das System ist durch seine Abgrenzungen gegen eine Umwelt bestimmt, d. h. es ist — um es mit Hegel auszudrücken — „seiende Bestimmtheit" Darin, daß es „seiende Bestimmtheit" ist, hat es seine Qualität Das System ist somit — wiederum mit den Worten Hegels — „die Einheit des Nichtseins mit dem Sein" In der „seienden Bestimmtheit" ist es nach Hegel „versteckt, daß sie die Bestimmtheit, also auch die Negation enthält" Das System hat nun gerade in der eigentümlichen Art und Weise, wie es die Negation versteckt, seine spezifische Bestimmtheit. Um die Funktion der Abgrenzung bestimmter darzustellen, nehme ich die Differenzierung der Welt in Nahwelt und Mitwelt, wie sie A. SCHüTZ in Anschluß an HUSSERL auf gezeigt hat, auf; SCHüTZ spricht allerdings nicht von „Nahwelt", sondern von „Umwelt". Ich sehe ferner diesen Unter2.3.3.

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Logische Untersuchungen. 11/2. Tübingen 1968. 42. Siehe: Die Krisis der Europäischen Wissenschaften. 145. G. W. F. Hegel: Wissenschaft der Logik. Teil 1. Leipzig 1951. 97. Ebd. Ebd. Ebd. 98.

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schied beider Systeme in einer unterschiedenen Funktion der Negation begründet, was sicherlich nicht der Intention von SCHüTZ entspricht Die Nahwelt — nach SCHüTZ „Umwelt" — ist nach ihm dadurch bestimmt, daß in ihr das alter ego intentional als ein Selbst angeschaut wird; sie ist jene Welt, in der die Subjekte ihrem Leben Sinn geben und sich in ihrer Sinnstiftung verbunden wissen. Nahwelt ist im strengen Sinne mit HUSSERL als Lebenswelt zu verstehen. Eine nähere Beschreibung der Nahwelt kann hier entfallen. Wesentlich scheint mir aber zu sein, daß die Nahwelt auf spezifische Weise ihre Negierbarkeit versteckt; sie versucht, auf spezifische Weise sich vor Erwartungsenttäuschungen abzusichern. Diesen Gesichtspunkt unterschlägt SCHüTZ. Der Mensch des Industriezeitalters setzt nämlich Sinn und Wert seines Lebens als seine Nahwelt, indem er die gesellschaftlichen Vermittlungen eben dieser Nahwelt, d. i. die mögliche gesellschaftliche Negation, dadurch versteckt, daß er sie als äußerliche beläßt. Das setzt freilich voraus, daß diese Äußerlichkeit ihrerseits als System gesetzt wird, und zwar als abstraktes System, d. h. als System, das gerade dadurch sich vor Enttäuschungen absichert, daß es seine Negierbarkeit durch lebensweltlich erlebten Sinn versteckt. Wir können mit SCHüTZ dieses abstrakte System „soziale Mitwelt" nennen; es erfährt aber erst durch die spezifische Weise, wie Negation sich in ihm versteckt, seine soziale Bestimmtheit. SCHüTZ schreibt; ,,. . . nicht das Dasein eines konkreten individuellen Du . .. [ist] Gegenstand der mitweltlichen Einstellung, nicht der subjektive Sinnzusammenhang, in dem sich die fremden Bewußtseinserlebnisse in einem realen Dauerablauf konstituieren konnten, sondern meine Erfahrung von Sozialwelt überhaupt, . .. gleichgültig, ob diese einer fremden einzigen Dauer angehören oder nicht. ... Ich lasse es prinzipiell dahingestellt, in wessen Bewußtsein und in welchem besonderen Sonderbewußtsein sich die fremden Erlebnisse, von denen ich mitweltliche Erfahrung habe, konstituierten. Weil sie aber losgelöst von dem subjektiven Sinnzusammenhang, in dem sie sich konstituierten, betrachtet werden, weisen sie die Idealität des ,Immer wieder' auf. Sie werden als typische fremde Bewußtseinserlebnisse erfaßt, und sind als solche prizipiell homogen und iterierbar." Ein Beispiel: „Wenn ich .. . mein Verhalten an Rechtssätzen und dem diese Rechtssätze garantierenden staatlichen Zwangsapparat orientiere, so stehe ich in einer sozialen Beziehimg zu meiner (idealtypisch personifizierten) Mitwelt." Siehe: A. Schütz; Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einführung in die verstehende Soziologie. 2. unveränderte Aufl. Wien 1960. 181 ff. Ebd. 206. 28 Ebd. 207.

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2.4.1. Der Grundzug aller der Negationsformen, die ich aufgezeigt habe, war, daß ein Sinnzusammenhang gerade dadurch System ist, daß er seine eigene Negation versteckt, d. h. die Umwelt, gegen die das System sich abgrenzt, wird nicht durchgestrichen, sondern sie wird dadurch, daß das System gesetzt wird, nicht gesetzt. Wir können sagen: Systeme werden durch Nichtsetzung gesetzt. Die Nichtsetzung ist in der Setzung versteckt; das besagt: die Nichtsetzung der Setzung ist aufgeschoben. Die Nichtsetzung ist aber als aufgeschobene ihrerseits Setzung, der gegenüber die anfängliche Setzung vielmehr Nichtsetzung ist und als diese in ihr versteckt ist. Systeme sind somit nur dann soziale, wenn sie als Limitation der Totalität der Welt Totalitäten sind. Das besagt: Sie sind Systeme in der Welt, bestimmt durch den einen Welthorizont. 2.4.2. Um noch deutlicher die transzendentale Funktion der Welt in Ansehung der Sinnsetzung herausstellen zu können, sei an die Vorgeschichte der transzendentalen Sinntheorie, an die Philosophie des Geldes von G. SIMMEL^® erinnert. Wert — ich füge hinzu: Wert = Sinn als Bestimmtheit des ökonomischen Systems — ist nach SIMMEL die intendierte, aber noch nicht erfüllte Begehrung. Die Objektivität des Wertes besteht darin, daß nur das wertvoll ist, was die Erfüllung hemmt. Differenz von Intention und Erfüllung ist also Hemmung und dieses, weil die Intention sich nur durch „Opfer" an anderer Stelle erfüllt. Um den Charakter der Negation schärfer herauszustellen, ist zu sagen, daß die Differenz von Intention und Erfüllung Hemmung ist, weil die Intention Bestimmung durch Nichtbestimmung, allgemeiner: Setzung durch Nichtsetzung ist. Die Bestimmtheit der Setzung durch Nichtsetzung ist nach SIMMEL „der Indifferenzzustandj in dem das Ich und seine Objekte noch ungeschieden ruhen, in dem Eindrücke oder Vorstellungen das Bewußtsein erfüllen, ohne daß der Träger dieser Inhalte sich von diesen selbst schon getrennt hätte" Eben dieser „Indifferenzzustand" ist zugleich auch die Aufgabe, durch Nichtsetzung zu setzen, um sich in ihm wieder aufzuheben. Die transzendentale Phänomenologie begreift den Indifferenz-Zustand des Sinnes als Subjektivität, genauer als Welt, deren Bestimmtheit als Welthorizont Subjektivität ist. Das Setzen durch Nichtsetzen, in der Weise, daß die Nichtsetzung aufgeschoben ist, ist nämlich nur möglich, sofern Welt und deren Bestimmtheit als Welthorizont vorausgesetzt werden. ^ G. Simmel: Philosophie des Geldes. 6. Aufl. Berlin 1958. Nach Husserl hat die Modalisierung der Gewißheit ihren Ursprung in der Hemmung der Tendenzen (Intentionen); siehe: Erfahrung und Urteil. 93 ff. Philosophie des Geldes. 9.

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Denn der Welthorizont ist erstens Bestimmtheit der Setzung, also Nichtsetzung der Setzung. Die Setzung durch Nichtsetzung ist aber zweitens in vielfacher Hinsicht fortsetzbar; die Umwelt eines Systems ist nämlich ihrerseits ein System, sodaß das vormalige System Umwelt in Ansehung des neuen Systems ist, wie wir oben gesehen haben. Die Bestimmtheit des Welthorizontes ist daher lediglich ein X, das nur in fortsetzbarer Darstellung als System-Umwelt-Relation ist. Der Welthorizont ist somit Aufgabe möglicher Darstellung, d. h. er ist Subjektivität. Die Subjektivität ist freilich an ihr selbst unbekannt. Sie ist ja nur als X, d. i. als Aufgabe, d. i. als Einheitsgrund möglicher Darstellung bekannt. Die Transzendentalphilosophie HUSSERLS erkannte, daß die Bestimmtheit der Welt die Subjektivität ist. Auf der Ebene des Sinnes ist jedoch die Kritik an der Transzendentalphilosophie erneut aufzunehmen, die bereits Hegel an ihr geübt hat. Zwei Probleme stellen sich: Zunächst ist zu klären, inwiefern die Differenz der Seinsweisen eines Objektes in der Welt und der Welt selbst die Differenz zweier Bewußtseinsweisen ist; sodann ist zu untersuchen, ob der Sinn sich nur durch seine Beziehung zum Subjekt bestimmt. Indem die Welt das Nichtgesetzte der Setzung bewahrt, ist sie selber in Frage gestellt; denn die Welt hat kein Außen, da die ursprüngliche Setzung selber schon Negation der Negation ist. Welt wird aufgrund wechselseitiger Negation absolut indifferent; und aufgrund absoluter Indifferenz neutralisiert sie sich. Wäre die Welt nicht an und für sich in absoluter Indifferenz, so wäre eine Setzung durch Nichtsetztmg unmöglich. Die Transzendentalphilosophie HUSSERLS erkennt zwar, daß die Welt als Ganzes enttäuschungsfähig und insofern fragwürdig ist. Sie hält jedoch an dem Dogma fest, daß die Negation schon ein Glaubensbewußtsein, letztlich den universalen Weltglauben voraussetzt. Auch wenn die Welt selber als Ganzes enttäuschungsfähig, wenn sie als Ganzes fragwürdig wird, kann sie nach ihm dennoch nicht nichtig werden. Die absolute Indifferenz der Welt, die Neutralität, erfährt damit einen anderen Sinn. Das HussERLSche Argument ist: Stelle ich die Welt in Frage oder, was nach ihm dasselbe bedeutet, bezweifele ich die Welt, so kann ich sie zugleich nicht nicht in Frage stellen; so kann ich sie zugleich nicht nicht bezweifeln. Das besagt: Im Bezweifeln geben wir die These der Welt nicht preis, „während sie in sich verbleibt, was sie ist, setzen wir sie gleichsam ,außer Aktion', wir ,schalten sie aus', wir ,klammem sie ein'. Sie ist noch da, wie das Eingeklammerte in der Klammer, wie das Ausgeschaltete außerhalb 2.5.

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des Zusammenhangs der Schaltung." Das Bezweifeln kann nun seinerseits nicht bezweifelt werden, weil dieses sinnlos wäre. Wir können das Argument HUSSERLS auch so formulieren: Im Ausschalten des Geradehin-Lebens, in der Neutralisierung des alltäglichen Glaubensbewußtseins zeigt sich als Voraussetzung des Ausschaltens, der Neutralisierung, das nicht ausschaltbare, nicht neutralisierbare ego cogito Die These, die wir vollzogen haben, ist nach HUSSERL noch da, „wie das Eingeklammerte in der Klammer, wie das Ausgeschaltete innerhalb des Zusammenhangs der Schaltung". Daher kann ich nach HUSSERL als Phänomenologe „jederzeit in die natürliche Einstellung, in den schlichten Vollzug meiner theoretischen oder sonstigen Lebensinteressen zurückgehen, ich kann also wieder wie sonst als Familienvater, als Bürger, als Beamter, als ,guter Europäer' usw. in Aktion sein, eben als Mensch in meiner Menschheit, in meiner Welt" Gleichwohl wird durch die transzendentale Reflexion die vormalige Naivität des Weltlebens modifiziert. Worin besteht diese Modifikation? Die durch Nichtsetzen setzende Subjektivität bestimmt sich als Subjekt, als Träger von Intentionen. „Jede neue transzendentale Entdeckung bereichert also im Rückgang in die natürliche Einstellung mein und eines jeden Seelenleben." Der Ansatz der transzendentalen Vermöglichkeit als Subjekt von Sirmbestimmungen verkehrt sich jedoch in sein Gegenteil. Die These der Transzendentalphilosophie erzwingt eine Gegenthese, die nunmehr zu entwikkeln ist. 3. 3.1.1. Die Neutralisation des Sinnes wird in der Transzendentalphilosophie HUSSERLS falsch bestimmt. Die Welt wird in wechselseitiger Negation von Setzung und Nichtsetzung absolut indifferent; und aufgrund absoluter Indifferenz neutralisiert sie sich. Sie wird daher in Neutralisierung nicht eingeklammert; sie ist nicht da „wie das Eingeklammerte in der Klammer", wie HUSSERL meint. Demgemäß liegt auch der Welt nicht ein nicht ausschaltbares Substrat zugrunde. Der Ansatz eines transzendentalen Subjektes möchte die absolute Indifferenz der Welt verscheuchen, die sie jedoch zugleich voraussetzt. E. Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie. Erstes Budi. 65. Diese Methode deutet schon Kant in der Kritik der reinen Vernunft an (B 5 f). £. Husserl: Die Krisis der Europäischen Wissenschaften. 214.

Ebd.

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Daß die Transzendentalphilosophie ihren Ursprung in der absoluten Indifferenz der Welt hat, die sie jedoch zugleich beseitigen möchte, hat schon Hegel in der Wissenschaft der Logik herausgestellt. Das Resultat der Dialektik des Seins ist die „absolute Indifferenz". Hegel schreibt: „Die Bestimmtheit ist an ihr nur noch als Zustand, d. i. als qualitatives Äußerliches, das die Indifferenz zum Substrate hat." Wie ist die Bestimmtheit an dem Substrat? „Die Bestimmtheit ist auf diese Weise an dem Substrate nur noch gesetzt als ein leeres Unterscheiden. Aber eben dies leere Unterscheiden ist die Indifferenz selbst als Resultat." Da das Unterscheiden leer ist, hat es seinen Sinn nur noch in der Darstellung, und zwar nach Hegel in der der Qualität, in der der Quantität und in der des Maßes. Wir haben demgemäß im bisherigen das System in seiner qualitativen Bestimmtheit betrachtet. 3.1.2. Noch eine zweite Hinsicht sei erwähnt, in der die Transzendentalphilosophie ihren eigenen Ansatz in ihr Gegenteil verkehrt. Mit Recht wird Welt als Lebenswelt begriffen, insofern sie ermöglicht, daß eine jede ergriffene Möglichkeit andere Möglichkeiten nicht nur ausschließt, sondern diese als ausgeschlossene für spätere Setzungen aufbewahrt. Sinn ist ursprünglich lebensweltlicher Sinn. Als lebensweltlicher ist er uns anschaulich vertraut; ist er qualitativ bestimmt. Andererseits zeigte sich aber, daß der lebensweltliche Sinn als lebensweltlicher, d. i. als anschaulich erfahrener Sinn, sich auf einen Sektor — von SCHüTZ „Umwelt" genannt — reduziert, in dem er seine Abstraktheit in der Mitwelt versteckt. Die Distinktion von Nahwelt und Mitwelt ist mit den Worten HUSSERLS letztlich die von Lebenswelt und technischer Welt; die Welt als Lebenswelt schränkt sich auf einen Sektor ein — auch Lebenswelt genannt —, indem dieser jenseits seiner die technische Welt beläßt, durch den er zugleich eingeschränkt wird. Schließlich weist nach HUSSERL die imiversale Vermöglichkeit des Welthorizontes auf ein vorweltliches Subjekt zurück — als Ursprung allen welthaften Sinnes. Aufgrund der vorweltlichen Sinnstiftung müßte sich der in der Differenz von Lebenswelt und technischer Welt äußerlich gewordene Siim aufheben. Und in der Tat behauptet HUSSERL in seinen Pariser Vorträgen; „Man muß erst die Welt durch epoche verlieren, um sie in universaler Selbstbesinnung wiederzugewinnen." Gleichwohl ist das transzendentale Subjekt lediglich in der Weise vorweltlich, daß es in das Wissenschaft der Logik. Teil 1. 388.

Ebd. E. Husserl: Cartesianisdie Meditationen und Pariser Vorträge. Den Haag 1950, 39.

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Weltleben zurückkehrt^ da es dieses nur eingeklammert hat; „ich kann wieder", schreibt HUSSERL in der Krisis der Europäischen Wissenschaften, „wie sonst als Familienvater, als Bürger, als Beamter, als ,guter Europäer' usw. in Aktion sein . .Die Differenz von lebensweltlicher Nahwelt und Mitwelt wird dadurch nivelliert, daß die lebens weltliche Nah weit selber nur eine Rolleneinstellung ist. Das transzendentale Subjekt ist damit gerade nicht das, was es zu sein verspricht: vorweltlicher Ursprung und Subjekt lebensweltlicher Sinnstiftung. Es ist vielmehr nur ein Fixpunkt, von dem her sich die Differenzierung von Nahwelt und Mitwelt legitimiert, in der Weise, daß die Differenzierung ihm gegenüber auch eine gleichgültige ist. Bei beiden handelt es sich eben um Systeme mit bestimmten Rollenerwartungen usw. Ist aber damit nicht die transzendentale Vermöglichkeit der Welt von ihrem Subjekt losgelöst? Wäre es dann nicht angeraten, um dem Dilemma der Transzendentalphilosophie zu entkommen, umgekehrt die transzendentale Vermöglichkeit als Anfang der Sinnsetzung zu verstehen und die Frage nach dem Subjekt der Vermöglichkeit lediglich als eine nachträgliche Zuordnung zur transzendentalen Vermöglichkeit zu begreifen? Ist es nicht dann jeweilig zu untersuchen, welchem Subjekt die transzendentale Vermöglichkeit zuzuschreiben ist, ob z. B. dem nahweltlich-lebensweltlichen Subjekt oder dem mitweltlichen? Das nahweltlich-lebensweltliche Subjekt wäre dann nicht in der Weise ausgezeichnet, daß von ihm allein her die transzendentale Vermöglichkeit zugänglich und dieses somit Subjektivität zu nermen wäre. LUHMANNS These ist jedenfalls; „So wenig eine Relation von Sirm und Bewußtsein zu bestreiten ist, ihre Aufklärung muß umgekehrt ansetzen. Der Sinnbegriff ist primär, also ohne Bezug auf den Subjektbegriff zu definieren, weil dieser als sinnhaft konstituierte Idealität den Sinnbegriff schon voraussetzt." 3.2. Was in dieser Wende gegen die Transzendentalphilosophie, die sich insgeheim auch noch gegen die Subjektivitätsphilosophie Hegels richtet, an Implikationen enthalten ist, möchte ich in Kürze nur in Ansehung der Negation zu enträtseln versuchen, und auch dieses nur unter einer Einschränkung: ich begnüge mich damit, den Ort der genannten Strategien der Negation vorläufig als „absolute Indifferenz" zu begreifen. Meine Absicht ist nicht, die Systemtheorie in einer absoluten Philosophie zu vereinnahmen. Es geht mir vielmehr darum, die Implikationen der Systemtheorie dadurch ans Licht zu bringen, daß ich die zentralen Bedingungen N. Luhmann: Sinn als Grundbegriff der Soziologie. 28.

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der Systemtheorie strukturell-funktional um ein Zentrum zu ordnen versuche. Folgende Gesichtspunkte sind jedenfalls zu erörtern: Ich möchte noch einmal an den Ursprung der Transzendentalphilosophie erinnern, nämlich an den Versuch, die affirmative und negative Bestimmung des Sinnes in zwei Ebenen auseinanderhalten zu wollen. Der Phänomenologe spricht nur das aus, was der Soziologe selbstverständlich für sich beansprucht. Er will nicht in die alltägliche Sinnstiftung, in den seienden Sinn eingreifen, sondern nur wie ein transzendentaler Zuschauer die Welt beschreiben. Was das alltägliche Leben auch für Möglichkeiten ergreifen mag — das ist seine Sache —, jedenfalls lassen sich, wenn es gesetzt hat, die Kosten dieser Setzung dadurch abschätzen, daß das Nichtgesetzte — wenn überhaupt — erst späterer Setzung Vorbehalten ist. Eine solche Doppelung des Sinnes übersieht indes, daß eine solche Setzung durch Nichtsetzung die absolute Indifferenz der Welt zur Voraussetzung hat. Denn diese ist „leeres Unterscheiden", d. h. der Unterschied ist darzustellen, und zwar stellt er sich nach Hegel als Qualität, Quantität und Maß dar. Inwiefern? Hier sind nur einige Andeutungen möglich. Die Qualität des Systems setzt als Erläuterung schon ein topologisches Muster voraus — nämlich die Innen-Außen-Differenz, die als diese noch nicht als Quantität gesetzt ist. Die Erläuterung erfährt aber nur dadurch ihren Sinn, daß sie sich in den Gebrauch aufhebt. Die Erläuterung lebt nur davon, daß sie ihren Gebrauch aufschiebt, und zwar dadurch, daß sie ihre Negation versteckt, indem sie dennoch in die Darstellung sich aufhebt. Keine qualitative Systembeschreibung, die nicht in quantitative Darstellung überginge! Die Quantität ist aber äußerlich gewordene Qualität, die somit als diese auf die aufzuhebende Quantität, das Maß verweist, indem sie sich als Maß aufhebt. In der absoluten Indifferenz sind die Darstellungsmöglichkeiten erschöpft. Es ist also verfehlt, den Sinn auf zwei Ebenen fixieren zu wollen; die Funktion des transzendentalen Zuschauers ist es, das Nichtgesetzte der Setzung als „Vorausandeutung" künftiger Darstellung aufzubewahren, und zwar dadurch, daß er seine Negation versteckt. Es ist daher auch verfehlt, den transzendentalen Zuschauer als ein vorweltliches Subjekt begreifen zu wollen. 3.2.1.

Die Differenz von Erläuterung und Gebrauch überwindet die transzendentalphilosophische Trermung zweier Bewußtseinsweisen. Das empirische Bewußtsein setzt nach der Transzendentalphilosophie zwar insofern das transzendentale voraus, als es dessen Darstellungsweise ist. An3.2.2.

Siehe: Wissenschaft der Logik. Teil 1. 96.

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dererseits wäre ohne Erläuterung durch das empirische Bewußtsein gar nicht verständlich, was transzendentales Bewußtsein meint. Die transzendental-phänomenologische Beschreibung des Bewußtseins ist — wie HUSSERL ausdrücklich hervorhebt — mit der psychologischen „verschwistert" Eben diese Verschwisterung ist aufzulösen, will man die transzendentale Darstellung nicht dadurch preisgeben, daß man ihr eine bleibende Ontologie des Bewußtseins voranstellt. Es ist daher prinzipiell verfehlt, der Darstellung ein lebensweltliches oder vorweltliches Subjekt zu unterstellen. 3.2.3. Die Schwierigkeit, daß Lebenswelt einerseits universale Darstellungsmöglichkeit, andererseits aber nur ein Sektor der Welt ist, entfällt, wenn man erkennt, daß es der Qualität des Systems eigen ist, sich zu entäußern, daß die Quantität ihrerseits äußerlich gewordene Qualität ist. Man darf zudem nicht die Darstellung mit der äußeren Erscheinungsweise verwechseln. Sollen z. B. Erwartung, Enttäuschung allgemeine Systemstrategien bezeichnen, so sind sie abstrakt in einer Systemtheorie zu erörtern, ihnen haftet dann weder eine nahweltlich-lebensweltliche noch eine idealtypische Bedeutung an; dieses ist vielmehr eine Frage der Zuordnung, der Systemreferenz, die nachträglich zu entscheiden ist. 3.2.4. Nach SIMMEL bestimmte sich der Wert als Opfer an anderer Stelle. Die erste präzisere Bestimmung des Wertes = Sinnes war, daß er gesetzt wird durch Nichtsetzung; d. h. die Negation wird als Sinn aufgeschoben. Aufgeschoben wird aber die Darstellung (Produktion); sie wird in der Vorausandeutung eines transzendentalen Zuschauers neutralisiert, mit der Maßgabe, daß eben die Vorausandeutung in die Darstellung (Produktion) überzugehen hat. Es ist also verfehlt, die Darstellung (Produktion, Arbeit) ihrerseits als Sirm begreifen zu wollen, in dem Sinne, daß sie als Opfer an anderer Stelle zu begreifen wäre. Dieses ist allerdings die Auffassung von SIMMEL wie — in transzendentaler Hinsicht — von HUSSERL. Der transzendentale Zuschauer fungiert als dieser nur durch den Verzicht auf das Fungieren als Familienvater etc. und umgekehrt. Die Wendung vom alltäglichen Dahinleben zum transzendentalen Zuschauer ist lediglich ein Tausch Verhältnis. Denn Tausch ist — wie SIMMEL hervorhebt — „nur die kausal verknüpfte Zweimaligkeit der Tatsache, daß ein Subjekt jetzt etwas Charakteristisch in dieser Hinsicht die „transzendentale Deduktion" der ersten Auflage der KdrV: A 96 ff. Die Krisis der Europäischen Wissenschaften. 209. " Siehe dazu: N. Luhmann: Sinn als Grundbegriff der Soziologie. 29.

Negation als soziale Kategorie

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hat, was es vorher nicht hatte, und dafür etwas nicht hat, was es vorher hatte" Der transzendentale Zuschauer ist aber nicht ein austauschbarer Zustand; aufgeschobene Negation ist nicht Verzicht eines Seins, sondern Vorausandeutung, die sich in die Darstellung aufhebt; Produktion ist nicht Tausch. 3.2.5. Es zeigte sich aufgrund der Entwicklung einiger Bestimmtheiten der Negation, daß die Systemtheorie durchaus eine Strategie einer dialektischen Logik ist. Es erwies sich als sinnvoll, ihren Ort vorläufig in der Logik des Seins zu bestimmen. LUHMANN versucht zweifelsohne, auch diesen Rahmen noch zu sprengen. Dadurch, daß ich die Strategien der Negation, wie sie die Systemtheorie vorträgt, zunächst in der Logik des Seins angesiedelt habe, ist aber die Richtung gewiesen, in der eine weitere Diskussion sinnvoll und notwendig ist, nämlich die erneute Überprüfung und Erweiterung der Systemtheorie durch die Erörterung derjeiügen Fragen, die in der Hegelschen Sprache Thema der Lehre vom Wesen und der Lehre vom Begriff sind. Es erwies sich als verfehlt, die transzendentale Vermöglichkeit als die eines lebensweltlichen Subjektes begreifen zu wollen. Allererst aufgrund der Neutralisierung der Subjektivität von einem lebensweltlichen Subjekt bezeugt sich die wahre, nicht im Anderen vergehende, sondern sich in sich manifestierende freie Subjektivität.

G. Simmel: Philosophie des Geldes. 36.

KLAUS HARTMANN (TÜBINGEN)

GESELLSCHAFT UND STAATEINE KONFRONTATION VON SYSTEMTHEORETISCHER SOZIOLOGIE UND KATEGORIALER S O Z I A L P H I L O S O P H I E Es ist bekannt daß die Soziologie^ und zwar auch die systemtheoretische Soziologie NIKLAS LUHMANNS, gegenüber dem Staat eine distanzierte Position einnimmt, daß sie ihn von der Gesellschaft her zu verstehen und auf diese zu reduzieren sucht. Ebenso bekannt ist es, daß eine andere Position, die wir hier als ,kategoriale Sozialphilosophie' bezeichnen und die ihr Hauptwerk in Hegels Rechtsphilosophie besitzt, den Staat als Bezugspunkt ansetzt imd von dort her die Gesellschaft zu verstehen und, wenn nicht zu reduzieren, so doch zu relativieren sucht. Dieser Theoriebereich ist neuerdings auf soziologischer Seite durch über das schon Bekannte hinausgehende Überlegungen LUHMANNS bereichert worden. Der Problemkreis läßt sich etwa so abstecken: es handelt sich einmal um eine neuartige Artikulation dreier Typen oder Ebenen von Sozialsystemen, weiter um das Verhältnis und die Beziehungen dieser Systeme verschiedenen Typs zueinander, um das Verhältnis dieser Systemtypen zu Funktionen der Gesellschaft, und damit letztlich dann um die Gesellschaft als übergreifendes System und um ihre immanente Rationalisierung. Trotz der erwähnten Gegenstellung von systemtheoretischer Soziologie imd kategorialer Sozialphilosophie sind beide doch auch miteinander in Beziehung zu setzen, hat doch Hegel seinerseits eine Systemtypologie anzubieten. Darüber hinaus ergibt sich die Parallele, daß Hegel sowohl wie LUHMANN soziale Theorien bieten, die mit Systembegriffen und nicht von vornherein mit ideellen Wert- und Rechtskonzeptionen arbeiten. Man kann sogar von einem funktionalen Charakter der Hegelschen Dialektik sprechen. Der begonnene Dialog, so einseitig er auch noch ist, sollte also fortgesetzt, jedenfalls sollten soziologische Neuerungen aufmerksam verfolgt werden. ^ Gehen wir zunächst auf LUHMANNS Position ein. ‘ Für den neuen Stand der Luhmannsdien Soziologie ist darauf hinzuweisen, daß noch wenig von dem jetzt Anzusprechenden öffentlich zugänglich ist. Wichtige Quelle

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Systemtypologie Im Unterschied zu den früheren lapidaren Gedanken von System und Teilsystem, wonach ein größtes System, die Gesellschaft, Aufgaben an Teilsysteme delegierte, die größere Kompetenz besitzen und das Basissystem entlasten — Gedanken, die durchaus nicht aufgegeben werden —, fällt jetzt stärker ins Gewicht eine vergleichende Strukturanalyse von Systemtypen. Das Interaktionssystem, das früher mit dem Medienbegriff angesprochen war und einer HABERMASschen Konzeption Anregungen verdankt ist ein System, in dem Anwesende sich wechselseitig wahmehmen und miteinander reden. Wichtig ist die Tatsache, daß nur jeweils einer der Anwesenden reden kann; die Beteiligten können nur jeweils ein Thema haben, mehrere Themen müssen nacheinander behandelt werden; die Chancen der Mitmachenden sind nicht eo ipso gleich verteilt usw. Kurz, ein Interaktionssystem ist beschränkt auf Anwesende und auf thematische Sequenz. Im übrigen ist es sehr störanfällig und flüchtig. ® Ein anderer Typ, der des Organisationssystems, knüpft die Mitgliedschaft nicht an Anwesenheit, sondern an bestimmte Bedingungen; dabei können Mitglieder auch wechseln, und doch kann das System „hochgradig künstliche Verhaltensweisen dauerhaft wiederholen" Sie werden „unter stark restriktiven Bedingungen um besonderer Leistungen willen" einge-

ist ein Radiovortrag von 1974 mit dem Titel Interaktion, Organisation, Gesellschaft. Weiter stütze ich mich auf vorläufige Texte, die mir aus Bielefeld zugegangen sind, und auf die neueste Schrift Macht. Stuttgart 1975. Dem folgenden Versuch ist eine kleine Arbeit {Systemtheoretische Soziologie und kategoriale Sozialphilosophie. In: Philosophische Perspektiven. Bd 5. Frankfurt am Main 1973. 130—161) vorausgegangen, in der ich mich bemüht habe, den Standpunkt der systemtheoretischen Soziologie Luhmanns (etwa auf dem Stand der Schrift Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie — Was leistet die Systemforschung? Frankfurt 1971) mit der Hegelschen und, verallgemeinert, kategorialen Sozialphilosophie zu konfrontieren. Im Mittelpunkt standen Gedanken zum Systembegriff, zum Funktionalismus, zur Rolle der Negation, zum Medienbegriff und zum Verhältnis von Systemen untereinander. Diese Probleme sind inzwischen in anspruchsvoller Form weiter ausgeführt und vertieft worden in der Tübinger Dissertation von Priedhelm Schneider: Systemtheoretische Soziologie und dialektische Sozialphilosophie. Ihre Affinität und Differenz (1976). ^ Wir erinnern an die Diskussion der Interaktion in Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie (zitiert: Sozialtechnologie). 114 ff, 316 ff. ä Interaktion, Organisation, Gesellschaft. Anwendungen der Systemtheorie. Radiovortrag im Süddeutschen Rundfunk, Sendung am 25. 2. 1974 (zitiert: Radiovortrag). 4—6. Parallel hierzu: Interaktion, Organisation, Gesellschaft. Unveröffentlichtes Manuskript zur Gesellschaftstheorie. Juni 1973. 41—47. * Radiovortrag. 10 f.

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richtet ®. Hierher gehören Büros, Behörden, Militär, Kirche, Staat usw. ® Erforderlich ist ein „Gleichgewicht von Attraktivität des Systems und Verhaltensanforderungen''; ist dies erfüllt, so ist das System „unabhängig davon, ob für jede Einzelhandlung natürlich gewachsene Motive oder moralischer Konsens beschafft werden können. Die Motivlage wird über Mitgliedschaft generalisiert; die Soldaten marschieren, die Schreiber protokollieren, die Minister regieren — ob es ihnen in der Situation nun gefällt oder nicht." Der dritte Typ, das Cesellschaftssystem, definiert sich als das „umfassende Sozialsystem aller kommunikativ für einander erreichbaren Handlungen". Es ist ein System höherer Ordnung und nicht Summe aller Interaktionen; es systematisiert die Kommunikation unter jeweils Abwesenden oder mit jeweils Abwesenden mit, ist ein Regulativ für die Interaktionssysteme, übergreift deren Grenzen, definiert die Grenzen möglicher und sinnvoller Kommunikation, ist selbst Grenze möglicher und sinnvoller Kommunikation. ® Das Gesellschaftssystem kann denn auch nicht aufhören wie eine Interaktion, oder sich auflösen wie eine Organisation (zumindest in gewissen Fällen); es ist eine selbstsubstitutive Ordnung®; alle Veränderung des Systems muß Fortsetzung seiner selbst sein. Es ist so auch Träger jeglicher Evolution. Das Gesellschaftssystem läßt sich in einer Abfolge historischer Stadien betrachten: während früher die Gesellschaft als politisch-rechtlich konstituiertes System verstanden wurde und damit auch partikulär und territorial beschränkt war, oder im Laufe der Entwicklung wesentlich von der Ökonomie geprägt und damit wiederum, wenn auch in anderer Weise, partikulär bestimmt war, so meint LUHMANN, daß die Gesellschaft heute Weltgesellschaft sei es gebe nur noch ein einziges Gesellschaftssystem. ® Interaktion, Organisation, Gesellschaft. 47.

' Eine gewisse Vereinfachung, die darin läge, daß jeweils eine Organisation einer Funktion zugeordnet wäre, wird noch zur Sprache kommen. ^ Radiovortrag. 11. ® Ebd. 7. Vgl. die früheren Ausführungen Luhmanns zu Horizont und Sinn: Sozialtechnologie. 61, 301. Vgl. auch L. Eley: Transzendentale Phänomenologie und Systemtheorie der Gesellschaft. Freiburg 1972. 32, 84 ff und passim. Die neueste Formulierung von Luhmann findet sich in: Selbst-Thematisierungen des Gesellschaftssystems. Unveröffentlichtes Manuskript zur Gesellschaftstheorie (wohl 1974) (zitiert: SelbstThematisierungen). 40—45. Parallel dazu Selbst-Thematisierungen des Gesellschaftssystems. In: Soziologie 1. 1973. 21—46. ® Interaktion, Organisation, Gesellschaft. Langfassung des Radiovortrags. Unveröffentlichtes Manuskript. Oktober 1973 (zitiert: Radiovortrag Langfassung). 7. Ähnlich Radiovortrag. 9. Radiovortrag. 9. “ Ebd. 7.

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Der Gesellschaftsbegriff muß also so gefaßt sein, daß er „sowohl die Einzigkeit als auch eine Mehrheit von Gesellschaften bezeichnen kann" Damit muß er ein Systembegriff sein, der auch die Instantiierung in einem nur noch einzigen Individuum ,Weltgesellschaft' mitsystematisiert: Es muß Entelechie des Begriffs sein, nur ein Exemplar zu haben. Der Zusammenhang der Systeme in der Gesellschaft

Zur Gesellschaft gehört die Ausbildung von Organisationen, die wenigstens zum Teil als Delegationen der Gesellschaft verstanden werden sie ermöglichen ihre Handlungsfähigkeit Die Gesellschaft kann daraufhin betrachtet werden, wie weit in ihr Interaktionssysteme und Organisationen differenziert sind, oder wie weit alle drei Systemtypen noch mehr oder weniger zusammenfallen. Damit eröffnet sich wieder eine Evolutionsreihe, an deren Anfang die Stammesgesellschaft steht. In der neuzeitlichen städtischen Gesellschaft bilden sich Organisationen (Korporationen), ja die Gesellschaft selbst erscheint als Organisation, und zwar als politische Organisation. Der moderne Entelechiefall zeigt eine Ausdifferenzierung und Auseinandergezogenheit der drei Systemtypen. Entsprechend legt sich die Überlegung nahe, daß an Interaktion gebundene Gesellschaftsmodelle (wie etwa das des Gattungslebens bei MARX oder das neoMARxistische der Kommunikationsgemeinschaft mit herrschaftsfreiem Diskurs) „hoffnungslos hinter der Wirklichkeit Zurückbleiben" Der Fall der Deutung der Gesellschaft von der Organisation her wird noch näher zu behandeln sein. Für den ausdifferenzierten Fall ergibt sich, daß die Gesellschaft andere Systeme innerhalb ihrer selbst weitgehend freiläßt: Interaktionssysteme ‘2 Ebd. Hier bietet sich die Überlegung an, ob Luhmanns Theorie in ihrer jetzigen Ausgestaltung zum offenen System oder zu einem entelechialen geschlossenen System tendiert. So schon Sozialtechnologie. 16 und an anderer Stelle. Die jetzige Position Luhmanns akzeptiert den Delegationsgedanken (und damit die geheime Subjektfunktion der Gesellschaft), der Radiovortrag spricht von einer Übertragung von „zentralen Funktionen des Gesellschaftssystems auf ein einheitliches Organisationssystem" (18) —, der Akzent liegt jetzt aber mehr auf der organisationssoziologischen Strukturanalyse der Systemtypen. Interaktion, Organisation, Gesellschaft. 50. Radiovortrag. 13. Ebd. 15. 18 Ebd. 14.

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gewinnen eine ungewöhnliche Steigerung, wenn sie nicht mehr mit gesellschaftlichen Normalitätserwartungen belastet sind. Ein solcher Sachverhalt läßt sich auch als Defizit pointieren: so werden rationale Organisationsprogramme nur begrenzt von Interaktionssystemen auf genommen; diese unterlaufen jene oder bringen sie zum „Entgleisen" Organisationssysteme zeigen ihrerseits in ihrem Verhältnis zur Gesellschaft ihre Grenzen; keine der zentralen Funktionen des Gesellschaftssystems kann in hochkomplexen Gesellschaften „voll und ganz auf ein einheitliches Organisationssystem übertragen" (delegiert) werden es kommt zur Aufteilung auf mehrere Organisationen (also etwa zur Aufteilung der Erziehung auf Schulsysteme und Familien). Auch der politische Bereich teilt sich auf in Politik und Verwaltung. Funktionen müssen nochmals differenziert und spezifiziert werden; die Organisationen bedürfen wieder „interaktioneller Koordinationsformen" Es meldet sich damit das Problem der Partikularität: die Organisationen drücken zu ihrem Teil nicht voll die Funktionen der Gesellschaft aus, sie haben ein „Reflexionsdefizit" d. h. sie reflektieren nicht zureichend auf ihre Rolle als delegierte Funktion der Gesellschaft. Das Problem — und damit kommen wir zum Problem der Gesellschaft als eines ganzheitlichen Themas, als die Themen Interaktion und Organisation enthaltend und umfassend — ist die gesamtgesellschaftliche Reflexion. Sie wäre das eine Ende, zu dem die organisierte und interaktioneile Partikularisierung das andere Ende wäre. Beides, gesamtgesellschaftliche Reflexion und organisiertes Entscheiden wären gegeneinander zu relativieren, so scheint es gefordert “®; andrerseits bleibt der Gesichtspunkt der gesamtgesellschaftlichen Reflexion leitend, wenn es die Gesellschaft ist, die delegiert, und wenn sie es ist, die das umfassende System ausmacht. Zur Beleuchtung des umfassenden Charakters des Systems Gesellschaft, der sich mit der Idee einer gesamtgesellschaftlichen Reflexion verbindet, kann man darauf verweisen, daß die Gesellschaft eine bedeutende Rolle in der Konfliktbewältigung spielt. Konflikte kommen in Systemen unterschiedlichen Typs verschieden zu stehen. In Interaktionssystemen sind Ebd. 16. Wir kennen ähnlidre Überlegungen zur Binnenkomplexität der Gesellschaft schon aus früheren Schriften, siehe z. B. Sozialtedinologie. 22 f. 2“ Radiovortrag. 17. 21 Ebd. 18. 22 Interaktion, Organisation, Gesellschaft. 66. 22 Radiovortrag Langfassung. 15. Ähnlich Radiovortrag. 18 f. 21 Radiovortrag Langfassung. 16. Ähnlich Radiovortrag. 19. 22 Radiovortrag Langfassung. 16. 28 Ebd.

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Konflikte zu vermeiden, sonst werden sie Thema, mit der Folge, daß solche Systeme dann Konflikte ,sind'. In Organisationen zeigen Konflikte eine Ablösung von den streitenden Parteien und gelangen zu einer hierarchischen Konfliktbehandlung und -entscheidung, deren Anerkennung Bedingung der Mitgliedschaft ist. Darin sind Organisationen sogar die diffeernziertesten Beispiele für Konfliktbewältigung. Aber Organisationen können sich wegen Konflikten auch auflösen. Die Gesellschaft erst ist die Ebene, auf der Konflikte durch Normalisierung des Konfliktverhaltens der Interaktionssysteme (auch der Organisationssysteme?) ertragen und in kritischen Fällen entschieden werden und zwar durch das Recht, durch die Möglichkeit einer Änderung des Rechts und durch Toleranz. Die Gesellschaft wird unabhängig vom Konfliktmodus ihrer Interaktionssyteme. Sie kann spezielle Systeme zulassen, die auf die Behandlung von Streitfällen spezialisiert sind. Andrerseits kann es zur „Transposition" von Konflikten auf die gesellschaftliche Ebene kommen (z. B. im Fall des Klassenkonflikts). Ein Gesamtbild der Gesellschaft kann sich, wie man sieht, nicht beschränken auf eine systematisierte Ordnung von Systemtypen in einer Typologie, in einer idealtypischen Ordnung von Systemen nach der Devise, daß die Gesellschaft die Entelechie dessen wäre, was andere Systeme von ihr aus gesehen nur unvollkommen leisten: man muß auch die „Verschachtelungsverhältnisse" sehen, das Ineinander der Systeme. Umfassendere Systeme sind strukturelle Prämissen für eingeordnete Systeme und sind Umwelt solcher Systeme (LUHMANN spricht von „Strukturvorgaben" Radiovortrag. 20. 28 Ebd. 22. 2» Ebd. 21. 2“ Ebd. 20. Man sieht, daß Organisationssysteme den ausdifferenziertesten Fall einer Konfliktregelung darstellen, die Gesellschaft jedoch, nach einem anderen Gesichtspunkt, die oberste Ebene der Konfliktbewältigung ist, da sie Konfliktbewältigung bedingt und sich selbstsubstitutiv durchhält. Hier liegt ein theoretisches Problem, das sich darin spiegelt, daß Luhmann einmal die Reihenfolge Interaktion, Gesellschaft, Organisation (so im Radiovortrag), ein andermal (in Interaktion, Organisation, Gesellschaft) die Reihenfolge Interaktion, Organisation, Gesellschaft in der Darstellung bevorzugt. Die ,Höhe' eines Systems beruht einmal auf der größtmöglichen Differenzierung, ein andermal umgekehrt auf der Selbstsubstitutivität, die mit der Bindung der Teilsysteme an Kompossibilität einhergeht. Siehe für das Nähere Interaktion, Organisation, Gesellschaft. 71—73. 2* Gedacht ist an Interaktionssysteme. Meint Luhmann Schlichtungsinstanzen oder Gerichte? Gerichte sind für ihn sicherlich Organisationen. Siehe Interaktion, Organisation, Gesellschaft. 67. 28 Radiovortrag. 23. Luhmann gibt hierzu das Beispiel einer Fakultätssitzimg: ebd. 24 ff.

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und „Umweltvorgaben"). Innerhalb der Gesamtgesellschaft können sich Organisationssysteme und Interaktionssysteme entwickeln, die die Gesamtgesellschaft als eine „geordnete Umwelt" und zugleich als „Bedingungen der Möglichkeit von Strukturbildimg" vor sich haben. Aber auch in diesem Gesamtbild zeigt sich die entelechiale Lesart: man sieht das Ganze von der Gesellschaft her und fragt nach dem Eigenleben der anderen Systeme, für die die Gesellschaft Umwelt ist, aber ebenso auch nach der Ausdifferenzierung der Gesellschaft in anderen Systemen. Die funktionalistische Sicht soll beides ermöglichen: Umweltrolle und Prämissenrolle der Gesellschaft für andere Systeme — diese sind eigne funktionale (aber durch die Gesellschaft ermöglichte) Zentren —, und Subjektrolle der Gesellschaft für andere (aber sie, die Gesellschaft, in differenzierter Form ermöglichende) Systeme. Diese ,Parataxe' von Systemen verschiedenen Typs — als ontische Parataxe, als Zusammenbestehen — ist in eins mit der funktionalen ,Hypotaxe' — als Ordnung der Systeme nach Ausdifferenzierung, Verwirklichung der Funktionen der Gesellschaft als ganzer — näher zu betrachten. Teilsysteme und Systemtypen Die neue Analyse LUHMANNS hält, wie wir gesehen haben, an systemtheoretischen Gedanken, die wir unter dem Motto ,Teilsystem im Verhältnis zur Gesellschaft' schon kennen, fest, so insbesondere an Thesen zur Differenzierung der Gesellschaft, zur Delegation u. a. Ist die Analyse nach Systemtypen im Grunde nur eine Präzisierung der Lehre von System und Teilsystem? Ja und nein. Früher hatte bei LUHMANN manchmal der lockere Gebrauch des Begriffs ,Teilsystem' überrascht; Teilsysteme konnten Teilsysteme haben, ohne daß eine terminologische Differenzierung eingeführt wurde. Jetzt ergibt sich näher folgendes. Teilsysteme sind alle Systeme, die nicht die Gesellschaft selbst sind, also Organisationssysteme und Interaktionssysteme. Aber näher ist die Rede von „primären" Teilsystemen, die „gesamtgesellschaftlichen Funktionsbereichen" entsprechen, und von „sekundären Teilsystemen". Erstere sind Familienleben, Erziehung, Wissenschaft, Religion, Ökonomie, Politik. ää Ebd. 26. “ Ebd. Interaktion, Organisation, Gesellsdiaft. 75. »' Ebd. 74. " Ebd. 74, 67, 66, 64 f, 65 f.

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Die Funktionsbereiche scheinen empirisch aufgegriffen. Andrerseits stellt LUHMANNS Theorie der Kommunikationsmedien einen Versuch zur theoretischen Fundierung solcher Funktionsbereiche dar, insofern — nach einer Kreuztabelle gewonnen — idealtypische Beziehungen zwischen Ego und Alter ego für Medieninhalte aufkommen sollen (die dann allerdings nicht als inhaltlich bestimmte Funktionen der Gesellschaft, sondern nur als Gesamtheit aller möglichen formalen Konstellationen von Bezugspartnern — psychischen Systemen, anderen Systemen gegenüber psychischen Systemen — erscheinen). Man versteht, daß LUHMANN auf diese Weise eine inhaltliche Theorie der Funktionsbereiche — jeweils geknüpft an ein Medium und seinen ,Code' — geben will, aber es gilt — über die genannte Schwierigkeit hinaus, daß der funktionale Zusammenhang mit der Gesellschaft nicht dargetan werden kann — die Schwierigkeit zu sehen, daß die Konstellationen der Kreuztabelle nicht ausreichen, um die auch bei LUHMANN selbst genannten Funktionsbereiche abzudecken. Für Wissenschaft hätten wir das Wahrheitsmedium, für Wirtschaft hätten wir das Geld für den politischen Bereich die Macht und — man zögert schon — für Familienleben die Liebe. Aber was wird mit Erziehung? Was mit Religion? Wir fragen uns weiter, wie Funktionsbereiche der Gesellschaft, oder primäre Teilsysteme, zur Typencharakteristik der Systeme stehen. Als integrierende Teile der Gesellschaft sind sie — das ist die These — nicht negierbar, vielmehr selbstsubstitutiv; es gibt keine Gesellschaft ohne Politik, Erziehung usw. (wenn auch vielleicht dereinst ohne Religion?). Da aber andrerseits das Gesellschaftssystem als Basissystem eine Sonderstellung hat, müssen die Teilsyteme Organisationssysteme sein. Interaktionssysteme können sie nicht gut sein, da diese nicht institutionalisierbar sind. Dann Sozialtechnologie. 345. s» Der Verfasser hat in früherem Zusammenhang an der Interpretation dieser Konstellationen Kritik geübt und darauf hingewiesen, daß der Medienbegriff, geschöpft an Konstellationen psychischer Systeme, nicht beliebig auf Systeme anderer Referenz verallgemeinerbar ist: Philosophische Perspektiven. Bd 5. 145. 40 yyjj. erinnern uns übrigens, daß zum Geld auch eine Inversion ,Kunst' genannt wird. Sozialtechnologie. 345. Hierbei ist es interessant, daß das Recht als Zweitcodierung der Macht erscheint. Siehe Macht. 34. In Sozialtechnologie kommt das Recht noch in einer Aufstellung neben Wahrheit und Liebe (16 f) jedoch nicht in der Kreuztabelle vor. Luhmann sieht, daß seine Medienkonstruktion nur für die wichtigsten gesellschaftlichen Teilsysteme die Grundlage der Ausdifferenzierung ist. Vgl. Selbst-Thematisierung. 38.

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liegt aber der Schluß nahe, daß diese Teilsysteme als Organisationen zwar institutionalisierbar, aber nicht selbstsubstitutiv sind. Es ergibt sich eine große Breite des Begriffes ,Organisation' (entsprechend der Unterscheidung in primäre und sekundäre Teilbereiche): eine Schule oder ein Amtsgericht ist eine Organisation, bei der kein (selbstsubstitutiver) Anschlußzwang (bei Auflösung) besteht, während der primäre Teilbereich, dem die Schule oder das Amtsgericht angehört, auch Organisation ist. Man müßte also selbstsubstitutive Organisationen von anderen unterscheiden (entsprechend der Einteilung in primäre und sekxmdäre Teilsysteme). Soweit ich sehe, vermeidet LUHMANN eine strenge Unterscheidung und spricht nur einmal von einem selbstsubstitutiven Subsystem womit die Frage nur in der System-Teilsystem-Terminologie angesprochen ist. Er ist sich, so scheint es, zur Zeit noch nicht klar, ob er primäre Teilsysteme als Funktionsbereiche sehen will, die noch gesellschaftlich, d. h. selbstsubstitutiv sind, oder als Gebilde, die auf Organisationsebene liegen. Der Satz: „Es liegt nahe, einen gleichsam natürlichen Übergang von der Gesellschaftsebene zur Organisationsebene dort anzunehmen, wo die Einheit der Funktionserfüllung durch ein selbstsubstitutives System aufhört und daher auch der Anschlußzwang bei Veränderung aufhört" verlangt, daß im gegebenen Fall ein noch gesellschaftliches Teilsystem anzusetzen ist. Dieses ist dann organisations-soziologisch (typentheoretisch) nicht erfaßt. (Der Fall scheint nicht identisch zu sein mit einem Anfang der Evolution, wo einfach noch keine Differenzierung in Teilsysteme vorliegt.) Aber das Schema von selbstsubstitutiven Organisationen (= primären Teilsystemen) und nichtselbstsubstitutiven Organisationen (= sekundären Teilsystemen) hat seine Schwierigkeit in nicht-staatlich institutionalisierten Funktionsbereichen: ist Familienleben eine Überorganisaton für Familien als Organisationen? Wenn auch Familienleben Teilsystem der GeMan vergleiche Luhmanns Aussage über den Staat: „Organisationssysteme, die gleichwohl — etwa unter dem Anspruch, der Staat zu sein oder die Kirche zu sein — dazu tendieren, gesamtgesellschaftliche Funktionen zu monopolisieren und eine selbstsubstitutive Ordnung im Rahmen von Organisation zu errichten, geraten deshalb in einer Gesellschaftsordnung mit starker Ebenendifferenzierung in kennzeichnende Schwierigkeiten. Sie sehen sich nicht nur Motivations-, sondern auch Legitimationsproblemen gegenüber ... Damit soll nicht behauptet werden, daß die gesellschaftliche Entwicklung ein Ende dessen erzwingt, was man sich unter Staat und Kirche vorgestellt hatte. Aber die Krise dieser Organisationsformen ist eines der Symptome dafür, daß die Ebene der Gesellschaftsbildung und die Ebene der Organisationsbildung weiter auseinanderliegen als je zuvor." Interaktion, Organisation, Gesellschaft. 67. « Ebd. « Ebd.

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Seilschaft sein mag, so ist es sicherlich nicht Organisation. Oder ist es auch nicht einmal Teilsystem, sondern nur Funktionsbereich? Wir sehen die Schwierigkeiten in den beiden Systemsystematiken Systemtypologie und System-Teilsystem-Lehre bzw. Funktionsbereichlehre. (Über die Frage von Organisationssoziologie und Ftmktionalismus hinaus sind es auch ontologische Schwierigkeiten.) Ein Weiteres: einem Zusammenfall von primären Teilsystemen und Organisationen widerspricht, wie wir gesehen haben, auch LUHMANNS These, daß es Funktionen gebe, die sich immer schon auf mehrere Organisationen aufteilen (z. B. im Fall der Erziehung); auch gibt es Organisationen, die mehreren Funktionen zugeordnet sind (z. B. die Gewerkschaften), und schließlich gibt es Organisationssysteme, und erst recht Interaktionssysteme, die sich keinem Funktionsbereich der Gesellschaft zuordnen lassen. LUHMANN bestreitet also einen streng hierarchischen Aufbau von System, Subsystem, Subsubsystem wie bei PARSONS. Der Aufbau ist eher ein Netz, in dem sich Systemtypen und System-Teilsystem-Relationen verknüpfen, ein Netz, dessen Bestandsaufnahme nur empirisch sein kann. LUHMANN entscheidet sich, wie man sieht, und wie er selbst sagt, für eine Teilsystemtheorie nach Funktionsbereichen rmd „daneben" für eine Theorie der Systemtypen. Die notwendige Integration beider Systematiken und Analysen scheint bisher nicht gelungen; das organisationssoziologische Theorem beißt sich mit dem funktionalistischen. Die Ganzheit der Gesellschaft

Wir erwähnten den Gedanken der gesamtgesellschaftlichen Reflexion. Karm sie in der Frage der funktionalen Ganzheit der Gesellschaft — oder der Allgemeinheit ihrer Regie über ihre Funktionsbereiche — weiterführen? Ist sie ein Lösungsvorschlag für das Gegeneinander der Parataxe von Organisationssystemen und Interaktionssystemen einerseits, und der funktionalen Hypotaxe der Funktionen, also für die Ganzheit der Gesellschaft andrerseits? Oder anders: kann sie angesichts der Spannung der organisations-soziologischen und der funktionalistischen Inspiration die funktionalistische Einheit gewährleisten? Die LuHMANNsche Stellimg zum Problem der Ganzheit der Gesellschaft kann vom Evolutionsgedanken her angebahnt werden. Die Gesellschaft « Ebd. 73 f. « Ebd. 75.

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läßt sich verfolgen durch Stadien der ,political society', der ökonomisch bestimmten Gesellschaft und^ durch gewisse Übergangsstadien politischökonomischer Bestimmtheit hindurch zur Weltgesellschaft, in der solche Qualifizierungen fragwürdig geworden sind. Die Evolutionsreihe besagt, daß die Gesellschaft bisher, soweit sie nicht archaisch Stammesgesellschaft und damit auch Interaktionssytem und Organisation in eins war, jeweils von einem Teilsystem bestimmt gedacht wurde. Im Fall der politischen Gesellschaft wäre es — soweit nicht die Gesellschaft selbst als Organisation oder Korporation gedacht war — das Teilsystem Staat vom Typ Organisation, das Teil des Ganzen (der Gesellschaft) und das Ganze ist. Das hier vorliegende Medium wäre das der Macht. In der ökonomisch bestimmten (aber deshalb nicht staatslosen) Gesellschaft wäre ein Mechanismus des Tausches und der Produktion maßgebendes Teilsystem. Medientheoretisch ausgedrückt wäre es hier das Medium ,Geld', das die Gesellschaft bestimmt. Der Gedanke der Weltgesellschaft, die als umfassendes System anerkannt wird, besagt nun, wie schon angedeutet, daß die strukturellen Hypostasierungen (Staat, Wirtschaft, gegebenenfalls auch Kirche) nicht mehr leitend bleiben können. Sie können es nicht aus systematischen Gründen: der Soziologe hat erkannt, daß in solchen Fällen irrige Ineinssetzungen von Teilsystemen (und zwar Organisationen) und Gesellschaft vorliegen, was im Laufe der Geschichte an den Tag kommt. Und die empirische Entwicklung soll denn auch dieser systematischen Einsicht entsprechen: wir haben nach LUHMANN heute eine Weltgesellschaft, die nicht mehr von einer Hypostase wie Staat oder — wenn das auch nicht so sicher scheint — Wirtschaft bestimmt sein kann, was sie ja wieder beschränkte. Die gesamtgesellschaftliche Reflexion müßte, so scheint es, eine Antwort sein auf die Frage, wie Gesellschaft entelechial an ihr selbst, ohne durch Staat oder Wirtschaft zentriert zu sein, System, gleichsam Subjekt von Funktionen und Ganzes sein kann. So gesehen hätte die GesellSo schon in Sozialtechnologie. 346. Auf der Höhe der jetzigen Problemlage: Macht, passim. *0 Das Vorstehende findet sich näher ausgeführt in: Selbst-Thematisierungen. 12—22. Es ist nicht deutlich, ob Luhmann auch der Wirtschaft eine territorialisierende Rolle zuweisen möchte. Wenn nicht, würde es möglich sein, daß auch die Weltgesellschaft wirtschaftlich beherrscht wäre. Dem widerspräche aber die Logik der Argumentation, wonach die Entelechiereihe in Richtung auf Aufhebung der Dominanz eines Teilsystems und die Entelechiereihe in Richtung auf die Weltgesellschaft konvergent sein sollen. — Im übrigen ist darauf hinzuweisen, daß Luhmann zur Frage der Bestimmtheit der Gesellschaft durch den Staat nicht die Meinung vertritt, der Staat sei überflüssig. Vgl. oben Anm. 43, unten Anm. 58. Für diese Frage stütze ich mich wieder auf Selbst-Thematisierungen.

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Schaft sich in früheren evolutionären Stadien als etwas anderes als sie selbst — als Staat, als Wirtschaft — thematisiert, sich also auf etwas anderes „projiziert" während sie nunmehr sich zu thematisieren hätte, auf daß das Ganze zu denken wäre, das sie auf Grund des funktionalistischen Ansatzes sein soll. Als (partielles?) Wahrheitssytem der Gesellschaft müßte die Soziologie den Reflexionsbezug oder die Selbst-Thematisierung der Gesellschaft reflektieren, ein „Reflexivwerden der Reflexion" ausmachen, innerhalb der Gesellschaft deren Selbstreflexion eigentlich leisten, ja sein. Was wäre nun eine gesamtgesellschaftliche Reflexion? Sie wäre der Selbstbezug der Gesellschaft, der es ermöglicht zu sagen, Teilsysteme seien die Ihren, seien ihre Funktionen, sie sei das Allgemeine der Teile. Die Schwierigkeit ist, daß die Gesellschaft nur in Teilsystemen (Interaktionssystemen, nur indirekt auch in Organisationssytemen) wirklich ist, eben insofern letzte ontologische Fundamente — psychische Systeme in Interaktion — zu fordern sind und daß diese Wirklichkeiten gerade Partikularitäten sind, die von ihrem Standort aus nur perspektivisch sehen und handeln können. Die LuHMANNSche Position muß also die Reflexion der Gesellschaft in die Hand von Agentien geben, die eo ipso partikulär sind und die gesamtgesellschaftliche Reflexion nicht selbst leisten können. Dennoch soll sie geleistet werden, und zwar, wenn wir richtig sehen, dadurch, daß den Teilsystemen ihre gesellschaftliche Partikularität, und also auch ihr Eingestelltsein in eine gesellschaftliche Allgemeinheit, bewußt wird. Die Ansprüche des Staates, die zentrierende Organisation zu sein, den Primat zu haben, sind aufzugeben — die Wirklichkeit seiner Krise ist Beleg dafür — und stattdessen ist eine Balance der Organisationen und der Interaktionssysteme anzusetzen. Dabei muß die Gesellschaft selbst — Fundament der funktionalistischen Theorie — organisationssoziologisch ausgespart werden. Das Bild, das sich bietet, befremdet. Die „alteuropäische" Tradition hatte gerade angesichts einer möglichen Interessen- oder Teilsystembestimmtheit des Ganzen für die Reflexion des gesellschaftlichen Ganzen (oder, weniger “ Ebd. 6. Vgl. ebd. 27, 50. Luhmann sagt im Radiovortrag (16), daß „alles soziale Handeln in der Gesellsdiaft... letztlidi nur in der Form von Interaktion möglich ist". Luhmann denkt als Beispiel an eine Besinnung, wie sie sich durch die Schriften des Club of Rome — Grenzen des Wadistums u. a. — einstellen könnte {Selbst-Thematisierungen. 25), sagt dann aber: „Ob solche Reflexionsleistungen bei der gegebenen Struktur des Wirtschaftssystems möglich sind ... ist eine derzeit offene Frage." Ebd.

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mißverständlich: des sozialen Systems als eines Ganzen) auf sich, also für die darzutuende Allgemeinheit der Gesellschaft als sozialen Systems, den Staat in Ansatz gebracht, wohl wissend, daß der Staat als politischer Staat selbst eine Partikularität im Verhältnis zur Gesellschaft ist. Er ist für diese Tradition aber nicht einfach als Anderes ein irriges Reflexionsziel der Gesellschaft, sondern für eine politisch verfaßte Gesellschaft auch ein kongeniales Reflexionsziel. Für LUHMANN gilt dagegen, daß die Gesellschaft als auf den Staat bezogene durch eine Hypostase bestimmt gedacht wird. (Entsprechendes, aber wohl doch nicht ganz Vergleichbares, gilt für die auf die Wirtschaft bezogene Gesellschaft.) Dann allerdings muß am Ende einer entelechialen Bewegxmg die Gesellschaft als Reflexion auf sich stehen, eben um die angedeutete Paradoxie zu vermeiden, daß sich ein System durch ein Teilsystem bestimmen läßt, oder ein Ganzes durch seinen Teil. LUHMANN ist hier geleitet von einer Deutung von Ganzem und Teil nach einer „Logik der Perfektion". Nach dieser galt, „daß der vornehmste, beste, perfekteste Teil des Ganzen das Ganze sei. Das Ganze mußte so als eine Menge erscheinen, die sich selbst qua Perfektion als Teil enthielt." Ist diese Logik der Perfektion einmal zusammengebrochen und nicht mehr zu erneuern, so „läßt die Gesellschaftstheorie sich nicht länger auf die Voraussetzung des Primats eines Teilsystems gründen . . ." ®® Wir werden auf diese Argumentation im Zusammenhang mit Hegel zurückkommen. Nicht so scheinbar offensichtlich ist die Paradoxie organisationslogisch: LUHMANN nutzt gerade die Spannung zwischen Funktionalismus und Organisationssoziologie, also daß Gesellschaft organisationssoziologisch unbestimmt ist, zur Aufstellxmg der These, daß der soziale Bereich nicht in seiner Organisation seine Entelechie haben könne. Gesellschaft und Staat Wenn wir von der „Logik der Perfektion" absehen, so sind es zwei Positionen, die LUHMANN daran hindern, die „alteuropäische", von Hegel neu gefaßte Lösung anzuerkennen, die im wesentlichen darin besteht, die Interaktion, Organisation, Gesellschaft. 70. Frühere Gedanken Luhmanns gehen in dieselbe Richtung: vgl. Sozialtechnologie. 7 ff; und Soziologische Aufklärung. Opladen 1970, 2. Aufl. 1971. 138 (wo von einer „anomalen Menge" gesprochen wird, die die politische Gesellschaft sei).

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Reflexionseinheit der Gesellschaft (die er auch als solche — mit der Polizei im damaligen Sinn des Wortes gegebene — thematisiert) hinauszuverlegen in ein Novum, in den Staat. Da ist einmal die Idee der Weltgesellschaft, und dann die Idee, daß der Staat wesentlich Machtinstanz ist. Nehmen wir zunächst den ersten Punkt. Die LuHMANNSche Definition gestattet scheinbar, von einer Weltgesellschaft zu sprechen, weil heute niemand kommunikativ unerreichbar ist, wenn auch nicht deshalb schon mit allen anderen in Kommunikation steht. Aber es ist zu fragen, ob Gesellschaft als totales Kontinuum, oder kontinuierliches Totum, gedacht werden kann. Sie ist immer politisch organisiert, und damit partikularisiert und territorialisiert, so richtig es ist, daß je nach Entwicklungsstand der Welt die Gesellschaften auch ohne den Verkehr über die Staaten miteinander in Kommunikation stehen können. Die Sachlage ist analog der klassischen Auffassung von der Substanz einerseits als kontinuierlicher Materie, so daß es nur eine einzige Substanz geben kann, und andrerseits als diskreter Entität neben anderen. Die Gesellschaft ist sicherlich beides, kontinuierlich und diskret, aber sie hat sich bisher immer politisch organisiert als diskret, als eine neben anderen. Ob eine Weltgesellschaft sich in einem Weltstaat organisieren könnte, ist teils eine empirische, teils eine theoretische Frage, und zwar ob die Kontingenzen nationaler Charaktere zwingender Kristallisationspunkt politischer Verfaßtheit sind. Vieles spricht gegen die empirische Realisierbarkeit der Weltgesellschaft, und zwar so, daß sie univok als ,die' Gesellschaft, und nicht äquivok als Kommunikationsebene im Unterschied zu den diskreten, politisch verfaßten Gesellschaften, schon Wirklichkeit wäre. Jedenfalls kann nicht die Kommunikationsmöglichkeit ausreichen, um sie in Anspruch zu nehmen, so daß man sich demnächst fragen müßte, wie sie ihr Teilsystem ,Weltstaat' organisiert. Aber so etwas wie einen Weltstaat scheint LUHMANN auch gar nicht zu wollen; die Gesellschaft als Weltgesellschaft soll sich in dezentralisierter, gleichsam zwischen den Teilsystemen stattfindender ,lateraler' Reflexion selbst regulieren; daß auch noch ein politisches Problem übrigbleibt, scheint mehr ein Problem des Übergangs zu sein, bei aller Vorsicht in den diesbezüglichen Äußerungen. Handelt es sich also bei der gesamtgesellschaftlichen Reflexion einer Weltgesellschaft nicht nur um eine Wunschvorstellimg der systemtheoretischen Soziologie, daß sich TeilHegel hat letzteres bejaht. Vgl. Rechtsphilosophie. § 340. Vgl. oben Anm. 43. Auch in der Schrift Macht scheint es so, daß Luhmann mit einer Fortdauer eines politischen Teilsystems rechnet und damit auch mit einer Partikularisierung und Territorialisierung der Gesellschaften oder mit dem Weltstaat rechnen müßte; vgl. Kapitel VIII und IX.

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Systeme eines Systems ,Weltgesellschaft' doch als weltweit aufeinander bezogen verstehen mögen? Die Gesellschaft, und erst recht die Weltgesellschaft, ist ja nicht das geforderte Allgemeine, es sei denn als Gegenstand eines ,Andenkens' seitens der partikulären Teilsysteme. So aber ist das Allgemeine nicht fungibel; es ist eine Utopie. Theoretisch ausgedrückt: der Umweltgedanke, der für die Konzeption einer Weltgesellschaft leitend ist, beißt sich mit dem funktionalistischen System- und Reflexionsgedanken. Kommen wir zum zweiten Punkt, nämlich, daß LUHMANN den Staat als Organisation und als Herrschaftshypostase der Gesellschaft begreift, was eine historische Selbstfehldeutung der Gesellschaft ist, insofern sie sich nach einem Teilsystem mit dem Code ,Macht' bestimmt und begreift. Nun ist es bekannt, daß schon die frühneuzeitliche Theorie, bei der in Form des fiktiven Begriffs eines Naturzustands eine nicht politisch verfaßte Gesellschaft im Unterschied zur ,political society' auftritt, der Staat nicht Herrschaft ist, sondern Treuhänder und Instanz des Schutzes des Einzelnen und der Gesellschaft mit der dazu notwendigen Zwangsgewalt. Allerdings ist auch der Absolutismus und sein Staatsverständnis eine historische Tatsache, deutbar als Fazit aus dem Zusammenbruch der Konzeption eines Gemeinwohls im Sinne der ARisxoTELischen und THOMistischen Theorie, die Gesellschaft und Staat in eins faßte: der absolutistische Staat wollte die Vernunft im Ganzen wiederherstellen von einer der Gesellschaft gegenüber eigenständigen Ebene aus. Aber auch hier ist nicht Macht das Hauptproblem. Und im übrigen hat ein solches Staatsverständnis einer Reihe von Staatsverständnissen Platz gemacht, die — auch außerhalb der angelsächsischen Tradition — eine Reflexion der Gesellschaft auf sich im Staat und des Staats auf sich in der Gesellschaft beinhalten. Hier wären Entwicklungen des Konstitutionalismus, Theoreme der Volkssouveränität, Konvergenzvorschläge zur Vermittlung von Gesellschaft und Staat, wie etwa bei LORENZ VON STEIN, und vieles andere mehr zu nennen, was einen Gegenhalt zu LUHMANN bieten kann. Hierauf kann hier nicht eingegangen werden. Hierzu neuerdings Näheres in Macht, Kapitel I und III. Das instrumentale Staatsverständnis, dem etwa E. Porsthoff zumindest zeitweilig nahestand, berührt sich, wenn auch nicht in der Machtperspektive, mit demjenigen Luhmanns, nur daß Luhmann verlangt, daß mehrere Teilsysteme koordiniert zum politischen Teilsystem stehen, während die instrumentale Staatsauffassung den Staat als zentrale Instanz nimmt, die auch über andere Teilsysteme der Gesellschaft mitentscheidet (man denke an ökonomische Intervention) und damit zwar nicht als Höchstes, sondern als Dienendes Reflexionspunkt der Gesellschaft ist.

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Man kann, um auch diesen Punkt noch anzusprechen, wie LUHMANN die These vertreten, daß in einer gewissen Periode der Neuzeit die Wirtschaft die Gesellschaft bestimmt habe, allerdings wohl weniger im Sinne einer Alternative zur Bestimmtheit der Gesellschaft durch den Staat, sondern als Bestimmtheit der Gesellschaft durch Okkupierung des Staates. (Die These von der ,Legitimationsbedürftigkeit' des Staates ist schon ein reflektierter Ausdruck hierfür, der in neoMARxistischer Perspektive gerade als Kritik der Gegenwart auftritt.) Diese These, soweit sie jeweils empirisch zutrifft oder zugetroffen haben mag, braucht nicht zu der Idee zu führen, der Gesellschaft eine gesamtgesellschaftliche Reflexion (oder, im neoMARXistischen Fall eine am Interaktionsmodell orientierte Gesellschaftsregie) anzusinnen, sondern könnte gerade ein Plädoyer für staatliche Kompetenz sein. Eine erwähnenswerte Parallele zu LUHMANNS Auffassung von Gesellschaft und Staat findet sich schließlich im Pluralismuskonzept, etwa in dem HAROLD J. LASKIS, nur daß hier die theoretische Auszeichnung der Gesellschaft als System nicht vertieft ist und der Hauptakzent auf dem Gruppenpluralismus als solchem liegt. (Man könnte von einem Teilsystempluralismus ohne Theorie des Systems sprechen.) Der Staat hätte die Aufgabe einer ,public Service Corporation' für die lebensnotwendigen Dinge, über die Einhelligkeit besteht. Im übrigen arrangieren die Gruppen sich untereinander. Das Problem ist, daß die Konflikte der Gruppen oder Teilsysteme nicht mit Sicherheit, d. h. institutionalisierbar, kompatibel sind. LASKI spart das Problem aus. LUHMANN scheint es dadurch zu lösen, daß die Gesellschaft immer schon dadurch charakterisiert ist, daß sie Konflikte ertragen und, wenn nötig, entscheiden könne; sie kann es ex definitione, weil sie selbstsubstitutiv ist. Ob sie im Ertragen von Konflikten ernstlich Schaden nimmt, fällt so aus der Betrachtung heraus. Die Harmonie der Gruppen ist ein Intentionsziel bei LASKI wie die Kooperation der Teilsysteme bei LUHMANN, und es ist nur eine verbale Lösung zu meinen, daß einer selbstsubstitutiven Gesellschaft nichts passieren kann. Es fragt sich, auf welcher Ebene der Gerechtigkeit und des Wohlstandes die Gesellschaft sich nach einem Konflikt wiederfindet. — Es ist zuzugeben, der Ausgang bei der Gesellschaft mit ihrer Selbstsubstitutivität hat gegenüber der gegebenenfalls nur diskontinuierlichen Selbstsubstitutivität des “ Vgl. 7. Habermas: Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus. Frankfurt 1973. Vgl., um ein Werk für viele herauszugreifen, Harold J. Laski: A Grammar of Politics, London 1925, das allerdings, besonders in der Einleitung der späteren Ausgaben (ab 1938) einen den Pluralismus wieder partiell in Frage stellenden Standpunkt vertritt.

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Staates für sich, daß damit Revolutionen noch hinterfragt werden können: etwas — eben die Gesellschaft — hält sich durch und wird sich wieder organisatorisch formieren. Aber diese Basierung auf dem, was immer ist, liefert damit noch nicht notwendig den geeigneten theoretischen Ansatz für eine Theorie des sozialen Bereichs. Kategoriale und systemtheoretische Position Betrachten wir das kategoriale Gegenkonzept, das in maßgeblicher, wenn auch zu korrigierender Form in Hegels Rechtsphilosophie vorliegt. Hegel hat, und das war ein Motiv, ihn in einer Diskussion der systemtheoretischen Soziologie heranzuziehen, eine Typologie der Sozialsysteme (und zwar für Familie, Gesellschaft, Korporation und Staat) aufgestellt, wobei allerdings keine Stelle für das informelle Interaktionssystem vorgesehen ist. Hegel ist der Ansicht, daß der Staat die konkrete Charakteristik des sozialen Bereichs ausmacht. Der Staat ist zunächst Gesamtstaat, der die Mitglieder der Gesellschaft umfaßt. Er ist der Inbegriff der politisch Verfaßten; der bourgeois ist auch citoyen. Wie man sieht, ist dann das Verhältnis der Gesellschaft zum Staat kategorial nicht das von Gesellschaft zu einem Teilsystem (Organisation), sondern das von Totalitäten mit verschiedener Charakteristik. In dieser Fassung ist der Staat jedoch noch nicht fungibel; er muß politischer Staat sein. Mit dessen Aufstellung tritt Hegel in die Problematik des politischen Teilsystems ein. Er sieht den politischen Staat auf zweierlei Weise, und zwar zunächst als „Entwicklung der Idee [d. h. des kategorialen Plateaus ,Staat'] zu ihren Unterschieden und zu deren objektiven Es kann hier unausgemacht bleiben, ob sich nicht Material für Interaktionssysteme bei Hegel findet (etwa unter dem Motto ,Mitteilung' in der Logik. Hrsg, von G. Lasson. Teil 2. 365 ff, 379, oder in Phänomenologie des Geistes). Allerdings widerspricht die kategoriale Systematisierung jeder Gestalt, ihre Überführung in ein Resultat, dem informellen Gehalt von Interaktionssystemen. — 7. Habermas hat hier eine andere Sicht; er spricht von Interaktion im Falle der Familie, wie Hegel sie in den Jenenser Schriften sieht: Technik und Wissenschaft als Ideologie. Frankfurt 1971. 9f.

§ 301 der Rechtsphilosophie, wo Hegel statt „Alle" lieber „die Vielen" sagen will, widerspricht dem Gesagten nur scheinbar. In dem Paragraphen geht es nicht um die kategoriale Bestimmung von Staat, sondern um ein Verfassungsproblem (wer am Staat teilnehmen, wer in ihm zu sagen haben sollte). “ Wir setzen die Begriffsbestimmungen in den §§ 182 ff und 257 ff der Rechtsphilosophie als bekannt voraus und verzichten auf ein Referat.

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Wirklichkeit" also als Ausdifferenziening und Konkretisierung des Staates^ als soziale Organisation. Damit ist der politische Staat kategorial identisch mit dem Gesamtstaat, aber nicht real oder sozial identisch. Entsprechend steht der politische Staat in einem Verhältnis zu den politisch Verfaßten, und dies Verhältnis denkt Hegel vom Gedanken einer ,Anknüpfung' der Vielen von oben her, und vom Gedanken einer ,Konstitution' von unten her, d. h. einer gestuften Mitwirkung der Einzelnen am politischen Staat, imd zwar je nach Allgemeinheitsgrad der Gesirmung und Bildung. Die Hegelsche Theorie will also mehrererlei geben; kategoriale Bestimmung des Staates und des politischen Staates; dann, analog einer organisationssoziologischen Theorie, Institutionenlehre; weiter, wiederum mit gleichsam organisationssoziologischem Akzent, Theorie des Verhältnisses von Gesamtsystem (hier: Staat) und politischem Teilsystem (hier: politischer Staat), letzteres mit den Problemen der Teilnahme der Einzelnen am politischen Staat und der Rekrutierung des Personals des politischen Staates (Abgeordnete, Beamte); und schließlich, mit funktionalistischem Akzent, Theorie der Reflexion des Systems in sich durch Reflexion auf den politischen Staat und Reflexion des politischen Staates durch seine Institutionen hindurch auf die politisch Verfaßten. Auf Grund seiner kategorialen Identität kann der politische Staat affirmatives Reflexionsobjekt der politisch Verfaßten sein, obwohl er auch im Verhältnis zu den politisch Verfaßten und zur Gesellschaft partikulär ist. Er steht für das Allgemeine °° Rechtsphilosophie. § 269. Vgl. § 267 Zusatz, § 263 und Zusatz, § 266, § 265. R. Albrecht macht in seiner Bonner Dissertation Hegel und die Demokratie (1978) darauf aufmerksam, daß Hegel einen Denkfehler begeht, werm er in § 267 der Rechtsphilosophie die Entwicklung der Idee des Staates als Ausdifferenzierung zu politischer Gesinnung (als subjektiver Substantialität) und politischem Staat faßt, während er in § 269 noch einmal eine Entwicklung der Idee, nun nur auf der Ebene des politischen Staates, ansetzt. Im einen Fall differenziert sich der als Einheit beibehaltene Gesamtstaat der politischen Vielen, im anderen ist der politische Staat der maßgebende Ausgangspunkt. Zur ,Anknüpfung': Rechtsphilosophie. §§ 262, 290; zur ,Konstitution': §§ 301 ff. — Man kann fragen, ob die Notwendigkeit der Organisation zur Fungibilität des Staates befriedigend dadurch dargetan ist, daß man die begriffliche Ausdifferenzierung des Staates im politischen Staat und seinen Institutionen vorführt. Der Gedanke ist nicht einfach falsch, aber für das Sonderdasein des politischen Staates (so daß er ,angeknüpft' und ,konstituiert' werden muß) benötigte man ein Argument, das zeigte, daß nur eine relativ kleine Gruppe die geeignete Konfiguration zur Objektivierung der Idee ist, kurz, daß nur sie Staat ,machen' kann. Ein solches organisationssoziologisches Argument hat Hegel nicht zur Verfügung. Vgl. jedoch zur Regierungsgewalt § 290. Ich sehe andrerseits nicht, daß Luhmann mit seiner Organisationssoziologie oder mit dieser in Verbindung mit der Systemtheorie eine Institutionenlehre aufbauen kaim.

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AlIeG für deren Vernunft und Willen (in Gesetz, exekutiver Entscheidung und Verwaltung). Er ist so auch Reflexionssubjekt. Ein weiterer Punkt: Hegel, oder die kategoriale Theorie, vermeidet die Unstimmigkeit, daß Teilsysteme Organisationen sein müßten, zum Teil aber nicht sein können (z. B. im Fall des Familienlebens im Verhältnis zu den einzelnen Familien als Organisationen). Die kategoriale Ebene der Theoretisierung vermeidet das Problem einer unnötigen Hypostase. Die gleichsam organisationssoziologische Analyse des politischen Staates bei gelingender funktionalistischer Theorie seines Verhältnisses zum Staat als Gesamtsystem trifft heute vielfach auf ernste Kritik — etwa in der Frage der ständestaatlichen Ordnung, der Aussparung der richterlichen Gewalt als eigner Gewalt oder der Überbewertung des politischen Staates als Selbstzwecks —, aber es gilt zu sehen, daß wesentliche Mängel korrigierbar sind. Eine solche Korrektur ergibt sich aus einer strengeren kategorialen Sicht, also aus der Einsicht, daß das Theoriemotiv, wonach Hegel den politischen Staat davor bewahren will, abhängige Variable,,Funktion' der Vielen (oder Aller) zu sein, fehlerhaft gehandhabt wird, nämlich durch Rückgriff auf die Gesellschaft als nicht politisch verfaßt (als „Haufen", als „formlose Masse", als individuell verschieden interessiert usw.) Andernfalls wäre eine Bejahung der Volkssouveränität kategorial zwingend, oder doch eine Theorie, wonach im politisch verfaßten Fall niemand, keine isolierte Instanz (Volk oder politischer Staat), noch Souveränität hätte. Damit wäre auch die Überbewertung des politischen Staates zugunsten einer ,gemeinsamen Sache' abgebaut. Im Gegenzug können wir die LuHMANNSche Position kritisieren: es ist wichtig, aber nicht entscheidend, daß der politische Staat soziologisch gesehen den Charakter der Organisation hat oder — auf bestimmten Ebenen innerhalb seiner selbst, etwa der des Kabinetts — Interaktionssystem ist. Er kann dennoch affirmatives Reflexionsobjekt der Gesellschaft und der politisch Verfaßten sein. ,Amt' ist genau der Begriff, der die Lösung der kategorialen Qualifikation vom sozialen Strukturstatus beinhaltet: einer “8 Daß dann die ständische, nur relative Allgemeinheit der Gesinnung und Bildung zu partikulärer Interessenvertretung auf Staatsebene führt, dürfte einleuchten. •8 Der Verfasser hat zu diesen Fragen Stellung genommen in dem Aufsatz: Ideen zu einem neuen systematischen Verständnis der Hegelsdhen Rechtsphilosophie. In: Perspektiven der Philosophie. 2 (1976). Hier wird insbesondere das Problem der Volkssouveränität behandelt. In der Frage der richterlichen Gewalt ist sich der Verfasser noch nicht im Klaren (zu Rechtsphilosophie § 272). Zur Frage der Volkssouveränität im Sinne einer Null-Souveränität vgl. M. Kriele: Einführung in die Staatslehre. Hamburg 1975. 113 ff, 224 ff.

