Irritationen: Rhetorische und poetische Verfahren der Verunsicherung [Supplement ed.] 3110378175, 9783110378177

Weder die antike (rhetorische und poetische) noch die moderne (diskurs- und kognitionslinguistische) Theoriebildung hat

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Irritationen: Rhetorische und poetische Verfahren der Verunsicherung [Supplement ed.]
 3110378175, 9783110378177

Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Inversive Persuasion.Zur Epistemologie und Rhetorik der ‚Rhetorik der Verunsicherung?
Das ‚Zeitalter der Angst‘ als Konstrukt einer Rhetorik der Verunsicherung.Eine Analyse zweier Sequenzen aus Augustins Sermones ad populum
Verunsicherung im philosophischen Brief.Senecas Epistulae Morales
Vom admirativen zum irritierten Staunen.Philosophie, Rhetorik und Verunsicherung in Platons Dialogen
Wiederholungen und Häufungen als rhetorische Mittel der Verunsicherung in den Platonischen Dialogen
Lehre und Gespräch.Zur Aktualität der sokratischen Dialoge für die Lehrerausbildung
Den Gesprächspartner verunsichern, um das Publikum zu überzeugen?.Verunsicherung als persuasive Strategie in Polit-Talkshows
Labefacto paulatim.Zur Rhetorik der Verunsicherung in der römischen Komödie
Rhetorik der Verunsicherung in Senecas Tragödien
Die Logik des Irrsinns.Paradox und Phantastik in der Alten Komödie am Beispiel der Wolken des Aristophanes
Die Verunsicherung des tragischen Helden.Zum Oedipus Rex von Sophokles
Unsicherheiten einer poetisch-erotischen Welt.Anreden und Konstellationen von Personen bei Sappho
Index nominum et rerum
Index locorum

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Irritationen

Philologus

Zeitschrift für antike Literatur und ihre Rezeption / A Journal for Ancient Literature and its Reception

Supplemente / Supplementary Volumes Herausgegeben von / Edited by Markus Asper, Sabine Föllinger, Therese Fuhrer, Christof Rapp, Katharina Volk

Band 2

Irritationen

Rhetorische und poetische Verfahren der Verunsicherung

Herausgegeben von Ramona Früh, Therese Fuhrer, Marcel Humar, Martin Vöhler

DE GRUYTER

ISBN 978-3-11-037817-7 e-ISBN (PDF) 978-3-11-040100-4 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-040108-0 ISSN 2199-0255 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2015 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/München/Boston Satz: Konrad Triltsch, Print und digitale Medien GmbH, Ochsenfurt Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhalt Einleitung

1

Joachim Knape Inversive Persuasion Zur Epistemologie und Rhetorik der ‚Rhetorik der Verunsicherung‛

5

Therese Fuhrer Das ‚Zeitalter der Angst‘ als Konstrukt einer Rhetorik der Verunsicherung Eine Analyse zweier Sequenzen aus Augustins Sermones ad populum 61 Ramona Früh Verunsicherung im philosophischen Brief Senecas Epistulae Morales 87 Michael Erler Vom admirativen zum irritierten Staunen Philosophie, Rhetorik und Verunsicherung in Platons Dialogen

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Marcel Humar Wiederholungen und Häufungen als rhetorische Mittel der Verunsicherung in den Platonischen Dialogen 125 Ingwer Paul Lehre und Gespräch Zur Aktualität der sokratischen Dialoge für die Lehrerausbildung Stephan Peters, Monika Schwarz-Friesel u. Sally Zielske Den Gesprächspartner verunsichern, um das Publikum zu überzeugen? Verunsicherung als persuasive Strategie in Polit-Talkshows 187 Boris Dunsch Labefacto paulatim Zur Rhetorik der Verunsicherung in der römischen Komödie

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VI

Inhalt

David Himpel Rhetorik der Verunsicherung in Senecas Tragödien

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Martin Hose Die Logik des Irrsinns Paradox und Phantastik in der Alten Komödie am Beispiel der Wolken des Aristophanes 259 Martin Vöhler Die Verunsicherung des tragischen Helden 277 Zum Oedipus Rex von Sophokles Renate Schlesier Unsicherheiten einer poetisch-erotischen Welt Anreden und Konstellationen von Personen bei Sappho Index nominum et rerum Index locorum

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Einleitung Als die „Kunst, gut zu reden“¹ zielt die Rhetorik auf die Realisierung der Persuasion, die im Überredungserfolg gesucht wird. Dieser Erfolg stellt sich ein, wenn der Adressat einen Wechsel seiner Überzeugung von einer Position A zu einer Position B vollzieht. Ist der Positionswechsel (z. B. durch die Zustimmung) evident geworden, so gilt der persuasive Akt als geglückt.² Unter dem Gesichtspunkt des Überredungserfolgs erscheinen Rede und Dialog als affirmative, auf Verständigung ausgerichtete Kommunikationsformen.³ Die leitende These der in dem vorliegenden Band versammelten Beiträge lautet, dass weder die antike (rhetorische und poetische) noch die moderne (diskurs- und kognitionslinguistische) Theoriebildung bislang den Prozess der Irritation und Verunsicherung⁴ des Rezipienten, der dem Vorgang der Persuasion vorangeht, hinreichend reflektiert und auch nicht systematisiert haben. Mit dem durch das Überzeugungsverfahren initiierten Standpunktwechsel verlässt der Rezipient seine zunächst argumentativ abgesicherte oder als sicher geglaubte oder auch naiv behauptete Position (A). Die Aufgabe der ursprünglichen Position bildet den Ausgangspunkt der Analysen. Die Beiträge konzentrieren sich auf die Strategien zur Hervorbringung von Verunsicherung, die die ursprüngliche Gewissheit in Frage stellen. Es interessiert also in erster Linie das rhetorische und poetische Potenzial textuell fassbarer Äußerungsakte, Gewissheiten zu erschüttern, fest strukturierte Gedanken aufzuweichen, gefestigte Meinungen, Einstellungen oder Verhaltensweisen zu hinterfragen, Zweifel zu erzeugen, mithin die Entstehung der Ermöglichungsbedingung neuer Gewissheiten. Verunsicherung wird als Störung der menschlichen Äquilibrationstendenz wahrgenommen und tendiert daher zur Herausbildung neuer stabilisierender Positionen. Die Untersuchungen konzentrieren sich auf die Irritation und Verunsicherung als kommunikative Geschehen; es geht darum, einen Akt des ‚Irritierens‘ und ‚Verunsicherns‘ mit all seinen Unkalkulierbarkeiten,Widerständen und Wendungen zu analysieren, nicht hingegen darum, das Resultat (Irritation oder Verunsicherung im Sinn des Irritiert- oder Verunsichertseins) zu bestimmen.

 So Quint. inst. 2,17,37; vgl. auch 2,14,5.  Knape (2003) 874– 907; vgl. Ortak (2004).  Zur Kommunikation als Verständigungshandlung vgl. Buddemeier (1973).  Mit dem Begriff ‚Irritation‘ wird ein breites Spektrum von Erfahrungen und Emotionen abgedeckt, in dem der engere Begriff der ‚Verunsicherung‘ enthalten ist. Zum Begriff der Irritation im Kontext der systemtheoretischen Literaturwissenschaft vgl. Simonis (2011).

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Einleitung

Den Irritationsvorgang, seine Bedeutung und Reichweite mag ein kurzer Blick auf den Platonischen Sokrates verdeutlichen. Dessen philosophische Methode kann (zumindest in den frühen Dialogen bis zum Menon) als eine kalkulierte Erzeugung von Verunsicherung gefasst werden. Bevor sich Sokrates daran macht, die eigenen Zeitgenossen auf dem Marktplatz von Athen in Frage zu stellen, erfährt er eine grundsätzliche Infragestellung des eigenen Selbstverständnisses. Apollon lässt ihm bekanntlich mitteilen, dass kein Mensch weiser sei als er. Die Frage nach dem eigenen Wissen, die der Orakelspruch aus Delphi erzeugt hatte, wird für den Philosophen zum Initial unablässiger Gespräche mit dem Ziel der Wissensüberprüfung. Sokrates entwickelt eine Methode des Infragestellens, deren Wirkung auf die Athener Søren Kierkegaard folgendermaßen beschreibt: Er brachte daher die Individuen unter seine dialektische Luftpumpe, beraubte sie der atmosphärischen Luft, die sie gewohnt waren einzuatmen, und ließ sie stehen. Nunmehr war alles für sie verloren, außer sofern sie etwa imstande waren, in einer ätherischen Luft zu atmen. Sokrates hingegen hatte mit ihnen nichts weiter zu schaffen, sondern hastete zu neuen Experimenten.⁵

Indem Sokrates seine Gesprächspartner ihres vermeintlichen Wissens beraubt, führt er sie zur Einsicht in die eigene Unwissenheit („Aporie“), die wiederum zum Antrieb wird, einen Zustand neuer (wissender) Gewissheit zu erlangen. Das Experimentieren mit der „dialektischen Luftpumpe“ ist aber nur eine der Irritationsstrategien, denen der vorliegende Band sich zuwendet. Das Ziel der hier zusammengestellten Studien liegt in der Profilierung verschiedener rhetorischer und poetischer Verfahren der Verunsicherung und Irritation. Hierfür verbinden sich Vertreterinnen und Vertreter der Klassischen Philologie, der Sprach- und Literaturwissenschaft, der Rhetorik und Religionswissenschaft, um in wechselseitiger Ergänzung ihrer methodisch unterschiedlichen, empirischen, theoretischen und historischen Ansätze die funktionale Seite der Irritation anhand von einschlägigen Beispielen zu untersuchen. Der Fokus liegt dabei auf dem Persuasionspotenzial der rhetorischen und poetischen Strategien. Der Band gründet sich wesentlich auf die Ergebnisse des Projekts „Rhetorik der Verunsicherung – Muster negativer Affekt-Strategien und ihre persuasive Funktion“, das im Rahmen des Berliner DFG-Clusters „Languages of Emotion“ über drei Jahre (2010 – 2013) gefördert wurde. In den von Therese Fuhrer und Martin Vöhler geleiteten Teilprojekten zur römischen und griechischen Literatur wurden Texte behandelt, in denen ein Orator (mit einer politischen Rede oder Gerichtsrede) oder ein Gesprächspartner im (philosophischen) Dialog auf sein

 Kierkegaard (1976) 178 f.