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kann ein Amt haben, eine Regierung kann ein Mandat haben, ohne deshalb ein (soziologisch gesehen) paradoxes Reflexionsobjekt darzubieten. Dasselbe gilt vom politischen Staat allgemein. LUHMANN hat Recht; als politischer ist der Staat Organisation, mit Mitgliedschaftsbedingungen und Konfliktregelungen als Bedingungen der Mitgliedschaft. Aber nicht deshalb liegt die Paradoxie vor, daß ein Teilsystem für das Ganze bestimmend, daß der Teil das Ganze ist, denn dies Teilsytem besitzt eine kategoriale Charakteristik, die mit der des Gesamtstaats identisch ist. Nicht die Gesellschaft ist also als Basissystem zu denken, denn dann entstünde gerade die Paradoxie, sondern der Gesamtstaat, die Gesellschaft als Inbegriff aller politisch Verfaßten. Dies ist die — bei Hegel angesichts seines Ständestaates und der genannten Mängel nicht voll realisierte — kategoriale Lösung, die es ermöglicht, den Staat als Inbegriff aller politisch Verfaßten mit der Organisation des politischen Staates zusammenzudenken. Man sieht: die kategoriale Position kann das funktionalistische Motiv mit dem organisationssoziologischen verbinden, indem sie den Staat zum Gesamtsystem macht: auch das Gesamtsystem ist als organisiert, also in Bestimmtheit, darstellbar, was von der Gesellschaft bei LUHMANN nicht gilt; bei ihm können es ja nur Teilsysteme sein, die eine organisationssoziologische Struktur haben. Die Frage, ob dann der Staat oder die politisch verfaßte Gesellschaft eine Organisation sei, ist (wenn wir von historischen Kleingebilden absehen) abzuweisen. Das Ganze ist organisiert, aber nicht Organisation, wenn damit ein spezielleres als das Ganze gemeint ist. Theoretisch wesentlich ist allein dies: mit ihrer Fassung von Staat und politischem Staat kann die kategoriale Theorie das funktional erforderliche Reflexionsobjekt der Gesellschaft als bestimmtes, strukturiertes, kurz als konkretes Allgemeines, das sie selbst ist, also als organisiertes Reflexionsubjekt, namhaft machen. Dazu ist eine kategoriale Unterscheidung in Gesellschaft und politische Verfaßtheit der Gesellschaft, mit eigenen Inhalten der Allgemeinheit, und eine Identitätsthese von Staat und politischem Staat erforderlich. LUHMANN kann beides nicht zugeben, da die Gesellschaft als verbindliche Ebene den Staat nur als Teilsystem der Gesellschaft zu denken gestattet. Die These, daß, wenn eine Gesellschaft sich im Staat und damit in sich selbst reflektiert, sie sich in einem Teilsystem reflektiert und damit eine Paradoxie begeht, ist dann Funktion Es versteht sich, daß erst eine konkretere — hier nicht zu leistende — Bestimmung des Verhältnisses von Staat und politischem Staat die verfassungstheoretischen Alternativen und Lösungen eröffnet, an denen recht eigentlich gelegen ist. (Wir denken an die nähere Fassung der Volkssouveränität, an Demokratie, Zentralismus, Staatsmonopol gegenüber Subsidiarität, Wohlfahrtsstaat.)

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des soziologischen, kategorial nivellierenden, nominalistischen Ansatzes. Die Paradoxie fällt dem Ansatz zur Last. Die LuHMANNSche Kritik der „alteuropäischen" Tradition, darunter der Hegelschen Position, vom Gedanken einer „Logik der Perfektion" her, scheint ein starkes Argument zu enthalten, ist aber abzuweisen, wie man mit Hegelschen Denkmitteln zeigen kann. Das Hegelsche Theorem „das Wahre ist das Ganze" ist die dialektische These, daß ein Teil sein Ganzes zur Konsequenz hat, nicht aber die These, daß ein Teil, der vollkommen ist, das Ganze sei. Es ist umgekehrt: nur Ganzes ist Vollkommenes, und Ganzes steht zum Teil in der Relation, Erfüllung des Teils zu sein. Näher ist bei LUHMANN übersehen, daß das Ganze als Allgemeines eine nicht-antagonistische Reflexion des Besonderen in ihm ermöglicht. Die hier relevante Logik, die dialektische Logik von Allgemeinem, Besonderem und Einzelnem, gestattet es, Affirmation zwischen Gebilden unterschiedlicher kategorialer Ebene darzustellen. Damit ist nicht geleugnet, daß das in das Ganze aufgenommene Gebilde realiter weiterbesteht als Eigenes. Auch bei Hegel müssen wir Gesellschaft als koexistierend mit dem Staat auffassen. Schluß Wir brechen hier unsere Untersuchung ab. Sie galt einer vielleicht esoterisch anmutenden Konfrontation zweier Theorien zu Gesellschaft und Staat. Näher ging es darum, die jetzige LuHMANNSche Position nach funktionalistischen und organisationssoziologischen Motiven zu differenzieren, sie nach diesen beiden Motiven auf Hegels Position bzw. die der kategorialen Sozialphilosophie abzubilden und einige Schlüsse zu ziehen. Es ist klar, vieles mußte beiseitebleiben. Wir denken dabei an andere Anschnitte für die Betrachtung beider Positionen — etwa das Problem des Rechtspositivismus oder den präskriptiven Gehalt der Theorien für die konkrete Gestaltung des politischen Lebens —, um nur diese zwei zu nennen. Interessant wäre auch eine Beleuchtung von MARxistischen Ansätzen aus. Wir können auf diese Fragen nicht mehr eingehen. Wir sind uns bewußt, daß der Gegensatz von kategorialer Sozialphilosophie und Soziologie allgemein fundamental bleibt; das ergibt sich schon Phänomenologie des Geistes. Hrsg, von J. Hoffmeister. Hamburg 1952. 21. 72 Der Verfasser hat zu dieser Frage, die sich durch die Begriffe ,Linearität der Theorie' und ,Koexistenz' kennzeichnen läßt, in seinem oben Anm. 1 genannten Aufsatz näher Stellung genommen.

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aus den unterschiedlichen Standpunkten in der Frage der Normativität. Der LuHMANNSchen Soziologie gelingt es aber mit ihren Denkmitteln — funktionalistische Systemtheorie, Medientheorie, Organisationssoziologie — die philosophischen Probleme so weitgehend zu rekonstruieren und für sie Lösungen anzubieten, daß es unabweisbar ist, sich auf eine Konfrontation einzulassen. Ja, es wäre zu wünschen, daß aus Konfrontation Dialog würde.

REINHART MAURER (B E R LIN - W E S T)

SOZIOLOGIE ALS PRIMA PHILOSOPHIA? Über die gegenwärtige Unmöglichkeit systematischer Philosophie 1. Recht verbreitet ist die Rede vom Ende der Philosophie, meist in der Frageform mit „noch", z. B. „Wozu noch Philosophie?" oder „Hat die Philosophie noch einen Gegenstand?" Zumindest in dieser noch-Form lebt sie weiter, an den Universitäten ohnehin, aber auch im allgemeinen Bewußtsein. Dagegen bekommt die Frage nach der gegenwärtigen Möglichkeit systematischer Philosophie meist eine Antwort mit „schon", und zwar auch in Fachkreisen: Diese Art Philosophie sei schon tot. Und dafür scheint auch der historische Sachverhalt zu sprechen. Es gibt zwar noch einige philosophisch-systematische Bemühungen, aber als der letzte große Systematiker gilt fast durchweg Hegel, der 1831 gestorben ist. Will man zunächst nach äußeren Gründen für diese Entwicklung suchen, so braucht man eine vorläufige, äußere Bestimmung für Philosophie, zumal systematische. Diese jedoch dürfte stets eine Frucht ruhigen Nachdenkens gewesen sein, und zwar des Nachdenkens eines Individuums. Viel spricht dafür, daß die gesellschaftlichen Bedingungen für ruhiges, gesammeltes, etwas distanziertes Nachdenken von Individuen über längere Zeit hin nicht mehr gegeben sind. Die moderne Gesellschaft ist bekanntlich (bekannt aus Erfahrung und Theorie) ein hochkompliziertes, abstraktes Vermittlungssystem, das in Gang zu halten, alle mit jeweils vielen in personalen und vor allem sachlichen Bezügen unter Einsatz mannigfacher Kommunikations- und Verkehrsmittel agieren müssen. Da bleibt einfach keine Zeit, in Ruhe über Gott, Welt, Mensch und Denken, die traditionellen Bereiche der Philosophie, nachzudenken. Zwar ist vorstellbar, daß die Gesellschaft einzelne dazu freisetzt; doch warum sollte sie, wenn diese damit nicht zu ihren Funktionen beitragen? Einige hoffnungslose Fälle müssen wohl immer freigesetzt werden, damit sie den sonstigen Betrieb nicht stören (das ist sicher ein Zweck, wenn nicht der Hauptsinn gegenwärtiger Universitätsphilosophie), aber diese wenigen sind nicht hinreichend motiviert, über Gott,

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Welt, Mensch und Erkenntnis systematisch nachzudenken, zumal frühere Philosophen das bereits ausgiebig getan haben. Da ist es naheliegender, die früheren zu hermeneutisieren. Wichtig sind allein Gedankenanstrengungen, welche die gesellschaftlichen Vermittlungsstrukturen und -prozesse im einzelnen durchsichtiger machen und auch zu ihrer praktischen Perfektiorüerung beitragen, sowie Versuche der Übersicht über das Ganze des gesellschaftlichen Vermittlungszusammenhangs. Es grenzt an Don-Quichoterie, etwas anderes für wichtig zu halten und zu betreiben als das, was gemeinhin für wichtig gilt. 2. Nun sind aber die äußeren, psychosozialen Schwierigkeiten Hinweise auf innere, methodische, logische, wissenschaftliche. Philosophie ist traditionell Wissenschaft vom Ganzen der Wirklichkeit, und ihr Zentrum ist herkömmlicherweise eine Erste Philosophie, die nach dem das Ganze tragenden und bestimmenden Grund (arche) fragt. Diesem wirklichen, erkennbar gegründeten Ganzen versucht die Philosophie als Ganzes zu entsprechen, eben als einzelnes System oder als geschichtlich sich entwickelndes System von Systemen bei welchem dem Grund oder den Gründen die Grundbegriffe, Prinzipien entsprechen. Der von den Vorsokratikern und PLATON her traditionelle Grundbegriff schlechthin ist der Begriff des Grundes. PLATON bestimmt ihn als „Idee des Guten", das ist die vorgängige, nicht setzbare, sondern nur entfaltbare Ermöglichung zugleich von Sein, Erkenntnis und einsichtiger Orientierung zielsetzender Praxis. Diesem Grund korrespondiert als menschliche Grundeinstellung ein ontologischer Optimismus, das heißt die Überzeugung, alles was ist sei von sich aus, „an und für sich" zu etwas gut. ^ THEUNISSEN hat im Anschluß an MAX MüLLER diese ganze, von PLATON herkommende Philosophie ihres Grundbegriffes der arche wegen „Archäologie" genannt und sie von der neuen Weltanschauung oder vielmehr zunächst weltlosen Zukunftsanschauung „Eschatologie" abgesetzt. ® Deren Grundeinstellung ist, zumindest nach ihrem verbreiteten Selbstverständnis, ein ontologischer Pessimismus, aber geschichtlich-gesellschaftlicher Optimismus. Alles was ist, das „Bestehende", ist demnach, sofern es nicht schon von der endgeschichtlichen Gesellschaft produziert ist, von sich aus * Vgl. Hegel: Einleitung in die Geschichte der Philosophie. 1959. ® Vgl. R. Maurer: Der Zusammenhang von Technik und Gerechtigkeit und seine metaphysische Grundlegung in Platons Politeia. In: Philosophisches Jahrbuch. 82 (1975). ä M. Theunissen: Hegels Lehre vom absoluten Geist als theologisch-politischer Traktat. Berlin 1970. 335 f; vgl. M. Landmann: Ursprungsbild und Schöpfertat. Zum platonisch-biblischen Gespräch. München 1966.

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schlecht oder neutral und ist bestenfalls dazu geeignet^ das Material zur bessernden Veränderung abzugeben. * Macht zur Veränderung hat nicht der einzelne, sondern die Gesellschaft, das System der wissenschaftlich-technisch-sozialtechnisch vermittelten Kooperation vieler, im wohl utopischen Grenzfall aller Menschen. Als Gesellschaft wird Vermittlung in Abhebung von allen vorgängigen Gründen und Zwecken, schließlich auch vom menschlichen Subjekt als Selbstzweck, schöpferisch. Die Gesellschaft setzt sich und ihre Umwelt aus sich. Sie ist das Ganze, sofern es (operational) vernünftig ist. Die Krone rationaler Systematik ist daher die Gesellschaftstheorie, von der die Wissenschaftstheorie ein wichtiger Teilbereich ist, weil sie die Strukturen sinnkonstituierender und Verfügung eröffnender Setzung untersucht. ® Es mag sonst noch Systeme geben außer dem System Gesellschaft und seiner Subsysteme, zum Beispiel physische und organische, doch die Gesellschaft ist nicht auf sie gegründet, sondern umgekehrt sind sie Randzonen der Selbstkonstitution von Gesellschaft. ® Gesellschaft ist nach LUHMANN „dasjenige Sozialsystem, das im Voraussetzungslosen einer durch physische und organische Systembildungen strukturierten Umwelt soziale Komplexität regelt — das heißt den Horizont des Möglichen und Erwartbaren definiert und letzte grundlegende Reduktionen einrichtet" „Grundlegend" kann hier nicht heißen, daß die Grundlage eines systematischen Baus in einen diesen wiederum tragenden Grund gelegt wird, sondern es heißt nach einer anderen Formulierung LUHMANNS: „Ins Unbestimmbare und Voraussetzungslose gebaut" ®. Die theoretischen Konstruktionen der funktionalistischen Soziologie sind wirklichkeitshermeneutisch bezogen auf die sich „eschatologisch" konstituierende Gesellschaft in ihrer Ausrichtxmg auf eine * Der Historische Materialismus ist von diesem eschatologischen Materialbegriff zu entwickeln, ist eine Form von (Inter)Subjektivitätsphilosophie. Dagegen liegt dem Dialektischen Materialismus ein Begriff von schöpferischer Materie und Emanation aus diesem Grund von allem zugrunde. Daß im Marxismus (kaum schon bei Marx) beides recht problemlos verbunden wird, ein mehr subjektivitätsphilosophischer mit einem vorwiegend ontologisch-objektivistischen Ansatz, erklärt mindestens teilweise seine Anziehungskraft auf philosophisch naive Gemüter, deren berechtigtes Bedürfnis nach umfassender Weltanschauung er befriedigt. ° Die Lage ist ja keineswegs so, daß eine systematische und als solche immer wieder und dann endgültig gescheiterte Philosophie von einem System der Wissenschaften abgelöst worden wäre. Ein solches System gibt es bis heute nicht. Einen einheitlichen Zug zeigen die Wissenschaften nur als Organe der sich konstituierenden Gesellschaft. Ob diese jedoch eine systematische Einheit ist oder wird, steht in Frage. ® N. Luhmann: Soziologische Aufklärung. 2. Aufl. Opladen 1971. 144 f. ^ Soziologisdie Aufklärung. 145. ® J. Habermas / N. Luhmann: Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie. Frankfurt 1971. 16.

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nicht mehr durch wahre Zwecke verstopfte Zukunft ®. Sie reflektieren die Emanzipation dieser Gesellschaft aus ihrer Herkunft und ihr aus reziproker Begründung ihrer Sub- und Nebensysteme sich ergebendes Schweben in dem schließlich als unbestimmbar bestimmten Voraussetzungslosen. Das heißt, es gibt außer den Systemen der funktionalen, soziologisch angewandten Systemtheorie einen Bereich, der außerhalb der Macht ihrer gesetzten Voraussetzungen liegt, und auf den sie als äußersten Horizont der Orientierung, als ontologischen Restbestand alteuropäischer Vorstellungen von Gründung, angewiesen bleiben, sofern sie nicht eben schweben, sich gegenseitig begründend, oder vielmehr vermittelnd, wie man wohl besser sagen würde, um die versuchte Ersetzung des Begriffes Grund zu betonen. 3. Der Funktionalismus zeigt somit strukturelle Ähnlichkeit mit einem bestimmten Verständnis von Dialektik. Während PLAxoNische Dialektik sich verstand als Weg der Negation endlicher Voraussetzungen, der führt zum Voraussetzungslosen (anhypoteton) des Ideen-Grundes, und damit nicht zum Unbestimmbaren unendlicher Komplexität (äpeiron), sondern zu der Gewißheit einer wirklichkeitsmächtigen Vernunft, welche die setzende Vermmft der Wissenschaften und Techniken allererst ermöglicht, scheint sich im Anschluß an FICHTE und Hegel ein Begriff von Dialektik entwickeln zu lassen, der im einzelnen und ganzen der Figur der Selbstvermittlung nachspürt, wie sie, für sich oder mit anderen ihresgleichen vermittelt, im noch nicht Vermittelten oder Unmittelbaren schwebt. Besser sagte man vielleicht „Selbstsetzung", da in „Vermittlung" noch die Vorstellung einer Verbindung von Vorgefundenem liegt. Doch spricht für den Ausdruck „Selbstvermittlung", daß hier Selbstsetzimg oder Selbstproduktion tendenziell gedacht wird als schöpferische Vermittlung, nämlich als Relation, die sich von ihren Relaten ablöst, sie in sich aufhebt und aus sich neu erzeugt. Zuinnerst ist diese Vermittlung „Selbstbeziehung", das heißt Relation eines Selbst auf sich selbst, und zwar so, daß sich das kleingeschriebene „selbst" von allem grundhaft vorgegebenen (geborenem und sich entwickelndem) Selbst ablöst : sich von sich abstößt hinein in den Freiheits* Formulierung nach Luhmann: Zweckbegriff und Systemrationalität. Tübingen

1698. 10.

Hierzu kritisch W. Bedcer: Idealistische und materialistische Dialektik. Stuttgart

1970.

** D. Henrich bestimmt Subjekt im Anschluß an Fichte und Hegel als „tätiges Zusichkommen ..., das nichts voraussetzt als dieses zu sich und für sich" (Hegel im Kontext. Frankfurt 1971. 37), doch beschreibt er auch, wie gerade Fichte durch das Extrem absoluter Selbstbeziehung zur Annahme eines Ich-Grundes kommt (Henrich: Fichtes ursprüngliche Einsicht. Frankfurt 1967).

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raum offener Zukunft bzw. endgeschichtlicb geschlossener Gesellschaft. Denn die vielen Selbstvermittlungen müssen, damit sie miteinander bestehen können, bürokratisch verwaltet werden. Aber wie dem auch sei, in einigen Interpretationen der Hegelschen Logik bestimmen Vorstellungen von schöpferischer Vermittlung, wenn auch ihre begriffliche Realisierung problematisch bleibt, die Fragestellrmg und den Untersuchungsgang. Damit zeigt sich eine tendenzielle Konvergenz von selbstvermittelnder Dialektik und Funktionalismus sozusagen von Heidelberg und Bielefeld, während man andererseits fragen kann, ob Hegels Dialektik nicht doch im Grunde „Archäologie", das heißt via negationis zum PrAxoNisch zu verstehenden anhypoteton ist, heiße dieses nun bei ihm „Idee" oder „Geist" und dürfe man die beiden nach ihm nun „Grund" nennen, oder nicht. Unterschiede entstehen freilich daraus, ob bei der schöpferischen Selbstvermittlung eher Ich und Bewußtsein oder das größere System Gesellschaft herauskommen. Andererseits kann man die Divergenzen als Entwicklung einmal von Mikrostmkturen, zum andern von Makrostrukturen im Rahmen einer grundsätzlich identischen evolutionären Systemtheorie deuten. Größeres Gewicht kommt zweifellos zur Zeit der soziologischen Variante zu, zumal hier eine weitere Konvergenz eine Rolle spielt, nämlich die von soziologischem Funktionalismus und UAiiCxistisch-dialektischer Gesellschaftstheorie, sozusagen von Bielefeld und Berlin (West und Ost). Der MARxismus hat ja konsequent die im deutschen Idealismus unternommenen Versuche, Selbstvermittlung zu denken, aus der Subjektivitäts- als Bewußtseins- und Selbstbewußtseinsphilosophie herausgelöst und in Gesellschaftstheorie überführt. Nicht eigentlich das Subjekt in je individueller Binnenstruktur leistet Selbstvermittlung in Ausrichtung auf offene Zukunft, sondern das Intersubjekt Gesellschaft, das so seine Relate, die Individuen, allererst setzt. Ohne es zu merken, war Transzendentalphilosophie die Vorbereitung spekulativer Soziologie. Aufklärerische SelbstrefleZur Begründung der Bürokratie auf sich selbst, d. h. zur Ersetzung von Begründung durch Vermittlung im juridischen und administrativen Bereich vgl. N. Luhmann: Legitimation durch Verfahren. Neuwied/Berlin 1969. ** Hierzu Luhmanns „Diskussionsangebot denen gegenüber, die in der von Hegel begründeten Tradition einen Begriff von Vermittlung verwenden ..." (Soziologische Aufklärung. 116 bzw. 132, Anm. 11). Freilich faßt Luhmann dort den Begriff Vermittlung recht eng und oberflächlich. “ Es ist die Frage, ob nicht dadurch, daß im Verlauf der Hegelschen Logik auch die Kategorie Grund zugrundegeht (2. Buch, 1. Abschn., 3. Kap.), eben der Grund (nicht mehr als Kategorie, als bloß sprachliche imd bewußtseinsmäßige Setzung) hervortritt, nämlich Idee und Geist als „Grund von Allem".

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xion löst sich auf in der Erkenntnis, daß auch noch die innerste Selbstbeziehung gesellschaftlich vermittelt ist. Selbstvermittlung wird damit zu dem, was sie an sich immer schon war, nämlich Selbstproduktion qua Industrie. Auch Bewußtsein imd Selbstbewußtsein produziert sie durch pädagogische und massenmediale Sozialtechnik. Die Gesellschaft ist so zugleich Grundbegriff und Forschungsfeld für einen einerseits eschatologisch-spekulativen und konstruktivistischen, andererseits empirischen, einen dem Programm nach zugleich theoretischen und praktischen Systemansatz (eine Weiterentwicklung von A. COMTES Programm einer physique sociale). Die zugleich theoretischen und praktischen Erzeugungsregeln, die sogenannten „Vermittlungen" oder „Funktionen" sind der im einzelnen operativ-rationale, im ganzen unübersehbar komplexe Inhalt des Systems Gesellschaft. Praktisch ist in ihrem Rahmen das Ergebnis der Komplexität reduzierenden Leistungen von Systemen der Verweis auf „andere Möglichkeiten" ^®, also gerade keine Lösung des Problems praktischer Normen, denn sicher ist es nützlich, andere Möglichkeiten zu kennen und zu haben, doch schließlich müßte man wissen, welches die beste von ihnen ist. Theoretisch bleibt das Problem des Bezuges wenn die Frage, in bezug worauf ein System eine Einheit bildet, sinnlos wird angesichts einer unübersehbaren Kette interner und mehr noch externer Verweise, erscheint diese Art systematischer Sinnkonstitution im ganzen sinnlos. Prinzipiell entstehen die gleichen Leerformeln — leer in bezug auf die sonst geforderte operative Rationalität, die sich aufs Ganze bezogen in einen unendlichen Progreß verliert —, wenn man wie LUHMANN Gesellschaft in dem Versuch einer ganzheitlichen Übersicht definiert als Regelung sozialer Komplexität im Voraussetzungslosen und zugleich als Substrat der Evolution — oder wie HORKHEIMER im Rahmen einer materialistisch-dialektischen Theorie als ein „unvergleichbares, sich fortwährend umstrukturierendes Ganzes", dessen Evolution ein „dialektischer Prozeß" ist, das heißt ein solcher, der „sich nicht als Wirkung aus einzelnen gleichbleibenden Faktoren begreifen läßt", dessen „Momente . . . sich vielmehr fortwährend gegenseitig in ihm selbst" verändern Hier wie dort dieselbe Vgl. Soziologische Aufklärung, 253 ff. Kritisch zum „untheoretischen Selbstverständnis der Systemtheorie" J. Habermas in: Theorie der Gesellschaft (oben Anm. 8).

226 ff.

Luhmann passim. ” Vgl. Habermas in: Theorie der Gesellschaft. 154 f, 166 f. Z. B. Luhmann ebd. 20 ff. M. Horkheimer; Traditionelle und kritische Theorie. Frankfurt 1970. (Fischer

Taschenbuch.) 77 und 79.

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Abkehr von Begründung aus einem übergesellschaftlichen Grund, von „Ursprungsphilosophie" und einem mit ihrem Begriff von Grund zusammenhängenden Kausalitätsbegriff. Hier wie dort die Polemik gegen Philosophie im „alteuropäischen" Sinne mit ihrer Suche nach einem Wissen von einem Ganzen, das größer ist als die Gesellschaft.

4. Damit träte eine Soziologie, die im Blick auf das grundlose Ganze Gesellschaft einerseits am schon oder noch Funktionierenden empirisch abgesichert ist, andererseits in die offene Zukunft dieses Ganzen spekuliert, an die Stelle der alten prima philosophia, dieser Hermeneutik eines vernünftig gegründeten Ganzen, von dem die Gesellschaft, der Bereich der Sterblichen, nur ein Teil ist. Freilich ist die Vorstellung von einer oder mehreren relativen Ganzheiten, die sich mit- und gegeneinander in einer minder oder feindlich anders strukturierten Umwelt erhalten, durchsetzen, verändern, zugrundegehen, prinzipiell nicht neu. KUBE spricht im Blick auf die antike Sophistik von einem „vom Menschen und seiner Selbstbehauptung gegenüber der Umwelt ausgehenden TE^VT] — Denken" und PLATON fragt im Theaitet nach (philosophischer) Erkenntnis in Absetzung von denen, die behaupten, daß „nichts an und für sich eine Einheit ist, sondern immer nur wird für irgend ein anderes" (157 B). Schon damals liegt die Überlegung nahe, daß dann auch die Seele, das sich nach Auffassung philosophischer Vernunft identisch durchhaltende Subjekt, keine solche Einheit ist, sondern System unter Systemen, die nur sind oder werden „für etwas oder von etwas oder in Beziehung auf etwas" (160 B), nämlich in Beziehung auf einander, während außerhalb dieses ZusammenVgl. Habermas über Adorno: „Auf Grund der Einsicht, daß der reale Lebensprozeß der Gesellschaft kein in die Philosophie soziologisch ... Eingeschmuggeltes, sondern der Kern des logischen Gehaltes selber ist, entfaltet Adorno ... eine Kritik an der Ursprungsphilosophie, als die sich Philosophie seit je verstand" (Theorie und Praxis. 4. Aufl. Frankfurt 1971. 435). 7. Kube: TEXNH und APETH. Berlin 1969. 227 f. Aus der Selbstbehauptung in überkomplex-feindlicher Umwelt wird freilich bei Luhmann stellenweise ein Minimalprogramm des Sichdurchlavierens. Der ontologische Optimismus (s. o. 2.) nahm die miteinander verbundenen dynamischen Festpunkte Gnmd und Zweck an. Zum Schweben im Grundlosen — hinein in die nicht mehr durch wahre Zwecke verstopfte Zukunft, zu diesem gesellschaftlich-geschichtlichen Optimismus, gehört die Angst. Es gibt einen Systemkomplex, nämlich den organisch-psychisch-sozialen (alteuropäisch „Mensch" genaimt), der seltsamerweise Angst hat (vgl. Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie. 62 ff). Wahre Zwecke wagt er dagegen nicht mehr zu haben angesichts der Frage, „ob die problematischen Situationen derart komplex sind, daß völlig zieloffene, allein auf das Überleben gerichtete, heuristisch-adaptive Techniken des Sichdurchlavierens den Vorzug verdienen" (Zwetkbegriff und Systemrationalität. 124). — Wenn man genau liest, offenbart sich Luhmann als ein soziologischer Kafka.

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hangs gegenseitiger Begründung oder vielmehr Vermittlung und bedrohlich in ihn hineinreichend das Voraussetzungslose als das Unbestimmbare (apeiron) liegt, keiner rationalen Erkenntnis zugänglich. Wenn man nun neuerdings neosophistisch annimmt, an der sinnsetzenden und überhaupt sich aus sich setzenden Gesellschaft jenes relative Ganze der Vemimft gefunden zu haben, so wird die Philosophie eben auf die Relativität dieses Ganzen hinweisen müssen. Die Relativität der anfangs- und endlosen, doch evolutionären Verweisung der Systemelemente und Subsysteme auf einander erscheint einer an Philosophie geschulten Vernunft als notwendiger Ausdruck der Bezogenheit des Ganzen dieser Vermittlungen auf das Chaos außer ihm. So reicht die Irrationalität seiner Umwelt in es hinein. Nennt man nun das relative Ganze Gesellschaft, so ist Gesellschaft als Grundbegriff einer systematischen Theorie nach Maßstäben philosophischer Vernunft unbrauchbar. Der philosophische Sinn einer funktionalen Gesellschaftstheorie ist dunkel, wie LUHMANN selbst sagt. Will man jedoch diese Dunkelheit von Sinn beseitigen, indem man die mit dem alteuropäischen Namen Philosophie bezeichneten Bemühungen hinter sich zu lassen versucht, so müßte man konsequenterweise auch auf jeden Begriff eines noch so relativen Ganzen, einer in sich gegliederten Einheit, eines Systems verzichten, sofern damit mehr gemeint ist als eine strategischen Augenblicksanforderungen genügende Konstruktion setzender Vernunft. Denn ein auf ein Apeiron bezogenes Ganzes ist keines, sondern ist Teil des schlecht Unendlichen (schlecht, da nur im tmendlichen Regreß oder Progreß zu realisieren), wobei das Wort Teil keinen rechten Sinn ergibt. Rational ist dann allenfalls die situationsbezogene Erforschung einzelner offener Strukturen, die rätselhaft im Unbestimmbaren schweben, wenn sie auch miteinander zu immer anderen Möglichkeiten operational

Luhmann spricht von „Phasen der Evolution vor der Erfindung von Sinn" (Theorie der Gesellschaft. 97), 22 Zur „sich aus sich setzenden Gesellschaft", einem Ausdrude von J. Ritter, vgl. R. Maurer: Hegel und das Ende der Geschichte. Stuttgart 1965. Insbes. 171 f. 2^ Zweckbegriff und Systemrationalität. 240. Über koinonia-communtias-societasGesellschaft als Grundbegriff bisheriger Gesellschaftstheorie schreibt Luhmann: „Der Grundbegriff selbst hat nie eine begründende Funktion erfüllt" (Soziologische Aufklärung. 142). Nach dem hier Dargelegten müßte klar sein, warum nicht: dieser Grundbegriff war bezogen auf einen nicht-gesellschaftlichen Grund. Und für eine neue Gesellschaftstheorie, wie sie nicht nur Luhmann vorschwebt, ist nicht abzusehen, welchen Sinn ein Grundbegriff haben könnte, der auf keinen Grund mehr bezogen ist.

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verbunden werden können. System ist so nur eine Hoffnung, ein zweifelhaftes Programm, das vielleicht eschatologisch-theologisch garantiert, nicht aber wissenschaftlich ausgewiesen ist. Nach den angestellten Überlegungen kann prima philosophia und damit die Möglichkeit systematischer Theorie durch die zur Zeit in verschiedenen Formen vorherrschende Ideologie der sich aus sich setzenden Gesellschaft zwar blockiert, aber nicht ersetzt werden, wenn anders systematische Theorie nicht bloß setzender, sondern auch vernehmender Vernunft entspringt, die begreifen will, was ist.

Abstrakte Entwürfe dieser Art werden beängstigend anschaulich in J. L. Borges' kleiner Erzählung Die Bibliothek von Babel (in Borges: Labyrinthe. München 1959). Nach alteuropäischen Vorstellungen von Sinn müßte man von bestechend rationaler Sinnlosigkeit sprechen, der jedoch großer wirklichkeitshermeneutischer Wert angesichts gegenwärtiger Praxis zukommt.

GÜNTHER MALUSCHKE (TÜBINGEN)

DEMOKRATIE IN SYSTEMTHEORETISCHER SICHT Abwendung von der „alteuropäischen" Tradition und funktionale Definition der Demokratie Auf den ersten Blick sieht es so aus, als werde das Thema der Demokratie nur am Rande der Gesellschaftstheorie LUHMANNS behandelt; zumal der einzige einschlägige Aufsatz, Komplexität und Demokratie eine Gelegenheitsveröffentlichung ist, die als Entgegnung auf eine kritische Stellungnahme NASCHOLDS erfolgt ist Dennoch soll hier die These vertreten werden, daß die Demokratieproblematik in ihrer spezifischen thematischen Zuspitzung durch die Systemtheorie, wie sie im genannten Titel schon angezeigt wird, einen wichtigen Platz in LUHMANNS Denken einnimmt und einen Testfall darstellen kann, an dem aufweisbar ist, was diese Theorie leistet, und was sie nicht leistet. LUHMANNS Systemtheorie ist nach eigenem Selbstverständnis eine theoretische Antwort auf die historische Erfahrung des immensen Anwachsens der Komplexität des gesellschaftlichen und politischen Lebens, und diese historische Akkumulation von Komplexität, die einhergeht mit einer Auflösung der alteuropäischen Denktradition mit ihren religiösen und naturrechtlichen Bindungen sowie den mit Hierarchievorstellungen verbundenen Herrschaftstheorien (von denen die klassische Demokratietheorie die letzte, den endgültigen Umbruch schon signalisierende Ausprägung darstellt), wird insgesamt als eine Demokratisierung des Politischen betrachtet. Die heutige Situation der Politik ist nach LUHMANN insofern Resultat dieser Demokratisierung, als ziun einen das Bewußtsein geschärft worden ist, daß neuzeitliche Politik nicht an zeitlosen Normen orientiert ist, sondern kontingente Selektionsleistungen vollzieht, und als zum andern DemoKomplexität und Demokratie. In: Politische Vierteljahresschrift. 10 (1969), 314— 325. Abgedruckt in; N. Luhmann: Politische Planung. Opladen 1971. 35—45. * Frieder Naschold: Demokratie und Komplexität. In; Politische Vierteljahresschrift. 9 (1968), 494 ff. *

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kratie zum universell anerkannten normativen Postulat an jegliche Politik xmd Legitimationsformel der Politik überhaupt geworden ist. Unter den gegenwärtigen Bedingungen kann Demokratie nach LUHMANN nur Norm kontingenter Politik sein und entsprechend definiert er sie als ,,Erhaltung der Komplexität trotz laufender Entscheidungsarbeit, Erhaltung eines möglichst weiten Selektionsbereichs für immer wieder neue und andere Entscheidungen" Das von kontingenter Politik je und je Nichtgewählte nicht definitiv unzugänglich zu machen, sondern einen Alternativenspielraum offen zu halten, wäre daher das Prinzip der Demokratie. Dieser theoretische Ansatz verrät eine doppelte Inspiration. Einmal liegt hier eine Art Geschichtshermeneutik vor, eine Deutung einer evolutionären Metamorphose, die in dem Universellwerden des Demokratiepostulats kulminiert. Zum andern ist aber auch das soziologische System-Umwelt-Modell im Spiel, in welchem ebenfalls eine Balance zwischen Selektionsleistungen und einem Offenhalten anderer Entscheidungsmöglichkeiten gedacht wird. In bezug auf dieses Modell sind nun aber alle politischen Systeme miteinander komparabel; allerdings sind in ihm nur ihre allgemeinsten Charakteristiken erfaßbar, es sind nur generelle Isomorphien der verglichenen Systeme aufzeigbar, ohne daß ihre Unterschiede namhaft gemacht werden könnten. Und in der Tat ist es LUHMANNS Absicht, westliche wie östliche „Demokratien" „als Ausdruck unterschiedlicher, letztlich aber funktional äquivalenter Lösungen eines Problems zu begreifen" Heikel ist nur der Punkt, daß unter einer derartig generellen Perspektive in letzter Konsequenz alle politischen Systeme als Demokratien betrachtet werden müßten. Demokratie als Norm und als Wirklichkeit

Nach LUHMANN ist das soeben entwickelte Demokratieprinzip als Norm und Wirklichkeit zugleich zu bestimmen. In welchem Verhältnis steht diese generelle Norm zu dem durch sie Normierten, nämlich kontingenter Politik? Zweifellos ist diese Norm nicht ein Leistungskriterium, dessen Verfehlung nach theoretischen Standards justiziabel wäre; es scheint sich vielmehr um einen Prinzipbegriff der Flexibilität moderner Politik zu handeln. Damit steht dieses Prinzip in genauer Entsprechung zum Funktionssinn des sozialen Systems, das, um Umweltkomplexität zu reduzieren, hochgradige * N. Luhmann: Politische Planung. 40. * N. Luhmann: Politische Planung. 35. Vgl. auch ebd. 42.

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Eigenkomplexität entwickeln, d. h. immer neue Teilsysteme ausdifferenzieren muß, die jeweils selbst wechselseitig füreinander Umweltkomplexität bedeuten. Weshalb wird eigentlich eine Norm politischer Variabilität formuliert, wenn angesichts des wachsenden Drucks virtueller Optionen Flexibilität zum Schicksal der Politik geworden ist, und eine prinzipielle Alternative zu politischer Offenheit nicht gedacht werden kann, ohne daß das System zugleich als dysfunktional zu kennzeichnen wäre? Liegt hier etwas anderes vor, als daß der Funktionssinn des sozialen Systems zu einer politischen Norm stilisiert wird, die zwar unmittelbar als Maxime pragmatischer Klugheit einsichtig ist, als Demokratie jedoch nur, wenn die Identität beider gesichert wäre? Aber vielleicht ist einiges gewonnen, wenn man sagen kann, daß politische Klugheit Demokratie bedeutet. Nur bliebe auch dann die Frage, wie Demokratie inhaltlich näher zu bestimmen ist. Bedenkt man etwa, daß das politische System, das nach LUHMANN die Bedingungen seiner relativen Autonomie unabhängig von spezifischen Entscheidungsleistungen sicherstellen muß und zu diesem Zweck Strukturen, Verfahren und Subsysteme ausbildet, so wären in der Konsequenz dieses Gedankens demokratische Institutionen wie politische Wahl, Parteien usw. als Instrumentarien der gesellschaftlichen Machterzeugung und der Autonomiesicherung des politischen Systems zu verstehen. Im Sinne demokratischer Variabilität wäre gefordert, was innerhalb der Systemtheorie ohnehin die Stabilitätsbedingung des politischen Systems ist, daß nämlich auch die Mittel der Autonomiesicherung des politischen Systems variabel zu halten sind. Unbestimmt bliebe der Demokratiebegriff insofern, als die Frage der Zulässigkeit bzw. Nichtzulässigkeit von Variablen offen bleibt. Ein gewisser Sinn läßt sich diesem unbestimmten Demokratiebegriff allenfalls noch abgewinnen durch Bezugnahme auf die von LUHMANN als Negativfolie ständig herangezogene alteuropäische Denktradition. Die rein negativ-dialektische Beziehung LUHMANNS ZU den traditionellen Denkvoraussetzungen, die zurückgewiesen werden unter dem Motto „Verstellung" bzw. „Horizontverengung", läßt die Substitution der traditionellen Prinzipien durch gegenteilige plausibel erscheinen. An die Stelle inhaltlicher Normativität tritt Formalität, an die Stelle der klassischen Institutionenlehre Verfahrenstheoiie; der Hierarchiegedanke wird ersetzt durch den Antagonismus von Teilsystemen, die Idee einer vermittels allgemeiner Vernunftprinzipien zu leistenden Begründung durch die Strategie der Selbstbehauptung einander opponierter Instanzen. In diesem Kontext erscheint Demokratie als Verwirklichung einer neuen Denktradition, in der jene alten Denkformen allesamt negiert sind.

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Fragt man nach der theoretischen Absicherung dieser neuen Denktradition, so scheint eine ähnliche Entgegensetzung vorzuliegen, wie sie LUHMANN in seiner systemtheoretischen Analyse der Begriffe „konservativ" und „progressiv" entwickelt hat, eine Kontrastierung, die er als „politischen Code" versteht ®; es scheint ein binärer Schematismus vorzuliegen, in den die Präferenz eingebaut ist, also eine komplementäre Ergänzung von Typ und Antityp, positiv und negativ, wobei jedoch der Richtungssinn der codeförmigen Schematisierung, die im wesentlichen strategische Zwecke hat, jederzeit bestreitbar bleibt.

Der Gesellschaftsbezug des politischen Systems Einige der Konsequenzen der Abkehr LUHMANNS von den Denkvoraussetzungen der traditionellen Philosophie sollen im folgenden an der in der Systemtheorie durchgeführten Substitution des Staatsbegriffs durch den Begriff des politischen Systems sowie des Begriffs der politischen Repräsentation durch den Begriff der Reflexion deutlich gemacht werden. Das politische Teilsystem wird in der Systemtheorie verstanden als ein Sektor funktionaler Systemdifferenzierung, und zwar im Schema einer vertikalen Koordination aller Teilsysteme. Da das politische System nicht die Hierarchiespitze des Gesamtsystems ist, muß es sich bei den übrigen Teilsystemen der Gesellschaft politischen Kredit verschaffen, indem es Verfahren und Strategien entwickelt, die es ihm ermöglichen, sich gegen spezifische Entscheidungserwartungen weitgehend zu immunisieren und die Erwartungen der Betroffenen umzustrukturieren. Gesamtgesellschaftliche Verbindlichkeit wird rein funktional gedacht als durch Leistung hervorgebracht, wobei das einschlägige Handlungssytem partikulär bestimmt wird. Es ist der Systemtheorie, obwohl sie allgemeinverbindliche Entscheidungen voraussetzen muß, nicht möglich, Allgemeinheit so zu denken, daß politische Regie, die als funktionsfähige die anderen Teilsysteme muß verpflichten können, auch vernünftigerweise als Instanz allgemeiner Belange einsichtig wäre. Während traditionelle politische Theorien wie die ARisroxELische und die hegelsche, in der Lage waren, eine Hierarchie von verschiedenartigen Sozialgebilden zu denken, wobei die jeweilige Hierarchiespitze, die Polis bzw. der Staat, das gemeinsame Telos der übrigen, also einen univer® Vgl. N. Luhmann: Der politische Code. „Konservativ" und „progressiv" in System' theoretischer Sicht. In: Zeitschrift für Politik. 21 (1974), 253—271.

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seilen Sinnhorizont repräsentiert, kann das politische System in der Deutung der Systemtheorie nicht Verkörperung der politischen Repräsentation der Gesellschaft sein, da seine Zuständigkeit für allgemeine Belange allenfalls eine jeweils erkämpfte ist. Das politische System, innerhalb der Gesellschaft stehend, reflektiert auf seine Partikularität, seine Kontingenz, sein Andersseinkönnen, und es reflektiert auf die Reflexionsdefizite, die sich zwangsläufig einstellen. Im Reflexionsbegriff als dem Substitut für den Begriff der Repräsentation ist die Fluktuation der politisch relevant werdenden Themen zum Ausdruck gebracht. Das politische System ist in dem Sinn partikulär, daß es immer Interessen begünstigt und andere benachteiligt, aber aufgrund seiner Offenheit für Alternativen die Nutznießer von heute zu Benachteiligten von morgen machen kann und umgekehrt. Eine Theorie der repräsentativen Demokratie erscheint von diesem Ansatz als unmöglich. Das politische Teilsystem ist nicht Repräsentant, sondern Exponent des gesellschaftlichen Gesamtsystems, mit Steuerungsfunktionen ausgestattet, die es jedoch nur äußerst defizient zu leisten vermag. Da im gesellschaftlichen Kräftespiel praktisch alles zum Politikum werden kann, hat das politische System einen multivariablen Gesellschaftsbezug, und eben diese Multivariabilität könnte in der Konsequenz der Theorie auch durch den Begriff der Demokratie gekennzeichnet werden. Demokratie wäre somit Offenheit des politischen Systems für die gesamtgesellschaftliche Komplexität bei gleichzeitigem Zwang zur Reduktion von Komplexität. Aber wird die Selektionsleistung nicht um so komplizierter, je mehr Komplexität das politische System zuläßt? Muß es nicht immer ein Vielfaches von Möglichkeiten abweisen, verglichen mit den wenigen, die es realisieren kann? Folgt daraus nicht, daß, je demokratischer ein System sich verhält, desto autoritärer seine Entscheidungen ausfallen müssen? — Ist Demokratie in systemtheoretischer Sicht Konfusion, Nivellierung kategorialer Differenzierungen, die die alteuropäische Tradition mit Recht vollzogen hat, und die aufrechtzuerhalten die Aufgabe auch jeder gegenwärtigen politischen Theorie wäre? Hierzu sollen sich im folgenden noch einige Reflexionen anschließen. Das Offenhalten von Alternativen als demokratisches Prinzip

Es stellt sich uns die Frage, ob die Philosophie — die als Organon der Kritik an dem systemtheoretischen Demokratiekonzept immer schon präsent gewesen ist —, auch zu einem systematischen Neuanfang auf dem Gebiet der politischen Theorie, und speziell im Blick auf die Demokratieproble-

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matik, fähig ist, und dies angesichts ihrer Herausforderung durch die soziologische Systemtheorie. Wir können hier nicht ein Altemativkonzept zur Demokratietheorie entwickeln; vielmehr wollen wir uns leiten lassen von der von LUHMANN in den Mittelpunkt seiner Analyse gestellten These, daß Demokratie Offenheit für Alternativen bedeutet. Damit hat sich die Systemtheorie einen demokratietheoretisch wichtigen Topos zueigen gemacht, ihn aber so gefaßt, daß dadurch die Grundlage für eine sinnvolle Demokratietheorie destruiert ist. Wir sind der Ansicht, daß der Mangel der Systemtheorie in Sachen Demokratie eine Funktion ihrer Methode ist, wohingegen die Philosophie über die methodologischen Mittel verfügt, diese Defizienz zu überwinden. Philosophisches Denken vermag Demokratie als die institutioneile Organisation des Staates zu begreifen, durch die nicht etwa die durch Interessenantagonismen gekennzeichnete Gesellschaft repräsentiert wird, sondern ein Allgemeines, das über den Interessengegensätzen steht, und in dessen Richtung der gesellschaftliche Antagonismus aufgesprengt werden muß, soll Gesellschaft nicht ausschließlich als Anarchie gedacht werden. Der hier eingeführte Allgemeinheitsbegriff bezieht sich nicht auf etwas, das empirisch aufweisbar ist, sondern er stellt ein logisches Konstrukt dar, ein Konstrukt, das notwendig ist, um Gesellschaft und politische Regie affirmativ zu begreifen. Damit ist nun allerdings ein normatives Prinzip erfaßt, das auch in die politische Realität als bestimmender Faktor eingegangen ist, nämlich als die der Politik auferlegte Orientierung am allgemeinen Wohl, ein Prinzip, das ja sogar maßgeblich ist für die Bestimmung der Tätigkeitsmerkmale des staatlichen Beamten. Von diesem Ansatz aus wären der demokratisch notwendige Altemativenspielraum der Politik und die Präferenzen innerhalb seiner als von dem Allgemeinwohlkriterium reguliert zu betrachten, und nicht wäre, wie in der Systemtheorie, an einen völlig offenen Horizont von Alternativen und an schlechthin kontingente Entscheidungen zu denken. Soll Demokratie nicht im LuHMANNschen Sinn unterbestimmt werden als ein Mechanismus sukzessiver Repräsentation partikulärer Interessen und eines in die Zeitdimension projizierten Ausgleichs von Chancenungleichheit, dann bleibt die Möglichkeit, Staat und Gesellschaft kategorial zu unterscheiden und Demokratie als die Staatsform zu bestimmen, in der durch periodische Wahl, durch die von den politischen Parteien in der Gesellschaft urgierten Diskussionen über das allgemeine Wohl, durch die Publizität der politischen Zielbestimmungen und durch freie Meinungsäußerung und freie Presse ein Spielraum institutionell sichergestellt ist.

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innerhalb dessen die inhaltliche Definition des allgemeinen Wohls in Grenzen variabel ist, wobei die Grenzen gesetzt werden durch die gewählte Legislative als der Instanz des staatlichen Allgemeinen. Der demokratische Staat wäre so weder verstanden als über der Gesellschaft schwebendes Geistwesen, noch als bloßer Administrator partikulärer Interessen, sondern als Sachwalter allgemeiner Interessen, deren inhaltliche Konkretion durch die Staatsbürger selbst bestimmt wird, allerdings über institutionelle Vermittlungen, durch die eine Partikularisierung der obersten politischen Normen des allgemeinen Wohls weitgehend verhindert wird. Für LUHMANN hat die periodische politische Wahl zwar auch die Funktion, das Offenhalten von Alternativen zu gewährleisten, aber die Perspektive der Systemtheorie zwingt dazu, dieses Verfahren als einen substituierbaren Mechanismus zu verstehen, so daß die allgemeine und freie Wahl in dieser Theorie nicht als für die Demokratie unaufgebbares Verfahrensprinzip begründet werden kann. Die Parteien schließlich sind der partikulären Funktion des politischen Systems parallelgeschaltet, so daß LUHMANN sie als dessen „organisatorisches Substrat" bezeichnet ®. Die Parteilichkeit der Politik erscheint so grundsätzlich gerechtfertigt und im Blick darauf akzeptabel, daß die Nutznießer im Laufe der Zeit ausgetauscht werden können. Wenn im Unterschied dazu der Staat in altmodischer Manier als Sachwalter allgemeiner Interessen und die politischen Parteien als Organe bestimmt werden, die durch konkurrierende Interpretationen des allgemeinen Wohls selbst noch die Unveräußerlichkeit dieses Prinzips bestätigen, so sind diese Begriffe des Staates bzw. der Partei nicht reine Ideengebilde, sondern es sind damit normative Prinzipien gedacht, die auch die äußere politische Realität einer Demokratie prägen. Diese kategorialen Bestimmungen haben daher eine hermeneutische Funktion, ohne die Demokratie auch in ihrer Realgestalt nicht adäquat verstehbar ist. Wenn andererseits in der Systemtheorie die konkret-empirische Partikularität des politischen Systems als solche Normqualität hat, so kommt die die Realität prägende Kraft politischer Normen nur unzureichend in den Blick. Und wenn gar die Reflexion des politischen Systems auf seine eigene Partikularität Maßstab der Politik wird, so wird Politik prinzipiell richtungslos. Die Devise kann dann nur lauten: offen sein für Beliebiges, denn alles ist kontingent und partikulär. Eine Demokratietheorie, die dieses Dilemma vermeidet, wäre nur möglich auf einer Theorieebene, auf der angesichts des in der modernen Industriegesellschaft feststellbaren Antagonismus und Partikularismus ein “ Vgl. N. Luhmann: Der politische Code. 260.

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Allgemeines von politischer Relevanz als das Telos gedacht werden kann, in dem die Partikularitäten zusammengehalten werden. Ein solches Desiderat zu formulieren und als Aufgabe der Philosophie auf den Begriff zu bringen, kann höchstens ein erster Schritt sein. Aber es ist vielleicht deutlich geworden, daß die theoretische Alternative, an die wir denken, und die man vielleicht eine kategoriale Systemtheorie ^ im Unterschied zur funktionalen nennen könnte, nicht im Sinne eines zur soziologischen Systemtheorie im Gegensatz stehenden Codes gedacht worden ist, so daß nur eine Umkehrung der Präferenzregeln und der Reihenfolge von Typ und Antityp, von Relevanzbereich und Negativfolie im Rahmen einer Strategie eines Theorienvergleichs sich ereignen würde, sondern daß eine kategoriale Theorie des Politischen in der Lage ist, vernünftige Gründe darzulegen, durch die die Notwendigkeit einsichtig wird, über die soziologische Systemtheorie hinauszugehen.

^ Vgl. dazu Klaus Hartmann: Systemtheoretische Soziologie und kategoriale Sozialphilosophie. In: Philosophische Perspektiven. 5 (1973), 130—161, bes. 146 ff.

HORST FOLKERS (HEIDELBERG)

DIE LOGIK DER FUNKTION IN GESELLSCHAFTLICHEN VERHÄLTNISSEN I. Gesellschaftstheorie ist, ihrer wichtigsten Bestimmung nach, Selbstinterpretation der Gesellschaft. Ist die Plausibilität einer Interpretation den Erfahrungen zu danken, die in ihr erschlossen werden, so ist ihre Kohärenz und Schlüssigkeit Resultat der in ihr verwendeten Logik. Spezielle Logiken sind Teile der Logik. Unter ihnen ist die Logik der Funktion als ein Sonderfall der Logik der Verhältnisse für die Gesellschaftstheorie konstitutiv. Spezielle Logiken finden ihre Vollendung in einer allgemeinen Logik als der Gesamtheit derjenigen Grundbestimmungen des Denkens, die alle Weltinterpretation verwendet. Interpretation ist ein Vollzug dieser Logik, der die Materialität kontingenter historischer und lokaler Besonderheiten in sich aufnimmt und sie erschließt. In der Gesellschaftstheorie erscheint die Gesellschaft bestimmt gemäß dem Formenreichtum der in ihr verwendeten Logik. Funktionslogik dient der Interpretation von Sachverhalten, in denen Verhältnisweisen bestimmend sind. Ihre Einführung in die Gesellschaftstheorie folgt zunächst der historischen Erfahrung der Freisetzung des Verhältnisses des Menschen zur Natur und der Gleichsetzung der Menschen in ihren Verhältnissen als Personen. Funktionalität wird im Verlauf der historischen Entwicklung dieser Verhältnisse zum Grundmuster der Interpretation gesellschaftlicher Verhältnisse überhaupt. Funktion ist eine asymmetrische Relation. Sie ist eine Relation zwischen einem übergreifenden Bezugspunkt, dessen Identität in analytischer Absicht oder im wirklichen Zeitverlauf erhalten wird oder sich erhält, und übergriffenen Bezugspunkten, die einander als äquivalent substituiert werden. In die Funktionslogik sind die Verhältnisse von Zweck und Mittel, Problem und Lösung, Aufgabe und Erfüllung einbezogen und in ihr spezifisch bestimmt. Der Funktionsbegriff erweitert damit seine analytische Reichweite und wird indifferent gegen den Unterschied von menschlicher und dinglicher (instrumentaler und maschineller) Leistung.

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HORST FOLKERS

Der Zweck hört auf, die Substanz der Handlung zu enthalten, sobald er als Kriterium der Suche nach verschiedenen geeigneten Mitteln fungiert, während umgekehrt die Mittel zum Ausgangspunkt und Motiv der Suche nach äquivalenten Zwecken werden. Bestände fungieren als Probleme, indem sie auf den Gesichtspunkt ihrer Erhaltung in der Zeit reduziert werden. Die Explikation eines Bestandes als Problem impliziert dessen Lösung. Sie besteht in der Fixierung derjenigen funktionalen Äquivalente, die als Momente eines reproduktiven Prozesses die Erhaltung des Bestandes sichern. Die zur Funktion gewordene Aufgabe schließlich erscheint nicht mehr moralisch, ihre Erfüllung nicht als Verdienst. Ihre Verbindlichkeit ist nicht an die Drohung der Selbstverfehlung, sondern an die des Entzugs von Gegenleistungen gebunden. Wer eine Aufgabe als Funktion erfüllt, wird davon entlastet, sich mit ihr zu identifizieren und durch diese Entlastung daran gehindert, in ihrer Erfüllung sich wiederzufinden. II. Funktionen sind in gesellschaftlichen Gebilden wirksam, am anschaulichsten als Bestimmungen der Organisation. Die Organisation ist diejenige gesellschaftliche Totalität, in der sich prototypisch Funktionslogik entfaltet. Der Funktionszusammenhang einer Organisation erscheint als Struktur, insofern Verhältnisse und Einheit seiner Elemente unter Abstraktion ihrer Wirksamkeit in der Zeit betrachtet werden. Als Elemente der Organisation fungieren Stellen und Programme, die in Hinblick auf die Erledigung von Aufgaben definiert sind. Ihre bestimmte Abgrenzung gegeneinander, ihre ausdrückliche Verweisung aufeinander und die Fixierung ihres Ortes im Ganzen der Organisation konstituieren den hohen Ordnungsgehalt der Organisation. Er ermöglicht die Leichtigkeit und Sicherheit der Orientierung von Handlungsabläufen und ist damit objektiver Bestimmungsgrund für die Leistungsfähigkeit der Organisation. Subjektiver Bestimmungsgrund ist die Trennung von Handlungszweck und -motiv der Organisationsmitglieder. Aufgaben stellen zwar Handlungszwecke für Stelleninhaber dar, sind jedoch davon entlastet, zugleich Motive ihrer Erfüllung mitzuliefern; als Motiv gilt vielmehr eine gegenüber dem Handlungszweck gleichgültige Gratifikation für die Leistung in der Organisation. Diese Trennung von Motiv und Zweck ist an die Freiwilligkeit der Mitgliedschaft in Organisationen gebunden. Der im Verweisungszusammenhang von Elementen und Abläufen sich darstellende Ordnungsgehalt der Organisation bestimmt ebenso ihre Einheit wie ihre Grenze gegenüber der Umwelt. Der Funktionszusammenhang einer Organisation erscheint als Prozeß, insofern seine Reproduktion betrachtet, also seine Struktur als Pro-

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blem expliziert wird. Der Prozeß funktioniert als Erhaltung der Identität der Struktur in der Kontinuierung äquivalenter interner und externer Leistungen, also Aufgabenerfüllung im Innenverhältnis und Austausch von Leistungen gegen bestandsichernde Ressourcen im Verhältnis zur Umwelt. Die allgemeinste Bestimmung der Organisation, ein Funktionszusammenhang als Struktur eines Reproduktionsprozesses, dessen Ordnungsgehalt eine Grenze zur Umwelt festlegt, läßt sich analytisch von der Organisation als ihrem Erfahrungssubstrat ablösen und als Bestimmungsraster aller gesellschaftlichen Totalitäten verwenden, die damit als soziale Systeme analysiert werden. In Systemanalysen treten diejenigen Momente gesellschaftlicher Zusammenhänge hervor, die in Organisationen dominieren, in ihnen regiert die Funktionslogik. In systemanalytischer Perspektive erscheint die Gesellschaft zugleich als Zusammenhang reproduktionsbedürftiger Strukturen und als Feld möglicher und notwendiger Innovationen. Iimovationen vollziehen sich in einer Leistungssubstitution, in der nicht einfach alte durch neue, vielmehr durch solche Funktionsträger ersetzt werden, deren funktionale Äquivalenz mit den ersetzten die Möglichkeit bietet, weitere Gesichtspunkte ihrer Leistung unter Vernachlässigung ihrer substantiellen Verschiedenheit zu definieren. Bestandserhaltung und Innovation, obwohl gegensätzliche Momente gesellschaftlicher Reproduktion, sind zugleich notwendig übergreifende wie übergriffene Bezugspunkte gesellschaftlicher Analysen und Leistungen. Erscheint hier die Bestandserhaltung als Bedingung der Innovation, so dort die Innovation als Bedingung der Bestandserhaltung. Der Wechsel des funktionalen Primats zwischen Innovation und Bestandserhaltung wird zum zentralen gesellschaftlichen Steuerungsproblem, das der Plan als abstrakte Macht über die Zukunft zu lösen oder zumindest darzustellen verspricht. Der politischen Legitimation des Planes dient eine Interpretation von Bestandserhaltung und Innovation, die sie als funktionale Äquivalente erscheinen läßt. Gesellschaftliche Herrschaft zieht sich in funktionale Postulate zurück, wo sie unsichtbar bleibt, solange sie nicht in der Asymmetrie der Funktion erneut aufgespürt wird. Funktionale Postulate sind in Programmen und Stellen konkretisiert, die Definitionsmacht an Personen zuweisen. Der Definitionsmacht entspricht die Definitionsunterworfenheit gesellschaftlicher Leistungen anderer Personen. Die Asymmetrie der Funktion — also das Verhältnis eines übergreifenden, abstrakt identischen Bezugspuirktes zu übergriffenen, variablen und ersetzbaren Momenten — tritt in der Fixierung der Trennung von Problemstellung und Problemlösung zutage. Indem die als Problemlösungen eingesetzten Leistungen einen Zusammen-

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hang nur in der ununterbrochenen Folge ihrer Ersetzung bilden, verharren sie zugleich in vermittlungsloser Abstraktheit gegenüber der Problemstellung und erneuern und bestätigen so das gesamte funktionale Verhältnis. Haben die Leistungen ihre Identität nur in der Ersetzbarkeit, so die Problemstellungen in der gleichgültigen Übermacht über jede einzelne Leistung und der Angewiesenheit auf ihre Folge. III. Funktionslogik thematisiert die Struktur einer Geschichte, die der Versäumniszusammenhang in der Realisierung der Freiheit ist. Die Verwendung der Funktionslogik in der Gesellschaftstheorie wird ermöglicht durch den Prozeß der Kapitalisierung der Welt und der wissenschaftlich-technisch-industriellen Revolution, dessen Vorschein und Umrisse die Theorie der Subjektivität im deutschen Idealismus besonders Hegels enthält. Thema dieser Theorie ist die Selbstermächtigung des Menschen zum Subjekt, deren Konsequenzen das Kapital als „übergreifendes Subjekt" des historischen Prozesses vollstreckt. ^ In der Vernichtung des Reichtums der Substanzen, in welcher sich die Bewegung des Subjekts realisiert, erfährt das Subjekt seine Freiheit und genießt sie, indem es seine Übermacht über die Substanzen fixiert: Es setzt die Substanzen zu Lösungen herab und sich zum Problem herauf, das heißt, es funktionalisiert sich mit ihnen. ^ Über die Aussichten seiner Freiheit und ihrer Resultate vergewissert sich das Subjekt in Interpretationen, die utopisch sind, indem sie die mög* Vgl. dazu Karl Marx: Das Kapital (Marx/Engels: Werke. Bd 23. 169), wo Marx auf der Ebene des einfachen Kapitalverhältnisses den Wert, der sich zum Kapital konstituiert, „übergreifendes Subjekt" nennt. Vorbereitet wird diese Bestimmung durch die Formulierung; „Er [sc. der Wert] geht beständig aus der einen Form in die andere über, ohne sich in dieser Bewegung zu verlieren, und verwandelt sich so in ein automatisches Subjekt" (ebd. 168 f). 2 Substanz ist das selbständig aus eigenen Gründen Bestehende. Zu den Substanzen zählen das allein durch Überlieferung gerechtfertigte Dasein der Institutionen und das dem aufschließenden Handeln des Menschen zuvorkommende und es umgreifende Dasein der Natur. Die Frage des sich entdeckenden Subjekts an die Substanzen ist die nach der Legitimität ihrer „eigenen Gründe" und die Antwort, die sich das Subjekt selbst gibt, lautet, daß nur in ihm, dem Subjekt, der legitime Grund für selbständig Bestehendes liegen kann. Während Hegel noch mit der Aufklärung die Selbstentdeckung des Subjekts feiert, z. B. in der Hochschätzung des „Prinzips der Erfahrung, das die unendlich wichtige Bestimmung enthält, daß für das Annehmen und Fürwahrhalten eines Inhalts der Mensch selbst dabeisein müsse" (Enzyklopädie § 7), blickt Foucauli, das Subjekt und seine abstrakten Herzensschreie verabschiedend, skeptisch auf die Resultate des „allgemeinen Verhältnisses, das vor fast zweihundert Jahren der Mensch des Okzidents zu sich selbst hergestellt hat, . .. durch welches der Mensch sein Verhältnis zur Wahrheit ersetzt hat, indem er diese in das grundlegende Postulat entfremdete: er selbst sei die Wahrheit der Wahrheit." (Michel Foucault: Psychologie und Geisteskrankheit. Frankfurt 1968. 131.)

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liehe Freiheit von ihren bisherigen Resultaten trennen, ideologisch, indem sie die Resultate der Freiheit als ihre Verwirklichung ausgeben und kritisch, insofern sie bloße Möglichkeit und reine Rechtfertigung durch Reflexion am Maß des Wirklichen begrenzen. Die wichtigsten Produktionsstätten dieser Interpretationen sind heute in Wissenschaft und Forschung institutionalisiert. Freiheit, die sich ihrer selbst als praktischer Macht in der Fähigkeit zum Neuen gewiß wird, tritt dem Subjekt in den neuen, erneuerungsfähigen und daher stets erneuenmgsbedürftigen Einrichtungen seiner Gesellschaft entgegen. Im Vertrauen auf die Macht dieser Freiheit kann es behaupten: Stat pro ratione libertas et novitas pro libertate. ® Aber der Fortschritt, in dem sich die Neuheit der Freiheit substituiert als deren verfehlte Vollendung, ist nicht nur die welthistorisch auftretende praktische Macht und Legitimität der Erneuerung des Neuen, er ist zugleich die Ohnmacht der Freiheit im Sog der selbstgewählten Emeuenmgsbedürftigkeit. Die Grenzen des Fortschritts thematisieren auch seine Vergangenheit, die von ihm verlassene Wirklichkeit und die in ihr verfehlten Möglichkeiten. So erzeugen die Revolutionen des Subjekts ein „Übermaß des Reichtums" und werden doch „nicht reich genug", der Verarmung des Menschen zu steuern. * Die Funktionslogik kann als relativ selbständiger Teil der Logik der Sozialwissenschaften ausgearbeitet werden. Die Logik als selbstbewußter Zusammenhang der Grundbestimmungen des Denkens ist ein Kanon der Freiheit für die Selbstbestimmung des Menschen. Die hegelsche Logik 1.

* Mit dieser Formel schließt Carl Schmitt das Nachwort zu seiner Politischen Theologie II (Berlin 1970. 126), das Distanz zu Blumenbergs Legitimität der Neuzeit sucht, indem es den Zusammenhang von Legitimität und Selbstbehauptung des neuzeitlichen Subjekts probeweise zur These von der Neuzeit als eines rechtfertigungsfreien Selbsterneuerungsprozesses zuspitzt. * In Abwandlung einer Formulierung Hegels in der Rechtsphilosophie (§ 245), der bereits den Selbstwiderspruch kapitalistischer Produktionsweise kennt: „Es kommt hierin zum Vorschein, daß bei dem Übermaße des Reichtums die bürgerliche Gesellschaft nicht reich genug ist, das heißt, an dem ihr eigentümlichen Vermögen nicht genug besitzt, dem Übermaße der Armut und der Erzeugung des Pöbels zu steuern." Daß es dieser Reichtum ist, der diese Armut erzeugt, zeigt Marx in der Analyse der kapitalistischen Akkumulation, die zu dem Resultat kommt: „Je größer der gesellschaftliche Reichtum . . . desto größer die industrielle Reservearmee . . . desto größer der offizielle Pauperismus. Dies ist das absolute, allgemeine Gesetz der kapitalistischen Akkumulation." (Marx/Engels: Werke. 23. 673 f). Doch auch im beschränkteren Zusammenhang des Fabrikwesens läßt sich ein analoges Gesetz nachweisen: „In der Manufaktur ist die Bereicherung des Gesamtarbeiters und daher des Kapitals an gesellschaftlicher Produktivkraft bedingt durch die Verarmung des Arbeiters an individuellen Produktivkräften." (Ebd. 383)

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kann verstanden werden als die konkreteste Gestalt der Possibilisierung der Wirklichkeit, in der alle Bestände im Lichte ihrer immanenten Möglichkeiten so thematisiert werden, daß ihre Vereinbarkeit erhalten bleibt. Aber sie ist für uns brauchbar nur als Horizont spezieller Logiken, nachdem die Voraussetzung Hegels, daß Wissenschaft „die Versöhnung der selbstbewußten Vernunft mit der seienden Vernunft, mit der Wirklichkeit" ® hervorbringe, dem Denken nicht mehr zuzumuten ist. Die „seiende Vernunft" des Sozialen ist immer fixiert in selbständigen Bestimmtheiten. Diese sind zwar praktisch kontingent, d. h. in der Form der Änderbarkeit gesetzt, aber gegenüber der Flüssigkeit des Begriffs halten sie ihren Bestand fest als konkrete Beschränkung der Freiheit. Die Subjektivität des Begriffs hat sich historisch vor allem als Eigentum realisiert, das sich als Kapital die Arbeit formell subsumiert und als reelles Kapital sich durch Organisation und Maschinerie die Arbeit reell subsumiert. Subjektivität fixiert sich damit in der Trennung von Zweck und Mittel, Problem und Lösung. Die gesellschaftstheoretische Reflexion der Gestalten, Voraussetzungen und Wirkungen dieser Fixierungen erweist die Notwendigkeit einer gegenstandsbezogenen Logik, die ihre Bestimmungen mit Rücksicht auf ihren spezifisch beschränkten Erfahrungskontext entfaltet. 2. Die Entwicklung einer Logik als Erfordernis der Gesellschaftstheorie ist ein Hinweis auf eine Veränderung im Verhältnis Philosophie und Gesellschaftstheorie, in deren Folge die Gesellsdiaftstheorie Funktionen der Philosophie übernimmt. Philosophie verstand sich selbst als umfassendste Form der Welt- und Selbstauslegimg des Menschen tmd war damit schon gesellschaftlichen Funktionen enthoben. Der Fortschritt der Philosophie, der sich vollzog in der analytischen Philosophie, die den Reichtum der historischen Bestände nicht mehr erreicht, und in der archivarischen Philosophie, die im tradierten Reichtum das Moment seiner Gegenwärtigkeit nicht mehr trifft, vernichtete dieses Selbstverständnis und enthüllte damit die Funktionslosigkeit der Philosophie in einer Wirklichkeit, in der auch die umfassende Weltorientierung noch als Funktion gilt. Indem der Fortschritt der Philosophie deren Stellung zur Wirklichkeit zu verändern meinte, hat sich die Wirklichkeit ihr entzogen, indem sie zu dem wurde, was sie der Philosophie als Wissenschaft gemäß sein soll: vernünftige Wirklichkeit, wenn auch vernünftig, ohne die Hoffnung der Vermmft auf Versöhnung zu erfüllen. Wenn die Philosophie ihre absolute Gestalt hat in der Macht des übergrei®

Enzyklopädie.

§ 6.

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fenden Begriffs, so ist in der Gesellschaft der Gegenwart die Welt philosophisch geworden, indem die Gesellschaft zum Zentrum der Welt und die Wissenschaft zum bestimmenden Moment der gesellschaftlichen Selbstreproduktion geworden ist: In der Naturauseinandersetzung als Tedmik, in der gesellschaftlichen Evolution als Organisation und im öffentlichen Bewußtsein als Element und Medium möglicher Konsensprozesse. In dieser Gesellschaft, deren evolutionäres Zentrum Organisation und die Organisierbarkeit gesellschaftlicher Verhältnisse sind, nimmt die Sozialwissenschaft den zugleich praktischen und theoretischen Ort der Organisation dieses Zentrums ein. Das tut sie als Praxis in der unmittelbaren Einrichtung von Organisationen in Wirtschaft und Politik, als Planung in der sozial- und politikberatenden Vermittlung politischer und administrativer Entscheidungen und als Theorie in der Reflexion dieser Verhältnisse. Der Sog der Macht dieses regulativen Zentrums läßt die Technik zum Agenten sozialer Vollzüge herabsinken und den Kontingenzraum möglicher (und eventuell auch konsensfähiger) Selbst- und Weltauslegung in die Regie der Gesellschaftstheorie nehmen. So wirkt sie als Ökologisierung der Naturwissenschaft und Technik humanisierend, als Regulierung und Organisation möglicher Konsense gesellschaftlicher Individuen auch dehumanisierend. Indem sie an den Potentialen menschlicher Selbstverständigung deren funktionslogische Reduktion vornimmt, erscheint der Mensch bedürftig der Entlastung von gesellschaftlicher Komplexität, deren kontingenter Ursprung er selber ist. Es ist diese Verwirklichung der Philosophie, die sie an die Peripherie drängt und die Gesellschaftstheorie in die Position der Mitte bringt. Damit obliegt der Gesellschaftstheorie die Auslegung der Freiheit als Horizont gesellschaftlich möglicher Entwicklung. Die Unergiebigkeit ihrer bisherigen Anstrengungen, die Gestalten des absoluten Geistes, Religion, Kunst, Wissenschaft, als Formationen ihres Gegenstandes Gesellschaft herzuleiten, zeigt jedoch ihre Überforderung durch diese Aufgabe. Die Gesellschaftstheorie müßte die Gehalte der Philosophie in sich aufnehmen und d. h. sich im Horizont geschichtlichen Bewußtseins ansichtig werden, wenn sie der Gefahr entgehen will, die Gesellschaft als die vermittelnde Mitte zum Ganzen zu hypostasieren und damit zugleich alles Individuelle als Beliebigkeit außer sich zu setzen. Erst die Philosophie, die diese Defizite erkennt und ihre Kompensation sich zur Aufgabe macht, könnte der Gesellschaftstheorie das Bewußtsein geben, daß die von ihr besetzte Mitte sich zugleich als Mittel erfassen

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muß, das sein Ziel außer sich hat. ® Unüberholbar hat ARISTOTELES die notwendige Selbstübersteigung der Gesellschaft, in der zugleich der Anspruch des Lebens des Einzelnen sich geltend macht, so aufgefaßt, daß die Polis zwar wegen des Überlebens entstanden ist, aber um des vollkommenen Lebens willen existiert. 3. Die Macht der gesellschaftlichen Fimktionen vollzieht sich in der Realisierung von Aktionspotentialen, in denen gegenständlich gewordene Abstraktionen der Formelemente von Organisation und Technik institutionalisiert sind — gesellschaftlich allgemein zugängliche und zugleich allgemein erforderte Schemata möglicher Handlungen. Die wichtigsten Formen dieser Aktionspotentiale sind das Abstraktionspotential, das Verfügungspotential und das Entlastungspotential. Das Abstraktionspotential wird wirksam als unbegrenzbare Möglichkeit des Perspektivenwechsels der wissenschaftlichen, technischen und organisatorischen Arbeit, die eine relative Gleichgültigkeit gegen die Perspektivität (und das heißt Abstraktheit) der jeweiligen Erkenntnis und gegen den mangelnden Zusammenhang der Perspektiven voraussetzt und hervorbringt. Diese Gleichgültigkeit hat die Bedingung ihrer Möglichkeit in der Sicherheit der in Organisationen wirklich gewordenen Abstraktionen, eine Sicherheit, die vorhält, soweit die organisatorischen Subsistenzgarantien reichen und ihre Gratifikationen den gleichfalls abstrakter werdenden Erwartungen entsprechen. Das Verfügungspotential wird wirksam als Praxis der Abstraktion. ® Abstrahierte Verhältnisse realisieren jeweils für sich und rücksichtslos gegeneinander ihre leistungsspezifischen Besonderheiten; die Planung der Koordination ist die Gegenabstraktion, die den Zusammenhang der voneinander abstrahierten Verhältnisse herstellen soll — dessen Wirklichkeit ® Dagegen formuliert Luhmann, daß erst mit der Historisierung der Zeit durch Ablösung eines linear-teleologischen Zukunftsverständnisses es sich lohne, eine Geschichte zu haben, weil sie „Bedingungen der Möglichkeit definiert, aber kein Ziel hat." (Niklas Luhmann: Weltzeit und Systemgeschichte. In: Peter Christian Ludz (Hg): Soziologie und Sozialgesdiichte (Sonderheft 16 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie). Opladen 1972. 105; wieder abgedruckt in: Luhmann: Soziologische Aufklärung 2. Opladen 1975. 124. 7 Politik. 1252 b 29—30. * Für Marx ist das in der großen Industrie sich realisierende Verfügungspotential Grundlage der Abstraktionspotentiale: „Die große Industrie zerriß den Schleier, der den Menschen ihren eignen gesellschaftlichen Produktionsprozeß versteckte ... Ihr Prinzip, jeden Produktionsprozeß, an und für sich und zunächst ohne alle Rücksicht auf die menschliche Hand, in seine konstituierenden Elemente aufzulösen, schuf die ganze moderne Wissenschaft der Technologie." (MarxlEngels: Werke. Bd 23. 510)

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sich erst in der Krise zeigt und dessen Antizipation das Thema der Kritik, vor allem der Kritik der Planung, ist. Abstraktion und Verfügung überfordem das Subjekt nicht nur, indem sie es partialisieren, sie kommen ihm auch als Entlastung zugute, indem sie es von der Gesellschaft entfernen. ® Entlastungspotentiale werden wirksam in der wachsenden Legitimität der Indifferenz gegenüber gesellschaftlichen Ereignissen und als Freilassung der Emotionalität von den Zwängen gesellschaftlicher Reproduktion in ein Reich unkontrollierten Nurfürsichseins. Von Arbeit getrennte Interaktionen bilden ein Feld beliebiger Projektionen. Aber diese Beliebigkeit hat Grenzen wie die Indifferenz. Der sich ausbreitenden Indifferenz gegen das gesellschaftlich Richtige entspricht die wachsende Intoleranz gegen das Bestehende. Indifferenz und anarchische Gewalt sind zwei Formen abstrakter Negation der Gesellschaft, die das Individuum vorfindet. 4. Wenn auch in denjenigen lebensgeschichtlichen Hoffnungen ein gesellschaftliches Moment enthalten ist, die die einen veranlassen, in Stammheim zu sitzen, andere, sich in psychiatrischen Kliniken zu hospitalisieren und wieder andere, Philosophen zu werden, dann ist dieses Moment nicht mit der Logik der Funktion zu erhellen. In jenen Hoffnungen werden gesellschaftlich ermöglichte und bestimmte, wermgleich individuell vollzogene Deutungen eines guten Lebens wirksam, die sich nicht aus den Forderungen der Funktionen ableiten, sondern nur als Vorschein von Manifestationen der Erfüllung erfassen lassen. Die älteste und jüngste dieser Manifestationen im Bereich des Sozialen ist das Glück, dem kein Funktionalismus nehmen kann, daß es außer allem Verhältnis ist. Glück enthebt den Menschen im Beisichsein der Angst, die anderen zu verlieren und im Au• Den Zusammenhang von Entlastung, Abstraktion und Verfügung bedenkt der Mann ohne Eigenschaften, für den der Geist Urheber und Reflexionsmedium der Funktionslogik ist. „Der Geist hat erfahren, daß Schönheit gut, schlecht, dumm oder bezaubernd macht. ... Er bringt durcheinander, löst auf und hängt neu zusammen. Gut und bös, oben und unten sind für ihn nicht skeptisch-relative Vorstellungen, wohl aber Glieder einer Funktion, Werte, die von dem Zusammenhang abhängen, in dem sie sich befinden. ... Er anerkennt nichts Unerlaubtes und nichts Erlaubtes, denn alles kann eine Eigenschaft haben, durch die es eines Tages teilhat an einem großen neuen Zusammenhang. ... Er hält kein Ding für fest, kein Ich, keine Ordnung; ... So ist der Geist der große Jenachdem-Macher, aber er selbst ist nirgends zu fassen und fast könnte man glauben, daß von seiner Wirkung nichts als Zerfall übrig bleibe. Jeder Fortschritt ist ein Gewirm im Einzelnen und eine Trennung im Ganzen; es ist das ein Zuwachs an Macht, der in einen fortschreitenden Zuwachs an Ohnmacht mündet, und man kann nicht davon lassen." {Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, Hamburg 1952. 153 f)

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ßersichsein der Angst, sich selbst zu verlieren und in beiden der mühsamen Arbeit der Identität. Im Glück wird dem Menschen ein Bereich eröffnet, in dem die Funktionalität, ja Verhältnisförmigkeit von Gesellschaft zurückgelassen ist; es ist die Intensität des Glücks, die das Urteil spricht über gelungene oder mißlimgene Gesellschaftlichkeit — aber freilich spricht zugleich die Gesellschaft dem Glück das Urteil und weist ihm eine außer- und untergesellschaftliche Existenz in beliebiger Privatheit zu; Glück ist in Winkeln angesiedelt, dem Spott der Wissenden und dem berechtigten Verdacht der Aufklärer ausgesetzt. So ist das Glück zugleich über die Gesellschaft hinaus und hinter ihr zurück. Es ist die Ohnmacht der Funktion, das Glück in dies zweifache Jenseits der Gesellschaft vertrieben und es um sein bestes Teil, die Gemeinschaft mit den anderen, gebracht zu haben. Allein die Hoffnung bleibt als Stell Vertreterin der Allgemeinheit des Glücksanspruchs eines Jeden, sie setzt der Fimktion ihr Maß und Ziel. Wenn Sozialität sich mit Hilfe gesellschaftlicher Funktionszusammenhänge aufbaut, nur indem sie in deren Konstruktion immer zugleich — und immer versteckter? — Angebote des Glücks macht, so ist damit ein Moment von Sozialität bezeichnet, dem der Funktionalismus nicht gewachsen ist und das in dem Reichtum seiner Bestimmungen maskenhaft erstarrt erscheint.

In dem hier dargestellten Zusammenhang von Macht und Ohnmacht wird den gesellschaftlichen Funktionen ihr Anspruch zugestanden, mit ihren Leistungen den Bestand und die kontinuierliche Entwicklung der Gesellschaft dauerhaft zu gewährleisten, gerade indem sie das Individuelle außer sich setzen, welches sich dann in seinem eigenen Anspruch nur ungesellschaftlich, das heißt, ohnmächtig, kaum mehr real darstellt. Beschränken ließe sich dieser Anspruch möglicherweise in einer ökologischen Theorie der Naturauseinandersetzung. Sie könnte die Kritik — oder Selbstkritik — des Funktionalismus vorbereiten, die damit ernst macht, daß die Erzeugung von Funktionen zugleich Dysfunktionen, die Erzeugung von Gleichgültigkeit gegen die Inhalte zugleich Angewiesenheit auf die Formen, die Erzeugung der Technik zugleich Terror erzeugt.