Einleitung

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Publikum oder Gegenüber persuasiv einzuwirken sucht. Zum Studium rhetorischer bzw. philosophischer Strategien der Verunsicherung erwiesen sich etwa die Reden Ciceros wie auch frühen Dialoge Platons mit ihren je eigenen Asymmetrien, Wendepunkten und Aporien als außerordentlich fruchtbar. Im Fokus der Analysen stand nicht die rhetorische Persuasion, sondern die Herstellung von Verunsicherung, die als ein ‚inversives‘ Verfahren das Gegenüber auf einen Positionswechsel vorbereitet. Die Projektarbeit profitierte insbesondere auch von dem interdisziplinären Austausch, der in Workshops hergestellt wurde und der seinen Höhepunkt in einer Konferenz an der Freien Universität Berlin (im Juli 2012) fand. Aus dieser Tagung sind auch die meisten Beiträge des vorliegenden Bandes hervorgegangen; sie werden ergänzt durch komplettierende Untersuchungen. So spannt sich ein Bogen von der ‚Rhetorik‘ hin zu einer ‚Poetik der Irritation und Verunsicherung‘, in der die persuasionsorientierte Komponente zugunsten ästhetischer Verfahren und Kategorien zurücktritt. Erprobt werden die oben skizzierten Fragestellungen an einem Spektrum literarischer Gattungen und alltagssprachlicher Textsorten, die unter rhetorischen und literaturwissenschaftlichen, aber auch unter pädagogischen und linguistischen Fragestellungen interpretiert und durch die Fokussierung auf Verunsicherung und Irritation neu gelesen werden. Ziel ist es, den Stellenwert der Verunsicherung durch exemplarische Textinterpretationen innerhalb eines spezifischen Werks oder auch nur innerhalb einer Gesprächssequenz zu bestimmen und insbesondere auch die Vielzahl der (rhetorischen, appellativen, dialogischen) Mittel aufzuzeigen, durch die ein Orator bzw. Autor bestehende Konzeptualisierungsmuster seines Gegenübers durch überraschende, veränderte Perspektiven in Zweifel ziehen kann. Ein theoretisches Fundament bietet der Beitrag von Joachim Knape zur Verortung der Verunsicherung im rhetorischen Persuasionsprozess. Ebenfalls rhetorisch orientiert sind die Beiträge von Therese Fuhrer und Ramona Früh, die sich am Beispiel der Predigt und des philosophischen Briefs rhetorischen Textgattungen widmen, die allerdings – im Gegensatz etwa zur Rede – nicht auf ein kurzfristiges kommunikatives Ziel ausgerichtet sind, sondern auf einen längerfristigen Einstellungswechsel ihrer Adressaten zielen. Michael Erler, Marcel Humar und Ingwer Paul beschäftigen sich aus verschiedenen Blickwinkeln mit der verunsichernden Wirkung des Platonischen Sokrates auf seine Gesprächspartner. Während Michael Erler vor allem nach den Folgen einer Verunsicherungsrhetorik fragt, richtet Marcel Humar den Blick auf diejenigen rhetorischen Strategien, die das Potenzial haben, Verunsicherung überhaupt erst zu erzeugen. Aus der Perspektive der zeitgenössischen Pädagogik fragt Ingwer Paul nach der Aktualität der Sokratischen Methode für das moderne Unterrichtsgespräch und weist der Verunsicherung auch in diesem Kontext einen Ort zu. Der Beitrag von Stephan Peters,

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Einleitung

Monika Schwarz-Friesel und Sally Zielske profiliert die kognitionslinguistischen und emotionspsychologischen Voraussetzungen der Verunsicherung am Beispiel der Polit-Talkshows und belegt so die lebensweltliche Verortung der Verunsicherung. Den Übergang von der Rhetorik zur Poetik der Verunsicherung markieren die Untersuchungen von Boris Dunsch, David Himpel, Martin Hose und Martin Vöhler.Während Boris Dunsch und David Himpel aus rhetorischer Perspektive am Beispiel der römischen Komödie und Tragödie zeigen, dass auch in inszenierten rhetorischen Kommunikationssituationen Verunsicherungsstrategien einen hohen Stellenwert einnehmen, und deren Wirkungsweise vor allem auf textinterner Ebene untersuchen, fragen Martin Hose und Martin Vöhler nach einer Poetik der Verunsicherung und sehen Verunsicherung nicht nur als textimmanentes Phänomen an, sondern nehmen auch die Wirkung auf die Zuschauer in den Blick. Renate Schlesier untersucht abschließend am Beispiel eines Sappho-Fragments lyrische Formen des irritierenden Spiels von Versicherung und Verunsicherung. Für die Erstellung der Indices danken wir Sebastian Wittkopf und Verena Ruf. Angelika Hermann und Serena Pirrotta danken wir für die kompetente Betreuung der Publikation. München, Berlin und Nicosia im Januar 2015 Ramona Früh, Therese Fuhrer, Marcel Humar und Martin Vöhler

Literaturverzeichnis Buddemeier (1973): Heinz Buddemeier, Kommunikation als Verständigungshandlung. Sprachtheoretische Ansätze zu einer Theorie der Kommunikation, Frankfurt a. M. Kierkegaard (1976): Søren Kierkegaard, Über den Begriff der Ironie. Mit ständiger Rücksicht auf Sokrates [1841], übersetzt von Emanuel Hirsch, Frankfurt a. M. Knape (2003): Joachim Knape, „Persuasion“, HWRh 6, 874 – 907. Ortak (2004): Nuri Ortak, Persuasion. Zur textlinguistischen Beschreibung eines dialogischen Strategiemusters, Tübingen. Simonis (2011): Linda Simonis, „Irritation – Jean de la Fontaine und Jean Crotti“, in: Niels Werber (Hg.), Systemtheoretische Literaturwissenschaft. Begriffe – Methoden – Anwendungen, Berlin u. a., 195 – 204.

Joachim Knape

Inversive Persuasion Zur Epistemologie und Rhetorik der ‚Rhetorik der Verunsicherung‛ Abstract This paper presents reflections that focus on the questions of how rhetoric and destabilisation are to be understood and how their interrelation may be viewed from the perspective of communication theory. This concerns deep structural and operative aspects equally. Firstly the paper investigates what role, if any, is played by destabilisation, viewed systematically, in the ensemble of rhetorical interaction and under the premises of rhetoric and theory of production, but also how destabilisation can be generated by means of rhetorical intervention. The evidence is provided by historical examples from politics and the history of philosophy and science. The final part of the paper picks out as a key case the debate over deconstruction that has arisen since the 1960s. Here several levels intersect and show the multidimensional character of the connection between rhetoric and destabilisation: on the one hand the dimension of history of knowledge, in the spread of theoretical and methodical destabilisation in the humanities during the epistemic phase of the debates over deconstruction, and on the other hand the conceptual dimension of the intensified destabilisation of the concept of rhetoric at this time, and also, finally, the dimension of rhetorical praxis in the discussion – pursued by thoroughly rhetorical means – about the validity of the deconstructive paradigm of destabilisation. At the end of the paper the question is discussed of whether philosophical activity can lay claim to a depragmatised, to an extent autocommunicative, space for reflection in which sceptical uncertainty, too, has a place, or whether it always also remains subject to the rhetorical conditions of its setting in the circumstances of real-life decision-making.