FRIEDHELM SCHNEIDER (LÜBECK)

FUNKTIONALISMUS UND DIALEKTIK Die Aufmerksamkeit dieses Referates gilt den Methoden der systemtheoretischen Soziologie NIKLAS LUHMANNS und der kategorialen Sozialphilosophie Hegels, und näher dann der Prüfung ihres Anspruchs auf eine rationale systematische Theorie des Sozialen. Funktionalistisch, bzw. dialektisch, soll soziale Bestimmtheit verständlich werden können, und zwar hier wie dort durch den Bezug auf etwas, das ihre Rationalität sicherstellt und — methodologisch dann — durch ein begriffliches Instrumentarium, das die Rekonstruktion dieser Rationalität gestattet. Sinn — so LUHMANN — ist artikulierbar in der Bezogenheit von System und Umwelt aufeinander und die konkrete Allgemeinheit sozialer Gebilde bei Hegel begreifbar als Fazit einer Auseinandersetzung von Freiheit und Wirklichkeit, Einheit und Pluralität. Sowohl der Funktionalismus als auch die Dialektik deuten dabei diesen Gedanken der Beziehung von Bestimmtheit auf einen Grund ihrer Rationalität durch das Denkmittel der Negation. Bestimmte Negation und unbestimmte Negativität Verfolgen wir zunächst ein Stück den Weg der Dialektik in der Entfaltung dieses Ansatzes! — Die Dialektik läßt sich in einem ersten Zugriff als Deutung von Bestimmtheit durch den Gedanken der Limitation verstehen: etwas ist, was es ist, hat seine Bestimmtheit dadurch, daß es bestimmtes anderes nicht ist; etwas hat eine Grenze gegen anderes, weist anderes ab, negiert es und hat darin seine eigene Bestimmtheit, ist es selbst innerhalb der Grenze. Aber als solche Limitation und einfache Negation ist Bestimmtheit noch nicht zureichend verstanden. Die Opposition zu einem bestimmten anderen ist ja nie nur Konfrontation mit einem Fremden, sondern Relation auf dem Grund der eigenen Bestimmtheit. Etwas ist ja es selbst durch diesen Bezug auf anderes, das darum nicht nur in einfacher Negation abgewiesen werden darf. Es bliebe hier noch gewissermaßen das logische Desiderat einer Kontinuität und Kongenialität von Bestimmtheit und Be-

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Stimmungsgrund. Um diese Rationalität von Bestimmtheit sicherzustellen, schreitet die Dialektik fort zu einer die Opposita umfassenden Einheit, zu einer reicheren, konkreteren Bestimmung, in der das Vorangegangene Moment ist. ^ Die bestimmte Negation entwickelt so die Logik der Limitation fort zu einer Logik der Amplifikation des Konkreten im konkreten Allgemeinen. Der Antagonismus von Ansichsein und Seinfüranderes wäre hier geschlichtet in einer Einheit vom Typ des Fürsichseins, in der Bestimmtheit und Bestimmungsgrund nicht mehr disparat sind, in der vielmehr Bestimmtheit als Anverwandlung und Inklusion eines Oppositums verstanden werden kann, Dies will sagen: die Dialektik versteht Bestimmtheit als eine teleologische Einheit, in der die Antezedentien erst logisch kohärent begründet werden können als Momente. Sie wäre eine Interpretation von Bestimmtheiten hin auf Rationalität und Affirmativität, ein Arrangement von Begriffen zu einem Begründungszusammenhang, in dem bestimmte Inhalte durch Negation und Negation der Negation apriorisch artikulierbar sind. — Wir müssen es uns hier versagen, auf die sachlichen Weiterungen dieser Logik einzugehen. Aber so viel liegt für eine dialektische Theorie des Sozialen auf der Hand: ihre Rationalität gestattet es, unter weitgehender inhaltlicher Konkretion den Eigensinn sozialer Gebilde zu exponieren, die Bezogenheit sozialer Sinne aufeinander systematisch zu entfalten und zugleich das Anerkanntsein sozialer Systeme durch ihre Konstituenten zu begründen. Auch der Funktionalismus dient wie die Dialektik einer Rationalisierung sozialer Bestimmtheit, d. h. er ist die Methode, sich der Rationalität von Systemen in einer Theorie zu versichern. Aber die funktionalistische Negation ist nicht einfach — dem Gedanken der Limitation folgend — Exposition eines Begründungszusammenhanges von Bestimmtheiten, nicht bloßes Denkmittel, dessen sich eine Theorie frei bedienen kann, um — wie Hegel dies tut — eine rationale Abfolge von Begriffen zu konstruieren, sie ist vielmehr immer auch Reflex einer Erfahrung des Negativen, die von LUHMANN zunächst als Kritik an positivistischen Theorien des Sozialen expliziert wird. ^ Solche Theorien versuchen. Soziales kausal zu erfassen, gegebene soziale Leistungen, Normen, Rollen und Institutionen als Wirkungen einer Ursache zu bestimmen, und sie versuchen, invariante Beziehungen zwischen bestimmten Ursachen und bestimmten Wirkungen 1 Vgl. G. tV. F. Hegel: Wissenschaft der Logik. Hrsg, von G. Lassen. Leipzig 1951. Bd 1. 6 f. * Vgl. N. Luhmann: Funktion und Kausalität. In: Soziologische Aufklärung. Opladen 1971. 13.

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festzustellen. ® Aber solche Theorien stehen vor dem Dilemma, andere Möglichkeiten — wie es doch nötig wäre — nicht mit Sicherheit ausschließen zu können: eine Wirkung mag zwar eine bestimmte Ursache haben, aber es läßt sich nicht abweisen, daß eine andere Ursache die gleiche Wirkung haben könnte, und ebenso gilt umgekehrt, daß eine solche Theorie nicht alle möglichen Nebenwirkungen einer Ursache miterfassen kann. Das theoretische Defizit des Positivismus legt LUHMANN an seinem Gedanken der Komplexität der Welt aus: die Ursache einer Wirkung könnte auch nicht sein, und statt ihrer eine andere, oder — allgemeiner gefaßt —: was ist, könnte auch nicht sein, und statt seiner ein anderes. „Die funktionalistische Methode soll gerade die Feststellung begründen, daß etwas sein und auch nicht sein kann, daß etwas ersetzbar ist." ^ Mit dieser Erfahrung unbestimmter Negativität ist jetzt nicht mehr nur die Schwäche einer Kausaltheorie des Sozialen angesprochen, sondern gewissermaßen objektivontologisch die kontingente Verfassung der Welt. Und diese Erfahrung des Negativen ist nun für LUHMANN Anlaß, von einer positivistischen Theorie fortzuschreiten zu einer Theorie, die die Erfahrung des Negativen methodisch als Negation in sich einbezieht. Es wäre dies eine Theorie, die nicht mehr auf das kausale Erklären und die Prognose sozialen Geschehens aus ist, sondern auf ein funktionales Verstehen und die Diagnose sozialer Bestimmtheit. „Nicht Voraussage und Erklärung, sondern Information über Reduktion von Komplexität wäre dann das Thema theoretischer Interpretation empirischer Daten." ® Etwas soll jetzt — in einer gewissen Affinität zum Gedanken der Limitation — verständlich werden als solches, was in bezug auf anderes steht, das an seine Stelle treten könnte. Was ist, ist auch anders möglich. Seiendes ist bezogen auf andere Möglichkeiten — darin können wir eine erste Charakterisierung des Funktionalismus sehen. Sinn und Tungibilität Man sieht jedoch sogleich, daß der Funktionalismus — definiert durch eine solche unbestimmte Negativität — hier erst Ausdruck der Weltkomplexität ist, noch nicht Methode einer Theorie von Bestimmtheiten, in denen diese Komplexität reduziert ist. Unbestimmte Negation — überflüssig, dies ä Ebd. * Ebd. 15. ® Luhmann: Die Praxis der Theorie. In; Soziologische Aufklärung. 261.

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ZU sagen — kann nicht für Bestimmtheit aufkommen, man wird schwerlich einsehen können, daß etwas ist, was es ist, dadurch, daß es auch nicht sein könnte und statt seiner irgendein — aber kein bestimmtes — anderes, d. h., wenn man so will, der Funktionalismus in diesem Verständnis konfrontiert alles mit dem Grund seiner Kontingenz und Unbestimmtheit — daß es nämlich durch alles ersetzbar ist —, nicht aber, wie die Dialektik, mit dem Grund seiner Bestimmtheit, ein anderes für ein bestimmtes anderes zu sein. Der Funktionalismus in dieser ersten Bedeutungsnuance einer universellen Variabilität und Ersetzbarkeit von allem durch alles ist so sinnlos wie die Welt. Soll er sinnvoll sein und Methode einer Theorie sozialen Sinns werden, so muß Bestimmtheit zu ihm hinzutreten, gewissermaßen eine bestimmte Negation. Hier nun bietet sich der Gedanke des Systems an: „Denn ohne Systeme gäbe es allenfalls völlig imbestimmte Komplexität, die nichts ausschließt und alles gleich möglich sein läßt; nicht aber jenes Problem strukturierter Komplexität, das uns beschäftigt." ® Oder, wie es auch heißt: „Möglichkeiten setzen als Bedingung der Möglichkeit Systembildungen voraus." ^ Das System ist Reduktion von Komplexität, Bestimmung des Unbestimmten per Negation, per bestimmter Negation, d. h. — wenn man so will — Negation dessen, was sein könnte, durch etwas, das ist und designiert wird, nicht durch etwas, das auch sein könnte. Damit ist ein zweites Moment im Begriff des Funktionalismus bezeichnet: Systeme sind interpretierend und bestimmend auf die Komplexität der Welt bezogen, Funktionalismus ist bestimmte Negation. Die unbestimmte Negativität — als Ausdruck von Komplexität — bekommt Sinn erst durch die bestimmte Negation eines Systems. Man sieht: Der Funktionalismus kann sinnvolle Methode nur sein für die Systemtheorie, oder — um es präziser zu sagen — er funktioniert nur vermittels der Sinnvorgabe eines bestimmten Systems. Etwas wäre jetzt nicht mehr auf alles andere als auf solches, das an seine Stelle treten könnte, bezogen, sondern — interpretiert von einem System — auf bestimmtes anderes, zu dem es unter einem systemeigenen Gesichtspunkt funktional äquivalent ist. Systeme interpretieren das, was ist, durch Möglichkeiten seiner Abwandlung; Magie und Nägelkauen etwa wären funktional äquivalent für ein System, das sich durch die Bewältigung emotionell schwieriger Lagen definiert. ® « Ebd. ^ Luhmann: Weltzeii und Systemgeschichte. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. Sonderheft 16. Opladen 1972. 84. ® Vgl. Luhmann: Funktion und Kausalität. In: Soziologische Aufklärung. 14.

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Halten wir einen Augenblick inne! Durch zunächst zwei Begriffe haben wir versucht, die funktionalistische Methode der Systemtheorie zu bestimmen, durch den Begriff der unbestimmten Negativität und den der bestimmten Negation. In diesen beiden Begriffen spiegeln sich auf methodologischer Ebene die Grundbegriffe der Sachtheorie: Komplexität und System. Zwischen beiden besteht eine Beziehung des Sinns, wobei Sirm eine Leistung des Systems ist. Diese Leistung kann nun ähnlich wie der Gedanke der Negation zweifach pointiert werden — so hat es jedenfalls den Anschein — als Interpretation unbestimmter Welt und als Selektion von Daten aus der so bestimmten Welt. Die Interpretationsleistung, die bestimmte Negation des Systems konstituiert die funktionale Äquivalenz, und damit die Seligierbarkeit von Ereignissen in der Welt. Das System stiftet nicht nur sozialen Sinn, sondern in eins damit die Fungibilität der Welt, oder, um es noch deutlicher zu sagen: der Sinn eines Systems ist die Fungibilität eines Teils der Welt für es, Sinn selbst ist eine Einheit unbestimmter und bestimmter Negation. Hielt sich die Dialektik als Exposition eines rationalen Zusammenhangs sozialer Sinne strikt auf der Seite einer systematisierten Hermeneutik des Sozialen, ohne empirisch-faktische Bezüge des durch einen Sinn konstituierten Systems zu seiner Umwelt, zu anderen Systemen diskutieren zu können, so scheint demgegenüber der Funktionalismus in seinem Doppelverständnis der Negation als bestimmt und unbestimmt, als Interpretation und als Selektion, die hermeneutisch dargetanen Bestimmungen auch operationalisieren zu können, Sinn wird als empirisches Faktum greifbar, Systemdaten und Weltdaten treten in Korrelation. Die funktionalistische Systemtheorie scheint der Ort sein zu können, an dem sich Sozialphilosophie und Soziologie treffen. Freilich meldet sich hier sogleich ein Bedenken: das System bestimmt die Welt, das Unbestimmte und Sinnlose, dadurch, daß es sich selbst — wenn man so will — durch Unbestimmtheit bestimmt, durch eine „strukturierte Offenheit für andere Möglichkeiten" ®, wie LUHMANN sagt. Die Welt gilt als das bestimmt Unbestimmte oder Bestimmbare, das System aber auch. Der Unterschied beider scheint nach dieser Konzeption hinfällig zu werden. Dies Problem wird traktabler und greifbarer, wenn wir uns dem dritten Moment zuwenden, das im Begriff des Funktionalismus gedacht wird unter dem Motto einer Funktionalisierung von Systemen. ® Luhmann: Funktionale Methode und Systemtheorie. In: Soziologische Aufklärung.

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Die bisher genannten Momente in seinem Begriff — Fassung von Komplexität als unbestimmte Negativität und Interpretation durch Systeme per bestimmter Negation, so daß dann Bestimmtes fungibel oder funktional äquivalent wird — sind erst Vorstufen zu der charakteristischen Gestalt, die der Funktionalismus bei LUHMANN annimmt. LUHMANN meint nämlich mm, daß auch Systeme funktional gedacht werden müßten und hierin liegt die Pointe in seinem Verständnis des Funktionalismus. Dieser Gedanke ist jedoch nicht ohne weiteres einsichtig, denn bisher schien es ja durchaus so, daß Systeme dem Funktionalismus Sinn verleihen, nun dagegen soll der Sinn von Systemen selbst funktionalistisch gedeutet werden. — Versuchen wir zu verstehen, was das heißt! Fungibilität des Sinns

Zunächst könnte es den Anschein haben, als bereite der Gedanke einer Funktionalisierung von Systemen keine Schwierigkeiten. Funktional — in einem ganz geläufigen Sinne — wurden Systeme ja immer schon gedacht, sie waren definiert durch eine Leistung, die sie erbringen, sie waren — sei es nun interpretierend oder seligierend — bezogen auf die Welt, waren gewissermaßen Funktionspole, ob man sie nun als Interpretationsinstanzen oder als Datenausschnitte aus der Welt ansprach. Sie interpretieren die Welt — so können wir jetzt sagen — als einen Bereich funktionaler Äquivalenzen, von denen sie je nach Bedarf die eine oder die andere Möglichkeit aktualisieren können, sie sind funktional auf Fungibles bezogen. Das Neue, was LUHMANN meint, wenn er von der Notwendigkeit spricht, Systeme funktional zu denken ist nun präziser dies, sie selbst als fungibel zu denken. „Für soziale Systeme ist kennzeichnend, daß sie nicht unbedingt auf spezifische Leistungen angewiesen sind, mit denen sie stehen oder fallen. Wichtige Beiträge zu ihrer Erhaltung werden durch Leistungen erbracht, die durch andere, funktional äquivalente Leistungen ersetzbar sind." Dieser Gedanke erscheint nach dem bisher Gesagten plausibel, aber dann fährt LUHMANN fort: „Außerdem kann ein soziales System auf das Ausfallen bisheriger Leistungen durch Änderung seiner Struktur und seiner Bedürfnisse reagieren, die den Fortbestand unter veränderten Vgl. Luhmann: Soziologie als Theorie sozialer Systeme, In: Soziologische Aufklärung 113 f. Vgl. ebd. Luhmann: Funktionale Methode und Systemtheorie. In: Soziologische Aufklärung. 33.

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Bedingungen ermöglicht, ohne daß sich eindeutig feststellen ließe, von wann ab solche Änderungen ein neues System konstituieren." Systeme haben nun nicht mehr nur ihre Umwelt als einen Bereich funktionaler Äquivalente, so daß sie die sie definierende Leistung auch auf andere Weise erbringen können, sie sollen vielmehr auch sich selbst so wie ihre Umwelt als eine Möglichkeit unter anderen verstehen, als fungibel, als funktional äquivalent; d. h. Systeme haben nicht nur die Möglichkeit, auf verschiedene Weise sie selbst zu sein, sie können auch anders sein. Dem System steht so nicht mehr nur die Welt, es steht auch sich selbst zur Disposition, ein identischer Systemsinn ist nicht mehr denkbar. So hat denn auch HABERMAS diese Konzeption kritisiert: „Soziale Systeme können sich hingegen in einer iiberkomplexen Umwelt dadurch behaupten, daß sie entweder Systemelemente oder Sollwerte oder beides ändern, um sich auf einem neuen Niveau der Steuerung zu erhalten. Wenn sich aber Systeme dadurch erhalten, daß sie beides, ihre Grenze und ihren Bestand, ändern, wird ihre Identität unscharf." Gewichtiger aber noch als die Kalamität, daß die Systemtheorie eine Systemidentität nicht mehr fassen, nicht mehr sagen kann, ob die Sozialordnung, die sich von einer Agrargesellschaft zur Industriegesellschaft gewandelt hat, noch als das gleiche System anzusprechen ist oder schon als ein anderes — gewichtiger als dieser Verlust der Systemidentität von Fall zu Fall ist für eine Theorieprüfung, wie sie hier versucht wird, der Verlust der Identität des Systembegriffs selbst, der damit einhergeht. Denn vergegenwärtigt man sich, daß dieser Funktionalismus nun auch Methode einer Theorie des Sinns, der Systembestimmtheit sein soll, so ist mit dem Gedanken, daß die Systemtheorie nicht mehr nur der funktionalistischen Methode Sinn verleihen soll, sondern daß der Sinn von Systemen selbst funktional-fungibel verstanden werden muß, ein Wechsel der Theorieperspektive verbunden. Die Systemleistung wird einmal gedacht als interpretierende Bestimmung des Unbestimmten durch Systeme, und dann zugleich als Selektion von Daten aus einer so bestimmten Welt. Beides ist vereint in der Vorstellung des Sinns als der Fungibilität eines Teils der Welt für das System. Freilich ist diese Konzeption nur möglich um den Preis der Unterbestimmtheit des Systemsinns, nur dadurch, daß die Weltcharakteristik unbestimmter Negativität in die Systemcharakteristik aufgenommen wird. Im Gedanken der Fungibilität des Sinns bricht 13 Ebd. 11 Jürgen Habermas: Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus. Frankfurt am Main 1973. 12. 13 Vgl. Luhmann: Funktion und Kausalität, In: Soziologische Aufklärung. 18.

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eine Perspektivenrivalität auf: die Bestimmung der Welt unbestimmter Komplexität durch Systeme — auf daß der Funktionalismus sinnvolle Methode sein kann — gilt jetzt, um die Fungibilität des Sinns sicherstellen zu können, als Abstraktion von einer dann offensichtlich empirisch schon vollbestimmten Welt, während umgekehrt, um die Fungibilität der Welt behaupten zu können, das System als das Bestimmte gelten muß. Der Funktionalismus wird jetzt als eine „Abstraktions- und Vergleichstechnik" verstanden, und das System steht für „einen abstrakten Gesichtspunkt" Systeme sind jetzt nicht mehr Bestimmtheitszentren, sondern Instanzen planmäßiger Unbestimmtheit, d. h. sie erfassen die Welt und definieren sich durch einen gegenüber der empirischen Konkretion unterbestimmten Bezugsgesichtspunkt, der von einem abstrakteren Bezugsgesichtspunkt aus wiederum als fungibel, alternativ, als funktional äquivalent verstanden werden kann. Kurz gesagt, Systeme definieren sich durch Komplexität, sie sind das, was zuvor die Welt war: unbestimmte Negativität, Bestimmbarkeit auf beliebiger Ebene der Abstraktion. Die Leistung von Systemen ist jetzt nicht mehr die Bestimmung unbestimmter Komplexität, ihre Rationalität liegt nun vielmehr in der Aufrechterhaltung eines Zustandes planmäßiger Unbestimmtheit in der Welt, nicht mehr der Erfassung, sondern der Erhaltung von Komplexität gilt das Interesse. Die Bestimmtheit eines Systems kann so nicht mehr als Sinnstiftung eines hermeneutischen Zentrums verstanden werden, sondern das System läßt sich auf beliebiger Abstraktionsebene Bestimmtheit empirisch Zuwachsen. Die funktionalistische Systemtheorie hört damit auf, eine Theorie sozialen Sinns zu sein, und wird zu einer Theorie der Vermeidbarkeit von Sinn. Der Funktionalismus als Methode der Systemtheorie, als Methode einer Rekonstruktion sozialen Sinns, muß bald die Unbestimmtheit der Welt behaupten, so daß Systembestimmtheit sich gewissermaßen apriorisch als Interpretation der Welt verstehen ließe, bald aber auch die Unbestimmtheit des Systems gegenüber einer empirisch vollbestimmten Welt; oder, um es noch anders zu sagen: die Bestimmtheit eines Systems gilt dem Funktionalismus einmal als ein quasi-dialektisches Fazit einer Auseinandersetzung von System und Umwelt, dann aber auch zum anderen als bloße Abstraktion von Empirie. Die Motive zu dieser Verschlingung beider Perspektiven liegen auf der Hand: Sinn soll ims nicht nur der Rationalität von Systemen versichern, sondern auch empirische Relevanz für eine Untersuchimg des VerhältnisSO

Ebd. 15, vgl. auch 14. Ebd. 13.

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ses von System- zu Umweltdaten besitzen. Die Abstraktion, durch die das System sich definiert, ist so nicht nur gewissermaßen diagnostisches Mittel der Weltinterpretation, sondern auch das „strategische Konzept für Veränderungen in der Welt" funktionalistisch soll nicht nur Bestimmtheit, sondern auch die Variabilität von Bestimmtem verständlich werden.

Kausalität



Hermeneutik und Empirie

Schon die Genese des Funktionalismus aus der Defizienz des Positivismus hebt ja auf diesen Aspekt ab: eine Wirkung kann verschiedene Ursachen haben, d. h. die Ursache einer Wirkung könnte auch nicht sein und statt ihrer eine andere. Eine positivistische Theorie des Sozialen kann im gegebenen Fall nicht eindeutig feststellen, welche Ursache vorliegt, weil sie die Möglichkeit, daß eine andere Ursache am Werke war, nicht mit Sicherheit ausschließen kann. Das theoretische Defizit des Positivismus — andere Möglichkeiten nicht ausschließen zu können — deckt sich hier mit dem objektiven, empirischen Sachverhalt, daß eine Wirkung verschiedene Ursachen haben kann, daß Ursachen unter dem Gesichtspunkt einer bestimmten Wirkung fungibel, funktional äquivalent sind. Sowenig mm wie der Positivismus einer Wirkung eine Ursache eindeutig zuordnen kann, sowenig gelingt ihm dies auch für das Verhältnis dieser einen bestimmten Wirkung zu dieser einen Ursache, d. h. er kann nicht alle möglichen Nebenwirkungen einer Ursache überblicken scheitert auch hier an der Komplexität der Welt. Gleichwohl läßt sich dies Theoriedefizit nun nicht wie im Falle des Verhältnisses Wirkung—Ursache objektiv-empirisch als funktionale Äquivalenz von Wirkungen auslegen. Man kann sinnvoller Weise nicht sagen, daß die Wirkung einer Ursache auch nicht eintreten könnte, sondern statt ihrer eine andere; eine Ursache hat eine Wirkung oder sie hat sie nicht, die Rede im Potentialis ist hier sinnlos, d. h. man kann von einer funktionalen Äquivalenz von Ursachen sprechen — wobei freilich schon von Nebenwirkungen dieser Ursachen abstrahiert wäre —, nicht aber von einer funktionalen Äquivalenz von Wirkungen. >8 Ebd. 15. Ebd. 13. Ebd. 17.

8* Durdi solche Multikausalität muß ja nicht das Erklärungsprinzip Kausalität aufgegeben werden, man könnte ja auch den Weg einer Verfeinerung der Erhebungstechniken gehen.

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Versuch, Kausalität funktionalistisch zu deuten, ist mit einem Widerspruch behaftet, er muß dazu nämlich Wirkungen als Zwecke verstehen, d. h. Wirkungen sind erst dann funktional äquivalent, wenn ein System sie als Zwecke interpretiert: „Ebenso kann man auch Ursachen als funktionale Bezugsgesichtspunkte ansetzen. Das heißt dann; Die Rechtfertigung dieser Ursachen wird als problematisch behandelt. Aus dem Umkreis ihrer Wirkungen lassen sich verschiedene Zwecke als mögliche Rechtfertigungen auswählen. Verschiedene Ideologien erweisen sich dann als funktional äquivalent." Systeme haben gewissermaßen ein Recht der Absicht, rmter den vielen Folgen ihres Tuns eine als Zweck auszuzeichnen, und erst diese Auszeichnung wäre dann fungibel, ersetzbar durch eine andere. Man sieht, um den Funktionalismus, den Gedanken funktionaler Äquivalenz, einschlägig zu machen für eine empirische Theorie von Veränderung, muß das System als eine hermeneutische, interpretierende Instanz wieder eingeführt werden, die Wirkungen als Zwecke versteht; d. h. eine funktionalistische Theorie der Empirie funktioniert nur unter Zuhilfenahme der Systemhermeneutik, die sich um ein Verständnis von Systemsinn bemüht, und man kann sich fragen, ob hier nicht eine ungerechtfertigte Metabasis vorliegt. Der Funktionalismus ist — so LUHMANN — eine Methode der „Beleuchtung des Seienden durch Möglichkeiten seiner Abwandlung" und mit dieser Methode verbindet er — so hat es jedenfalls den Anschein — auch durchaus einen ontologischen Anspruch, wenn dieser sich auch als Kritik an der Ontologie geriert: „Auf die Bahn des funktionalen Denkens kommt man durch eine Umkehr der ontologischen Prämisse. Nicht der Ausschluß des Nichtseins, sondern gerade die Verweisung auf andere Möglichkeiten macht den Sinn der Identität und damit den Sinn des Seienden aus." Seiendes ist dies, unter einem von einem System gesetzten Bezugsgesichtspunkt planmäßig imbestimmt zu sein und durch anderes ersetzbar. Nun läßt es sich zwar verstehen, daß zu Zwecken einer Hermeneutik von Bestimmtheit, die Sinn als Reduktion von Komplexität deuten will, die Welt als unbestimmt gelten kann, als etwas, das seine Charakteristik LUHMANNS

22 Luhmann: Funktion und Kausalität. In: Soziologische Aufklärung. 17 (von mir gesperrt). 22 Vgl. Habermas: Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie. Frankfurt am Main 1971. 236. 2< Luhmann: Funktionale Methode und Systemtheorie. In: Soziologische Aufklärung. 36. 22 Luhmann: Wahrheit und Ideologie. In: Soziologische Aufklärung. 56.

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erst durch Systeme erhält, dagegen kann man aber wohl kaum akzeptieren — und LUHMANN vermeidet dies mögliche Mißverständnis zumindest nicht eindeutig —, daß die Welt in einer objektiven Einstellung auch als empirisch unbestimmt zu nehmen wäre, wie es einer subjektiven Einstellung zu Zwecken der Erklärung und Rationalisierung von Bestimmtheit vielleicht erlaubt ist. D. h. eine Hermeneutik sozialen Sinns, die sich wie die Systemtheorie LUHMANNS als eine universelle Theorie entfalten will, darf die Unbestimmtheit der Welt unterstellen zu Zwecken einer Rationalisierung von Bestimmtheit, auch wenn es eine unbestimmte Welt nicht gibt. Diese Unterstellung verschlägt nichts, da sie ja nicht Präjudiz über Bestimmtes in der Welt, sondern Prinzip der Rekonstruktion von Systembestimmtheit ist. Eine Theorie empirischer Veränderung von Bestimmtem in der Welt wiederum kann, ja muß, die Welt als vollbestimmt nehmen, d. h. eine Ursache hat immer ihre Wirkung und hat immer alle ihre Wirkungen, jeder Prozeß kausaler Veränderung ist durchgängig positiv bestimmt, auch wenn die empirischen Wissenschaften Schwierigkeiten haben, dies zu erheben. Ein empirischer Positivismus und ein — wenn man so will — hermeneutischer Negativismus sind beides rationale, in sich stimmige Theorietypen, aber die Montage beider ist paradox. Zum einen behauptet LUHMANN die empirische Variabilität und Operationalisierbarkeit des in einer Hermeneutik der Bestimmung des Unbestimmten, der Erfassung von Komplexität, dargetanen Systemsinns. Soll dies möglich sein, muß Sinn aber gerade im Gegenteil als das Unbestimmte gelten, als Erhaltung von Komplexität; Systeme bestimmen sich durch Abstraktion von einer empirisch vollbestimmten Welt. — Zum anderen aber sollen Veränderungen in dieser empirisch vollbestimmten Welt durch ihre Zweckhaftigkeit für ein System bestimmt werden, dann aber muß wiederum die Welt als unbestimmt und das System als vollbestimmt gelten. Man sieht, hermeneutische imd empirische Perspektive machen sich jeweils in ihrem Pendant geltend und treiben den Funktionalismus in die Paradoxie: durch Abstraktion von Empirie wird kein Sinn verständlich und durch ein System als Deutungsinstanz keine empirische Veränderung; eine Theorie, die Sinn als solche Abstraktion behauptet, erspart sich die Verifizierung und eine Theorie, die die empirische Komplexität (Unbestimmtheit) der Welt behauptet, vermeidet die Falsifizierbarkeit, Die Systemtheorie erspart sich auch so eine Rechtfertigung des von Systemen jeweils urgierten Bezugsgesichtspunktes und dessen Änderung. Dies wird von Bubner kritisch eingewandt {Wissenschaftstheorie und Systembegriff. In: Ders.: Dialektik und Wissenschaft. Frankfurt am Main 1973. 123).

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da ja Empirie sich immer nur als schon gedeutete geltend machen darf. Für einen hermeneu tischen Negativismus wäre aber gerade die Verifizierbarkeit — das Gelingen einer apriorischen Rekonstruktion aus Prinzipien — Kriterium seiner Rationalität, wie umgekehrt für einen empirischen Positivismus seine Falsifizierbarkeit — Weltereignisse müssen ihm widersprechen können. Wir können dies Dilemma noch einmal an LUHMANNS Verständnis der Negation explizieren. — Blicken wir zunächst noch einmal auf die Dialektik: sie war das methodische Mittel, Einheiten — und soziale Gebilde galten auch als solche Einheiten — zu deuten als konkrete Allgemeine, als Inklusion eines Oppositums durch Negation der Negation. Es ist dies — wenn man so will — auch eine Funktionalisierung von Begriffen, die sich aber peinlich auf der Seite des Verstehens dieser Begriffe hält: was ist, wird verstanden als in Negation eines Oppositums und in Negation dieser Negation, d. h. in Aneigung und Inklusion dieses Oppositums, es selbst zu sein. Auch die Negation in LUHMANNS Verständnis meint eine solche Interpretation und Aneignung einer Peripherie durch ein Zentrum, einer Umwelt durch ein System. Aber solche Interpretation wird dann auch wieder als Selektion verstanden, als Auswahl aus Daten einer an sich schon bestimmten objektiven Welt. Man käme so zu der Paradoxie, daß dadurch, daß ein System dies seligiert und nicht jenes, das ist, was es ist, so als sei seine Bestimmtheit dialektisch in Auseinandersetzung mit jenem Oppositum dargetan, d. h. so als könne reale Selektion für bestimmtheitsmäßige Interpretation aufkommen. Negation der Negation — dies kennt LUHMANN ja auch — ist dann nicht mehr Exposition einer bereicherten, konkreteren Einheit, in der die Opposita Momente sind, sondern gewissermaßen Umorientierung einer Systemintention: das zuvor seligierend Abgewiesene, und in diesem Sinne Negierte, wird jetzt aktualisiert. Diese Konkurrenz von Interpretation und Selektion läßt sich als Konkurrenz von bestimmter Negation und unbestimmter Negativität auslegen. Im Gedanken der funktionalen Äquivalenz verschlingen sich — wie wir gesehen haben — zwei Motive: einmal muß ein hermeneutisches Zentrum beansprucht werden, das die unbestimmte Negativität — und das heißt zunächst nichts weiter als die Kontingenz und Komplexität — der Welt bestimmt. Bestimmtes einander konfrontiert. Dann aber wieder gilt diese Interpretation des Systems als bloße Abstraktion von einer empirisch Namentlidi Soziologen und Politologen, die sich mit Luhmann beschäftigen, bemängeln so auch uni sono, daß sich seine Theorie empirisch nidit überprüfen läßt. Vgl. N. Luhmann; Komplexität und Demokratie. In: Politische Planung. Opladen 1971. 40.

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vollbestimmten Welt, nicht als ihre Bestimmung, sondern als Erhaltung des Status planmäßiger Unbestimmtheit, unbestimmter Negativität in der Welt: erst Systeme machen, daß etwas auch nicht sein könnte und statt seiner ein anderes. Das System ist jetzt nicht — wie in der Dialektik das konkrete Allgemeine — die um sein Oppositum bereicherte Einheit, sondern verarmt gegenüber der empirischen Konkretion, es ist nicht mehr Zentrum bestimmter Negation, sondern Instanz unbestimmter Negativität, es bestimmt nicht mehr die Welt, sondern läßt sich seine Bestimmtheit aus ihr Zuwachsen. Der Funktionalismus wird so zur Methode der Vermeidung eines inhaltlich bestimmten Sinns. Durch diese Verschlingung zweier Perspektiven soll einerseits eine empirische Variabilität bestimmter Systeme erklärt und nicht nur Systembestimmtheit verstanden werden, andererseits soll so dem Systemsinn, der hermeneutischen Leistung des Systems, eine objektiv empirische Dignität verliehen werden, d. h. LUHMANN meint offensichtlich, sich so der Objektivität von Systemsinn versichern zu können. Petitio Principii oder Selbstbegründung?

Gerade dies ist ja durchaus auch ein Problem für die dialektische Sozialphilosophie, die sich im Rahmen einer Deutung sozialen Sinns hält. Wie kaim sie dann die Objektivität solchen Sinns sicherstellen, sicherstellen, daß sie nicht bloße beliebige Deutung ist? Muß man nicht sagen, die dialektische Sozialphilosophie Hegels unterstelle ein Prinzip — Freiheit — imd spekuliere, konstruiere dann, wie eine Wirklichkeit beschaffen sein müßte, die diesem Prinzip genügt? Es bliebe dann fraglich, ob sich nicht auch andere Prinzipien unterstellen ließen, und weiter, ob die Wirklichkeit, die von diesem Prinzip her gedeutet wird, auch so ist, wie sie gedeutet wird. — Nun ist ja aber, so läßt sich diese Frage vorläufig beantworten, die Unterstellung des Prinzips Freiheit nicht irgendeine beliebige, fungible Deutungshinsicht, Freiheit meint praktische Vernunft oder — sofern diese Vernunft anders als bei KANT bei Hegel nicht auf die Moralität des Einzelnen beschränkt ist, sondern einschlägig ist auch für die Sittlichkeit des Sozialen — objektiven Geist, d. h. Freiheit wäre ein ausgezeichnetes Prinzip, sofern dies Prinzip der Wirklichkeit eine Kongenialität zur Vernunft unterstellt und gestattet, die Wirklichkeit auf ihre Rationalität hin zu deuten. Aber auch wenn diese Deutung eine solche Auszeichnung besitzt, bleibt das Problem ihrer Objektivität noch bestehen, seine Lösung findet es erst

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in der Anlage der Gesamttheorie. Indem nämlich die dialektische Sozialphilosophie Hegels ein Affirmatives — den Staat als realisierte Freiheit — namhaft machen kann, d. h. etwas als Erfüllung des Prinzips deuten und diese Deutung am Selbstverständnis des Staates erhärten kann, hört sie auf, Deutung im Sinne von Unterstellung zu sein und wird zur ontologischen Diagnose, die Konstruktion des Affirmativen wird gleichbedeutend mit der Rekonstruktion des Konkreten. So ist es etwa eine Unterstellung, den gesellschaftlichen Antagonismus von Einzelnen und Allgemeinem als eine Gestalt der Freiheit zu deuten; gerechtfertigt und begründet wird diese Unterstellung erst als Antezedens zu einer gelingenden Gestalt der Freiheit, als Antezedens und Verweis auf die affirmative Einheit von sozialer Freiheit und sozialer Pluralität im Staat. Die Theorieprogression ist so nicht nur Konstruktion des Affirmativen und auch nicht nur Rekonstruktion des Konkreten, sie ist zugleich eine Begründungsbewegung, ein Rückgang in den Grund; die Theorie begründet sich selbst in ihrem affirmativen Resultat. Freilich kann man sich fragen, ob nicht auch hier noch bloße Deutung vorliegt, ob es nicht doch nur wieder Deutung ist, den Staat affirmativ und dann als Aufhebimg bloßer Unterstellung zu fassen, gibt es doch den Fall einer dialektischen Theorie — wir meinen die MARXsche Theorie —, die nicht Affirmation, sondern Kritik zu ihrem Resultat hat, deren Resultat, deren Konkretion, das Prinzip der Theorie nicht bestätigt, sondern leugnet und darum der Kritik verfällt: so herrscht ja auf der Ebene der Konkretion des Kapitals etwa das Kostendenken, während die Arbeitswertlehre in der Prinzipiensphäre dominiert und den Maßstab für die Kritik des Kapitalismus abgibt. — Allein man sieht sogleich das Prekäre einer solchen Kritikdialektik: während eine affirmative Dialektik sich in ihrem Resultat als dem Wahren begründen kann, ist die Kritikdialektik, deren Resultat ja das Falsche ist, dieser Weg zu ihrer Begründung versperrt, sie muß andere Plausibilitäten — etwa anthropologische oder historische Illustrationen — beibringen, um die Dignität ihres Prinzips darzutim, den Weg zu theoretischer Selbstbegründung hat sie sich verstellt. Dies will sagen: das Interesse an Rationalität, Begründbarkeit und Wahrheit leitet die dialektische Sozialphilosophie Hegels, den Staat als das Affirmative zu begreifen, ihn als die Wirklichkeit der Freiheit anzusprechen. Natürlich kann man den Staat auch unter beliebigen Aspekten beliebig anders deuten, nur nicht im Sinne von Rationalität in rationaler Theorie. Es ist mit dieser Theorie ein Reflexionsniveau erreicht, das sich Vgl. Klaus Hartmann: Die Marxsche Theorie. Berlin. 1970.

362 ff und 368 ff.

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zwar vielleicht ablehnen, gegen das sich aber wohl kaum argumentieren läßt. Es ist dies näher der Theorietyp einer kategorialen Theorie, die in der Immanenz des Denkens Gründe dafür besitzt, ihre Bestimmungen als Bestimmungen des Seins, als objektiv ontologische Bestimmungen zu haben. Die Gründe sind — um es noch einmal zu sagen — diese, daß die Konstruktion des Affirmativen zugleich Rekonstruktion des Konkreten und Exposition eines Begründungszusammenhanges ist. Man kann den hermetischen Charakter dieser Theorie bedauern und wünschen, sich auch außerhalb der Theorie von ihrer Wahrheit überzeugen zu können, man kann hierin aber auch ein Optimum an Rationalität und die theoretische Tugend der Selbstbegründung sehen, zumal Hegel iiruner meinen würde, daß auch die Erfahrung die Theorie bekräftigt. Man sieht, was die funktionalistische Systemtheorie durch eine Montage von hermeneutischer und empirischer Perspektive versucht — nämlich die Objektivität sozialen Sinns darzutun —, gelingt Hegel in einer kategorialen Theorie des Sinns. Gleichwohl bleibt auch für sie noch ein Desiderat, das sie nicht erfüllen kann, worin ihr die Systemtheorie — allerdings um den Preis der Paradoxie — überlegen ist: die kategoriale Theorie kann nichts über empirische Daten sagen und das Verhältnis von System und Umwelt nicht operationalisieren **; Sinn ist ein Ganzes aus aneignendem System und angeeigneter Umwelt, er ist konkretes Allgemeines und kann so nichts über empirische Korrelationen aussagen. Stellt sich der Systemtheorie das Problem der Rationalität ihrer Prinzipien, so der dialektischen und kategorialen Sozialphilosophie das Problem der empirischen, realen Koexistenz des Prinzipiierten.

Vgl. Klaus Hartmann: Systemtheoretische Soziologie und kategoriale Sozialphilosophie. In: Philosophische Perspektiven. 5 (1973), 149.

Kolloquium IX REKONSTRUKTION DES HISTORISCHEN MATERIALISMUS

JÜRGEN HABERMAS (STARNBERG)

THESEN ZUR REKONSTRUKTION DES HISTORISCHEN MATERIALISMUS*

I. Vorbemerkungen: Ich möchte zunächst drei Aspekte nennen, unter denen ich den Historischen Materialismus nicht behandeln möchte. MARX und ENGELS haben den Historischen Materialismus gelegentlich als Leitfaden und Methode bezeichnet. Das körmte den Eindruck erwecken, als würden sie mit dem Historischen Materialismus den Anspruch einer Heuristik verbinden, die eine narrative Geschichtsschreibung in systematischer Absicht strukturieren hilft; bestenfalls aber den Ansruch einer Historik, die eine systematische Geschichtsschreibung mit metatheoretischen Reflexionen begleitet. Ich werde hingegen den theoretischen Anspruch des Historischen Materialismus ernst nehmen rmd ihn im Sinne eines Forschungsprogramms als Vorschlag zu einer Theorie der sozialen Evolution behandeln. Damit grenze ich mich gegen Versionen ab, die ich für zu schwach halte. Andererseits betrachte ich den Historischen Materialismus nicht als Vorschlag zu einer objektivistischen Ceschichtstheorie. Damit möchte ich mich gegen die zu starke Version abgrenzen, die von Vertretern der II. Internationale und des SxALiNschen Diamat behauptet wird. Ich sehe mit MARX in der Anatomie des Menschen einen Schlüssel zur Anatomie des Affen, d. h. in den Kategorien der jeweils entwickeltsten Gesellschaftsformation ein Muster von Strukturen, dessen Entwicklungslogik durch die vergangenen Gesellschaftsformationen hindurch zurückverfolgt werden kann. Dieser immer noch starke Anspruch bedarf freilich der Kontrolle; die Theoriebildung muß sich ihrer Bindung an die hermeneutische Ausgangslage bewußt bleiben. Wenn wir die kulturellen Selbstverständlichkeiten, die unseren Auslegungshorizont bestimmen, naiv teilen, verhalten wir uns ♦ Die Thesen bilden die Kurzfassung eines längeren Aufsatzes zum gleichen Thema; J. Habermas: Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus. Frankfurt a. M. 1976, 144—199.

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genauso objektivistisch, wie wenn wir glauben, von der Einbettung des Forschungsprozesses in den Gesellschaftsprozeß ganz absehen zu können. Diese methodische Erwägung verpflichtet uns jedoch nicht, den Historischen Materialismus lediglich als eine Retrospektive aufzufassen, deren Warte durch die in den Grundrissen und im Kapital ausgearbeitete Theorie der kapitalistischen Entwicklung ein für allemal festgelegt ist. Damit möchte ich mich gegen eine Version abgrenzen, derzufolge die Kritik der Politischen Ökonomie einen natürlichen Primat hat. Vielleicht zeigt sich gerade im Lichte historisch-materialistischer Grundarmahmen, daß die Politische Ökonomie heute nicht mehr die angemessene analytische Ebene ist — jedenfalls dürfen wir die Theorie gegen eine solche Möglichkeit nicht von vornherein immunisieren. I. These; Der Historische Materialismus sollte weder als Heuristik noch als Historik, noch als eine objektivistische Geschichtstheorie, noch als Rückblende einer vor mehr als hundert Jahren durchgeführten Kapitalismusanalyse betrachtet werden, sondern als emstzunehmende Alternative zu den heute vorliegenden Ansätzen einer Theorie der sozialen Evolution. Nach diesen Abgrenzungen möchte ich fünf weitere Thesen aufstellen. Sie beziehen sich — — — — —

auf das Konzept der gesellschaftlichen Arbeit auf das Basis-Überbau-Theorem auf die Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen auf das Konzept der Gesellschaftsformation und auf die Konstruktion der Gattungsgeschichte;

schließen werde ich mit einem Hinweis auf evolutionäre Problemlagen. Mit diesen Thesen verbinde ich nicht den philologischen Anspmch einer MARX-Interpretation. Die Thesen sollen vielmehr ein Programm umreißen, das sich empirisch bewähren muß. Gleichzeitig sollen sie die Theoriefähigkeit der Geschichte plausibel machen, also an eine Frage anschließen, die ScHELLiNG im System des transzendentalen Idealismus (1800) bereits explizit gestellt hat: ob und gegebenenfalls wie eine Theorie der Geschichte möglich sei (Werke. Bd 3. 587 ff).

II. Mit dem Begriff „gesellschaftliche Arbeit" charakterisiert MARX die Weise, in der Menschen, im Unterschied zu Tieren, ihr Leben reproduzieren. Wir körmen diesen komplexen Begriff mit Hilfe von drei Typen von

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Handlungsregeln analysieren. Arbeit machen wir uns für gewöhnlich am Modell handwerklicher Tätigkeit klar; dabei ist der Aspekt der zielgerichteten Umformung von Material nach Regeln instrumentalen Handelns entscheidend. Die instrumentalen Handlungen werden ferner zweckrational, nämlich im Hinblick auf einen Produktionszweck koordiniert. So kann auch zwischen verschiedenen Individuen eine Zusammenarbeit nach Regeln strategischen Handelns Zustandekommen. Wie die Arbeit, so ist auch die Distribution der Arbeitserzeugnisse gesellschaftlich organisiert. Die Regeln, nach denen die Distribution vorgenommen wird, dienen der systematischen Verknüpfung von reziproken Erwartungen oder Interessen. Die Verteilung der Produkte geschieht nach Regeln der symbolisch vermittelten Interaktion. Nun nennen wir ein solches System, das Arbeit und Verteilung gesellschaftlich regelt, eine Ökonomie; deshalb ist nach MARX die ökonomische Form der Reproduktion des Lebens für die menschliche Entwicklungsstufe charakteristisch. Im Lichte neuerer anthropologischer Erkenntrüsse zeigt sich freilich, daß dieses Konzept der gesellschaftlichen Arbeit in der evolutionären Skala zu tief greift. Nicht erst die Menschen, schon die Hominiden unterscheiden sich von den Menschenaffen dadurch, daß sie sich auf eine Reproduktion durch gesellschaftliche Arbeit umstellen: die erwachsenen Männchen bilden jagende Horden, die (a) über Waffen und Werkzeuge verfügen (Technik), (b) arbeitsteilig Zusammenwirken (Arbeitsorganisation) und (c) die Beute im Jagdkollektiv verteilen (Distributionsregeln). Die evolutionäre Neuerung, die Homo sapiens einführt, ist nicht die Ökonomie, sondern die Familie. Erst die Menschen sprengen die gesellschaftliche Struktur, die unter Wirbeltieren entstanden ist — jene eindimensionale Rangordnung, in der transitiv jedem Tier ein und nur ein Status zugeordnet werden kann. Das Familiensystem erlaubt hingegen dem erwachsenen männlichen Mitglied, via Vaterrolle (das ist der strukturelle Kern der Familie) einen Status im Männersystem der Jagdruppe mit einem Status im Frauen- und Kindersystem zu verbinden, um so (a) Funktionen der gesellschaftlichen Arbeit mit solchen der Fürsorge für die Jungen zu integrieren und ferner (b) Funktionen der männlichen Jagd mit denen des weiblichen Sammelns zu koordinieren (geschlechtliche Arbeitsteilung). Die Ökonomie der Jagd wird durch eine familiale Gesellschaftsstruktur ergänzt. Das bedeutet eine nicht-triviale Ersetzung des tierischen Statussystems, das bei Menschenaffen bereits auf symbolisch vermittelter Interaktion beruht, durch ein System von Handlungsnormen, welches Sprache voraussetzt.

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II. These; Die humanspezifisdie Lebensweise läßt sich erst hinreichend charakterisieren, wenn wir die Ökonomie der Jagd unter den Organisationsbedingungen der Familie in Betracht ziehen. Produktion und Sozialisation sind für die Gattung von gleicher Wichtigkeit. Fundamental ist die farrülistische Gesellschaftsstruktur, die beides steuert: die Aneignung der äußeren und die Integration der inneren Natur. Die mit der Familie entstandenen Strukturen des Rollenhandelns lassen sich nicht auf Strukturen der Arbeit zurückführen. Ein monistischer Begriff der gesellschaftlichen Produktion eignet sich deshalb nicht zum anthropologischen Grundbegriff des Historischen Materialismus. III. Dem Basis-Überbautheorem zufolge bilden in jeder Gesellschaft Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse nach Maßgabe der in ihr herrschenden Produktionsweise eine ökonomische Struktur, von der alle Teilsysteme der Gesellschaft abhängen. Ich möchte zunächst die im Theorem verwendeten Begriffe erläutern. Eine Produktionsweise ist charakterisiert durch einen bestimmten Entwicklungsstand der Produktivkräfte und durch bestimmte Produktionsverhältnisse. Die Produktivkräfte bestehen a) aus der Arbeitskraft der Produzenten; b) aus dem technisch verwertbaren Wissen, soweit es in produktivitätssteigernde Arbeitsmittel, in Produktionstechniken umgesetzt wird; c) aus dem Organisationswissen, soweit es eingesetzt wird, um Arbeitskräfte effizient in Bewegung zu setzen, um Arbeitskräfte zu qualifizieren und um die verschiedenen Arbeiten wirkungsvoll zu koordinieren (Mobilisierung, Qualifikation und Organisation von Arbeitskraft). Die Produktivkräfte bestimmen also den Grad der möglichen Verfügung über Naturprozesse. Produktionsverhältnisse nennen wir hingegen diejenigen Verkehrsformen, die festlegen, in welcher Weise die Arbeitskräfte, bei einem gegebenen Stand der Produktivkräfte, mit den verfügbaren Produktionsmitteln kombiniert werden. Die Regulierung des Zugangs zu den Produktionsmitteln oder die Art und Weise der Kontrolle der gesellschaftlich genutzten Arbeitskraft entscheidet mittelbar auch über die Distribution des gesellschaftlich erzeugten Reichtums. Die Produktionsverhältnisse bringen die Verteilung sozialer Macht zum Ausdruck; sie bestimmen mit dem Verteilungsmuster der sozial anerkannten Chancen der Bedürfnisbefriedigung die Interessenstruktur, die in der Gesellschaft besteht.

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Der Historische Materialismus geht nun davon aus, daß Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse nicht unabhängig voneinander variieren, sondern Strukturen ausbilden, die (a) miteinander korrespondieren xmd (b) eine endliche Zahl von strukturanalogen Entwicklungsstufen ergeben, so daß sich (c) eine entwicklungslogisch anzuordnende Reihe von Produktionsweisen ergibt. Unter Evolutionsgesichtspunkten kann die ökonomische Struktur einer Gesellschaft in terms der verschiedenen Produktionsweisen, die in jeder konkreten geschichtlichen Ausprägung eine hierarchische Verbindung eingehen, analysiert werden. Und von dieser ökonomischen Struktur wiederum werden die Teilsysteme der Gesellschaft bestimmt. Dieses Basis-Überbautheorem ist oft in einem ökonomistischen Sinne mißverstanden worden. Aus dem Zusammenhang, in dem MARX sein Theorem aufstellt, geht indessen klar hervor, daß er die Abhängigkeit des Überbaus von der Basis nur für jene kritischen Phasen behaupten möchte, in denen eine Gesellschaft zu einem neuen Entwicklungsniveau übergeht. Gemeint ist nicht irgendeine ontologische Verfassung der Gesellschaft, sondern die Führungsrolle, die die ökonomische Struktur in der gesellschaftlichen Evolution übernimmt. Im übrigen deckt sich die „ökonomische Struktur" einer Gesellschaft nicht mit ihrem ökonomischen Teilsystem. Das gilt nur für die kapitalistische Gesellschaft. Die Funktion, den Zugang zu den Produktionsmitteln und damit die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums zu regulieren, übernehmen in primitiven Gesellschaften die Verwandtschaftssysteme imd in hochkulturellen Gesellschaften die politischen Einrichtungen. Erst nachdem der Markt, im Kapitalismus, neben seiner Steuerungsfunktion die weitere Funktion übernommen hatte, Klassenverhältnisse über die Institution des Arbeitsvertrages zu stabilisieren, treten die Produktionsverhältnisse als solche hervor, d. h. erst hier nehmen sie ökonomische Gestalt an. Die Theorien der postindustriellen Gesellschaft (BELL, TOURAINE) visieren sogar einen Zustand an, in dem der evolutionäre Primat vom Wirtschaftssystem (und einem dazu komplementären Staat) auf das Bildungsimd Wissenschaftssystem übergeht. Dieser institutioneile Kern, der jeweils die Funktion von Produktionsverhältrüssen übernimmt, legt die in der Gesellschaft bestimmende Form der sozialen Integration fest. III. These; Die verschiedenen Produktionsweisen, die sich jeweils zu einem Komplex verbinden, bilden die ökonomische Struktur einer Gesellschaft. Diese kristallisiert sich jeweils um einen institutioneilen Kern (Verwandtschaft, Staat, Markt usw.) und legt die Form der sozialen Integra-

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tion fest. Das Basis-Überbautheorem soll Schübe der sozialen Evolution erklären. Es besagt, daß (a) jene Systemprobleme, die unter gegebenen Umständen evolutionäre Neuerungen verlangen, im Basisbereich der Gesellschaft auftreten und als Reproduktionsstörungen analysiert werden können; und daß (b) eine derart ausgelöste evolutionäre Neuerung stets in einer Veränderung der ökonomischen Struktur und der entsprechenden Form der sozialen Integration besteht. IV. Solche Entwicklungsschübe erklärt MARX mit Hilfe der Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen. Diese „Dialektik" möchte ich so verstehen, daß (a) ein endogener Lemmechanismus besteht, der für ein spontanes Wachstum des technisch verwertbaren Wissens und für die Entfaltung der Produktivkräfte sorgt; daß (b) eine Produktionsweise nur im Gleichgewichtszustand ist, wenn strukturelle Entsprechungen zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen bestehen; und daß (c) die endogen verursachte Produktivkraftentfaltung zwischen diesen beiden Ordnungen strukturelle Unvereinbarkeiten entstehen läßt, die (d) in der gegebenen Produktionsweise Ungleichgewichte hervorrufen und zu einer Umwälzung der bestehenden Produktionsverhältnisse führen. In dieser Fassung bleibt freilich unklar, worin der Entwicklungsmechanismus, mit dessen Hilfe wir die evolutionären Neuerungen selbst erklären könnten, besteht. Der postulierte Lemmechanismus erklärt das Wachstum eines kognitiven Potentials und vielleicht noch dessen Umsetzung in produktivitätssteigernde Technologien. Er kann die Entstehung einer bestimmten Art von Systemproblemen erklären, die, weil die strukturellen Unähnlichkeiten zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen zu groß werden, den Bestand der Produktionsweise bedrohen. Aber dieser Lernmechanismus erklärt nicht, wie die entstandenen Probleme gelöst werden können. Die Einführung neuer Formen der Sozialintegration, beispielsweise die Ersetzung des Verwandtschaftssystems durch den Staat, verlangt kein technisch verwertbares Wissen, das in Regeln instrumentalen und strategischen Handelns implementiert werden kann, keine Ausdehnung unserer Kontrolle über die äußere Natur, sondern ein Wissen moralisch-praktischer Art, das seine Verkörperung in Interaktionsstrukturen finden kann. Selbst wenn wir die Produktivkraftentfaltung lediglich als problemerzeugenden Mechanismus verstehen, der die Umwälzung der Produktionsver-

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hältnisse und eine evolutionäre Erneuerung der Produktionsweise zwar auslöst, aber nicht herbeiführt, sprechen freilich empirische Gründe gegen das Theorem. Die großen endogenen Entwicklungsschübe, die zur Entstehung der ersten Hochkulturen oder zur Entstehung des europäischen Kapitalismus geführt haben, hatten eine nennenswerte Entfaltung der Produktivkräfte nicht zur Bedingung, sondern erst zur Folge. Erst wenn ein neuer institutioneller Rahmen entstanden ist, können die bis dahin unlösbaren Systemprobleme mit Hilfe des angesammelten kognitiven Potentials bearbeitet werden, woraus eine Steigerung der Produktivkräfte resultiert. Offen bleibt dann immer noch die Frage, wie dieser Schritt vollzogen wird. Die deskriptive Antwort des Historischen Materialismus heißt: durch soziale Bewegrmgen imd politische Auseinandersetzungen, durch Klassenkampf. Aber nur eine hausal-analytische Antwort kann erklären, warum eine Gesellschaft einen evolutionären Schritt vollzieht, und wie es zu verstehen ist, daß soziale Kämpfe unter bestimmten Umständen zu einer neuen Form der Sozialintegration und damit zu einem neuen Entwicklungsniveau der Gesellschaft führen. Die Antwort, die ich vorschlagen möchte, heißt: die Gattung lernt nicht nur in der für die Produktivkraftentfaltung entscheidenden Dimensionen des technisch verwertbaren Wissens, sondern auch in der für die Interaktionsstrukturen ausschlaggebenden Dimension des moralisch-praktischen Bewußtseins. Die Regeln kommunikativen Handelns folgen nicht automatisch den Veränderungen im Bereich des instrumentalen und strategischen Handelns, sie entwickeln sich vielmehr aufgrund einer eigenen Dynamik. IV. These; Wenn Systemprobleme auftreten, die nicht mehr in Übereinstimmung mit der herrschenden Produktionsweise gelöst werden können, ist die bestehende Form der sozialen Integration bedroht. Ein endogener Lernmechanismus sorgt für die Ansammlung eines kognitiv-technischen Potentials, welches für die Lösung der krisenerzeugenden Probleme genutzt werden kann. Aber dieses Wissen kann erst mit der Folge einer Produktivkraftentfaltung implementiert werden, wenn der evolutionäre Schritt zu einem neuen institutioneilen Rahmen und einer neuen Form der sozialen Integration vollzogen ist. Dieser Schritt läßt sich nur mit Lernprozessen anderer, nämlich moralisch-praktischer Art erklären. V. Mit dem Begriff der Gesellschaftsformation kennzeichnet MARX das evolutionäre Niveau einer Gesellschaft. Die Gesellschaftsformationen sollen

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durch die herrschenden Produktionsweisen bestimmt sein. Produktionsweisen können miteinander verglichen werden (a) im Hinblick auf die Regulierung des Zugangs zu den Produktionsmitteln und (b) im Hinblick auf die strukturelle Vereinbarkeit dieser Regeln mit dem jeweiligen Entwicklungsstand der Produktivkräfte. Dieser Begriff eignet sich für eine entwicklungslogische Ordnung des geschichtlichen Materials besser als andere Konzepte (wie periodenspezifische Hauptmaterialien, Energiequellen, Produktions- und Waffentechniken, Kooperationsformen, Marktformen, Typen gesellschaftlicher Arbeitsteilung, Kommunikationsmedien usw.). Aber es fragt sich, ob der Begriff der Produktionsweise abstrakt genug ist, um die Universalien gesellschaftlicher Entwicklungsniveaus zu treffen. Schwierigkeiten ergeben sich nämlich sowohl beim analytischen Versuch, die urgemeinschaftliche, asiatische, antike, feudale und kapitalistische Produktionsweise unter scharfen strukturellen Gesichtspunkten abzugrenzen und entwicklungslogisch anzuordnen, wie auch bei dem empirischen Versuch, die ökonomische Struktur der verschiedenen Gesellschaften in terms einer Überlagenmg verschiedener Produktionsweisen zu erfassen (ein gelungenes Beispiel ist GODELIERS Analyse des Inkareichs zum Zeitpxmkt der spanischen Eroberung; die Schwierigkeiten haben sich andererseits in den verzweigten Diskussionen über die Einordnung der asiatischen Produktionsweise und des europäischen Feudalismus gezeigt). Ich ziehe es vor, Gesellschaftsformationen anhand hochabstrakter Regelungen zu kennzeichnen, die wir Organisationsprinzipien nennen können. Darunter verstehe ich diejenigen Innovationen, die durch entwicklungslogisch nachkonstruierbare Lernschritte hervorgebracht werden und die ein jeweils neues Lemniveau der Gesellschaft festlegen. Statt einer Erläuterung muß ich mich an dieser Stelle mit dem pauschalen Hinweis auf das in der PiACEischule gut erforschte ontogenetische Modell von Stufen kognitiver und moralischer Entwicklung begnügen. Dabei handelt es sich um entwicklungslogisch angeordnete Strukturmuster, die jeweils neue strukturelle Bedingungen möglicher Lernprozesse, d. h. neue Lernmueaus bedeuten. Das Organisationsprinzip einer Gesellschaft umschreibt Variationsspielräume. Es legt insbesondere fest, innerhalb welcher Strukturen Wandlungen des Institutionen- und Deutungssystems möglich sind; in welchem Umfang vorhandene Produktivkraftkapazitäten gesellschaftlich genutzt bzw. die Produktivkraftentfaltung selbst stimuliert werden kann; und damit auch: wie weit die Steuerungsleistung, also die Systemkomplexität einer Gesellschaft gesteigert werden kann. Wenn man sich der Strukturmuster bedient, die sich an der präkonventionellen, der konventionellen und der postkonventionellen Stufe des mora-

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lischen Urteilens tind Handelns ontogenetisch ablesen lassen, dann ergibt sich beispielsweise für die Formen der sozialen Integration auf den drei vielleicht wichtigsten Niveaus der Entwicklung sehr grob folgendes: — die familistische Organisation der vorhochkulturellen Gesellschaften verlangt eine konventionelle Struktur des Handelns in Normalsituationen, während das Recht (die konsensuelle Regelung von Handlungskonflikten) noch auf der präkonventionellen Stufe der Schiedsgerichte und des Fehderechts steht; — die politische Organisation der hochkulturellen Gesellschaften setzt voraus, daß die in mythischen Weltbildern vorweggenommene Moralisierung des Rechts institutionalisiert wird, d. h. daß nun auch die Rechtsprechung eine konventionelle Struktur annimmt; — schließlich setzt die kapitalistische Organisation der modernen Wirtschaftsgesellschaften voraus, daß die in den Weltbildern der entwickelten Hochkulturen bereits ausgeprägten postkonventionellen Strukturen in das allgemeine Bewußtsein eindringen und die (im Rahmen des bürgerlichen Privatrechts vorgenommene) Ausgrenzrmg des Produktionsprozesses als eines Bereichs strategischen Handelns und privater Interessenverfolgung nach universalistischen Grundsätzen ermöglicht (freie Lohnarbeit). V. These: Eine Gesellschaftsformation soll nicht durch eine bestimmte Produktionsweise (oder gar durch die besondere ökonomische Struktur einer Gesellschaft), sondern durch ein Organisationsprinzip beschrieben werden. Jedes Organisationsprinzip legt ein Lemniveau fest, d. h. strukturelle Bedingungen der Möglichkeit von kognitiv-technischen und moralischpraktischen Lernprozessen. Bei der Erklärung des Übergangs von einer Gesellschaftsformation zur anderen (z. B. bei der Entstehung des Staates oder des Kapitalismus) müssen wir (a) auf Systemprobleme zurückgehen, welche die Steuerungskapazität der alten Gesellschaftsformation überfordern, und (b) auf den evolutionären Lernvorgang rekurrieren, der das neue Organisationsprinzip hervorbringt. Eine Gesellschaft kann evolutionär lernen, indem sie Systemprobleme, vor denen die verfügbare Steuerungskapazität versagt, durch eine Abschöpfung und institutionelle Nutzung der überschießenden individuellen Lernkapazitäten lösbar macht. Dabei ist der erste Schritt die Etablierung einer neuen Form der sozialen Integration, die dann eine Steigerung der Produktivkräfte und die Erweiterung der Systemkomplexität erlaubt.

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VI. begreift unter strukturellen Gesichtspunkten die Gattungsgeschichte als eine diskrete Folge von Produktionsweisen, die in ihrer entwicklungslogischen Anordnung die Richtung der sozialen Evolution erkennen lassen. Indem wir den Begriff der Produktionsweise durch den des Organisationsprinzips ersetzen und Entwicklungsstufen mit Hilfe zweidimensionaler Lerrmiveaus beschreiben, die ihrerseits Spielräume der Komplexitätssteigerung festlegen, erzielen wir theoriestrategische Vorteile, von denen ich vier erwähnen möchte: MARX

(1) Die funktionalistische Analyse von Neuerungen, welche die Systemkomplexität erweitern, erhält im Zusammenhang mit der strukturellen Analyse von Lerrmiveaus erst ihren angemessenen Stellenwert. Sie kann zu der Erklärung beitragen, wie einzelne Gesellschaften auf dem gleichen Entwicklungsniveau verschiedene Organisationsstrukturen ausbilden und verschiedene Entwicklungsvarianten wählen können: wie z. B. ein und dasselbe Organisationsprinzip zu den verschiedenen Formen der matrilinearen, patrilinearen und bilinearen Verwandtschaftssysteme oder zu den verschiedenen politischen Ordnungen der asiatischen, der antiken und feudalen Produktionsweise hat ausgeprägt werden können. (2) Das im Neoevolutioiüsmus übliche Richtungskriterium der wachsenden Systemkomplexität ist ungeeignet, weil (a) zwischen Komplexität und Bestandserhaltung keine eindeutige Beziehung besteht: es gibt Komplexitätssteigerungen, die sich als evolutionäre Sackgassen erweisen; und weil (b) der Zusammenhang zwischen Komplexität und Bestandserhaltung auch dadurch problematisch wird, daß Gesellschaften, anders als Organismen, klar geschnittene und objektiv entscheidbare Bestandserhaltungsprobleme nicht keimen. Mit dem Begriff des Organisationsprinzips wählen wir ein historisch-materialistisches Fortschrittskriterium, das diese Schwierigkeiten nicht teilt und das — iiüt Bezugnahme auf die universalen Geltungsansprüche der propositionalen Wahrheit und der normativen Richtigkeit, wie ich glaube, gerechtfertigt werden kann: Die Entfaltung der Produktivkräfte bedeutet in Verbindung mit der Reife der Formen der sozialen Integration Fortschritte der Lernfähigkeit in beiden Dimensionen, Fortschritte in der objektivierenden Erkenntnis und in der moralisch-praktischen Einsicht. (3) Der Historische Materialismus braucht kein Gattungssubjekt zu imterstellen, von dem eine Evolution ausgesagt wird oder an dem sich die Evolution vollzieht. Träger der Evolution sind die Gesellschaft und die ihr integrierten Handlimgssubjekte zumal. Ablesen läßt sich die Evolution

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an einem rational nac/izukonstruierenden Muster einer Hierarchie von immer umfassenderen Strukturen. Wenn wir diese Strukturen von den Vorgängen trennen, mit denen die empirischen Substrate sich verändern, brauchen wir zudem weder Einsinnigkeit noch Kontinuität, noch Notwendigkeit oder Irreversibilität des Geschichtsverlaufs zu unterstellen. Wir rechnen mit anthropologisch tiefsitzenden allgemeinen Strukturen, die sich in der Hominisationsphase ausgebildet haben und den Ausgangszustand der sozialen Evolution festlegen: Strukturen, die vermutlich in dem Maße entstanden sind, wie das kognitive und motivationale Potential der Menschenaffen unter Bedingungen sprachlicher Kommunikation umgeformt und reorganisiert worden ist. Solche Grundstrukturen beschreiben den logischen Spielraum, in dem sich umfassendere Strukturbildungen vollziehen können. Ob es jedoch und wann es zu neuen Strukturbildungen kommt, hängt von kontingenten Umständen ab. (4) Entwicklungslogik und Geschichte dürfen freilich nicht wie Struktur und Ereignis (in der strukturalistischen Umdeutung des Historischen Materialismus) auf eine abstrakte Weise getrennt werden. Ebenso falsch wäre die vorschnell hegelianisierende Verbindung, die Entwicklungslogik und Geschichte als zwei Momente derselben Totalität zusammenspaimt, denn dann entgeht man nicht der Gefahr, das Prozessieren, durch das hindurch sich die Totalität erhält, als eine Bewegung sei es des konstruierenden Geistes oder des arbeitenden Subjekts, jedenfalls in den Grenzen der Subjektphilosophie zu deuten. Ich bin mit LUHMANN der Auffassung, daß Geschichtsabläufe angemessen weder kausalgesetzlich mit Hilfe nomologischer Hypothesen noch teleologisch als die Realisierung vorentworfener Möglichkeiten begriffen werden können. Aber wie sieht eine angemessene Logik der Erklärung der sozialen Evolution aus? Weim wir zwischen den Ebenen der strukturellen Möglichkeiten (Lemniveaus) und der faktischen Abläufe (Lernprozesse) unterscheiden, können wir zwei gegenläufige Kausalitäten sehr vorläufig identifizieren. Das Eintreten eines neuen historischen Ereigniskomplexes können wir mit Bezugnahme auf kontingente Randbedingungen und auf die Herausforderung durch strukturell offenstehende Möglichkeiten erklären; hingegen erklären wir das Auftreten einer neuen Struktur mit Bezugnahme auf die logische Form vorangegangener Strukturen und auf den Anstoß durch problemerzeugende Ereignisse. Was das freilich heißen kann: durch strukturell offenstehende Möglichkeiten „herausgefordert" zu werden bzw. durch problemerzeugende Ereignisse „angestoßen" zu werden — das läßt sich nur

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analysieren, wenn wir strukturelle Möglichkeiten als universale Bedingungen möglicher Lernprozesse verstehen und wenn wir Ereignisse als Vorgänge interpretieren, die im Licht von Lösungsmöglichkeiten Probleme bedeuten. Der Zusammenhang der beiden Kausalitäten, mit denen wir uns das Einwirken der Strukturen auf die Geschichte (und damit kumulative Abläufe) und umgekehrt das Einwirken der Geschichte auf die Strukturen (und damit die Entstehung neuer Strukturen) klarzumachen versuchen, läßt sich vermutlich erst im Rahmen einer Prozeßlogik der Entstehung xmd der Lösung von Problemen ernstlich analysieren. (Die Frage, ob diese Logik der Hegelschen Dialektik so ähnlich sehen wird, daß wir für sie den Namen Dialektik beibehalten dürfen, wage ich nicht im voraus zu entscheiden — und ist vielleicht auch nicht so wichtig.) VII. Auf die Zusammenfassung der VI. These will ich zugunsten einer Schlußbemerkung verzichten, die aus dem Rahmen des skizzierten Forschungsprogramms herausfällt. Schluß: Neue Lemniveaus bedeuten nicht nur erweiterte Optionsspielräume, sondern auch neue Problembereiche. Mit der Einführung der Familienstruktur entsteht das Problem der Abgrenzung des Gesellschaftssystems gegen die äußere Natur. In neolithisdien Gesellschaften wird die Harmonisierung der Gesellschaft mit der natürlichen Umwelt zum Thema, kommt Macht über die Natur als knappe Ressource zu Bewußtsein: die Erfahrung der Ohnmacht gegenüber den Kontingenzen der äußeren Natur muß durch Mythos und Magie weginterpretiert werden. Mit der Einführung einer politischen Gesamtordnung entsteht das Problem der Selbststeuerung des Gesellschaftssystems. In hochkulturellen Gesellschaften werden staatliche Ordnungsleistungen ein zentrales Bedürfnis, kommt Rechtssicherheit als knappe Ressource zu Bewußtsein: die Erfahrung von gesellschaftlicher Repression imd Willkür muß durch Herrschaftslegitimationen wettgemacht werden. Das gelingt im Rahmen rationalisierter Weltbilder (mit denen im übrigen das Zentralproblem der vorangegangenen Stufe (Ohnmacht) entschärft werden kann). In der Moderne entsteht mit der Autonomisierung der Wirtschaft (und einer Komplementarisierung des Staates) das Problem eines selbstgesteuerten Austausche des Gesellschaftssystems mit der äußeren Natur. Kapitalistische Gesellschaften stehen unter dem Imperativ der Vermehnmg des Reichtums, Gebrauchswerte kommen als knappe Ressource zu Bewußtsein: die Erfahrung der sozialen Ungleich-

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heit ruft gegenrevolutionäre Befriedungsstrategien auf den Plan. Diese sind im Rahmen bürgerlicher Demokratien (mit denen übrigens das Zentralproblem der vorangegangenen Stufe (Rechtsunsicherheit) entschärft werden kann) erfolgreich. Wenn schließlich die postmodernen Gesellschaften durch einen Primat des Wissenschafts- und Erziehungssystems ausgezeichnet sein sollten, dürfte man über das dann entstehende Problem eines selbstgesteuerten Austauschs des Gesellschaftssystems mit der inneren Natur spekulieren. Zum Thema würde wiederum eine strukturell verknappte Ressource: nicht die Beschaffung von Macht, Sicherheit oder Wert, sondern die Beschaffung von Motivation und Sinn. In dem Maße wie die soziale Integration der inneren Natur, d. h. der bisher naturwüchsig ablaufende Prozeß der Interpretation der Bedürfnisse diskursiv vollzogen würde, müßte sich einerseits Partizipation über alle Lebensbereiche ausbreiten, während die gleichzeitig wachsende Gefahr der Anomie und der Acedie andererseits neue, mit Motivationskontrolle befaßte Sozialverwaltungen auf den Plan rufen würde. Vielleicht bildet sich dann ein neuer institutioneller Kern, in dem Elemente der öffentlichen Erziehung, der sozialen Fürsorge, des liberalisierten Strafvollzugs und der Therapie von Geisteskrankheiten verschmelzen. Ich erwähne diese Perspektive, für die es bestenfalls Anhaltspunkte geben kann, nur, um auf die Möglichkeit hinzuweisen, daß ein sozialstrukturell verankertes Muster der differentiellen Ausübung sozialer Gewalt sogar die ökonomische Form der Klassenherrschaft (ob sie nun über private Eigentumsrechte oder über elitär besetzte Staatsbürokratien ausgeübt wird) überleben könnte. In einer künftigen, zum sozialpsychologischen Zwang zugleich abgemilderten und intensivierten Form der Klassenherrschaft wäre „Herrschaft" (das Wort erinnert an die offene, personengebundene, politische Form der sozialen Gewaltausübung, zumal an die des europäischen Feudalismus) ein zweites Mal gebrochen — nicht durchs bürgerliche Privatrecht, sondern durch das sozialstaatliche Erziehungssystem. Ob sich dann aber ein Teufelskreis zwischen erweiterter Partizipation und anwachsender Sozialadministration, zwischen dem Reflexivwerden der Motivbildungsprozesse und der Zunahme an sozialer Kontrolle (d. h. an Motivmanipulation) einspielen müßte, halte ich, trotz der dezidierten Urteile wiederbelebter pessimistischer Anthropologien, für eine im voraus unentscheidbare Frage. In unserem Rahmen bietet sich eine andere anthropologische Überlegung an. Wenn man das vorgeschlagene Problemspektrum der Selbstkonstituierung der Gesellschaft, das von der Abgrenzung gegen die Umwelt über

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die Selbststeuerung und den selbstgesteuerten Austausch mit der äußeren Natur bis zum selbstgesteuerten Austausch mit der inneren Natur reicht, für plausibel hält, dann ist mit dem Reflexivwerden der Motivbildung imd der strukturellen Verknappung von Sinn der logische Spielraum für evolutionär neue Problembereiche erschöpft. Das Ende des ersten Durchgangs könnte auf neuem Niveau eine Rückkehr zu Problemen der Abgrenzung bedeuten, nämlich zur Entdeckung innerer Grenzen, an die die Prozesse der Vergesellschaftung stoßen, und zum Aufbrechen neuer Kontingenzen an diesen Grenzen der gesellschaftlichen Individuierung. Möglicherweise ist die Selbstabgrenzung der Gesellschaft gegen die innere Natur die sozialstrukturelle Bedingung der Möglichkeit einer Autonomie, die nicht gleichzeitig Repression der iimeren Natur, sondern Einheit der Identität und des Nicht-Identisdien im Sirme der Negativen Dialektik ADORNOS bedeutet.

HERMANN LEY (BERLIN-OST)

GEGENTHESEN ZU EINIGEN ZUM HISTORISCHEN MATERIALISMUS VORGEBRACHTEN FRAGEN Es fragt sich, ob der von KARL MARX begründete Historische Materialismus noch als solcher bezeichnet werden sollte, wenn aus der von MARX begründeten Gestalt nicht unwesentliche Parameter entfallen. Enthalten die Thesen von JüRGEN HABERMAS zur Rekonstruktion bemerkenswerte Aspekte, so erscheint mir vornehmlich belangvoll, auf was er verzichtet. Soll Historischer Materialismus weder Heuristik noch objektivistische Geschichtstheorie oder Kritik der politischen Ökonomie sein, dann fehlen schlicht Anwendungsbereiche retrospektiver Art, die durchaus in aktualisierbares Zeitverständnis einzugehen vermöchten. HABERMAS inauguriert gleichsam ein Verstellen der näheren Vergangenheit, um erst wieder an frühhistorischen Gesellschaften exemplarisches Verständnis zu gewinnen. Die Intentionen von MARX gehen indes vielmehr auf ein Geschichtsverständnis der Vergangenheit zum Zweck der Gestaltung und Beeinflussung zukünftiger Prozesse. Auseinandergehalten werden dauernd, mehrmalig und einmalig wirkende Faktoren, für die vorwiegend Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse Rahmen und Maßverhältnis abgeben. Domirüeren in der frühhistorischen Gesellschaft bei niedrigem Stand der Produktivkräfte nicht diese, sondern die Familienbeziehungen, so behalten nach MARX die Produktivkräfte ihre hervorragende Geltung für die weiteren Ordnungen. HABERMAS unterscheidet zwischen materiellen und geistigen Produktivkräften, wobei die materiellen zur quantite negligeable werden, um die Fiktion einer postindustriellen Gesellschaft als Zukunftsziel und schimärische Chance zu etablieren. Der Wegfall der Ökonomie erscheint für HABERMAS als Möglichkeit, die er als Vorteil auffaßt, da er sie irgendwie mit materiellen Produktionsinstrumenten in Beziehung setzt, die man mit dem Wegfall der Ökonomie loswerden könnte. Das Aussparen der Produktionsinstrumente und der Produktionsmittel ist für den Historischen Materialismus uncharakteri-

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stisch. Das gleiche gilt für die jedesmalige ökonomische Struktur der Gesellschaft, die MARX und ENGELS als die reale Grundlage auffassen, aus der der gesamte Überbau abzuleiten sei. Mit dieser Gründung der menschlichen Gesellschaft auf die ökonomische Struktur, aufgefaßt als Spezifik der Produktions- und Verkehrs Verhältnisse, wird der philosophische Materialismus in die Gesellschaft eingeführt. Sollen diese Sachverhalte entfallen, wie HABERMAS anzunehmen vorschlägt, handelt es sich kaum noch um so etwas wie Materialismus. Es wäre sogar zu fragen, ob es sich noch um eine Geschichtstheorie handele, die sich bei gegenwärtigem Kenntnisstand und verbreitetem Problembewußtsein als Gesellschaftstheorie bezeichnen kann. Ökonomie und Produktionsmittel aus dem gesellschaftlichen Kontext auszuschließen, reduziert den sogenannten Rekonstruktionsversuch auf ein philosophierendes Ressentiment gegen FRANKLINS toolmaking animal, aus dem tools, animal und making eliminiert sind. Zweifellos bleibt dann eine Lebenslehre erhalten. Ihre emanzipatorische Potenz erstreckt sich aber auf das Befreien von Materialismus und Geschichte, eben das Begründen einer Theorie der post-histoire. Subjektiv liegt darin vielleicht die Vorstellung eines Fortschritts, der sich auf einen von zahlreichen materiellen Belangen befreiten Begriff zu bringen meint. Ob damit aber interaktionistisch humane oder humanere Befindlichkeit zu begründen wäre, erscheint zweifelhaft, weil die vordergründigen Strukturen der Lebenstätigkeit weggeblendet sind. Geschieht das Wegstreichen der als materiell oder katalogartig durch Elemente der konkreten Lebenstätigkeit zu beschreibenden Sphäre aus als notwendig erachteten Gründen, müßte nach der inneren Rechtfertigung gefragt werden. Werden Naturwissenschaften und Industrie in einer Lehrmeinung stigmatisiert, gehören sie mindestens imter die geschichtlich vorkommenden Objekte, worauf Historischer Materialismus strukturmäßig und ohne Ressentiment verweist. Als ideelle und materielle Produktivkräfte gehören sie selbst dann in das Gesellschaft bezeichnende Strukturgefüge, wenn a) eine andere Rangfolge der zu Basis und Überbau gehörigen Elemente vorzusehen wäre, b) die zu akzeptierende Wertskala ihnen ausschließlich so etwas wie ethisch verstanden negative Befrachtung zuerkennen wollte. Da aber im Verständnis von MARX das Einbeziehen negativer Funktionen mit Hegelscher Dialektik kontaktiert, kommt dem ethischen ürteil für die Geschichtstheorie primär kein übergreifender Wert zu. Das Merkmal ,negativ' erfährt damit eine herausragende Bedeutung. Sie gilt als kategoriale Bezeichnung für innere, der Gesellschaft eingeborene Selbst-

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bewegung. Da Gesellschaft des Anthropos gemeint ist, insistiert die Theorie auf Individuen mit Handlungsfähigkeit, Bewußtsein und dem Eigenschaftskatalog unter anderem des Homo faber. Selbstbewegung heißt dann so viel und so wenig als das Erzeugen imterscheidbarer, nicht bloß sich wiederholender Horizonte, für deren Entstehen nur Innerweltliches zur Begründung oder Beschreibung der vorkommenden Erscheinungen heranzuziehen erlaubt wäre. Was man als negativ auffassen müßte, bedarf dann der Erläuterung durch von Hegel stammende Intentionen. Das Existieren von so etwas wie Industrie bezeichnet das Vorhandensein von Objektgruppen, die produktiven Antrieb signalisieren, der stochastisch diese selbst, sämtliche Bewußtseinsschichten und die Beziehungen der Individuen untereinander in Bewegung hält und historisch noch nicht Gehabtes hervorzubringen vermöchte. Das Merkmal ,negativ' bezeichnet damit das Vorhandensein der Kategorie des Werdens und Vergehens, des Verharrens und des innerweltlichen Transzendierens von Gewordenem. Aus Hegel stammt auch der Begriff des Aufhebens. Verweist das Negieren entstandener Sachverhalte wie gesagt auf Werden, so bezeichnet Aufheben nicht bloß Vergehen, sondern in ein und derselben logisch gemeinten Hinsicht Erhalten und Entstehen von noch nicht Vorhandenem. Historischer Materialismus versteht sich aber als eine inhaltliche, nicht bloß formale Entwicklungslogik. Soweit Logik als formal und nicht mit Entwicklung befaßt vorkommt, gehört sie in die ideellen und potentiellen Produktionsmittel. Will man vermuten, daß in irgendeinem Sinne Produktionsinstrumente materieller Art, die Erfahrung und Verstand kondensiert enthalten, keinerlei Relevanz mehr besäßen und das historisch späte Produkt der Industrie von der Geschichte überholt werde, dann wiederholt sich sicherlich so etwas wie RoussEAuismus. Das seinerzeitige Entdecken von Ambivalenz oder der Schattenseiten von Kulturprodukten einschließlich etwa des Theaters kommt bei JEAN JACQUES noch nicht zu der Idee einer gerade aus Schadeffekten entstehenden inneren Selbstbewegung der Gesellschaft. Das Phantastische einer als glückselig aufgefaßten Natur reproduziert die Vorstellung des Paradiesischen als angeblich irdische Realität. Mit dem Entsagen alles Eingreifens in pflanzenhaftes Leben, dem die Individuen zugeteilt sind, entsteht die Vorstellung parasitärer Existenz mit einer bestenfalls ätherischen Vorstellung von Arbeit. Jenes Hegelsche Aufheben verweist auf die Kontinuität im Werden und Vergehen, ohne der Natur oder dem Menschen Unveränderlichkeit zuzuschreiben, sondern vielmehr die Unruhe

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ständiger Problematisierung alles Gewordenen. Moral und Verantwortung bewährt sich dann in dem Durchhalten der Auseinandersetzung unter den Individuen und dieser mit der Natur. Die Hegelsche Dialektik entzündet sich in der Analyse solcher Prozesse an dem Entdecken der ihrer Wirkung nach übergreifenden Funktion der Mittel. Historischer Materialismus macht aus dieser durch Hegel schillernd verstandenen Kategorie ein zentrales Faktum. Die Mittel sind konkret verstanden als materielle Einheit von Materiellem und Ideellem. Über die andere Kategorie der Vermittlung wird das Beziehungsgefüge angesprochen, das sich als Basis und Überbau materiell und ideell unterscheidet, klassifikatorisch auseinanderhalten läßt imd als sich selbst determinierend in einer infiniten Menge von Wechselbeziehungen realisiert. Im Verständnis von MARX sind nun nicht nur die materiellen Objekte und Subjekte von Natur und Gesellschaft unter die Kategorie ,materiell' subsumiert, die einem tradierten Begriff des 18. Jahrhunderts entspricht. Darüber hinaus gehören die in dem Vorgang der Vermittlung entstehenden Beziehungen hinzu, üm ihren unterschiedlichen Charakter erkenntnistheoretischer Provenienz zu verdeutlichen, mögen sie hier als nicht physikalisch bezeichnet werden. Sie entsprechen Handlungsstrukturen und Bedingungsgefügen, die von der Geschichte nicht inventarisiert zur Überlieferung gelangen, also mit Unbestimmtheit für den theoretisch versierten Chronisten zu erschließen sind. Sie entstehen im gegenwärtigen Handlungsprozeß und sind den handelnden Individuen, Gruppen und sozialen Klassen stets nur partiell bewußt, weil die Strukturen sich, um einen klassischen Terminus von MARX ZU verwenden, hinter dem Rücken der Beteiligten durchsetzen. Diese Eigenschaft, die der Historische Materialismus für die Gesellschaft allgemein skizziert, stellt einen Kontext mit den Naturerscheinungen her, deren Gesetze ähnlich entstehend konzipiert sind. Aus einer Entwicklungsstufe der Gesellschaft die Funktion der materiellen Produktivkräfte herauszulösen, bedeutet inhaltlich das Unterbrechen der mit der Kategorie Vermittlung bezeichneten Vorgänge. HABERMAS nennt den Historischen Materialismus eine ernst zunehmende Alternative zu den heute vorliegenden Ansätzen einer Theorie der sozialen Evolution. Er nimmt an, früher lasse sich die politische Ökonomie als angemessene analytische Ebene auffassen. Inzwischen gelte der Sachverhalt nicht mehr. Sie weiter anzuerkennen, bedeute den Versuch der Immunisierung gegen kritisches Ausschalten. Umgekehrt bietet sich an festzustellen: Frei steht es zwar, das mit Ökonomie bezeichnete Gebiet auszuschalten, nicht aber zu behaupten, daß es sich um Historischen Materia-

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lismus handele. Der Verweis von HABERMAS auf BELL und TOURAINE bringt eine Problemverschiebung, durch die es sich erforderlich machte anzudeuten, was denn innerhalb des gesellschaftlichen Kontextes als materiell aufzufassen sei. Mit dem Bemerken, es lasse sich vermuten, das evolutionäre Primat gehen auf das Bildungs- und Wissenschaftssystem über, wird von HABERMAS unterstellt und akzeptiert, in dem Primat der Ökonomie gebe es in früheren Phasen kein entsprechendes Analogon. Bildung bezieht sich auf das Übertragen des je vorhandenen Wissens und der mehr oder minder ritualisierten Verhaltensweisen auf die kommende Generation. Dem Wissenschaftssystem entsprechend sind Erhalten und Erzeugen von Erfahrung angesprochen, dessen Reflektionsgrad keine Vernachlässigung verträgt. Die Produktionsinstrumente gehen stets sozusagen durch den Kopf, gleichgültig wie simpel oder untrivial sie sein mögen. Im Prinzip verlangt eine generalisierte Gesellschaftstheorie, in den synchronischen Schemata oder Mustern solche charakteristischen Konstanten wie das Mitwirken des Verstandes bei dem Entwurf von Mitteln und im Prozeß der Vermittlung anzumerken, um nicht das Neue gegenwärtiger oder künftiger Epochen gleichsam an der falschen Stelle zu suchen. In jedem Falle laufen, jedenfalls nach der Vorstellung des Historischen Materialismus, die bestimmenden Wirkungen über durch und aus dem Kopf erzeugte Produktionsinstrumente. Bildungs- und Wissenschaftssystem gewannen dabei an Relevanz, ohne daß sie etwa zum Selbstzweck geworden wären oder der materiellen Realisierung in produzierenden Aggregaten zu entbehren vermöchten. Innerhalb des von HABERMAS angemerkten Bildungs- und Wissenschaftssystems zeigen sich indes als wirklich spektakulär die die Funktion der Gesellschaft und die Produktion betreffenden Disziplinen, unter denen die technischen Wissenschaften gerade gegenüber literarischem Anspruch als nicht zu vernachlässigen anzumerken wären. Das Unterscheiden von instrumnteller und praktischer Vernunft erneuert bei HABERMAS' Versuch einer ,Rekonstruktion' mehr oder minder analog eine KANiische Unterscheidung, die zu reflektieren anzuempfehlen scheint. Mit ironischer Suffisanz erkennt KANT den Dogmatismus kosmologischer Vemunftideen u. a. darin, daß das denkende Selbst einfacher und daher unverweslicher Natur, daß dieses zugleich in seinen willkürlichen Handlungen frei und über den Naturzwang erhoben oder erhaben sei und daß es eben so viele Grundsteine der Moral und Religion gebe. ^ Dieser als PLATONistisch gekennzeichneten Strömung konfrontiert KANT ^ I. Kant: Kritik der reinen Vernunft. A 466.