Einleitung Sicherheit hat sich im 20. Jahrhundert als dauerhafte Rahmenerwartung auf den Feldern von Philosophie,Wissenschaft und Ästhetik verflüchtigt. Es gab politische Revolutionen und grundlegende Neustrukturierungen der Gesellschaften. Wir haben uns im demokratisch-politischen Leben an geplanten Wechsel und persönliche Neuorientierung gewöhnt. Dennoch bleibt es schwierig, mit Unsicherheit

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Joachim Knape

oder gar Verunsicherung zu leben. Welche Rolle spielt bei alldem die menschliche Kommunikation? Was die wissenschaftliche Weltsicht angeht, so kam es im vergangenen Jahrhundert zu zwei einschneidenden epistemischen Verunsicherungen. Zum einen brachte 1915 Albert Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie im Bereich der Naturwissenschaften die Modelle der klassischen Physik, ja das ganze Weltbild der Zeitgenossen ins Wanken.¹ Es kam zu angstvoll-absurden Gegenreaktionen, wie z. B. zur Ausrufung einer ‚deutschen Physik‘ durch die Nazis in den 1930erJahren. Im Bereich der Humanities wurde zum anderen seit den 1960er-Jahren die klassische geisteswissenschaftliche Hermeneutik von der unter dem Namen Dekonstruktion bekannt gewordenen Denkschule grundsätzlich in Frage gestellt. Sie erklärte den Erkenntnisweg und die Denkbewegung als solche, nicht aber das Wissen, sprachlich fixierte oder dogmatisch aggregierte Erkenntnisse zum Ziel geisteswissenschaftlichen Forschens. In den interpretierenden Disziplinen etwa zog dies eine große Verunsicherung nach sich. Das Versprechen der klassischen Hermeneutik, methodisch Verstehenssicherheit herbeiführen zu können, wurde damit nämlich zugunsten eines Ansatzes verworfen, der unendliche Lektüren von Text postuliert. Im Hintergrund dieses Ansatzes steht die von Friedrich Nietzsche auf alles Sprachliche in der Kultur bezogene Prämisse: ‚Alles nur Rhetorik‘. Dieses Postulat einer Generalrhetorizität in der kulturellen Welt der Texte und Symbole wirft allerdings aus rhetorikdisziplinärer Sicht zahlreiche Fragen auf, die mit dem Begriffs- und dem Sachverständnis von Rhetorik (was beides nicht dasselbe ist) zu tun haben. Mein Beitrag diskutiert diese Problematik vor allem in Hinblick auf die Verunsicherungsfrage. Zunächst werden – ausgehend von konkreten Fallbeispielen – der rhetorische Ansatz sowie die rhetorischen Verunsicherungs- und Versicherungsverfahren erörtert. Es folgt eine Abgrenzung der rhetorischen von der philosophischen Kasuistik auf Basis der Differenz von rhetorischer und philosophischer Quaestio, ebenfalls in Hinsicht auf die Verunsicherungsfrage. Dabei wird insbesondere die epistemologische Position der Dekonstruktion und ihres vorwissenschaftlichen, eher umgangssprachlich bestimmten Rhetorikverständnisses durchleuchtet. Ziel ist es, einerseits die Verunsicherungskategorie im rhetorischen Theoriezusammenhang mit Blick auf die Praxis zu diskutieren, andererseits aber die Schnittstellen zu rhetorikrelevanten Diskussionen der letzten Jahrzehnte in Nachbardisziplinen darzustellen, die ebenfalls auf die Verunsicherungsfrage Bezug nehmen. Verhandelt wird dabei

 Der Physiker und Nobelpreisträger Heisenberg spricht davon, dass die Naturwissenschaft damals für einige Zeit in einen bis dahin ungekannten „Zustand der Verwirrung“ geriet (Heisenberg 1971, 303).

Inversive Persuasion

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auch das Wechselspiel zwischen dem erkenntnisleitenden, produktionstheoretischen Ansatz der modernen wissenschaftlichen Rhetorik auf der einen Seite und den hermeneutikorientierten Bedürfnissen der interpretierenden Disziplinen auf der anderen. Schon hier deutet sich der hohe Komplexitätsgrad des Verunsicherungsproblems an, dem man nur gerecht werden kann, indem man verschiedene Theorie- und Diskussionsfenster öffnet. Dabei zeigt sich, dass immer wieder die genannte Frage auftaucht, womit wir es bei der Rhetorik eigentlich zu tun haben, und dass diese Frage eng mit der Verunsicherungsfrage verknüpft ist. Unvermeidlich müssen viele der engen, innerdiskursiven Beobachtungsebenen überschritten werden. Diese Multidimensionsproblematik scheint in dem berühmten Chaos-Satz des soziologischen Systemtheoretikers Niklas Luhmanns auf: „Dem Chaos kann man nicht vertrauen.“² Mit ‚Chaos‘ wird hier das Gegenteil von ‚Struktur‘ benannt. Worauf bezieht sich diese Kategorie? Mit ‚Vertrauen‘/‚confidence‘ kommt bei Luhmann ein zugleich sozialpsychologischer und rhetoriktheoretischer Zentralbegriff ins Spiel.³ Könnte mit ihm ‚Verunsicherung‘ als Antonym aufgerufen sein? Jedenfalls übersteigt der in Luhmanns Äußerung steckende Ansatz die methodische Begrenzung auf reines Textverstehen und thematisiert die Psyche der Menschen. Luhmann hat in seinen Arbeiten die Frage gestellt, was die Gesellschaft in ihrem Innersten kommunikativ zusammenhält. Es ist auffällig, dass er dabei immer wieder Schnittstellen zwischen den sozialen Interaktionsphänomenen und den psychischen Gegebenheiten des Menschen unter Stichworten wie „Vertrauen“⁴, „Solidarität“⁵, „Gefühl“⁶ oder „Liebe“⁷ hergestellt hat. Dieser ausdrückliche Rekurs auf die psychischen Dispositive verbindet seinen Beobachtungsansatz mit dem der wissenschaftlichen, im Kern neoaristotelisch orientierten Rhetorik, die sich ebenfalls nicht auf rein Textliches und Innersemiotisches (jenseits jeglicher Psychologie und sozialer Interaktionspraxis) beschränkt.⁸ Beginnen wir in Hinsicht auf den bei Luhmann erwähnten ‚Chaos‘-Begriff mit einigen Überlegungen zu den Elementarbedingungen des menschlichen Einge-

 Luhmann (1973) 40.  Knape (2012a) 75.  Luhmann (1973).  Luhmann (1984a).  Luhmann (1984b) 10 – 11.  Luhmann (1982).  Zum „neo-Aristotelism“ in der Rhetorik siehe Black (1965) 27– 35, Rosenthal (1966) 114– 115, Barthes (1970) 172 f. und zur „neo-Aristotelian form of rhetoric found in Tübingen“ Knape (2013a) 189.

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Joachim Knape

bettet-Seins in natürliche Ordnungen, die Erving Goffman 1974 in seiner FrameTheorie primary frameworks für unser Welt-Interpretieren nennt.⁹

Zur Tiefenstruktur von Verunsicherung Die Rhetorik, die sich als moderne wissenschaftliche Disziplin zwischen den Ansätzen von Geistes- und Verhaltenswissenschaften bewegt, stützt sich bei ihrer Theoriebildung auf Einsichten und Erkenntnisse beider Bereiche, sowohl jener der Humanities als auch jener der empirischen Forschungszweige. Schon die antiken Denker liefern uns bemerkenswerte Hinweise für die theorieabstrakte disziplinäre Modellbildung. Platon etwa bezeichnet den rhetorischen Vorgang im Phaidros als Psychagogie (Seelenlenkung der Adressaten durch den Orator) und hat damit als erster das Programm der Rhetorik begrifflich zusammengefasst. Um das damit verbundene Mentalgeschehen, die Bewegungen der psychē, zu veranschaulichen, greift Platon auf allegorisch-mythische Vorstellungen vom Seelenwagen oder Seelengefieder zurück. Heute verbietet sich solch ein Rückgriff auf den Mythos.Wir müssen das nach wie vor schwer durchschaubare Mentalgeschehen und die Bedingungen menschlicher Kommunikation mit den heute gültigen Paradigmen, darunter physikalischen oder anderen naturwissenschaftlichen Modellvorstellungen, plausibilisieren. Hier könnte es sich im Interesse eines besseren Verständnisses als sinnvoll erweisen, auf das Begriffsangebot und die Erklärungen des Philosophen und Wissenschaftstheoretikers Wolfgang Stegmüller Bezug zu nehmen, der in seinem Werk über die ‚Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie‘ eine durchaus humorvoll gefärbte Brücke von den Theorien der Physik zu unserer modularisierten Lebenswelt schlägt.¹⁰ Mit Hilfe einiger von ihm verwendeter strukturanalytischer Begriffe kann man versuchen, einen in den Humanities eher unüblichen Zugang zum Verständnis der Tiefenstruktur des Verunsicherungsphänomens zu finden. Dabei kommen Begriffe wie Zustandsveränderung durch Energiezufuhr, Gleichgewicht, Unordnung und Ordnung in Frage. Stegmüller beschäftigt sich unter anderem mit der „Rolle des zweiten Hauptsatzes der

 Hierzu gehören auch die natürlichen: „Natürliche Rahmen identifizieren Ereignisse, die als nicht gerichtet, nicht orientiert, nicht belebt, nicht geleitet, ‚rein physikalisch‘ gesehen werden; man führt sie vollständig, von Anfang bis Ende, auf ‚natürliche‘ Ursachen zurück. Man sieht keinen Willen, keine Absicht als Ursache am Werke, keinen Handelnden, der ständig auf das Ergebnis Einfluß nimmt“ (Goffman 1980, 31).  Zum Begriff „Lebenswelt“ Husserl (1954) §§ 33 – 34 und Knape (2012a) 40 – 41; siehe auch Habermas (1981b) 182– 183.