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den EpiKUReismus. Ohne hier näher auf die andernorts behandelte Signifikanz der Unterscheidung einzugehen, gewährt sie einen Einblick in die Problematik, die sich aus dem Insistieren auf einer Willkürsmoral gegenüber Naturzwang und seiner technisch-ökonomischen Kanalisierung ergibt. Die von KANT aus seiner Distinktion gezogenen Konsequenzen sind hier ebensowenig zu erörtern. Da sich philosophisches Denken seine Kontinuität in sinnfördemder oder sinnentstellender Anknüpfung zu bewahren weiß, scheint es für vorliegende Problematik unerheblich, darauf einzugehen. Sicherlich reflektierte KANT kaum, wieviel seine transzendentale Dialektik dem Parmenides und dem Sophistes verdankte. Dem Glauben und den intellektuellen Voraussetzungen zum Behufe unserer praktischen Angelegenheiten will KANT jedenfalls nicht zubilligen, sie dürften in dem Pompe von Wissenschaft und Vernunft auf treten. ® Damit steht KANT nicht an, das Trennen von jenen beiden Verhaltensweisen abzuqualifizieren. Daß menschliche Kunst in KANTS Sprache der Natur Gewalt antut, paradigmatisch gesprochen Häuser, Schiffe, Uhren erzeugt und so die Natur nötigt, nicht nach ihren Zwecken zu verfahren, sondern sich in die unsrigen zu schmiegen entbirgt simpel ein kompliziertes, um nicht zu sagen komplexes Bedingungsgeflecht. Der Bezug von Natur und Technik enthüllt sich der in der Aufklärung entsprungenen nicht-ROUSSEAuistischen Kritik als antiteleologisch, dafür aber als gediegenes Würdigen ingenieursmäßiger Kunstfertigkeit. Diese menschlichen Zwecke sind den Vorgängen eingegliedert, die den Faden physischer Untersuchungen abzureißen * gerade nicht erlauben. In dem Verhältnis von Zweck und den übergreifend wirkenden Mitteln sind die in den Historischen Materialismus eingegangenen Topoi vorgezeichnet, die ein abgewandelter Evolutionismus abzuschaffen für nötig hält. Mit der Beziehung von synchronischen und Qualitätsänderungen erzeugenden diachronischen Strukturen ist wie in dem Schema der Basis-Überbau-Beziehungen nicht vorgegeben, in welcher Hinsicht Evolution die Grundparameter selbst betreffe oder mit welcher Intensität sie zur Geltung kämen bzw. verschwinden müßten. Das Separieren der materiell wirksamen und der ideellen Tätigkeit und der unterschiedlich moralisierenden Evaluation läßt sich indes von Absichten und Wunschvorstellungen treiben, die jenen Bezirk reaktivieren, gegen dessen Minderbewertung 2 A 470, 471. » A 626. * A 470.

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in nicht bloß deutscher Ideologie Historischer Materialismus entstanden ist. Das Insistieren auf einem mehr oder minder ausgesprochenen Verzicht auf die Sphäre der Technik überhaupt oder wenigstens auf ihre produktive Veränderung ließ bei MARX die Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen entspringen. Sie sollte die Möglichkeit von gutem Gewissen hinsichtlich menschenwürdiger Nutzung bei gesteigertem Entfaltungstrend sicherstellen und ihn in die aus der Geschichte entsprungene Zielsetzung einzubziehen gestatten. Sie richtet sich gegen jedes Konzept, aus begründeter oder gefälscht unbegründeter Animosität gegen sekundäre oder tertiäre Folgen des Anwendens von Mitteln eine regrediente Zwecksetzung zu initiieren, die anklägerisch Ideologieverdacht gegen materielle Vermittlungsstrukturen vorbringt und ein der Lebenstätigkeit abgewandtes Moralisieren als emanzipatorisch ausgibt. Bringen die Produktionsverhältnisse tatsächlich die Verteilung sozialer Macht zum Ausdruck, so bleiben sie unterinterpretiert, wenn man ihnen als signifikantes Merkmal bloß zuschreiben wollte, sie legten fest, in welcher Weise die Arbeitskräfte bei einem gegebenen Stand der Produktivkräfte mit den verfügbaren Produktionsmitteln kombiniert werden. Innerhalb des Historischen Materialismus geben Produktionsverhältnisse einen Entwicklungsabschnitt frei, der sich in den faktisch erzeugten Produktionskräften und der Möglichkeit entsprechenden Prozesses mißt. Sie geben deshalb einer ganzen Folge technisch verstandener Produktionsweisen Raum und beziehen Sequenzen technischer und naturwissenschaftlicher Revolutionierung ein. Sie limitieren ein ganzes Intervall von Sachverhalten und Entwicklungsschritten, deren Funktion das partielle Aufheben von Limitationen zum Thema hat. Die Ordnungen unterscheiden sich empirisch konstatierbar durch ihre Neigung zu einem Einrichten innerhalb anscheinend unaufhebbarer Limitationen und damit verbundener Tendenz des Verharrens bei einmal Gegebenem oder dem Fehlen jeder Scheu, sichtbare Limitationen als unaufhebbar anzusehen. HABERMAS neigt gemäß seinen Thesen dazu, jener zuerst erwähnten Ordnung eine besondere moralische Qualifikation zuzusprechen. Der gegebene Stand der Produktivkräfte besäße den Vorzug, weniger Störung durch Veränderung zu provozieren. Die daran ansetzenden ,Rekonstruktionsversuche' wären damit so etwas wie etablierte Zeitumkehr und das Absegnen eines Rückwärtslaufs der Geschichte bis zu einem einfachen Leben, das seinen ihm gemäßen Typus in der Frühgeschichte vorzufinden meint. Natürlich darf dann der von HABERMAS erwähnte Homo sapiens keine Begrenzung implizieren, einfacher lebte zweifellos der Homo erectus und deshalb weniger verdächtigungswürdig. Solche in die Historie rückprojizierten Implantate

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ziehen allerdings bloß dann, wenn prinzipiell das Benutzen empirischer Daten auf Null reduziert bleibt (beiläufig sei nur erinnert an den Großwäldmord zwischen Edmonton und Feuerland in den Jahren 11500 bis 10500 ante hodie). Historischer Materialismus soll seiner Struktur nach weder gegen geschichtliche Fakten immunisieren noch gegen Projektionen in die Zukunft. Unterstrichen ist in den Thesen von HABERMAS die Funktion ideeller Produktivkräfte als Komponente der Arbeitskraft der Produzenten. Sie sind in technisch verwertbares Wissen und Organisationswissen unterteilt. Nach vorgegebener Tendenz ideologisierend erweisen sich die sicherlich xmwillentlich gegebenen Restriktionen der vorgeführten Formeln. Sie begrenzen die Produktivkräfte auf das technisch verwertbare Wissen und sparen das Intervall von Grundlagenforschung bis zu dem Eintritt in die Anwendungssphäre aus, wobei ein Intervall von einem Säkulum keine Ausnahme darstellt. Andererseits sind Produktionstechniken noch nicht produzierende Systeme, die sich wieder grob in das Erzeugen von Produktionsmitteln und Konsumtionsmitteln teilen. Letztere sind außerhalb eines genuinen Historischen Materialismus fast ebenso suspekt wie erstere, da ausgesprochen oder nicht einem entkonkretisierten Bewußtsein das Verfehlen wie das Beherrschen nicht gekannter Folgen ebenso gegen den Strich geht wie gesteigerte oder eingeschränkte Konsumtion, vorhandene Freizeit ebenso stört wie fehlende, puritanisches Verhalten mit repressiver Entsublimierung gleichzieht und das objektiv vorhandene Unbehagen in der Kultur relative Begrenzimg der Daseinssphäre gleichsam gewerbsmäßig absolut zu nehmen geneigt scheint. Die kybemetisierende Redeweise veranlaßt modisch, der Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen so etwas wie einen Lemmechanismus zu implantieren, der spontanes Wachstum technisch verwertbaren Wissens produziere. Nun könnte es zufällig sein, wenn jener spontan wirkende Mechanismus die Spontaneität bloß akzidentiell zugeteilt bekommen hätte. Das aber scheint nicht der Fall. Spontaneität erscheint gleichgesetzt mit so etwas wie einem sogenannten „selbstgesteuerten Austausch des Gesellschaftssystems mit der äußeren Natur", ergänzt durch gleiche Selbststeuerung der inneren. Was Selbststeuerung bezeichnen soll, wird nicht ohne weiteres ersichtlich. Als Gegenbegriff müßte Fremdsteuerung zur Geltung kommen. Da HABERMAS wahrscheinlich unbewußtes Regeln als neuzeitliches Produkt aufzufassen geneigt scheint, müßten frühere Ordnungen einer Fremddetermination unterliegen. Wird Steuerung als technischer Begriff aufgefaßt, so verweist die Eigendetermination auf ein erkenntnistheoretisch relevan-

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tes Phänomen. Vorkommende Bezugsgefüge wirken innerhalb einer Gesellschaft bei entsprechender Nähe der jeweiligen Subsysteme, wenn sie nicht sollen oder einfach die sich effektuierenden Wechselwirkungen unbekannt sind und deshalb außerhalb des Kalküls liegen. Unbekannte Randbedingungen wirken wie bekannte, bloß daß vorausgesehene mit geringerem Aufwand abfangbar erscheinen, wobei die Qualität der Ordnung ins Spiel kommt. Sonst bedeutet Selbststeuerung nichts anderes als das Vorhandensein von Determination nicht mechanistischer Art zwischen objektivierten Problembereichen mit Wahrscheinlichkeitstrends. Es sind Beziehungen, die sich nicht willkürlich ausbilden und deshalb als Gesetzmäßigkeiten bezeichnet werden können. Sie sind das Beziehungsgefüge innerhalb der gesellschaftlichen Wirklichkeit und nach MARX von dem Entwicklungsstand der Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse abhängig. Unabdingbar aber erweist sich das Vorhandensein von Regelungsbeziehimgen zur Natur. Es hat den Anschein, daß HABERMAS das Ausbilden von solcher Selbststeuerung als neumodisches Evolutionsphänomen empfindet — als ob es in früheren Ordnungen etwa nicht vorhanden gewesen wäre. Diese Explikation liegt nahe, da sich daran vermutlich wieder eine negierende Wertebelegung knüpft. Da sich PIABERMAS auf eine Autonomisierung der Wirtschaft in der Moderne und eine „Komplementarisierung" des Staates bezieht, müßte das Fehlen solcher Selbststeuerung eine Folge nichtautonomer Wirtschaft und fehlender Komplementarisierung des Staates, was das auch immer sein soll, bedeuten. Außerdem legt die Ausdrucksweise nahe, etwa den Unterschied von Naturalwirtschaft und Marktwirtschaft als das Gemeinte sich vorzustellen. Da aber das Verhältnis zur Natur in Rede steht, decken sich die Bezeichnungen nicht mit dem realen Sachverhalt. Vielfältig vermittelte Determination findet sich in beiden Fällen. In vorkapitalistischen Gesellschaften bedeutet lokal geplante Naturalwirtschaft keineswegs ein damit etwa verbundenes Beherrschen der Beziehungen zur Natur, da die in vorwiegend agrarisch besetzten Wirtschaftseinheiten geregelten Produktionsbeziehungen ebenso die natürlichen Bedingungen beeinflussen wie solche, die überwiegend durch Angebot und Nachfrage und unter der Kontrolle durch die Gewinnspanne Kapitale und Menschen von einer Produktionssphäre in die andere zu werfen geeignet sind. Zu bezweifeln ist, ob der Einfluß des freien Marktes tatsächlich schneller Boden verwüste und Ressourcen reduziere als der altmodische Typus frühgeschichtlicher Gesellschaften und solcher asiatischer, gemanischer oder slawischer Produktionsweise. ® Solches zu vermuten, gehört in die unkritische Übernahme

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phantasmagorischer Projektionen des Premier Discours. Mindestens verlangte es empirischer Konfirmation, um Annahmen über ein geregeltes Verhältnis zur Natur mit Anspruch auf Geltung zu statuieren. Außerhalb empirischer Kontrolle müßte man indes, selbst ohne die Ergebnisse von DENIS DIDEROTS Supplement au voyage de Bougainville (um 1755) zu kennen, beachten, ob es in den Bezirk der Gewißheit gehört, die Regelungsbeziehungen zwischen Mensch und Natur als conditio sine qua non akzeptieren zu müssen. Da es sich im Unterschied zu der Existenz organischer Lebewesen in der Natur um ein anders vermitteltes Verhältnis handeln muß, bleibt das Verändern von Bedingung und tätig Bedingendem außer Zweifel. Wie Anaerobier und Aerobier zu den Natur und sich selbst verändernden Objekten gehören, so darunter auch der Mensch, dem zusätzliche Instrumentarien zugehörig sind, die ohne Rücksicht auf die Ordmmg im Schnitt seinen Einfluß steigerten. Da anzunehmen ist, daß kognitives Erfassen von Wechselbeziehungen mit der Natur wenigstens einige Folgen von Aktivitäten hinsichtlich ihres Natureinflusses zu erfassen gestattet, entfällt der Hinweis auf Selbststeuerung als Argument. Empirisch aber läßt sich exemplarisch an Stichproben, die als Modell aufzufassen wären, testen, daß vermutete Umweltkatastrophen vielleicht als gravierendes Akzidenz in den vergangenen fünf Millionen Jahren unter dem Einfluß des Anthropos häufiger als gegenwärtig waren. Zu verlangen wäre jedenfalls, vorgebrachte Vermutung erst empirisch auszuschließen, ehe der Terminus ,Exploitation der Natur' unkritisch Anwendung finden dürfte, um Gegenwärtiges zu akzentuieren. Die in den Thesen herangezogene Prozedur eines selbstgesteuerten Austausches des Gesellschaftssystems mit der äußeren Natur erscheint mir bloß als willkürliche Benennung eines Sachverhaltes, dessen gegenwärtige Intensität gemeint sein soll, weder aber über den aktualen Status noch etwaigen Unterschied zu früheren Epochen etwas aussagt. Auf einem selbsttätigen Steuervorgang zu insistieren, heißt nichts anderes, als das Vorhandensein von Wechselbeziehungen zu konstatieren. Die andere Vermutung, eine nicht quasi autonome Ökonomie verändere unter autistischem Regime die Naturbeziehungen oder halte sie besser unter Kontrolle, entbehrt nicht eines sicherlich übertriebenen Optimismus hinsichtlich der Vergangenheit. Philosophisch erscheint nicht ohne Interesse, daß eine Umkehr KARXEsischer Hoffnungen zu der bemerkenswerten Erscheinung Anlaß gibt, besseres Verständnis ' Vgl. K. Marx: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie. Berlin 1953 und 1974. 395.

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von Wechselbeziehungen mit einem Beeinträchtigen menschlicher Existenz zu verwechseln, obwohl nichts anderes sich abzeichnet als Aphilie gegen Arbeitsteilung, die sich auf geistige Tätigkeit erstreckt. Sie macht sichbar, wo die Grenzen des Verständnisbereiches einer Disziplin und der ihrem Betreiben zugeordneten Gruppen aufhören, ein anderer Wissensbereich anfängt und Zugang bloß in dem Anerkennen eines praktischen sensus communis offen bleibt, eine Kommunikation, die horribile dictu von der Sache her sich erzwingt, repressiv verlangt, die merkwürdige Kategorie von Fachleuten zu benutzen. Von einer Sache etwas verstehen und sie machen zu können, erzeugt Verdacht. Entstehe in diesem Prozeß der Bewältigung von Realwelt die Vorstellung einer gleichsam autonomen Regulation, die Fachwissen aus dem Reservoir der Gesellschaft abfordert, dann verdichte sich die Annahme, Freiheit verschwinde. Unverständlich bleibt indes, wieso Unkenntnis ein Privileg von Freiheit gewähren solle. Im Kontext des Historischen Materialismus veranlaßt die Diskussion der Funktion von Produktivkräften, unter Rückgriff auf die Historie, durchaus ein Ausdehnen gegenwärtiger Problematik auf sonst ungenügend reflektierte Kategorien. Sie scheinen geeignet, auf Strukturen gegenwärtiger Aktualität zuzukommen, obwohl gerade nicht auf evolutive oder revolutionierende Sachverhalte provoziert wird, sondern auf das Wirken konstanter Parameter des synchronischen Schemas von Basis und Überbau. Das Debattieren von Ansichten des philosophierenden Strukturalismus sollte sich eigentlich mit der Annahme befassen, ob es denn stimme, Antihistorizismus und Antihumanismus ergebe sich als notwendiges Moment szientifischer Selbstbesinnung. MICHEL FOUCAULT versicherte schon frühzeitig, die Wissenschaften hätten schon längst auf gehört, sich mit jenen Produktivkräften zu befassen, da sich in anderen Strukturen ein wertvolleres Arbeitsfeld thematisiere. Daß die Begegmmg von Struktur und Ereignis in einen aphilen Strukturalismus gehöre, bleibt allerdings unplausibel. Wie dem auch sei, sieht sich historisch materialistischer Evolutionismus nicht bloß mit dem Verzicht auf das Annehmen von Entwicklung in der Gesellschaft konfrontiert, sondern ebenso mit einem aus übersteigerten Tempi der Evolution gedanklich resultierenden Filmriß. Daher leitet sich ab, nicht einmal über etwaiges emanzipatorisches Potential jener von MARX als fundamental verstandenen Basiserscheinung raisonnieren zu müssen, sondern, die Funktion konstanter Parameter erneut zu durchdenken, als empfehlenswert akzeptieren zu dürfen. Verzicht auf durch die Geschichte laufende Konstanten veranlaßt HABERMAS ZU der Annahme, auf Grund der früheren Prävalenz von Gentilbeziehungen sei kein monistischer Be-

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griff gesellschaftlicher Produktion der Rechtfertigung fähig. Wie indes ersichtlich, stimmt der Versuch, den Vermittlungsbegriff aus einer geschichtlichen Gesamtanalyse auszuschließen, den Rekonstruktionsversuch nicht günstiger. Wahrscheinlich wiederholt sich der aus älteren Bewußtseinsschichten stammende Ansatz, bestimmte formationsspezifische Sachverhalte als ewigen Maßstab zu substituieren, wie es dem Normalverstand des i8. Jahrhunderts als antihistorischer Effekt revolutionierter Selbstbesinnung eines prospektiven Zeitalters der Vernunft nahelag. Die Thesen versichern im Grunde, daß es vor dem Einsetzen der bürgerlichen Gesellschaft keine solche gegeben habe, worin ein kaum bestreitbarer Sachverhalt zur Artikulation kommt. Tatsächlich erinnert MARX in seiner Einleitung zu den Grundrissen ® an den Prozeß des Aufsteigens vom Abstrakten zum Konkreten und den Entstehungsprozeß des Konkreten als bestimmende Realkategorie, den Unterschied von Logischem und Historischem. Kommen die Thesen mit dem aktuellen Trend nach Sachlogiken und forschungslogisch oft inhaltlich gemeinten Gebrauchsanweisungen für das Aufsuchen und Ordnen von Material, so muß man nicht auf noch zu erstellende Manuale warten, wenn sie, in ihren Konsequenzen vielleicht desagreabel, immerhin vorliegen. Für humanspezifische Lebensweise kann dementsprechend das Vorhandensein eines monistischen Aspektes anstandslos zur Akzeptation kommen, wenn etwa Jagd und Familie thematisch beschäftigen. Als Resultat ergebe sich, versichern die Thesen, Produktion und Sozialisation seien für die Gattung von gleicher Wichtigkeit. Nun mag gegenwärtig der Fall sein, daß Gruppenbeziehungen in einem Intervall verlängerter Pubertät ihren objektiven Grund besitzen, der informellen Gruppe alte Stammesstrukturen zu unterstellen, um etwa Epochen frühgeschichtlichen Drogenkonsums sich ideologisch anzunähern, wie despektierlich vorzubringen wäre. Keineswegs gewiß aber scheint, ob die Dominanz von Gentilstrukturen, also Erscheinungen der Sozialisation, unbedingt eine Ansage zuungunsten der Produktion enthalten. Daß sich in der Hominisation Übergangsfelder ergaben, braucht nicht erst des erneuten Nachweises. Von bloß animalischer Nahrungssuche bis zum Erzeugen durch instrumentale Aktivität und den sich verdichtenden Gebrauch von Mitteln liegt ein Intervall vor, das sich zeitlich überlagert. Gruppenstrukturen gibt es in Prähominiden nicht minder wie gegenwärtig in der menschlichen Gesellschaft, wobei informelle Gruppen sich neben gentilen ausbilden und bloß manchmal epochebildend wirken. Daneben aber erwies sich für relativ frühe • Vgl. Grundrisse. 22. Heft M.

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Phasen die Intensität eines wilden Denkens, die sich in tradiertem Sammlerstadium auf Grund der zum Nahrungsgebrauch identifizierten Anzahl von Spezies und Subspezies messen läßt. Unbeschadet aber jeglicher Reflexion über Phasen des Übergangs resultiert, daß Nahrungserwerb und Sexualbeziehung gleichermaßen untrennbar jeglichem animal entsprechender biologischer Entwicklungsstufe zugehörig sind, eine signifikante Differenz aber bloß in der zunehmenden Dichte des Gebrauchs von Produktionsinstrumenten vorliegt. Selbst in der Veränderung der Natur durch organismische Aktivität grenzt sich der Mensch ganz generell und selbstverständlich auch die rezenten Ordnungen mit entwickelter Industrie entgegen einer Geschichte verdrängenden Bewußtseinssituation nicht hinreichend gültig ab. Vergleicht man deshalb Produktion und Sozialisation, so ergeben beide Erscheinungen arbeitsteilig separierte Forschungsgebiete, nicht aber das Fehlen des einen oder anderen. Unter Beachten der These II läßt sich der Hinweis auf die Funktion des Steuerns präzisieren. Aus der familistischen Gesellschaftsstruktur ist abgeleitet, sie steuere das Aneignen innerer und äußerer Natur. Das Rollenhandeln sei nicht auf Strukturen der Arbeit rückführbar. Anzumerken wäre, daß damit überhaupt eine andere Ebene als im Historischen Materialismus angesprochen ist. Es sind legitim existente gesellschaftsbezogene Kategorien, die auf einer im Vergleich zu den Ordnungen nach dem Entstehen von Ordnungen, die nicht mehr von der Gentilgesellschaft bestimmt sind, niedere Ausbildung von Produktivkräften und speziell Produktionsinstrumenten aufzuweisen haben. Da sich eine exponentielle Wachstumskurve konstruieren läßt, die zeitlich gerafft schnelle Zunahme zeigt, bedeutet das Abbrechen der Prävalenz der Stammesorganisationen eine unübersehbare Zäsur. Wer oder welche Gruppe leitend auf den gesellschaftlichen Prozeß Einfluß nimmt, erweist sich als nicht trivial, kommt aber kaum einer Innovation soziologischer Einsicht gleich. Da es sich in der aktualen Problemsituation häufig um strittige Gegenstandsbereiche handelt, in die das Verhältnis zu ökologischer Problematik hineingezogen ist, reaktivieren sich längst ausgestandene Debatten, für die es ähnlich dem i8. Jahrhundert Anlaß gibt. Es liegt also ein sichtlich periodisch wiederkehrendes Bedürfnis nach Selbstverständigung vor. Auf die hinter JEAN JACQUES rückführbare Periodizität zu verweisen, scheint nicht überflüssig, da schon allein die Wiederkehr der Fragestellung kenntlich macht, Endzeiterwartungen drängten sich nicht unbedingt als notwendige Konsequenz allfallsiger Überlegungen auf. Ein Vergleich mit Epochen, die sich zur Selbstvergewisserung ihrer Bedeutung Ordnungszahlen bedienen, braucht nicht geführt zu werden. Es genügt, auf den eschatologischen Charakter

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von Endzeitvorstellungen zu erinnern, die sich als selbstverschuldete Katastrophe ankündigten und in geheiligten Texten seit dem Entstehen der Schrift die verschiedenen Völker und Religionen begleiten. In den Erfahrungsbereich gesellschaftlicher Geschichte gehört nicht bloß das Wiederholen von Endzeitstimmung, sondern generell das systematische Verstellen des Bezugsgefüges, das moderne Analyse hervorzuholen vermag, wenn das Material zeitlich aufeinanderfolgender Schichten und die jeweils zusammengehörigen Faktenmassen von differenten Aspekten für Analyse anstehen. Verlangt HABERMAS ein Zurückführen des Rollenhandelns auf Arbeit, falls die Arbeit gesellschaftlich und geschichtstheoretisch bestimmend sein sollte, dann läßt sich sicherlich außerhalb der frühhistorischen Epochen ebenfalls nur selten ein exakter Beleg führen. Das gilt vermutlich um so mehr dann, wenn das Selbstverständnis der verschiedenen Epochen herangezogen werden sollte. Religiös bestimmte Hierarchien und Staaten, die ihre ökonomisch-technische Funktion etwa im Bewässerungsbau fanden und sie oft mit beträchtlicher Kontinuität und erstaunlichem Resultat ausfüllten, gründen sich wie selbstverständlich selbst auf irgendeinen Ruf, der Berufung erzeugte und nicht von einer ökonomischen Analyse ausging. Ein Selbstverständnis, das sich zur Arbeit verurteilt ansieht aus eigener Schuld eines früherer oder erster Generation zugeschriebenen Lapsus, kommt der modernen Analyse näher, ohne daß sich sagen ließe, vor dem geoffenbarten Datum, zeitlich mit einiger Präzision sogar nachvollziehbar, hätten die damals existierenden Anthropoiden in ihren gentes die Last des Lebenserwerbs nicht zu tragen gehabt. Ohne auf Definitionen zuzukommen, die im vorliegenden Fall einengen und dem Inhaltlichen kaum näher führen, sei angemerkt: ,ökonomie' heißt im Historischen Materialismus als Theorie A) das Primat der geistigen und physischen Lebenstätigkeit, B) Gesamtheit der Gesetze, die Produktion und Austausch des materiellen Lebensunterhaltes in der menschlichen Gesellschaft beherrschen und die Weise der Verteilung vorgeben.'' Für dieses A und B existieren jeweils Übergangszonen und Transformationsperioden, in denen sie sich evolutionär ausbilden. Ohne Spezifizierung gilt A für Organismen mit nicht ausschließlich fremd determinierter Fähigkeit zu Dezision, über deren Vorhandensein schon frühe Philosophie endlos und alternativ debattierte. Menschliche Lebenstätigkeit geht gradweise über allgemeine tierische Gruppenorganisation hinaus, kommt durch Sammeln, Fischen, Jagen zu Produktionsinstrumen’ Vgl. F. Engels; AtiH-Dührung. In: K. Marx / F. Engels: Werke. Bd 20. 136 f.

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ten, die aus dem Mensch/Tier-Übergangsfeld herausleiten, aber den Menschen nur partiell aus seiner genetisch bedingten Herkunft entlassen. Für das Entstehen von Beziehungen mit dem Namen Familie gilt Ähnliches. Andere Spezies besitzen dezidiert unterschiedene Vorstufen. Da aber Metabolismus Voraussetzung von Gruppenbildung und Fortpflanzung hermaphroditischer oder geschlechtlicher Art zu sein pflegt, bleibt familiäre Sozialisation immer sekundär, auch wenn sie temporäre Dominanz vorweist. Soweit MARX in Rede steht, besteht erste Arbeitsteilung in der Kohabitatio, schon Jagen und Sammeln brauchen sich nicht an die sexuelle Prädetermination zu halten. Basis und Überbau wiederholen jenen Bezug auf A und B. Sie bieten gleichsam Gründung und Randbedingungen der Aktivitätszone der Menschen innerhalb des ihnen zugänglichen natürlichen Areals. Im übrigen heißt das Benutzen von Produktionsinstrumenten, zugehöriger Organisation und das Realisieren von A, geistige Tätigkeit einzusetzen, und das selbst dann, wenn keine willentliche Intention in oberen Schichten der mentalen Struktur vorkommt. Darauf orientiert jedenfalls nicht-mechanistischer Materialismus. Geistiger Funktion und Institutionen kommt damit ein bedingungsabhängiges Aktionspotential zu. Ob Horde oder Stamm, Bildung, Verwandtschaft, Staat oder Markt ein charakteristisches Ordnungsmerkmal akzentuieren, beseitigt nicht die Straminstrukturen von A und B. Während jener Schübe der sozialen Evolution, von denen HABERMAS spricht, solle nun A und B bloß gelten. Dagegen spricht indes die Möglichkeit, die Theorie von Basis und Überbau zur Reproduktion von Geschichte mit Sukzess zu benutzen, nicht bloß in Revolutionen irgendwelcher Disziplinen und der Ordnungen, sondern auch im Vollzug des Entfaltens einer sich mit genannter Theorie identifizierenden Formation. Von der Familie auf den Staat zu kommen, ohne dazu Regeln instrumentalen und strategischen Handelns zu benötigen, erscheint als apodiktische Unterstellung. Auf vorkommende Differenzen verweist hinreichendes empirisches Material. Mindestens ändert sich die Weise der benutzten Repression. Retrospektiv verkürzt erscheint indes der Einwand, der Schritt setze keine nennenswerte Entfaltung der Produktivkräfte voraus. Periodisiert ordnen tradiert überkommene Artefakte der Frühgeschichte meist längere Zeitabschnitte, die die mehr oder minder signifikante Unterscheidung gestatten, zur genaueren Diagnostik aber meist mehr verlangen, als das bloße Relikt hergibt. Läßt sich nachträglich nennenswerte Entfaltung konstatieren, dann enthält sie eine bestimmte Aussage über das Wirken der neuen Ordnung. Historisch gibt es indes differente Fälle, die nicht minder aus A und B herausführen, worauf zurückzukommen ist. Voraus-

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Setzung und Folge gehören in die Anamnese spezifischer Verhältnisbestimmungen. Das Eruieren von Möglichkeiten bestimmter Entwicklungsstufen gehört in den Analyseraster und verlangt genaueren Nachweis der Spezifik vorhandener oder künftiger Ordnungen. Wie weit das Benutzen des Terminus ,lernen' auf hellt oder verdeckt, bleibt zweifelhaft, da es sich um einen relativierbaren Ausdruck handelt. Es gibt mehr oder weniger lernende Systeme. Um die mit A und B bezeichnete Signatur von Produktivkraft, ihre Minderung oder Vermehrung verbal herumzukommen, läßt dem Faktum nicht ausweichen. Zu Basis und Überbau gehören nicht bloß die kognitiv-technischen, sondern auch die moralisch-praktischen Lernprozesse vom Arbeitsethos bis zu klassenspezifischer und gruppeninterner Verhaltensweise, womit der Bezug auf A und B ebenfalls nicht entfällt. Das Dialektische besteht in dem Stellenwechsel der Faktoren, ihrer wechselseitigen Bedingtheit, der partiellen Umkehrbarkeit von Relationen, der unterschiedlichen Dominanz ständig wirkender und sich verändernder Faktoren. Mindestens finden derartige Sachverhalte neben anderen historisch entsprechende Bezeichnung. Umbenennung ändert wenig oder nichts an ihrer Existenz. Über die von HABERMAS vorgebrachte Kontingenz neuer Strukturbildungen sei näheres aus den Grundrissen von MARX herangezogen, da sie, selten interpretiert, vielleicht problemlösendes Verhalten aktualer Situationen zu thematisieren geeignet scheinen. Sicherlich gehören sie zu der gelegentlich erwarteten Prozeßlogik. Die Grundrisse geben einigen Aufschluß über die dialektische Dynamik von Epochen ökonomischer Gesellschaftsformation. MARX faßt sie innerhalb des Historischen Matrialismus inhaltlich und methodologisch different. Was dabei als nicht-mechanistisch anzusehen wäre, geht gerade über das mit Lernprozeß Bezeichnete hinaus. Wird von ,strukturell offenstehenden Möglichkeiten' gesprochen, dann erweist sich als relevant, wodurch sie ihre Limitation erfahren und an welche Grenzen die angenommene Herausforderung stößt, unter welchen Bedingungen ein innerweltlicher Transzensus erfolgt und wie weit er stringent scheint. Als knappe Ressourcen hat HABERMAS C) Macht über die Natur und D) Vermehrung des Reichtums und schlechthin Gebrauchswerte. Zunächst sei erwähnt, daß MARX moralisieren fern liegt. Ein gewisses Jagdgebiet zu behaupten und gegen andere Stämme zu verteidigen, gehört für die Grundrisse von 1857/8 zu den ursprünglichsten Arbeiten jedes dieser urwüchsigen Gemeinwesen ®, vor dem Ausbilden des Staates. Er®

Marx: Grundrisse. 390 f.

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kenntnistheoretisch nicht unerheblich und ideologisch effektiv ist die andere Vorstellung von dem Verhältnis von Arbeit und so etwas wie Selbststeuerung, die HABERMAS für eine politische Gesamtordnung annimmt. Das in Arbeit vorgängig enthaltene und sich anreichernde intellektuelle Potential bedeutet keine vorgegebene Problemlösung, bezieht aber stets Fremd- und Eigendetermination ein. Jene sogenannte Selbststeuerung liegt erkenntnistheoretisch als Bedingungsgefüge vor, das auf die Gruppen und Klassen von Individuen einwirkt und sie einbezieht, damit auf das Fehlen strenger Kausalität hinweist. Das Vorhandensein von Limitationen leitet MARX nicht aus der erweiterten, sondern der einfachen Reproduktion ab. ® Produktion und Fortschritt der Bevölkerung heben notwendig nach und nach die objektiven Bedingungen auf. Aus Reproduktion wird Zerstörung des Gemeinwesens. Neben den Naturanlagen des Stamms hat MARX die ökonomischen Bedingungen der Arbeit. Dazu gehören Klima, physische Beschaffenheit des Grund und Bodens, „der physisch bedingten Weise seiner Exploitation, dem Verhalten zu feindlichen Stämmen oder Nachbarstämmen, und den Veränderungen, die Wanderungen, historische Erlebnisse etc. hineinbringen" Das Versagen der Fähigkeit zu einfacher Reproduktion findet sich demnach multifaktoriell angegangen. Wesentlich erweitert gegenüber der strengeren Fassung von ENGELS sind von MARX unter dem Stichwort Ökonomie solche Momente beschrieben, die in die gegenwärtig jüngste Problematik gehören. Das Verweisen auf Ökonomie bezieht anfänglich, obwohl später ausführlich abgehandelt, keine der von ENGELS quasi-definitorisch vorgebrachten Strukturen ein. Aus der Frühgeschichte und relativ simplen Verhältnissen abgeleitet, kommt MARX auf physische und psychische Voraussetzungen, die als Elemente der Bewußtseinsbildung gelten können. In gesellschaftliche und natürliche Prozesse eingebettet, bedeuten sie stets Bedingung und Resultat. In die Produktion von Bevölkerung gehen nicht bloß klimatische Änderungen, Bodenerschöpfung und frühmedizinische Versorgung ein, sondern auch die Weise der Exploitation des Bodens. Darunter befinden sich gemäß des Entwicklungsstandes der Gesamtheit der Faktoren beeinflußbare und unbeeinflußbare. Das viel berufene Lernen bleibt zeitabhängig. Günstige Bedingungen mögen Bevölkerungsvermehrung setzen, ohne damit Voraussetzungen zu schaffen, die die gerade durch das Produzieren von Individuen geschaffenen Limitationen aufheben. Das ihnen mögliche Lernen reicht nicht aus, um die endogenen, durch sie selbst gesetzten Schranken aufzuheben und das, obwohl sie als maßgebliche Produktivkraft gelten können. “

Grundrisse. 386. Ebd.

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Das Beherrschen der Natur, genannt C, erweist sich bei MARX bloß als eine der Limitationen und gilt stets als knappe Ressource, die dem divergierenden Einfluß der anderen katalogmäßig aufgezählten Sachverhalte je ausgeliefert bleibt, aber den Wert einer Variablen innerhalb bestimmter Grenzen behält. Die anderen Elemente lassen sich ebenso als gebundene Variablen bezeichnen. Ihre Abhängigkeit voneinander setzt keine bestimmte Weise der Veränderung, deren Effekt selbst in direktem Bezug ohne weiteres voraussehbar scheint. Soweit die Beziehungen der Menschen untereinander nicht antagonistisch werden, bleiben die von MARX frühgeschichtlich angezeigten Momente erhalten, die sachliche kognitive Kenntnis erfordern, um vorhandene Limitationen beider Seiten innerweltlich zu transzendieren. Vorhandene wechselseitige Determination erweist sich aus gegebenem Blickpunkt von MARX als Selbststeuerung ohne Garantie, die genannten Momente in den Griff zu bekommen. Innerhalb der Limitationen zu existieren verlangt Arbeit, die sich nicht bloß als C äußert, sondern D immer mitsetzt. Gebrauchswerte schaffende Tätigkeit bezieht sich auf Natur und Mensch. Die sich in der Geschichte abzeichnende Entwicklung erfordert das Bewähren in jeder der von MARX skizzierten Situationen, so daß einfache Reproduktion sich erhält. Die gesellschaftliche Aktivität aber vermag über die Arbeit mit dem Erhalten des Gemeinwesens ihre Bewährung durch Verändern jedes der im Bezugsgefüge vorhandenen Parameters erreicht zu haben oder mit dem Konstanthalten oder Reduzieren von Anforderungen. Selbst einfache Reproduktion setzt Veränderung willentlicher und unwillentlicher Art, so daß dadurch das Auseinandersetzen mit Störungen ebenso vorkommt wie bei Ordnungen mit erweiterter Reproduktion. Klärlich beziehen sich die von MARX seinerzeit durchgespielten Überlegungen auf neuere Vorstellungen, die Störungsfreiheit oder Störungsarmut von bewußtem Herabsetzen sozialökonomischen Wachstums erwarten. Der MARXsche ökonomiebegriff gestattet innerhalb des Historischen Materialismus mehr Varianten als Ökonomismus einseitiger Bedingtheit, die HABERMAS kritisch bedenkt. Stößt die Vorstellung von Null-Wachstum an die Wirkungsvielfalt, die gleichbleibende Aktivität auslöst, so erörtert MARX gerade an dem Sonderfall des Stagnierens in erster Annäherung an den historischen Prozeß das Scheitern: „Diese Reproduktion ist aber zugleich notwendig Neuproduktion und Destruktion der alten Form" als Bedingung von Evolution. Welche Formen zur Destruierung kommen, änderte sich in der Vergangenheit überprüfbar und läßt sich nach der Vorstellung von MARX extrapolieren. Grundrisse. 393.

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Nach Vorstellung der Thesen entfällt die Schranke der Natur durch jene Selbststeuerung, obwohl sie als Zwang erscheint, durch das Primat des Erziehungs- und Wissenschaftssystems und verlangt als neues System E das Beschaffen von Sinn und Motivation. So adaptiert die Stufenfolge der Thesen an eine Serie soziologisierender neuerer Ideengefiige und es fragt sich, ob sie das Verlangte einer Deskription unterzieht, die ausreicht. Im Sinne von MARX wäre einzuwenden, daß nacheinander Themata angesprochen sind, die aus verschiedenen Bereichen von Basis und Überbau stammen und entgegen der gegenwärtigen Diskussionslage A mehr oder weniger als erledigt betrachten. Bildung und Erziehung verweisen auf mehr Geltung für die entsprechenden Institutionen. Da mehr Wissen als Nachgeschichte deklariert ist, müßte folgerichtig der Sinn zusätzlich beschafft werden, wozu alternativ ein Erneuern der Religion oder ein nicht religiöser Ideologielieferant in Frage käme. Das Sinnbeschaffen erinnert an die Sorge um ausgefüllte Freizeit. Bei MARX gehört sie zu dem in der Gesellschaft entstehenden wertvollsten Reichtum. Andere Theoretiker überforderten sich, um das Diffamieren der Produktion von Gebrauchswert im Verständnis des Konsums und konfektionierter Freizeitentspannung zu betreiben und parallel etwaige auf Bildung orientierte individuelle Entwicklung von dem Umsetzen in materielle ,Interaktion', d. h. in Anwendung innerhalb der Arbeitstätigkeit, fernzuhalten. Bei allem Berücksichtigen von Ambivalenz gestattet Historischer Materialismus Grundkonstanten festzuhalten, in der Arbeit als durch Instrumente vermitteltes Handeln, entsprechend den Anforderungen auch in Gestalt intellektueller Tätigkeit, gesellschaftliches Sein bestimmt. In der Dialektik von ,Neuproduktion und Destruktion' bleibt näher zu bestimmen, welche Schranken sie beseitigen und wie sich jeweils neue Grenzen aufbauen, ob sie natürlich sind und was in diesem Bezug vom Menschen veränderte Natur an Sachverhalten impliziert. MARX spricht gelegentlich von „nur limitierter, und prinzipiell limitierter Entwicklung der Produktivkräfte" Da zwar meist schlechthin innerhalb der Überlegungen des Historischen Materialismus vom „UnterwerGrundrisse. 595: „... Schöpfung von viel disposable time außer der notwendigen Arbeitszwit für die Gesellschaft"; 596: „... die Zeit aller frei für ihre eigene Entwicklung zu machen". Grundrisse. 388; „Daß die vorbürgerliche Geschichte, und jede Phase derselben, aber auch ihre Ökonomie hat und eine ökonomische Grundlage der Bewegung, ist au fond die bloße Tautologie, daß das Leben der Menschen von jeher auf Produktionen, d'une maniere ou d'une autre gesellschaftlicher Produktion beruhte, deren Verhältnisse wir eben ökonomische Verhältnisse nennen." 1* Grundrisse. 396.

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fen der Naturkräfte unter den gesellschaftlichen Verstand" dem Beherrschen der Natur allein gesprochen zu werden pflegt, geraten die anderen Momente, die sich bei MARX fanden, außerhalb des Bereiches der Aufmerksamkeit. Das dialektische Denken verbindet das konzise Feststellen von Sachverhalten mit ihrer Veränderung und daraus sich ableitender Entwicklung. Verzicht auf die Gemeinsamkeit dieser unterschiedlichen Vorgänge veranlaßt, unter den differenten Prozessen bloß den einen oder anderen gelten zu lassen, woher die Debatten zwischen formaler und dialektischer Logik, von HABERMAS etwa Prozeßlogik genannt, entstehen. Ein Verweis auf nur limitierte und prinzipiell limitierte Produktivkräfte meint eine eindeutige Aussage über eine Skala von sich verändernden und sich entwickelnden vielfältigen Eigenschaften von Sachen. Lernen, Erfahrung und zunehmendes Wissen vergegenständlichen sich in ihnen, ohne das Bewußtsein einzuengen. Vergegenständlichung besitzt im Kontext kein Abwertung, da bloß durch sie es gelingt, die von den natürlichen Eigenschaften des Metabolismus angeregten Reflexionen auf ihr ursprüngliches Anliegen zurückzuführen. Einer materialistischen Philosophie sollte es nicht schwerfallen, von der Objektivität der Natur auf die erkenntnistheoretisch erforderte Rückkehr des Denkens auf seinen Grund zu schließen und das Vergegenständlichen nicht als abwegige Funktionsweise aufzufassen. Befaßt sich Epistemologie mit den methodologischen Strukturen des mentalen Vollzugs, so liegt in der auch dem philosophischen Idealisten einsichtigen planetaren materiellen Struktur unabhängig von der Frage nach dem Primat von Materie oder Idee nahe anzunehmen, daß nach zweckbestimmter ideeller Konkretion eine materielle legitim folgen dürfe. Moralisierender Vorbehalt reflektiert die in der materiellen Konkretion mögliche Dialektik oder Ambivalenz und verzichtet dann aus Rücksicht auf die Tragweite, Gedachtes zu realisieren. Insofern erzeugt das Wissen von Doppeldeutigkeit unter ideologischen Bedingungen den Verzicht, den Zyklus vollständig gedanklich nachzuvollziehen, der von materieller Natur und Gesellschaftsstruktur über das Bewußtsein und die Vergegenständlichung bis zu den mit C und D gekennzeichneten Problembereichen reicht, und die konsekutiv resultierenden Ereignisketten zu bedenken. Die menschliche Gesellschaft existiert bisher mit ihnen und durch sie, ohne die Kontinuität abzubrechen, die nach der Darstellung von MARX nicht absolut gesichert erscheint. Der übliche Einwand, die materiellen Bedingungen der Natur und der Gesellschaft hätten sich bis zu einer nunmehr kritischen Grenze verändert. “ Ebd. 579.

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die zuvor nicht tangiert wurde, enthält einen doppelten Vorbehalt. Unterschätzt scheint das Anwenden des Lernens in der sogenannten Lerngesellschaft und das Produzieren von die jeweilige Grenze transzendierenden Innovationen. Hier kommt es weniger auf den auch institutioneilen Charakter von Bildung und Wissenschaft an. Hegels Einwand ging gegen den gleichsam sterilen Charakter einer Bildungsepoche, mit der i8. und beginnendes ig. Jahrhundert gemeint war. Bloßes Genüge haben an Lernen und Wissen, vermeidet den Übergang zur Vergegenständlichung aus einer der Aufklärung tatsächlich entfremdeten Scheu. Historischer Materialismus verlangt, nicht bei einem idealisierten Naturbegriff stehen zu bleiben, sondern die Objektivität des Materiellen auszudehnen auf alle Strukturen und Mannigfaltigkeiten, in denen sich bewußter oder unbewußter rationeller Wechselbezug außerhalb des gesellschaftlichen Menschen verwirklicht. Interiorisierung von Erfahrung oder Zurücknahme von vergegenständlichten Denkresultaten bleibt dadurch nicht ausgeschlossen. Da aber zwischen ,Mensch' und ,Natur' nicht bloß Mittel eingeschaltet, sondern die gesellschaftlich durch die Arbeit gesetzten Strukturen außerdem einzubeziehen sind, bezieht sich die Zurücknahme auch nicht bloß auf Lernen und Denken, sondern das Integrieren in Bewußtsein, Handeln und weiter veränderte gesellschaftliche Struktur. Aus letzterem entstehen die qualitativen Veränderungen der Gesellschaftsformationen. Nun besteht ein nicht unbeträchtlicher Unterschied in dem Verständnis von Vergegenständlichung. Die dem Historischen Materialismus primär entsprechende begriffliche Fassung bezieht sich auf Hegels gleichsam neutralen, und damit objektiven Begriff, der sich auf den Vorgang der Vermittlung bezieht. Die andere Bedeutung interpretiert Gegenständlichkeit als gespentisch und substituiert den Vorgang der Entfremdungsprozedur als einem über die Wirklichkeit aus anderen Gründen hinwegtäuschenden Effekt. Vergegenständlichung bezieht sich dann auf möglicherweise, aber nicht notwendig auftauchende Sekundärfolgen der kapitalistischen Warengesellschaft und des Geldes. Erscheint ein Prozeß fetischisiert, verschwindet indes nicht der konkrete Inhalt materieller Strukturen, aus denen die Möglichkeit verzerrten Abbildens im Bewußtsein hervorgeht. Da zudem noch gesellschaftliche Positionen in der Art von Klassen- und Gruppenzugehörigkeit, Bewußtseinsstand und gesellschaftliche Funktion beeinflussen wie sich der eventuelle Entfremdungseffekt objektiviert, vermag sich angenähert epidemisch der Zugang zu den Produktionsstrukturen oder dem ökonomischen in der verallgemeinerten MAEXschen Form zu verstellen. In einigem erfolgt eine Desintegration, die sicherlich nicht als patho-

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logisches Phänomen zu gelten hat, wenn man von exemplarischen Fällen psychopathologischer Art absieht. Sicherlich begründeten MICHEL FOUCAULT und ALEXANDER MITSCHERLICH die Vorstellung, gesellschaftliche Struktur, Stadt und konformistisch/nonkonformistische Begegnung sei Schizophrenie erzeugend. Meinen die Thesen, es handele sich um einen notwendigen Prozeß, der aus Selbststeuerung oder Zwang von C oder D entstehe, so erfolgt eine Rücküberweisung an Basisphänomene. Es ließe sich aus dem Aspekt der Limitationen vermuten, das Entstehen von Anthropos wäre unmittelbar als pathologischer Zustand der Natur einer Psychiatrie und nicht der Soziologie zu subsumieren. Erst in dem ausschließlichen Bezug auf die Warengesellschaft erfährt die Kategorie der Verdinglichung ihre totale Separation von den Strukturen des von MARX entworfenen Historischen Materialismus. Bedeutet jedes Heraustreten aus Naturalwirtschaft geringförmiger Dimension eine Mystifizierung der zuvor übersichtlichen Beziehungen, so folgt selbst bei Rückkehr zu sog. einfachem Leben auf Grund der Überlegungen zur Limitation nicht ohne weiteres umgekehrt Entmystifizierung. Vermutlich entsteht die Unsicherheit gegenüber den instrumentalen Strukturen und der Vermittlung des menschlichen Daseins durch ein verfehltes Fixieren von Nichterschlossenem. Durch ein Verrücken des Standpunktes vermag Limitation, wie philosophierend in der Antike geschehen, die Kategorie des Unerkennbaren und den Eindruck hervorzurufen, jede Lebenstätigkeit bedeute Ausgeliefertsein. In den frühen Vorstellungen des Glaubens und dann später offensichtlich auch rationalisierter Ideologien dominierte die Annahme der absoluten Kontingenz als zugehörig zu oft etablierter Weitsicht. Als Alternative entwarf die Antike den anderen Standpunkt, aus Kontingenz ergebe sich auch ohne willentliches Zutun Ordnung. Da Analogien in der Entwicklung von Wissen und Bewußtsein allgegenwärtig funktionierten, bleibt der Zugang über den philosophischen Begriff bis in die Gegenwart erhalten. Nun braucht die auf Unerkennbarkeit ausgehende Kontingenz keine Unfähigkeit zur Handlung zu erzeugen, da unter den gleichen Begriff sich einordnen läßt, wenn Wissen und Erfahrung als Prozeß und Erkennbarkeit der Welt Umdeutung finden. Praktisch diametral entgegengesetzt, äußert sich in der doppelten Bewertung die eine Haltung als Zurückweichen vor den Limitationen, die andere als Abtasten der Grenze auf mögliches Durchbrechen, worin sich der Fortschritt von Technik und Wissenschaft darstellt. Unter dem zweifellos eingeengten Aspekt der Mittel unterscheiden sich die Ordnungen durch die Art ihres Herangehens an die Limitationen, ihrer absoluten Bewältigung und das produktive Verwenden

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auch der Ambivalenzen, ihr Aufheben in weitere Entfaltung von Produktivkraft, Produktion und Humanität, die natürlich unter der Herrschaft verschiedener Klassen einen anderen Anblick bietet. Das Problem der Verdinglichung bleibt indes janusköpfig. Nicht bloß für das Verständnis des Historischen Materialismus besitzen die Mittel als produzierende Systeme unabdingbare Relevanz. Innerhalb von Warengesellschaften unterschiedlicher Formationsbestimmtheit sind sie ebenso wie in naturalwirtschaftlichen Gesellschaften, die beträchtlich längere Existenzzeit aufzuweisen haben, vorhanden. Dieser Art der Verdinglichung ihre Geltung abzuerkennen, gehört in eine Philosophie, die unabhängig von ihrem klassifizierenden Selbstverständnis antipraktisch animalisiert, ohne faktisch in ihrer Existenzweise wirklich soweit gehen zu wollen. Der Anbau selbst von Halluzinogenen oder der Mißbrauch von Librium setzt immerhin agrarisches Verhalten und das Ausnutzen chemischer Industrie, von Technik und Wissenschaft voraus. Mit diesem Erinnern an verhaltensmäßig erzeugte Phantasmagorie drängt sich die Bemerkung auf, daß Drogenverwendung in den frühhistorischen Phasen üblich war und dem damaligen Stand der Produktivkräfte nach und vor der neolithischen Revolution angemessen. Später erhielt sich die künstlich gesetzte Traumvorstellung als Regelerscheinung nicht. Längst widerlegte man, es habe in jener Verfahrensweise humanistischeres Verhalten gegeben als in nüchternen Zeiten, wie sich an lateinamerikanischen Gesellschaften belegen läßt, sicherlich aber nicht anders andere Kontinente betrifft. Das Verdinglichen des Erzeugens von Rauschzuständen und ihr Erheben zu Bestandteilen neuerer Ideologie revidiert den gedanklichen Fortschritt, das Benutzen chemischer Stimulanzien als bewußtseinsbildendes Element auszusetzen, während das Verwenden anderer Chemismen der Ambivalenz verfällt und das Existieren auf Städte gegründeter Gesellschaften erst ermöglicht. Hat innerhalb einer philosophischen Debatte das Inhaltliche keinen Vorrang, so bezieht sie sich doch auf einzelwissenschaftliche Einsichten und muß konkrete Anliegen beachten, die innerhalb ideologischer Phänomene sekundäre Vergegenständlichung fanden. Wird von dem Begriff der Verdinglichung die Kategorie des Vergegenständlichens unterschieden, dann verweist letztere unmittelbar auf die technische Grundlage einer bestimmten Entwicklungsstufe der Produktivkräfte Die beiden Begriffe werden nur gelegentlich deutlich unterschieden. Auf verdinglichtes Bewußtsein bezogene Objekte versieht MARX mit der Bezeichnung „soziale Charaktere. .. . Personifizierung von Sachen und K. Marx: Das Kapital. Bd 3. Berlin 1949. 169.

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Versachlichung der Produktionsverhältnisse" Durch den Bezug auf solche Sachverhalte wie Rationalität der Produktion und kalkulatorisches Verhalten, Rechenhaftigkeit im Verständnis MAX WEBERS, verschiebt sich in erster Annäherung der gesamte Komplex auf die Problematik technischer Zusammensetzung nicht bloß des Kapitals, sondern der Fonds überhaupt, soweit sie sich als vergegenständlichte und lebendige Arbeit unterscheiden. In zweiter Approximation folgt das wechselseitige Aufrechnen von Produktionsziffern unterschiedlicher Ordnungen. Dritte Annäherung bedeutet der Versuch, mit globalen und regionalen Nutzungskoeffizienten Schnittpunkte zwischen der materiellen Seite industrieller Konsumtion, extrapolierten Daten und vermutlichen planetarischen Reserven aufzufinden. Auf letzteres Bemühen erfolgte die gleiche, bereits dargestellte differente Reaktionsweise von Entfremdung oder Wiederauftauchen urtümlicher Angst oder pragmatisches Studium der Daten auf Zonen notwendiger gesamtgesellschaftlicher und individueller Aktivität. Jedenfalls erzeugen die drei Phasen der Debatte eine Diskussion der technischen Seite der organischen Zusammensetzung der Fonds, Termini, die innerhalb der MARXschen Ökonomie die Funktion von technischem und wissenschaftlichem Fortschritt einbeziehen. Sie betreffen einmal das Verhältnis von in der Produktion angelegten fixen Fonds und die auch auf diese Weise abzusteckende Produktivität lebendiger Arbeit, die allerdings den Multiplikationsfaktor wissenschaftlicher, allgemeiner Arbeit bloß indirekt ablesbar macht. Überblick gestattet nur gesamtgesellschaftliche Rechnung, die eigentlich planetar sein müßte, aber sich aus Stichproben abschätzen läßt. Die Thesen meinen sicherlich solche Beziehungen, wenn sie auf das Selbststeuern durch knappe Ressourcen nach C und D zukommen. Die Erörterungen von MARX gehen auf gegenseitige Bedingtheit durch unbestimmte Determination, da der Einfallsreichtum von Individuen und Kollektiven schätzbar, aber nicht punktual prognostizierbar zu bewerten ist. Das genannte Maß der Arbeitsproduktivität bezieht sich auf die Individuen, bei denen der Arbeitsrhythmus von der technischen Anlage gesetzt wird und nicht dem individuellen Entschluß des Werktätigen unterliegt, das für das Handwerk und die Landarbeit allerdings ebenfalls nur cum grano salis Geltung beanspruchen dürfte. Die Diskussionslage hat sich verschoben. Mit dem versuchten Nachweis massenhaft existierender Ambivalenz und dem Untersuchen möglichen stofflichen Nachschubs für die mit technischem Fortschritt bedingte Quantität der erforderlichen Naturexkremente gerät der philosophische Gegenstand der Probleme ins ” Ebd. 884.

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Zwielicht und benötigt eine theoretische Vermittlung, in der Moral und Verantwortung als charakteristisches ethisches Postulat ihren Platz entschieden zu beanspruchen haben, die nicht-philosophische Ebene indes nicht ausschließen. Jene von MARX erörterte Limitation und Destruktion, die durch Bevölkerung entsteht, besitzt auch unter neoMALTHUsianistischen Vorzeichen eine an Humanismus gemahnende Komponente. Die damit gesetzte Limitation aber verweist auf Arbeit und mit Effektivität realisierte Vergegenständlichung, die unfehlbar andere Ambivalenzen setzt. In der implizite von MARX gegebenen Äußerung zu Problemen des Historischen Materialismus anläßlich der Kritik der politischen Ökonomie liegt im Gegensatz zum sonstigen 19. Jahrhundert kein schrankenloser Optimismus. Vielmehr stellt er es den Gesellschaften und Ordnungen anheim, das Vorhandensein von Limitationen zu erkennen und zu bewältigen, — ein Prozeß, bei dem das Verändern der Formationen eines der Momente der Anforderungen hergibt. Im übrigen handelt es sich um Leistung, die von den Individuen innerhalb der Basis-Prozeduren und den verschiedenen Schichten des Überbaus zu erbringen wäre. Das Hervorheben von Klasse und Klassenkampf einschließlich der entsprechenden alten und neuen Klassenrepression steht in den Thesen nicht zur Debatte, erfordert in jedem Falle den Entscheid, sich auf die eine oder andere zu orientieren. Innerhalb des Historischen Materialismus bleibt hinreichend Raum für die Funktion von Institutionen. Sie lassen sich bloß dann schlechtweg als Teufelskreis auffassen, wie es die Thesen wollen, wenn ein von den realen Gesellschaften abweichender Standort gewählt wird, bei dem die Lebenstätigkeit im Sinne von A nicht als gegenständlich und eigentliches Objekt von Gesellschaftstheorie genommen wird. Kontingenz und Steuerung wie selbst einfachste familiale Sozialisation enthält institutionelle Momente, die mit der schlichten kleinen Gruppe ohne Rücksicht auf ihre Struktur zur Hand sind und überdimensioniert mit den zugewachsenen Leistungen die Frage nach Reduzierung auf ein Minimum legitim machen, aber ihre Existenz als solche nicht ausschalten. Wollte man diesen Kontext als im Prinzip gelöst und bewältigt betrachten, dann bringen die Bemerkungen der Thesen über das Abgrenzen ein ebenfalls aktualisiertes Problem der inneren Natur vor. Innerhalb des MARXschen Historischen Materialismus wird vorwiegend bloß angemerkt, daß es sich tun keinen fixen Zustand handelt, sondern um einen Prozeß, der in Abhängigkeit von den übrigen Strukturen verläuft und sich in das Bewußtsein entäußert, gleichzeitig Individuum und Gesellschaft das Zusichselbstkommen gestattet, wenn man es so formulieren will. Mindestens bieten die gesellschaftlichen Ebenen sozialökonomischer Gesetzmäßigkeit,

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also wesentlicher Verhältnisbeziehungen, einen Auslesefaktor dar, der aber sicherlich ebenso langsam wirkt wie die biologische Veränderung der Art. Einfluß und ,Selbstabgrenzung der Gesellschaft gegen die innere Natur' muß sich mit dem Vorhandenen abfinden und der darin gegebenen Möglichkeiten, die sich an den unterschiedlichen Anforderungen der Gesellschaften in den zugänglichen Zeiträumen erkennen lassen. Es fragt sich nur, auf welche Veränderungen die entsprechende Analyse insistieren will. Das Verwechseln von Biologischem mit Sozialem liegt nahe. Im Historischen Materialismus verweist MARX auf die aus den sozialökonomischen Verhältnissen ableitbaren Verhaltensweisen, die im Gegensatz zu sonstigem tierischen Verhalten unterscheidbar sind. Da häufig das Existieren jeder beliebigen Institution schon als Repression diagnostiziert zu werden pflegt, heißt Kontrolle oder Befreien der inneren Natur ebenfalls gesellschaftliche Aktivität, ob man sich auch entschließt, repressive oder nicht repressive Entsublimierung heranzuziehen. Welche physischen Eigenschaften als verdeckt oder akzentuiert aufzufassen wären, erfordert sicherlich mehr ethnologische und ethologische als philosophische Untersuchung. In der Struktur des MARXschen Historischen Materialismus kommt Repression von Klassen unter bestimmten Entwicklungsbedingungen vor. Davon sind die Bedingtheiten abgegrenzt, die sich aus A bis D ergeben. Sicherlich läßt sich das Durchhalten von Metabolismus bei irgendeiner Spezies einschließlich der etwa mit Anthropoiden und Anthropos zu charakterisierenden sprachlich benennen. Mindestens wäre dann zwischen spezifisch gesellschaftlichen, naturwissenschaftlich zu erörternden Sachverhalten und den hier skizzierten zu unterscheiden. Anderen Falles scheint keine Verdeutlichung zu resultieren. Das Überschreiten von Limitationen erfordert eine nicht unbeträchtliche Selbstdisziplinierung, falls die unwillentliche Destruktion der vorhandenen Formen, bei der nicht an äußeren Insult gedacht ist, in weitere einfache oder erweiterte Reproduktion umzusetzen wäre. Da das Destruieren von Formen auch die Bedürfnislage der vorhandenen Individuen und ihres Konsum-Spielraums betrifft, interessiert durchaus, wie das Ausnutzen der vorhandenen inneren biologischen Natur sich auf das benötigte problemlösende Verhalten einstellt. Nähere Analyse der zur Kulturgeschichte zu rechnenden Verhaltensweisen müßte unter den gegenwärtig zugänglichen Gesichtspunkten erneut zur Aufarbeitung kommen. Die vorhandenen Ansätze enthüllen eine intensive Anspannung der Person, die bereits die Leistung der Gruppe von der individuellen der sich abhebenden Funktionspersonen von Gattungswesen und Stammwesen gestattet. Die historisch sich abzeichnende umfassendere Individualisierung als

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Bestandteil der sozialen Charaktere scheint nicht vollständig erschöpft, wenn von Atomisierung des Individuums der Übergang zu arbeitsteiligen Strukturen verfehlt wird. Soll Identität und Nicht-Identität zur Einheit zusammenfließen, wie die Thesen vorschlagen, dann bleibt anzuempfehlen, den Prozeß des dialektischen Aufhebens im Verständnis Hegels nachzuvollziehen und in gesellschaftliche Realität zu übersetzen. Das Abschalten von Zielvorstellungen mit Endzeit-Typus macht sich dann wahrscheinlich erforderlich. Nicht bloß möglich, sondern gewiß scheint mir, daß neue Kontingenzen an den Grenzen gesellschaftlicher Individuierung aufbrechen. Es hat den Anschein, daß es keine menschliche Existenz als irdische Dauererscheinung gäbe, wenn nicht solche nicht vorprogrammierte Kontingenzen aufträten. Das vorhandene biologische Genom besitzt hinreichend Redundanz, um sie praktisch unerschöpflich kognitiv und emotionell hervorzubringen, ohne damit die individuelle und kollektive Kapazität einer Überbeanspruchung zu unterziehen. Entgegenstehende Vorstellungen messen vorwiegend an sich selbst und unterliegen zweifelsfrei konstatierbarer statistischen Verteilung von physischen Eigenschaften. Sollte es entgegen verbreiteter Annahme eine endemische Differenzierung des Gattungswesens geben, dann fallen die Resultate trotzdem in den Ausleseraum sozialökonomischer Strukturen, die mit dem Begriff des Aufhebens von Limitationen letztlich die instrumentale und individuelle Einstimmung oder das Versagen nachweisen. Ungleichmäßige Entwicklung verweist auf die Regelmäßigkeit, mit der Stimmigkeit nicht ohne weiteres und algorithmisch in der Gesellschaft resultiert. Eine Voraussage, ob der logische Spielraum als erschöpft anzusehen wäre, meint eine endgültige Annahme theoretisch erschließen zu können. Das wäre, wenn ich sie recht erfasse, im Sinne der Thesen wie das Herankommen an eine Begrenztheit der zum Aufheben der Limitationen zu veranstaltenden Unternehmungen der menschlichen Gesellschaft. Historischer Materialismus bevorzugt, wie ich annehme, das Muster anzugeben, in der sich die Offenheit von Problemen spiegelt, für deren Behandeln die Auseinandersetzung selbst ein Moment von Persönlichkeit fordernder Produktivität andeutet.

KENLEY R. DOVE (NEW YORK)

ZUR KRITIK DER H A B E R M A S ' S C H E N GESCHICHTSTHEORIE Thesen zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus ^ schlagen ein Forschungsprogramm vor, demzufolge eine Theorie der Gattungsgeschichte oder der sozialen Evolution als ein Programm erst rational zu begründen wäre. Offenbar läßt sich so ein Programm von zwei Absichten her verstehen: einer praktischen und einer theoretischen. Da eine gelungene Theorie der Gattungsgeschichte auch unsere gegenwärtige Stellung in dieser Geschichte klären würde, so hätte diese Theorie für mögliche politische Organisationsfragen eine erhebliche Bedeutung. Wenn die Theorie sich als begründungsfähig erwiese, so würde der kritische Aufklärungsprozeß auf der Basis dieser Theorie einen heute kaum faßbaren Ideologiestreit auslösen. HABERMAS'

Daß die von HABERMAS projektierte Theorie der Gattungsgeschichte eine letzten Endes praktische Absicht hat, daran läßt sich kaum zweifeln. Für unsere heutige Diskussion jedoch werden wir besser daran tun, die praktischen Absichten dieser Theorie so weit wie möglich auszuklammern, denn die Thesen sind, wenn ich sie richtig verstanden habe, eine Einleitung zu einem — im HABERMAs'schen Sinne — theoretischen Diskurs.

I. Angenommen, wir wollen in den Rahmen eines theoretischen Diskurses eintreten: was ist gegenüber den auf gestellten Thesen zu sagen? Nadi HABERMAS' schon wohlbekannter Konsensustheorie der Wahrheit ^ können wir die Ebene des Diskurses erst erreichen, wenn wir den „Hintergrunds1 Meine Kritik wurde in Beziehung auf ein Starnberger Manuskript von 81 Seiten (dazu 6 Seiten Fußnoten) geschrieben. Das Manuskript heißt Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus. (Inzwischen erschienen: Frankfurt a. M. 1976.) * 7. Habermas: Wahrheitstheorien. In: Wirklichkeit und Reflexion. (Festschrift für Walter Schulz.) Pfullingen 1973.

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konsensus", der in funktionierenden Sprachspielen, in Normalfällen von „ordinary language in use", immer schon prä-thematisch vorausgesetzt ist, problematisieren oder thematisch machen. Anstelle eines Normalfalles von kommunikativem Handeln müssen wir gleichsam einen Konfliktfall einsetzen. Aber nur „gleichsam". Es geht hier nicht um eine Handlung — auch wenn sie kommunikativer Art ist —, sondern um Geltungsansprüche schlechthin. Ganz unabhängig von der praktischen oder der empirischen Erfahrung, die alle Handlungen bedingen, sollen wir uns hier a priori verhalten und uns nur von dem Gang der Argumentation leiten lassen. ® Denn alle Handlungen sind „mit irreversiblen Folgen belastet" während Diskurse durchaus hypothetisch und alle Äußerungen dabei reversibel sind. Wegen dieser hypothetischen oder „irrealen" Form hat der Diskurs seine ihm eigentümliche Struktur der Reversibilität. (Diese Struktur der Reversibilität spielt, wie wir bald sehen werden, eine maßgebende Rolle in HABERMAS' Nachkonstruktion der Gattungsgeschichte.) Diese Reversibilität des Diskurses beruht nämlich auf der Annahme, daß alle faktisch erhobenen Geltungsansprüche reziprok unter allen Beteiligten einzulösen wären. Bekanntlich sind die Geltungsansprüche vier: „die Verständlichkeit der Äußerung, die Wahrheit ihres propositionalen Bestandteiles, die Richtigkeit ihres performativen Bestandteiles und die Wahrhaftigkeit des sprechenden Subjekts" ®. Für einen theoretischen Diskurs, in den wir jetzt eintreten wollen, muß zunächst der Verständlichkeitsanspruch eingelöst werden. Gegenüber den HABERMAs'schen Thesen müßten wir demnach Fragen folgenden Typs beantworten können: Wie meint er das? Wie sollen wir das verstehen? Was bedeutet das? ® Antworten auf solche Fragen nennt HABERMAS Deutungen. Und weil die Einlösung dieses Geltungsanspruches ebenfalls reziprok verfahren soll, darf ich vielleicht, ganz hypothetisch, hier einen Deutungsversuch unternehmen. Wegen der begrenzten Zeit werde auch ich meinen Deutungsversuch thesenhaft formulieren. Wie sollen wir diese Rekonstruktion des Historischen Materialismus verstehen? Was für eine Bedeutung soll sie für uns haben? Erstens, so nehme ich an, ist hiermit kein Beitrag zum MARxismusstudium intendiert, trotz aller Erwähnung von MARX. Angezielt ist, wenn ich richtig verstanden habe, eine Theorie. Ob der Theorieentwurf seinerseits MARX richtig oder falsch dargestellt hat, werde ich deshalb nicht diskutieren. Der theo* * ® '

Wahrheitstheorien. 218. Zur Rekonstruktion. MS 35. Wahrheitstheorien. 220.

Siehe ebd. 221.

Zur Kritik der Habermas'sdien Geschichtstheorie

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retische Anspruch ist also eine systematische Theorie der sozialen Evolution oder eine Gattungsgeschichte, und MARX, wie PIAGET, werden nur erwähnt, um die Ausbildung dieser Thesen zu erläutern. Wie sollen wir dann diesen Theorieentwurf verstehen? Was ist seine theoretische Motivation? Vom Manuskript her entdecke ich keine hinreichende Möglichkeit zur Deutung dieser Frage. Andererseits ist das Manuskript nur eines unter vielen, die HABERMAS verfaßt hat und die dieses Thema berühren. Er selbst hat es — so könnte man sagen — plausibel gemacht, seine bisherigen Essays und Bücher auch als Vorstudien zu einer Theorie der sozialen Evolution zu verstehen. Aus ihnen entnehme ich also die folgende Deutung einer Theorie der sozialen Evolution. Ausgangspunkt dafür ist die Annahme, daß in der sozialen Evolution der Teildiskurs, den wir als Philosophie kennen, eine Unterbrechung erlitten hat. Die Art Diskurse, „in denen die Geltungsansprüche mythischer und religiöser Weltdeutungen systematisch in Frage gestellt und geprüft werden konnten" das heißt diejenigen reflexiven Untersuchungen, mit denen wir den Ursprung und die Institutionalisierung der Philosophie identifizieren — diese Art von Reflexion sei seit Hegel immer mehr verleugnet worden. Eine Rekonstruktion dieser Devolution des Denkens ist bekanntlich der Ansatz des Buches Erkenntnis und Interesse. Dort wurde die Unterstellung gemacht, daß die Geltungsansprüche stellende Grundorientierung der modernen Philosophie — nämlich das transzendentale Bewußtsein — „eine Hypostasierung" ® sei. Mehrfach wurde dann die Frage gestellt: Was soll „die logische Stelle des transzendentalen Bewußtseins überhaupt einnehmen?" ® oder: „durch welche empirischen Einheiten darf es denn substituiert werden?" Und gemäß der Zentralbehauptung von Erkenntnis und Interesse, „daß radikale Erkenntniskritik nur als Gesellschaftstheorie möglich ist" wurde eine Theorie der sozialen Evolution projektiert als der einzig angemessene transzendentale Ort für eine Begründung der A-priori-Strukturen der Gesellschaft. Daher soll die gelungene Gattungsgeschichte gleichsam eine transzendentale Deduktion darstellen. Ich werde mm versuchen, die implizierte Beweisstruktur dieser gattungsgeschichtlichen Deduktion des sozialen Wissens zu skizzieren. Habermas: Theorie und Praxis. 4. Aufl. Frankfurt a. M. 1971. 31. („Einleitung Neuausgabe".) Habermas: Erkenntnis und Interesse. Frankfurt a. M. 1973. Nachwort. 380. Ebd. 371. Ebd. 380. Siehe auch 414. “ Ebd. 9.

’’ zur ® “

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(1) Das Ziel des Beweises ist eine rationale Nachkonstruktion der entwicklungslogischen Strukturen der Gattung. (2) Die Gattung wird nicht als Subjekt vorausgesetzt. Statt dessen wird als Träger der Evolution „die Gesellschaft und die ihr integrierten Handlungssubjekte" verstanden. (3) Der Ausgangszustand der Gattungsgeschichte ist schon eine Struktur von Arbeit und Interaktion; der Anfang der menschlichen Evolution setzt instrumentale und sprachliche Kompetenz voraus. (4) Wie allen höherentwickelten Inter aktions Strukturen liegt auch der Anfangsstruktur eine Reziprozitätsbeziehung zugrunde. Eben deshalb ist die Gattung einer struhtuigenerierenden Evolution fähig. Das allgemeine Kriterium der Evolution ist Reziprozität. (5) Die Entwicklungslogik der Strukturen kommunikativer Handlung weist drei systematisch unterscheidbare Stufen auf. Die Entwicklung der instrumentalen Handlung dagegen ist bloß kumulativ; sie bietet deshalb nicht die Möglichkeit einer systematischen Differenzierung in bestimmte Strukturen. (6) Die Elementarstulen der Interaktion lassen sich nach sprachtheoretischen Prinzipien unterscheiden. (a) Auf der ersten Stufe sind alle kommunikativen Handlungen gleichsam reine Sprechakte. Die Struktur ist eine nur syntaktische Reziprozität von performativen Äußerungen. (b) Auf der zweiten Stufe lassen sich zwei Typen von Sprechakten unterscheiden: performative und konstative, d. h. Sprechakte, die auch referentielle Funktion haben. Durch diesen semantischen Aspekt wird die zugrundeliegende Reziprozität der Handelnden teilweise von der Irreversibilität ihrer Handlungen entlastet. Mit einer propositional ausdifferenzierten Rede entsteht z. B. die Möglichkeit, präskriptiv entstandene Interaktionsregeln zu thematisieren. Diese Stufe soll die Logik der Klassengesellschaften verdeutlichen. (c) Auf der dritten Stufe wird die Reziprozität der Handelnden vollkommen realisiert durch die Institutionalisierung eines Sprachsystems, durch das die immer schon implizierten Geltungsansprüche aller Sprechakte jetzt allgemein thematisiert werden können. ** Zur Rekonstruktion. MS 17.