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Thermodynamik“, der besagt, dass „sich ein abgeschlossenes System nur in Richtung auf Abnahme der Ordnung entwickeln kann“.¹¹ Stegmüller erörtert diese Frage unter Rekurs auf die Debatten zur Entstehung des Lebens auf der Welt und zu jenen Zustandsveränderungen, aus denen das biologische Leben mit physikalischer Notwendigkeit hätte hervorgehen können. Bei der durch Energiezufuhr von außen erfolgenden physikalischen „Zustandsänderung geht der weniger wahrscheinliche Zustand in den wahrscheinlicheren über“. Der zweite Hauptsatz besagt daher für ein abgeschlossenes System, dass „nur die Unordnung, nicht aber die Ordnung“ zunimmt;¹² Carl Friedrich von Weizsäcker spricht vom „Chaos“ als Endzustand.¹³ Die klassische Thermodynamik „besteht zu einem großen Teil im Studium von Gleichgewichtszuständen“, sagt Stegmüller, bei denen die Entropie einen Maximalwert besitzt.Wie kann dann aber Unwahrscheinliches,wie etwa das Leben, als Geordnetes entstehen? Eine Frage, die auch bei einem Systemtheoretiker wie Niklas Luhmann immer als Auslöser für seine Untersuchungen fungiert. Die Antwort könnte damit zusammenhängen, dass in den genannten Systemen durchaus Schwankungen mit abnehmender Entropie vorkommen, aufgrund der freien, nicht-determinierten „Natur des Elementargeschehens“, so Stegmüller.¹⁴ Ein Informationstheoretiker wie François Bonsack würde in diesem Zusammenhang von entropie-variabilité (also Energieveränderlichkeit) sprechen.¹⁵ Seine 1961 erschienene Arbeit steht im Zusammenhang mit Bestrebungen, die physikalischen Theorievorgaben der Thermodynamik informationstheoretisch umzuformulieren bzw. anzuwenden, vielleicht auch nur in ein Analogieverhältnis zu bringen. Entsprechende Anregungen von Informationstheoretikern wie Claude E. Shannon brachten in den 1940er- und 1950er-Jahren zahlreiche einschlägige Arbeiten hervor.¹⁶ Bonsack weist darauf hin, dass variabilité als notion centrale der Thermodynamik in der théorie de l’information zur Kategorie der spécificité (Eigentümlichkeit) transformiert werden muss.¹⁷ Damit ist gemeint, dass die historische Irreversibilität der durch gezielte Energiezufuhr bedingten Prozesse in einem modular beobachtbaren Feld zu ganz bestimmten (und keinen anderen) Gestaltwerdungen im Sinne unverwechselbarer Eigentümlichkeit (spécificité)

 Stegmüller (1986) 204.  Stegmüller (1986) 221.  Weizsäcker (1939).  Stegmüller (1986) 222.  Bonsack (1961) 171– 175, zum Begriff 172.  Shannon (1948). Auf ihn geht auch das heute gern als „klassisch“ bezeichnete, rein technisch-informationstheoretisch designte Kommunikationsmodell mit den drei interagierenden Instanzen „Sender-Kanal-Empfänger“ zurück; siehe dazu Shannon u. Weaver (1949).  Bonsack (1961) 172.

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Joachim Knape

führt. Methodische Voraussetzung ist hier die Tatsache, dass es sich „um lokale Entropieabnahme in offenen Systemen“ handelt, „d. h. solchen, die in begrenztem Austausch mit ihrer Umwelt stehen (bei Lebewesen: Stoffwechsel) und als relative Ganzheiten Teil eines umfassenderen geschlossenen Systems sind, für das selbstverständlich das zweite thermodynamische Gesetz gilt“.¹⁸ Energiezufuhr und damit eine „Abnahme der Entropie korreliert mit einer Zunahme an Gestalteigentümlichkeit“, heißt es bei Bonsack,¹⁹ und insofern basiert „die Menge der Information auf Negentropie“.²⁰ Man kann vor diesem Hintergrund sagen: „Die Unterscheidung zwischen Spezifikation und Variabilität erlaubt die Frage des Zeichens zu präzisieren (Entropie oder Negentropie).“²¹ Damit haben wir uns dem Bereich der kulturellen Artefakt-Produktion und der Welt der Zeichen angenähert; hier insbesondere dem der Produktion von Kommunikations-„Geräten“ (Bühler). Man kann diesen Bereich aus den unterschiedlichsten Beobachterpositionen und vor dem Hintergrund sehr verschiedener Theorieansätze beschreiben. Informationstheoretisch gesehen könne man, wenn man sich die Tatsachen genau anschaue, durchaus auch den Versuch unternehmen, so Bonsack weiter, die spécificité von Artefakten,wie etwa Mosaiken, einer Melodie, einem Apparat oder einem lebenden Organismus, auf das Wirken „strukturaler Negentropie“ zurückzuführen.²² „So wie die Auswahl einer Nachricht auf eine Folge von elementaren Wahlentscheidungen reduziert werden kann, kann man auch die Konstruktion einer komplexen Struktur auf elementare Wahlentscheidungen zurückführen; je unwahrscheinlicher und zahlreicher die Wahlentscheidungen waren, desto größer ist die Eigentümlichkeit einer Struktur.“²³ Der Linguist Helmut Lüdtke sieht in diesem Theorierahmen eine Möglichkeit, bestimmte Phänomene des Sprachwandels zu erklären, wenn er schreibt, man könne etwa „die irreversibel ablaufende pauschale Reduktion des Sprachschallerzeugungsaufwandes“ unter Entropiegesichtspunkten sehen, „also als einen Fall des zweiten thermodynamischen Gesetzes; das liegt umso näher, als ja der

 Lüdtke (1979) 197.  „[…] une diminution de cette entropie correspond à une augmentation de la spécificité“ (Bonsack 1961, 172).  Bonsack (1961) 172.  „Cette distinction entre spécificité et variabilité permet de préciser la question du signe (entropie ou nég-entropie)“ (Bonsack 1961, 172).  Bonsack (1961) 173.  „De même que le choix d’un message se réduit à une suite de choix élémentaires, la construction d’une structure complexe se ramène à des choix élémentaires; la spécificité d’une structure est d’autant plus grande que les choix étaient plus improbables et plus nombreux“ (Bonsack 1961, 173).

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Sprecher in Form von Sprachschall Negentropie (= Spezifizität) erzeugt“.²⁴ Hierzu fügen sich die folgenden Feststellungen Wolfgang Stegmüllers: „Der Physiker E. Schrödinger hat einmal auf die Frage, wovon sich die Lebewesen ernähren, die universelle physikalische Antwort gegeben: Sie ernähren sich von negativer Entropie, genannt Negentropie. Gemeint ist: Die Lebewesen entziehen ihrer Umgebung Ordnung, um ihren eigenen Ordnungszustand zu erhalten oder zu vermehren, und erzeugen dafür in ihrer Umgebung größere Unordnung. Sie sind daher typische Beispiele von offenen Systemen, die mit der Umgebung Materie und Energie austauschen, während der Entropiesatz nur für abgeschlossene Systeme gilt. (Dieser Sachverhalt läßt sich auch im Bereich unserer Alltagserfahrung veranschaulichen: Ein konzentriert arbeitender Wissenschaftler erzeugt einen hohen Betrag an Negentropie; die dafür zum Ausgleich entstehende Abnahme an Ordnung in seiner Umgebung zeigt sich vor allem an seinem unaufgeräumten Schreibtisch. Ein Bürokrat hingegen – z. B. einer, der gerade dabei ist, eine Gemeindeordnung in ein Hochschulgesetz zu übersetzen – erzeugt wenig negative Entropie. Das zeigt sich schon darin, daß sein Schreibtisch in peinlichster Ordnung ist.)“²⁵

Dubium und Zertum: Ein mentalistisches Modell der Verunsicherung unter rhetorischen Vorzeichen Diese tiefenstrukturalen Konzepte von Unordnung und Ordnung kann man als Rhetoriker modularisiert oder bereichsbezogen operationalisiert wiedererkennen in den in der modernen rhetorischen Theorie etablierten Begriffen Dubium und Zertum, Zweifel und innere Gewissheit.²⁶ Zweifel und Gewissheit versteht die Rhetorik teleologisch als beim Adressaten herbeigeführte, strategisch erzeugte Mentalzustände, bei denen auf der einen Seite so etwas wie emotional-kognitive/s „Unordnung/Chaos“ herrschen könnte, auf der anderen Seite aber gefestigte „Ordnung“, um die Stegmüller-Terminologie zu verwenden.

 Lüdtke (1979) 197 unter Bezug auf Bonsack (1961) 41– 44.  Stegmüller (1986) 222.  Wobei Zertum mit „Z“ geschrieben wird, um deutlich zu machen, dass dies in der Antike noch kein rhetorischer Terminus technicus in dem hier gebrauchten Verständnis war (Knape 2012a, 76 – 77; 80 – 81). Freilich gibt es Aussagen darüber, wie Redegegenstände nach dem Kriterium dubium/certum sortiert werden können (Quint. inst. 3,4,8; 3,7,3).