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Mit einem Wort, diese Stufe bedeutet das Hineinwacbsen der Logik des Diskurses in die symbolischen Strukturen unserer Lebenswelt. Diese Ebene soll die Logik der post-modernen Gesellschaft verdeutlichen. (7) Als Philosophen, die eine propädeutische Rekonstruktion der Entstehung des neueren Positivismus durchgearbeitet haben, sollen wir in der Lage sein, eine Nachkonstruktion der strukturellen Evolution unserer Gattung zu begreifen. Obwohl wir die dritte Stufe, die Zielstufe, noch gar nicht erfahren haben, soll unser Studium der Gattungsgeschichte nach dem entwickelten Forschungsprogramm die Entwicklungstendenz unserer Gattung offenbar machen. Ja, die „transzendentale" Verbindlichkeit der Argumentation dieses theoretischen Diskurses soll uns evident werden dadurch, daß wir überhaupt eine diskursive Einstellung einnehmen können. II. Der hier entworfene Versuch, den Verständlichkeitsanspruch der HABERMAs'schen Thesen weiter zu thematisieren, ist offenbar sehr unvollkommen und tentativ. Ganz hypothetisch angenommen, daß ich den Theorieentwurf angemessen verstanden habe, werde ich zum Abschluß dieses Diskussionsbeitrages einige Wahrheitsansprüche des Projekts problematisieren. HABERMAS will Problemkomplexe der Gesellschaftstheorie mit denen der Sprachtheorie und des genetischen Strukturalismus in einem einzigen Zusammenhang begreifen. Die dabei vermittelnden Begriffe heißen Reziprozität und Reversibilität. Gesellschaftsformationen sind erst möglich — oder generierbar — dank der schon vormenschlichen Struktur eines Sprechaktes. Sprachtheoretisch formulierte Begriffe der Interaktion finden wir beim vorgesellschaftlichen Ausgangspunkt sowie am projektierten Ende dieser Theorie der gesellschaftlichen Evolution. Die Theorie selbst läßt die Elementarstufen dieser sozialen Evolution mit sprachtheoretisch formulierten Kriterien messen. Das Hauptkriterium ist, wie wir gesehen haben, Reziprozität. Eine Gesellschaft entsteht erst, wenn das mit jedem beliebigen Sprechakt gesetzte Ideal der Reziprozität anfängt, den materiellen Reproduktionsprozeß einer Gattung systematisch zu steuern. Das geschieht mit Eintritt der Familienstruktur. Die Stufen der gesellschaftlichen Evolution sind materialistisch zu fassen, eben weil eine Gesellschaftsstruktur die

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materialistische Verkörperung einer sonst bloß idealen Form der Sprachtheorie ist. Eine Diskussion der kontingenten Entstehung von Verwandtschaftssystemen — die die sprachtheoretischen Formen erst materialisieren lassen, d. h. vergesellschaften — würde eine Untersuchung der Geltungsansprüche der neueren strukturalistischen Anthropologie verlangen. Hier werde ich nur die Annahme problematisieren, daß die Logik des Diskurses den Leitfaden für die Struktur der Endstufe anbietet. Wenn der Diskurs, ex definitione, „handlungsentlastet und erfahrungsfrei" ist, dann fällt es mir schwer einzusehen, wie man sinnvoll sagen könnte, daß die Logik des Diskurses in die symbolischen Strukturen unserer Lebenswelt hineinwachse. Bisher hat HABERMAS Diskurse von Handlungen aller Art — die kommunikativen einbegriffen — kategorial so unterschieden, daß die jetzige Rede von einer „Realisierung" des Diskurses in einer zukünftigen Lebensform sehr problematisch klingt. Wenn andererseits die Logik des Diskurses ein bloß regulatives Prinzip im Sinne KANTS wäre, dann würde der Argumentationsgang der entworfenen Theorie der sozialen Evolution nicht nur problematisch, sondern bodenlos sein. Daß hier theoretische Schwierigkeiten bestehen, ist HABERMAS wohlbekannt, und seine Theorie der idealen Sprechsituation soll vermutlich eine Lösungsstrategie anbieten. Wenn er aber in der Entfaltung dieser Theorie behauptet, daß der Begriff der idealen Sprechsituation weder ein regulatives Prinzip noch „existierender Begriff im Sinne Hegels" ist dann müssen wir näher Zusehen, wie er das Wort „existierender Begriff" versteht. Die Erklärung in dem Aufsatz über Wahrheitstheorien sagt folgendes; „denn keine historische Gesellschaft deckt sich mit der Lebensform, die wir mit Bezugnahme auf die ideale Sprechsituation grundsätzlich charakterisieren können" Was bedeutet hier „historische Gesellschaft"? Meine Hauptfrage lautet: Wäre eine Gesellschaft der Zukunft keine historische? Gerade hier, meine ich, liegt der gegenwärtige Schwerpunkt der „Debatte" zwischen HABERMAS und Hegel. Es geht um die Frage: „Ist systematische Gesellschaftsphilosophie möglich?" Bekanntlich hat Hegel als notwendige Voraussetzung einer systematischen Gesellschaftsphilosophie behauptet, daß die innerweltliche Anerkennung der Rechtsansprüche aller Personen wirklich geltungsfähig sein müßte. Das Kriterium Hegels ist auch Reziprozität, aber verwirklichte Reziprozität. Wenn diesen Ansprü**

Erkenntnis und Interesse. 386. Wahrheitstheorien. 258—59. Wahrheitstheorien. 259.

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chen als universalen nicht nur in den Augen Gottes oder in einer zukünftigen Gesellschaftsform, sondern in den Augen anderer wirklicher Personen Geltung verschafft werden soll, dann bietet sich nach Hegel nur eine strukturelle Möglichkeit an; „Die Person muß sich eine äußere Sphäre ihrer Freiheit geben" sie muß da sein können, d. h. erkennbar für andere Menschen da sein und eben das ist die abstrakte Bedeutung des Hegelschen Begriffs von Eigentum. HABERMAS hat Hegels Begriff von Eigentum in mehreren Essays kritisiert. Diese Kritik liegt seiner gesamten Darstellung der „bürgerlichen Öffentlichkeit" zugrunde. Wenn ich seinen eigenen Wortgebrauch benutzen darf, so würde ich sagen, daß seine Charakterisierung dieses Begriffs „nicht abstrakt genug" sei. In einem Wort: er hat die systematische Stelle des abstrakten Eigentumsbegriffs mit der des konkreteren Warenbegriffs ersetzt. Bei seiner Erklärung der Logik des Diskurses hat er aber, meines Erachtens, eine angemessenere Ebene der Abstraktion gewonnen. Als ein Erläuterungsbeispiel für den Geltungsanspruch von Propositionen schreibt er: „als einem Rechtstitel kann ich meinem Eigentum notfalls durch gerichtliche Prozeduren allgemeine Anerkennung verschaffen. So verhält es sich auch mit dem Sinn der Geltung und dem Geltungsanspruch einer Behauptung . . . die Wahrheit einer in Diskursen behaupteten Proposition bedeutet, daß jedermann mit Gründen veranlaßt werden kann, den Geltungsanspruch der Behauptung als berechtigt anzuerkennen." Die Parallele ist einleuchtend. Geltungsansprüche sowie Rechstansprüche verschaffen sich Berechtigung durch geregelte Prozeduren. Beide setzen vollkommene Reziprozität voraus. Auch für HABERMAS sind aber die schon vorhandenen Prozeduren der Einlösung von Rechtsansprüchen das Explikans für die Prozeduren der Einlösung eines Wahrheitsanspruches. Während aber die Prozeduren eines schon institutionalisierten „Diskurses" über Rechtsansprüche endlich und überschaubar sind, scheinen die Bedingungen diskursiver Einlösung eine schlechte Unendlichkeit zu erlauben. Deshalb scheint mir die post-moderne Stufe der projektierten Theorie der sozialen Evolution in der Gefahr zu sein, ein bloß „perennierendes Sollen" zu werden. Ich betrachte das Bestreben nach einer Konsensustheorie der Wahrheit als durchaus vernünftig; und die Relevanz einer solchen WahrheitsHegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts. § 41. i’ Ebd. § 51. Siehe besonders Hegels Kritik der französischen Revolution und Zu Hegels politischen Schriften, beide jetzt in: Theorie und Praxis, Frankfurt a. M. 1971. Zur Rekonstruktion. MS. 43. Erkenntnis und Interesse. 388 f; Wahrheitstheorien. 239.

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theorie für Gesellschaftsphilosophie liegt auf der Hand. Vielleicht leidet aber die dargestellte Wahrheitstheorie sowie die entworfene Theorie der sozialen Entwicklung unter der praktischen Absicht der kritischen Theorie und deren vorwiegend ideologiekritischer Dialektik. Wenn wir die Form der menschlichen Reziprozität weder als eine in der Zukunft zu realisierende noch als eine des ideologischen (und deshalb kritikbedürftigen) Bewußtseins betrachten, dann wäre es vielleicht möglich, diese Form als eine schon verwirklichte begreifen zu können, ohne dabei das Ende der sozialen Evolution vorauszusetzen. Rechtstheorie und Gesellschaftstheorie sind nicht identisch. Es ist eine Tatsache, daß die juristische Erscheinungsform des freien Eigentums die ökonomische Gestalt der Waren fast universal angenommen hat. Sie ist aber eine erklärungsbedürftige Tatsache. Erst wenn wir diese Tatsache problematisieren, können wir uns fragen, ob andere sozio-ökonomische Strukturen gemäß dem schon anerkannten Prinzip des abstrakten Rechts zu denken wären. Die Hauptthesen meiner Kritik der HABERMAs'schen Geschichtstheorie sind die folgenden: (i) Eine „Deduktion" der Elementarstrukturen der sozialen Interaktion läßt sich nicht mit sprachtheoretischen Mitteln durchführen. Die Strukturen der Sprache sind per se nicht institutionalisierbar. Sie stellen bestenfalls nur transzendentale Ideale bzw. ideologiekritische Mittel dar. (2) Die eigentlich institutionalisierbaren Strukturen sind die des abstrakten Rechts. Es ist theoretisch nicht angemessen, den Rechtsbegriff „Eigentum" mit dem ökonomischen Begriff „Ware" einfach zu identifizieren.

VOLKBERT M. ROTH (KONSTANZ)

MIT MARX AN MARX VORBEI? HISTOMATi UND HISTOMAT2 Diskussionsbeitrag zu Jürgen Habermas' Thesen zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus Ich sehe mich — bevor ich meinen Diskussionsbeitrag liefere — zu einer Vorbemerkung veranlaßt, die den Status der Diskussion betrifft. Ich meine, es kann in dieser Diskussion noch nicht so sehr darum gehen, daß falsche Behauptungen kritisiert und durch wahre Sätze ersetzt werden. Denn HABERMAS' Thesen sind hauptsächlich ein Forschungsprogramm, gerichtet gegen manches andere Forschungsprogramm. Ich will von einem anderen reden. Für mich ist der Disput noch auf derselben Stufe wie 196g, die RENATE DAMUS formulierte als „Konfrontation .. . einer Kritischen Theorie, die . .. der Beschäftigung mit der politischen Ökonomie entsagt und einer solchen Position, die diese Beschäftigung nach Jahrzehnten der Zuschüttung für die vordringlichste erachtet" (SoPo 4. 23). Die Unabgeschlossenheit der dem konfligierenden Forschungsprogramm folgenden Darstellungsversuche läßt eine Diskussion nur im Vorfeld systematischer Argumentation zu, und im partiellen Vorgriff auf erst zu beweisende Resultate. Ich beschränke mich darauf zu fragen, warum HABERMAS' Thesen unter dem Titel „Rekonstruktion des Historischen Materialismus" vorgetragen werden. In diesem Zusammenhang scheint es mir wichtig, zwei Bedeutungen von ,Historischer Materialismus' explizit zu unterscheiden. ,Historischer Materialismus' kann verstanden werden (1.) als Bezeichnung der Theorie, die den historisch spezifischen Charakter der gegenwärtigen ^ Form der materiellen Reproduktion des Lebens, im Vorgriff geIch möchte Bernhard Brandhofer, Lois Black, Ivo Glaser, Rainer Heger, Erhard Lucas, Joachim Kraft, Grit Roth-Spanknebel, Uschi Schlude, Harald Wohlrapp für Anregungen, Kritik und Unterstützung danken. ‘ Der Kapitalismus ist auch bezüglich der sich als sozialistisch verstehenden Gesellschaften in ihren Welthandelsbeziehungen und in einer Reihe interner „Muttermale der alten Gesellschaft" immer noch gegenwärtige Wirklichkeit.

VoLKBERT M. ROTH

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sagt: die kapitalistische Gesellschaftsform zum Thema hat (Histomat i ist synchronisch; sozusagen „systematischer Querschnitt").

,Historischer Materialismus' kann verstanden werden (2.) als Bezeichnung der Theorie, die die menschliche Entwicklungsgeschichte als eine Kette von Klassengesellschaften thematisiert (Histomat 2 ist diachronisch, sozusagen „historischer Längsschnitt"). Histomat 1 und Histomat 2 haben gemeinsam, daß hier Theorie unter der Perspektive der praktischen Aufhebung der — im Vorgriff gesagt: — Klassengesellschaft betrieben wird. Zu Histomat 2, zur Entwicklungsgeschichte der Klassengesellschaften liegen von MARX — abgesehen von den bisher kaum systematisch ausgewerteten Exzerpten zur Frühgeschichte und Ethnologie von 1880—82, die auch HABERMAS nicht behandelt — nur gelegentliche Aussprüche vor, die — so meine ich — hauptsächlich zum besseren Verständnis vom Histomat 1, der Kapitalanalyse, fallen. Diese Funktion sollten wohl auch die Bemerkungen im Entwurf einer „allgemeinen Einleitung" von 1857 zum Text Zur Kritik der politischen Ökonomie, dem ersten Heft der Veröffentlichung der Kapitalanalyse, haben. Im „Vorwort" zu dieser Schrift von 1859 heißt es: „Eine allgemeine Einleitung, die ich hingeworfen hatte, unterdrücke ich, weil mir bei näherem Nachdenken jede Vorwegnahme erst zu beweisender Resultate störend scheint." „Vorweggenommene", noch zu beweisende Resultate sind eben strenggenommen keine Resultate wissenschaftlicher Argumentation. Ich werde als nächstes aufzuzeigen versuchen, daß gerade die gern zur Stützung des Histomat 2 herangezogenen Teile des (von MARX publizierten) „Vorworts" unter die gerade zitierte MARXsche Selbstkritik an der unterdrückten „allgemeinen Einleitung" fallen. (Ich ziere mich nicht, hier schon bei MARX eine — später folgenreiche — Inkonsequenz zu konstatieren.) Meine Argumentation zielt hierbei ab aufs Folgende: JüRGEN HABERMAS behandelt als „Grundannahmen" einer universellen Entwicklungstheorie (Histomat 2), was MARX nur als „Resultate" seiner Auseinandersetzung mit der kapitalistischen Epoche (Histomat 1) — und daher bloß bezogen auf den Kapitalismus in Anspruch nehmen kann. Es scheint mir (1.), daß es genau hierauf auch ankommt und (2.) daß nicht nur HABERMAS irregeführt wurde durch MARXsche Formulierungen, die darüber hinausgehen. MARX schreibt im „Vorwort" 185g in bezug auf seine Kritische Revision der Hegelschen Rechtsphilosophie; „Meine Untersuchung mündete in dem Ergebnis, daß Rechtsverhältnisse wie Staatsformen weder aus sich —

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selbst zu begreifen sind noch aus der sogenannten allgemeinen Entwicklung des menschlichen Geistes, sondern vielmehr in den materiellen Lebensverhältnissen wurzeln, deren Gesamtheit Hegel, nach dem Vorgang der Engländer und Franzosen des i8. Jahrhunderts, unter dem Namen bürgerliche Gesellschaft zusammengefaßt, daß aber die Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft in der politischen Ökonomie zu suchen sei." Gegen die allgemein gehaltene MARXsche Formulierung („Rechtsverhältnisse wie Staatsformen") ist festzuhalten, daß hier von der bürgerlichen Gesellschaft die Rede ist. MARX führt an, daß er im Anschluß an seine Hegel-Kritik das System der bürgerlichen Ökonomie studiert habe. Bezüglich dieser Studien heißt es: „Das allgemeine Resultat, das sich mir ergab, und, einmal gewonnen, meinen Studien zum Leitfaden diente .. ." Angesprochen sind hiermit wieder MARX' Studien zur Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft. Wichtig ist, daß sich sowohl ,Resultat' als auch ,Leitfaden' auf den noch nicht abgeschlossenen Forschungsprozeß ^ beziehen. Erst nach diesem Vorspann folgt die meist isoliert genommene, „klassisch" gewordene Formulierung : „In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen ..." Ich weise darauf hin, daß diese MARXsche Formulierung (allgemein bezogen auf „die Menschen") zu ihrem Vorspann, es handle sich um das Resultat der Beschäftigung mit der kapitalistischen Epoche, in merklichem Kontrast steht. Es wird nämlich unversehens nicht mehr von den Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft, sondern allgemein bezogen auf verschiedene Gesellschaftsformationen und ihrem Wechsel geredet. So heißt es explizit knapp eine Seite später: „In großen Umrissen können asiatische, antike, feudale und modern bürgerliche Produktionsweisen als progressive Epochen der ökonomischen Gesellschaftsformation bezeichnet werden." Wichtig scheint mir aber die Fortführung, denn sie gibt den Zweck dieses schnellen MARXschen Blicks über die menschliche Entwicklungsgeschichte an. Da heißt es unmittelbar im Anschluß: „Die bürgerlichen Produktionsverhältnisse sind die letzte antagonistische Form des gesellschaftlichen Produktionsprozesses .. ., aber die im Schoß der bürgerlichen Gesellschaft sich entwickelnden Produktivkräfte schaffen zugleich die materiellen Bedingungen zur Lösung dieses Antagonismus. Mit die- Daß der Forschungsprozeß noch nicht abgeschlossen ist, wird schon ausgedrückt in der obigen Formulierung des „Vorworts"; „daß aber die Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft in der politischen Ökonomie zu suchen sei". Dieser Forschungsprozeß ist aber nichts anderes als eine Reihe von Darstellungsversuchen. Der wichtigste Darstellungsversuch, auf den sich Marx 1859 beziehen kann, sind die Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (Rohentwurf 1857—1858, erstveröffentlicht Moskau 1939).

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ser Gesellschaftsformation schließt daher die Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft." Der Zweck, im Hinblick auf den von MARX die vorkapitalistischen Produktionsweisen angesprochen werden, ist Thematisierung der Lösung des Klassenantagonismus, ln diesen Zusammenhang gehört das Betrachten der Zusammengehörigkeit von Produktivkraftentwicklung und Tendenzen zur Änderung der Produktionsverhältnisse, auch wenn die MARXschen Formulierungen oft unangemessen allgemein gehalten sind. Asiatische, antike, feudale und kapitalistische Produktionsweise erscheinen als Kette von Klassengesellschaften aus der Perspektive der Analyse der kapitalistischen Gesellschaft, die als grundlegend die Aufteilung des Arbeitstags des unmittelbaren Produzenten in die für seine individuelle Reproduktion notwendige Arbeitszeit und in Mehrarbeitszeit aufgespürt hat. Dies als Ergebnis vorausgesetzt, läßt sich überhaupt erst von Klassengesellschaft reden. Stets eignen sich die herrschenden, nicht materiell produzierenden Klassen Mehrprodukt der unmittelbaren Produzenten an. (Dieser sich durchhaltende Zug im Histomat 2 — fC/asseugesellschaft — wird in HABERMAS' Thesen zur Rekonstruktion getilgt.) Ich möchte herausstreichen, daß es sich auch bei den zentralen Formulierungen des „Vorworts" von 1859 in der Tat um „vorweggenommene Resultate" handelt. Ich denke, MARX sieht sich zu einer solchen Vorwegnahme gezwungen, da ohne Hinweis auf den Endzweck seiner Theorie, die Bedingungen für und Widerstände gegen die „Lösung des Klassenantagonismus" darzustellen, die Zwischenschritte bis hin zu jenen erst zu beweisenden Resultaten als langwierige Erörterungen anscheinend „ökonomischer Spitzfindigkeiten" auf politisch motiviertes Desinteresse zu stoßen drohen. Es ist hier insbesondere an den Zeitpunkt der Publikation der Schrift Zur Kritik der politischen Ökonomie und den Inhalt dieser Schrift zu denken. Nachdem ich angedeutet habe, wieso sich MARX entgegen seiner zuvor erklärten Absicht zur Vorwegnahme von erst zu beweisenden Resultaten hat hinreißen lassen, möchte ich nun ansprechen, was zu ihrem Beweis zu tun ist. Die MARXsche Vorwegnahme erst zu beweisender Resultate kann entsprechend der Unterscheidung von Histomat 1 und Histomat 2 in zwei Beziehungen verstanden werden: 1. in bezug auf den Kapitalismus (Histomat 1); 2. in bezug auf die Kette der Klassengesellschaften von der asiatischen über die antike und die feudale bis zur kapitalistischen (Histomat 2). Der Beweis eingeschränkt auf die bürgerliche Gesellschaftsform und ihr Entstehen aus vorindustrieller europäischer Feudalgesellschaft sowie

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ihr Übergang in eine vollindustrielle sozialistische Gesellschaft — dieser Beweis kann nur durch ausgeführte Analyse der bürgerlichen Gesellschaftsform erbracht werden. MARX liefert mit der auf das „Vorwort" folgenden Analyse von Ware und Geld von dem erforderten Beweis nur ein — das zu leistende Ganze betrachtet — winziges Anfangsstück, in dem insbesondere die speziellen kapitalistischen Produktivkräfte der Arbeit, die maschinellen Produktionsmittel, noch gar nicht und deshalb auch nicht die Basis-Überbauthese, die „Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen" sowie die „Einheit von Theorie und Praxis" thematisiert sind. Bezogen auf die Analyse der bürgerlichen Gesellschaft ist die Basis-Überbau-Passage des „Vorworts" also Ankündigung, die entsprechend dem ganz zu Beginn dieses „Vorworts" aufgeführten Aufbauplan ® der Gesamtanalyse „Ich betrachte das System der bürgerlichen Ökonomie in dieser Reihenfolge: Kapital, Grundeigentum, Lohnarbeit, Staat, auswärtiger Handel, Weltmarkt" argumentativ eingelöst werden soll. Mit „Kapital, Grundeigentum, Lohnarbeit" sind die drei Revenuequellen thematisiert, deren Behandlung bekanntlich leider mit den ersten Zeilen des Kapitels „Die Klassen" im 3. Band von Das Kapital abbricht. Dieser Teil der Gesamtanalyse der bürgerlichen Gesellschaft, die „allgemeine Kapitalanalyse", die in den drei systematischen Bänden des Kapital als von MARX sehr weitgehend ausgeführter Entwurf vorliegt, kann sinnvollerweise Gegenstand von Rekonstruktionsbemühungen sein. Solche Versuche haben in der BRD die Frankfurter ALFRED SCHMIDT, HANS-GEORG BACKHAUS, HANS JüRGEN KRAHL, HELMUT REICHELT, das Konstanzer Forschungsprojekt, in dem ich gearbeitet habe, die Berliner Projektgruppe um JOACHIM BISCHOFF, JüRGEN RITSERT (Frankfurt), die Gruppe „Arbeitskonferenz" in München und WOLFGANG FRITZ HAUG (Berlin) in den letzten Jahren publiziert. (Daneben gibt es eine Reihe von Rekonstruktionsversuchen der Kapitalanalyse, die bisher nicht publiziert wurden, von denen aber Arbeitsunterlagen zirkulieren.)

’ Zu den Änderungen der Aufbaupläne vgl. das Vorwort des Marx-Engels-LeninInstituts Moskau zu den Grundrissen und Roman Rosdolsky: Zur Entstehungsgeschichte des Marxschen ,Kapital'. Frankfurt/Wien 1968. 24 ff. ^ Ich möchte hier auf folgende Texte zum wertformanalytischen Ansatz der neueren Kapital-Rezeption in der BRD verweisen: Alfred Schmidt: Der Begriff der Natur in der Lehre von Marx. (Diss. 1960). Frankfurt 1962. 1971 erschien die überarbeitete, ergänzte und mit einem Postskriptum versehene Neuausgabe. ders.: Geschichte und Struktur. München 1971. Hans-Georg Backhaus: Zur Dialektik der Wertform. In; Beiträge zur marxistischen

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Bezogen auf die bürgerliche Gesellschaft kann die als Kernstück des historischen Materialismus behandelte Basis-Überbau-These nur im Zusammenhang mit der Rekonstruktion der allgemeinen Kapitalanalyse und ihrer Fortführung in einer an dem Resultat der Kapitalanalyse ansetzenden Staatstheorie (— einen Versuch haben SYBILLE VON FLATOW und FREERK HUISKEN vorgelegt ® —) eingelöst werden. Erkenntnistheorie. Hrsg, von A. Schmidt. Frankfurt 1969. (edition suhrkamp. 349).

Erweiterte Fassung eines Vortrags im Institut für Politikwissenschaft, Frankfurt 1965.

ders.: Materialien zur Rekonstruktion der Marxschen Werttheorie. In: Gesellschaft.

Beiträge zur Marxschen Theorie. Nr 1 und 3. (edition suhrkamp.)

Hans-Jürgen Krahl: Zur Wesenslogik der Marxschen Warenanalyse (überarbeitete Fassung eines Vortrags in einem Adorno-Seminar im WS 1966/67). Abgedruckt in: Konstitution und Klassenkampf. Zur historischen Dialektik von bürgerlicher Emanzipation und proletarischer Revolution. Frankfurt 1971. 31—81. ders.: Bemerkungen zum Verhältnis von Kapital und Hegelscher Wesenslogik. Frankfurt 1970. (edition suhrkamp.) Helmut Reichelt: Anmerkungen zur Marxschen Werttheorie und deren Interpretation bei Werner Hoffmann. In; Sozialistische Politik (SoPo). Organ kritischer Sozialwis-

senschaft. Hrsg, am Otto-Suhr-Institut Berlin. Jg. 1, Nr 2 (Juni 1969). ders.: Zur logisdien Struktur des Kapitalbegriffs bei Marx, (überarbeitete Diss. von 1969), Frankfurt 1970. Mike Roth: Kernstruktur unserer kapitalistisdien Gesellschaft. Fragen, Thesen, Kurzdarstellungen zum Aufbau des Anfangsstücks der Analyse des Kapitals im allgemeinen. Frankfurt 1972. (Sozialwissenschaftliche Skripten Athenäum.) ders.: Kurzer Abriß der Kapitalanalyse. Lernmaterial für den ersten Durchgang durch Karl Marx, ,Das Kapital' Band I—III. Politladen Erlangen-Gaiganz 1974. V. Holt/Pasero/Roth: Zur Wertformanalyse. Aspekte der Marxschen Theorie 2. Frankfurt 1974. (edition suhrkamp.) Hierin ist abgedruckt mein Beitrag Analyse der kapitalistisdien Gesellschaftsform als Wertformanalyse (Dezember 73). Reihe Interpretationen zum ,Kapital' im Verlag für das Studium der Arbeiterbewegung (VSA). Berlin-West (ab 1973). Jürgen Ritsert: Probleme politisch-ökonomischer Theoriebildung. Frankfurt 1973. (Sozialwissenschaftl. Skripten Athenäum.) Resultate der Arbeitskonferenz. Theoretische Zeitschrift der AK-München. Ab 1974 (Vertriebsadresse; 8000 München 40, Postfach 401508). Wolf gang Fritz Haug: Vorlesungen zur Einführung ins .Kapital'. Köln 1974. Von den nicht publizierten Texten möchte ich nur Freerk Huisken: Begleittext zum ersten Band des Kapitals erwähnen. Entwürfe zu diesem Text entstanden parallel zur Abfassung der Ergebnisse des Konstanzer Projekts (Zur Wertformanalyse, edition suhrkamp 633). Arbeitsunterlagen wurden zwischen der Konstanzer Gruppe und der Bremer Gruppe ausgetauscht und diskutiert. Nachträglich erlaube ich mir noch den Hinweis auf meine Habilitationsschrift: Zum wissenschaftlichen Anspruch der Wertformanalyse. ,Aufgreifen' aus dem Alltagsverständnis von Realität, ,Herleiten' von Analysekategorien, Begründung von ,Darstellungsvoraussetzungen'. Eine sozialphilosophische Studie. Fachbereich Philosophie und Geschichte der Universität Konstanz. 1976. ® Flatow/Huisken: Zum Problem der Ableitung des bürgerlichen Staates. Die Oberfläche der bürgerlichen Gesellschaft, der Staat und die allgemeinen Rahmenbedingungen der Produktion. In: ProKla Nr 7. Westberlin Mai 1973. Vgl. auch: Projekt

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Der heutige Forschungsstand zum Histomat i läßt nach meiner Einschätzung den wissenschaftlichen Aufweis der von MARX „vorweggenommenen Resultate" bezüglich unserer kapitalistischen Gesellschaft in weitgehendem Maße erwarten. Das von MARX in programmatischen Wendungen Vorweggenommene^ kann dann, wo es als Resultat explizit aufgewiesen ist, weniger mißverständlich und mit formuliertem Geltungsbereich und Geltungsgründen gefaßt werden. Ich habe hiermit nichts weiter getan als eine Erwartung ausgedrückt. Das ist nicht viel. Ich möchte darauf aufmerksam machen, daß JüRGEN HABERMAS' Thesen die entgegengesetzte Erwartung stillschweigend zum Ausgangspunkt haben. Ich glaube nicht, daß HABERMAS bei dieser anderen Einschätzung ein Argument zur Verfügung hat, das ich nicht habe. Entscheiden läßt sich die Sache nur durch überzeugende Ausarbeitung der Kapitalismusanalyse. So oder so. Der Hintergrund unserer entgegengesetzten Erwartungen ist freilich verschieden. HABERMAS und WELLMER haben schon vor Jahren die MARXsche Werttheorie kritisiert. Auf die Zurückweisung dieser Kritik 1969 haben sie bisher nicht explizit Stellung genommen. Andererseits haben sie die seit 1971 unternommenen Rekonstruktionsversuche des Kapital, so viel ich sehen kann, nicht verfolgt, zumindest nicht direkt und explizit zu ihnen Stellung genommen. Nun zum MARXschen Vorwegnehmen von Resultaten, wenn man es in der zweiten Beziehung versteht. Ein großer Unterschied fällt auf: Bezüglich Histomat 2 folgt den an verschiedenen Stellen eingestreuten Andeutungen und Ankündigungen von Klassenanalyse: Oberfläche und Staat. Westberlin Juli 1974 (vsa Diskussionsband 2), sowie: Resultate der Arbeitskonferenz. Nr 1 (München 1974). Interessantes Material bietet Karl Marx / Friedrich Engels: Staatstheorie. Hrsg, und

eingeleitet von Eike Henning, Joachim Hirsch, Helmut Reichelt, Gert Schäfer. Frankfurt 1974. Weitere Hinweise zum gegenwärtigen Stand der Diskussion um die historisch-materialistische Staatstheorie enthalten: Bernhard Blanke, Ulrich Jürgens, Hans

Kastendiek: Zur neueren marxistischen Diskussion über die Analyse von Form und Funktion des bürgerlichen Staates. In: Probleme des Klassenkampfs 14/15 (1974). Josef Esser: Einführung in die materialistische Staatsanalyse. Frankfurt 1975. Johann Frerichs, Gerhard Kraiker: Konstitutionsbedingungen des bürgerlichen Staates und der sozialen Revolution bei Marx und Engels. Frankfurt 1975. Heide Gerstenberger: Klassenantagonismus — Konkurrenz- und Staatsfunktionen. In: Gesellschaft. Beiträge zur Marxschen Theorie. 3. Frankfurt 1975. Bader, Berger, Ganßmann, Knesebeck: Gesellschaft, Wirtschaft und Staat bei Marx und Weber. Frankfurt 1976. Norbert Kostede: Die neuere marxistische Diskussion über den bürgerlichen Staat. Einführung — Kritik — Resultate. In: Gesellschaft. Beiträge zur Marxschen Theorie. 8/9. Frankfurt 1976.

Projekt Klassenanalyse: Thesen zum Verhältnis von bürgerlicher Gesellschaft und Staat. In: Beiträge zum wissensdraftlichen Sozialismus. 6. Berlin 1976. Bernhard Brandhofer: Gesellschaft und Staat. Zum systematischen Zusammenhang von Ökonomie, Recht und Politik. MS Universität Konstanz 1977.

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nichts, was als auch nur halbwegs ausgeführter Entwurf einer systematischen Darstellung aufgefaßt werden kann (HABERMAS ist da nicht anderer Meinung). Die von ENGELS, LENIN, STALIN vorgelegten Behandlungen des Histomat 2 haben nach meiner Meinung keineswegs das wissenschaftliche Niveau des MARXschen Kapital. Sie sind zum Teil schnell „hingehauene" (ENGELS) Gelegenheitsarbeiten oder Apologetik einer bestimmten Politik (STALIN). Betrachtet mit wissenschaftlichem Anspruch erweisen sich diese „Klassiker"-Texte zu Histomat 2 teilweise als in sich selbst inkonsistent, teilweise stehen sie im Widerspruch zur MARXschen Ausgangsthese, daß die ökonomische Struktur die Basis bilde. Dies gilt sowohl für die anspruchsvolle und von sozialdemokratischen Arbeitern früher vielgelesene ENGELS-Schrift Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates (Material zur Kritik hat ERHARD LUCAS zusammengetragen wie insbesondere auch für die in 200 Millionen Auflage ^ verbreiteten Publikation eines parteioffiziellen Autorenkollektivs unter STALINS Leitung Über dialektischen und historischen Materialismus (1938), wie der Kommentar von IRING FETSCHER zeigt. Daraus, daß HABERMAS aus den klassischen Texten ENGELS und STALINS im einzelnen nichts Materiales für seine Rekonstruktionsanregungen bezüglich Histomat 2 übernimmt, schließe ich, daß in der Geringschätzung dieser Texte Übereinstimmung zwischen uns herrscht. Ich meine nur: wenn dies so ist, dann ist es irritierend, bezüglich der über die kapitalistische Epoche nach rückwärts hinausgehenden, insbesondere der frühgeschichtlichen ® menschlichen Entwicklung das Programm MARX

Nach Angaben von Erhard Lucas hat Engels den Text Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates in zwei Monaten — wobei noch Besuch von Freunden darin lag — runtergeschrieben. ® Vgl. Erhard Lucas: Die Rezeption Lewis H. Morgans durch Marx und Engels und: Marx' Studien zur Frühgeschichte und Ethnologie 1880—82 nach unveröffentlichten Exzerpten. In: Saeculum. 15 (1964), 153—176, 327—343. Diese Exzerpte, die Lucas im Amsterdamer JJSG-Archiv eingesehen hat, sind inzwischen veröffentlicht: Lawrence Kräder: The Ethnological Notebooks of Karl Marx. 2. Aufl. Assen 1974. Erhard Lucas hat zu Kraders editorischer Arbeit und seinem Kommentar eine sehr ausführliche kritische Rezension verfaßt: Der späte Marx und die Ethnologie. Zu Lawrence Kraders Edition der Exzerpte 1880—1882. In: Saeculum. 26 (1975), 386—402. I Nach: Stalin: Über dialektischen und historischen Materialismus. Vollständiger Text und Kommentar von Iring Fetscher. 7. Aufl. Frankfurt/Berlin/Bonn 1961. 11 ff. ® Das Springen von Jürgen Habermas zwischen Marx und Engels/Stalin macht vielleicht übersehen, daß in der Marxsdien Aufzählung „progressiver Epochen" im Vorwort „die Urgemeinschaft" nicht auftaucht. In seinem umfangreichen Text zur Vorbereitung des Kolloquiums beziehen sich aber gerade wesentliche Teile der Habermasschen Überlegungen auf die „neolithische Revolution" und frühere Epochen der

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einer „Rekonstruktion des historischen Materialismus" vorzutragen. Denn was wird rekonstruiert? (MARX nicht und STAUN auch nicht.) Ich möchte das bisherige Ergebnis zusammenfassen: JüRGEN HABERMAS kann sein Rekonstruktionsprogramm auf eine Inkonsequenz die MARX unterlaufen ist, stützen. Es kommt darauf an, diese schwache Stelle bei MARX unter Rückgriff auf den systematischen Argumentationsgang bei MARX explizit zu kritisieren und nicht nach dem Vorbild der parteioffiziellen MARX-Orthodoxie diese Stelle zum Aufhänger relativ beliebig bleibender Ausgestaltungen der Leerformel Histomat 2 zu machen, seien es Überlegungen über Paarungsgruppen und Inzest (wie bei ENGELS) oder Kompilation lerntheoretisch, entwicklungspsychologisch und kommunikationstheoretisch gefaßter Aspekte der Menschheitsentwicklung.

Eigene Gedanken zur Menschheitsgeschichte, die hier und da von „klassischen" MARX-Aussprüchen angeregt worden sind, können angesichts des ganz und gar wackligen Zustands von Histomat 2 nicht als „Rekonstruktion" ausgegeben werden. Wenn aber hinreichend erschüttert ist — und hierzu wollte ich meinen Teil beitragen —, daß es sich bei den Ausführungen von JüRGEN HABERMAS tatsächlich um eine MARX-Rekonstruktion handelt, drängt es sich auf zu fragen, wie sich das HABERMASsche Forschungsprogramm bezüglich Histomat 2 zu dem verhält, was „Rekonstruktion des historischen Materialismus 1" heißen kann (verstanden als methodisch explizite Nachkonstruktion der Kapitalanalyse und Ausführen des Übergangs auf die Theorie des bürgerlichen Staats).

Ich habe den Eindruck, daß HABERMAS Ende der 6oer Jahre, am Höhepunkt der Studentenbewegung, mit eigenen Rekonstruktionsversuchen zur Kapitalanalyse gescheitert ist, daß HABERMAS und WELLMER deshalb konsequenterweise ihre Ergebnisse als MARX-Kritik formuliert haben — aber

Menschheitsentwicklung. Habermas geht weder explizit auf das Verhältnis der Kapitalanalyse (Histomati) zu seinen eigenen Überlegungen zur Entwicklungstheorie (Histomat2) ein, noch thematisiert er das Verhältnis der für Histomat2 als „klassisch" geltenden EngeZs-Schrift: Der Ursprung der Familie ... zu den Marxschen Exzerpten, auf die Engels sich angeblich stützt. In welcher Weise dies geschieht, hat Kräder, auf den Habermas verweist, beschönigend, Lucas, den Habermas offenbar nicht kennt, dagegen sehr offen dargelegt. Vgl. die Angaben in Anm. 6, insbesondere den 1964 veröffentlichten Text Die Rezeption ... * Eine Inkonsequenz insofern, als es hieß, daß ihm „bei näherem Nachdenken jede Vorwegnahme erst zu beweisender Resultate störend schien". Ich habe weiter oben angedeutet, warum sich Marx doch zu einer Vorwegnahme hinreißen ließ. Hier soll stets bei der Diskussion der Inhalte der Argumentationsweg angegeben werden, der bei der Analyse zu diesen Inhalten führt.

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die Gegen-Kritik an ihrer MARX-Kritik sowie die anschließenden neueren Rekonstruktionsversuche nicht direkt beantwortet haben, sondern HABERMAS nun versucht, dem über seine Fassung der Entwicklungstheorie Histomat 2 beizukommen (vgl. auch den „Exkurs über Grundannahmen des Historischen Materialismus" in: Habermas/Luhmann. Frankfurt 1971). Zum Verhältnis der Überlegungen von JüRGEN HABERMAS und der MARXschen Theorie der Emanzipation von der Klassengesellschaft, die ausgeht von der Analyse kapitalistischer Form der Vergesellschaftung, möchte ich, meinen Diskussionsbeitrag abschließend, zu bedenken geben; Wie die (positivistische und antipositivistische) zeitgenössische Wissenschaftstheorie möchte auch HABERMAS offenbar der Beschäftigung mit der kapitalistischen Gesellschaft ein sehr umfangreiches Theoriestück vorgeschaltet wissen. Bei den Wissenschaftstheoretikern ist es eine vom Gegenstand der Theorie der kapitalistischen Gesellschaft abgehobene Lehre wissenschaftlichen Sprechens überhaupt. Bei der „Kritischen Theorie" ä la HABERMAS 1975 ist es eine epochenübergreifende Entwicklungstheorie, eine Lehre menschlicher Entwicklung überhaupt. Der Kapitalanalyse bleibt in dieser universellen Entwicklungstheorie — und hier liegt die Parallele zur MARX-Orthodoxie — nur noch der Status einer — so HABERMAS — „Teiltheorie". Konsequenterweise müsse diese Teiltheorie im Rahmen der universellen Entwicklungstheorie Histomat 2 neu formuliert werden. Und hierin liegt die eigentliche Bedeutung: die angebliche Rekonstruktionsbemühung erweist sich bei näherem Hinsehen als Revision des selbständigen Gültigkeitsanspruchs, den MARX für die Kapitalanalyse erhebt. Denn die Kriterien für die Überprüfung der Gültigkeit des Kapital liefert künftig die vorgeschaltete universelle Entwicklungstheorie. Auch hier ist das Verfahren vom gleichen Muster wie bei „Rekonstruktionen" der positivistischen und antipositivistischen Wissenschaftstheorie. Aber ist das ein Vorwurf? Liegt hierin ein durchschlagendes Argument gegen HABERMAS? Ich denke, es können durch solche Verweise nur Verbindungen zu den wissenschaftlichen, den wissenschaftspolitischen und politischen ErfahrunWichtige Punkte kommen schon in einigen Beiträgen der Streitschrift Die Linke antwortet Jürgen Habermas (res novae provokativ. Frankfurt 1968) zur Sprache. Aus-

führliche und unbeantwortet gebliebene Gegen-Kritiken publiziert die 1969 gegründete Zeitschrift Sozialistische Politik in ihren ersten Nummern: Wolgang Müller: Habermas und die Anwendbarkeit der Arbeitswerttheorie (SoPo 1. 39—53); Renate Damus: Habermas und der ,heimliche Positivismus' bei Marx (SoPo 4. 22—46); Claus Rolshausen: Technik und Wissenschaft als Ideologie (SoPo 4. 47—64).

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gen geknüpft werden, die sich bei den Diskutanden unterscheiden. Insbesondere vom Grad der Zuversicht in die Möglichkeit der Rekonstruktion der Kapitalanalyse als ohne Vorschalttheorien zugänglicher Analyse der Rahmensituation des aus der Klassengesellschaft emanzipierenden Handelns hängt es ab, ob dem HABERMAsschen Forschungsprogramm, das sich vom MARXschen Programm stark unterscheidet, in der Forschungspraxis gefolgt werden soll oder nicht. Ich persönlich sehe in HABERMAS' Thesen zu einer modifizierten Fassung einer Entwicklungstheorie „Histomat 2" keine Veranlassung, die Arbeit an der Rekonstruktion von MARX' Analyse der „Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft" zu unterbrechen oder umzustrukturieren. Wenn es gelungen sein wird, Histomat 1, die systematische Theorie der bürgerlichen Gesellschaftsform, zu rekonstruieren, bzw. auszuführen, stellt sich die Frage neu, inwiefern es nötig ist, neben der systematischen Theorie tmserer Gesellschaft, die die Bedingungen für imd Widerstände gegen Emanzipation von Klassenherrschaft enthält, eine Entwicklungstheorie zu haben und wie diese, wenn rimrissen ist, wozu wir uns um sie bemühen, aussehen kann.

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DIE MATERIE DES HISTORISCHEN MATERIALISMUS Thesen zur historisch-materialistischen Analyse des Historischen Materialismus

I. In der lo. These über Feuerbach bezeichnet MARX seine Position als den Standpunkt des „neuen Materialismus", der den „Hauptmangel alles bisherigen Materialismus" (so die i. These) aufheben soll. Die begriffliche Bestimmung dieses „Hauptmangels" weist von vornherein auf die Gleichheit und auf die Verschiedenheit des MARXschen Materialismus mit tmd gegenüber anderen früheren Materialismen hin. Die Gleichheit zeigt sich schon dem oberflächlichen Blick in dem grundsätzlichen Vorrang, den die Materie in jeder Variante des Materialismus besitzt. Die Verschiedenheit gründet jedoch in der Vielfalt der Möglichkeiten, den Schlüsselbegriff Materie selbst zu begreifen. II. Die geschichtsphilosophischen und noch mehr die weltanschaulichen Differenzierungen zwischen einzelnen Materialismen beschränken sich meistens auf die methodischen Besonderheiten innerhalb der — wie es scheint — immer klar erkennbaren Grundeigenschaften des „Materialismus als solchen". Doch schon in der a. These über Feuerbach ist die Rede davon, daß „der Hauptmangel alles bisherigen Materialismus" im ungenügenden Begreifen „des Gegenstandes, der Wirklichkeit, der Sinnlichkeit" besteht. MARX untersucht also als „die Sache" seines Denkens den Inhalt, der dem bisher scheinbar unproblematischen, durch die Tradition überlieferten Begriff der Materie gegeben werden kann. Erst von da an kann man wirklich von einem neuen, von allen Formen des tradierten wesentlich verschiedenen Materialismus sprechen. III. Die Beschränkung auf die Methode als Abgrenzungsprinzip innerhalb des materialistischen Philosophierens ist die immanente Konsequenz eines darin implizierten metaphysischen Verhältnisses zum Materialismus, das aus Gründen seiner eigenen Logik auch sein eigenes Objekt nur als

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einen Bestandteil eines metaphysisch gestalteten theoretischen Bildes erfaßt. Anders gesagt: Es ist die Rede von einem Denken, dem wegen der immer vorausgesetzten und darum auch unbez weif eiten Bedeutung der Kategorien, die es gebraucht, jedes Objekt des Denkens zugänglich ist außer einem — außer den eigenen Voraussetzungen nämlich, die durch die sogenannten ursprünglichen, grundsätzlichen Schlüsselbegriffe gerade zugedeckt sind. Da es über die Grundbegriffe philosophisch nichts zu sagen vermag, bleibt jedem metaphysischen Denken (das ein System wenigstens immer voraussetzt) die Möglichkeit, von (wesentlich außersystematischen) Grundlagen her seinen Anfang zu nehmen in der Bemühung, die selbstgegebenen Aufgaben zu erfüllen. IV. Daß der Materialismus als solcher seinerseits noch nicht von einer Unterwerfung unter metaphysische Schemata gesichert ist, weist auf seine eigentliche Zugehörigkeit zu einer Denktradition hin, in der er eine der grundsätzlich entgegengesetzten Richtungen darstellt. Die unreflektierte Übernahme solcher klassischer Gegensätze führt manche Klassifikationen dazu, den Materialismus als „die dem Idealismus entgegengesetzte Grundrichtung der Philosophie" und den Idealismus als „die dem Materialismus entgegengesetzte Grundrichtung der Philosophie" zu bezeichnen, wie das z. B. auch das Marxistisch-Leninistische Wörterbuch der Philosophie von KLAUS und BUHR tut. Dieser Rückfall in den Rahmen eines nicht eingestandenen, aber darum nicht weniger anwesenden Denksystems ist nur ein indirektes Indiz dafür, daß man innerhalb einer „Sphäre" verblieben ist, die dem Selbstverständnis nach schon überwunden ist. Aber eben dies ist in jeder Denkanstrengung, die die vielfältig erfaßte Materie als die Basis, die Grundlage nimmt, auf die das Neue, der Ambition nach ganz Verschiedene gebaut werden soll, möglich. V. Der Begriff der Materie, historisch aus dem Lateinischen materia, der Übersetzung der griechischen Kategorie hyle entstanden, wurde ursprünglich als dem Begriff der Form entgegengesetzt gedacht, insofern er das noch Unformierte, Ungestaltete, Unbestimmte bezeichnete. Die Bedeutung des Begriffs Materie ist daher lexikalisch mit dem Wort Stoff angegeben, seine philosophische Bedeutung aber ist reserviert für jenes, das die Voraussetzung jeder Form und jedes Formierens, jeder Tätigkeit und jedes Handelns darstellt — die Voraussetzung jedes realen Geschehens. Die spätere Reduktion dieser Bedeutung auf die wissenschaftlich bestimmbaren Eigenschaften der Materie als wesentlich natürlicher Erscheinung hat nicht nur den Problemhorizont eingeengt, sondern auch zur Folge

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gehabt, daß alles Unnatürliche, Produzierte, Kulturelle der „Sphäre" des Geistes, der Idee, der Theorie überlassen worden ist. VI. Doch gerade mit dem Bestehen auf dem Materiellen als einem gesellschaftlichen Phänomen beginnt (sowohl chronologisch wie auch methodisch) die MARXsche materialistische Kritik, die unter anderem auch eine Kritik des Materialismus „als solchen" ist. „Wie die Philosophie im Proletariat ihre materiellen, so findet das Proletariat in der Philosophie seine geistigen Waffen . . ." ^ Dieser berühmte Satz ist zweideutig. Er besagt die Notwendigkeit eines sozialen Korrelats des philosophischen Programms, wenn man seine immanente Praktizität verwirklichen will; er benennt jedoch die Korrelation mit einem traditionellen Begriffspaar; materiell-geistig. Das Materielle ist im gegebenen Kontext eigentlich; das Gesellschaftliche — wie dies auch die Bestimmung des Proletariats an der gleichen Stelle zeigt; es wird dort nämlich gesagt, daß es für eine Klasse, die für „die allgemeine Emanzipation" fähig sein solle, notwendig ist, daß sie „durch die materielle Notwendigkeit, durch ihre Ketten selbst dazu gezwungen wird" Die materielle Lage ist durch die Aufzählung verschiedener Aspekte der identischen und wesentlichen Voraussetzung für die allgemeine Emanzipation den Ketten gleidigesetzt, d. h. den gesellschaftlichen Verhältnissen, die durch die Ketten ausgedrückt werden. Mit einem Worte: die Bezeichnung ,materiell' ist der Bezeichnung ,gesellschaftlich' gleichgesetzt und das Proletariat ist als die „materielle Waffe" (bei ENGELS, viel später, sogar als „Erbe") der Philosophie eine gesellschaftliche Erscheinung, die die Rolle des realisierenden Faktors übernimmt. Das traditionelle Begriffspaar, das dabei zu Worte kommt, ist jedenfalls nicht im Sinne der Tradition gefaßt; daß es aber überhaupt in der gekennzeichneten Weise zu Worte kommt, zeigt, daß hier eine Begriffsthematik noch gegenwärtig ist, die später mit dem gleichen Gedankengang verlassen wird. VII. Aber diese gesellschaftliche Dimension des materiellen Korrelats der Philosophie bleibt doch nicht die endgültige und letzte. Ihre Voraussetzungen, die MARX später in langwierigen Untersuchungen aufdecken wird, sind in der Grundbeziehung des gesellschaftlichen Prozesses mit der Natur gegeben. MARX untersucht nämlich von Anfang an das Wesen der gesellschaftlichen Verhältnisse — und kommt damit zur paradigmatischen Formulierung: „Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den 1 K. Marx: Zur Kritik der philosophischen Rechtsphilosophie. Einleitung. Vgl. Marx/ Engels: Werke. Bd 1. 391. 2 Ebd. 390.

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sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt. Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt." ® Der Materialismus, von dem hier die Rede sein kann, ist nur dem Anscheine nach ganz klar, er ist es nur, wenn Klarheit herrscht über die Begriffe Produktion und gesellschaftliches Sein, die offensichtlich die ganze theoretische Konstruktion tragen. Beide Begriffe, ihrer Bedeutung nach weitgehend identisch, sind das Ergebnis der Kritik der politischen Ökonomie und stellen „gesäuberte" Bestimmungen des Wesens der Verhältnisse in der ökonomischen Gesellschaftsformation dar. Diese Bestimmungen sind das Resultat der materialistischen Kritik der Gesellschaftstheorie und gleichzeitig sind sie auch Bezeichnungen der Materie gesellschaftlicher Verhältnisse. Ihnen ist eine theoretische Kritik der Theorie vom Standpunkt der Praxis vorausgegangen, die für den MARxismus überhaupt wesentlich ist; und die Begriffe selbst stellen das Kennzeichen des Wesens der bestehenden und auch jeder möglichen Praxis innerhalb des Geschehens dar, das von einem Standpunkt jenseits der Klassengesellschaft als vorgeschichtlich bezeichnet wurde. VIII. Die Produktion des Lebens in den verschiedenen Epochen der ökonomischen Gesellschaftsformation verändert ihre Formen; sie sind in ihren Veränderungen durch die verschiedenen Gesellschaftsverhältnisse bedingt und keineswegs durch irgendwelche ungeschichtlichen („natürlichen") materiellen Voraussetzungen. Die Produktion in der bürgerlichen Welt als die Produktion des Profits oder, was im Grunde das Gleiche ist, als die kapitalistisch organisierte Produktion, ist nur die höchste geschichtlich gewordene Form der Produktion des Lebens. Die Bedingung jeder Produktion (die ja erst als gesellschaftlich organisierte Aktivität existiert) ist die Arbeit als „ein Prozeß zwischen Mensch und Natur, ein Prozeß, worin der Mensch seinen Stoffwechsel mit der Natur durch eigene Tat vermittelt, regelt und kontrolliert" Dieser „Stoffwechsel" ist der letzte Punkt, zu dem die MARXsche materialistische Kritik gelangt; die ENGELSSche „Dialektik der Natur" geht weiter — und zahlt so den Preis, der aus den Analysen von LUKäCS, KORSCH imd anderen bekannt ist. IX. Die Schwierigkeit, die die Erweiterung der materialistischen Methode des kritischen Denkens, die MARX als eine Methode der Analyse der Klassengesellschaft inauguriert, begleitet, besteht darin, daß man nicht mit der Geschichtlichkeit der gebrauchten Kategorien fertig wird. Wenn ’ Marx/Engels: Werke. Bd 13. 8. * Marx/Engels: Werke. Bd 23. 192.

Die Materie des Historischen Materialismus

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nämlich die Materie, die MARX analysiert, voraussetzt, unterstellt, als theoretischer Begriff den gesellschaftlichen, und d. h. den geschichtlichen Veränderungen zugehört, so ist es mit der „Materie als solcher", der Materie in ihren physikalisch, chemisch, biologisch, geologisch usw. bestimmbaren Formen natürlich nicht so. Mit dem „Verschwinden" der geschichtlichen Dimension bleibt der Materialismus bestenfalls eine wissenschaftliche Methode, oder „die Weltanschauung der Marxistisch-Leninistischen Partei" ®. Fest auf die eigenen materiellen Voraussetzungen gestützt, die er mit seiner eigenen Methode nicht durchdenken kann, bleibt dieser Materialismus in der Undurchdachtheit seiner Voraussetzungen verschlossen, oder er muß, nach dem klassischen Vorbild der Metaphysik, diese Voraussetzungen als gegebene hinnehmen. X. Auch die Position von MARX ist selbstverständlich auf gewisse feste Punkte gestützt, an denen die damit ermöglichte Kritik ansetzen kann („Die ursprünglichen Bedingungen der Produktion ... können ursprünglich nicht selbst produziert sein" ®). Diese „rücksichtslose Kritik alles Bestehenden" beruht daher gerade auf dem Bestehenden, auf dem also, was auch das Objekt der Kritik ist — weil sie ja „keine Konstruktion der Zukunft und Fertigwerden für alle Zeiten" postuliert, sondern die Kritik alles Bestehenden, im Bestehenden und gegen das Bestehende. Alles Neue, Verschiedene, Bessere ist erst auf der Grundlage des Bestehenden möglich, natürlich durch seine Veränderung. XI. Die Wendung zur geschichtlichen Veränderung als dem eigentlich gesellschaftlichen Geschehen bedingt also einen Begriff der Materie, der nicht den Versuchen entspricht, sie (wesentlich metaphysisch) als die unbestreitbare Grundlage eines (später hinzugefügten) Denksystems zu nehmen (was nicht nur für die sogenannten „Vulgärmaterialisten" charakteristisch ist, sondern auch für die Bemühungen der II. und teilweise der III. Internationale, den MARXismus zu systematisieren). Diese Position erlaubt auch kein „objektives" (d. h. von den gesellschaftlichen Verhältnissen unabhängiges) Begreifen der Materie. Für die MARXSche Lehre ist es nämlich gerade wesentlich, all das zu begreifen, worüber man im gesellschaftlichen Kontext denken kann. (Dabei wird die Gesellschaft durch die Kritik der wesentlichen Beziehungen in diesem Kontext verstanden. Der theoretische Ausgangspunkt dieser Kritik ist transphilosophisch: ein Denken nämlich. ® J. IV. Stalin: Fragen des Leninismus. Berlin 1970. 647. • K. Marx: Grundrisse ... 388. 389. '' Marx/Engels: Werke. Bd 1. 344.

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das „durch" die Kritik der Philosophie jenseits gelangen möchte und nicht nur vorphilosophisch seine revolutionäre Neuigkeit behauptet. Deswegen sind auch besondere MARxistische theoretische „Disziplinen" unmöglich — z. B. eine MARxistische Philosophie, Soziologie, Psychologie, Politologie, Linguistik, politische Ökonomie usw. XII. Die theoretische Kritik der Theorie vom Standpunkt der Praxis setzt auch das theoretische Begreifen des Praktischen voraus, genauer: des materiell-praktischen Ausgangspunktes (was auch die i. These über Feuerbach zeigt). Ihr Ausgangspunkt liegt im Verständnis der Einheitlichkeit der geschichtlichen und gesellschaftlichen Interessen als der Voraussetzung sowohl der Theorie als auch der Praxis in einer gegebenen Gesellschaft. Darum bedeutet die materialistische Orientierung der MARXschen Kritik nicht nur einen abstrakten „Vorrang der Materie über das Bewußtsein". (Dabei bleibt in den üblichen Interpretationen unklar, ob damit der ontologische, gnoseologische oder kosmologische Aspekt bezeichnet wird. Jedenfalls handelt es sich hierbei um eine klassisch metaphysische Formulierung). Die materialistische Orientierung der MARXschen Kritik ist eher in der theoretischen Einsicht in den gesellschaftlichen (klassenmäßigen) Aspekt jeder Theorie gegeben (nicht aber in der Behauptung einer strikten gesellschaftlichen Bedingtheit, wie sie sich von DIETZGEN bis zu den heutigen „Poststrukturalisten" zeigt). XIII. Um abzuschließen: Der Historische Materialismus ist eine Bezeichnung, die, in aller Strenge bedacht, die materialistische Kritik als das Endergebnis des Bewußtseins der immanenten theoretischen und gesellschaftlich-geschichtlichen Unmöglichkeit der Systematisierung des Denkens nach Hegel bzw. nach der bürgerlichen Revolution in sich verbirgt. Die Materie dieser Kritik (bzw., wie man nach MARX umformulierte, „des historischen Materialismus") ist das Wesen der zugegebenen gesellschaftlichen Verhältnisse, das transphilosophisch erfaßt wird. Eine so bestimmte Materie ist auch die legitime Erbin jenes Konzeptes, das sie ursprünglich und ihrem Wesen nach als der Form entgegengesetzt betrachtet hat; sie ist aber auch das Ergebnis des Denkprozesses, der die ganze überlieferte Theorie in ihre theoretisch begriffenen gesellschaftlichen Korrelate aufgelöst hat.

E. KURZVORTRÄGE UND FORSCHUNGSBERICHTE

X. KURZVORTRÄGE 1. Probleme der Philosophie Hegels

LASZLÖ ERDEI(BUDAPEST)

DER LETZTE GRUND UNSERES WISSENS BEI HEGEL Mit KANT beginnend erklärten die großen Vertreter der klassischen deutschen idealistischen Philosophie alles Endliche als Akzidenzien und räumten der Substanz sozusagen darüber hinaus einen Platz ein. Aus dieser Auffassung ergab sich ihnen ein einfaches spekulatives Verfahren, mit dem sie der Substanz selbst unmittelbar beizukommen vermeinten. Dies Verfahren besteht im wesentlichen darin, daß die endlichen Gegenstände aus der Welt zu lassen sind, d. h. daß von ihnen zu abstrahieren ist. Was dann von der Welt verbleibt, ist eben die Substanz, der letzte, absolute Grund. — Die Anwendung dieses Verfahrens führte jedoch zu haarsträubenden Widersprüchen, vor allem bei KANT. Wir können uns vorstellen — so KANT —, daß sich im Raum und in der Zeit keine Gegenstände befinden. Nach diesem „Weglassen" der Gegenstände aus der Welt bleiben aber als dessen Ergebnis Raum und Zeit als vollkommen entleerte, also als leere „Behälter" der Welt zurück. Der eine Widerspruch besteht daher darin, daß sich die Substanz als Leerheit, als Nichts zeigt, was doch eine Unmöglichkeit darstellt, da die Substanz der Inbegriff aller Realitäten ist. Und eben dies müßte auch zum Ausdruck kommen. Manche — so fährt KANT fort —, nämlich diejenigen, die „gemeiniglich zur Partei der mathematischen Naturforscher" gehören, d. h. die Anhänger der absoluten Raiun-Zeit-Auffassung NEWTONS sind, nehmen nun an, daß dieser leere Raum und diese leere Zeit die Substanz verkörpern. Aber das ist wiederum eine Unmöglichkeit; denn „so müssen sie zwei ewige und unendliche, für sich bestehende Undinge (Raum und Zeit) annehmen, welche da sind (ohne daß doch etwas Wirkliches ist), nur um alles Wirkliche in sich zu befassen" Die Leerheit ist aber zugleich irgendwie dennoch die Substanz, da sie als solche von absoluter Unbedingtheit ist, absolut unbedingt existiert. Denn man kann sich zwar vorstellen, daß sich im Rarun und in der Zeit keine Gegenstände befinden. 1.

1 I. Kant: Kritik der reinen Vernunft. A 39. B 56.

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man kann sich jedoch „niemals eine Vorstellung davon machen, daß kein Raum (respektive keine Zeit, d. Verf.) sei" Die Auflösung dieser Widersprüche schien KANT nur auf eine einzige Weise möglich zu sein: Anstelle des leeren Raumes imd der leeren Zeit befindet sich wirklich die Substanz, da es absolut unmöglich ist, das NichtSein dieser Leerheit, dieses Nichts, vorzustellen. Wenn aber diese Leerheit, dieses Nichts — beziehungsweise das, was als solches erscheint — die Substanz ist, so kann sie in der Tat eine solche Leerheit, ein solches Nichts nicht sein. Im Gegenteil: Sie muß der Inbegriff aller Realitäten, das „vollste" Etwas, etwas, das „am meisten" Etwas ist, sein. Daraus aber folgt, daß es nur für uns eine Leerheit, nur für uns Nichts ist. Das ist die Konsequenz des KANiischen Sensualismus. KANT behauptet, daß wir nur dasjenige zu erkennen vermögen, was wir als Stück der Welt mit Hilfe der Sinne aufnehmen können. Die Substanz als solche aber ist offensichtlich nichts Sinnliches. Daher tritt sie für uns als Leerheit, als Nichts in Erscheinung, obgleich sie gerade das Gegenteil solcher Leerheit darstellt. Und weiter noch: Wenn sich unsere Erkenntnis auf die Welt der Erscheinungen beschränkt, so können wir von der Substanz absolut nichts wissen. Also nicht nur das nicht, ob die Substanz etwa Gott oder die Materie ist, sondern nicht einmal, ob sie Raum und Zeit ist. Hingegen besitzen wir ein derartiges absolut notwendiges Wissen über ein sich als leerer Raum und als leere Zeit offenbarendes „Etwas", denn „man kann sich niemals eine Vorstellung davon machen, daß kein Raum (keine Zeit, d. Verf.) sei". Wenn nun Raum und Zeit weder Bestimmungen der Substanz noch Bestimmungen der Erscheinung sein können — letzteres ist unmöglich, weil das Bewußtsein der absoluten Notwendigkeit nicht aus der Erfahrung stammen kann, die Erscheinung mit ihren Bestimmungen aber etwas Empirisches darstellt —, so bleibt nach KANTS Meinung nur noch die Annahme übrig, daß Raum und Zeit Anschauungen a priori sind. Mit anderen Worten: es ist die Eigentümlichkeit unserer Vernunft, die Erscheinungen nur in Raum und Zeit begreifen und betrachten zu können. Die Tatsache, daß KANT am „Ort", an der „Stelle" der Substanz nichts gefunden hat — beziehungsweise nur dieses Nichts fand — stellt offensichtlich den fundamentalsten erkenntnistheoretischen Grund seiner gesamten Philosophie und seines Agnostizismus dar. Diese Tatsache verantwortet es auch, daß sich Raum und Zeit bei ihm zu einer Anschauung a priori wandeln (es ist keinesfalls so, daß ihm dabei NEWTONS Vorstellung vom absoluten Raum und der absoluten Zeit vor Augen gestanden 2.

* Ebd. A 24. B 38 f.

Der letzte Grund unseres Wissens bei Hegel

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hat). Dieser außerorderttlich wichtige Ausgangspunkt ist aber bis heute nicht seinem wirklichen Gewicht entsprechend berücksichtigt worden. Denn dieser seienden Leerheit kommt nicht nur in der KANxischen, sondern in der gesamten klassischen deutschen idealistischen Philosophie eine abgrenzende Rolle zu.

abstrahierte von den Gegenständen, um zum letzten Grund der Natur zu gelangen. FICHTE hat verstanden, daß dieses Abstrahieren von den Gegenständen in Wahrheit gar nichts anderes bedeutet, als von unseren Erkenntnissen, von unserem Wissen selbst zu abstrahieren, um den letzten Grund unseres Wissens zu finden. (Am Ende können wir die Gegenstände aus der Welt doch nicht weglassen; was wir allein können, ist, von den Gedanken, d. h. von unserem Wissen über sie zu abstrahieren.) Deshalb ist das Ergebnis ein und derselbe „absolute Begriff": das Sein als das ganz leere, also das reine Sein. Hegel sagt, daß „das reine Sein als die Einheit zu betrachten ist, in die das Wissen auf seiner höchsten Spitze der Einigung mit dem Objekte zusammengefallen ist" ®. Und diese „höchste Einheit" ist — so SCHELLING — „der heilige Abgnmd", „aus dem alles hervorgeht und in den alles zurückkehrt" Mit dem reinen Sein aber haben wir das Gebiet der Logik — das der dialektischen Logik, wie sich versteht — betreten. KANT

3. Es ist von entscheidender Wichtigkeit zu bemerken, daß von Hegel — eigentlich von SCHELLING — offensichtlich eine falsche Verdoppelung und Umkehr durchgeführt wird. Etwas Derartiges gab es bei KANT nicht. Die „Idee eines höchsten Wesens" darf zwar nach KANT als letztes Argument angenommen werden. Wir „können aber die allgemeinen Gesetze der Natur, als in Absicht auf welche die Idee nur zum Grunde gelegt wurde, ohne mit uns selbst in Widerspruch zu geraten, nicht vorbei gehen, ... weil wir nicht berechtigt waren, ein Wesen über die Natur ... anzunehmen". ® Die idealistische Lösung ist also für KANT eigentlich nur noch eine unberechtigte Interpretation der Natur. Hegel geht weiter. Er teilt die Wirklichkeit auf in ein natürliches und in ein geistiges Etwas und kehrt ihre realen Beziehimgen um. Er geht nicht davon aus, daß es die selbstbewegende Materie gibt, die in einem Punkt zur selbstbewußten Materie wird. Er geht vielmehr — und dies zeigt auch sein philosophisches System — aus von dem mystifizierten menschlichen Selbstbewußtsein. ® G. W. F. Hegel: Wissenschaft der Logik, Hrsg, von G. Lassen. Teil 1. 58. * F. W. 7. Schelling: Bruno oder über das göttliche und natürliche Prinzip der Dinge. In: Werke. Bd 3. München 1927. 154. ‘ I. Kant: Kritik der reinen Vernunft. A 699 f. B 727 f. (Hervorhebung v. Verf.)

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Dieses ist es, das sich angeblich an einem Punkt zur Natur, zur Materie umwandelt; und nur in einem dritten Teil des Systems wandelt sidi die Natur in den ebenso mystifizierten Geist. Diese Verdoppelung und Umkehr scheint dadurch begründet zu sein, daß man sowohl die Welt des Geistes als auch die Welt der Natur auf rechte Weise nur als eine Einheit von Objekt und Subjekt auffassen kann. Sie scheint weiter durch folgende Überlegung Hegels begründet: „Daß die Totalität gesetzt sei, dazu gehört der gedoppelte Übergang, nicht nur der der einen Bestimmtheit in ihre andere, sondern ebenso der Übergang dieser andern, ihr Rückgang, in die erste." ® Man kann aber diese dialektische Einheit, diese dialektische Bewegung ohne weiteres auf eine „umgestülpte" Weise vorstellen. ^ Hinsichtlich ihres rationellen Inhaltes ist Hegels Wissenschaft der Logik die Beschreibung der dialektischen Logik, der dialektischen Methode des menschlichen Denkens und der menschlichen Praxis, mit deren Hilfe wir Ideen schaffen bzw. die so geschaffenen Ideen in die Massen eindringen lassen, auf daß sie dort zur materiellen Kraft werden, die die Welt verändert. ® ünd eben dies ist überhaupt die absolute Dialektik von allem, was war, ist und sein wird, d. h. nach MARX: „Hegels Dialektik ist die Grundform aller Dialektik." ® Zur Bestätigung dieses realen dialektischen Verlaufs hat die Wissenschaft bereits eine riesige Menge von Beweismaterial erschlossen. Und mehr noch: Wir verfügen nur hierfür über Beweismaterial. Denn es gibt keine wissenschaftliche Grundlage dafür, um das System der allgemeinen Gesetze der materiellen Wirklichkeit — der Natur, der Gesellschaft und des Denkens — als selbständig Existierendes von dem abzugrenzen, dessen allgemeinste Gesetzmäßigkeit es darstellt. 4. Legen wir also den Idealismus als unbrauchbare Interpretation beiseite und stellen wir uns noch einmal das Wesentliche im Zusammenhänge unserer Untersuchung vor Augen: Wenn wir den absoluten Ausgangspunkt, den absoluten Grund tmseres Wissens erforschen wollen, so bemerken wir, daß wir alle unsere Kenntnisse, unser gesamtes Wissen mit einer einzigen Ausnahme fortfallen lassen können. Diese einzige Ausnahme sind Raum und Zeit als Leerheit oder — wie Hegel in seinem Hauptwerk ausführt — als das reine, mit dem Nichts identische Sein. Dies • G. IV. F. Hegel: Wissenschaft der Logik. Hrsg, von G. Lassen. Teil 1. 333. ’’ K. Marx: Das Kapital. In: Marx/Engels: Werke. Bd 23. Berlin 1962. 27. ® K. Marx: Zur Kritik der Hegelsdien Rechtsphilosophie. Einleitung. Siehe Marx! Engels: Werke. Bd 1. Berlin 1957. 385. ’ K. Marx: Briefe 1868—1870. In: Marx/Engels: Werke. Bd 32. Berlin 1965. 526.

Der letzte Grund unseres Wissens bei Hegel

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ist der einzige Gedanke, an den nicht zu denken absolut unmöglich ist. Daher müssen wir von diesem, den reinen Widerspruch bildenden Anfangsgedanken sowohl flMsgehen wie auch aus ihm herausgehen, und dies

dadurch, daß wir seine innere Dialektik sozusagen frei funktionieren lassen. Auf diese Weise erhalten wir die auf dies absolute, mit dem reinen Sein identische Nichts bezogenen Bestimmungen der Hegelschen Logik, die absolut notwendige und aufeinander auch mit absoluter Notwendigkeit folgende Bestimmungen zu sein beanspruchen — und dies mit derjenigen höchsten wissenschaftlichen Exaktheit, die in der Philosophie, überhaupt in der Wissenschaft, möglich ist. Wir können solange nicht von einem genuinen Verständnis und einer wirklich exakten Beschreibung der dialektischen Logik und des Wesens der dialektischen Methode reden, bis wir Hegel in dieser Sphäre der absoluten Notwendigkeit nicht von Punkt zu Punkt kritisch verfolgt und bis wir nicht die Bedeutung des auf diese Weise erhaltenen mystifikationslosen Ergebnisses in bezug auf das menschliche Wissen, die Wissenschaft, ermessen haben.

Die Vollendung dieser Arbeit wird meines Erachtens auch die Lösung des Systemproblems entscheidend beeinflussen.

L. BRUNO PUNTEL (MÜNCHEN)

HEGELS „WISSENSCHAFT DER LOGIK" EINE SYSTEMATISCHE SEMANTIK? O. Einleitung Dieser Kurzvortrag entwickelt einige fragmentarische Überlegungen zu einer Thematik, die eine weit ausführlichere Behandlung verdient. Daß Hegels Wissenschaft der Logik (im folgenden abgekürzt WL) in irgendeinem Sinne als Semantik, als Bedeutungslehre, aufgefaßt werden kann und sogar muß, ist eine Einsicht, die heute nicht nur allgemein als vertretbar gilt, sondern die darüber hinaus große Aussicht auf eine überzeugende Interpretation des Hegelschen Werkes bietet. Von Semantik wird heute in vielfacher Weise gesprochen. Ich möchte in der hier gebotenen Kürze zu zeigen versuchen, i. in welchem näheren Sinne Hegels WL eine Semantik genannt werden kann, und 2. welche Gesichtspunkte zu berücksichtigen sind, um Hegels WL als systematische Semantik zu interpretieren. 1. Hegels WL — eine Semantik: genauer Sinn der These Ich gehe davon aus, daß Hegels Logik eine Semantik ist. Meine Frage lautet: welcher Typus von Semantik liegt hier vor? Es ist an dieser Stelle nicht möglich, die vielfältigen Vorstellungen und Bemühungen um den Ausdruck „Semantik" zu verfolgen. Es genügt, auf die Dimensionen des Bedeutungsbegriffs hinzuweisen. Im Anschluß an D. WUNDERLICH kann man drei Dimensionen des Bedeutungsbegriffs und dementsprechend drei Arten von Semantik unterscheiden: 1) die Referenzsemantik, die die sprachexterne Bedeutung sprachlicher Ausdrücke untersucht, 2) die Inhaltssemantik, die die sprachinterne Bedeutung sprachlicher Ausdrücke behandelt.

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3) die Sprechhandlungssemantik, die die Bedeutung sprachlicher Äußerungen in KommunikationsSituationen herausarbeitet. ^ Zu keiner dieser drei Arten von Semantik kann Hegels WL ohne nähere Unterscheidungen und Präzisierungen gerechnet werden. Eine Referenzsemantik ist die WL deshalb nicht, weil die logischen Bestimmtheiten keinen direkten Sachbezug beinhalten. Sie sind nicht als sprachliche Ausdrücke zu deuten, die Gegenstände, Tatsachen u. ä. bezeichnen. Vielmehr sind sie die Artikulationsmodi jener sprachlichen Handlungen, die sich direkt auf Gegenstände (Tatsachen usw.) beziehen. Kategorien im Sinne der WL bilden eine metasprachliche Ebene zur direkten, gegenstandsbezogenen Sprachebene. Aber die WL stellt auch keine Inhaltssemantik im Sinne D. WUNDERUCHS dar. Denn die von WUNDERLICH genannten sprachlichen Ausdrücke, deren sprachinterne Bedeutung er untersucht, sind dieselben Ausdrücke, mit denen sich auch die Referenzsemantik befaßt, nämlich sachbezogene, gegenstandsbezogene sprachliche Ausdrücke; nur werden sie von der Inhaltssemantik nicht unter dem Gesichtspunkt ihrer Sach- bzw. Gegenstandsbezogenheit, sondern bezüglich ihrer Relation zu anderen Ausdrükken, ihrer Stellung in einem Netz oder Feld von Ausdrücken untersucht. Von dieser gegenstandsbezogenen Inhaltssemantik kann und muß man eine andere Art bzw. Dimension der Inhaltssemantik unterscheiden, die ebenfalls die Sinnrelationen zwischen sprachlichen Ausdrücken untersucht. Nur handelt es sich hier nicht um gegenstandsbezogene sprachliche Ausdrücke, sondern um solche, die sich auf die Aussageweisen oder -Schemata, die die Verwendung der gegenstandsbezogenen Ausdrücke regeln, beziehen — und das sind gerade die Kategorien. Man muß dann von einer kategorialen (auf die Aussageweisen bezogenen) Inhaltssemantik sprechen. Um die beiden Arten der Inhaltssemantik zu unterscheiden, könnte man von einer materialen und von einer formalen Inhaltssemantik sprechen. Allerdings sind diese Bezeichnungen in vieler Hinsicht mißverständlich. Ich spreche im folgenden von einer kategorialen Inhaltssemantik. Eine solche Semantik ist Hegels WL. Bevor dieser Pimkt näher erläutert wird, noch ein kurzes Wort zur Sprechhandlungssemantik. Sieht man vom Begriff des illokutionären Aktes ab, so dürfte klar sein, daß Hegels WL keine Sprechhandlungssemantik ist, da sie nicht die Beziehungen von Sprecher und Hörer xmd allgemeine Kommunikationszusammenhänge untersucht. * Vgl. D. Wunderlich: Grundlagen der Linguistik. Reinbek bei Hamburg 1974. Bes. 9: Zur Explikation des Bedeutungsbegriffs.

Hegels Logik — eine systematische Semantik?

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Bis jetzt allerdings wurde die heute so wichtige und bedeutende Semantik der formalen Logik und der Wissenschaftssprachen nicht erwähnt. Daß Hegels WL nicht auf diese Semantik reduziert werden kann, liegt auf der Hand. Freilich ist die Nähe einer solchen Semantik zur WL in gewisser Hinsicht viel größer als in den anderen Fällen. Aber hier ergeben sich ganz besondere Probleme, auf die ich unter 2 kurz eingehen werde. Ich ziehe das Fazit: Hegels WL kann nur als eine kategoriale Inhaltssemantik aufgefaßt werden. Es geht in ihr um eine Dimension der Sprache, in der Bedeutungen besonderer Art untersucht werden: diese Bedeutungen sind sprachliche Ausdrücke, die als Abbreviaturen eine Regel für den gegenstandsbezogenen Gebrauch der Sprache beinhalten. 2. Hegels WL — eine systematische Semantik Wird Hegels WL als kategoriale Inhaltssemantik interpretiert, so dürfte ihr der systematische Charakter kaum abzusprechen sein. Die Frage ist lediglich, in welchem Sinne sie dies ist und wie ihre Systematizität als möglich bzw. durchführbar aufgezeigt werden kann. 2.1. Das Novum der WL Um auf diese Frage eine, wenn auch vorläufig nur allgemeine Antwort zu geben, ist es wichtig, zunächst auf das hinzuweisen, was als das eigentliche Novum der Hegelschen WL anzusehen ist. Hegel hat ein ausgeprägtes Bewußtsein darüber, daß er in der WL die Kategorien an ihnen selbst begreift. Man sollte nicht zu schnell an diesem Ausdruck Vorbeigehen. Er beinhaltet nämlich ein außerordentlich anspruchsvolles Programm. Hegel will zunächst sagen, daß in der ganzen Tradition der abendländischen Philosophie die Kategorien nicht an ihnen selbst begriffen wurden. Er bezieht sich auf KANT mit dem Hinweis, in der Transzendentalphilosophie würden die Kategorien nur in ihrer „abstrakten, allen gleichen Relation auf Ich", nicht hingegen in „ihrer Bestimmtheit gegen- und ihr Verhältnis zueinander" ^ betrachtet. Wir haben hier eine nähere Andeutung des Systemcharakters der WL als Semantik. Das Begreifen der Kategorien an ihnen selbst ist das Begreifen ihrer Kohärenz. Das „an ihnen selbst" besagt zunächst negativ, daß die Kategorien nicht bloß etwa als ontologische Strukturen, als Leistungen einer transzendentalen Subjektivität oder 2 Wissenschaft der Logik (= WL). Hrsg, von G. Lassen. Abdruck 1963 der Auflage von 1934. Teil 1. 46.

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als „Kategorien in Funktion" usw. gesehen und dargestellt werden. Positiv beinhaltet diese Formulierung die Einsicht und die Forderung, daß die Kategorien als Elemente eines kohärenten Ganzen von Bedeutungen, eben eines Systems von Bedeutungen, zu verstehen sind. 2.2. Das „Wie" des Systemcharakters der WL als Semantik Die sich hier aufdrängende Frage hat es mit dem Wie des Systemcharakters einer solchen kategorialen Inhaltssemantik zu tun. Es wäre eine Vermessenheit, im Rahmen eines Kurzvortrags eine auch nur einigermaßen befriedigende und einleuchtende Antwort auf diese sehr strittige Frage geben zu wollen. Ich möchte dazu nur drei Bemerkungen machen: 2.2.1. Aus der — im Grunde sehr einfachen — Charakterisierung jenes Typus von Semantik, dem Hegels WL zuzurechnen ist, ergeben sich hinsichtlich der heutigen Diskussionslage Konsequenzen von sehr großer Tragweite. Im Lichte dieser Kennzeichnung erweisen sich nämlich alle jene Vorstellungen, Forderungen und Verfahren als der WL absolut inadäquat, die einem anderen als dem Typus einer kategorialen Inhaltssemantik entsprechen. In besonderer Weise sind hier jene Versuche zu nennen, die das methodische Vorgehen der Referenzsemantik und der Sprechhandlungssemantik auf die WL übertragen wollen. Eine Anwendung bzw. Übertragung dieser Art ist eine verhängnisvolle metabasis eis allo genos, nämlich die Nichtberücksichtigung der Unterschiedlichkeit der Sprachebenen. Eine solche Verwechslung von Sprachebenen scheint H.-F. FULDA zu begehen in seiner sehr wichtigen Arbeit Unzulängliche Bemerkungen zur Dialektik Hegels Logik wird hier so interpretiert, als ob sie eine Referenz- und eine Sprechhandlungssemantik wäre. Es ist kein Zufall, daß FULDA sich auf PEIRCE beruft. 2.2.2. Meine zweite Bemerkung bezieht sich auf das, was ich den eigentlichen Problemkern nennen möchte, mit dem sich der Versuch einer positiven Bestimmung des methodischen Vorgehens einer kategorialen Inhaltssemantik konfrontiert sieht. Ich möchte kurz nachweisen, daß dieser Problemkern in der Aufgabe besteht, die Einheit von drei unbedingt zu unterscheidenden Sprachen bzw. Sprachebenen aufzuzeigen. Es handelt sich 1) um die Umgangssprache als die vorgegebene Metasprache, d. h. als die grundlegende Ebene jeder Verständigung überhaupt; 2) um die objektlogische Sprache, d. h. um die Ebene der zu untersuchenden und darzustellenden logischen Bestimmtheiten, d. h. der kategorialen Bedeutungen; ® In: Hegel-Bilanz. Hrsg, von R. Heede und J. Ritter. Frankfurt a. M. 1973. 231—262.

Hegels Logik — eine systematische Semantik?

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3) um die methodologische Sprache als die explizierende Ebene der Sprache, kurz um die Explikationsmittel. Daß diese drei Sprachen (bzw. Sprachebenen) hinsichtlich der WL zu unterscheiden sind, läßt sich unschwer zeigen. Wie Hegel vor allem in der Vorrede zur 2. Ausgabe der WL betont, sind die kategorialen Bedeutungen (in Hegels Sprache: die Denkformen) „. . . zunächst in der Sprache des Menschen herausgesetzt und niedergelegt" Daß damit grundsätzlich die Umgangssprache gemeint ist, geht aus der sich an den zitierten Text anschließenden Bemerkung hervor: ,,.. . was er [der Mensch] zur Sprache macht und in ihr äußert, enthält eingehüllter, vermischter, oder herausgearbeitet, eine Kategorie . . ." ® Die Umgangssprache ist somit für Hegels WL Ausgangspunkt und Endpunkt der logischen Untersuchungen: Ausgangspunkt, insofern sie die herauszuarbeitenden Kategorien bzw. Bedeutungen enthält, Endpunkt, insofern sie die konkretisierten Kategorien zum Vorschein bringt. Definiton und Systematisierung der kategorialen Bedeutungen besagen nichts anderes als die Artikulation umgangssprachlicher Sinnrelationen in einer objektsprachlichen Logik, genauer: als eine objektsprachliche Logik. Dies geschieht durch Übertragung umgangssprachlicher Ausdrücke in die objektsprachliche Logik oder aber durch Bildung neuer Ausdrücke in dieser objektsprachlichen Logik zur Charakterisierung vager und komplizierter umgangssprachlicher Ausdrucksweisen. Diese Übertragung bzw. Bildung ist eine Standardisierung und vor allem kreative Ausdifferenzierung der Umgangssprache: Hegel nennt ja die Bedeutungen bzw. Kategorien, d. h. die Ausdrücke der objektsprachlichen Logik, „Abbreviaturen" ®. Die Herausarbeitung der kategorialen Bedeutungen aus der Umgangssprache und deren Darstellung in der objektlogischen Sprache, ja als objektlogische Sprache, erfolgt in einer Metasprache zur objektlogischen Sprache, also in einer metalogischen oder besser methodologischen Sprache, denn eine solche Herausarbeitung impliziert die Anwendung von Explikationsmitteln bzw. von Methoden. Hegel selbst kennt sehr wohl solche metalogischen Elemente. Hierher gehört z. B. die fundamentale methodologische Auffassung Hegels in der WL: „Das Einzige, um den wissenschaftlichen Fortgang zu gewinnen ... ist die Erkenntnis des logischen Satzes, daß das Negative ebensosehr positiv ist ..." ^ Zu diesen methodologischen Explikationsmitteln sind auch einige übergreifende Begriffe der WL zu rechnen, wie Vermittlung, Bewegung, Negation, Bestimmtheit ‘ ' • '

WL. Teil 1. 9. Ebd. 10. Vgl. ebd. 13,18 u. ö. Ebd. 35.

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usw. Das große Problem einer positiven, Klarheit über ihr methodisches Vorgehen schaffenden kategorialen Inhaltssemantik kann so formuliert werden: Wie ist die Differenz und die Einheit der drei genannten Sprachen (Sprachebenen) zu begreifen und welche Konsequenzen methodischer Art ergeben sich daraus? Bevor einige Andeutungen über einen positiven Vorschlag in dieser Richtung gemacht werden, seien die zwei Positionen genannt, die die Differenz der drei Sprachebenen in jeweils entgegengesetzter Richtung absolut setzen, die also deren Einheit nicht begreifen. Es handelt sich einmal um die Absolutsetzung der Umgangssprache. Dabei werden die objektlogische und die methodologische Sprache als in jeder Hinsicht gegenüber der Umgangssprache nachträgliche Sprachen betrachtet und auf die Umgangssprache reduziert. Musterbeispiel für eine solche Position ist die von H.-G. GADAMER vertretene Hermeneutik. Die andere diametral entgegengesetzte Extremposition verabsolutiert einen und nur einen Teil der methodologischen Sprache, und zwar die formale Logik und/oder die formalen Wissenschaftssprachen. Diese methodologischen Elemente werden dabei vorausgesetzt, sie werden bei der Entwicklung des Logischen im Sinne der WL weder problematisiert noch thematisiert, sondern auf die dargestellten kategorialen Bedeutungen nur angewendet. Es läßt sich nun zeigen, daß von diesen beiden Extrempositionen her sich zwar manches über Hegels WL sagen läßt, daß dadurch aber Anspruch und Originalität dieses Werkes nicht begriffen werden können. Die Gründe hierfür lassen sich kurz folgendermaßen zusammenfassen: die Reduktion der kategorialen Inhaltssemantik auf reine umgangssprachliche Semantik ist nicht in der Lage, verständlich zu machen, warum der Rekurs auf Umgangssprache sich gewisser Explikationsmittel bedient und bedienen muß, die als solche in der Umgangssprache nicht Vorkommen. Gegen die die formallogischen und wissenschaftsformalen Explikationsmittel absolut setzende Position kann man mindestens zwei Einwände erheben: i) diese Position ist nicht radikal genug, da sie ihr eigenes Instrumentarium ungeprüft annimmt und anwendet; 2) diese formallogischen und wissenschaftsformalen Explikationsmittel kommen in Hegels WL selbst vor, und zwar an einem bestimmten systematischen Ort. Man kann nämlich zeigen, daß die formale Logik als eine Disziplin aufzufassen ist, die bestimmte „Ausschnitte" aus der kategorialen Inhaltssemantik aussondert und für sich betrachtet. Freilich ist dies eine These, die an dieser Stelle nicht bewiesen werden kann. 2.2.3. Meine dritte Bemerkung will kurz einen positiven Lösungsvor-

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schlag skizzieren. Dieser Vorschlag versuch^ gewisse in der Tradition der Hegelinterpretation immer wieder mit Nachdruck formulierten Einsichten näher zu klären. Man hat ja immer wieder darauf hingewiesen, daß in der IVL Methode und Sache identisch sind, daß Darstellung und Sache zusammenfallen, daß der Anfang das Resultat schon voraussetzt, daß die Sache selbst erst mit ihrer Ausführung gegeben ist usw. Diese Einsichten sind zwar richtig, es fehlt ihnen aber die heute unabdingbare Präzision und damit die Überzeugungskraft. Das Problem läßt sich in Form einer doppelten Aporie formulieren: thematisiert man die Explikationsmittel nicht, so erscheint das methodische Verfahren der WL als nicht einsichtig und nicht stringent; versucht man hingegen die Explikationsmittel zu begründen, so scheint ein Zirkelbeweis unvermeidbar zu sein. Ich meine, daß es möglich ist, diesen Schwierigkeiten aus dem Wege zu gehen. Die Explikationsmittel müssen nicht notwendig im Sinne einer dieser beiden Aporien gedeutet werden. Um dies näher auszuführen und zu erhärten, möchte ich kurz hinweisen auf den Grundgedanken einer von P. HINST in den Grundzügen entwickelten Fundamentalsemantik. ® HINST geht von einer sehr interessanten und nach meiner Überzeugung stichhaltigen Kritik an der Interpretationssemantik von A. TARSKI aus (bekanntlich wird diese Interpretationssemantik von den meisten Logikern und Wissenschaftstheoretikern der Gegenwart vertreten). Das Charakteristische dieser Interpretationssemantik besteht in der Absolutsetzung der Unterscheidung von Objektsprache und Metasprache. Für die Ausdrücke der Objektsprache (also der untersuchten Sprache) wird in der Metasprache festgelegt, daß die objektsprachlichen Ausdrücke dasselbe bedeuten sollen wie entsprechende und durch eine Interpretationsfunktion bestimmte Ausdrücke der Metasprache. Beispiele: Für jede objektsprachliche Aussage Jt wird eine Aussage der Gestalt ,jt ist wahr genau dann, wenn p' konstruiert. Nun zeigt HINST, daß eine solche Interpretationssemantik nur dann entwickelt werden kann, wenn einige Voraussetzungen erfüllt sind, insbesondere die folgende: es muß eine Metasprache zur Verfügung stehen, in der es Ausdrücke gibt, die genau die Bedeutung haben, die man den Undefinierten Ausdrücken der Objektsprache verleihen will. Aber dann taucht die Frage auf: Wie haben nun die metasprachlichen Ausdrücke ihre Bedeutung erhalten? „Natürlich nicht wieder durch eine Interpretationssemantik, da man sonst in einen Regreß gerät. Also muß es Verfahren geben, mit denen den benötig® Peter Hinst: Wahrheit und Bedeutung, Vorschläge zu einem fundamentalsemantischen Aufbau von Wissenschaftssprachen. München 1974. (Maschinengeschriebene Habilitationsschrift.)

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ten metasprachlichen Termen unmittelbar, d. h. nicht durch Übersetzung, Bedeutung verliehen werden kann. Dann kann man diese Verfahren aber gleich auf die objektsprachlichen Terme anwenden. Wozu der Umweg über eine Metasprache?" ® Eine Semantik, die ohne diese Voraussetzung auskommt, nennt HINST eine Fundamentalsemantik. „Der Grundgedanke der Methode der Fundamentalsemantik ist die auf WITTGENSTEIN zurückgehende These, daß die Bedeutung eines Ausdrucks in seinen Verwendungsregeln besteht." Diese These präzisiert HINST mit Hilfe des von AUSTIN entwickelten Konzepts des illokutionären Aktes. (Illokutionäre Akte sind Handlungen, die man mit der Äußerung von Sätzen vollzieht.) Danach müssen in Sätzen der Modus und der Sachverhalt unterschieden und getrennt ausgedrückt werden, und zwar durch den Modifikator und die Aussage. Aufgabe einer Fundamentalsemantik für eine logische Sprache ist es, die Verwendung der Modifikatoren und der logischen Zeichen (Ausdrücke) einer Sprache festzulegen. Dies geschieht dadurch, daß bestimmt wird, unter welchen Umständen man mit einem Satz dieser logischen Sprache einen durch einen Modifikator signalisierten illokutionären Akt vollzieht. Ich meine, daß diese gegenüber den bisherigen Vorstellungen radikal anders orientierte Semantik einen entscheidenden Beitrag zur Erhellung der methodischen Probleme der WL als einer kategorialen Inhaltssemantik leisten kann. Die entscheidende Einsicht bei HINST besteht in der Kritik und Überwindung der absolut gesetzten Unterscheidung von Objektund Metasprache. Zwar erfolgen die semantischen Festlegungen (normalerweise) in einer Metasprache, wozu HINST allerdings bemerkt: „Die Metasprache hat hier nur die Funktion einer entbehrlichen Erläuterungssprache . . ." Und er begründet diese These so: „Denn hinreichend viel Zeit vorausgesetzt, könnte die Verwendung der objektsprachlichen Sätze ... auch ohne Verwendung irgendeiner Metasprache durch Vormachen und Nachahmen gelehrt und gelernt werden." Diese These scheint mir deshalb so bedeutsam zu sein, weil sie eine Reihe von scheinbar unlösbaren Problemen im Bereich des Begründungsproblems zu klären in der Lage ist. Diese kurzen Andeutungen mögen genügen, um einige Konsequenzen hinsichtlich der WL zu ziehen. Dabei kann man von der Frage ausgehen: Welche illokutionären Akte gibt es? Häufig zitierte Beispiele für solche Akte sind: Versprechen, Gratulieren usw. HINST faßt für die von ihm • Ebd. VIII. Ebd. X. “ Ebd. 105. Ebd. 48.

Hegels Logik — eine systematische Semantik?

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entwickelte logische Sprache Li alle grundlegenden logischen Operationen als solche Akte auf, wie Annahme, Behauptung, Setzung, definitorische Setzung, Deduktion (mit den beiden Spezialfällen Ableitung und Beweis), Folgerung usw. Der Vollzug solcher illokutionären Akte besagt jeweils eine semantische Festlegung. An diese kurzen Andeutungen knüpfe ich folgende Überlegung an: Sollen diese „logischen" illokutionären Akte nicht willkürlich sein oder rein rhapsodisch aufgerafft werden, so heißt dies, daß eine Kohärenz dieser Akte als möglich, ja als notwendig angenommen werden muß. Trifft das zu, so erhellt, daß diese Kohärenz ebenfalls durch einen illokutionären Akt vollzogen oder festgelegt wird, nämlich durch einen umfassenden, alle anderen Akte tragenden übergeordneten illokutionären Akt. Sein sprachlicher Ausdruck könnte etwa lauten: Das Denken begreift seine eigene totale Kohärenz, d. h. alle seine Bestimmtheiten. Dieses Begreifen ist ein illokutionärer Akt, da es eine Handlung ist; es selbst ist den anderen illokutionären Akten übergeordnet, da alle anderen Akte seine Spezifikationen sind. Damit ist der umfassende illokutionäre Akt von keinen noch so abstrakten formallogischen Gesetzmäßigkeiten abhängig; vielmehr erweisen sich alle anderen logischen illokutionären Akte als Formen, Teilaspekte, Stufen usw. des grundlegenden illokutionären Aktes, d. h. jener Handlung, die als das Begreifen der totalen Kohärenz des Denkens zu bezeichnen ist. Konkret gesprochen: Annahme, Setzung, Folgerichtigkeit, Deduktion usw. sind Formen bzw. Stufen des Begreifens der Kohärenz des Denkens. Der umfassende illokutionäre Akt (d. h. jene Handlung, die das Begreifen der totalen Kohärenz des Denkens sprachlich äußert) wird methodisch in Form eines Prinzips, Axioms, einer methodischen Regel usw. formuliert. Die Frage nach der Begründung dieses illokutionären Aktes bzw. von dessen Formulierung ist sinnlos, da eine solche Begründung wieder als illokutionärer Akt vollzogen werden müßte und daher einen grundsätzlicheren Status als das Begreifen der Kohärenz des Denkens beanspruchen müßte. Sinn und Begründung der Kohärenz des Denkens liegen im Vollzug dieser Kohärenz selbst. Die Frage ist nun, wie dieser Vollzug der Kohärenz im einzelnen entfaltet werden kann. Es ist davon auszugehen, daß die Formulierung des umfassenden Kohärenz-Aktes im Sinne eines methodischen Prinzips in einer Metasprache zur darzustellenden objektlogischen Sprache erfolgt. Von der Idee des illokutionären Aktes her gesehen, hat nun die Metasprache nur die Funktion einer Erläuterungssprache. Diese These bestätigt eine der fundamentalsten Einsichten Hegels über die Einheit von Me-

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thode und Sache. Es ist allerdings zu fragen, was dies genau besagt. Dazu drei abschließende Hinweise. (1) Der illokutionäre Akt „Begreifen der Kohärenz des Denkens" läßt sich — analytisch — in eine Reihe weiterer Akte bzw. Prinzipien zerlegen, wie z. B.: (a) Das Begreifen der Kohärenz des Denkens besagt die Systematisierung der logischen Bestimmtheiten (der kategorialen Bedeutungen). (b) Die Systematisierung der kategorialen Bedeutungen erfolgt dadurch, daß die Negation der einen kategorialen Bedeutung immer zu einem positiven Ergebnis führt. (c) Positivität der Negation heißt Herausstellung einer weiteren, reicheren kategorialen Bedeutung. (d) Es kann keine kategoriale Bedeutung geben, die nicht ihren Platz im System der kategorialen Bedeutungen hat. (2) Die Zerlegung des Kohärenz-Aktes bzw. von dessen Formulierung in weitere Akte bzw. Formulierungen reicht nicht aus, um die WL als systematische kategoriale Inhaltssemantik zu entwickeln. Denn diese Zerlegung spielt sich ab auf der Ebene der Metasprache und setzt damit die Differenz zur Objektsprache ständig und neu voraus. Auf diese Weise läßt sich zwar eine gewisse kategoriale Inhaltssemantik entfalten, nicht aber eine solche, die ihre eigenen methodischen Voraussetzungen, d. h. ihre eigene Metasprache, thematisiert, also eine kategoriale Inhaltssemantik vom Typus der WL. Um dies zu bewerkstelligen, müssen partikuläre illokutionäre Akte vollzogen werden, die gerade die Differenz von Metaund Objektsprache aufheben und die als die Ausführung des umfassenden Kohärenz-Aktes anzusehen sind. Die Kategorien sind nichts anderes als der inhaltlich-logische Ausdruck dieser partikulären illokutionären Akte. Als Beispiel sei gerade der Anfang der WL genannt. In diesem Anfang liegt nichts Geheimnisvolles, vielmehr geht es dabei nur um den tatsächlich vollzogenen ersten Schritt der Ausführung oder Selbstexplikation des umfassenden illokutionären Aktes. Ausdruck dieses tatsächlich vollzogenen ersten Schrittes ist jene kategoriale Bedeutung, die Hegel „Sein" nennt. (3) Für die Klärung der Frage, wie der Fortgang der kategorialen Bedeutungen in der WL zu begreifen ist, ergibt sich aus den obigen Überlegungen, daß dieser Fortgang als eine Reihenfolge partikulärer illokutionärer Akte, die ihren Ausdruck in jeweils reicheren kategorialen Bedeutungen haben, aufzufassen ist. Dabei kann es sich nicht um irgendwelche

Hegels Logik — eine systematische Semantik?

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zufällige illokutionäre Akte handeln, sondern um solche, die Partikularisationen des umfassenden Kohärenz-Aktes sind. Die Frage ist dann: Wie können untereinander streng kohärente illokutionäre Akte gesetzt werden? Wie leicht zu sehen ist, besagt diese Frage eben dies; Wie kör>nen die kategorialen Bedeutungen nach dem Maßstab einer streng systematischen Kohärenz entfaltet werden? Die oben genannten illokutionären Akte bzw. deren metasprachliche Formulierungen sind Antizipationen des Ganzen, des Systems der kategorialen Bedeutungen. „Begründet" werden sie durch sich selbst: durch den Vollzug. Daraus ergibt sich, daß die Setzung der partikulären illokutionären Akte, d. h. die Entfaltung der einzelnen kategorialen Bedeutungen, eine Leistung ist, die dem Kohärenz-Akt bzw. dem Kohärenz-Prinzip immanent ist: Es handelt sich ja um die Eigendynamik dieses Aktes bzw. um die Selbstexplikation dieses Prinzips. Aber man muß zeigen, was diese Immanenz genau besagt und impliziert. Bezüglich der methodologischen Sprache (Metasprache) ergibt sich, daß sie keineswegs begründende, sondern lediglich erläuternde Funktion haben kann, andernfalls ergäbe sich ein unendlicher Begründungsregreß. In der WL geht es um nichts anderes als gerade um die Herausstellung und Entfaltung jener Kohärenz der kategorialen Bedeutungen, von welcher her allererst Ausdrücken wie „Begründung", „Beweis", „Ableitung", „Kriterium" usw. ein Sinn gegeben werden kann. Originalität, Überlegenheit, aber auch Schwierigkeit der WL als einer kategorialen Inhaltssemantik liegen gerade in der Aufgabe und im Versuch, den Kohärenz-Akt bzw. das Kohärenz-Prinzip ohne Rekurs auf begründende Metabestimmungen zu entfalten. Eine adäquate Interpretation und Einschätzung der WL kann nur auf dieser Basis unternommen werden. Dies bedeutet keineswegs so etwas wie ein Verbot methodologischer Überlegungen und genauer Formalisierungsversuche, sondern gerade das Gegenteil: Es gibt keine dringendere Aufgabe für eine Interpretation der WL als die Klärung des in diesem Werk praktizierten methodischen Vorgehens. Eine überzeugende Bewältigung dieser Aufgabe muß sich allerdings radikal von den herrschenden Vorstellungen über Methode, Beweisführung, Metasprache, Stringenz usw. frei machen.

HEINZ KOLAR (WIEN)

ÜBER DIE MÖGLICHKEIT EINER UNTERSCHEIDUNG VON ABSOLUTEM WISSEN, ABSOLUTER IDEE UND ABSOLUTEM GEIST IM SYSTEM HEGELS Die Bestimmungen des Begriffs des absoluten Geistes ergeben zunächst folgendes: Der absolute Geist kann sich selbst im absoluten Wissen Gegenstand werden, ist in ihm zugleich aber frei, denn er verliert sich als Bewußtsein seiner selbst nicht an seine „Gegenständlichkeit" {Phänomenologie des Geistes. Hrsg. v. Hoffmeister. Hamburg 1952. 315, 476). Obschon der absolute Geist im absoluten Wissen sich selbst Gegenstand ist, ist gleichzeitig jede Gegenständlichkeit des absoluten Wissens in seinem Begriff der Absolutheit aufgehoben, der als die Einheit von Gegenständlichkeit und Begriff den reinen Begriff des endlichen Geistes bezeichnet. Die Aufhebung der „Gegenständlichkeit" des absoluten Geistes in der Absolutheit des absoluten Wissens ist die Verwirklichung seiner endlichen Freiheit. Das absolute Wissen bewegt sich daher stets schon in der Differenz von Setzung und Voraussetzung: es setzt sich selbst als das Andere seiner selbst voraus, d. h. als absoluter Geist, der die Einheit von Möglichkeit und Wirklichkeit, von Gegenständlichkeit und Subjekt als jeweils schon verwirklichte ist. Das absolute Wissen als setzendes setzt sich so gleichzeitig sich selbst voraus als etwas, das es selbst nicht ist; es ist eine Gestalt, die in ihrem Setzen von dem ihm Vorausgesetzten, dem absoluten Geist, gesetzt ist und sich als solche begrenzte weiß, im Sinne dessen, was Hegel über den Sinn von „Grenze" ausgeführt hat. Es ist also das absolute Wissen in seinem Sein die Selbstbegrenzung seiner selbst als der Differenz zum absoluten Geist als einer Differenz des absoluten Wissens selbst. Die „Gegenständlichkeit" des absoluten Geistes, die im absoluten Wissen jeweils schon aufgehoben ist, ist Freiheit als Aufhebung aller „Gegenständlichkeit" in der Rückkehr des absoluten Geistes zu sich selbst. Dies soll im folgenden näher ausgeführt werden.

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Das absolute Wissen befindet sich also im absoluten Geist zu sich selbst noch in einer Differenz und umgekehrt. Es ist jene Differenz, die über das absolute Wissen in seiner Begrenztheit als endliches Wissen hinausweist. Das sich-Gegenständlich-werden des absoluten Geistes (Fhän. 479) im absoluten Wissen ist ferner seine Freiheit als der endliche Ausgleich zwischen seinem Wesen und seinem Bewußtsein oder zwischen der Gewißheit und der Wahrheit, oder er ist sein Selbstbewußtsein als absolutes Sichselbstwissen des endlichen Geistes. Der absolute Geist als Gegenstand seines Selbstbewußtseins ist die Gewißheit des Geistes als Wissen von der Substanz des Geistes selbst (ebda). Sie ist die „unmittelbare Einheit des Geistes mit sich selbst" oder das reine Bewußtsein. Wenn Hegel sagt, daß „der absolute Geist sich die Gestalt des Selbstbewußtseins an sich und damit auch für sein Bewußtsein gegeben" hat {Phän. 527), so meint er eine Differenz zwischen dem absoluten Geist und seinen Gestalten. Der absolute Geist gibt sich seine verschiedenen Gestalten, zunächst als Gestalten des erscheinenden Wissens der Phänomenologie (Gestalten nicht bloß im Sinne der Gestalten von Kunst, Religion und Philosophie, sondern in dem der Unterscheidung von Bewußtsein, Selbstbewußtsein, Vernunft und Geist als Gestalten des absoluten Geistes). Wenn der absolute Geist diese Gestalten als die Gestalten seiner Gegenständlichkeit durchlaufen hat, hebt er sie im absoluten Wissen auf und manifestiert darin seine Absolutheit. Der absolute Geist ist die Grundlage des Sichunterscheidens aller seiner Gestalten. Er ist „das sich selbst tragende absolute reale Wesen" {Phän. 137 ff, 314 ff). Die Unterscheidung der Momente seiner selbst „hat ihn selbst zur Voraussetzung und zum Bestehen". Die Momente gründen in ihm, „der die Existenz ist" {Phän. 314). In ähnlicher Weise scheint Hegel gegen Ende der Phänomenologie (564) zwischen absolutem Wissen und absolutem Geist zu unterscheiden. Während das absolute Wissen der sich als Geist wissende Geist ist, der, wenn er geschichtlich gefaßt wird, begriffene Geschichte ist, ist der absolute Geist in seiner Wirklichkeit davon noch unterschieden. Aber er kann nicht geschichtslos gedacht werden, sonst wäre er das leblose Einsame, das bloß einen negativen Bezug zur Geschichte hätte, weil ihm „die Arbeit der wirklichen Geschichte" bloß äußerlich bliebe {Phän. 539). In der Enzyklopädie heißt es ferner (vgl. § 577), unter Bezugnahme auf den sogenannten „dritten Schluß", daß die Idee der Philosophie, die sich wissende Vernunft oder das absolut-Allgemeine, „sich ewig als absoluter Geist betätigt, erzeugt und genießt." Dies kann zunächst als Umschreibung der Selbstbewegung des Begriffs aufgefaßt werden, die sowohl die Bewegung der Sache selbst wie die Tätigkeit des Erkennens ist. Gleich-

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zeitig ist es jedoch auch eine Umschreibung des sich-Urteilens der Idee in ihre Erscheinungsweisen von Geist und Natur. Dieser Begriff der Idee als Allgemeines wird absoluter Geist genannt und ist das zugrundeliegende Kontinuum als die Möglichkeit für die Bewegung des Wirklichen in der Bewegung des Systems. So ist die Idee als absoluter Geist das der Bewegung zugrundeliegende Substratum als Kontinuum, als Möglichkeit für eine Differenzierung ihrer selbst und dieser Differenzierung als „wirklicher". Daher kann Hegel auch sagen, daß das Allgemeine außerhalb des Werdens bleibt, „nicht in das Werden gerissen" wird und sich durch dasselbe kontinuiert und „die Kraft unveränderter, unsterblicher Selbsterhaltung" (Logik. Hrsg. v. Lasson. II. 242) hat. Somit zeigt sich, daß das Allgemeine des Begriffs als absoluter Geist im Sinne des vorher Ausgeführten der Ermöglichungsgrund der spekulativen Selbstbewegung der Wirklichkeit und gleichzeitig von ihr unterschieden ist. Die Weise des Erkennens des absoluten Geistes ist sein Selbsterkennen als Erkennen des Absoluten im Endlichen. So erfaßt „der denkende Geist der Weltgeschichte ... seine konkrete Allgemeinheit und erhebt sich zum Wissen des absoluten Geistes" (Enz. Jub. Ausg. Bd 10. 433. § 552), d. h. die absolute Bestimmung des Geistes als des sich selbst bestimmenden und realisierenden Begriffs ist die sich verwirklichende Freiheit, welcher Notwendigkeit, Natur und Geschichte untergeordnet sind. Der absolute Geist ist die sich vollkommen erfassende wirkliche Idee, die vollkommene Einheit ihrer unterschiedenen Momente von Begriff oder Subjektivität und Objektivität oder Wirklichkeit in ihrer absoluten Wahrheit. (Enz. § 381 Zusatz) So ist die Idee in ihrer Absolutheit endliches absolutes Wissen, das Hegel ausdrücklich unterscheidet vom absoluten Geist als der absoluten „Einheit der Wirklichkeit und des Begriffs oder der Möglichkeit des Geistes", in Anlehnung an die traditionelle Fassung des Gottesbegriffs (Enz. § 383 Zusatz, vgl. auch § 384 Zusatz). Der absolute Geist ist frei, weiß sich als solcher und will sich als Gegenstand seiner selbst (Enz. § 482). Damit hat er sein Wesen zur Bestimmung und zum Zwecke, ist Begriff des absoluten Geistes. Seine Freiheit ist die „ewig in-sich-seiende, wie in sich zurückkehrende und zurückgekehrte Identität" (Enz. § 554). Diese unterscheidet ihn von der Bewegung des endlichen Geistes, der im absoluten Wissen selbst unendlich geworden das Unendliche begreift, jedoch selbst noch in Differenz steht zu der in sich zurückkehrenden und zurückgekehrten Bewegung des absoluten Geistes. Der absolute Geist ist die Eine und allgemeine Substanz, die sich in ihr besondert und sich selbst als solche weiß. Dies Wissen der Substanz als sich-selbst-Wissen des absoluten Geistes ist in seinen Diffe-

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renzierungen zu unterscheiden von jenem Wissen, das die absolute Einheit von Selbstbewußtsein imd Gegenstandsbewußtsein im endlichen Wissen darstellt. Das Wissen der Substanz ist der allgemeine Geist als unendlicher und absoluter, er ist absolute Tätigkeit und absolute Unterscheidung seiner in sich selbst. (Vgl. Ästhetik. Hrsg. v. Bassenge, I. loo) Die Natur, der endliche Geist und die Idee sind durch den absoluten Geist gesetzt (vgl. Religionsphilosophie. Werke. Berlin 1832 ff. XI. 217). Der endliche Geist hat daher seine Wahrheit im absoluten Geist, denn es ist der absolute Geist selber, der sich in sich unterscheidet, um das Wissen seiner selbst auch für sich zu sein. Dadurch setzt er „die Endlichkeit des Geistes, innerhalb welcher er sich absoluter Gegenstand des Wissens seiner selbst wird" (Ästhetik. I. 101). Insofern also absolutes Wissen auf tritt, ist dieses Wissen das Wissen des Absoluten von sich selbst im endlichen Wissen. Anders gewendet: das Wissen des Endlichen ist in der Einheit von Selbstbewußtsein und Gegenstandsbewußtsein absolutes Wissen. Die Absolutheit des absoluten Wissens ist der Gegenstand des Selbstbewußtseins als sich-selbst-Wissen des Absoluten. Die Absolutheit kann daher als eine Weise des sich-selbst-Erkennens des absoluten Geistes im Endlichen verstanden werden. Es besteht somit „ein affirmatives Verhältnis des Geistes zum absoluten Geist" (Religionsphilosophie. XI. 216). Dieses Verhältnis ist als Selbstbeziehung des absoluten Geistes im Endlichen, als der Negation seiner selbst, zu bestimmen. Daher kann Hegel sagen, daß „die Religion die Idee des Geistes, der sich zu sich selbst verhält, das Selbstbewußtsein des absoluten Geistes ist" (ebd.). Das endliche Wissen ist im Selbstbewußtsein des absoluten Geistes ein Moment, denn der absolute Geist ist das sich auf-sich-selbst-Beziehende und insofern der sich an sich selbst oder von sich selbst unterscheidende. Er setzt sich als endliches Bewußtsein und wird „durch diese Verendlichung Wissen seiner selbst" (ebd.). In diesem Sinne kann die Religion „das Wissen des göttlichen Geistes von sich durch Vermittlung des endlichen Geistes" genannt werden. Der absolute Geist kann in seinem sich-selbst-Wissen nur Selbstbeziehung und selbst-Genügen sein. Wenn er in seinem sich-Wissen Anderes und nicht sich wüßte, würde er aufhören, absoluter Geist zu sein (ebd.). Auf die spezifisch theologische Problematik des Verhältnisses von endlichem und absolutem Geist braucht hier nicht näher eingegangen zu werden. Aus den bisherigen Überlegungen hat sich ergeben, daß der absolute Geist im endlichen Wissen wohl in absoluter Weise weiß, dies Wissen der Absolutheit aber von der Absolutheit des Geistes selbst noch unterschieden ist. M. a. W. das absolute unendliche Wissen des Endlichen

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ist mit dem absoluten Wissen des Unendlichen nicht identisch. Das absolute Wissen und die absolute Idee sind daher selbst noch in einer Differenz zum absoluten Geist, weil ihre Selbstbewegung wohl die Selbstbewegung des absoluten Geistes ist, doch nur insofern er sich im Anderen seiner selbst selbst weiß. — Denn er ist immer schon seinem Wesen nach die sich über die Selbstbewegung des absoluten Begriffs in seinen endlichen Bestimmungen hinaus vermittelnde Bestimmtheit. — Das Verhältnis von endlich und unendlich kann deshalb nur in einer gewissen Hinsicht als korrelativ bezeichnet werden, weil die Bewegung vom Endlichen zum Unendlichen und die Bewegung vom Unendlichen zum Endlichen nicht so synthetisiert werden können, daß sie letztlich zusammenfallen. (Vgl. Berliner Schriften. Hrsg. v. Hoffmeister. Hamburg 1956. Bes. 312/13.) Dies würde auch die Priorität des absoluten Geistes als principium gegenüber dem absoluten Wissen als principiatum in Frage stellen. Die Frage kann auch als solche nach dem Zusammenhang des Hegelschen Systems in der Unterscheidung von absolutem Geist und Naturphilosophie, Geistphilosophie, Logik, Geschichtsphilosophie, als den Teilen des Systems, verstanden werden. Wenn Hegel davon spricht, daß im Begriff des Geistes „die Gewißheit alle Realität zu sein, zur Wahrheit erhoben . .. und sich ihrer selbst als ihrer Welt und der Welt als ihrer selbst bewußt ist" (Phän. 519), so bezeichnet diese Einheit von Subjektsbewußtsein und Weltbewußtsein als selbstbewußte Einheit das absolute Wissen als Gestalt des absoluten Geistes. In ihm haben sich Wahrheit und Gewißheit ausgeglichen (Phän. 556), das absolute Wissen ist daher sich selbst begreifendes Wissen als vollkommene Vermittlung von Bewußtsein und Selbstbewußtsein zunächst im Rahmen der Wissenschaft des Bewußtseins oder des erscheinenden Geistes (vgl. Phän. 556). Das absolute Wissen ist der Geist, der sich in der Gestalt des Geistes weiß. Der absolute Geist in seiner „Vergegenständlichung" ist daher zu bestimmen als begreifendes Wissen, in dem nicht nur „die Wahrheit .. . an sich vollkommen der Gewißheit gleich", sondern die auch die Gestalt der Gewißheit des Geistes selbst hat. Die Wahrheit hat somit für das Bewußtsein auch die Form der Gegenständlichkeit gewonnen, sie ist das Wesen oder der Begriff (ebd.). Die Bewegung des Begriffs ist als Selbstbewegung des absoluten Geistes zu interpretieren, „der sich selbst und zwar für sich als Geist durchläuft, dadurch, daß er die Gestalt des Begriffes in seiner Gegenständlichkeit hat" (Phän. 557). In der Logik wird der Unterschied zwischen absolutem Geist rmd absoluter Idee nur an einzelnen Stellen thematisch. Es scheint aber wesentlich.

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daß man für diese Unterscheidung sich nicht notwendigerweise auf die Enzyklopädie zu berufen braucht, die, wie von D. HENRICH treffend vermerkt wird, „nur der Grundriß für eine Darstellung, die vollständige Argumente zu geben hat" ist, denn nur die große Logik würde argumentieren {Hegel im Kontext. Frankfurt 1971. 106). Hegel versteht die Enzyklopädie als einen „Leitfaden" für seine Vorlesungen (vgl. Enzyklopädie. Hrsg. v. Nicolin/Pöggeler. Hamburg 1969. 20; s. auch die Einführung d. Herausg. XLIV ff); und die dreibändige Enzyklopädie, wie sie auch GLöCKNER wiederabgedruckt hat, das scheint doch nun gesichert, wurde von Hegels Schülern zu einem „System der Enzyklopädie" umgearbeitet, worauf oft verwiesen worden ist. Der dritte Schluß der Enzyklopädie, der sich auf den absoluten Geist bezieht, muß daher für die Bedeutung der Differenz von absolutem Geist und absoluter Idee in der Logik nicht herangezogen werden. In der Logik wird der absolute Geist von der absoluten Idee als seiner absoluten Wahrheit in der Weise unterschieden, daß sich einerseits in der absoluten Idee Erkennen und Tun schon so zueinander vermittelt haben, daß die absolute Idee die absolute Wahrheit des Geistes und damit „das absolute Wissen ihrer selbst ist" {Logik. II. 413). Andererseits befindet sich aber die absolute Idee in Differenz zu der Weise des Wissens des absoluten Geistes, d. h. als Wissen von sich selbst in ihm selbst. Dieses In-sich-Sein des absoluten Geistes ist das „seine Unmittelbarkeit setzende und ewig aus ihr in sich zurückkehrende Wesen" {Logik. II. 154). Der absolute Geist ist „die konkrete und letzte höchste Wahrheit alles Seins" {Logik. I. 55; vgl. auch 31, 56), die Selbstbewegung, die ihn mit sich selbst vermittelt. Der absolute Geist ist „der Geist nur für den Geist, Gott nur für Gott, und nur diese Einheit . . . Gott, Gott als Geist" {Logik. I. 150). Daß Hegel im Rahmen seiner Überlegungen zu einer, wenn auch in der Logik nicht mehr oder noch nicht thematischen, Trinitätsproblematik den absoluten Geist Gott gleichsetzt, ist in der Tat unübersehbar. (Vgl. dazu Logik. II, 154, 354.) Die Konkretisierung der Logik ist das reine Wissen, die reinen Wesenheiten, „die reinen Gedanken, der sein Wesen denkende Geist" {Logik. I. 7, Vorrede von 1812). Die absolute Idee in ihrer „Konkretisierung" und als die „Konkretisierung" der Logik überhaupt ist reiner Begriff, „der sich nur zu sich selbst verhält" und daher „einfache Beziehung auf sich, welche Sein ist ... erfülltes Sein als der sich begreifende Begriff oder Sein als die konkrete, schlechthin intensive Totalität". In der absoluten Idee als der Idee des absoluten Erkennens ist der Begriff „zu ihrem eigenen Inhalte geworden. Sie ist selbst der reine Begriff, der sich zum Gegenstände hat" .. . und schließlich dies

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Begreifen seiner selbst erfaßt, seine Stellung als Inhalt und Gegenstand aufhebt und damit den Begriff der Logik als Wissenschaft konstituiert {Logik. II. 505). Die absolute Idee ist aber ihrerseits selbst Erscheinung, logische Erscheinung oder reiner Gedanke. Sie ist noch in den Gedanken eingeschlossen. So ist zwar die transzendentale Subjektivität als logische Idee die Konkretisierung der logischen Wissenschaft (vgl. Logik. II. 484, 497, 499, 502), aber sie ist insofern noch abstrakt als diese der Begriff, der noch nicht in eine Formbestimmtheit als „Gestalt eines Inhalts" eingetreten ist, „sondern schlechthin als Form .. . die Idee als schlechthin allgemeine Idee" {Logik. II. 485) ist. Die Bedingung der Möglichkeit für den Übergang der logischen Idee in eine andere „Sphäre und Wissenschaft" (II. 505) ist der Gedanke, daß der Logik etwas vorausgesetzt sein muß, das sie selbst nicht ist, das sie aber als setzende Vernunft als ihr selbst Vorausgesetzes setzen muß. Die Logik als die „Wissenschaft des Denkens im Allgemeinen" {Logik. I. 24) ist bestimmt durch die Differenz der Logik zu dem Anderen ihrer selbst, das sie nicht ist, weil die Bedingung der Möglichkeit ihrer Kontinuität nur der Geist als absoluter Geist sein kann. Anders gewendet: weil sich die Konstitution der logischen Idee und der Idee der Realphilosophie nur auf Grund einer Idee des absoluten Geistes durchführen läßt. Die logische Idee setzt das ihr zugrundeliegende Prinzip zwar als notwendig voraus, kann es aber in seinem Setzen nicht einholen, da die Bewegung seines Setzens von ihr selbst nicht wieder auf seine Konstitution hin hinterfragt werden kann. Der absolute Geist als die Einheit des vorausgesetzten und des gesetzten Seins ist von der dialektischen Selbstbewegung des Begriffs insofern unterschieden, als in ihm die Selbstbewegung des Begriffs als Selbstbewegung der Wirklichkeit bereits konstituiert ist. Denn der absolute Geist ist die begriffene Einheit von Begriff und Wirklichkeit, die sich im endlichen Geist und seinem absoluten Begriff von Dialektik in der Einheit von Begriff und Methode in der Gestalt der absoluten Idee erst zu konstituieren hat. Das Allgemeine als das Kontinuum, das die Grundlage des Fortschreitens der Bestimmungen der Methode ist, erhält sich im dialektischen Fortschreiten in seinem Anderssein. Dieses sich-selbst-Erhalten des Allgemeinen „in seiner Besonderung, in dem Urteile und der Realität" (II. 502), das Allgemeine, das nicht „in das Werden gerissen wird", ist der sich selbst erhaltende absolute Geist, die Grundlage des Systems Hegels und die Voraussetzung für den Fortgang der Bestimmungen in den einzelnen Systemteilen, wie z. B. auch für die Möglichkeit eines Übergangs von der Logik in die Philosophie der Natur und die Philosophie des Geistes und

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so der Zusammenhang des Hegelschen Systems als solchen. (Vgl. auch H. Radermacher; Zum Problem des Begriffs „Voraussetzung" in Hegels Logik. In: Hegel-Tage Urbino 1965. Hrsg. v. H.-G. Gadamer. Bonn 1969. 115—28.) Die Frage nach den „Voraussetzungen" des Hegelschen Systems ist u. a. eine solche nach dem Begriff des Allgemeinen als des Einen, das sich über Widerspruch und Negation in die vielen Momente entfaltet. Der Begriff des Einen aber, das sich selbst trägt und erhält, ist der Begriff des absoluten Geistes. Er schließt ein Verhältnis zu sich selbst ein, das über ein Verhältnis zum Anderen und zum Vielen vermittelt gedacht ist. Der Begriff des Allgemeinen hat bei Hegel ontologische und metaphysische Bedeutung, wobei letztere auch die traditionelle „metaphysica specialis" einschließt und damit das Anliegen einer „rationalen Theologie" oder einer „theologia naturalis" erneuert. (Vgl. dazu Logik. I. 46/47; D. Henrich: Der ontologische Gottesbeweis. Tübingen i960. 215.)

X. KURZVORTRÄGE 2. Über Schelling und das Verhältnis von Hegel und Marx

JOSEPH A. BRACKEN (MILWAUKEE)

SCHELLING'S CONCEPTION OF THE POSITIVE AND NEGATIVE PHILOSOPHIES IN HIS LECTURES AT MUNICH IN 1832/33 Since the publication of WALTER SCHULZ'S celebrated work. Die Vollendung des deutschen Idealismus in der Spätphilosophie Schellings, in 1955, the interrelation of the "positive" and the "negative" philosophies has been a central issue for all SCHELLING scholars. ^ Many works have been published either in support of or in Opposition to SCHULZ'S basic hypothesis, that the negative philosophy was SCHELLING'S chief interest in his "late" period. ^ At the same time, largely through the indefatigable efforts of HORST FUHRMANS, considerable new manuscript evidence has been published which would lead one to believe that the positive philosophy rather than the negative philosophy was SCHELLING'S principal concern in this period of his life. One of these new manuscripts will be the subject matter of the present paper: namely, SCHELLING'S lectures at the University of Munich in the Winter Semester of 1832/33 and in the Summer Semester of 1833, as recorded by one of his students (J. G. C. HELMES). ® As our review of the Contents of these lectures will make abundantly clear, SCHELLING'S attention was focused on the positive philosophy. On the other hand, there is very little said in the lectures themselves about the actual contents of the positive philosophy. Rather SCHELLING spent the greater part of both Semesters, analyzing the historical antecedents of the positive ^ Cf. W. Schulz: Die Vollendung des deutschen Idealismus in der Spätphilosophie Schellings. Stuttgart 1955. * Cf. especially X. Tilliette: Schelling, Une Philosophie en Devenir. Paris 1970. Tilliette's work is perhaps the most comprehensive to date on the interrelation of

the positive and negative philosophies. ^ Cf. F. W. J. Schelling: Grundlegung der positiven Philosophie. Ed. by H. Fuhrmans. Turin 1972. Hereafter; Grundlegung. N. B.: Since Schelling's own manuscripts for this period of his life have been lost or destroyed, Student notebooks such as these, however imperfect they might be in themselves, are nevertheless of great value for an understanding of the progression of Schelling's thought through the years.

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JOSEPH A. BRACKEN

philosophy, namely, Rationalism and Empiricism. This is, of course, in line with the general purpose of these lectures as an introduction to the positive philosophy. Yet it might also betray the fact that SCHELLING, like many other philosophers, was more insightful about what he was opposed to in his philosophizing than he was about his own positive contribution to the history of philosophy. We will return to this point at the end of the paper, when we offer a few words of criticism to the concept of the positive philosophy. Beforehand, however, a summary of the Große Einleitung, as SCHELLING himself termed this series of lectures, is in Order, so as to determine more exactly what SCHELLING'S objections to Rationalism and Empiricism really were. In the Winter Semester of 1832/33 SCHELLING gave altogether 38 lectures, the first 11 of which, as FUHRMANS notes in the Introduction *, were devoted to a preliminary explanation of the Opposition between "logical" and "historical" Systems of philosophy. SCHELLING notes initially that philosophy aims at a systematic understanding of the underlying structure of things {des allgemeinen Zusammenhangs). ® All hitherto published attempts at such a systematic explanation of reality, however, have been a failure because the Systems thus created are basically unhistorical; that is, they do not reckon with the fact that God freely created the world and everything in it, hence that the relationship between things in this world is based on historical fact rather than simply on some a priori logical scheme. Furthermore, within these same systematic explanations of reality the concept of God is generally misplaced; it Stands, namely, at the end of the System rather than at the beginning. ® Hence God is to be considered as the final cause of the world, but not as its Creator or first efficient cause. The System itself is thus unhistorical, because it is not based on a fact, namely, the fact of creation, but rather argues to the existence of a fact, namely, the existence of God as the conclusion or end-result of the entire System. All such Systems, concludes SCHELLING, which are based on logical argumentation rather than on historical fact, are to be regarded as so many instances of the negative philosophy; the truly positive philosophy, on the other hand, is genuinely historical because it is based on the fact of creation, understood as the free decision of a personal God. ® ‘ ® • ’ «

Ibid. Ibid. Ibid. Ibid. Ibid.

21.

70. 77. 80. 83.

Schelling's Positive and Negative Philosophies

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In lectures 12 through 38 ScHEtUNG then proceeds to give an historical survey of the various philosophical Systems that have arisen since DESCARTES broke away from the scholasticism of the late Middle Ages. His purpose, of course, is not to present an objective account of the history of philosophy from DESCARTES to Hegel, but rather to make clear that all these previous philosophical Systems, including his own Philosophy of Identity, were doomed to failure for the reasons cited above. ScHELLiNG praises DESCARTES, for example, for seeking to ground philosophy in a single indubitable principle. ® This principle, however, cannot be the empirical "l think, therefore I am", but rather must be a necessarily existing being. SPINOZA, accordingly, is to be given credit for making God the first principle of his philosophical System; but, on the other hand, he erred in conceiving God merely as objective Being rather than as the underlying Subject of Being. Turning to KANT, SCHELUNG notes first of all that KANT did not ground his System of philosophical categories in a single a priori principle from which the three faculties of sensibility, understanding and reason could be logically deduced. Yet KANT did offer a devastating critique of LEIBNiz's "subjective rationalism" and, above all, made clear that the ultimate principle of any philosophical System must be a transcendent Subject rather than a transcendent Object, as SPINOZA had maintained. FICHTE, says ScHELLiNG, explored further the idea that the principle or startingpoint of philosophy must be a transcendent Subject, but did not succeed in establishing this Subject as ontologically independent of, and thus transcendent to, the consciousness of the individual human being. SCHELLING himself in his philosophizing up to 1800 tried to remedy this defect in FICHTE'S thinking by setting forth the stages of reflection through which the empirical ego must pass in Order to become aware of its de facto identity with this transcendent Subject of Being at the core of its own consciousness. SCHELLING'S move to independence from FICHTE came, when he finally realized that he had to establish a new, strictly ontological starting-point for his philosophy: namely, the absolute SubjectObject of the Philosophy of Identity. This latter System began, says he, with the postulate of an infinite Subject of Being which is initially devoid of all objective determinations. » Ibid. 123 ff. Ibid. 136—138. “ Ibid. 167 ff. “ Ibid. 174—178. ” Ibid. 179—183. “ Ibid. 184—187.

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In accord with the principle of the dialectic, however, the infinite Subject then proceeds to objectify itself in various forms of finite being, not indeed to remain there imprisoned in objectivity, but rather in each instance to return to a still higher degree of conscious and determinate subjectivity. In this way the initially undetermined Subject of Being gradually emerges, first in the world of nature and then in human history, as self-conscious Spirit. Yet, says SCHEILING, the Philosophy of Identity unfortunately did not begin with this empirical concept of God as free Spirit or Creator, but rather with the purely logical concept of God as the Indifference of Subject and Object. Hence the transit from potency to act in the matter of creation was not free but necessitated through the logic of the dialectic. The Philosophy of Identity is, accordingly, an example of the negative philosophy, which must be replaced by the new positive philosophy. Hegel's philosophy, continues SCHELLING, is likewise an example of the negative philosophy, since it begins and ends in pure thought, not reality. That is, the starting-point for the System is the concept of pure Being. Being as such, however, does not exist. Being is always the Being of an underlying subject, i. e., the transcendent Subject of Being either in its initial undetermined state or at some stage of its historical development. Hence the first term of the dialectic should not be pure Being, as Hegel maintains, but rather the transcendent Subject of Being prior to its objectification or seif- realization in creation. Furthermore, the rationale for creation is not, as in Hegel's System, the external realization of an Idea already complete in its logical structure, but instead the free choice of the transcendent Subject of Being to move from purely potential to actual Being. For these reasons, Hegel's philosophy, even more than SCHELLING'S own Philosophy of Identity, must be regarded as the archetype of the negative philosophy. With the above critique of Hegel, SCHELLING brings to a dose his comments on Rationalism as the first historical antecedent of his own positive philosophy. That is, all the Systems thus enumerated were examples of Rationalism or purely negative philosophy, since they began and ended in pure thought, not in reality. The other major historical antecedent to Ibid. Ibid. ” Ibid. ‘8 Ibid. »» Ibid. Ibid.

190—194. 211—213. 217—218. 223—224. 229—232. 237.

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the positive philosophy, says SCHELLING, is Empiricism, by which he means, not the physical Sciences (Naturwissenschaften) as such, but rather that philosophical System of thought whose first principle is grounded in experience rather than in pure thought. There are, however, various kinds of Empiricism, some of which have to be rejected because they are based on subjective feelings (such as the philosophy of JACOBI) or on mystical experiences (the philosophy of JACOB BOEHME). Genuinely philosophical or scientific Empiricism, on the other hand, must be seriously examined because, even though it will eventually be seen as still another form of the negative philosophy, it can nevertheless be regarded as a discipline which naturally leads up to the positive philosophy. In the 37 lectures of the Summer Semester SCHELLING dedicated much of his time to an elaboration of this same philosophical Empiricism. A brief summary of his argumentation follows. From an analysis of the process of knowing (Erkennen) three ontological principles emerge: substance, namely, that which is to be known; cause, that through which the substance is to be known; and finally spirit, that which ultimately knows substance through cause. These same principles, moreover, constitute the internal structure, not only of the act of knowing as such, but also of everything which can thereby be known, hence of all finite reality. — SCHELLING presumes here that creation as a whole consists in a progressive spiritualization of matter, an ongoing reduction of objective reality to subjectivity. — Finally, if we understand these principles to be the causes of all reality, and if God is to be understood as the transcendent source of these same causes (Causa causarum) then there must exist within the divine being itself a plurality of dimensions (Angesichte) These three dimensions or transcendent causes of created reality are, of course, identified within the Christian tradition as the Father, the Son and the Holy Spirit. In any case, God is a unity in plurality (in SCHELLING'S terminology, der All-einige). Creation took place, when the three divine causes freely determined to exist outside of the divine being, but according to a predetermined order in creation: namely, first as Substance, then as Cause and finally as Spirit. The whole process of creation is, therefore. Ibid. “ Ibid. Ibid. “ Ibid. « Ibid. “ Ibid. ” Ibid.

239—240. 249. 291—293. 297—298. 318. 325. 336—337.

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as suggested above, a gradual reduction of Substance to Spirit through the agency of Cause. The process culminates in the creation of man, who as finite spirit is the created counterpart of God, above all in the act of knowing. Thus far SCHELLING'S exposition of philosophical Empiricism. Yet, says he, the concept of God as Creator-Spirit thus achieved is still defective with respect to the positive philosophy. What is needed as the principle of this new philosophy is a concept of God which is free from any relation to creation, which accordingly describes God simply as He exists in Himself. Such a concept of God, however, is clearly beyond the limits of philosophical Empiricism, as described above, since the latter can only define God with respect to the world, that which can here and now be experienced. The only way to such an absolute concept of God, says ScHELLiNG, is through an initial act of the will, i. e., a deliberate renouncing of the natural desire to conceive God empirically. Having made this philosophical act of faith, the philosopher is then free to think about the nature of God within a new and more Creative setting. At this point SCHELLING is ready to plunge into a preliminary exposition of his own positive philosophy. He first outlines the overall method of the positive philosophy and then sets forth his notion of its principle or starting-point. With respect to the method, he notes that the positive philosophy is itself a form of philosophical Empiricism; but, unlike the type explained above, it is a progressive, rather than a regressive, Empiricism. That is, the previous System can properly be called regressive Empiricism, because it proceeds in thought backwards from the experience of knowing to the transcendent cause of that experience, and indeed of all finite being, namely, God Himself in His three dimensions or causes. The positive philosophy, on the other hand, is a progressive Empiricism, because it proceeds forward from an a priori concept of God (or, at least, the Supreme Being) to a proof of God's real nature and existence through the verification of the System itself in the world of nature and in hmnan history. The steps of the argument may be summarized thus. First, SCHELLING constructs a purely hypothetical concept of God as the Supreme Being. Then he deduces a priori what consequences would follow in nature and in human history, if such a God existed and if He freely chose to create. Finally, he applies the whole System thus constructed to the data “ Ibid. 379—380. *» Ibid. 389—390. " Ibid. 243—247.

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of Creation. If it admits of empirical verification, then Schelling has thereby proven both God's real existence and His inner nature on the basis of concrete experience. The positive philosophy is therefore distinguished from Rationalism (i. e., the philosophical Systems from DESCARTES to Hegel), in that it does not simply presuppose the validity of its first principle, but actually seeks to verify it in experience. At the same time, the positive philosophy is different from philosophical Empiricsim, as described above, since it does not regress from the effect to the cause, but rather progresses from the cause conceived as an a priori principle to creation as its empirical consequence or effect. The entire System of the positive philosophy is thus to be understood as the empirical verification of the first principle or starting-point, on the presumption that God, the first principle, has indeed chosen to create. SCHELLING calls this new method of philosophizing the positive philosophy because, unlike the various forms of the negative philosophy, it is not grounded in logic or a priori reasoning, but rather in an empirical fact, the decision of God to create as verified in the data of creation. With this as a preliminary overview of the positive philosophy, SCHELLING then proceeds to lay out his a priori concept of God as the first principle of the System. He reintroduces, to be sure, basically the same three principles described above, namely, God as Substance, Cause and Spirit; but now he tries to describe them as they would exist in God apart from any relation to creation. As such they appear thus: God as in Himself (Subject), God as outside Himself (Object), and finally God as with Himself, i. e., both in Himself and outside Himself (Subject-Object). Only with the decision to create do these dimensions of God become the actual causes or "potencies" {Potenzen) of finite being. In Himself, God is simply that which is {das Seiende, das Ist). He is the reality which precedes all possibility of creation. Yet, says SCHELLING, God is first and foremost Spirit, and as Spirit God must be free to realize the potentiality for creation within His own divine being. If He chooses “ Ibid. 398—103. Cf. also in this Connection Schellin$'s IntroducHon to the Philosophy of Revelation. 7th lecture (XIII. 115—146, according to the enumeration of the 1856 edition of Schelling's works). 22 Grundlegung. 402—403. »2 2« 22 2«

Ibid. Ibid. Ibid. Ibid.

413-417. 421. 426—429. 439.

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to create, however. He chooses with absolute freedom, since there is nothing in His nature which impels Hirn to create. Here we can suitably bring our exposition of SCHELLING'S thought to a dose. In the remaining lectures of the Summer Semester, to be sure, ScHELLiNG goes on to describe in summary form how God was moved to create the world, why He created it, how mankind then upset the divine plan of Creation, and how it is to be restored, etc. All of these points, however, are presented in much greater detail elsewhere in SCHELLING'S "late" philosophy. For our purposes in this paper, it is sufficient to understand what SCHELLING meant by the positive philosophy and how it is to be distinguished from both Rationalism and philosophical Empiricism. By way of conclusion, I would like to offer some personal reflections on the basic concept of the positive philosophy. Especially in view of the general theme of this Hegel Congress, namely, "Is systematic philosophy possible," one may suitably ask whether SCHELLING really achieved what he set out to do in virtue of the positive philosophy: namely, to establish a philosophical System based on freedom rather than on logical necessity. In response to this question, a simple Yes or No is impossible. On the one hand, SCHELLING clearly perceived, better perhaps than any of his contemporaries, the latent rationalism, i. e., the purely a priori character, of the various philosophical Systems that were produced from DESCARTES up to and including Hegel. Hence, insofar as he clearly understood the natural limits of the negative philosophy, one must say: "Yes, SCHELLING certainly achieved something new in the history of modern European philosophy." On the other hand, when one carefully examines what he projected as the positive philosophy, it is equally evident that SCHELLING never really saw the natural limits and inherent defects of this new way of philosophizing. He did not perceive, for example, that the actual working-out of the System would bring him into implicit contradiction with his own presuppositions about the method and purpose of the positive philosophy. That is, in sketching the possible real consequences of the decision to create and then in seeking to fit the known facts of creation (e. g., the genesis of nature and the religious history of mankind) into this a priori scheme, SCHELLING quite unconsciously was working once again within the mental framework of the negative philosophy. A truly positive philosophy would have to take into account all the data of creation: hence not Cf., for example, the Philosophy of Revelation, Books II & III (XIII. 177—530; XIV. 3-334).

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merely those details which SCHELLING could easily fit into his a priori scheme but everything eise as well. SCHELLING, of course, thought that he had triumphed over Rationalism by grounding his new System in the concept of God as free Spirit, Lord of creation. But such a principle, after all, is just the starting-point of a System, not the System itself in its full development or as a totality. Thus, in view of what SCHELLING actually achieved in and through the positive philosophy as a whole — here I must presume some limited acquaintance with SCHELLING'S Philosophy of TSAythology and Philosophy of Revelation — one must, it seems to me, say: "No, SCHELLING did not really succeed in setting up a new philosophical System based on freedom rather than on logical necessity." One could, of course, then further argue that such a project on SCHELLING'S part was doomed to failure from the Start, that the presuppositions of a strictly rational, systematic approach to philosophy rule out in advance the possibility of accounting for human freedom as a strictly contingent reality. No a priori System, in other words, can be constructed which will be broad enough to include all possible options available to any given individual at a single moment in his/her existence, still less those opportunities open to mankind as a whole in the course of its long and variegated history. But these further questions on the relationship between human freedom and the logical presuppositions of rational analysis are, in large part, the subject-matter of the entire Congress. It would be presumptuous, therefore, for me to do more in this paper than to expose both the strength and the inherent weakness of SCHELLING'S positive philosophy, since the latter was, without a doubt, an early but nevertheless quite significant attempt to solve this very problem.

** Cf. inter alia my book Freiheit und Kausalität bei Schelling. Freiburg i. Br. 1972.

JINDRICH ZELENY (PRAG)

MARXENS AUFHEBUNG DER HEGELSCHEN S Y S TEM K O N ZE P T I O N Es ist bekannt, wie radikal MARX und ENGELS und dann alle MARxistischLENiNistische theoretische Tradition und Gegenwart die Möglichkeit eines fixen, endgültigen Systems der Erkenntnis im Sinne der Zusammenfassung einer vermeintlich absoluten Wahrheit ablehnt. Zugleich ist klar, daß für diese Tradition — anders als für die junghegelianischen Rückfälle der sog. negativen Dialektik — eine Denkweise und Weltanschauung charakteristisch ist, die die Möglichkeit und das Bedürfnis einer möglichst allseitigen, innerlich zusammenhängenden, konsequent begründeten positiven Erkenntnis auf allen Gebieten anerkennt: in diesem Sinn also auf systematische Erkenntnis ausgerichtet ist.

Man kann die Frage stellen nach dem Zusammenhang der MARxistischLENiNistischen Orientierung an entwicklungshafter systematischer Erkenntnis mit der Hegelschen Systemkonzeption. Wir möchten diese Frage zunächst auf das Verhältnis zwischen der Hegelschen und der MARXschen Systemkonzeption einschränken und durch drei skizzenhafte Bemerkungen einige Aspekte dieses Problems zu beleuchten versuchen.

(i) KARL MARX knüpft kritisch an die Hegelsche Systemkonzeption sowohl im Aufbau seines Systems der Kritik der politischen Ökonomie, als auch in seiner weltanschaulichen Denkweise an. Diese These kann in ihrer Allgemeinheit schon deswegen als begründet betrachtet werden, weil MARX — wie wohl niemand bestreiten wird — an die Hegelsche dialektische Denkmethode kritisch anknüpft. Und da es gilt — ungeachtet dessen, wie immer man das Verhältnis zwischen dem enzyklopädischen System und der Phänomenologie Hegels interpretieren mag — daß bei Hegel System und Methode innig Zusammenhängen, so ergibt sich schon daraus notwendigerweise ein Zusammenhang der Systemkonzeptionen beider Denker. Würde man das Hegelsche System unhegelisch als fixe Zusammenfassung der fertigen Resultate losgelöst von dem Wege ihrer Entstehung, d. h. Ableitung imd damit Begründung, auffassen, müßte man allerdings

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feststellen, daß MARX mit dem so gedeuteten Hegelschen System nichts gemein hat. Das Wesentliche der Hegelschen Systemkonzeption kann aber nicht allein durch die Annahme einer abschließenden absoluten Wahrheit gekennzeichnet werden, sondern zugleich durch die neue Art und Weise der vereinheitlichenden Denkbewegung, durch die Methode des systematischen Aufbaus derjenigen Erkenntnis, die Hegel als Erkenntnis der philosophischen, nur im selbsterzeugenden Ganzen existierenden Wahrheit auffaßte. Dieser Sachverhalt schloß nicht aus, daß es in der nachhegelschen Entwicklung, z. B. auf dem Gebiet der Religions- und Politikkritik, Denker gab, die entweder im Hegelschen System oder in seiner Methode die Hauptsache erblickten, und demzufolge mehr konservativ oder mehr revolutionär auftraten. Wer unter den Hegelianern über religiöse oder politische Themen schrieb und sich dabei dogmatisch darauf stützte, was über Religion und Staat in den betreffenden Abschnitten des Hegelschen Systems gelehrt wurde, der mußte überwiegend konservativ sein. Wer sich von den doktrinären Resultaten des Hegelschen Systems über Religion und Politik loszulösen vermochte und die Hauptsache in der historisch fundierten dialektischen Methode sah, der konnte revolutionäre Ansichten verteidigen. Dieser Tatbestand ändert aber nichts daran, daß bei Hegel Methode und System in engem Zusammenhang stehen. Auch die MARXsche materialistisch-dialektische Methode, wie sie im Kapital angewandt wird, ist wesentlich systemorientiert und systemaufbauend. Es handelte sich bei MARX keineswegs nur um eine fragmentarische, abgesonderte Behandlung dieser oder jener Frage des ökonomischen Problembereichs, sondern um die Entwicklung der ökonomischen Wissenschaft in ihrem eigenen, inneren Zusammenhang. Die MARXsche dialektische Methode der politischen Ökonomie war von Anfang an auf eine systematische Zusammenfassung des ganzen Komplexes der ökonomischen Wissenschaft angelegt. Es war dies „zugleich Darstellung des Systems und durch die Darstellung Kritik derselben" ausgearbeitet unter Anwendung einer Methode der Widerspiegelung des reellen Systemganzen in systematischer Theorie. Was MARX und ENGELS an Hegel kritisieren, ist nicht seine Überzeugung, daß die wahrhafte Erkenntnis nur in der Gestalt eines Systemganzen existieren kann, sondern daß er in seiner Philosophie das Systematische als erschöpfend, abschließend, die absolute Wahrheit beinhaltend 1 Vgl. den Brief von Marx an Lassalle vom 22. Februar 1858. In: Marx/Engels: Werke. Bd 29. 550.

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auffaßte. Es kommt also auf die Art und Weise des Systematischen an, wenn vom Unterschied zwischen der Hegelschen und MARXschen Dialektik die Rede ist. (2) Ein wichtiger Aspekt des wesentlichen Unterschiedes kann u. E. an der Auffassung des Verhältnisses zwischen dem Logischen und Historischen sichtbar gemacht werden. Damit kommen wir zur zweiten Bemerkung. Sowohl bei Hegel wie bei MARX findet man die Unterscheidung der logischen und der historischen Entwicklung, der logischen und der historischen Erklärung. So unterscheidet Hegel z. B. im § 3 seiner Grundlinien der Philosophie des Rechts zwischen der „Entwicklung aus dem Begriffe", d. h. der logischen Entwicklung, und der „Entwicklung aus historischen Gründen", der „rein geschichtlichen Erklärung". Diese letztere „rein historische" Erklärungsart, die das Entstehen und Vergehen der Tatbestände in Abhängigkeit von zeitlichen Umständen, Bedürfnissen, Ereignissen beschreibt, sei zwar in gewissen beschränkten Grenzen nützlich und lehrreich, stelle aber nicht die wahrhafte Erklärung dar. Bloß die erste Art, die logische, ist Hegel zufolge imstande, die allgemein gültige wahrhafte Erklärung des Gegenstandes darzulegen. ^ Die logische Erklärung kann nicht durch die historische ersetzt werden. Ein solcher Versuch würde bedeuten, ,,. . . das Relative an die Stelle des Absoluten, die äußerliche Erscheinung an die Stelle der Natur der Sache zu setzen". Auch die materialistische Dialektik, wie sie im Kapital angewandt wird, unterscheidet den logischen und den historischen Zusammenhang, die logische und die historische Erklärung und Entwicklung. Oft fällt der historische und logische Zusammenhang ineinander. So schreibt MARX Z. B. : „Das Wirken einer großem Arbeiteranzahl zur selben Zeit, in dem gleichen Raum (oder, wenn man will, auf demselben Feld) zur Produktion derselben Warensorte, unter dem Kommando desselben Kapitalisten, bildet historisch und begrifflich den Ausgangspunkt der kapitalistischen Produktion." ® Anderswo spricht MARX von den Bedingungen, die zwar historisch, aber durchaus nicht logisch, nicht begrifflich einen Ausgangspunkt darstellen — wie z. B. die ursprüngliche nichtkapitalistische Akkumulation. Oder z. B. hat auch das Kaufmannskapital zur kapitalistischen Produktion eine andere „historische" und eine andere „logische" („begriffliche") Beziehung. G. W. F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts. § 3. Vgl. § 32 A. ® K. Marx: Das Kapital. Bd 1. In: MarxlEngels: Werke. Bd 23. 341. 2

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Sowohl die idealistische als auch die materialistische Dialektik begreift die Beziehung des Logischen und Historischen im Sinne der Einheit dieser beiden Momente. Der Unterschied beruht wesentlich darin, daß Hegel für die Grundlage dieser Einheit das Logische hält. Die realen historischen Prozesse werden als Manifestationen, Daseinsformen, Erscheinungsformen, allerdings unabdingbare, zur Natur des Absoluten gehörende Erscheinungsformen des Logischen gedeutet. In der Form der sich selbstbewegenden logisch-ontologischen Kategorien ist dieses Logische für Hegel die „lebendige Seele" von allem. Anders bei MARX. Sollten wir die Frage kurz beantworten, was für MARX die Grundlage der Einheit des Logischen und Historischen darstellt, können wir nicht einfach die Hegelsche Antwort umstülpen und sagen, die Grundlage der Einheit sei das Historische. Dies wäre u. E. eine zu unbestimmte, Desinterpretationen ermöglichende Antwort. Die Grundlage der Einheit des Logischen und Historischen in der wissenschaftlichen Erkenntnis erblickt MARX in der objektiv-realen Vereinigung des Allgemeinen und Besonderen, des Gesetzmäßigen und Zufälligen, des Stabilen und Veränderlichen — in diesem Sinn des „Logischen" und Historischen in den objektiv-realen Prozessen, die im wissenschaftlichen Erkennen reflektiert werden. Hegel zufolge würde — wie erwähnt — die „rein historische" Erklärung das Setzen des Relativen an die Stelle des Absoluten bedeuten. Diese Auffassung ist wesentlich mit der Ansicht verknüpft, daß die objektiven Gedankenbestimmungen, d. h. das Logische, die wahre Natur aller Dinge bilden. Dagegen sieht die materialistische Dialektik das einzige „Absolute" im materiellen Bewegungsprozeß, der durch die objektive Dialektik von Erscheinung und Wesen, Gesetz und Zufall, Relativ und Absolut gekennzeichnet ist. Die Einheit des Logischen und Historischen im Erkenntnisprozeß ist das spezifische Abbild dieser objektiven Dialektik des Relativen und Absoluten. Gegenüber Hegel, der das zeitlich Historische degradiert, schätzt MARX die Rolle des zeitlich Historischen in der systemaufbauenden Analyse grundsätzlich höher. Die zeitlich historischen Tatsachen bilden den Ausgangspunkt der materialistisch-dialektischen logischen Ableitung und gehören untrennbar mit zu dieser Ableitung. Am MARXschen Kapital kann man demonstrieren, daß das dialektisch

materialistische wissenschaftliche System ein künstlerisches Ganzes mit einer komplizierten Architektur bildet, wo nebeneinander in organischer

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Einheit Abläufe in verschiedenen Tiefen der historischen Szene stehen, sehr abstrakte Verfahren und daneben vollkommen faktische und singuläre. Erst diese komplizierte Architektur schafft in ihrer Gesamtheit clas theoretische Bild der klassischen kapitalistischen Produktionsweise „in ihrer inneren Struktur". Historische Illustrationen und fortwährende Berührung mit der erfahrungsmäßigen Wirklichkeit sind für sich selbst noch kein Unterscheidungsmerkmal der MARXschen dialektischen Ableitung gegenüber der Hegelschen. Bereits in der Hegelschen Dialektik wird das Begreifen als Einheit von Denken und Erfahrung aufgefaßt. Die begreifende Erkenntnis ist ihm eine Bewegung, angefangen von der Anschauung und Vorstellung, die den Stoff als vorliegenden aufnimmt, bis zum Begriff und zur Idee. Das Begreifen ist keine das Moment des gegebenen Empirischen überspringende oder beseitigende Ableitung. Für Hegel sowohl wie für MARX gilt es, daß die Stufe der Anschauung unbedingt anerkannt werden muß, daß man aber bei diesem Moment nicht stehenbleiben darf. Der wesentliche Unterschied und Gegensatz beruht darin, daß Hegel das Begreifen als eine Bewegung auffaßt, wodurch das Empirische als das Gegebene und Äußerliche aufgehoben wird, indem es sich als zum Begriff gehörend, vom Begriff gesetzt, als ein Moment — freilich ein notwendiges Moment — des Entwickelns des Denkens aus sich selbst erweist. Auf der Stufe des wissenschaftlichen Bewußtseins erweist sich also Hegel zufolge das ursprüngliche Gegebensein in seiner vermutlichen Unabhängigkeit und Selbständigkeit gegenüber dem Bewußtsein als ein Schein des noch unwissenschaftlichen Bewußtseins. * Völlig anders bei MARX. Für seine materialistisch dialektische Analyse und Ableitung gilt: „Das reale Subjekt bleibt nach wie vor außerhalb des Kopfes in seiner Selbständigkeit bestehen; solange sich der Kopf nämlich nur spekulativ verhält, nur theoretisch. Auch bei der theoretischen Methode daher muß das Subjekt, die Gesellschaft, als Voraussetzung stets der Vorstellung vorschweben." ® (3) Das bisher Erläuterte möchten wir nun abschließend zur zusammenfassenden Charakteristik der MARXschen Aufhebung, d. h. sowohl radikalen Kritik wie Weiterentwicklung der Hegelschen Systemkonzeption auswerten. * Vgl. L. Puntel: Darstellung, Methode und Struktur. Bonn 1973. 250: „Das Unmittelbare oder Gegebene ist also zunädist das empirisch Auf genommene: weil aber das Aufnehmen ein Tun des Begriffs ist, verwandelt sidi das zunächst empirisch Aufgenommene in ein Moment des Begriffs." * K. Marx: Grundrisse. Berlin 1953. 22.

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Das Gemeinsame von Hegel und MARX war der enorme historische Sinn. Jeder Gegenstand und Vorgang wird als Moment des Entwicklungsprozesses im Gesamtzusammenhang behandelt. Sogar das bei Hegel übergreifende Logische wird als prozessierend, im Sinne einer außer- und überzeitlichen Geschichtlichkeit aufgefaßt. Es erweisen sich als einseitig und die Hauptsache verfehlend alle Deutungen, die das Verhältnis zwischen Hegel und MARX durch die Umstülpung von Denken und Erfahrung, Logischem und Historischem, oder Innerem und Äußerem charakterisieren wollen. Der wesentlichste Unterschied besteht in der Umstülpung und gegensätzlichen Auffassung des Verhältnisses zwischen dem Materiellen und Ideellen und in der darauf sich gründenden Demystifikation des Ideellen (und auch des Hegelschen „Realen", bzw. „Materiellen"). Dieser Kernunterschied ist in erster Linie zu berücksichtigen, wenn man die hier erwähnten und anderen Eigentümlichkeiten der materialistisch dialektischen Analyse, wie sie im systematischen Aufbau des MARXschen Kapital zum Ausdruck kommt, adäquat erfassen will. Auch die Frage der Allgemeingültigkeit und der weltanschaulichen Relevanz der dialektischen Methode der MARXschen systematischen Kritik der bürgerlichen politischen Ökonomie kann in diesem Zusammenhang der Klärung näher gebracht werden. Die materialistisch dialektische Methode ist inhalts- und gegenstandsgebunden. Bereits für Hegel galt, daß das Fortschreiten des Erkennens „durch die Natur der Sache und des Inhaltes selbst bestimmt sein" muß ®. Aus der materialistischen Auffassung der Gegenstandsgebundenheit folgt, daß es zwar einerseits irrtümlich wäre, aus dem Kapital eine fertige allgemeine dialektisch materialistische Methodologie abstrahieren zu wollen, die zur vermutlich dialektischen Erkenntnis neuer Inhalte mittels der formellen Subsumption des Besonderen unter das im voraus fertige Allgemeine bestimmt werden sollte — daß aber andererseits diejenigen Interpretationen der MARXschen Methode abwegig sind, die von einer „Methode auf Widerruf" sprechen. Diesem Fehlverständnis zufolge gehöre MARxens dialektische Methode im Kapital so zu ihrem Gegenstand, daß sie zugleich mit seiner revolutionären Aufhebung zu verschwinden bestimmt wäre. Hier wird die Gegenstandsgebundenheit im Geiste eines dialektisch gefärbten vulgären Soziologismus, im Grunde aber undialektisch aufgefaßt. Es wird übersehen, daß die Methode des Kapital eine allgemeine, weltanschaulich und allgemeinmethodologisch relevante Seite “ G. W. F. Hegel: Wissenschaft der Logik. Hrsg, von A. Lassen. Teil 1. 57.

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hat, weil auch der untersuchte Gegenstand nicht nur spezifisch, sondern ein Glied der gesamten gesellschaftlichen Entwicklung und mit der Gesellschaft ein Glied der Natur, des Gesamtzusammenhangs ist. Eines der wichtigsten Resultate der materialistischen Kritik der Hegelschen Dialektik war das Ende der Philosophie, insofern diese als allen anderen Wissenschaften überlegene, absolute Wahrheit und absolute allgemeine Methodologie beinhaltende Theorie vorgestellt wurde, — was aber keineswegs das Ende der verallgemeinernden Theorie von den allgemeinsten Bewegungs- und Entwicklungsformen alles Seienden und damit von den allgemeinmethodologischen Fragen bedeutete. Es gehört zu den allgemeingültigen methodologischen Einsichten der materialistischen Dialektik, daß das Erkennen „die konkrete Logik des konkreten Gegenstandes" mit dem Bewußtsein zu suchen hat, daß jeder konkrete Gegenstand, jede Sphäre ein Glied des Gesamtzusammenhangs „der natürlichen, geschichtlichen und intellektuellen Welt als einer sich ohne Ende bewegenden, umbildenden, in stetem Prozeß von Werden und Vergehn begriffenen" ^ ist. In diesem Sinn betont W. I. LENIN: „Für die objektive Dialektik ist im Relativen Absolutes enthalten. Für den Subjektivismus und die Sophistik ist das Relative nur relativ und schließt das Absolute aus. . .. Die Dialektik der bürgerlichen Gesellschaft bei MARX ist nur ein spezieller Fall der Dialektik." ® LENINS Kritik an SCHULJATIKOW trifft diejenigen Desinterpretationen der MARXschen dialektischen Methode, denen zufolge abstrakt logische Ausdrücke und Denkformen im Kapital nur und ausschließlich an die historisch vergänglichen ökonomischen Verhältnisse gebunden seien. Zum Schluß möchten wir uns auf ein Wort von ENGEES berufen, das auf allgemeiner Ebene die MARXsche Aufhebung der Hegelschen Systemkonzeption genau und tief charakterisiert: „Ein allumfassendes, ein für allemal abschließendes System der Erkenntnis von Natur und Geschichte steht im Widerspruch mit den Grundgesetzen des dialektischen Denkens; was indes keineswegs ausschließt, sondern im Gegenteil einschließt, daß die systematische Erkenntnis der gesamten äußern [und auch inneren — J. Z.] Welt von Geschlecht zu Geschlecht Riesenschritte machen kann." ®

’’ MarxIEngels: Werke. Bd 20. 23. ® W. I. Lenin: Philosophische Hefte, Berlin 1973. 339—340. • Marx/Engels: Werke. Bd 20. 24.

GAJO PETROVIC (ZAGREB)

BLOCH UND HEGEL ODER ÜBER DIE MÖGLICHKEIT DES PHILOSOPHISCHEN SYSTEMS HEUTE „Bloch und Hegel" — das ist sicherlich ein zu großes Thema für einen Kurzvortrag. ERNST BLOCH hat vielleicht die tiefste Hegeldeutung unseres Jahrhunderts gegeben, und zwar nicht zufällig, sondern weil er selbst einer der tiefsten Denker der Gegenwart ist. In seinem Aufsatz Ernst Bloch auf Hegels Spuren verherrlicht IRING FETSCHER BLOCKS Hegeldeutung: „Blochs Hegel ist weder auf das ,unglückliche Bewußtsein' der frühen Jahre noch auf die glatte Systematik des Berliner Scholarchen stilisiert, Hegel wird auch nicht im Namen der Linkshegelianer und Marxisten examiniert und zensuriert. Er steht einfach in seiner ganzen Größe und Komplexität, mit seinen Widersprüchen und Mängeln wie mit seiner Tiefe und seiner zuweilen erstaunlichen Modernität da: ein Anlaß zum Lernen und zum Weiterdenken, zum sich Emporranken imd zum Bewußtwerden dessen, was man selbst zu sagen hat." ^ Indem wir uns diesem Urteil von FETSCHER anschließen, konzentrieren wir uns im Folgenden auf nur einen Punkt der mit dem Titel „Hegel und Bloch" verbundenen Probleme, und zwar auf das Problem des Systems, wie es BLOCH in Hegel sieht und wie er es mit und gegen Hegel zu lösen sucht. Diese „Einengung" des Themas ist vielleicht gar keine so radikale, da dies „spezielle" Problem eines der Zentralprobleme der gegenwärtigen Philosophie darstellt. In der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts haben wohl sehr viele geglaubt, daß zusammen mit dem idealistisch-spekulativen System Hegels die Idee des philosophischen Systems als solche endgültig zusammengebrochen war. Bald ließen sich aber auch Meinungen hören, das philosophische c Ernst Bloch zu ehren. Beiträge zu seinem Werk. Hrsg, von Siegfried Unseld. Frankfurt a. M. 1965. 84.

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System sei nicht notwendig mit Idealismus und Spekulation verbunden, sondern mit dem Wesen der Philosophie. So hat der einst sehr einflußreiche und heutzutage nahezu vergessene WILHELM WUNDT die Aufstellung des philosophischen Systems als die Hauptaufgabe und als das Wesen der Philosophie ausmachend proklamiert: „Philosophie ist die allgemeine Wissenschaft, welche die durch die Einzelwissenschaften vermittelten Erkenntnisse zu einem widerspruchslosen System zu vereinigen und die von der Wissenschaft benützten allgemeinen Methoden und Voraussetzungen des Erkennens auf ihre Prinzipien zurückzuführen hat." ^ In einem seiner Werke, in dem er die Aufgabe des Aufbaus der Philosophie als eines widerspruchslosen Systems der Erkenntnis zu lösen sucht, polemisiert WUNDT scharf gegen diejenigen, die glauben, daß philosophische Systeme zur Vergangenheit gehören, und besteht insbesondere darauf, daß im System der Philosophie der Metaphysik eine zentrale Stelle einzuräumen sei. Zur Begründung dieser Auffassung schreibt WUNDT: „Das Werk selbst muß natürlich die Aufgabe zu rechtfertigen suchen, die es sich stellt. Nur die allgemeine Bemerkung mag mir hier erlaubt sein, daß ich die Metaphysik weder für eine ,Begriffsdichtung' noch auch für ein mittels spezifischer Methoden aus a priori gültigen Voraussetzungen zu konstruierendes Vernunftsystem halte, sondern daß mir als die Grundlage derselben die Erfahrung, als ihre allein zulässige Methode die schon in den Einzelwissenschaften überall angewandte Verbindung der Tatsachen nach dem Prinzip von Grund und Folge gilt. Ihre eigentümliche Aufgabe erblicke ich aber darin, daß sie jene Verbindung nicht auf bestimmte Erfahrungsgebiete beschränkt, sondern auf die Gesamtheit aller gegebenen Erfahrung auszudehnen strebt." ^ Heutzutage findet man nicht allzuleicht Philosophen, die für die Idee eines empirisch-metaphysischen Systems der Philosophie im Sinne WUNDTS ZU begeistern sind. Gleichwohl ist der Begriff des Systems zu einem der zentralen Begriffe des gegenwärtigen Denkens geworden, von den empirischen Wissenschaften bis zur Mathematik und Logik, Kybernetik und Philosophie. Zur Förderung der „allgemeinen Systemtheorie", deren Begründer L. BERTALANFFY (und unter deren Vorläufern der russische Sozialdemokrat, der „Empiriomonist" A. A. BOGDANOV) waren, wurde die „Gesellschaft für die allgemeine Systemtheorie" gegründet, und neben den MARxisten, die eine skeptische Haltung der neuen wissenschaftlichen Disziplin gegenüber eingenommen haben, haben sich auch MARxisten gefunden. 2 Wilhelm Wundt: Einleitung in die Philosophie. 9. Auflage. Leipzig 1922. 18. ä Wilhelm Wundt: System der Philosophie. 4. Auflage. Band 1. Leipzig 1919. V.

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die ihre Resultate in der Hoffnung begrüßt haben, daß sie auch die MARxistische Philosophie bereichern können. So haben nach Meinung der Verfasser des bekannten kybernetischen Wörterbuchs der DDR (das auch in der BRD erschienen ist) „die allgemeinsten Ergebnisse der Systemtheorie Bedeutung für die systematische Philosophie, insbesondere für den dialektischen Materialismus" Und die Verfasser des System-Artikels in der sowjetischen Philosophischen Enzyklopädie sind von der gegenwärtigen Systemtheorie so beeindruckt, daß sie zwar „die zweite Geburt des Begriffs System" formell MARX und DARWIN zuschreiben, ihre Betrachtung des Begriffes System aber nicht auf MARX, sondern auf dieser gegenwärtigen Systemtheorie basiert. ® In vielen philosophischen Handbüchern findet man, daß die Philosophie nur als System möglich ist, oder daß „der Gegenstand der Philosophie als System dargestellt werden" soll. Wenn man aber die Geschichte des Begriffes System in der Philosophie zu erzählen sucht, muß man sich schon sehr abmühen, um Elemente der gegenwärtigen Auffassung dieses Begriffes in der griechischen und in der mittelalterlichen Philosophie zu finden. So muß z. B. MANFRED ZAHN feststellen, daß erst mit DESCARTES in der Philosophie „jener universale Systemwille hervortritt, der sich die demonstrative Methode, wie er sie vorbildhaft in der Mathematik ausgebildet sah, zur Richtschnur nimmt" ®. Viele Geschichten der Philosophie sprechen von den Systemen von PLATON und ARISTOTELES. ES fragt sich aber, ob hier nicht unter dem späteren Begriff des Systems ein Denken gefaßt wird, das noch allzu lebendig und ungebunden ist, um in den strengen Rahmen des Systems eingeschlossen werden zu können. Man spricht auch von den mittelalterlichen scholastischen Systemen. Es fragt sich aber, ob hier nicht von Bildungen die Rede ist, die wegen ihres bloß äußerlichen Zusammenhanges und trotz ihrer äußeren Übersichtlichkeit nicht denjenigen Grad des schöpferischen Denkens erreichen, der die großen philosophischen Systeme zur Zeit des systembildenden philosophischen Denkens von DESCARTES bis Hegel diarakterisiert. Diese Fragen sollten nur angedeutet werden. In der Folge konzentrieren wir uns auf die Frage nach dem philosophischen System Hegels und nach ^ Wörterbuch der Kybernetik. Hrsg, von Georg Klaus. Frankfurt a. M. und Hamburg 1969. (Fischer Bücherei.) Bd 2. 638. ® V. Sadkovski und E. Jüdin. Sistema. In: Filosofskaja Enciklopedija. Glavnyj redaktor F. V. Konstantinov. 5. Moskau 1970. 18—21. " Manfred Zahn: System. In: Handbuch philosophischer Grundbegriffe. Hrsg, von H. Krings, H. M. Baumgartner und Ch. Wild. Bd 3. München 1975. 1464.