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Das, was da geordnet ist, soll im Folgenden unter Rückgriff auf die Diskussion des Begriffs ‚Dogma‘ bei Sextus Empiricus ebenfalls Dogma (Willensmeinung) genannt werden, wenn es um Prinzipien oder philosophisch-theoretische Grundsätze geht.²⁷ Im Fall eines lebensweltlich operationalisierten Anliegens – also auch eines persönlichen Anliegens – können wir von einem Desiderium als Gegenstand rhetorischen Handelns sprechen. Überzeugung ist hier als Zustand des Überzeugt-Seins zu verstehen, wie lang er auch immer währen mag. Für solche gefestigten mentalen Einheiten, z. B. für sicher gehaltene Sätze (man könnte unter Anleihe bei der Gestalttheorie auch von Denkgestalten sprechen), gibt es im Deutschen viele weitere Begriffe: Beschluss, Lehrsatz, Gebot, Satzung (alles Interpretamente von Dogma, die man finden kann). Aber auch Begriffe wie Konzept, These, Theorie, Glaubenssatz, Idee, Formel, Gesetz, Regel, fixe Idee, Einstellung, Haltung oder Plan, ja auch so etwas wie Denk- oder Verhaltensmuster usw. kommen als Einzelbegriffe für Dogma oder Desiderium in Betracht. Ob hinter solchen dogmatischen oder desideralen Mentalfixierungen auch noch so etwas wie ‚Wahrheit‘ im außerpsychologischen Sinn steckt, ist keine Frage der pragmatistisch ausgerichteten Rhetoriktheorie mehr und in anderen Kontexten zu erörtern. Die Rhetorik hält sich an das individualpsychologische ThomasTheorem des faktischen, psychischen Realitätsstatus subjektiver Gewissheit: „If men define situations as real, they are real in their consequences.“²⁸ Unter dem rhetorischen Zertum ist kurz gesagt ein mental verankerter Gewissheitszustand zu verstehen, der sich auf ein Dogma resp. Desiderium oder die Verbindung beider bezieht. Ohne Zertum keine Handlungssicherheit. Das Zertum enthält zwei Komponenten: die mental fixierten Inhalte sowie deren willenspsychologische Verankerung. Oder anders gesagt: Mit dem Zertum ist einerseits als Inhalt ein gefestigter strukturierter Gedanke (etwa ein Dogma) verbunden, und andererseits eine emotionale und willentliche Verankerung, die wir Akzeptanz oder gar mentale Sicherheit für einen gewissen Zeitraum nennen können. Nach Leon Festingers 1957 formulierter und inzwischen empirisch gut abgesicherter cognitive dissonance-Theorie brauchen die Menschen normalerweise diesen Zustand des überwiegenden Überzeugt-Seins, um sich wohl zu fühlen (Homöostase).²⁹ Dies ist ein wesentlicher psychologischer Hintergrund für die von Herbert P.

 Insofern ist ein Dogma als persönlich gefestigte und also gewisse Denkgröße mehr als nur die Übereinstimmung mit einer verbreiteten, nicht unbedingt in gleichem Maße gewissen Meinung (Doxa).  Thomas u. Thomas (1928) 572.  Festinger (1957); aktuelle Diskussionen zum Forschungsstand bei Cooper u. a. (2005); Price Dillard u. Miraldi (2008); Perloff (2010) 236 – 257.

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Grice formulierte Theorie der konversationellen Implikaturen.³⁰ Demnach versuchen wir unter standardkommunikativen Bedingungen immer wieder, im Verstehensprozess die „uncertain dynamic“³¹ jeglicher Kommunikation in Richtung Eindeutigkeit zu reparieren.³² Die aversive Spannung des Verunsichert-Seins muss also ständig zugunsten der Zertifikation abgebaut werden. Der Zustand des Hin- und Hergerissen-Seins, des Zwiespalts, der Ungewissheit und Entscheidungsunfähigkeit wird meist als Unordnungsstruktur und damit als unerträglich empfunden. Man hat daher von unserer „Unfähigkeit zu zweifeln“ gesprochen.³³ Und schon 1817 erkannte und diskutierte der Dichter und Philosoph Samuel Taylor Coleridge das damit einhergehende Phänomen der ‚willentlichen Aussetzung von Ungläubigkeit‘ (willing suspension of disbelief).³⁴ In der modernen Psychologie wird diese Neigung zur Unsicherheitsreduktion, die mit semantischen Festlegungen, mit Dogmatisierungen und Willensorientierungs-Festlegungen einhergeht, inzwischen auch als Ambiguitätsintoleranz bezeichnet.³⁵ Vermutlich handelt es sich bei der permanenten Zweifelsabwehr um eine evolutionsbiologisch verankerte Überlebensstrategie, die nach Dogmatisierung von Lernerfahrung und damit nach festen Grundorientierungen verlangt, um schnell und effektiv reagieren zu können, als Ersatz für tierisches Instinktverhalten.³⁶ Die moderne Neurobiologie bringt die mit kognitiver Unsicherheit einhergehende Verunsicherung und Auslösung eines aktivitätshemmenden „Handlungskonflikts“ auf die Formel: „Bin ich mir nicht sicher, kann ich nicht handeln.“³⁷ Das ist der Grund für das kulturelle Paradoxon der Umkehrung des Entropiestrebens, also der Negentropie im Sozialleben. Stets wenden wir in der Kultur Kräfte auf, um psychestabilisierende Ordnung zu stiften. Das aber hat für inverse Strategien, also Strategien der Verunsicherung, Folgen: 1. Die Herbeiführung von Verunsicherung verlangt angesichts der kognitiven Dissonanzabwehr hohen rhetorischen Aufwand und muss 2. in Rechnung stellen,

 Grice (1967); teilweise publiziert in Cole u. Morgan (1975) 41– 58 und in Grice (1989) 22– 40; Kap. II, III und V sind teilweise ins Deutsche übersetzt bei Meggle (1979); siehe dazu auch Knape (2013a) 65 – 67.  Grant (2007) 2.  Grewendorf u. a. (1987) 401– 421.  Gmür (2006).  Coleridge (1817) 6.  Gmür (2006) 41– 42; Knape (2007) 53 – 54.  Diese auf Umwelterfahrungs-Lernen basierende Bildung von Wirklichkeitshypothesen hat man in der evolutionären Erkenntnistheorie „hypothetischen Realismus“ genannt (Riedl 1987, 39 – 40).  Spitzer (2008) 108.

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dass Verunsicherung eine geringe Halbwertzeit hat, letztlich nur transitorisch und wieder auf Neuordnung bzw. Redogmatisierung gerichtet ist. Der Versuch, mit solchen Erläuterungen die rhetorische Zertums-Kategorie zu verdeutlichen, ist deswegen wichtig, weil jede in entgegengesetzte Richtung gehende, rhetorisch kalkulierte Verunsicherungsstrategie genau hier ansetzen muss. Bei den oben unter den Begriffen Dogma und Desiderium zusammengefassten ‚Gestalt‘- und Willens-Festlegungen im Denken, verstanden als mentale Zustände, liegen die Ansatzpunkte, um nicht zu sagen Angriffsziele, einer rhetorischen Intervention, wenn es um das Kerngeschäft der Rhetorik geht, d. h. um die Wechselerzeugung, um Metabolie mit Hilfe persuasiver Mittel. Der Vorgang besteht in der Abkehr von einer vorliegenden Sicherheit, in dem damit verbundenen Hervorrufen von Verunsicherung mit dem Ziel, dann eine andere, neue Gewissheit aufzubauen. In dieser paradoxen Teleologie zeigt sich die Janusköpfigkeit der Rhetorik bei ihrer Fallbestimmung. Für die kognitive Lösung von einer inhaltlichen Dogmatisierung steht auch der Begriff Zweifel. Dieser greife letztlich „immer Propositionen“ an, heißt es beim Philosophen Dietmar Heidemann, und weiter: „Als propositionale Einstellung richtet sich der Zweifel folglich immer auf ein Objekt und findet nicht einfach als ein inhaltsloser mentaler Akt statt. Denn zweifeln, ohne an etwas zu zweifeln, ist ebenso wenig möglich wie meinen, ohne etwas zu meinen.“³⁸ Für dieses Objekt des Anzweifelns soll der auf den ersten Blick vielleicht überraschende, beim Skeptiker Sextus Empiricus entliehene Begriff Dogma stehen. Der beim Adressaten zu bewirkende Zweifel selbst besteht im inneren Abrücken von einer auf das Denkobjekt bezogenen Zuschreibung von Geltung. „Wo gezweifelt wird, da wird unweigerlich geurteilt.“³⁹ „Und zwar gibt der Zweifelnde in der Äußerung seines Zweifels das Urteil kund, daß er nicht wisse, wie das zu Beurteilende in einer gegebenen Hinsicht eingeschätzt zu werden habe. Das Urteil des Zweifels hebt auf, was in anderen Urteilen behauptet, soll heißen, bejaht oder verneint worden ist. Der Zweifel suspendiert ein bereits ergangenes Urteil, nimmt es zurück und eröffnet alle Räume des Sowohl-als-Auch.“⁴⁰ Der Erleidens-Perspektive eines Heinrich Schmidt, der im Philosophischen Wörterbuch schreibt „Zweifel lähmt das Handeln und macht krank“,⁴¹ stellt die Rhetorik eine aktionale Sichtweise gegenüber, wie sie der Philosoph Andreas Urs Sommer im Jahr 2005 ganz rhetorisch formuliert hat: „Zweifeln ist ein Tun, eine Leistung, die sich gegen erheblichen Widerstand des unbefragten Glaubens und Meinens erst    

Heidemann (2011) 2676. Hönigswald (1914) 1. Sommer (2005) 13. Schmidt (1931) 476.