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der Möglichkeit des philosophischen Systems heute, wie sie ERNST BLOCH sieht. Dem Systemproblem widmet BLOCH eines der Schlußkapitel von Subjekt-Objekt (Kapitel 22 „Mensch, Pan im System, Offenheit"). Obwohl es nur eines der 25 Kapitel ist, ist es sicherlich eines der wichtigsten. Über die Problematik des Hegelschen Systems und des Systems überhaupt spricht BLOCH auch in vielen anderen seiner Werke, speziell in seinem ersten Hauptwerk, dem Geist der Utopie (1918), und in seinem neuesten Werk Experimentum Mundi (1975). In diesem Vortrag werden wir uns auf die zwei erstgenannten Hauptwerke beschränken. Im Geist der Utopie seinem „versuchten ersten Hauptwerk" besteht BLOCH auf der großen Überlegenheit KANTS über Hegel, und zwar so sehr, daß er sie als einen Modellfall für Überlegenheit betrachtet. So sagt er in seinem Versuch eines Vergleichs von WAGNER mit BEETHOVEN, daß „Beethoven nicht weniger über Wagner [liegt], wie Kant über Hegel liegt, und wie das unruhevolle Apriori im Menschen über jeder Art von allzufrüh erfülltem Objektivismus" (Gli. 88). Und den Hauptpunkt, an dem Hegel KANT unterliegt, sieht er in des ersteren Hauptgewinn, in dessen ausgeführt beendetem System: „Nun gibt es allerdings keinen besseren Totengräber als den völlig inhaltlichen Begriff. Es bleibt Hegel wesentlich, alles Innere nach außen gebracht und alles Kantisch Offene abgeschlossen zu haben zu gunsten des gewiß vorhandenen, aber auch bedenklichen Gewinns eines ausgeführt beendeten Systems." {GU. 2.2.6) Warum aber ist BLOCH zufolge der Gewinn des Systems so „bedenklich"? Auf etwa zehn Seiten liefert BLOCH eine meisterhafte Kritik an Hegel, die durch ihre zerstörende Kraft viel ausführlichere und anscheinend radikalere übertrifft. Schon mit dem ersten Satz kommt er zum Kern der Sache, und dort bleibt er auch, um Hegel immer wieder mit schwerer Artillerie von innen heraus zu beschießen. Die beste „Zusammenfassung" dieser Kritik wäre, sie hier als Ganzes zu zitieren. Um dies zu vermeiden, werden wir dieser gewalttätigen Analyse die weitere Gewalt antun, sie in „Hauptthesen" zu zerbrechen, die wir numerieren. Erstens: Hegels Philosophie ist zunächst schlecht, weil sie sich für die Veränderung der schlechten Wirklichkeit nicht einsetzen will und, um ihrer Verantwortung auszuweichen, sogar bereit ist, die schlechte Welt für eine gute auszugeben. In BLOCHS Worten: „Wem es gut geht, der hat es leicht, gut zu sein. Auch Hegel tut so, aber am falschen Platz, nicht gut seiend. ’’ Ernst Bloch: Geist der Utopie. Bearbeitete Neuauflage der zweiten Fassung von 1923. Frankfurt am Main 1971. — Im folgenden: GU.

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sondern alles gut findend, um nicht selber gut sein zu müssen. — So hört man hier auf, zu leiden und zu wollen, menschlich zu sein. Das prägt sich darin aus, wie schlecht Hegel auf alles Fordern zu sprechen war. Er will sich ausgleichen, ohne daß auch nur ein Stachel in allem übrig bleibe, was ihm an der Welt wesentlich erscheint, was der kalte, klare, leidenschaftslose Begriff auf Seite des objektiv Seienden entdeckt. Sich besser als die Welt dünken, sagt Hegel in einem dafür bezeichnenden Wort, heißt nur, besser als die anderen die Welt verstehen. — Hegel aber ist sowohl zu ärmlich als zu reich, um noch fordern zu können." (GIF. 226) Zweitens: Indem Hegels Denken die Welt nicht ändern will, hat es für die Sorgen des Menschen kein Interesse, ist es bestrebt, sich zum Göttlichen zu erheben. BLOCH sagt dies so: „Ob wir leiden, ob wir selig werden können, ob wir als einzelne existierende Menschen unsterblich sind, darum bekümmert sich der Begriff nicht. Denn der Denker ist auf dem Wege, kein Mensch mehr zu sein, er überläßt uns das Schlimmste und geht stolz aus einer Existenz, die so wenig das Interesse der Abstraktheit berührt." (Gif. 227) Drittens: Hegels Denken kümmert sich um die menschlichen Probleme in der schlechten Welt nicht, weil es der eigentlichen Bestinunung des wahrhaften Denkens untreu ist. In Hegels Denken ist schon alles im voraus abgeschlossen und entschieden, und der Denker ist nur ein Sekretär des Weltgeistes, der die Befehle des Herrn niederschreibt. In BLOCKS Worten: „Darum ist für Hegel der Gang von dem ungebildeten Standpunkt über alle seine eingehüllten Eriimerungen hinweg zum absoluten Wissen nur propädeutisch von Wichtigkeit. Es ist ohnehin alles vorgewaltet in der Vorsehung, schon die weltliche wird zu einer heiligen Geschichte verwandelt, und der Denker, der gehalten ist, die Ordres des Weltgeistes mitzuschreiben, verwandelt und übersetzt derart Vernunft in lauter Vorwaltung von oben, mit sicherem Trumpf ... Die Seele geht verloren, aber der Begriff, selber zur Substanz geworden, das Begreifen dazu, als Sekretär des Weltgeistes, triumphiert in subjektloser, panlogischer Objektivität." (GH. 228 f) Viertens: Hegel hat keinen Respekt für das Empirische. Er „verbessert" die Tatsachen in der eigenwilligsten Weise und überfüllt sein System mit falscher Empirie. BLOCH schreibt: „Hegel erschleicht nicht die Tatsachen, wie man zu sagen pflegte, sondern er verbessert sie, als ob alles Vernünftige wirklich wäre ... So tritt bei Hegel der sonderbare Fall ein, daß einmal zu wenig wirkliche Welt, d. h. zu wenig Gang, Widerstand und individuelle Differenz, und andererseits wieder zu viel Welt, das heißt zu viel Gesammeltes, als real Ausgegebenes, falscheste Sättigung und Erfülltmg

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des Sollens, zu viel bereits eingestellte Wahrheit der Sache, zu viel logisch bereits vollendeter Weltzustand anerkannt wird . . (CU. zzg f) Fünftens: In voreiligem Nachjagen nach Endweisheit hat Hegel auch „die Seele und Freiheit seines Gottes zerstört" (GLT. 230) und zwar zugunsten eines „nichts Neues bringenden dialektischen Intellektprozesses mit restaurierendem, kalkulierbarem Ausgang" (GU. 230). Was Hegel über den Gott sagt, klingt zwar zunächst stolz; wenn man aber „genauer zusieht und vor allem den schwachen, intellektualistischen Gott betrachtet, dann zeigen sich sowohl das denkende Ich wie der gedachte Gott entthront und in den Umkreis eines allzu weltlichen und enzyklopädischen Bewußtseins verbannt". (CU. 231) Sechstens: Bei Hegel werden nicht nur Ich und Gott erniedrigt, sondern auch die Völker, und zwar weil Hegel den geschichtlichen Prozeß nur in dem Sinn gestattet, daß „die Völker den auch ohne sie fertigen Geist in ihr Bewußtsein treten lassen, und ihre Aufeinanderfolge das eigene zeitliche Begreifen der zeitlosen, an sich völlig unbewegten, vielleicht leereren und weniger fugierten, aber gleichwohl bereits beschlossenen Selbstbewegung der Idee darstellt". (CU. 232) Siebtens: Die Hegelsche Auffassung dieser Entwicklung stellt die Negation einer wirklichen Entwicklung dar: „Wie ein Lehrer an der Tafel mathematische Lehrsätze oder philosophische Schemata „entwickelt", die wesentlich fertig sind, so kommt auch bei Hegel ersichtlich nur dem Begriff, dem belehrenden Auseinanderlegen und wieder Zusammensetzen fertiger Würfel zu einer fertigen Pyramide, und nicht dem Wesen eine „Entwicklung" und Metamorphose zu." (GU. 232) Achtens: Man sucht bei Hegel vergebens die Gesinnung, die wir in KANT und FICHTE finden, „daß man also die Welt nicht zu ertragen habe um Gottes Willen, sondern anders machen soll um Gottes Willen". (CU. 233)

Neuntens: KANTS Denken war gegen die Nacht der Welt gerichtet, Hegels Denken wollte dagegen die Nacht an der richtigen Stelle bewahren: „Bei Kant also war das Denken ein einsames Licht, die Nacht dieser Welt zu verbrennen. Bei Hegel wird der Gedanke zu einem Schulmeister oder wahllosen Advokaten des Seins, das ihn beauftragte, und die Nacht der Welt rückt in das bloß unbelehrte Subjekt zurück." (CU. 233) Zehntens: Hegels Denken war eine „gegen Kant gerichtete Restauration: aber so wenig der schwindelhafte Schnaps in Goethes Bürgergeneral ein Jakobiner ist, so wenig hat Hegel das Kantische Sollen widerlegt, und so wenig bewahrt Inhalt um jeden Preis den wahren Formcharakter der Kantischen Philosophie, der Philosophie überhaupt". (GU. 233)

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Man sollte erwarten, daß BLOCH nach dieser vernichtenden Kritik für Hegel kein gutes Wort mehr findet. Und doch warnt er uns unmittelbar nach dieser erbarmungslosen Destruktion Hegels davor, Hegel im Namen KANTS oder KANT im Namen Hegels zu verwerfen. „Und dennoch zum Letzten: es streiten hier zwei Typen, zwischen denen nicht nur zu wählen ist. Schon deshalb nicht, weil hier, fern aller ausgemachten Alternative, Kant nicht zu tun ist, wenn man das Hegelsche läßt. Kant bleibt innerlich und unendlich, seine Forderungen verdämmern nur schwach inhaltlich in der Ewigkeit; Hegel allerdings wirkt dagegen als die glänzendere, großartigere, machtvollere, an Händel und Wagner gemahnende Erscheinung; als ein Denker der Weite und eines Ganzen, das schon das Wahre sein möchte, mit dem Zug unterworfener und durchdachter Objekte im Gefolge des Systems." {CU. 234) Hier scheint es eher, daß Hegel in BLOCKS Augen über den Kopf seines Rivalen weit hinausgewachsen ist. Und eben in diesem Moment nimmt BLOCH KANT wieder in Schutz. „Aber auch nicht alles, was innerlich ist, braucht schmal und schwach zu sein." {CU. 234) Am Ende „siegt Kant doch wiederum"; denn „die Begriffe, die Gestalten, die sphärischen Ordnungen, auch wenn sie anders als bei Hegel auf eine beschleunigte, motorisch-mystisch umgeschichtete Welt bezogen werden, sind nichts Letztes, sondern das Innerliche, sein sich-selbst-in-Existenz-Verstehen, das Intensive geht über ihnen, den bloßen Weisungen und Assignaten, schließlich doch als einzige Deckung auf". {CU. 234—235) So kommen wir schließlich zu BLOCKS Schlußwort über KANT und Hegel: „So scheint es dieses Orts nötig, Kant durch Hegel hindurchbrennen zu lassen: das Ich muß in allem übrig bleiben; mag es sich auch zunächst zu allem entäußern, durch alles hindurchschwingend sich bewegen, um die Welt aufzuschlagen, um vor allem auch durch Tausend Tore sich selbst zu stellen, so ist doch eben das wünschende, fordernde Ich, die uneingesenkte Postulatswelt seines Apriori die beste Frucht, der einzige Zweck des Systems; und Kant steht deshalb letzthin so sicher über Hegel, wie Psyche über Pneuma." {CU. 236) Es wäre leicht zu zeigen, daß dieses Schlußwort BLOCKS über KANT und Hegel, so merkwürdig es auch klingen mag, einen unabtrennbaren Teil des Ganzen an Auffassungen darstellt, die BLOCH im Ceist der Utopie entwickelt hat. Zunächst aber gilt unser Interesse nicht dem Ceist der Utopie als einem Ganzen, sondern BLOCKS Auffassung vom System bei Hegel und von philosophischem System überhaupt. Daher sollen nun die

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obigen Auffassungen mit denen verglichen werden, die BLOCH in SubjektObjekt ® entwickelt hat. In diesem drei Jahrzehnte später beendeten und veröffentlichten Werk spricht BLOCH über Hegel ganz anders. Auch jetzt hat er seinen kritischen Standpunkt nicht verlassen, auch jetzt identifiziert er sich mit Hegels Thesen nicht. Einige der Kritikpunkte, die sich im Geist der Utopie finden, werden nun in etwas modifizierter Form wiederholt. Doch ist der Tenor ein ganz anderer geworden, insbesondere da, wo BLOCH von Hegels System selbst handelt. Da unser spezielles Interesse dem Problem des Systems gilt, wenden wir uns sofort dem 22. Kapitel „Mensch, Pan im System, Offenheit" zu, wo dieses Problem am direktesten zur Sprache kommt. BLOCH sieht in Hegels Denkhaltung ein „dauerndes und überlegtes Oszillieren zwischen Subjekt und Objekt" und nennt sie deshalb „ethikokosmische". Indem BLOCH diese Benennung zu begründen sucht, schreibt er: „Mensch und Freiheit hier, großer Pan und seine auswendige Ordnung dort geraten ins Gemenge. Die Phänomenologie wie das gesamte Hegelsche System wollen Selbsterkenntnis und nichts anderes, aber sie vertauschen diese ebenso an jedem Punkt mit Welterkenntnis, mit dieser äußeren Macht, ohne die das Subjekt ein bloßes leeres Ansich, wo nicht Einbildung bleibt." (SO. 428) Die Substanz wird von Hegel als Subjekt gefaßt, und ebenso das Subjekt als Substanz. Die Substanz ist die Grundlage; die unentwickelte Substanz ist aber für Hegel ebenso leer wie das unentwickelte Subjekt. Indem BLOCH Hegels Absicht, Substanz und Subjekt begrifflich zu verbinden, hoch wertet, ist er doch zugleich der Meinung, daß diese Bemühung nur teilweise gelingt. Das „in sich gehaltene Sokrates-Wesen" und das „extravertierte Spinoza-Wesen" sind in Hegel „nie ganz in dialektische Einheitsform gebracht,.. . Pan als Raumpathos der Ordnung steht hier durchaus wider die gebärende Zeit, wider den — der Systematik so fremden — Maulwurf des Subjekts". {GU. 429—430) In Hegel finden wir so, BLOCH zufolge, zwei Metalle mit dem verschiedenen Ausdehnungskoeffizient SoKRATzsmws und Semozismus. Das SOKRAxische Element kommt zum Ausdruck im „sich in sich suchenden Selbst" und das spiNOzistische in der „welthaften Ausbreitung", die „das Ordnende und Reihende, das jedes Ding an seinen systematisch vorgesehenen Platz bringt" (SO. 430 f) hat. BLOCH verhält sich kritisch zu einer „allzu gesicherten Platzangabe innerhalb eines Prozeßraums", die Hegel so oft durchführt. Er widersetzt sich ® Ernst Bloch: Subjekt-Objekt. Erläuterungen zu Hegel. Berlin 1952. — Im folgenden: SO.

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aber der Auffassung, Hegel habe durch die bloße Ortsangabe die Erkenntnis mitbegründen oder gar ersetzen wollen. Hegels dialektische Systematisierung sei grundverschieden von jener rein äußerlichen, ermüdenden und langweiligen, die wir z. B. bei CHRISTIAN WOLFF finden, da sie nicht aus „wiederholendem Formalismus", sondern aus „durchgehaltener Totalität der gemeinten Sache", aus der „allerstärksten Inhalts-Intention" stammt (SO. 431). Gegen die Äußerlichkeit systematischer Art, wie er sie in der SCHELLiNGschen Schule zu finden glaubt, hat sich Hegel selbst ausdrücklich geäußert; seine eigene Systemabsicht hat er als die nicht-äußerliche Notwendigkeit verstanden, „sich dem Leben des Gegenstandes zu übergeben". Erkenntnisschematismus durch numerierte Etiketten war Hegels Absicht BLOCH zufolge völlig fremd. Gleichwohl aber kommt ein solcher Schematismus bei Hegel zuweilen vor. BLOCH ist gerade in dieser Hinsicht kritisch und betrachtet so „die Cesichertheit dieser Platzangabe, die idealistische Wohlgeordnetheit im ,Kosmos' des Systems" (SO. 432) als fraglich. Insbesondere wirft BLOCH Hegel eine gesicherte Systemzeit und einen gesicherten Systemraum vor: „Es gibt hier eine gesicherte Systemzeit: die des Fortschritts, obzwar keines unbedingt geradlinigen oder gleichmäßig, ausnahmslos vorhandenen. Es gibt einen gesicherten, oft geradezu militärisch geklärten Systemraum: er ist, wie immer wieder, auch unter diesem Aspekt, erscheint, der Kreis und der Kreis aus Kreisen, — ein epizyklisches, mindestens ein konzentrisches Rund." (SO. 433) Den oberflächlichen Schematismus und den „tabellarischen Verstand" hat auch Hegel verspottet, sein eigenes Werk aber führt „wider alle dialektische Abrede" auch „homogenisierende Harmonie im Schilde". Eben das, und nicht der Schematismus überhaupt, ist nach BLOCH die dem Rang Hegels, dem Rang der Systematisierung überhaupt würdige Problematik der Sache. „Es ist die Problematik des logischen Idealismus selbst und von daher erst, sekundär, die seines liebsten Kindes: des klassisch (oder auch gotisch) geschlossenen Baus." (SO. 433) Nach dieser Beurteilung des Hegelschen Systems legt BLOCH seine eigenen Gedanken zum System-Problem dar. Als seine Hauptthese proklamiert er ganz klar: „Es gibt philosophisch gar keine andere Möglichkeit als die systematische" (SO. 434). Viele bedeutende Denker scheinen zwar unsystematisch zu verfahren, BLOCH zufolge aber kann „jeder echte Philosoph seine Gedanken überhaupt nicht anders als bereits topographisch bestimmt konzipieren", wobei „ein geborener Denker sogar schon den Raum mit auf seine Welt bringt, worin seine Gedanken stehen, hängen, gehen, sich überschneiden, sich perspektivisch ordnen" (SO. 434). Die

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glänzenden Aphoristiker gehören deshalb nicht in die Geschichte der Philosophie. Das gilt jedoch nicht für NIETZSCHE, der zwar „die aphoristische Form wählt", aber auch „einen weitergehenden Zusammenhang darstellt" (SO. 434 f). PLATON, GIORDANO BRUNO, ROUSSEAU sind alle auch systematische Denker, wohl unter der Bedingung, daß bei Systematik nicht an die „Schulmeister-Disposition eines Christian Wolff" gedacht wird (SO. 435)

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ist sich der Gefahren eines idealistischen Systems bewußt. Mit einem solchen System vertragen sich „weder Unterbrechung, noch vor allem Offenheit zum Neuen” (SO. 436). Nicht minder ist BLOCH aber von der Notwendigkeit der philosophischen Systematik überzeugt: „Und dennoch ist Philosophie ohne Systematik purer Dilettantismus, also nicht vorhanden; formüberlegen ist nur die Tat, nicht die Erkenntnis, und auch die Tat, als konkrete, setzt Erkenntnis in strenger Form voraus." (SO. BLOCH

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Indem er die geschlossene idealistische Systematik verwirft, tritt BLOCH für ein philosophisches Denken ein, das systematisch, dies aber nicht im überlieferten Sinne ist. Um die Möglichkeit eines solchen Denkens zu klären, unterscheidet er drei Formen der bisherigen Systematisierung. Es sind die Formen der Anordnung (mit den Unterformen Neben-, Ein-, Unterordnung), der Ableitung und der Entwicklung — „und einzig in der letzten ist Licht, — unter dem (zu entfernenden) Scheffel" (SO. 440 f). Das Entwicklungssystem (als dessen Repräsentanten BLOCH ARISTOTELES, LEIBNiz und HEGEL betrachtet) stellt die höchste Form systematischen Denkens dar. Und doch verschließt eben auch sie sich dem „Fortquellen des geschichtlichen Lebens" und „der Offenheit zum Neuen" (SO. 440). Wenn wir das Negative oder das Begrenzte der bisherigen philosophischen Systeme zusammenzufassen versuchen, dann finden wir folgende „Zeichen": „die Gesichertheit, die idealistische Wohlgeordnetheit, die Abgeschlossenheit durch ein real gesetztes Prinzip". (SO. 441) Diese drei „Zeichen" bilden BLOCH zufolge „die Kriterien des Fremdkörpers in der Systematisierung", desjenigen, was in den bisherigen Systemen unwahr und schädlich war. „Der Fremdkörper verhindert zugunsten der Gesichertheit den Mut der Grenzfragen, zugunsten der idealistischen Wohlgeordnetheit die materialistische Unterbrechung, zugunsten der Abgeschlossenheit durch ein ontologisch hypothesiertes Prinzip die Abbildung, schließlich Praxis der geschichtlich-prozessualen Offenheit, der Front und des Novum.” (SO. 443) Dieser Fremdkörper muß aus dem philosophischen System entfernt werden, nicht um einem „tumultuarischen Philosophieren" Platz zu machen, sondern um die „legitime Ordnung des Systems"

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im Sinne einer „Marschordnung" oder einer „Aufbau-Ordnung" zur Geltung zu bringen, d. h. das System als „utopisch-konkretes Totum". (SO. 443) BLOCH zufolge wird die systematische Form in „systemhafter Offenheit" konkret. Das klingt wie eine contradictio in adjecto. BLOCH behauptet aber, daß die Zucht nicht nur in der Kaserne besteht, sondern auch auf dem Marsch und auf der Fahrt. Das ordnende Prinzip ist in letzteren Fällen die Richtung, die Einstellung auf ein Ziel. „Item: statt der Gesichertheit, Wohlgeordnetheit, Abgeschlossenheit, dieser drei Bildkriterien des geschlossenen Systems hat das offene nur ein einziges: Expedition. Es ist erstaunlich, daß sie philosophisch noch nicht durchgedacht ist, obwohl sie seit alters zur Philosophie gehört." (SO. 446) Um dem eventuellen Vorwurf auszuweichen, daß wir das einzige BLOCHKriterium des offenen Systems vernachlässigt haben, haben wir uns in diesem Text auf eine kleine Expedition eingelassen und seine Werke Geist der Utopie und Subjekt-Objekt besucht. Die Expedition hat gezeigt, daß BLOCHS Haltung zu Hegel und zur Frage des philosophischen Systems in den beiden Werken recht verschieden ist. Deshalb zwingt uns das Ergebnis dieser ersten Expedition, noch eine weitere, mehr kritische zu unternehmen, in der wir wenigstens im Umriß folgende Frage zu beantworten versuchen: Denkt BLOCH dann tiefer, wenn er im Geist der Utopie KANT rühmt und Hegel streng kritisiert mit dem Vorwurf, sein System sei unmenschlich, oder dann, wenn er, indem er Hegels System verteidigt, auf dem notwendig systematischen Charakter jeder Philosophie besteht und gegen das geschlossene ein offenes System verlangt? Oder denkt BLOCH vielleicht am tiefsten in einem dritten Fall: dann nämlich, wenn er dem Hegelschen System die ihm gebührenden Ehren gibt und die Unzertrennlichkeit dieses Systems und seiner Methode hervorhebt und doch selbst auf der Spur von MARX nicht systembildend, sondern revolutionär denkt? Meines Erachtens ist es nicht Hegels Fehler, sondern sein Verdienst, daß er ein großartiges System geschaffen hat, und es ist nicht sein Mangel, sondern seine Tugend, daß er das System zu Ende geführt hat. Er lebte in der Blüte eines geschichtlichen Zeitalters, das als bloße Faktizität noch immer andauert, und er hat es mit seinem System zu Ende gedacht. Nur durch ein philosophisches System konnte Hegel das systematische Werk von KANT, FICHTE und SCHELLING überholen. Nur durch ein philosophisches System konnte Hegel seine geschichtliche Welt (die auch die unsrige ist), eine Welt der systematischen Verdinglichung und Entfremdung, zu Ende denken. Hegel betont beständig, daß die Philosophie nur als System möglich ist, und daß ein Philosophieren ohne System nicht wissenschaftlich sein kann:

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,^Die wahre Gestalt, in welcher die Wahrheit existiert, kann allein das wissenschaftliche System derselben sein." ® „Ein Philosophieren ohne System kann nichts Wissenschaftliches sein; außerdem, daß solches Philosophieren für sich mehr eine subjektive Sinnesart ausdrückt, ist es seinem Inhalte nach zufällig." In seiner Auslegung von PLATO und ARISTOTELES in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie behauptet Hegel, daß man vom PLATONischen und ARisTOTELischen System der Philosophie sprechen kann, daß aber ihr Philosophieren die Form des Systems nicht besitzt, weil in ihm der ganze Reichtum des Besonderen und des Einzelnen nicht aus einem allgemeinen Prinzip abgeleitet ist: „Man kann von platonischem und aristotelischem Systeme sprechen, sie sind aber nicht in der Form des Systems; dazu gehört, daß ein Prinzip auf gestellt und konsequent durchs Besondere hindurchgeführt wird. Die Aristotelische Philosophie ist vollständiger Komplex des Begreifens des Universums, bei Aristoteles haben wir alles auf Spekulative zurückgeführt, höchste Weise der Wissenschaft, gesehen; aber er ist empirisch zu Werke gegangen. Bei Aristoteles ist wohl ein Prinzip und spekulatives, aber nicht als eines herausgehoben; die Natur des Spekulativen ist nicht als der Begriff für sich zum Bewußtsein gebracht worden, nicht die Entwicklung der Mannigfaltigkeit des natürlichen und geistigen Universums in sich enthaltend, — noch weniger ist es als das Allgemeine aufgestellt, aus welchem das Besondere entwickelt würde (seine Logik ist vielmehr das Gegenteil). Aristoteles geht mehr die Reihe der Lebendigen und der Toten durch, läßt sie vor sein objektives, nämlich begreifendes Denken treten und erfaßt sie begreifend. ... Was mangelt, ist ein Prinzip, das durchs Besondere hindurchgeführt wird." In den nachARiSTOTELischen Schulen, und speziell bei den Stoikern und bei EPIKUR findet Hegel das Verstehen „des nächsten Bedürfnisses" nach dem philosophischen System, das Verstehen der Notwendigkeit nach einem Prinzip „für alle Besonderheit". Zugleich glaubt er aber, daß alle diese nachARiSTOTELischen System-Versuche in Formalismus und Dogmatismus ausgeartet sind, weil in ihnen „dieses Prinzip formell, abstrakt dasteht und das Besondere noch aus ihm nicht deduziert wird, sondern das

® C. W. F. Hegel; Phänomenologie des Geistes. Hrsg, von J. Hoffmeister. Hamburg 1952. 12. G. fV. F. Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundriß (1830). Hrsg, von F. Nicolin und O. Pöggeler. Hamburg 1959 u. ö. 48. G. W. F. Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Bd 2. (Werke. Berlin 1832 ff. Bd 14.) 421 f.

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Allgemeine nur aufs Besondere angewendet wird und die Regel der Anwendung gesucht wird" Diesen Auffassungen von Hegel können wir fast vorbehaltlos zustimmen. PLATON und ARISTOTELES haben nicht versucht, ein philosophisches System im neuzeitlichen Sinne zu bauen; Stoiker und EriKURäer haben so etwas versucht und das Ziel nicht erreicht. Wir müssen uns aber auch fragen, warum die griechischen und die mittelalterlichen Philosophen die Ausbildung philosophischer Systeme im neuzeitlichen Sinne nicht erfolgreich unternommen haben? Liegt dies an ihrer persönlichen Unfähigkeit bzw. daran, daß sie dieser großen Aufgabe nicht gewachsen waren? Oder liegt dies vielmehr daran, daß eine solche Aufgabe der Welt, in der sie gelebt haben, unangemessen war? Das sind sicherlich keine einfachen Fragen, und es ist schwer, anders als durch neue Fragen zu antworten: Handelt es sich nicht vielleicht darum, daß weder die antike Sklavengesellschaft noch die mittelalterliche feudale Gesellschaft sich konsequent als eine einheitliche Form des Seins und ein einheitliches gesellschaftliches System gestaltet haben und auch keine Voraussetzungen dafür besaßen, sich als ein solches System zu gestalten? Ist nicht die bürgerliche (kapitalistische) Gesellschaft die erste Form der Klassengesellschaft, die die Voraussetzungen geschaffen und den Versuch gemacht hat, die ganze geschichtliche Welt einheitlich zu gestalten? Ist nicht die systembildende Tendenz der neuzeitlichen Philosophie auf die tiefsten Möglichkeiten und Ambitionen der neuzeitlichen bürgerlichen Welt bezogen? Die Auffassung, Hegel wäre besser oder größer gewesen, hätte er sein philosophisches System nicht abzurunden und abzuschließen versucht, scheint zunächst ganz plausibel. Auf welche Weise konnte er aber sein System offen und unbeendet lassen? Auf welche Art und Weise können wir es nachträglich zu einem besseren und vollkommeneren umgestalten? Eine Weise wäre, wie es scheint, aus seinem System einige „schlechte" oder „unnötige" Teile zu entfernen. Dadurch würde aber sein System nur zu einem mit leeren Stellen oder Lücken behafteten werden oder sogar in eine Menge unzusammenhängender Gedanken zerfallen. Eine andere Weise wäre, am Ende des Systems gewisse Bemerkungen oder Warnungen hinzuzufügen, wie zum Beispiel, daß das System keine endgültige Wahrheit beansprucht, weil es auch zu korrigierende unwahre oder umstrittene Thesen enthält. Eine abstrakte Anerkennung der Möglichkeit,

‘2 Ebd. 422.

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das System durch Korrektur zu verbessern, kann dem System weder helfen noch schaden. Die positive Behauptung des Verfassers eines Systems, daß in diesem schwerwiegende, der Berichtigung bedürftige Fehler enthalten sind, würde dagegen sein System als unernst und unverantwortlich desavourieren. Hegels System wollte die ganze Wahrheit über die ganze Wirklichkeit im ganzen Ernst aussprechen. Eben deswegen mußte es auch vollständig und geschlossen gestaltet werden. Die geschichtliche Welt, die Hegel zu Ende gedacht hat, hat ihre Entwicklungsmöglichkeiten erschöpft, sie enthält aber auch die Möglichkeit ihrer eigenen Negation. Diese Möglichkeit hat Hegel nicht ernst genommen und sie kann mit einem philosophischen System nicht gedacht werden. Diese Möglichkeit kann nur durch das Denken der Revolution zu Wort gebracht werden. Deshalb ist auch MARX als Denker der Revolution ein Denker unserer Zeit. Und deshalb denkt auch BLOCH, als ein Denker, der die Welt auf den Spuren von MARX denkt, trotz seiner eigenen Erklärung über das System nicht systembildend, sondern revolutionär. Seine Hauptwerke, der Geist der Utopie und das Prinzip Hoffnung sind keine philosophischen Systeme, und noch weniger kann dies über sein Lebenswerk als ganzes gesagt werden. Das ist jedoch eine These, die an anderem Ort zu begründen ist.

X. KURZVORTRÄGE 3. Probleme einer Philosophischen Systematik

YIRMIAHU YOVEL (JERUSALEM)

SYSTEMATIC PHILOSOPHY: AMBITIONS AND CRITIQUE The concept of systematic philosophy has a modest and an ambitious sense. In the modest sense it applies to any coherent theory that leads to the Solution of specific philosophical problems, following strict methodological rules. Seen as a kind of science, philosophy in this sense need not necessarily be a comprehensive science. It may be confined to restricted (and unrelated) universes of discourse, in which it applies to ad hoc or fragmentary questions, without losing its systematic diaracter. T otalization This view of philosophy has been challenged from opposite directions. People like SCHOPENHAUER, BERGSON, NIETZSCHE or KIERKEGAARD claimed that it is bound to falsify life and actual reality. Their challenge was ultimately a challenge to the concept of rationality itself. On the other hand, disciples of FICHTE, SCHELLING, or the Hegelian tradition will hold that such a "piecemeal" philosophy falls short of a genuine rational approach and is inconsistent with the fundamental conditions of intelligibility. They use the concept of "systematic philosophy" in the ambitious sense, implying the idea of comprehensiveness or totality. To count as systematic, the theory must cover all the regions of reality (and of significant discourse), bringing to light their fundamental unity and relating them to each other in an intelligible way. Moreover, this sense of the word "systematic" implies a superior form of intelligibility — a kind of synopsis, that goes beyond the limitations of discursive (or analytical) reasoning. Eventually it is supposed to overcome the mere "givenness" of the components and bring out the rationality embedded in their very content.

This sense of "systematic philosophy" (which I shall use in this paper) has also a strong and a weaker Version. The strong Version makes the justification of the System depend upon its attaining completeness. Best

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expressed by Hegel's das Wahre ist das Ganze, it claims that totalization is a necessary condition for verification. ^ The weaker claim, on the other hand, demands comprehensiveness without making it a necessary condition for the truth of the theory (or of its particular components). Even before the complete totality is achieved, its individual propositions may count as fully true and justified, provided that they have been reached in a methodical and continuous manner. This difference is well expressed in the argument between a dialectical and a deductive (linear) procedure of justification. If we proceed by linear deduction, our theory may already contain a series of true, apodictic propositions even when it is not complete. Upon a dialectical approach, on the contrary, all further steps are necessary moments in the explication and the justification of former steps, such that only the completion of the System will provide it both with meaning and with truth. Totalization and verification are mutually conditional. If Hegel is the best representative of the latter approach, FICHTE (or SPINOZA) may provide the best example of the former. For them, the totality is explicated and justified in such a way, that its first concepts and principles are fully true and meaningful in themselves; and the same can be said of whatever follows from them deductively. Prior ingredients of the System are logically independent of what follows from them and are not affected, in retrospect, by their further explication. Therefore, incompleteness of the System will not count as a logical deficiency in the strict sense. An incomplete theory is certainly philosophically deficient (and may not yet count as "systematic" in the proper sense); but this is because it falls short of its objective (the totality), not because its components are logically deficient before the totality is achieved. They are rather apodictically true, and have a clear and distinct meaning at whatever stage of the explication. Self-Particularization Despite this major difference, ® both Hegel and FICHTE share a basic feature in common. For both, philosophy must derive the moment of specificity — or actual content — from the sources of reason itself. It is ‘ Indeed, for the very meaningfulness of the particular principles and categories, neither of which has an autarkic meaning in itself. * Which can be summarized by saying that, for a dialectical approach, the absolute is a result, while for a deductive (linear) approach it is a starting point.

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true that the content in question is that of the specific philosophical categories, not of particular empirical States. Moreover, it is true that Hegel — unlike FICHTE — did not presume to deduce the specific content of the categories in abstracto, by pure a priori reasoning. Working historically, he has rather the benefit of the whole er-innert past of the spirit, which supplies the material Substrate for construing his detailed System. In other words, the dialectic is initially involved in a subject-matter of vague concepts and experiences — a historicized Version of PLATO'S anamnesis — to which it gives systematic articulation in their proper places, as the logical need arises. And yet, it is still true that, for both Hegel and FICHTE, systematic philosophy involves a self-particularizing process, in which the specific contents are both engendered and made intelligible in their very content. Philosophy is not just a system of forms, under which some foreign content is subsumed. It involves a self-particularizing universal, providing its own moment of detailed specificity (and thus presenting it as inherently rational). ® Thus we have a further feature of "systematic philosophy". It must not only involve totalization; but the totality in question must be construed as self-particularizing universal. This concept is, in fact, a logical Interpretation of the vague notion of Intellectuelle Anschauung — its translation from a crude mentalistic idiom into a strict logical model. The basic feature of Intellectual Intuition, as KANT has already defined it, consists in a privileged mode of thinking (and in a higher norm of intelligibility), where by thinking the universal we attain the whole ränge of relevant particulars, and by thinking the particulars we attain the full force of the universal. Both moments mediate each other within a single System, Standing in no need of external Erfüllung. Since this invokes the idea of an organic totality, Hegel had come to see the concepts of "systematic philosophy" and of "organic totality" as implying each other. To be systematic, philosophy must have the structure of an "organic totality", since it has to do the work otherwise assigned to Intellectual Intuition.

Kant's Organistic Program Given the conceptual link between systematic philosophy, organic totality and Intellectual Intuition, it may seem stränge that the greatest critic • The same may be attributed to Schelling.

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of intellectual intuition, namely KANT, should have been the first in German Idealism to put forward the norm of systematic philosophy in the ambitious sense. KANT had variously stated that philosophy (his "metaphysics as Science") must either be a systematic whole or "nothing at all". Moreover, his paradigm for a systematic whole is the concept of an organic totality, where all the members mutually ground and justify each other. The best summary of this view is given in the Prolegomena: „Reine Vernunft ist eine so abgesonderte, in ihr selbst so durchgängig verknüpfte Sphäre, dass man keinen Theil derselben antasten kann, ohne alle übrige zu berühren, und nichts ausrichten kann, ohne vorher jedem seine Stelle und seinen Einfluss auf den andern bestimmt zu haben." Hence totalization as a condition for validity: „weil, da nichts ausser derselben ist, was unser Urtheil innerhalb berichtigen könnte, jedes Teiles Gültigkeit und Gebrauch von dem Verhältnisse abhängt, darin er gegen die übrige in der Vernunft selbst steht, und wie bei dem Gliederhau eines organisierten Körpers der Zweck jedes Gliedes nur aus dem vollständigen Begriff des Ganzen abgeleitet werden kann." (italics added) „Daher kann man von einer solchen Kritik sagen, dass sie niemals zuverlässig sei, wenn sie nicht ganz und bis auf die mindesten Elemente der reinen Vernunft vollendet ist, tmd daß man von der Sphäre dieses Vermögens entweder alles, oder nichts bestimmen und ausmachen müsse." {Prolegomena. Ak.Ausg. IV. 263) The same idea recurs in the Critique, both in the prefaces and in the chapter on the Architectonic. Thus, in B he describes the nature of speculative reason as: „einen wahren Gliederbau enthält, worin alles Organ ist, nämlich alles um eines willen und ein jedes Einzelne um aller willen .. {KrV B XXXVII) And in A: „Es kann hier uns nichts entgehen, weil, was Vernunft gänzlich aus sich selbst hervorbringt, sich nicht verstecken kann, sondern selbst durch Vernunft ans Licht gebracht wird, sobald man nur das gemeinschaftliche Princip desselben entdeckt hat." {KrV A XX) KANT'S meta-philosophical model is — at least programatically — closer to Hegel's than to that of FICHTE. Although KANT does not admit of a dialectical logic, he views the structure of the System as organic reciprocity of all the members, not as a linear series of concepts and propositions. The same is made explicit when KANT, discussing the method of philosophy, rejects the deductive-mathematical model. Since philosophy is the se//-explication of reason, it has no absolute starting point, and can attain clarity and apodicticity only at the end. In philosophy, "the incomplete explication must precede the complete one". It is a whole that attains articulation and validity only gradually, and whose explication

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is always moving backwards as it moves forward. Partial results cannot, therefore, be fully validated, for their very meaning and functional locus change as the explication proceeds. By presenting this ideal of an organic Gliederbau, KANT seems to have claimed for philosophy what he excluded from the other forms of knowledge. Indeed, there seems to be a major discrepancy between his metaphilosophy and his philosophy of objective knowledge. KANT rejects the possibility of totalization in all branches of objective knowledge (i. e., knowledge of objects), viewing it as "dialectical" in the negative sense. And yet, where the System of philosophy itself is concerned, it is bound by an ideal norm which it had itself denied the other forms of Cognition. Speculative failure as critical success This discrepancy is not a serious problem in itself. Different forms (and objects) of knowledge may require different cognitive models, all determined by philosophy itself. The problem arises when we ask whether KANT actually followed the norm he had set programmatically for his philosophy. Is it — can it be — systematic in the strong sense, as an "organic" whole? The answer to both questions is clearly No. When FICHTE (or Hegel) have rightly argued that KANT did not end up with a self-particularizing whole, since he did not deduce the actual content of his categories, principles, etc. from their supreme principle (the unity of consciousness), they did not reveal a fact that was hidden from Kant himself. It was KANT who actually said that we shall never be able to derive the specific content of the categories, or explain why they are these and not others, and why their number is precisely as we have found it to be. * The same, indeed, is true with respect to all the components of KANT'S System, not only of the restricted sub-system of the categories. Because they are not the result of a self-particularizing universal, the specific components of KANT'S System are not fully intelligible. They must retain, so to speak, an opaque side of sheer facticity — a kind of logical givenness which we simply encounter, but cannot deduce or explain in full. The self-explication of reason has inherent limits, confronting an element of simple Sosein in the midst of reason itself.

‘ KrV. B 145-146.

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Thus KANT failed to carry out the ambitious program of an “organic" System he had himself proclaimed. But this speculative failure is rather a philosophical success — in the critical sense of philosophy. Had KANT provided a fully transparent totality, which does away with the opaque element of givenness in reason^ he would have violated the Basic principle of his criticism and ascribed to man the faculty of intellectual intuition. It is precisely because our reason is finite, and not endowed with intellectual Intuition, that it cannot become fully intelligible even to itself. Both the FiCHTEan deduction of particular contents and the Hegelian dialectical totality are thus excluded by the principle of the finitude of human reason. ® The Dynamics of Criticism Does this mean that KANT'S programatic Statements were simply false — a kind of fallacy, or of misplaced enthusiasm? We shall miss the import of the critique of reason if we so understand them. What happens on the meta-philosophical level is but a replica (indeed, a paradigm) of the drama of the critique in general. The critique is based upon a dynamic tension between a rational interest and its rational restraint, which changes the function but does not abolish the meaningfulness of the underlying interest. For example, in the Dialectic of pure reason (aimed at various objective totalities), the critical move did not consist in the simple abolition of the ideal of totality, as if it were a spurious notion we have to be "cured" of. On the contrary, this ideal was presented as a necessary "interest of reason" — a higher form of intelligibility, whose pursuance is rational in itself. However, it would not be rational to claim that this ideal can be achieved, and so criticism consists in the restraint, not the abolition, of the higher ideals of rationality. Since it would be a Violation ° An analytic summary of Kant's position (as against the Fichtean and the Hegelian models) may be given by way of answering the following questions: (1) Is systematic comprehensiveness (totality) required? (2) If so, is it required for justification, or only for completeness? (3) Does it imply an "organic" (reciprocal) model or a deductive ("linear") one? (4) Should it aim at full intelligibility (including the specific contents) 7 (5) Can it attain full intelligibility (including the specific contents) 7 All three philosophers would say "yes" to (1). In (2) and (3), Kant and Hegel would take the first alternative, while Fichte would take the second alternative in each case. To (4), all three philosophers would again answer positively; but whereas Hegel and Fichte would proceed to affirm (5) as well, Kant would deny it.

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of rationality both to suppress these ideals and to declare them attainable, it is precisely their critical frustration which counts as the genuine rational attitude. However, to frustrate an interest is the opposite of annulling it. It preserves the force of the interest as something whose objective is always denied, and thus it brings to consciousness the finitude of human reason — our incapability to attain what we ourselves project as rationally desirable. Even when the transcendent ideals of totality are re-oriented into an immanent function (as "regulative ideas"), their ,interested' force is thus at Work, serving as a memento of our own finitude. The same is true of the mefa-philosophical ideal of totality. The fact that KANT'S theory is not allowed to carry out its programatic ideal, is to be understood in analogy with the dynamic of the critique in general. While Hegel (or WITTGENSTEIN) have denied the meaningfulness of a concept of a boundary which we cannot in principle cross, KANT'S idea of a critique of reason is based on the opposite assumption. Projecting an ideal of intelligibility which we cannot attain has a definite philosophical meaning. It brings back to our consciousness the finitude of human existence — the fact that, for us, neither the World nor our own reason can be made fully intelligible. Hence we must live with a constant gap between the rationality we legitimately seek and the rationality we can legitimately attain. Conclusion Systematic philosophy in the strong sense may thus serve as a regulative idea. Like any regulative idea, it will have two functions; operational and reflective. By "operational" I mean that it will call for as many systematic links between the various regions of philosophy as we can establish, without assuming a priori that they can be fully harmonized. Even if this leads, in practice, to the modest sense of "systematic philosophy", it would still rule out the approach of "piecemeal philosophizing" as a guiding norm and as a mental pre-attitude. And by "reflective" function I mean the kind of self-image and se//-perception that we can gain by way of this idea. Through it, the basic finitude of man is reflected back to himself. It serves as a constant memento of our human condition, indicating that there is a significant form of intelligibility which we cannot attain; that there are humanly significant queries which Stretch beyond the ränge of their possible answers; and that our inquisitive nature — the basis of

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our rationality — cannot be satisfied in principle, but must introduce a gap or a discrepancy within our consciousness. Although we live in the attempt to make our existence intelligible to us, we must equally live with the knowledge that an opaque, contingent moment of reality must always confront us as alien and inexplicable. Thus a critique of systematic philosophy — taken in KANT'S sense, if not necessarily in his particular way — may be pertinent in these two related aspects.

RUDOLF GUMPPENBERG (SALZBURG)

QUALITÄT DER PHILOSOPHIE Der Titel „Qualität der Philosophie" assoziiert gegenwärtig allzuleicht jene politisch verdichtete Formel von der „Qualität des Lebens", die mit der Intention vorgetragen wird, das traditionelle Orientierungsmuster einer rein quantitativen Expansion oder generell die Zielvorstellung einer akkumulativen und mathematisch darstellbaren Progression in allen Bereichen des öffentlichen Lebens abzulösen. Hierzu hat H. LüBBE unlängst gezeigt^, daß die Infragestellung des quantitativ forcierten Fortschritts, das heißt also die Kritik an der permanenten Steigerung von ökonomischen, technisch-industriellen, aber auch wissenschaftlichen Zuwachsraten und Selbstpotenzierungen gerade von jener Seite laut geworden ist, die bisher eine Geschichtstheorie auf der Basis des Fortschrittsgedankens für unverziditbar hielt. Nun impliziert freilich die Parole von der „Lebensqualität" keine Absage an die Fortschrittsidee überhaupt. Die Invektive richtet sich vielmehr gegen jene begriffliche Engführung, die, um mit Hegel zu sprechen, unreflektiert läßt, daß „die Quantität ... die schon negativ gewordene Qualität" 2 ist. Unter diesem Aspekt, nämlich der Behauptung des Prioritätsverhältnisses des qualitativen Moments gegenüber einer bloß quantifizierenden Reduktion, gewinnt sodann eigentlich der ursprüngliche Innovationscharakter des historischen Fortschritts erst wiederum seine explizite Geltung. Hegel begründet ja die Primärstellung der Qualität im Vergleich zur Quantität gerade dadurch, daß eben letztere nur eine „Veränderlichkeit" einschließe, „ohne daß die Sache selbst, das Sein, dessen Bestimmung sie ist, durdi sie verändert werde" ®, während die qualitative Bestimmtheit genau dies leiste. Verallgemeinert ausgedrückt und damit ebensosehr ‘ H. Lübbe; Lebensqualität oder Fortschritt von links — Sozialer Wandel als Orientierungsproblem. In; Lebensqualität? Von der Hoffnung Mensch zu sein. Köln 1974. 255—269. * G. W. F. Hegel: Wissenschaft der Logik. Hrsg, von G. Lasson. Hamburg 1963. Teil 1. 65. » Ebd.

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für die Problematik der ,,Qualität des Lebens" wie für die von uns titelthematisch eingeführte Frage nach der „Qualität der Philosophie" gültig wäre somit der an der Hegelschen Logik gewonnene Satz, daß Qualität wesentlich die Bedeutung der Veränderlichkeit und der Veränderung an sich hat, denn „durch seine Qualität, durch das, was es ist, ist etwas der Veränderung unterworfen" Dem ersten Anschein nach und vom unmittelbaren Erleben desjenigen, der in der philosophischen Forschung und Lehre tätig ist, würde sich aus der Bestimmtheit der Qualität durch Veränderung für die Gegenwart ein hoher Grad an „Qualität der Philosophie" ermitteln lassen. Denn der Struktur-, Methoden- und Themenwandel der Philosophie hat zweifellos einen Beschleunigungsgrad erreicht, der sich nicht nur in einer imponierenden Publikations- und Editionstätigkeit manifestiert, sondern auch in einer disziplinären und institutioneilen Ausdifferenzierung mit hochspezialisierter Informations- und Kommunikationsleistung deutlich wird. Rechnet man den bisher unerreichten philosophiehistorischen Forschungsstand, das breite Angebot der Resultate der empirischen Wissenschaften und schließlich die sprunghafte Entwicklung des logischen „Organons" der Philosophie hinzu, so wäre wohl gerade durch diese neueren und neuesten „Veränderungen" eine hohe Qualität der gegenwärtigen Philosophie zu erwarten. Ich werde nun — auf Kosten des schönen Kontrastes, der sich anbietet — nicht nachzuweisen suchen, daß die Korrespondenz der aufgezählten optimalen Bedingungen mit der qualitativen Gestalt der kontemporären Philosophie nicht besteht. Bezüglich der allzu offensichtlich aporetischen Situation der Philosophie mag der Hinweis genügen, daß die Literatur zur Frage „Wozu noch Philosophie?" seit ADORNOS thematisch gleichlautendem Rundfunkvortrag ® von 1962 erheblich angewachsen ist und sich außer J. HABERMAS ® etwa auch H. LENK ^ und andere dieser Frage angeschlossen haben. Doch die verschiedenen Antworten hierauf kritisch zu rekapitulieren, kann nicht Gegenstand des jetzigen kurzen Referates sein. Das Thema „Qualität der Philosophie" verträgt sich, wie schon betont, nur mit der Frage, was sich verändert, wenn Philosophie als Qualität auftritt. Auf * G. W. f. Hegel: Logik für die Mittelklasse (1810/11). In; Hegel: Nürnberger Schriften. Hrsg, von J. Hoffmeister. Leipzig 1938. 167. ® Th. W. Adorno: Wozu noch Philosophie? In: Eingriffe. Frankfurt/M. 8. Aufl. 1974. 11—28. ® 7. Habermas: Wozu noch Philosophie? In: Philosophisch-politische Profile. Frankfurt/M. 1971. 11—36. ’ H. Lenk: Wozu noch Philosophie? In: Philosophie im technologischen Zeitalter. Stuttgart 1971. 9—36; ders.: Wozu Philosophie? München 1974.

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diese Problematik möchte ich in drei knappen Skizzierungen, die weder methodologisch noch metatheoretisch, sondern von der Sache her inhaltlich bestimmt sind, eingehen, um abschließend sodann eine kurze Aussage zum systematischen Charakter der Philosophie zu ermöglichen. I.

Philosophie als Selbstreflexion des Bewußtseins

Wenn es darum geht, zu fragen, welches verändernde Novum Philosophie inauguriert, sofern sie als solche mit wissenschaftlichem Anspruch einsetzt, dann bietet sich zunächst das Modell des selbstreflexiven Bewußtseins an. Philosophie wird in diesem Fall als Explikation der Selbsterfahrung des Bewußtseins verstanden, die progressiv sich selbst auf den Begriff und die Form des Selbstbewußtseins bringt. Hegel hat in der Phänomenologie des Geistes die Genesis des Subjekts auf der Grundlage des Vermittlungsprozesses der Gestalten des Bewußtseins dargestellt, und zwar so, daß dieser „Wissenschaft des erscheinenden Wissens" ihre logische Organisation bereits selbst immanent ist. ® Das hierdurch intendierte Ziel wird erreicht im Resultat der reflexiven Gewißheit des Geistes, das heißt also in der philosophischen Wissenschaft, die die Differenz der gegenständlichen Form der Wahrheit und des wissenden Selbst letztlich in einer begriffenen Einheit zur Aufhebung gebracht hat. Die neue Qualität, die damit gewonnen scheint, ist ein Selbstbewußtsein, das im vollzogenen Begriff seiner selbst nun nicht nur das Philosophisch-Werden der Welt, sondern die philosophische Konstitution seiner eigenen Voraussetzung, nämlich des Bewußtseins, geleistet hätte. Gegen dieses Modell hat D. HENRICH in seiner kritischen Einleitung zu einer Theorie des Selbstbewußtseins ® argumentativ geltend gemacht, daß eine derartige Selbstbeziehung oder gar Selbstsetzung des Bewußtseins notwendig zirkulären Charakter annehmen würde. Bewußtsein sei vielmehr „ein Sachverhalt, der allen zielgerichteten Leistungen vorangehen ® Vgl. hierzu vor allem die Forschungsarbeiten von H, F. Fulda: Das Problem einer Einleitung in Hegels Wissenschaft der Logik. Frankfurt/M. 1965; O. Pöggeler: Hegels Idee einer Phänomenologie des Geistes, Freiburg/Miinchen 1973; L. B. Puntel: Darstellung, Methode und Struktur. Untersuchungen zur Einheit der systematischen Philosophie G. W. F. Hegels. Bonn 1973; ]. Heinrichs: Die Logik der „Phänomenologie des Geistes". Bonn 1974. ® D. Henrich: Selbstbewußtsein. Kritische Einleitung in eine Theorie. In: Hermeneutik und Dialektik. Hans-Georg Gadamer zum 70. Geburtstag. Bd 1. Tübingen 1970. 257—284.

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muß und der deshalb auch dem selbstbewußten Ich vorausliegt" Daraus resultiert nun freilich nicht, daß eine reflektierende Selbsterfassung des Bewußtseins, also eine Kenntnis von sich, nicht möglich sein sollte, vielmehr ist die wissende Selbstbeziehung, die in der Reflexion, und zwar ausdrücklich in der philosophischen Reflexion vorliegt, dann ein theoretisches Explizieren auf der Folie des „selbstlosen Bewußtseins vom Selbst" Entscheidend an dieser These ist zweifellos das Insistieren auf dem Gedanken vom Bewußtsein als selbstlosem Grund der Philosophie. Nur so nämlich gewinnt die Philosophie die Qualität objektiver Vernunft, wenn sie der unleugbaren Apriorität des Bewußtseins die Priorität des gegebenen Wirklichkeitskontextes einvermittelt. Nicht die Deduktion der Realität aus dem selbstreflexiven Bewußtsein, sondern die explikative Analytik der Objektebene, der ja ursprünglich auch das Bewußtsein als solches angehört, ist die Ermöglichung der Philosophie als qualitativ neuer und freier Einsicht in das, was naturgesdaichtliche und humangeschichtliche Welt heißen mag. 2. Philosophie als konstitutive Bedingung allgemeiner Freiheit Mit der Vorgabe der Selbstbeziehung des Bewußtseins durch Analyse und Explikation der objektiven und subjektiven Realitätsebene erreicht die philosophische Anstrengung des Begriffs ihren performativen Stellenwert. Dies bedeutet, daß die Philosophie nicht nur das internalisierte Erkennen als Selbstverwirklichung theoretischer Wahrheit, sondern hieraus resultierend auch das praktische Anerkennen als Freisetzung dinglicher oder personaler Andersheit zu leisten vermag. Schon der Vermittlungsprozeß des Bewußtwerdens, der mit der Affirmation der Gegenstände der Erkenntnis in Gang gebracht ist, artikuliert ja bereits die prinzipielle Offenheit für anderes, wobei sich zunächst in der Figur von Distanzierung und Identifizierung allgemeine Freiheit als „die Verhältnisweise des Begriffs" darstellt. Hegel kann daher unter dem Aspekt reflexionslogischer Universalisierung betonen, daß im philosophischen Begriff sich das „Reich der Freiheit" eröffnet habe. Die eigentlich neue Qualität aber, die durch das Dasein der Philosophie im Begriff der Freiheit wirklich wird, ist jene “ n ** Teil »3

Ebd. 275. Ebd. 280. G. W. F. Hegel: Wissenschaft der Logik. Hrsg, von G. Lassen. Hamburg 1963. 2. 214. Ebd. 218.

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der Intersubjektivität, die sowohl die Determination des jeweils nur singulären Bewußtseins als auch die „Grenze unserer eigenen Vergegenständlichung" zu überbieten vermag. Im Akt der intersubjektiven Kommunikation wird nämlich eine zweifache praktische Objektivierung vollzogen: einmal das Zusichselbstkommen der allgemeinen Vernunft dort, wo Strukturen der Notwendigkeit überliefert oder naturhaft angetroffen werden; zum anderen aber die Herstellung eines prinzipiell konsensfähigen Zustandes der gesellschaftlichen Begegnung menschlicher Freiheit. Während in ersterem Fall die Selbstbestimmung des Bewußtseins sich in den Prozessen der Naturbeherrschung und Arbeit begründet, muß das Grundgesetz des sozialen Interaktionsrahmens erst durch die Anerkennung der Freiheit jedes Einzelnen geltendes Recht werden. Es war und ist wesentlich die Einlösung des philosophischen Postulats der Überwindung der Naturwüchsigkeit gesellschaftlicher Verhältnisse, wenn im geschichtlichen Medium einer öffentlichen xmd allgemeinen Rechtsordnung politische Freiheit durch die Selbstgesetzgebung freier Individuen konstituiert wird. 3. Philosophie als Kontingenzüberwindung Aus dem Ansatz des selbstbewußten und freiheitskonstitutiven Impulses der Philosophie resultiert nun freilich auch die Einsicht in die Endlichkeit des menschlichen Vernunftvermögens und die Vorläufigkeit und Begrenztheit der geschichtlichen Gestalten intersubjektiver Freiheit. Doch — und darauf hat insbesondere N. LUHMANN hingewiesen — ist dies vor allem für das neuzeitliche Denken keineswegs mehr Anlaß zu Resignation und Bescheidung, vielmehr im Gegenteil Stimulation für die Idee des historischen Fortschritts und deren Verwirklichung im „Konzentrat einer Gewißheit, welche die Subjektivität des Selbstbewußtseins zum Ausgangspunkt macht für immer weitergreifende Prozesse der Reduktion von Komplexität auf gesicherte Vorstellungen" Nun kann aber die geschichtliche Überbietung der Grenzen des Individuums und der Gesellschaft nur aus dem permanenten Widerspruch gegen die Vernotwendigung dessen, was faktisch kontingent ist, geleistet werden. Wenn dieser Widerspruch in Erinnerung der natürlichen Voraussetzungen menschlicher Existenz aus R. Spaemann; Philosophie als institutionalisierte Naivität. In: Philosophisches Jahrbuch. 81 (1974), 142. N. Luhmann: Zweckbegriff und Systemrationalität. Frankfurt/M. 1973.19.

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freier Entscheidung gegen das bloß tatsächlich Erreichte motiviert ist, dann ist es das philosophische Bewußtsein des Allgemeinen, das gleichzeitig Ansatz und Kriterium hierfür bereitstellt. Denn die Philosophie ist jenes einzig universalisierende Potential, durch das trotz der Endlichkeit und Geschichtlichkeit der Vernunft dennoch allgemeine Wahrheit als praktische Freiheit realisiert zu werden vermag. Es scheint somit gerade die Erfahrung der individuellen Kontingenz des menschlichen Subjekts zu sein, die dazu führt, Allgemeinheit und Sinnhaftigkeit dort zu formulieren, wo die Positivität des bloß Faktischen verabsolutiert wird. Kontingenz nämlich, die allgemeine Daseinsweise der Natur, des Menschen und der menschlichen Gesellschaft, bedeutet mehr als Zufall oder bloße Partikularität. Sie ist die Endlichkeit, die sich, wie Hegel sagt, der „Macht der Zeit" unterstellt weiß und dennoch nicht preisgibt, was selbst die Macht der Zeit ist. Kontingenz ist so der Ausdruck dafür, daß auch die Differenz zwischen Relativem und Absoluten relativ ist. Mit ihr wird einerseits daran festgehalten, daß Selbstbewußtsein und Freiheit immer nur endliche Erscheinungsformen hervorbringen, andererseits aber gleichzeitig auch begründet, warum die jeweiligen Zeitgestalten des reflexiven Bewußtseins und der intersubjektiven Freiheit überbietbar sind. Kontingenz impliziert so letztlich das Bedürfnis und die Notwendigkeit der Philosophie. Denn es ist die eigenartige und wohl schließlich entscheidende Qualität der Philosophie, daß sie, sofern sie ihre Zeit in Gedanken erfaßt ist, ihre Gedanken auch in der Zeit faßt und eben dadurch die Kontingenz der Zeit überwindet. Was folgt hieraus zusammenfassend für die Frage nach der Möglichkeit oder Unmöglichkeit systematischer Philosophie? Die bloße Tatsache, daß heute der Versuch, Philosophie als System darzustellen, kaum oder gar nicht geleistet wird, erlaubt keine allgemeine Schlußfolgerung. Wenn aber, wie ich zu zeigen versucht habe, die Qualität der Philosophie sich grundlegend in den Formen der Selbstreflexion des Bewußtseins, der Konstitution allgemeiner Freiheit und der Kontingenzüberwindung manifestiert, dann ist auch ein systematischer Zusammenhang durch den Inhalt philosophischer Aussagen angedeutet. Zum ersten würde die Analytik der Objektebene, die durch die philosophische Reflexion des Bewußtseins zu erarbeiten wäre, eine Art kategoriale Logik erbringen, die zwar formallogisch organisiert, aber selbst durch inhaltliche Grundbegriffe vermittelt wäre. Zum zweiten müßte aus der notwendigen Konstitution intersubjektiver G. W. F. Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830). Hrsg, von F. Nicolin und O. Pöggeler. Hamburg 1959 u. ö. 210 (§ 258).

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und konsensfähiger Freiheit eine normative Ethik entwickelt werden, die die inhaltliche Bestimmung praktischen Verhaltens nicht metatheoretisch umgeht. Drittens schließlich würde sich aus dem Verhältnis von verallgemeinernder Vernunft tmd geschichtlicher Kontingenz eine philosophische Historik ergeben, die die Geschichte nicht nur als offenes System bedenkt, sondern den historischen Verlauf als Prozeß begreift, dessen Gesetzmäßigkeiten selbst theorieimmanent transformierbar sind. Wenn diese Überlegungen möglicherweise gegenwärtig als Utopien erscheinen, so haben sie doch zumindest den Vorteil, die lange Reihe der derzeitigen Aporien in der Philosophie nicht um eine weitere vermehrt zu haben.

HANS-DIETER KLEIN (WIEN)

DIE SYSTEMATISCHE PHILOSOPHIE UND IHRE SPEZIFISCHE GESCHICHTLICHKEIT

Die Philosophie nach Hegel hat sich so sehr auf ihre Geschichtlichkeit besonnen, daß sie darüber ihren ursprünglichen Anspruch, das System ewiger Wahrheiten zu vermitteln, aufzugeben gezwungen schien. Der Geschichtlichkeitseinwand gegen die Möglichkeit systematischer Philosophie wird indes allzu häufig diskutiert, ohne darauf Bedacht zu nehmen, ob die systematische Philosophie nicht eine spezifische, ihr eigentümliche Geschichtlichkeit erzeugt, welche mit der Gesdiichtlichkeit der Wirtschaft, Gesellschaft, Kirnst, Religion usw. nicht ungestraft in einen Topf geworfen werden darf. Mein Vortrag will einen Beitrag zur Eingrenzung dieser spezifischen Geschichtlichkeit der systematischen Philosophie leisten. Das Mißverhältnis zwischen der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit und der Komplexität der gewählten Thematik zwingt freilich dazu, das Wesentliche in Thesen zur Diskussion zu stellen, deren argumentative Vermittlung hier keineswegs eingelöst werden kann, zumal ich nüt Hegel darin übereinstimme, daß sie nur als System der Philosophie möglich ist. Daher verweise ich auf mein Buch Vernunft und Wirklichkeit (Wien und München 1973, 2. Band 1975), welches das System der Philosophie, so wie ich es gegenwärtig sehe, vorlegt und sich insbesondere im zweiten Band eine systematisch philosophische Rekonstruktion der Welt-, Religions- und Philosophiegeschichte zur Aufgabe gemacht hat. Zunächst will ich sagen, was die spezifische Geschichtlichkeit der systematischen Philosophie nicht ist: Nicht angesehen werden darf dafür die zweifellos unbestreitbare Tatsache, daß die von philosophierenden Individuen formulierten Sätze mehr oder weniger häufig Irrtümer enthalten. Eine Korrektur solch falscher, obgleich in Entwürfen der Darstellung des Systems der Philosophie vorkommender Sätze ist zwar unerläßliche Aufgabe der systematischen Philosophie, aber darum noch nicht ein Fortschritt in der Philosophiegeschichte.

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HANS-DIETER KLEIN

Nicht Fortschritt in der Philosophiegeschichte im Sinne der spezifischen Geschichtlichkeit systematischer Philosophie ist zweitens die Aufnahme der Erfahrungen weltgeschichtlichen Fortschreitens. Wenn die Ergebnisse des „Fortschritts im Bewußtsein der Freiheit" (Hegel) ein z. B. über das von ARISTOTELES Formulierte hinausgehendes Verständnis der Politik liefern, so muß die Staatsphilosophie solche Erfahrungen freilich verarbeiten. Ein Fortschritt in der Systematik der Philosophie ist damit allerdings noch nicht gemacht. Nach Hegel muß die Methode der Philosophie so formuliert werden, daß sie explizit die Art und Weise ihrer Selbstkorrektur und Diskussion erörtert. Wir müssen daher der Differenz zwischen der Bewegung der Sache selbst und ihrer Erscheinung in den Äußerungen irrender Menschen im Wandel weltgeschichtlicher Erfahrung ausdrücklich Rechnung tragen. Die Frage, wieso die systematische Philosophie überhaupt mit Geschichtlichkeit zu tun hat, wird durch den Hinweis auf die Geschichtlichkeit alles Menschlichen nicht hinreichend beantwortet. Wie alle anderen Tätigkeiten des Menschen hat auch die systematische Philosophie Geschichtlichkeit an sich. Darüber hinaus ist sie selbst gar nichts anderes als Reflexion der Geschichtlichkeit als Geschichtlichkeit. Diese als These zur Diskussion gestellte Definition der systematischen Philosophie wandelt die Reflexivität des aristotelischen öv fj öv um in eine transzendentale Reflexion der Geschichtlichkeit. Sie sei für unseren Zusammenhang vorläufig motiviert durch den Hinweis auf den ursprünglichen Sinn des Wortes „historisch", der noch in SCHELLINGS Gegenüberstellung von „ewigen" und „historischen" Wahrheiten präsent ist. Die sich in die Geschichte entfaltende Geschichtlichkeit ist die vermittelnde Instanz der Fragen an die Tatsachen, auf die wir die verites de fait (LEIBNIZ) zur Antwort erhalten. Ohnehin ist sie vermittelnde Instanz der je gegenwärtigen Begriffe des Guten und Bösen. Die Reflexivität des Geschichtlichen als Geschichtlichen führt im Sinne des schon antiken Einwandes gegen den Skeptizismus zur Konsequenz, daß alles geschichtlich ist, nur nicht die Geschichtlichkeit selbst. PLATONS Widerlegung des Idealismus belehrt uns darüber hinaus dahingehend, daß die nichtgeschichtliche Ewigkeit der Geschichtlichkeit als Geschichtlichkeit nicht bloß negativ gegen die Geschichte hypostasiert werden darf, sondern zugleich geschichtlich in Erscheinung treten muß. Die ewigen Wahrheiten sind ewig im Sinne geschichtlicher Nichtgeschichtlichkeit und nichtgeschichtlicher Geschichtlichkeit des Geschichtlichen als Geschichtlichen. Die spezifische Geschichtlichkeit der systematischen Philosophie ist also die

Die systematische Philosophie und ihre Geschichtlichkeit

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des Eintritts für sich nicht geschichtlicher Voraussetzungen der Geschichte in die Geschichte. Diese erste Hauptthese meines Referats hat nun Konsequenzen für die Entwicklung der Geschichtlichkeit der Philosophie: So wenig Hegels Ausführungen zum Begriff der Philosophiegeschichte überholt sind, so hat er doch einen Punkt nicht so deutlich unterstrichen, wie es seine Methode, die darauf beruht, daß das Besondere das sich in seiner Eigenbewegung differenzierende Allgemeine ist, eigentlich verlangt hätte. So lautet die zweite Hauptthese meines Referats über Hegel hinaus: Die wirkliche Geschichte der Philosophie ist nichts anderes als die sich selbst in ihre notwendigen Momente urteilende Geschichtlichkeit der Philosophie. (Aus Zeitmangel können hier keine Beispiele gegeben werden. A.a.O. habe ich die Ableitung der verschiedenen Systemansätze, die in der Geschichte der Philosophie aufgetreten sind, als sich differenzierende Geschichtlichkeit der Philosophie versucht.) Weil Hegel die Geschichte der Philosophie nicht ausdrücklich als die sich entwickelnde Geschichtlichkeit derselben faßte, kam er auch auf den Gedanken, die Entwicklung der logischen Idee erscheine in ihr nochmals, äußerlich. Eine solche Verdoppelung eines Vermittlungsganges in einem anderen Medium kann aber Hegels eigenem Begriff lebendiger Entwicklung nicht standhalten. Sie hängt methodisch mit der Konfusion zusammen, welche er damit erzielte, daß er einmal in der Entwicklung der logischen Idee eingeführte Bestimmungen in der Folge nach Bedarf zu Hilfe nahm, ohne auf das System und die Möglichkeit solcher Wiederkehr zu reflektieren. Die Philosophiegeschichte ist nicht Entwicklung der logischen Idee im äußeren Medium der Geschichte, sondern Entwicklung der Geschichtlichkeit der logischen Idee. Diese — als zweite Hauptthese formulierte Korrektur Hegels — ist die notwendige Konsequenz aus der Definition der systematischen Philosophie in der ersten Hauptthese. Zum Abschluß noch drei Schlußbemerkungen: 1. Die These, daß das System der Philosophie in seiner Geschichte immer dasselbe, immer das System der Philosophie bleibt, läßt sich nur aufrecht erhalten, wenn man, wie sinngemäß schon Hegel, in Abwandlung eines Ausdruckes WITTGENSTEINS zwischen Oberflächen- und Tiefensystematik unterscheidet. Die wahre Systematik einer Philosophie besteht nicht immer in der von ihr oberflächlich zur Schau getragenen Architektonik, philosophischer Fortschritt legt die darin verborgene Tiefensystematik frei. Dabei bleiben wahre Sätze und Satzzusammenhänge erhalten. Des PARMENIDES Lehre „Denken und Sein ist dasselbe" z. B. oder eine

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HANS-DIETER KLEIN

ihr äquivalente Formulierung ist ein notwendiger Bestandteil jeder wann immer auftretenden Neuformulierung des Systems der Philosophie. Motiviert ist philosophischer Fortschritt im Sinne der zweiten Hauptthese freilich nur aus einem veränderten Verhältnis der Philosophie zu ihrer eigenen Geschichtlichkeit. 2. System ist in sich reflektierte Totalität. Als in meinem oder unserem Gedächtnis verfügbare oder aufgeschriebene ist die Systemtotalität nur der Möglichkeit nach. Wirklich ist sie als Bewegtheit eines Satzes zu anderen im einsamen oder gemeinsamen Philosophieren, und zwar nicht zu einem beliebigen, sondern jeweils zu einem bestimmten anderen Satz, auch dann, wenn keine Einigkeit besteht, welcher der nächstvorauszusetzende Satz sein wird. 3. In der geschichtlichen Gegenwart jeder Philosophie können geschichtlich immanente Probleme auftauchen, die geschichtlichen Fortschritt verlangen. Die Differenz, in welche die Philosophie um der Ewigkeit ihrer Wahrheit willen zum Geist ihrer Zeit tritt, kann dann „auf die Füße gestellt" (MARX) werden, d. h. auf bloße Geschichte reduziert. Die Entwicklung der Geschichtlichkeit der Philosophie als System ihrer Geschichte kann nur gelingen, wenn man „auf die Füße gestellte" Positionen (erstes Beispiel: Sophistik, weitere Stoa und EPIKUR, über den nicht umsonst MARX dissertierte) nicht der Philosophiegeschichte, sondern der Weltgeschichte zurechnet.

KURT WEISSHAUPT (ZÜRICH)

ADORNOS MODELLANALYSE ALS IDEE EINER SYSTEMATIK NEGATIVER DIALEKTIK Philosophie, die als Dialektik auftritt, erhebt prinzipiell den Anspruch auf Systematik. Was einer Dialektik jedoch Systematik heißt, pflegt sie aus sich selbst abzuleiten. Systematik ist für die Dialektik die Entfaltung des Wissens zum System, zum geschlossenen Ganzen philosophischen Wissens. Systematisches Denken, welches sich nicht zum System formt, ist die implizierte Prätention jener wesentlichen Gestalt nachhegelscher Dialektik, die uns bei ADORNO begegnet. ADORNOS Dialektik^ beansprucht — indem sie sich zugleich als Antisytem bestimmt (ND. 8) — eine neue Verbindlichkeit. Durch solche Verbindlichkeit hebt sich diese Philosophie bestimmt ab von Kontemplation und Meditation. Die Idee einer ,Negativen Dialektik' ist die Idee einer konsequenten Systematik, welche sich systematisch als Antisystematik entfalten will. Negative Dialektik ist Antisystem zu jener höchsten Aufgipfelung systematischen Denkens, welche ADORNO in der Hegelschen Philosophie erkennt. ADORNOS Kritik am System und am systematischen Denken will aber selbst jene „Kraft und Kohärenz" entbinden, „welche die idealistischen Systeme ans transzendentale Subjekt überschrieben" (ND. 34). Ist das systemstiftende Ichprinzip als die reine jeglichem Inhalt vorgeordnete Methode die Grundgestalt der Rationalität idealistischer Systeme, so hat sich die Kritik davon abzusetzen. Indem sich ADORNOS Kritik am Systemgedanken wesentlich gegen Hegel bestimmt, bleibt sie zugleich durch diesen Gedanken gebunden. Weil, wie ADORNO festhält, der systematische Zug einzig in der Negation (über-) lebt (ND. 36), kommt die Systematik Negativer Dialektik nicht von sich selbst her. Das Negierte bestimmt noch das Negat zu einem Negativ. Das Eigentümlidie einer solcherart negativen Systematik muß sich anhand ihrer Kategorien beleuchten lassen. „System" ist für ADORNO die „widersinnig-rational erzeugte Ordnung": ‘ Zitiert wird nach: T. W. Adorno: Negative Dialektik (= ND). Frankfurt 1966.

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KURT WEISSHAUPT

„Gesetztes, das als Ansidisein auftritt" {ND. 30). Insofern war das philosophische System von Anbeginn antinomisch {ND. 30), die Darstellungsform einer Totalität, der nichts extern blieb, die den Gedanken gegenüber jedem seiner Inhalte absolut setzte und den Inhalt in Gedanken verflüchtigte {ND. 33). Eine simple Liquidation des „Systems" gibt es aber für die Negative Dialektik nicht. ADORNO nimmt die Unterscheidung des Enzyklopädisten d'ALEMBERT, zwischen esprit de Systeme tmd esprit systematique auf. Der so exponierte Doppelsinn philosophischer Systematik erhält in der Negativen Dialektik, den Akzent der einen Seite, des esprit systematique. Ihr bleibt keine andere Wahl, „als die einmal von den Systemen entbundene Kraft des Gedankens in die offenen Bestimmungen der Einzelmomente zu transponieren" (ND. 33). Der systematische Geist verzichtet auf den Geist des Systems und rettet sich ins Partikulare. Nur soviel bleibt ihm am System zu achten, wie ihm das Heterogene als System gegenübertritt (ND. 29). System ist folglich die negative Objektivität, nicht das positive Subjekt (ND. 29). Solche Form des Systems ist der Welt adäquat, die sich dem Inhalt nach der Hegemonie des Gedankens entzieht. Bleibt das System also aus dem philosophischen Gedanken verbannt, so ist zu fragen, wie weit es in der systematischen Bestimmung der Einzelmomente wiederkehrt. Der systematische Geist wäre zu charakterisieren als antisubjektiver, als einer, der nicht aus der Struktur des transzendentalen Subjekts lebt. Solche Systematik weckt Zweifel an ihrer Möglichkeit. Das Antinomische Negativer Dialektik ist hier jenes des systematischen philosophischen Denkens selbst. Der Rückgang auf das reflektierende Subjekt macht als solcher noch das transzendentale geltend. Der esprit de Systeme erweist im esprit systematique allererst sein Wesen. Das reflektierende Subjekt, welches Motor des systematischen Denkens wird, lebt aus dem System seiner eigenen Position. Die Stellung des reflektierenden Subjekts müßte denn auch zum Angelpunkt negativer Systematik werden, solange philosophisches Denken an Subjekte gebunden bleibt. Das reflektierende Subjekt, welches gegen seine eigene es bedingende Struktur denkt, bürdet dem Gedanken mehr an Arbeit und Anstrengung auf, als was Hegel so nennt (ND. 36). Die Kraft solcher Spekulation will noch das Unauflösliche eigenen Bedingtseins aufsprengen, nicht es im Anderen durchsetzen. Der dialektische Immanenzzusammenhang ist aber total (ND. 143). Das reflektierende Subjekt, wie sehr es sich auch als individuelles akzentuiert, reflektiert sich nur in Bestimmungen jener überwältigenden Objektivität, die das einzelne Subjekt in ihre Systematik auf-

Adornos Modellanalyse

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gelöst hat. Der Vorrang des Objektiven^ jene besondere Modifikation materialistischer Dialektik bei ADORNO, wird in verschiedenen Momenten gedacht: Die Einheit der total vergesellschafteten Gesellschaft vor dem vergesellschafteten Individuum; die Priorität der Natur vor aller Subjektivität; der Vorrang des Leidens an dem, was auf den Subjekten lastet. Denken, welches den Primat des Objektiven setzt, kann keinen absolutistischen Erkenntnisanspruch stellen. Es beruft sich nur mehr auf Selbstreflexion, der Grundkategorie Negativer Dialektik. Diese gehört selbst dem objektiven (Verblendungs-)Zusammenhang an, den sie zu durchdringen versucht. Darin bleibt sie endlich und zugleich Moment des Ganzen. ADORNO schreibt: „Eine Sache selbst begreifen, nicht sie bloß einpassen, auf dem Bezugsystem antragen, ist nichts anderes, als das Einzelmoment in seinem immanenten Zusammenhang mit anderen gewahren." (ND. 34) Als diese Sache kann auch das reflektierende Subjekt gelten, wenn es sich zu begreifen trachtet. Die Rede vom „Einzelmoment in seinem immanenten Zusammenhang" ist von ADORNO zumindest zweisinnig gebraucht. Zunächst ist der dem Moment selbst immanente Zusammenhang mit anderen Momenten gemeint, dann ein die Momente übergreifender Zusammenhang, welcher nicht mehr das Hegelsche Ganze ist. ADORNO faßt den Einzelmomente übergreifenden Immanenzzusammenhang als Modell. Dieses ist ein Fragment als Form der Philosophie, eine Vorstellung einer als solcher unvorstellbaren Totalität im Partikularen (ND. 37). Einzelmoment im Modell ist aber auch immer das reflektierende Subjekt, welches sich modell-immanent anderen Momenten zuwendet bzw. moment-immanent durch sie bestimmt ist. Das Modell ist das in sich geschlossene System, welches sich weiteren noch unbestimmten Momenten nach außen offenhält. Darin unterscheidet es sich vom geschlossenen System Hegels. Die Offenheit der geschlossenen Systeme macht die Modelle wahrhaft zu werdenden. Das Einzelmoment, das im immanenten Zusammenhang mit anderen gewahrt wird, ist nicht praeterminiert durch ein Ganzes, wie bei Hegel, wo das System in der Einzelbestimmung implizit bereits vorgedacht war (ND. 36). Vom Objekt her besteht das Modell auf der inneren Einheit der Momente. Im Einzelmoment aber praetendiert es, den Gedanken wirklich an die Sache zu entäußern, und nicht an ihre Kategorie. Nicht der systematische Gedanke soll das Moment bewältigen, und damit seiner eigenen Form, der Form des Systems, unterwerfen. Der nervus rerum der Negativen Dialektik ist der a-systematische Gedanke, der im Einzelmoment sidi ins Einzelne versenkt. In der so zum Extrem gesteigerten dialektischen Immanenz bricht das reflektierende Subjekt aus dem Gedanken und Ge-

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KURT WEISSHAUPT

genstand aus, denkt a-systematisdi, schneidet den Identitätsanspruch, den Denken als solches erhebt, ab {ND. 37). Der a-systematische Gedanke ist unabhängiger als in der Konzeption seiner systematischen Absolutheit. Er beansprucht wieder das Moment der Freiheit gegen das System. Die spekulative Kraft des freien Gedankens bleibt aber die Negation, und so affiziert Systematik auch ihn. Ist der freie Gedanke Kritik am System, so ist seine Kategorie zugleich diejenige, welche das Besondere begreift (ND. 36; vgl. auch ND. 132). Der a-systematische Gedanke gewahrt am Phänomen mehr als es bloß ist. Im Moment solcher Transzendenz des Gedankens soll das Unauflösliche aufgesprengt werden, der Bannkreis der Identität zerfallen. Wie gewinnt das a-systematische Denken seine Verbindlichkeit? ADORNO schreibt: „Die Forderung nach Verbindlichkeit ohne System ist die nach Denkmodellen. Diese sind nicht bloß monadologischer Art. Das Modell trifft das Spezifische und mehr als das Spezifische, ohne es in seinem allgemeineren Oberbegriff zu verflüchtigen. Philosophisch denken ist soviel wie in Modellen denken; negative Dialektik ein Ensemble von Modellanalysen." (ND. 37) Bestimmt im System der Geist des Systems auch die Einzelmomente wesentlich, so entfaltet sich die Systematik als das Hinordnen dieser Momente auf das Ganze. Das Modell resultiert nicht als das Abschneiden und Gruppieren von einigen Einzelmomenten eines durchgestrichenen Ganzen. So bliebe es monadologisch. Dies bleibt es gewiß auch; es rekapituliert die Struktur des Systems im Partikularen. Zugleich aber greift es im a-systematischen Gedanken nach außen, akzentuiert das dem Denken Heterogene, ohne es begrifflich aufzulösen. Philosophisches Denken verläuft in solchen Modellen. Die dem Modell eigene Systematik zeigt sich der Analyse. Diese ist Abhebung des Modells auf sein Formales und Verbindliches hin. Als das Ensemble solcher Formalität von Modellen läßt sich negative Dialektik bestimmen. In der Idee der Negativen Dialektik als eines Ensembles von Modellanalysen wird folglich ihr systematisches Verfahren angezeigt. Einerseits ist das Modell ein auf einzelne Momente verkürztes System, andererseits waltet in ihm ein freieres An-denken an das Heterogene, welches nicht durch System-zwang sich legitimiert, sondern sich im subjektiven Argument eine neue Legitimation schafft. Das immer noch immanente Argumentative solch subjektiver Spekulation ist legitim, wenn es die zum System rezipierte Wirklichkeit gegen das System aufzubieten vermag (ND.