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durchsetzen muß. Zweifel müssen sich artikulieren.“⁴² Der nächste rhetorisch relevante Schritt ist dann die Aktion, denn man kann mit den Soziologen Alfred Schütz und Thomas Luckmann sagen, dass „am Anfang des Handelns der Zweifel steht“, bei dem es dann aber nicht bleibt.⁴³

Teleologische Inversion im rhetorischen Prozess des Verunsicherns Aus Sicht der Rhetorik freilich ist der Zusammenhang noch etwas anders zu spezifizieren. Zunächst einmal sei an dieser Stelle auf das Proprium rhetorischer Kommunikation hingewiesen: Ein Orator muss als rhetorisch handlungsmächtig eingestellter Kommunikator in einer gegebenen Lage jene Kernoperation der Rhetorik ausführen, die für sie konstitutiv ist: die Persuasion. Im Persuasionsvorgang, so die wohl begründete Annahme der Rhetorik, kann im Gelingensfall mit kommunikativen Mitteln beim Adressaten ein mentaler Wechsel von einem Standpunkt A zu einem Standpunkt B erzeugt werden.⁴⁴ Man kann diesen Wechsel anhand von Äußerungen oder Handlungen, z. B. der Stimmabgabe auf einem Parteitag, überprüfen. Aber was wirklich im Detail in der black box des ‚Gehirns‘ bei einzelnen Menschen im Persuasionsprozess abläuft, wissen wir nicht genau. Wir können allerdings versuchen, Modelle zu entwickeln, die uns die Vorgänge verständlicher machen. Wir hatten gesagt, dass unter fundamentalrhetorischer Perspektive das Ziel der Persuasion in letzter Konsequenz immer die Erzeugung eines Zertums, einer inneren Gewissheit beim Adressaten ist. Die Prozess-Perspektive ist auch bei der Umkehrung der persuasiven Richtung entscheidend.⁴⁵ Im Rahmen einer rhetorischen Intervention, eines Persuasionsaktes oder -prozesses, haben wir es auch bei der teleologischen Inversion mit einem kalkulierten Vorgang, eben dem der aktiven Verunsicherung als einer Art Angriff auf mentale Sicherheit zu tun, den wir Infestation nennen können.⁴⁶ Er verhält sich invers zu dem der Versicherung (der Zertifikation). Im Rahmen einer Wechselerzeugung ist immer die Prozessphase einer vektoriellen Umkehr einzuplanen. Bevor Persuasion neu versichert, muss der vektorielle Pfeil in Richtung

 Sommer (2005) 13.  Schütz u. Luckmann (2003) 486.  Knape (2003) 874– 875.  Zur Prozess-Perspektive der Rhetorik siehe Knape (1998) 60 – 65 und (2013a) 7; 61.  In der wissenschaftlichen Wahrnehmung wird das Ergebnis dann nicht selten als „Bruch“ von herrschender „Ordnung“ verstanden (vgl. Agnoli 1999, 13 – 14; 32).

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Verunsicherung gedreht worden sein. In der Mathematik ist Inversion die Umkehrung einer Kalkülregel (man spricht auch von einer inversen Regel). Kalkulierte rhetorische Verunsicherung will vorübergehend Bewusstseinsordnung auflösen, um neue Ordnung, z. B. neue Bindung (Systase) zu erzeugen. Hier zeigt sich das rhetorische Paradox der Verschränkung von Wechsel- und Bindungserzeugung.⁴⁷ Die instrumentell gestützten Maßnahmen der Rhetorik sind bei der Verunsicherung also als gezielter Gewissheitsabbau zu sehen. Der Vollständigkeit halber sei auch auf die Gegenseite, die der Adressaten verwiesen, deren Strategien der Rückgewinnung von Sicherheit die moderne „Uncertainty Management Theory“ untersucht.⁴⁸ Den gegen die innere Sicherheit gerichteten mentalen Abbau, diese mentale Erschütterung oder Irritation, kann der Orator durch zahlreiche Strategien und Interventionsmaßnahmen erreichen, von denen später noch die Rede sein soll.

Verunsicherung als rhetorische Methodenfrage Anders als es der Titel nahelegt, entwickelt der bis 1990 am Otto-Suhr-Institut Berlin lehrende Johannes Agnoli in seinem Buch über ‚Subversive Theorie‘ von 1999 keine systematische Theorie der Subversion,⁴⁹ sondern entwirft nur eine Geschichte des Auftretens von ihm als subversiv angesehener Ansätze und Methoden in der intellectual history. Drei Strukturkomponenten macht dieser historische Längsschnitt aber doch deutlich: Immer besteht das aktiv bestürmende Verunsichern (die Infestation) von herrschenden Positionen im ‚Zweifel-Erwecken‘. Entscheidend ist dabei der Aufbau von Konkurrenz durch ‚Einführung von Alternativen‘ in den jeweiligen Diskurs, die den ‚Vergleich‘ als die BewusstseinsKernoperation ermöglichen, z. B. auf Grund literarischer Utopien.⁵⁰ Im Sozialzusammenhang zieht der dann folgende Abbau oder die Auflösung von dogmatischer Ordnung jeweils ‚Auflösung von Macht‘ (in welchem gesellschaftlichen Subsystem auch immer) nach sich. Denkordnungen korrelieren also mit Machtordnungen. Die gesamte Verunsicherungsproblematik möchte ich vor diesem Hintergrund aus rhetorischer Sicht auf drei Ebenen systematisieren: 1. mentale Vorgänge und Zustände; 2. interaktionale Vorgänge; 3. rhetorische Operationen und Techniken. Zunächst zu den anzunehmenden mentalen Prozessen und Zuständen. Funda   

Knape (1998) 60 – 65 und (2012a) 85 – 86. Hogan u. Brashers (2009). Agnoli (1999). Agnoli (1999) 12; Marx spreche vom alternativen „Traum von einer Sache“ (ebd.).

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mentalrhetorisch gesehen ist die Verunsicherungsintervention oder Infestation grundsätzlich transitorisch, weil sie nur als Ermöglichungsbedingung neuer Gewissheit anzusehen ist. Im Gegensatz zum Konzept des skeptischen Dauerzweifels (etwa bei Sextus Empiricus) wird hier also mit guten Gründen der persuasive Dreischritt einer näherungsweise an Hegels Modell orientierten Art rhetorischer Verfahrensdialektik postuliert: Von Gewissheit z1 über eine Addubitation oder Aporie (a) zu Gewissheit z2 z1→ a → z2

Ausgangspunkt ist im Rahmen dieses Modells ein erstes, irgendwie gewonnenes Zertum (z1), eine innere Gewissheit beim Adressaten. Durch eine rhetorische Intervention wird diese Gewissheit abgebaut, und es entsteht Zweifel (a) als vorübergehend manifest werdender Mentalzustand.⁵¹ Was diesen Verunsicherungseffekt angeht, kann man kurz zusammengefasst sagen: Jedem Persuasionsvorgang ist ein Moment der Verunsicherung als Ermöglichungsbedingung neuer Gewissheit inhärent. Rein technisch kann es für den Aufbau der neuen Gewissheit (z2) verschiedene Wege geben. So kann etwa schon im Moment der Zweifelerzeugung, also gleichzeitig, eine Alternative stark gemacht werden oder aber der mentale Neuaufbau in der Sache findet später, zeitversetzt statt. In bestimmten Fällen kann diese neue Gewissheit auch darin bestehen, eher beim eingetretenen Zweifel zu bleiben und noch keine neue dogmatische Fixierung anzunehmen. Das rhetorische Verunsicherungsmodell spricht an dieser Stelle vom Wechsel mentaler Zustände (kognitiver oder emotionaler Art),⁵² die der Orator aktiv beim Adressaten herbeiführen muss.⁵³ Auf der semantischen Ebene lässt sich dies als Bewegung von einem Dogma zu einem alternativen Dogma darstellen. Auf pragmatischer Betrachtungsebene wäre es der Dreischritt von einer dogmatischen Setzung über eine Entgegensetzung zur Dogmenzersetzung. Dies könnte ge-

 In einem anderen Zusammenhang habe ich dieses Eintreten des Zweifels das Othello-Reaktiv genannt; siehe dazu Knape (2014).  Zum Verhältnis von Rationalität und Emotionalität bzw. Irrationalität vgl. Agnoli (1999) 29 – 30.  Einen Grenzfall stellen hier die sogenannten Überwältigungsstrategien dar, auch wenn die moderne Rhetoriktheorie nicht mehr an dem im Deutschen begrifflich machbaren Unterschied von ‚Überreden‘ und ‚Überzeugen‘ festhält. Wenn die Grice’schen Maximen eingehalten sind, steht bei gelingender rhetorischer Intervention am Ende beim Adressaten immer eine innere Gewissheit oder Überzeugung. Beim Überwältigen steht die Freiheitsbedingung auf Seiten des Adressaten bei der Interaktion in Frage. Hier ist etwa an Phänomene der Partnerwerbung zu denken, wo oft rein emotionale oder attraktivitätsbedingte Komponenten Einfluss auf die Dedogmatisierung bestehender Liebes- oder Ehekonzepte nehmen.