Adornos Modellanalyse

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8). Dies geschieht dennoch mit konsequenzlogischen Mitteln (ND. 8), ist argumentativem Denken nachvollziehbar. Die beiden Seiten dieser Systematik des Modells, systemkonformer objektiver und asystematisch subjektiver Geist, verschmelzen nicht bruchlos. Die Paradoxie wird Prinzip der Systematik, erkennt sich aber als einzige Möglichkeit philosophischer Entwicklung. Der unreglementierte Gedanke bestimmt sich durch die Sache anders, als der reglementiert dialektische gegen sie anrennt. Der offene Gedanke, das sich freisetzende reflektierende Subjekt konstelliert das Etwas, die Sache, die zu denken ist, zum Modell, um ihre Einzelmomente systematisch auf ihr Ungedachtes hin zu transzendieren: durch negative Dialektik. Die dem Modell eigene Idee der Systematik ist in einigen seiner Kategorien anzuzeigen. (Solches Anzeigen bleibt äußerlich; adäquat könnte die Systematik nur im eigenen Modell „Systematik" entfaltet werden.) 1. Das Modell ist Modell durch die Sache, die es vergegenwärtigt. Das Sachhaltige bestimmt die konkrete Methodik der Entfaltung. Nicht das Subjekt, die Sache einigt die Momente — für das Subjekt. 2. Das Denken wird der Konstellation gewahr, in der die Sache steht. Dies heißt soviel wie: diejenige Konstellation entziffern, welche die Sache als gewordene in sich trägt (ND. 163). 3. Dies fordert, die in der Sache sedimierte Geschichte zu entbinden. Sie ist die dem Einzelnen immanente Allgemeinheit, sein historisches Werden, das es in sich hat. „Erkenntnis des Gegenstandes in seiner Konstellation ist die des Prozesses, den er in sich aufspeichert" (ND. 164). (Die immanent historische Genesis des Moments bestimmt auch deren systematische Position, d. h. die Position in der Konstellation.) 4. Im Begreifen der Sache tritt der begreifende Gedanke selbst in Konstellation mit den Begriffen der Sache. Er bildet das einigende Moment, ohne Negation der Negation, und ohne daß er fortschreitet zum allgemeineren Oberbegriff. Indem der begreifende Gedanke der Konstellation der Sache gewahr wird, bringt er sie selbst in Konstellation mit Begriffen, die ihr Spezifisches belichten. (ND. 162) (Modell der Konstellation ist die Sprache, die, wo sie als Sprache auftritt, nicht ihre Begriffe definiert, sondern deren Objektivität durch das Verhältnis schafft, in welchen sie die Begriffe um eine Sache zentriert.) (ND. 162) 5. Die Dialektik des Modells ist eine der Gleichrangigkeit der Momente, auch des Moments der subjektiven Reflexion. So appliziert sie die „absolute Idee" Hegels, das „System der Totalität", aufs Modell und in

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KURT WEISSHAUPT

ihm genauer aufs Einzelmoment. Hier, im Einzelnen, wird die positive Dialektik zu Fall gebracht. Der asystematische Gedanke, der Verzicht auf Identität und Geschlossenheit, treibt durch die Dialektik über sie hinaus. Indem das Einzelne sich nicht als jenes System der Totalität erweist, indem es dem Begriff widerspricht, strandet Dialektik als Verfahren des Identifizierens. Der an der Sache erfahrene Widerspruch treibt Dialektik in die Systematik des Widersprüchlichen. In dieser Systematik ist nur weiterzukommen, wenn ADORNOS Denken nicht länger als Essayistik verabschiedet, sondern als Philosophie gelesen wird.

MIHAILO MARKOVIC (BELGRAD)

IS SYSTEMATIC PHILOSOPHY POSSIBLE TODAY?

1

Like any other general question, the question about the possibility of a systematic philosophy covers a large number of different particular questions. A first such particular question is: what does the Word "possible" mean here? Is this the question about the logical possibility of a systematic philosophy? If yes, then the answer to the general problem would also be an affirmative one. There is nothing in the historically evolved idea of philosophy which excludes the possibility of building again the great Systems in the style of SPINOZA or Hegel. (Surely one can define the concept of philosophy in such a way that the answer to our general question follows analytically. But in this case would both the question and the answer be quite trivial.) The more interesting question would, of course, be: is building up of philosophy in the form of an all-embracing System really possible in 1975? And the term "real possibility" means here that in presentday social life there are certain social forces (attitudes, accumulated experiences, beliefs, trends of thought, fears, institutions) which constitute boundary conditions of any present day Creative activity in the field of culture. These actual forces exclude many conceivable forms of cultural life and reduce the enormous set of logical possibilities to a much more narrow subset of real historical possibilities. In that sense the question asked earlier actually is: Is it really possible to creatively build up philosophy as a systematic theory after Hegel and other Contemporary philosophers have exhausted all possibilities in that direction and after all negative experiences with attempts of that kind. Is it really possible for systematic philosophy to become anything more than worthless pedantic pseudocreativity of retired academicians, unable to reach out into the world of living culture in an age characterised by intense experimentation, by cri-

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MIHAILO MARKOVIC

ticism and analysis of existing forms rather than by efforts to create great new syntheses? We realize here that the question about the real possibilities is not purely descriptive. It is not the question whether, as a matter of fact, philosophical Systems can be built, independently of or contrary to the big streams of the time, disregarding completely the fruitfulness of such endeavours. The question implies a value judgment: Can the rehabilitation of the systematic thinking contribute something essentially fruitful to the development of Contemporary philosophy? The real Problem is then: What are the possible advantages, and what are the basic limitations of a systematic philosophical thinking? 2.

This leads us to the second preliminary question. There are many different ways of systematic thinking. What do we mean, then, when we ask about systematic philosophy? Is it systematic philosophical thinking in the style of SPINOZA, more geometrico, or in the Hegelian dialectical form, or in the tradition of logical positivism of young WITTGENSTEIN and CARNAP, or perhaps in the sense in whidi STALIN attempted to systematize MARxist philosophy? One could propose a typology of the forms of systematic philosophical thinking on the basis of the following two basic distinctions: On the one hand, there are static and dynamic Systems; the former expound synchronic relations within a given and completed body of knowledge (consciousness), the latter express diachronic relations among the elements-stages of an evolving process of cognition and historical consciousness. On the other hand, there are absolute Systems (that aim to embrace the totality of being in a spatially and temporally unlimited way) and Systems which are relative (in the sense of referring themselves to a limited field and a limited historical epodi or depending on logical properties of a particular form of language). When we cross both criteria we obtain the following four types of philosophical Systems;

(1) Absolute static Systems — as in

SPINOZA'S

Ethics;

(2) Relative static Systems — as in WITTGENSTEIN'S Tractatus Logicophilosophicus or in CARNAP'S Logischer Aufbau der Welt;

(3) Absolute dynamic Systems, the best example of which is HegeTs Encyklopaedie der philosophischen Wissenschaften;

Is Systematic Philosophy Possible Today?

695

(4) Relative dynamic Systems — as in the above mentioned attempt of STALIN

and bis followers

(ROSENTHAL, LEONOV

and others).

The essential limitation of all static Systems is that they completely miss the historical dimension of consciousness and knowledge, and construe, therefore, the particular form of consciousness of a certain historical period as something frozen and merely given. The interest for the heuristic problem, for the conditions of emergence and development of ideas is completely absent. The onesided interest in demonstration, in logical derivation prevails in a quite exclusive way. However what diaracterizes any formal logical procedure of demonstrations is that some categories, some initial Statements, some rules of derivation must be simply postulated and not derived themselves as the products of the preceding historical development of culture. Now as the philosophical critique of each System of this kind shows, the basic philosophical ideas generated by the method of postulation are invariably either naive or simply wrong. It was naive to believe that the basic assumptions of the System were universally valid and evident — therefore such an interpretation of the basic premises of a System was later given up. On the other hand, it was simply untrue to characterise Protokollsätze in CARNAP'S System or “Atomic Statements“ in WITTGENSTEIN'S Tractatus as the most elementary, simple data of consciousness and pictures of the elementary facts of the real world. Already at the time when these Systems were created it was well known that those Statements always formulated the results of selection and interpretation in the process of perception. Long before, Hegel had convincingly shown (in his Phenomenology of Mind) that any apparently immediate and concrete act of consciousness involved mediation through certain general and abstract categories (such as Now, Here, This, etc.). In such a way any System built up by the exclusive application of a static, formal logical method has to freeze the epistemological process — to put all history “into brackets,“ and to artificially build up a starting point. While this method contributes to revealing the architecture of a body of knowledge it, at the same time, leaves obscure and hidden its true foundation as well as the structure of the historical process that brought it about. Hegel's dialectical System has the great advantage that its categories are genetically derived from each other and not postulated in a dogmatic way. The logical structure is here identified with the pattem of spiritual history. However, the real history is open and has a real future that is not fully determined and predictable. Whereas an absolute System is closed and cannot tolerate anything that deviates from the ideal logical

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MIHAILO MARKOVIC

Order — and is therefore considered irrational, unthinkable. A System of the Hegelian type is, at best, able to describe the structure of the past so adequately that real phenomena look rational and all that is rational seems to have its reality. And yet life is infinitely richer than any abstract System and invariably defies its constraints, its rules and "laws." As time passes more and more "unthinkable" phenomena actually take place and then become the past. More and more real historical processes have to be characterized from the point of view of the System as irrational, accidental phenomena, as mere unhistorical deviations, as arbitrary, capricious acts. On the other hand the "thinkable," "historically necessary" and rational patterns of the System increasingly lose their relevancy and applicability and turn into empty, dead constructions without any explanatory and predictive power. The sets of logical and real possibilities become increasingly disparate. Under these conditions the System no longer offers an adequate paradigm for the understanding of past history, let alone the present and the future. Dialectic is incompatible with the idea of an absolute System. The attempts made until now to build up dynamic, non-absolute Systems are of limited philosophical value. For our purpose it could be of some interest to notice that here a specific form of dogmatism is possible. In the System of Dialectical Materialism of STALIN and his followers there is a dynamic and historically relative object-theory coupled with a static and absolute meta-theory. The object-theory deals with movement and change in all material, social and psychic phenomena, and in particular it deals with the forms and laws of a progressive historical development. However, at the level of metatheory the principles of materialism and dialectic have been postulated in a dogmatic way as eternal truths which do not allow any later revision in the light oft subsequent experiences and discoveries. Thus it seems that all those well known types of systematic philosophical thinking have very serious limitations. To the extent to which philosophy is relevant for and applicable to the problems of real human life every systematization, every attempt to identify the historical with the logical seems to lead to a negation of the really historical and to a hypostatization of the abstract logical. 3

Is then a non-systematic, analytic piecemeal method the only alternative of modern philosophical thinking?

Is Systematic Philosophy Possible Today?

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Nowadays we already have a rieh experience with modern analytical philosophy. It is in a profound crisis, both theoretically and socially.

The essential theoretical limitation of a non-systematic philosophical thought is its escape from the most difficult philosophical problems such as: establishing mediating links between Solutions of problems that belong to different fields of philosophical inquiry, stating explicitly hidden premises, resolving existing inconsistencies among them, justifying them without vicious circle or begging the question. When we, following one of the CARXESian rules, temporarily leave aside those most difficult problems in order to return to them later, this is a perfectly sound methodological procedure. But when we try to get rid of Synthesis in the name of analysis and even turn this vice into virtue then there is really no reason to be permanently satisfied with this specific expression of philosophical laziness.

The following illustration should clearly indicate how much piecemeal approach in philosophy leaves to be desired. It is relatively easy to analyse meaning in terms of truth-conditions of sentences as many authors have done. It is also rather comfortable to discuss the problem of truth assuming that we already know what the meaning of meaning is. But one who has to build up a philosophical theory of both truth and meaning has to solve difficult problems of explicating at least one of the two without reference to the other. Separate treatment of the two allows one to gloss over that highly challenging task. A similar Situation arises when one deals with the concepts of causality, necessity, law of nature. When these are discussed in isolation from each other the most difficult problem of explicating at least one of them without reference to the other two is avoided. Thus part of the meaning of a cause is that it is a necessary condition. Necessity in the non-logical, empirical sense can hardly be explicated without reference to the laws that govern phenomena of the given field. But when it comes to the explication of the law of nature the idea of necessity will in most cases be either explicitly presupposed or smuggled in. And here we do not notice circulus vitiosus only because it happens in isolated papers. The most difficult problems arise only when one attempts a systematic theory of determination embracing all three and many other concepts.

And in order to avoid impression that this sort of critique is relevant only to analytic philosophy an example of lazy MARXist non-systematic humanist thinking will be given. In separate papers of MARxist humanists, even in those of one individual author, one finds, time and again, the following vicious circle: Man is being defined as a being of praxis and

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MIHAILO MARKOVIC

praxis as a specifically human, free, Creative activity. Then freedom is interpreted as essentially (human) self-realization. But then self-realization is in turn taken to mean the actualization of man as a being of praxis. Mere awareness of a difficulty here creates a need for a more systematic approach. A different dass of cases are those where the purpose of inquiry is not so much to give full philosophical analysis of a category in its various dimensions but to examine as thoroughly as possible only one of its dimensions. Sudr analysis could be technically extremely sophisticated and give quite a substantial contribution of a lasting philosophical value. Such are the cases of TARSKI'S semantical theory of truth and POPPER'S theory of falsification. But in both cases something philosophically very essential is missing, precisely due to the fragmentary character of the theories in question. TARSKI'S theory is fully elaborated for a formal language, which is not and will hardly ever be the language of philosophy. What is of general philosophical importance is his scheme for constructing specific theories of truth and the basic idea on which this scheme rests. And this basic idea is of very little informative value: A Statement is true when it is satisfied by all objects (Gegenstände) to which it refers. The analysis stops here. But the most difHeult question arises when we ask: What does it mean to be an object. Very often we accept something as an object (for example, we begin to speak about positrons, mesons, neutrinos, hadrons, beryons, quarks, gluons as really existing subatomic particles) only when we know that some corresponding Statements are true. If one diooses not to build up a systematic philosophy of both truth (which is an epistemological problem) and object (which is an ontological problem) there are two ways to avoid vicious circle: (1) to postulate one of them, (2) to assume the attitude of complete tolerance and declare that everbody is free to use one of them in whatever way he wants. The former could lead to unnecessary multiplication of assumed entities: only within a System their number could be reduced to minimum. The latter leads to complete relativization of concepts: once anything may be considered object if one chooses so, also any Statement may be considered true that is satisfied by such an object. A striking example of the incompatibility of the results of non-systematic inquiry in different fields may be found in POPPER'S philosophy when one compares his epistemological theory of falsification and his recent ontological theory of the third world. On the one hand we can

Is Systematic Philosophy Possible Today?

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never know whether a theory is true; we can only test it and establish that it is false if it is in contradiction with Statements which formulate data of experience. And this falsifiability is the essential characteristic of scientific Statements; it furnishes the criterion of demarcation between Science and metaphysics. On the other hand^ there is a vvorld in addition to the World of material objects and the world of psychic processes, which is constituted — among other things by the meanings of all our Statements. However, if falsification is really possible, such a world is unthinkable: In what sense can the meaning of a factually false Statement have an objective meaning, independently of psychic processes in erring individuals? With respect to social problems the standpoint of a peacemeal analysis does not encourage a bold and imaginative critical approach. The criticism of isolated elements, parts, dimensions of a System may only lead to modifications and limited reforms of the System. Thus, behind a non-systematic philosophy an ideology of the Status quo preservation is often hidden. In Order to transcend the Status quo one has to see given historical reality as a whole and has to ask the question of the total condition of men in the existing historical Situation.

4

The preceding analysis leads to the following conclusion: Non-systematic thinking about isolated problems is only one phase of the philosophical inquiry, that phase in which separate elements and abstracted relations among them have to be studied and described. Without this phase a philosopher is always tempted to try and speak about the whole (the world, human mind, historical Situation at a given time) in a direct way, without mediation — therefore superficially (when the talent is small) or mystically (when a genius is in question). Nevertheless the results of this indispensable analytical phase are unfinished products. It is necessary to establish links among them, to continue search where it was stopped, to look for deeper common grounds where two particulars were mutually derived from each other. The initial abstract totality was decomposed and carefully studied piece by piece in the analytical phase. Now time comes to attempt a synthetic reconstruction of the whole, whidi by now should emerge as a relatively concrete, systematic totality with apparently distinct levels, dimensions, elements and relations among them. What, in difference

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of the age of Hegel and other great system-builders, would be utterly naive is not tbe very aspiration to systematize all philosophical knowledge and culture within one tradition but the Illusion that all traditions could be shown to be only special cases of one, and, furthermore, that such a System exhausts all possibilities of future development. A modern systematic thinker hardly has any alternative but to accept plurality of great existing streams of philosophical thought and to regard a systematic philosophical theory as, at best, the most adequate approximation to the imensely rieh and complex real structure of the world. After Hegel it is no longer possible to believe that one philosophical System can embrace all other Systems and trends as mere incomplete truths, as special moments of the absolute truth expounded by it. Surely some theories are richer and more complex than others and do embrace their Solutions of certain philosophical problems as the special cases of their own,more general Solutions. —Thishelps us toavoid relativism and to introduce an important criterion of evaluation of different alternative philosophical approaches. But when we compare most important present day trends; empiricism, phenomenology, MARxism, structuralism, we notice immediately that they do not all deal with the same problems and that, therefore, some Statements that are considered true within one trend are not incomplete truths but irrelevant, pointless, within the other. Part of empiricist tradition has always been strong interest in the problem of Validation of knowledge, much lesser in the problem of its growth and non-existent in the problem of the transition from one paradigm to the other. The latter was traditionally, until KUHN and LAKATOS, considered an issue that does not belong to philosophy but at best to psychology and sociology — an issue that escapes rational consideration. MARxist dialectic, on the other hand, tends to throw light precisely on this point in the history of knowledge, offering the principles that regulate precisely this discontinuity. On the other hand a MARxist tends to completely leave aside what a phenomenologist is doing when he tries to describe phenomena as they look to a completely neutral, unprejudiced, value-free mind. They both might search for objectivity but one finds it in the Suspension of all previous beliefs, the other in search for universal potential characteristics of human being, in Suspension of particularity wherever it is incompatible with that basic human universality. What the phenomenologist has to say about ideal objective essences introspected by an unbiased, non-committed thinker cannot always be incorporated into MARXist theory even as a partial truth, the MARxist does not believe either that there

Is Systematic Philosophy Possible Today?

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are such ideal essences, or that there are unbiased, non-committed thinkers, therefore to him phenomenological descriptions make sense only when he takes them to be something quite different from what they pretend to be: expressions of the state of mind of people unaware of prejudice and values that direct them.

It is interesting to note that even within one great tradition there might be so great differences between more specific Orientations that systematic Organization of ideas within one will leave outside its scope essential elements of the other. RussELLian ontology is irrelevant for a purely linguistic Orientation within empiricist tradition. In a similar way within Contemporary MARxism ontological interpretation in the style of ENGELS' Dialectic of Nature looks obsolete and pointless to a humanist who sees dialectic only in history because only from the human point of view it makes sense to speak about progress, and transcendence.

This plurality of possible perspectives for philosophical systematization should not be confused with mere pluralism, in the same way in which relativity must not be mixed up with relativism. Both plurality and relativity allow overlapping and a ground common to all. In the same way in which relativity of space and time goes together with equal absolute validity of laws in all Systems, so relativity of human perspectives goes together with the assumption that there is just one world in which we all live and one universal ground for referring to individuals of different generations, races, nations, sexes and creeds — as members of one human species. The task of giving systematic account of that one world and that one universal human ground of all particular cultures and individual endeavors is the task of the whole history. What is needed is a progressive ongoing totalization. To think systematically does not mean, therefore, to construct one "final", "perfect" System but to keep building up an unfinished series of systematic theories that follow each other in time and transcend each other. Systematic theories have their life-pattern which need not coincide with the life-pattern of the informal, unsystematized philosophical current which gave them birth. Precisely those features which constitute the basic limitation of a poorly organized and not fully spelled out thought may also be the source of its surprising recurrence and longevity. Vagueness, metaphoricality, ambiguity, conciseness of language which reaches the point of obscurity, gaps, inner contradictions, absence of mediation, wild ungrounded projections into future — can utterly compromise a mediocre theory but also prolong the life of a powerful one by challenging the

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imagination of the posterity and making room for ever new reinterpretations and reconstructions. By being systematically spelled out a philosophy takes the same risk as the lover who allows his beloved to know him too well: both lose all their magic and become too clear, too vulnerable, too open for criticism. At the beginning a System is a daring, impressive piece of new architecture that fully reveals all the secrets of a new mind in working. After some time it becomes part of the given established culture: its secrets are being taught in the highschool. Then time comes when it has but historical interest and sometimes becomes a part of enslaving tradition. Every System will be surpassed by life sooner or later. It has to be transcended: its essential inner limitation abolished, its still living elements incorporated into a new whole. The principle of history eventually prevails over that of structure. Surely it could be objected that this series of philosophical Systems does not yet constitute the movement of spiritual life and of historical praxis, that this were only a series of States of peace, of standstill. But that is what thought in general is, at best. Any concept, any Statement, any rule or law is only a moment of peace in eternal flux of phenomena. In that sense is also a philosophical System only a frozen structure of the constantly changing World. A series of Systems which transcend each other and constitute the Steps of a progressive conceptualization of human self-consciousness is the only possible synthesis of history and structure.

XI. FORSCHUNGSBERICHTE

BERICHT DES H E G E L - A R C H I V S DER RUHR-UNIVERSITÄT BOCHUM ÜBER DEN STAND DER EDITION VON HEGELS GESAMMELTEN WERKEN (AM 3 0. 5. 1975)

VON KLAUS DÜSING (BOCHUM)

Die neue historisch-kritische Gesamtausgabe von Hegels Werken wird in Verbindung mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft im Aufträge der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften herausgegeben; eine Hegel-Kommission — früher der Forschungsgemeinschaft, jetzt der Rheinisch-Westfälischen Akademie — betreut diese Edition. Die für die einzelnen Bände verantwortlichen Herausgeber sind in der Regel die Wissenschaftlichen Mitarbeiter, die im Hegel-Archiv der Ruhr-Universität an der Edition arbeiten. Nach DILTHEYS Forderung, Hegels handschriftlichen Nachlaß zu studieren, da man nur unter Hinzuziehung des Nachlasses eine Entwicklungsgeschichte des Hegelschen Denkens rekonstruieren könne sind zahlreiche Einzeleditionen etwa von NOHL, LASSON, HOFFMEISTER U. a. unternommen worden; die Gesamtausgaben wie die Jubiläumsausgabe (veranstaltet von H. GLöCKNER) und die Theorie-Werk-Ausgabe (besorgt von E. MOLDENHAUER und K. M. MICHEL) beruhen dagegen zum größten Teil noch auf der alten Freundesvereinsausgabe. Eine neue historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke Hegels kann jedoch nur auf einer neuen umfassenden Chronologie von Hegels Schrifttum aufbauen, wie sie für den jungen Hegel und Hegels Epoche in Jena inzwischen erarbeitet wurde. ^ Die neue historisch-kritische Hegel-Ausgabe behält den entwicklungsgeschichtlichen Impuls insofern bei, als sie, worauf schon H. HEIMSOETH in der Ankündi-

* Vgl. z. B. W. Dilihey: Die Jugendgeschichte Hegels. In: Gesammelte Schriften. Bd 4. Hrsg. V. H. Nohl. 3. Aufl. Stuttgart und Göttingen 1963. 3 f. 2 Vgl. G. Schüler: Zur Chronologie von Hegels Jugendschriften. In: Hegel-Studien. 2 (1963), 111—159. H. Kimmerle: Zur Chronologie von Hegels Jenaer Schriften. In: Hegel-Studien. 4 (1967), 125—176.

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gung dieser Ausgabe hinwies die vielfach übliche Untergliederung in Abteilungen auf gibt und die Bände durchzählt; ferner werden zusammengehörige Drucktexte und handschriftliche Entwürfe in demselben Band oder zumindest in benachbarten Bänden ediert. Damit soll die unterschiedliche Bewertung, die Hegel seinen Texten selbst verlieh, indem er die einen publizierte, die Publikation der anderen unterdrückte oder gar nicht erst plante, nicht vernachlässigt werden. Abgesehen von der entsprechenden Erklärung im editorischen Bericht wird bei umfangreicheren Texten aus dem Nachlaß meistens im Untertitel, bei kleineren oft im Titel der Manuskriptzustand angegeben, z. B. „Fragment einer Reinschrift" (die aber nicht zur Publikation gelangte) oder „Vorlesungsmanuskripte" oder „Gliederungsnotiz" und dgl. Das entwicklungsgeschichtliche Prinzip führt ebenso dazu, verschiedene Bände zu Gruppen zusammenzufassen, die eine ganze Epoche in Hegels Denken bezeichnen, z. B. Jugendschriften oder Jenaer Schriften. — Zu dem Text, dem textkritischen Apparat und dem editorischen Bericht kommen in jedem Band noch die Anmerkungen, die zwar keinen philosophischen Kommentar, wohl aber historisch-sachliche Informationen liefern. Durch sie soll vor allem der geistesgeschichtliche, wissenschaftsgeschichtliche bzw. politikgeschichtliche Kontext, auf den Hegels Ausführungen sich jeweils selbst beziehen, erschlossen werden. Der Edition der von Hegel veröffentlichten Texte und des dazugehörigen handschriftlichen Nachlasses soll dann die Edition der Vorlesungen aus Hegels Berliner Zeit, des Briefwechsels sowie der Dokumente folgen. Als Abschluß ist ein Indexband für die gesamte Ausgabe geplant. — Für nähere Angaben zur Entstehung der neuen Hegel-Ausgabe und zur Arbeit des Hegel-Archivs (bis 1970) sei auf die entsprechenden Berichte von O. PöGGELER verwiesen. ^ — Zur Zeit liegen vor: Band 4: ]enaer Kritische Schriften, Band 6 (soeben erschienen): Jenaer Systementwürfe I und Band 7: Jenaer Systementwürfe II; in Kürze ersdieint Band 8: Jenaer Systementwürfe III. Im einzelnen soll nun die editorische Arbeit und Planung näher beschrieben werden, die die Texte aus Hegels Jugendzeit (bis i8oo), aus seiner Jenaer Zeit sowie aus seiner Bamberger und Nürnberger Zeit betreffen. ® H. Heimsoeth: Die Hegel-Ausgabe der Deutschen Forsdiungsgemeinschaft. In:

Kant-Studien. 51 (1959/60), 506—511.

* Vgl. O. Pöggeler: Perspektiven der Hegel-Forschung. In: Stuttgarter Hegel-Tage 1970. Bonn 1974. (Hegel-Studien. Beiheft 11.) Bes. 86 ff. Ders.: Zwischen Philosophie und Philologie. Das Hegel-Archiv der Ruhr-Universität Bochum. In: Jahrbuch 1970 der Ruhr-Universität Bochum.

Erschien Hamburg 1976.

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I. Hegels Jugendschriften Über die Jugendschriften soll hier relativ kurz berichtet werden; sie enthalten Hegels frühe Texte von 1785 an bis zum Ende seiner Frankfurter Zeit 1800/1801. Ausgenommen sind nur die Briefe, die, wie erwähnt, insgesamt zu den Schlußteilen der Ausgabe gehören sollen, und einige Fragmente vom Ende des genannten Zeitraums, die Vorarbeiten zur Verfassungsschrift darstellen und aus inhaltlichen Gründen mit dieser zusammen in einem anderen Band ediert werden. Hegels handschriftliche Texte aus der Jugendzeit sind zu einem großen Teil erhalten; nur wenige sind lediglich indirekt, nämlich bei ROSENKRANZ, THAULOW bzw. in der Freundesvereinsausgabe überliefert. ® Der Band 1 dieser Hegel-Ausgabe, der von FRIEDHELM NICOLIN und GISELA VON EINEM-SCHüLER herausgegeben wird und der im wesentlichen fertiggestellt ist, nämlich Jugendschriften I, bringt Hegels Schriften von der Gymnasialzeit (1785) an bis zum Ende seines Berner Aufenthalts 1796, also außer Schulaufsätzen, Tagebuchaufzeichnungen ® und Predigtübungen vor allem die Fragmente über die Themen: Volksreligion und Christentum, das Leben Jesu und das Problem der Positivität. Ferner enthält er das Gedicht: „Eleusis". Auch die sog. „Materialien zur Philosophie des subjektiven Geistes", die besser als Notizen zur „Psychologie und Transzendentalphilosophie" zu bezeichnen sind, werden hier ediert, und zwar unter Verwendung eines diplomatisch genauen Apparats wesentlich manuskriptgetreuer als bisher. Vor einigen Jahren wurde hierzu — im Rahmen der Untersuchungen von D. HENRICH zur Frühgeschichte des deutschen Idealismus — die Quelle aufgefunden, nämlich eine Vorlesung des Tübinger Professors FLATT, die in den Anmerkungen mitgeteilt wird. Im Band 1 werden außerdem die Prinzipien der historisch-kritischen Edition der gesamten Hegel-Ausgabe dargestellt. Von den von Hegel verfaßten Texten werden die Exzerpte aus der Jugendzeit gesondert und von denselben Herausgebern in einem eigenen Band jeweils mit Vorlage der Quelle Hegels zusammengestellt und ediert. Es handelt sich um Band 3 der Ausgabe, Exzerpte IJ85—1800, der ebenfalls zum größten Teil fertiggestellt ist. Er gibt Aufschluß darüber mit welchen Texten und Themen sich der junge Hegel näher befaßt hat. ® Vgl. K. Rosenkranz: Hegels Leben. Berlin 1844; z. B. 470—490, 87 f u. a. G. Thaulow; Hegels Ansichten über Erziehung und Unterricht. T. 1—3. BCiel 1853—54. Bes. T. 3. 1—164. Hegel: Werke. Bd 17. Hrsg. v. F. Förster und L. Boumann. Berlin 1835. 406—410. * Zu Hegels Schülerzeit in Stuttgart vgl. Der junge Hegel in Stuttgart. Aufsätze und Tagebuchaufzeichnungen 1785—1788. Hrsg. v. F. Nicolin. Stuttgart 1970.

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Band 2, der erst künftig in Arbeit genommen wird, nämlich Jugendschriften 11, soll Hegels Frankfurter Schriften mit den vorhin angegebenen Ausnahmen enthalten. Er bringt z. B. das sog. „älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus"; über die Frage des Verfassers dieses Fragments wird neuerdings wieder diskutiert und es hat sich als möglich, m. E. sogar als wahrscheinlich herausgestellt, daß Hegel nicht nur der Schreiber, sondern auch der Verfasser ist. — Ferner wird hier die anonym erschienene Übersetzung und Bearbeitung der „Vertraulichen Briefe" über das Wadtland von CART herausgegeben. Das Hauptproblem der Edition dieses Bandes dürfte aber die Darbietung der Fragmente sein, die Nohl früher unter dem Titel: „Der Geist des Christentums und sein Schicksal" erstmals veröffentlicht hat. In diesen Manuskripten finden sich zwei Stufen oder Fassungen; die Edition muß sie eindeutig voneinander unterscheiden und kenntlich machen, wie die Überarbeitung aus der ersten Niederschrift entstanden ist. Erst dann läßt sich z. B. deutlich erkennen, wie Hegel zunächst mit dem Frankfurter Freundeskreis von der Voraussetzung des der Reflexion überlegenen Einen Seins ausging und dann die Struktur dieser Einheit weiterentwickelte. 11. Hegels Jenaer Schriften In den Bänden 4 bis 9 werden Hegels Jenaer Schriften herausgegeben. Der Bruch mit seinem früheren Frankfurter Ansatz ist bereits zu Beginn seiner Epoche in Jena offenkundig. Zum ersten Mal konzipiert Hegel eine Vernunfterkenntnis des Absoluten und damit eine Metaphysik als systematische Wissenschaft. Er sucht zunächst einzelne Systemteile und dann in verschiedenen voneinander abweichenden Entwürfen ein Gesamtsystem aufzustellen, das freilich unvollendet bleibt. Die Entwicklung dieser unterschiedlichen Ansätze, die zugleich eine Entwicklung von Argumenten ist, kann erst aufgrund einer vollständigen kritischen Edition von Hegels Jenaer Schriften erkannt, dargestellt und beurteilt werden. Eine erste Anordnung der verschiedenen Entwürfe zum Gesamtsystem liegt schon der neuen Einteilung einer Gruppe von Bänden dieser Ausgabe in Jenaer Systementwürfe 1,11 und 111 zugrunde. Die Jenaer Schriften Hegels liegen in der neuen Edition z. T. vor, z. T. ist die Fertigstellung und Veröffentlichung abzusehen. Band 4 mit dem

V.

’’ Vgl. die verschiedenen Stellungnahmen in: Das älteste Systemprogramm. Hrsg. R. Bubner. Bonn 1973. (Hegel-Studien. Beiheft 9.)

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Titel: ]enaer Kritische Schriften, herausgegeben von H. BüCHNER und O. PöGGELER, erschien schon 1968 und braucht hier daher nur kurz behandelt zu werden. Er enthält in der Hauptsache die von Hegel veröffentlichten Texte aus dem Anfang seiner Jenaer Zeit, die Dif/erenz-Schrift, das Kritische Journal von Hegel und SCHELLING sowie weitere Rezensionen von Hegel. Band 5 mit dem Titel: Schriften und Entwürfe iygg—1808 ist noch in Arbeit; es arbeiten daran z. Z. M. BAUM und K. MEIST. Dieser Band bringt zum überwiegenden Teil Schriften aus der ersten Hälfte von Hegels Jenaer Zeit (1801—1803) die Habilitationsschrift: De orbitis planetarum, das Reinschriftfragment: System der Sittlichkeit und die verschiedenen Entwürfe zur Verfassungsschrift. Man sieht besonders an den beiden zuerst genannten Texten, wie Hegel bereits einzelne Systemteile ausführt. — Zur Verfassungsschrift gibt es Vorstufen, die ebenfalls in diesem Band ediert werden, die aber noch in Hegels Frankfurter Zeit zurückreichen. Editorisch schwierig gestaltet sich vor allem die Anordnung der dann folgenden Jenaer Fragmente zur Verfassung Deutschlands. Die Vorschläge der bisherigen Editionen hierzu können jedenfalls nicht beibehalten werden; der fragmentarische Charakter der verschiedenen Entwürfe und der Reinschrift soll in der neuen Edition deutlich werden. — Einen weiteren wichtigen Teil dieses Bandes bildet die Edition von nur indirekt, nämlich bei ROSENKRANZ und HAYM ® überlieferten Texten. Sie erlauben z. B. die umrißhafte Rekonstruktion einer von Hegels späteren Konzeptionen erheblich abweichenden Logik und Metaphysik von 1801/02 (bzw. 1802/03) oder geben einen Einblick in die Schlußteile des von Hegel damals projektierten Systems. — Neben anderen kleineren Fragmenten aus der Jenaer Zeit bietet dieser Band schließlich auch einige Stücke aus der Bamberger Zeitung, die Hegel von 1807 bis 1808 verantwortlich redigierte. Das editorische Problem ist hierbei die Feststellung, welche Nachrichten, Berichte, Kommentare und Polemiken Hegel entweder selbst verfaßte oder * K. Rosenkranz: Hegels Leben. Berlin 1844. Ders.: Hegels ursprüngliches System. In: Literarhistorisches Taschenbuch. Hrsg. v. R. E. Prutz. 2. Leipzig 1844. Ders.; Kritische Xenien Hegels aus der Jenenser Periode 1803—6. In: Königsberger Literaturblatt. 1842. R. Haym; Hegel und seine Zeit. Berlin 1857. — Zu den Texten, die für die Edition der Jenaer Schriften Hegels zu berücksichtigen sind, vgl. H. Kimmerle: Die von Rosenkranz überlieferten Texte Hegels aus der Jenaer Zeit. In: Hegel-Studien. 5 (1969), 83—94. Ein Teil dieser Texte ist seither in Hegels eigenen Manuskripten aufgetaucht. Die neu entdeckten Manuskripte werden, sofern sie zu Hegels Jenaer Zeit gehören, in Band 5 ediert. Vgl. E. Ziesche; Unbekannte Manuskripte aus der Jenaer und Nürnberger Zeit im Berliner Hegel-Nachlass. In: Zeitschrift für Philosophische Forschung. 29 (1975), 430—444.

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inhaltlich überarbeitete und ihnen seine Gedanken und Formulierungen dabei aufprägte. Der soeben erschienene Band 6: ]enaer Systementwürfe I wurde von H. KIMMERLE und mir herausgegeben. Er enthält Hegels Vorlesungsmanuskripte zu der Vorlesung über „das System der speculativen Philosophie" von 1803/04 sowie eine Gliederungsnotiz zur Philosophie der Intelligenz und ein Fragment zum Ende des Systems über Kunst etwa aus derselben Zeit. HOFFMEISTER hat diese Texte als „Jenenser Realphilosophie I" ® bezeichnet; es handelt sich jedoch um Hegels ersten uns überlieferten Entwurf eines gesamten Systems der Philosophie. Möglicherweise hat Hegel speziell für diese Vorlesung nur die Natur- und Geistesphilosophie ausgearbeiteh da uns von seinem Entwurf nur diese Texte erhalten sind, während er für die Logik und Metaphysik dann auf ältere eigene Manuskripte zurückgriff. Aber diese Teile: Logik und Metaphysik werden in der Natur- und Geistesphilosophie vorausgesetzt; Hegel nimmt ausdrücklich darauf Bezug, so daß hier dennoch, auch wenn er die Logik imd Metaphysik nicht neu abgefaßt haben sollte, Manuskripte zum Gesamtsystem vorliegen. Die fortlaufenden Ausführungen brechen mitten in der Geistesphilosophie ab; das Fragment zum Ende des Systems stammt aber vermutlich aus einer Fortsetzung dieser Geistesphilosophie. — Der Text der Vorlesungsmanuskripte wird in diesem Band ganz neu gegliedert; der fragmentarische Charakter der Manuskripte wird schon dadurch sichtbar gemacht, daß sie in 22 Fragmenten, abgesehen von den Beilagen, ediert werden. Insbesondere lassen sich Hegels verschiedenartige Gliederungen seiner Geistesphilosophie erst jetzt erkennen, da sie verschiedene, jeweils neu ansetzende Fragmente und nicht eine fortlaufende sachliche Entwicklung darstellen. Der Text dieser Manuskripte mit seinen verschiedenen Bearbeitungsstufen wird aber auch auf eine grundsätzlich andere Weise als von HOFFMEISTER ediert; erstmals in der Hegel-Ausgabe kommt hier das Verfahren zur Anwendung, nahezu durchgehend zum endgültigen Text eine Erststufe darzubieten. In Hegels Manuskript ist klar eine erste Niederschrift erkennbar, die er später — offenbar zu Vorlesungszwecken — sehr stark durch Streichungen und durch Zusätze auf dem Rande, zwischen den Zeilen und auf eingelegten Blättern überarbeitet hat. Wir sprechen von einer Erststufe und nicht von einer ersten Fassung, weil verschiedene Fassungen eindeutig allein nach äußeren Kriterien wie z. B. verschiedene Tintenfarben zu unterscheiden sein müßten. Bei der Erststufe sind zwar auch äußere Kriterien (z. B. die Anordnung des Textes auf einer • Hegel: Jenenser Realphilosophie I. Hrsg. v. J. Hoffmeister. Leipzig

1932.

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Seite) vorhanden, aber sie allein reichen zur eindeutigen Unterscheidung von der späteren Überarbeitung nicht aus. Daher muß man auch auf den Sinn des Satzes bzw. Kontextes rekurrieren, um festzustellen, ob Hegel z. B. einen kurzen Zusatz bereits während der ersten Niederschrift vornahm, da er etwa im Fortgang dieser Niederschrift im Grundtext (dem Text ohne alle Zusätze) darauf Bezug nimmt. Passagen, bei denen es nur wahrscheinlich, aber nach den angegebenen Kriterien nicht sicher ist, daß sie schon zur Erststufe gehören, werden eigens kenntlich gemacht. Diese Erststufe ist editorisch dem textkritischen Apparat zuzurechnen, in dem auch sonst verschiedene Entstehungsstufen mitgeteilt werden. — Dies Verfahren soll bei parallelem Manuskriptbefund auch in anderen Bänden der Hegel-Ausgabe praktiziert werden. Der Band 7; Jenaer Systementwürfe II, herausgegeben von R. P. HORSTMANN und J. H. TREDE, erschien bereits 1971 und ist daher seit längerem bekannt. Er enthält den zweiten uns überlieferten Systementwurf Hegels in der Jenaer Zeit, die Logik, Metaphysik, Naturphilosophie, sowie einige sachlich und entwicklungsgeschichtlich hierzu gehörige Fragmente als Beilagen. — Es wurde schon vor mehreren Jahren durch eine Buchstabenstatistik von H. KIMMERLE erwiesen, daß dieses Manuskript Hegels später entstand, als sonst angenommen wurde, nämlich 1804/05. Erst durch diese Datierung wird die Abfolge von Hegels Jenaer Entwürfen zur Logik und Metaphysik und seiner Jenaer Systementwürfe insgesamt richtiggestellt und zugleich in ihrer philosophischen Bedeutung interpretierbar. Der Band 8, den z. Z. R. P. HORSTMANN fertigstellt und der bald erscheinen wird trägt den Titel: Jenaer Systementwürfe III. In ihm werden vor allem Hegels Vorlesungsmanuskripte zur Vorlesung über Realphilosophie, d. h. über Natur- und Geistesphilosophie, im Wintersemester 1805/06 herausgegeben, die HOFFMEISTER als „Jenenser Realphilosophie 11" bezeichnet hatte. Auch hierbei handelt es sich aber um umfangreiche Teile eines Gesamtsystementwurfs; Hegel greift mehrfach auf die systematisch vorangehende Logik, insbesondere auf die Schlußlehre zurück; ferner liefert er am Ende eine Skizze seines Systems im ganzen. Hegel hat seinem Text z. T. kürzere, z. T. umfangreichere Zusätze hinzugefügt, die sehr verschiedenartig sind, teilweise wohl auch aus verschiedenen Zeiten stammen und die in der Edition als Fußnoten jeweils bestimmten Textstellen zugeordnet werden. — Im Band 8 wird außerdem ein Blatt zur Naturphilosophie, Vgl. H. Kimmerle: Zur Chronologie von Hegels Jenaer Schriften (oben Anm. 2). 144, 164—166. i“* Vgl. Anm. 4*. ‘I Hegel: Jenenser Realphilosophie II. Hrsg. v. J. Hoffmeister. Leipzig 1931.

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das ebenfalls in diesen Zusammenhang gehört, und eine Kurzfassung der Naturphilosophie vom Herbst 1805 ediert. — Schließlich enthält dieser Band eine Chronologie der in den Bänden 4 bis 9 herausgegebenen Jenaer Manuskripte Hegels mit einer Erläuterung der Datierung durch Buchstabenstatistik (von H. KIMMERLE). Der Band 9, an dem W. BONSIEPEN und R. HEEDE arbeiten, bringt die Wissenschaft der Phänomenologie des Geistes sowie drei handschriftliche Entwürfe dazu und Hegels Notiz von 1831 zur Überarbeitung seines Buches. Da die Phänomenologie ein Drucktext ist, der auch schon früher textkritisch ediert wurde kommt es hier weniger auf editorische Umwälzungen als vielmehr auf eine zuverlässige, im Detail verbesserte Edition an. Eine besondere Leistung werden gerade in diesem Band wie auch in manchen anderen Bänden der Hegel-Ausgabe die historisch-sachlichen Anmerkungen bilden. Mit Band 9 wird die Edition von Texten aus Hegels Jenaer Periode abgeschlossen. Da sich dieser Teil der neuen Hegel-Ausgabe inzwischen insgesamt überblicken läßt, seien hier einige Hinweise auf die Bedeutung dieser Edition für die entwicklungsgeschichtlich-philosophische Interpretation von Hegels Entwürfen in Jena hinzugefügt. Vor allem durch die neue Anordnung von Texten, die Hegel verfaßt, aber nicht veröffentlicht hat, und durch die neue Gliederung und Darbietung der Manuskripte Hegels im einzelnen, insbesondere der uns erhaltenen Vorlesungsmanuskripte, wird die Reihe der Systemansätze und Systementwürfe in seiner Jenaer Zeit erkennbar, die von den ersten Systemskizzen in der Differenz-Sdivift und im Naturrechtsaufsatz über die Systementwürfe I bis III keineswegs geradlinig zur Phänomenologie führen. Die Änderungen werden von Hegel weder angemerkt noch begründet; sie beruhen jedoch auf inhaltlichen Argumenten und methodischen Reflexionen, die eine Interpretation erst auffinden und hervorheben muß. Am stärksten ist im Laufe von Hegels Jenaer Zeit die Logik und Metaphysik von der Umgestaltung betroffen ^®, die in ihren verschiedenen Stationen vornehmlich durch die Umdatierung des großen Manuskripts zur Logik und Metaphysik auf 1804/05 klar erkennbar geworden ist. Hegel trennt zunächst Logik und Metaphysik voneinander; die Logik ist für ihn anfänglich als Logik der endlichen Reflexion, des endlich denkenden Subjekts, nur systematische Einleitung in Reinhard Heede verstarb im April 1976 im Alter von nur 32 Jahren. Vgl. bes. Hegel: Phänomenologie des Geistes. Hrsg. v. J. Hoffmeister. 6. Aufl. Hamburg 1952. *3 Rosenkranz scheint die erheblichen Unterschiede in den Logik-Konzeptionen Hegels, die er falsch anordnet, nicht bemerkt zu haben, obwohl er diese Entwürfe z. T. referiert. Vgl. Hegels Leben. 188, 193.

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die systematische Erkenntnis des Absoluten, die erst mit der Metaphysik als einem eigenen Systemteil beginnt. Diese Logik ist als wissenschaftliche Darstellung und Kritik der immanenten Bestimmungen der Reflexion für Hegel zugleich Idealismus und Skeptizismus. In der Logik, Metaphysik, Naturphilosophie von 1804/05 füllt er die Logik bereits mit metaphysischen Inhalten auf, obwohl er sie systematisch noch von der Metaphysik trennt. In der Systemskizze seines dritten Jenaer Systementwurfs von 1805/06 dagegen konzipiert Hegel zum ersten Mal eine spekulative Logik, indem er Logik und Metaphysik vereinigt. Damit, daß die Logik die Einleitungsfunktion abgibt und selbst Metaphysik wird, hängt offenbar auch die Entstehung einer neuen Einleitungs-Wissenschaft seit 1804 zusammen, die ebenfalls wie früher die Logik Idealismus und Skeptizismus ist, die aber inhaltlich als Theorie der Erfahrung des Bewußtseins und seiner Wissensweisen projektiert wird und schließlich zur Phänomenologie führt. Die grundlegende Veränderung der Logik-Konzeption beruht wohl vor allem auf Überlegungen zur Methode der Metaphysik als reiner Erkenntnis des Absoluten und zur Methode der Darstellung des Absoluten in Natur und Geist, da hierfür eine Logik der endlichen Reflexion als Grundlage nicht ausreicht und die intellektuelle Anschauung, die zusätzlich eingeführt wird, eben doch nur eine Annahme bleibt. Zu den Umgestaltungen der Naturphilosophie, die Hegel in Jena extensiv behandelt, sei nur bemerkt, daß sich insbesondere die Darlegung des himmlischen Systems verändert; Hegel versteht es in der Habilitationsschrift von x8oi noch als „animal", während er es in den Systementwürfen III von 1805/06 der Mechanik unterordnet und es nicht einmal mehr systematisch vom irdischen System getrennt expliziert. — Außerdem verläßt er von 1804 an die an SCHILLING orientierte Terminologie. Zur Geistesphilosophie in der Jenaer Zeit sei erwähnt, daß sie sich als eigener Systemteil erst allmählich aus der Transzendentalphilosophie bzw. der Philosophie der Intelligenz und der Theorie des Naturrechts herausbildet, obwohl Hegel den Begriff des Geistes von Anfang an, ja schon in den Frankfurter Fragmenten verwendet. Auch der Abschluß der Geistesphilosophie steht bis zum Ende der Jenaer Zeit Hegels noch im systematischen Horizont von Naturrecht und Sittlichkeit. Daher ist verständlich, daß sich die verschiedenen Jenaer Entwürfe zur Geistesphilosophie insgesamt von Hegels späterer Geistesphilosophie dadurch unterscheiden, daß in ihnen die Dreiteilung in Philosophie des subjektiven, des objektiven und des absoluten Geistes noch fehlt. Vor allem aber impliziert die erste uns erhaltene und jetzt neu edierte Geistesphilosophie als eigener Systemteil in den Systementwürfen I von 1803/04 offenbar eine Loslösung von

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der Substanz-Metaphysik, an der Hegel bis dahin noch festhielt und die er dann in eine Metaphysik der absoluten Subjektivität eingliedert. Er führt die Geistesphilosophie, was in den Systementwürfen I insbesondere aus den verschiedenartigen Gliederungen zu erkennen ist, als Theorie des Bewußtseins und Selbstbewußtseins bis hin zum absoluten Bewußtsein durch. Die Theorie des Geistes als Subjektivitätstheorie erreicht in der Jenaer Zeit ihren Höhepunkt in den Systementwürfen III und unter anderem systematischen Aspekt in der Phänomenologie. — Im einzelnen läßt sich die Entstehung bedeutender Systemteile des späteren Hegel wie der Philosophie des subjektiven Geistes, der Rechts- und Staatsphilosophie oder der Ästhetik hier genetisch aufweisen. Die philosophische Diskussion und Beurteilung solcher Veränderungen in den Entwürfen der Jenaer Periode und der dahinterstehenden Argumente hat erst begonnen und müßte für die verschiedenen systematischen und inhaltlichen Probleme auf der Grundlage der neuen Edition weitergeführt werden. Eine Aufdeckung solcher Argumente dürfte auch für die Interpretation von Hegels Problemlösungen im späteren System fruchtbar sein. III. Die Schriften Hegels aus seiner Bamberger und Nürnberger Zeit Die Texte aus Hegels Bamberger Zeit (i8oy/o8), die in die Hegel-Ausgabe aufzunehmen sind, werden in Band 5 ediert. Dazu gehören, wie erwähnt, Teile aus der Bamberger Zeitung, ferner der Aufsatz: „Wer denkt abstract?" — Das Fragment zur „Lehre von den Schlüssen", das Hoffmeister in die Jenaer Zeit verlegte stammt sicherlich erst aus Hegels Zeit in Nürnberg, es entstand sehr wahrscheinlich Ende 1809 bis Anfang 18x0. Ebenso gehört wohl das „Fragment aus einer Hegelschen Logik" in die Nürnberger Zeit vermutlich stammt es aus dem Jahre X809, obwohl hier noch nicht alle Fragen geklärt sind. Die meisten Datierungsprobleme, die in einer Chronologie der Nürnberger Schriften zu behandeln sind, dürften inzwischen aber als gelöst oder wenigstens als lösbar gelten. Der Band 10 der Hegel-Ausgabe, der z. Z. noch nicht in Arbeit ist, soll Hegels Schriften und Reden von x8o8 bis x8x6 enthalten. Dazu gehören vor allem die propädeutischen und pädagogischen Schriften, zu denen Vgl. Dokumente zu Hegels Entwicklung. Hrsg. v. J. Hoffmeister. Stuttgart 1936. 325—335, 475. Fragment aus einer Hegelsdien Logik. Hrsg. v. O. Pöggeler. In: Hegel-Studien. 2 (1963), 11—70. 15« Vgl. bes. E. Ziesdie: Unbekannte Manuskripte (oben Anm. 8).

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kürzlich verschiedene Nachschriften von Schülern aufgetaucht sind die Reden, die Hegel als Gymnasialrektor hielt, die beiden Gutachten Hegels an NIETHAMMER und VON RAUMER, die inhaltlich sehr bedeutsam für Hegels Lehrtätigkeit und Philosophie sind, sowie Hegels Unterrichtsberichte. Der amtliche Schriftwechsel dagegen soll einem Dokumenten- und Aktenband in der Hegel-Ausgabe Vorbehalten bleiben. Die Edition von Hegels Wissenschaft der Logik wurde inzwischen in Angriff genommen, und zwar von F. HOGEMANN und W. JAESCHKE. Hierbei stellen die Darbietung der verschiedenen Auflagen, ihrer Unterschiede, aber auch ihrer Gemeinsamkeiten, und die Einteilung dieses Gesamtwerks in verschiedene Bände editorische Probleme dar. Die Edition der Wissenschaft der Logik verfährt nun nach folgender Konzeption: Dem entwicklungsgeschichtlich-chronologischen Prinzip der Ausgabe gemäß werden beide Auflagen getrennt ediert. Damit ist zwar ein synoptischer Abdruck der verschiedenen Auflagen ausgeschlossen; die erste Auflage behält dadurch aber, was in den früheren Editionen nicht gewährleistet war, den Charakter eines selbständigen Werks. Die erste Auflage der Wissenschaft der Logik wird nun in den Bänden ii und 12 herausgegeben, und zwar die objektive Logik mit den entsprechenden Anmerkungen in Band 11, die subjektive Logik mit den entsprechenden Anmerkungen und außerdem mit dem editorischen Bericht zum ganzen Werk in Band 12. — Hegel hat den ersten Band seiner Logik, die Lehre vom Sein, bis 1831 vollständig überarbeitet und zu einem großen Teil neu verfaßt. Diese zweite Auflage, die X832 bei Cotta und 1833/34 Freundesvereinsausgabe erschien^®, soll in der neuen Hegel-Ausgabe als Band 16 (nach zwei Bänden für die verschiedenen Auflagen der Enzyklopädie und einem Band für die Grundlinien der Philosophie des Rechts) ediert werden. ^®‘ Für diesen Band ist ein Verfahren vorgesehen, das als Ersatz für die Synopse einen Vergleich der zweiten mit der ersten Auflage auf einfache Weise ermöglichen soll, nämlich durch die Verwendung einer anderen Schrifttype für alle Überarbeitungen, Neufassungen und Zusätze in der zweiten Auflage, die nicht nur Orthographie und Interpunktion betreffen, sowie durch Kennzeichnung Vgl. H. Schneider: Zur zweiten Auflage von Hegels Logik. In: Hegel-Studien. 6 (1971), 9—38, bes. 21 ff.

I®“ Nach den neu erarbeiteten Vorschlägen zur Bandeinteilung sollen diesem Band auch noch Bände für die Heidelberger und Berliner Schriften und Entwürfe ebenso wie für Hegels eigene Vorlesungsmanuskripte aus der Heidelberger und Berliner Zeit vorausgehen. — Das im folgenden beschriebene Verfahren des Vergleichs der beiden Auflagen soll aufgrund technischer Schwierigkeiten durch einen vergleichenden Apparat ersetzt werden.

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weiterer Abweichungen im Apparat. Dieses Verfahren muß allerdings noch im einzelnen erprobt und ggfs, modifiziert werden. Auch für die Nürnberger Zeit Hegels gilt, daß die entwicklungsgeschichtliche Erforschung insbesondere der Entwürfe zur Logik und der propädeutischen Logiken noch am Anfang steht. Nicht alle Unterschiede dieser Logiken zur späteren Wissenschaft der Logik sind propädeutischer Art. So wäre, um nur einige Beispiele zu nennen, nach den sachlichen und historischen Motiven der Ausbildung der spekulativen Syllogistik bis hin zur ersten Auflage der Logik zu fragen ebenso müßte man die Argumente für die Entstehung des Kapitels; „Objektivität" aufsuchen, da Hegel zunächst in Nürnberg offenbar nur eine kurze Überleitung von der Begriffslehre zur Ideenlehre konzipierte Besonderes Interesse verdienen auch die Gründe für die Entstehung der Logik des Maßes an derjenigen systematischen Stelle, die zunächst in der Nürnberger Zeit die Kategorie der Unendlichkeit einnahm. — Zu solchen Untersuchungen kann wohl das erneute gründliche Studium dieser Texte im Zusammenhang mit der kritischen Edition, die Datierungsarbeit und schließlich die historisch-kritische Herausgabe der Texte selbst Veranlassung und zuverlässige Grundlage geben.

Hierbei müßte man die Ausführungen zur Schlußlehre schon in der Jenaer Zeit mit berücksichtigen. Vgl. zu den Syllogistik-Entwürfen in der Nürnberger Zeit bes. Hegel: Nürnberger Schriften. Hrsg. v. J. Hoffmeister. Leipzig 1938. 221 ff, 250 ff u. a. Vgl. auch Dokumente. 325—335. Vgl. Nürnberger Schriften. 254 f, 100. Die Entstehung der Inhalte des Kapitels: „Objektivität" ist 226 ff zu beobachten. Vgl. Nürnberger Schriften. 243, auch 29. Zur Einführung der Kategorie des Maßes vgl. 72 f.

BERICHT DER S C H E L L I N G - K O M M I S S I O N DER BAYERISCHEN AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN ÜBER DEN STAND DER HISTORISCH-KRITISCHEN SCHELLING-AUSGABE (AM 3 0. 5. 1975)

VON WILHELM G. JACOBS (MÜNCHEN)

Im Rahmen der Erforschung des sogenannten Deutschen Idealismus nahm die ScHELLiNG-Forschung im 20. Jahrhundert nie den hohen Rang ein, den die KANT- oder Hegelforschung einnahm. Zwar hatte MANFRED SCHRöTER 1927 mit der Jubiläumsausgabe^ die ScHELLiNGSchen Texte wieder zugänglich gemacht, HORST FUHRMANS durch seine Interpretationen und Ausgaben ^ das Interesse an SCHELLING wachgehalten und WALTER SCHULZ ScHELLiNGS Spätphilosophie als die Vollendung des Deutschen Idealismus ® zu interpretieren vermocht, aber eine Beachtung, die der gleichkommt, die etwa FICHTE heute genießt, erreichte SCHELLING nicht. Auch das Jubiläum 1954, das mit dem 100. Todestag SCHELLINGS einen Kreis angesehener Gelehrter in Bad Ragaz am Grabe SCHELLINGS versammelte, brachte — anders als die FiCHTE-Jubiläen 1962 und 1964 — keine Änderung der Verhältnisse. Wenn man sagen kann, daß die FiCHTE-Jubiläen Anlaß einer hohen Zahl qualifizierter Arbeiten und zugleich der Anfang einer intensiven Beschäftigung mit FICHTE waren so kann man ein Gleiches vom ScHELLiNG-Jahr 1954 nicht behaupten. Am deutlichsten und wohl auch am * Schellings Werke. Nach der Originalausgabe in neuer Anordnung hrsg. von M. Schröter. München 1927. Nachdr. München 1965. ^ H. Fuhrmans: Schellings Philosophie der Weltalter. Schellings Philosophie in den Jahren 1806—1821. Zum Problem des Schellingschen Theismus. Düsseldorf 1954. — F.W.J. Schelling. Briefe und Dokumente. Hrsg, von H. Fuhrmans. Bd 1: 1775—1809. Bonn 1962; Bd 2: 1775—1803 (Zusatzbd). Bonn 1973; Bd 3: 1803—1809 (Zusatzbd). Bonn 1975. — F. W. J. Schelling: Grundlegung der positiven Philosophie. Münchner Vorlesung WS 1832/33 und SS 1833. Hrsg, und kommentiert von H. Fuhrmans. Bd 1. Torino 1972. (Philosophien varia inedita vel rariora. Bd 3,1.) ä W. Schulz: Die Vollendung des deutschen Idealismus in der Spätphilosophie Schellings. Stuttgart 1955. * Vgl. H. M. Baumgartner und W. C. Jacobs: J. G. Fichte-Bibliographie. StuttgartBad Cannstatt 1968. C 3 Jahresregister, bes. 338.

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gravierendsten zeigt sich der Unterschied der Jubiläen, wenn man auf die dokumentarischen Leistungen sieht: Zu den beiden FICHTE-Jubiläen erschienen die ersten beiden Bände der J. G. Fichte-Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften im ScHELLiNG-Jubiläum nur die Schelling-Bibliographie von GUIDO SCHNEEBERGER ®. Das benutzte Wörtchen „nur" will nicht die Leistung des Bibliographen herabsetzen — der Verfasser weiß sie zu schätzen — wohl aber will es auf den organisatorischen Unterschied hinweisen; die Erarbeitung einer Bibliographie ist ein auf relativ kurze Zeit begrenztes Unternehmen, das keine eigene Organisation benötigt, eine historisch-kritische Ausgabe ist ein langfristiges Forschungsvorhaben, das eines Teams und eines Institutes bedarf. Ein solches, anhaltende Forschung sicherndes Institut steht der FiCHTE-Forschung in der einige Jahre vor den Jubiläen gegründeten Kommission für die Herausgabe des FiCHTE-Nachlasses der Bayerischen Akademie der Wissenschaften zur Verfügung. In der Tat erschien seit 1964 Jahr für Jahr ein Band der Fichte-Gesamtausgabe; die Schelling-Bibliographie blieb, auch wenn man die ergänzende Arbeit von HANS JöRG SANDKüHLER ^ aus dem Jahre 1970 mit berücksichtigt, ein einmaliges Ereignis. Hatte die KANT-Forschung seit Beginn des Jahrhunderts ihre Edition, hatte die Hegel- und FiCHTE-Forschung in den fünfziger Jahren unseres Jahrhunderts ihr Institut erhalten, die ScHELLiNG-Forschung stand zurück. Erst im Laufe der sechziger Jahre änderte sich ihre Situation; mehrere Habilitationsarbeiten über SCHELLING erschienen ® in der Bundesrepublik, und so wie FICHTE am Anfang des Jahrhunderts in Frankreich durch XAVIER LEON ® seine umfassende Darstellung erhalten hatte, veröffentlichte 1970 XAVIER TILLIETTE seinerseits die entsprechende Darstellung der SCHEL° J. G. Fichte-Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Hrsg, von R. Lauth und H. Jacob. Reihe II, Bd 1: Nachgelassene Schriften 1780—1791. Stuttgart-Bad Cannstatt 1962. Reihe I, Bd 1: Werke 1791—179i. Stuttgart-Bad Cannstatt 1964. ® G. Schneeberger: Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling. Eine Bibliographie. Bern 1954. ’’ H. 7. Sandkühler: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling. Stuttgart 1970. S. bes. 1—8 und 24—41. ® W. Kasper: Das Absolute in der Geschichte. Philosophie und Theologie der Geschichte in der Spätphilosophie Schellings. Mainz 1965. — D. Jähnig: Schelling. Die Kunst in der Philosophie. Bd 1: Schellings Begründung von Natur und Geschichte. Bd 2: Die Wahrheitsfunktion der Kunst. Pfullingen 1966—1969. — H. Holz: Spekulation und Faktizität. Zum Freiheitsbegriff des mittleren und späten Schelling. Boim 1970. * X. Leon: Fichte et son temps. Avec un Portrait hors texte de nombreux Documents inedits. T. 1. Paris 1922. T. 2,1. Paris 1924. T. 2,2. Paris 1927. “ X. Tilliette: Schelling. Une Philosophie en Devenir. Bd 1: Le Systeme vivant 1794—1821. Paris 1970. Bd 2: La derniere Philosophie 1821—1854. Paris 1970.

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LiNGschen Philosophie. Parallel zum vermehrten Interesse an SCHELLING, steigerten sich, zum Teil mit Unterstützung der Genannten, die Bemühungen, eine historisch-kritische ScHELLiNG-Pdition zu begründen.

Die ScHELLiNG-Forschung hatte sich bisher — und wird es auch noch eine geraume Zeit weiterhin tun müssen — im wesentlichen auf die Ausgabe Sämmtliche Werke von SCHELLINGS Sohn K. F. A. SCHELLING gestützt. KARL FRIEDRICH AUGUST, von seinem Vater noch zur Herausgabe seiner Werke bestimmt, wußte sich als Testamentvollstrecker, dessen Aufgabe es war, die letztgültige Gestalt der Philosophie seines Vaters in ihren jeweiligen Stadien der Nachwelt zu erhalten. Die Ausgabe ist in 2 Abteilungen gegliedert, die erste enthält im wesentlichen Werke, die zweite Nachlaß; jedoch finden sich auch in der ersten Reihe einige Veröffentlichungen aus dem Nachlaß, z. B. die Philosophie der Kunst. Die Anordnung der X. Abteilung ist chronologisch. K. F. A. SCHELLING greift bei mehrfach aufgelegten Werken auf die jeweils letzte Ausgabe zurück und veröffentlicht aus dem Nachlaß das vom Vater zu diesem Zwecke Vorbezeichnete. Insofern ist diese Ausgabe ein Dokument des Selbstverständnisses des späten SCHELLING. Als am Anfang unseres Jahrhunderts diese Ausgabe vergriffen war, hatte es MANFRED SCHRöTER unternommen, eine neue Ausgabe zu erarbeiten, die zum 100. Jubiläum der Errichtung der Universität München, an der SCHELLING den ersten philosophischen Lehrstuhl inne hatte, 1927 erschien und daher Jubiläumsausgabe heißt. Diese enthält alle die von K. F. A. SCHELLING schon veröffentlichten Texte. Diese sind in fotomechanischem Nachdruck, also völlig unverändert, wiedergegeben. 1946 erschien ein neue Texte enthaltender Nachlaßband. Sind die Texte auch unverändert, so haben sie doch eine neue Anordnung erhalten. Sie sind in 6 Werke-Bände und ebensoviele Ergänzungsbände eingeteilt, wobei der Ausdruck Werke sich, wie auch bei K. F. A. SCHELLING, nicht auf die Überlieferungsform (Veröffentlichungen, Nachlaß, Nachschrift) bezieht, sondern qualitativ wertend gemeint ist. „Durch diese Einteilung wurde es Friedrich Wilhelm Joseph von Schellings sämmtliche Werke. Abteilung 1, Bd 1—10. Stuttgart und Augsburg 1856—1861. Abteilung 2, Bd 1—4 [diese Bände werden in der Regel als Bd 11—14 gezählt]. Stuttgart und Augsburg 1856—1858. Philosophie der Kunst. (Aus dem handschriftlichen Nachlaß.) In: Sämmtliche Werke. Bd 5. Stuttgart und Augsburg 1859. 353—736. Schellings Werke. Nach der Originalausgabe in neuer Anordnung hrsg. von M. Schröter. 6 Hauptbde und 6 Ergänzungsbde. München 1927. Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling: Die Weltalter. Fragmente. In den Urfassungen von 1811 und 1813 hrsg. von M. Schröter. München 1946. Nadidr. München 1966.

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möglich, alle wesentlichen Hauptwerke streng chronologisch in die sechs [.. .] Hauptbände einzureihen und damit zugleich die systematischen Gebiete übersichtlich zu umgrenzen, die die Schellingsche gedankliche Entwicklung im ganzen durchlaufen hat. Die etwas schwächeren [. ..] Ergänzungsbände reihen sich zeitlich unmittelbar jeweils nach den Hauptbänden ein und enthalten die weniger wichtigen Schriften des betreffenden Gebietes oder Zeitraumes gleichfalls in chronologischer Abfolge." So sind z. B. die beiden Examensarbeiten SCHELLINGS De malorum origine und De Marcione, die in Anlehnung an Hegels sogenannte Theologische Jugendschriften ebenfalls als solche verstanden werden ^®, in die Ergänzungsbände verwiesen. Dokumentiert sich in den Sämmtlichen Werken das Selbstverständnis des späten SCHELLING, SO in der Jubiläumsausgabe das ScHELLiNGverständnis des beginnenden 20. Jahrhunderts. MANFRED SCHRöTER hat die Jubiläumsausgabe als eine „möglichst vollständige Handausgabe" verstanden und eine „einstige, kritische Gesamtausgabe" als eine „anzustrebende" bezeichnet. Die Forderung SCHRöTERS ist gut begründet. Der Jubiläumsausgabe wie auch den Sämmtlichen Werken fehlt jeder Apparat, sowohl textkritischer, wie auch erklärender. Der Mangel des ersten macht es unmöglich, bei Werken, die in mehreren Auflagen erschienen sind, den Fortschritt der gedanklichen Arbeit SCHELLINGS an ihnen dingfest zu machen. Eine so wichtige Veränderung der Terminologie SCHELLINGS wie die Ersetzung von „Spekulation" in der 1. Auflage durch „Reflexion" in der 2. Auflage der Ideen zu einer Philosophie der Natur, auf die KLAUS DüSING hingewiesen hat, ist in den Sämtlichen Werken nur pauschal vermerkt. Gravierend ist, gerade bei SCHELLING, dessen Philosophieren sich in steter Auseinandersetzung mit anderen philosophischen Theorien bildet, der Mangel eines erklärenden Apparats, in dem Zitate belegt und Anspielungen ausgewiesen werden. Am schwersten wiegt, daß SCHELLINGS Texte selbst unzulänglich wiedergegeben werden. So ist z. B. in der Schrift Über Mythen, historische Sagen und Philosopheme der ältesten Welt in den Sämmtlichen Werken nur eine einzige Hervorhebung wiedergegeben, alle anderen sind eliminiert. Zudem sind längst nicht alle Texte SCHELLINGS, die heute erhalten I® Schellings Werke. Hrsg, von M. Schröter. Hauptbd. 1. München 1927. VIII. M. Schröter: Der Ausgangspunkt der Metaphysik Schellings. (Diss. Jena 1908.) In: Schröter: Kritische Studien. Ober Schelling und zur Kulturphilosophie. München 1971. 11—51; S. 12. n Schellings Werke. Hrsg, von M. Schröter. Hauptbd. 1. München 1927. VII. K. Düsing: Spekulation und Reflexion. Zur Zusammenarbeit Schellings und Hegels in Jena. In: Hegel-Studien. 5 (1969), 95—128. I® Sämmtliche Werke. Bd 1. 41—83.

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sind, veröffentlicht. Somit ist eine historisch-kritische ScHELLiNC-Ausgabe ein Desiderat.

Die Bayerische Akademie der Wissenschaften, deren Präsident SCHELLiNG von 1827—1841 war, hat dieses Desiderat erkannt und, nachdem sie die Verantwortung für die historisch-kritische FicHTE-Ausgabe schon übernommen hatte, auch die Verantwortung für die entsprechende SCHELLiNG-Ausgabe auf sich genommen. Zu diesem Zweck hat sie 1968 die Kommission zur Herausgabe der Schriften von SCHELLING gegründet. Bis 1973 führte dankenswerter Weise trotz seines hohen Alters ALOIS DEMPF den Vorsitz der Kommission; ihn löste HERMANN KRINGS ab. Außer den Genannten gehören der Kommission an HANS MICHAEL BAUMGARTNER, HORST FUHRMANS, DIETER HENRICH, WILHELM G. JACOBS, MICHAEL SCHMAUS, WALTER SCHULZ, ADOLF SCHURR, XAVIER TILLIETTE und HERMANN ZELTNER. Die Kommission bemüht sich, die organisatorischen Grundlagen für die Ausgabe zu schaffen bzw. zu erhalten, und berät die Herausgeber. Diese sind HANS MICHAEL BAUMGARTNER, WILHELM G. JACOBS, HERMANN KRINGS und HERMANN ZELTNER; sie garantieren die Kontinuität der Arbeiten an der Edition. Die Editionsarbeit selbst wird geleistet vom Editionsteam, das sind neben den Herausgebern HARTMUT BüCHNER, JöRG JANTZEN, ANNEMARIE PIEPER und WALTER SCHIECHE. Kommission und Editionsteam haben zu ihrer wissenschaftlichen Beratung einen internationalen Beirat zur Seite, dem qualifizierte ScHELLiNGforscher angehören. In die Finanzierung des Unternehmens teilen sich die Bayerische Akademie der Wissenschaften und die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), die das Unternehmen in großzügigster Weise unterstützt. Verhandlungen zur Übernahme der Gesamtfinanzierung durch die Akademie sind im Gange. Das Seminar für Philosophie der Ludwig-MaximiliansUniversität München beteiligt sich an der Edition durch Bereitstellen einer Assistentenstelle für diesen Zweck. Die Ausgabe wird verlegt vom Friedrich Frommann Verlag Günther Holzboog KG in Stuttgart. Die erste Aufgabe der Edition ist die Herausgabe der Historisch-kritischen Schelling-Ausgabe. Diese Aufgabe ist ebensowenig ohne geistesgeschichtliche und philosophische Durchdringung der Philosophie SCHELLiNGS möglich wie ohne umfängliche Materialsammlungen. Eine historischkritische Edition sucht das erhaltene Material in seinem ganzen Umfang Hermann Zeltner ist am 10. November 1975 verstorben. Seine Verdienste um die Sdielling-Forschung können an dieser Stelle nicht angemessen gewürdigt werden; es soll aber hervorgehoben werden, daß er zu den Initiatoren der Historisch-kritischen Schelling-Ausgabe gehört. Der nächste erscheinende Band der Ausgabe (Reihe I, Band 2) wird seinem Andenken gewidmet sein.

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zu veröffentlichen. Im Falle SCHELLINGS ist ein großer Teil des Nachlasses während des 2. Weltkrieges in der Universitätsbibliothek München verbrannt; ein Vorlesungsmanuskript hat sich jedoch erhalten. Der größte geschlossene Teil des Nachlasses liegt heute im Zentralarchiv der Akademie der Wissenschaften der DDR in Berlin. Ein großer Teil der Familienbriefe SCHELLINGS konnte in Privatbesitz ermittelt werden. Kleinere Teile des Nachlasses und der Korrespondenz liegen in öffentlichen Bibliotheken oder befinden sich in Privatbesitz; ebenso verhält es sich mit Vorlesungsnachschriften. All dieses Material gilt es in Kopien zu sammeln; eine Kopie ersetzt zwar nie ein Original, ermöglicht aber eine erste Bearbeitung im Archiv und dokumentiert im Falle des Verlustes des Originals dieses wenigstens annähernd. Eine Edition ist ferner angewiesen auf die Veröffentlichungen SCHELLINGS und, da sie nicht alle Exemplare jeder Ausgabe erwerben kann, darauf, die Standorte möglichst vieler Exemplare zu wissen. Man kann sich nämlich bei der Herausgabe nicht auf ein einziges Exemplar einer Auflage stützen, da immer wieder Satz-, bisweilen auch Autorenkorrekturen im abgesetzten Text ein und derselben Auflage begegnen, die bei Benutzung nur eines Exemplars naturgemäß nicht ermittelt werden können. Eine Edition sammelt ferner Nachrichten über und Auseinandersetzungen mit dem Autor aus zeitgenössischer Literatur imd aus entsprechenden Briefwechseln. Lebensgang und -umstände des Autors sind in Archiven etc. dokumentiert; im Falle SCHELLINGS sind z. B. mit Erfolg die Archive des Evangelischen Stifts Tübingen und des Oberkirchenrats in Stuttgart durchsucht worden. Alle diese Materialien, dazu Nachrichten über Literatur, die SCHELLING besessen oder gelesen hat, über Personen, die in irgendeine Beziehung zu ihm gekommen sind, u. a. werden gesammelt und zugriffssicher geordnet aufbewahrt. Die Materialsammlung ist kein Selbstzweck, sie dient der Edition. Diese ist in vier Reihen eingeteilt. Das Prinzip der Einteilung ist die Überlieferungsform des herauszugebenden Materials. Reihe I Werke umfaßt alle Veröffentlichungen SCHELLINGS vom Buch bis zur Zeitungsnotiz, mit anderen Worten die Texte, die SCHELLING selbst in Druck gegeben hat. Reihe II enthält den Nachlaß, das heißt alle Texte, die SCHELLING nicht selbst veröffentlicht hat, ausgenommen die Briefe, die in der Reihe III enthalten sind. Reihe IV enthält die Nachschriften, Texte also, die von Hörern mitgeschrieben wurden; diese unterscheiden sich von dem Vorlesungswerk aus dem Nachlaß durch den Grad der Authentizität. Innerhalb der Reihen ist die Anordnung chronologisch. Jedem Text SCHELLINGS wird ein editorischer Bericht der Herausgeber vorangestellt, der Aufschluß gibt über die

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Editions-, Entstehungs- und Wirkungsgeschichte des Textes. Jeder Band wird beschlossen durch Register, und zwar Bibliographie, Ortsregister, Personenregister, Sachregister, Verzeichnis der Siglen, Zeichen und Abkürzungen. Einige Reihen werden die Edition begleiten, so eine Auswahl von Rezensionen ScHELLiNGscher Werke, Zeugnisse über SCHELLING und Dokumentenbände. Die Prinzipien der Edition sind aus der Bestimmung derjenigen Absichten eruiert, die die Edition leiten, nämlich authentische Texte herzustellen und diese aufzuschließen. Die Prinzipien werden den Erfordernissen der einzelnen Reihen entsprechend formuliert. Allgemein kann gesagt werden, daß der Absicht, einen authentischen Text herzustellen, Textgestaltung und textkritischer Apparat dienen, wohingegen der Erklärungsapparat den Text aufschließen soll. Der textkritische Apparat verzeichnet Textverderbnisse, Druckfehlerberichtigungen und Varianten. Der Erklärungsapparat enthält sich philosophisch deutender Auslegungen; er erklärt heute nicht mehr gebräuchliche Sachbezeichnungen und Begriffe, weist die von SCHELLING benutzte Literatur nach und belegt Zitate. Den Editoren ist bewußt, daß der Schatten des Editors auf einen jeden edierten Text fällt; sie haben sich bemüht, die Prinzipien so zu fassen, daß der Schatten möglichst schwarz, mit anderen Worten deutlich sichtbar, fällt. Auch die Herausgabe des Textes kann nicht als Selbstzweck verstanden werden, sie dient und ist selbst ein Teil der Geistesgeschichte und Philosophie. Nicht nur, daß die Edition nicht ohne umfangreiche Studien zu erstellen ist, sie verdankt sich geisteswissenschaftlichen und philosophischen Interessen der Gegenwart und stellt der heutigen und späterer Forschung Texte zur Verfügung. Daher gehört Beratung und Auskunft ebenso zu den Aufgaben der Edition wie begleitende Arbeiten, die zum Verständnis der ScHELLiNGschen Philosophie beitragen und deren Beitrag zur Lösung gegenwärtiger Probleme thematisieren. Der Stand der Arbeiten ist derzeit folgender: Im Jahr 1976 erscheint der erste Band der Historisch-kritischen Schelling-Ausgabe. Es ist Band i der Reihe I. Darin sind nebst den Editionsprinzipien enthalten Elegie bei Hahns Grabe gesungen, Antiquissimi de prima malorum humanorum origine philosophematis Genes. III. explicandi tentamen criticum et philosophicum, lieber Mythen, historische Sagen und Philosopheme der ältesten Welt, Heber die Möglichkeit einer Form der Philosophie überhaupt, Erklärung und eine Übersetzung von De malorum origine, die REINHOLD MOKROSCH angefertigt hat. In diesem Band sind die ersten Veröffentlichungen

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ScHELLiNGs gesammelt, und zwar alle die, die vor der ersten der in den Philosophischen Schriften von 180g wieder veröffentlichten Schriften liegen; es handelt sich um die später von SCHEELING übergangenen Anfänge seines Philosophierens. Die ScHELLiNG-Forschung hat sie fast ebenso übergangen wie SCHEELING selbst. Jedoch dürfte die Kommentierung wie auch die Übersetzung von De malorum origine dazu beitragen, diesen Anfängen die, wie wir meinen, gebührende Aufmerksamkeit zu sichern. Immerhin belegen sie in frühester Zeit SCHELEINGS Betroffenheit vom Pietismus, seine Hinwendung zur Aufklärung und den Entwurf eines geschichtsphilosophischen Konzepts. Als nächster wird Band 2 derselben Reihe in Druck gehen. Er umfaßt Vom Ich als Prinzip der Philosophie oder über das Unbedingte im menschlichen Wissen, Antikritik, Philosophische Briefe über Dogmatismus und Kriticismus, De Marcione Paullinarum epistolarum emendatore und eine Übersetzung von De Marcione. Es sind im wesentlichen die im letzten Tübinger Studenten]ahr entstandenen Schriften. Ein besonderes Interesse dürfte De Marcione finden, eine Schrift, deren politische Note darin besteht, daß sie die für SCHEELING gegenwärtige Orthodoxie durch ein Stück Ketzergeschichte kritisiert. Als dritter wird Reihe I, Band 3 erscheinen. Er enthält Neue Deduktion des Naturrechts, Allgemeine Uebersicht der neuesten philosophischen Literatur, Ueber Offenbarung und Volksunterricht und die Rezension der beiden Schreiben SCHLOSSERS sowie der Denkschrift für diesen. Ihrer philosophischen Aufgabe gemäß haben sich Kommission und Edition an dem hier dokumentierten Kongreß beteiligt, wie sie schon vorher am 26. und 27. Januar 1975 an den Feiern zu SCHELEINGS Geburtstag in Leonberg teilgenommen hatten. In München veranstalten sie in den Räumen der Bayerischen Akademie der schönen Künste eine Ausstellung Schelling in Bayern, die am 30. Oktober mit einem Festvortrag eröffnet wird.

Das ScHELLiNG-Jubiläum wird der Philosophie des Gefeierten erneut Aufmerksamkeit sichern, zudem bietet die Institutionalisierung der Historisch-kritischen Schelling-Ausgabe eine Gewähr dafür, daß die diesjährige Beschäftigung mit der Philosophie SCHELEINGS kein singuläres Ereignis bleibt. Wenn es gelingt, auch die ScHELLiNG-Edition zügig voranzutreiben, dürfte die Erforschung des sogenannten Deutschen Idealismus einem HöhePhilosophische Schriften. Bd 1 (einziger Band). Landshut 1809.

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punkt entgegengehen. Die Argumente dieser Epoche der Philosophiegeschichte in die gegenwärtige philosophische Diskussion zureichend einzubringen, ist ebenso Verpflichtung gegenüber dieser erregenden Epodie der Vergangenheit wie auch gegenüber unserer heutigen.