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danklich-argumentativ durch Operationen vom Begründen über das Widerlegen bzw. vom Plausibilisieren über das Deplausibilisieren herbeigeführt werden. Dazu dienen vor allem auch Techniken der semantischen Verunsicherung, also der Erzeugung von Bedeutungsunklarheit von Äußerungen durch den strategischen Aufbau von Inkohärenz, also etwa logischer Inkonsistenz, Ambiguität,⁵⁴ innerer Widersprüchlichkeit oder Divergenz von Ratio und Emotion. Damit lässt sich beim Adressaten Zweifel als Mentalzustand der Unordnung, Unruhe und des mentalen Schwankens auslösen. Verstärken kann man dies oratorseitig durch irritierende Verhaltensweisen in der Interaktion, z. B. ostentative Normabweichung, Regelübertretung oder das Ignorieren von Vorschriften, das die Kommunikationspartner nicht ohne weiteres integrieren können. Interessanterweise unterscheidet der Alltagsgebrauch entsprechender Begriffe nicht zwischen Zustand und Prozess. Verunsicherung, Irritation, Dekonstruktion, Demontage, Ironie⁵⁵ und Desillusionierung sind im Deutschen auch als interaktionale Vorgänge zu verstehen, die alle etwas mit dem Vorgang des ‚Abbringens von einem Standpunkt‘ zu tun haben. Der Rhetoriker verbindet mit diesen Begriffen jedoch zunächst einmal systematisch deutlicher die Zustandsperspektive. Wir sind damit schon bei der gegenüberstehenden Frage nach den interaktionalen Vorgängen, dem zweiten der oben genannten Aspekte, angekommen. Die Kernoperation ist hier die Adpragmatisierung von Texten bestimmter Art. Damit ist das Einbringen von Texten in den sozialen Interaktionszusammenhang gemeint (indem sie kommuniziert werden);⁵⁶ inhaltlich im vorliegenden Fall mit oppositionell-alternativer Dogmatik. Dies kann dialogisch, hoch konventionalisiert und kanalisiert geschehen oder monologisch eruptiv. Moderne Gesellschaften integrieren die Möglichkeit des Sprechens über Alternativen in das soziale Leben, um revolutionäre Eruptionen zu vermeiden. Dabei können verunsichernde Denkalternativen in dafür vorgesehene situative Gespräche eingeführt werden (wir sprechen dann von Diskussionen) oder aber in freigegebene dimissive Debattenkanäle (z. B. in Printmedien-Zirkulationen oder iterative Fernsehdebatten).⁵⁷ Das bekannteste eruptiv-monologische Kommunikationsverfahren ist der soziale ‚Protest‘ in all seinen Erscheinungsformen (bis hin zur Rebellion oder Revolution). Sein Proprium ist die aggressive,widerständige und widerstandsausgesetzte

 Bauer u. a. (2010).  Schwarz-Friesel (2009).  Vgl. Knape (2013a) 209 – 210; 264.  Zu Situativik und Dimissivik als den beiden Basissettings der Rhetorik siehe Knape (2005) 30 – 31.

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Artikulation der Negation von etwas Bestehendem.⁵⁸ In demokratischen Kulturen hat man inzwischen gelernt, auch mit gemäßigten Protesteruptionen zu leben. Dazu gehört etwa das Culture Jamming als Form des ‚semiotischen‘ Widerstands. „Heute bezeichnet es eine subversive kulturelle Praxis, eine Rebellion gegen die In-BesitzNahme öffentlicher Räume und Zeichen durch Industrie und Kommerz. Culture Jamming versteht sich als Sand im Getriebe der alles verheißenden und nichts erfüllenden Werbeindustrie.“⁵⁹ Manifest wird diese Art des Protests in Aktionsarten wie Punk, Graffiti-Kunst, Skateboarding, Camouflage und Fake.⁶⁰ Widerstandsausgesetztheit heißt in diesem Zusammenhang, dass diese Negation aktuell und historisch den Anhängern von dogmatisierten ‚Wahrheiten‘, die ihrerseits Treue zur herrschenden Ordnung halten,⁶¹ als Hauptfeind gilt, und dass demgegenüber aus ihrer Sicht immer wieder heftige Abwehr-, Apologie- und Verteidigungsrhetoriken mobilisiert werden müssen.⁶² Bei allen genannten Kommunikationsverfahren und -vorgängen bedienen sich die Oratoren auf der Mikro- oder Mesoebene der üblichen rhetorischen Techniken und Operationen, die – wie jedes Instrument – an sich neutral sind. Damit sind wir beim dritten Punkt. Mit Hilfe der rhetorischen Techniken kann recte oder invers persuadiert werden. Im Fall von Verunsicherungsstrategien dienen die Techniken letztlich nur dazu, ein neues Dogma durch Erschütterung eines alten als das überlegene zu erweisen. Das könnte man auch Subversion nennen. Im konkreten rhetorischen Ereignis sind für diesen Zweck alle gesellschaftlich akzeptierten Kommunikationsmittel recht, auch alle, die die Affekte anregen. Aber natürlich steht bei der Erschütterung und Subversion auch immer wieder die rhetorische Argumentation im Mittelpunkt. Deren Spielarten lassen sich alle zum Auf- und Abbau von Dogmen nutzen. Also: Beweis und Gegenbeweis, logische Schlüsse aller Art, Widerlegung und Überprüfung anhand von Daten; oder in den Formulierungen Verunklärung und Verwirrung stiften durch Widersprüchlichkeit, Unterspezifikation oder Vagheit,⁶³ durch Obskurität oder intentionale Ambiguierung usw.⁶⁴ Die Kombination solcher Operationen können wir in Hinsicht auf Dedogmatisierung mittels Verunsicherung unter den Begriff der Kritik als zentraler, rationaler Dedogmatisierungs-Methode des westlichen Denkens subsu-

 Agnoli (1999) 31; Scholl (2009).  Lasn (2005) Covertext.  Völlinger (2010) 11; vgl. auch Scholl (2009).  Agnoli (1999) 21– 22.  Vgl. das Kapitel „How do ‚true believers‘ handle doubt?“ bei Berger u. Zijderveld (2009) 94– 103.  Vgl. etwa Müller u. von Groddeck (2013).  Zur Ambiguität siehe wiederum Bauer u. a. (2010).

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mieren. In diesen Zusammenhang gehört auch der cartesianische Zweifel, den René Descartes in seinen ‚Meditationes‘ (I) zur erkenntnisfördernden Operation schlechthin erklärt. In modernen Strukturen von Politik (Opposition) oder Wissenschaft (kritisierende Kontrolle) ist der methodische Zweifel heute institutionalisiert. Es ist ein gebändigter und prozessual verankerter Zweifel, der nicht notwendig in einen fundamentalen Zweifel münden muss. Beispiele für die Strategien von einerseits Widerspruch, Opposition, Kritik, Protest sowie andererseits Rationalisierung und Emotionalisierung zur Wiederherstellung von dogmatischer Sicherheit liefern immer wieder die politischen Debatten in Parlamenten oder auf Parteitagen sowie ihre Resonanz in den Medien.

Verunsicherung als kriminellkommunikative Methodenfrage Unvermeidlich muss an dieser Stelle auch auf Manipulation und Demagogie eingegangen werden. Da der rhetorische Fall fundamentalrhetorisch gesehen nur beim Einsatz gesellschaftlich akzeptierter Methoden gegeben ist, fallen Machenschaften wie Diffamierung oder Demoralisierung systematisch unter eine andere Rubrik, die sich bisweilen mit Bezeichnungen wie Manipulation, Demagogie oder schwarzer Rhetorik verknüpft. Damit sind im Kern nur Betrugs- und Kriminaltatbestände gemeint.⁶⁵ Betrachten wir das Beispiel der ‚Demoralisierung‘ etwas genauer. Dieser unter Ausschaltung des Grice’schen Kooperationsprinzips⁶⁶ kriminell herbeigeführte Zustand bei einem Menschen, verstanden als stattgehabter Abbau von Werte- und Verhaltenssicherheit im Sozialkontakt, ist nicht in einem klar definierten Kommunikations-Verfahren ‚Demoralisierung‘ kommunikativ herstellbar. Diesen Verunsicherungszustand können nämlich viele situationsgebundene Interaktionskomponenten herbeiführen. So wäre etwa an Sprechakte bzw. Mikrooperationen folgender Art zu denken: Beleidigung, Herabsetzung oder Angriffe auf die Scham, religiöser Tabubruch oder die Herabwürdigung von Familienwerten. Dies sind Techniken der Manipulationskommunikation von Geheimdiensten,wie sie etwa in Guantanamo von der CIA und auch sonstwo praktiziert werden. Der gewünschte mentale Zustand beim Adressaten ist dann die Demoralisierung, also die Erschütterung bestimmter, teils ganz persönlicher dogmatisierter Haltungen. Beim

 Knape (2006) 75 – 78.  Siehe Anm. 30.

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Ministerium für Staatssicherheit der ehemaligen DDR hieß das entsprechende, gezielt eingesetzte Verfahren „Zersetzung“.⁶⁷ Diese nicht konventionalisierten bzw. sozial nicht akzeptierten Verfahren tragen auch Namen wie Desintegration,⁶⁸ Destabilisierung, Diversion⁶⁹ oder Infiltration. Hier lassen sich spezielle Kommunikationsformen wie Desinformation,⁷⁰ Gerüchte oder ‚urban legends‘/‚Stadtlegenden‘ strategisch instrumentalisieren, wenngleich die Forschung dies meist für Kollektivereignisse hält. Verleumdung, Denunziation, Beschimpfung, Lüge, Betrug usw. sind – wie bereits angedeutet – als Verstöße gegen das vom englischen Kommunikationsphilosophen Herbert P. Grice formulierte Kooperationsprinzip, dem schon verschiedentlich genannten Grundprinzip aller Kommunikationserwartungen, zu sehen. Auch die Polemik tendiert in diese Richtung, weil sie ihrem Ansatz nach einer reinen Vernichtungsstrategie gehorcht. Wer polemisiert, will nicht mehr diskutieren. Zu den besonders heiklen, weil zweischneidigen und unberechenbaren Kommunikationsmitteln gehören Gerüchte und Stadtlegenden. Sie können strategisch, also für persuasive Zwecke, recte oder invers und rhetorisch oder manipulativ genutzt werden. In diesem Sinn versteht man unter Fama oder Gerücht „das Auftauchen und die Verbreitung von Informationen im gesellschaftlichen Organismus“, die „entweder von den offiziellen Quellen noch nicht öffentlich bestätigt sind oder von diesen dementiert werden“.⁷¹ Das Kommunikationsverfahren ‚Gerücht‘ arbeitet mit dem Versprechen, Geheimnisse zu enthüllen oder Hypothesen zu Ereigniszusammenhängen anzubieten. Dabei kann es z. B. um Rücktritts- oder Abwerbungsgerüchte, um Krankheitsgerüchte oder Gerüchte über die wahren Schuldigen gehen.

 „Systematisch sollten Zersetzungsmaßnahmen das Selbstvertrauen und das Selbstwertgefühl eines Menschen untergraben, Angst, Panik, Verwirrung erzeugen, einen Verlust an Liebe und Geborgenheit hervorrufen sowie Enttäuschungen schüren – also all solche Gefühle, die einen Menschen unglücklich und unzufrieden machen.“ – „Zu den Zersetzungsmaßnahmen gehörten: die Organisierung beruflicher Mißerfolge, um Existenzängste auszulösen; die Einschüchterung im Zusammenspiel mit den Partnern des ‚politisch-operativen Zusammenwirkens‘ zum Beispiel durch permanente Aussprachen; die Diskreditierung des Ansehens über die Verbreitung von Gerüchten und Desinformationen; die Kompromittierung über das Versenden von anonymen Briefen; die Kriminalisierung wegen unpolitischer Delikte oder die Belastung von Familienbeziehungen durch die Vortäuschung außerehelicher Kontakte“ (Pingel-Schliemann 2004, 188).  Agnoli (1999) 24.  Engelmann (2011).  Kempf (1994); Fetzer (2004); Scholl (2009).  Kapferer (1996) 25; Neubauer (1998). Siehe auch Fine (1987).

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Es gehört zur Kommunikationslage des Gerüchts, dass es mäandert und unkontrollierbar wird. Die Fama wird über „Phantomkanäle“ jenseits der offiziellen Kanäle lanciert, und der „Erzähler“ eines Gerüchts stellt sich „immer als Vermittler einer Erstmeldung, einer brandaktuellen Information vor“.⁷² Man kann sagen, dass sich das Gerücht „in Etappen“ entwickelt und insofern „meistens“ als „ein spontanes soziales Produkt, dem keine Absicht und Strategie zugrunde liegt“, anzusehen ist.⁷³ Ein Gerüchteforscher wie Jean-Noël Kapferer ist daher der Meinung: „Das Quellenproblem ist im Grunde wenig bedeutsam. Die Zustimmung und Mobilisierung der Gruppe sind das, was man beim Entstehungsprozeß eines Gerüchts erklären muß. Selbst wenn es am Anfang einen Sprecher gibt, durch den das Gerücht ausgelöst wird, so sind es die anderen, diejenigen, die zugehört haben, die weiter von ihm sprechen.“⁷⁴ Aus Sicht der Rhetorik stellt sich das anders dar. Gerüchte entstehen, das muss selbst Kapferer einräumen, „nicht durch Urzeugung“,⁷⁵ sondern sind – zumindest theoretisch – auf konkrete Urheber rückführbar. Die hier in den Blick kommende Quellenfrage ist insofern zentral, weil sie sich rhetoriktheoretisch gesehen als die Oratorfrage stellt. Also: Wer arbeitet warum mit diesem Verfahren? „Oft ist es eine oppositionelle Wortmeldung“, die als Bestandteil der Etablierung einer sozialen „Gegenmacht“ interpretiert werden kann.⁷⁶ Dahinter steckt nicht selten eine Indiskretion, die in Form von Klatschgeschichten,⁷⁷ Ondits, Anekdoten usw. hervortritt.⁷⁸ Es gibt aber eben auch immer wieder Fälle bewusster Manipulationen per ‚Gerücht-in-die-Welt-Setzen‘.⁷⁹ Die Quellenfrage führt uns auch in die Region krimineller Machenschaften. Eine ihrer Methoden ist es, die Quellen selbst gerüchteweise zu thematisieren und gezielt zu instrumentalisieren. Diese Methode versetzt die Adressaten „in die Phantasiewelt des Komplotts, der Manipulation, der Desinformation […] Das Gerücht ist dann ein durch Mittelspersonen begangenes Verbrechen, ein perfektes Verbrechen, da es ohne Spuren, Waffen oder Beweise ausgeführt wird. Der Quellenmythos wird auch deshalb kultiviert, weil er nützlich ist.“⁸⁰

        

Kapferer (1996) 26 – 27. Kapferer (1996) 30; 33. Kapferer (1996) 35. Kapferer (1996) 30. Kapferer (1996) 26. Bergmann (1987). Kapferer (1996) 25; 28 – 30. Kapferer (1996) 55 – 58. Kapferer (1996) 33.

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Da wundert es uns nicht, dass „in den Vereinigten Staaten eine berühmte PRAgentur,W. Howard Downey und Partner, ihren Ruf mit der Fähigkeit“ begründete, „Spezialteams in wenigen Stunden vor Ort zu schicken, um Gerüchte in Umlauf zu bringen.“⁸¹ Das trifft sich mit der Forschung zu Stadtlegenden (urban legends), die unter anderem die Wanderwege von Stadtlegenden über die Kontinente hinweg untersucht. „Es wäre falsch, in diesen sagenhaften Geschichten nur harmlose, mündlich überlieferte Folklore sehen zu wollen. Wenn die Erzählinhalte eine Zielrichtung gegen bestimmte Gruppen unserer Gesellschaft, gegen Außenseiter, Randgruppen oder Ausländer nehmen, werden sie unter Umständen zur gefährlichen Waffe im Dienste von Diskriminierung, Ausgrenzung und Diffamierung, zumindest sind sie Ausdruck von Vorurteilen gegenüber anderen.“⁸² In Kriegszeiten bekommen Gerüchte einen sehr spezifischen Frame als Gefahrenpotenzial. Im ersten Weltkrieg ging man in England und Deutschland gegen sogenannte „Kriegsgerüchte“ vor, die man im zweiten Weltkrieg auch unter „Wehrkraftzersetzung“ subsumierte. Im ersten Weltkrieg gab es noch keine klare Gesetzgebung, und man bestrafte Gerüchte zunächst nach dem Paragraphen für groben Unfug. Ein Jurist schlug vor, „die ‚Verbreiter und Ausstreuer wilder Nachrichten und Gerüchte‘ auf dieser Grundlage zu 100 Mark für jeden Akt der Verbreitung und eine Haftstrafe für das Erfinden von Gerüchten zu verurteilen, um bei der Verbreitung zukünftiger ‚Tartarennachrichten‘ mehr Vorsicht zu erzwingen.“⁸³ Im zweiten Weltkrieg gab es in den USA offizielle Gerüchtebeauftragte und sogenannte rumor clinics. Dabei handelte es sich um publizistische Maßnahmen, insbesondere bestimmte Zeitungsartikel oder gar feste Kolumnen, die sich gezielt mit der Dementierung von Gerüchten oder mit Gegengerüchte-Bildung beschäftigten. „Der Kampf der clinics ist vor allem eine rhetorische Operation: Traktate und komplexe Erklärungen stehen gegen ganz ‚kleine Formen‘ der Fama wie Merksatz und Aphorismus, gegen ihre Parataxen und Ellipsen, gegen ihr beständiges ‚man sagt, daß‘. Deshalb auch wandert das Gerücht in den clinics vom Aussagesatz in Nebensätze und in die indirekte Rede: ‚Rumor has it that …‘. Das Hörensagen wird wiederholt, indem es noch einmal zitiert“ und dabei subtil destruiert wird.⁸⁴

   

Kapferer (1996) 40; siehe auch Arndt (1967). Brednich (1990) 23. Altenhöner (2008) 127. Neubauer (1998) 182.

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Leere Rhetorik? Der Verunsicherungsangriff der Dekonstruktion auf das normale Denken Als die ursprünglich deutsch-jüdische Philosophin Hannah Arendt 1963 ihr Buch über die ‚Banalität des Bösen‘ angesichts des Jerusalemer Eichmann-Prozesses veröffentlichte und darin die These aufstellte, dass das extrem Böse in modernen totalitären Staaten aus Strukturen bürokratischer Mechanik emergiere und gar nicht der unterstellten Boshaftigkeit eines Individuums wie Eichmann entspringe, erntete sie einen Sturm der Entrüstung.⁸⁵ Arendt hatte die herrschenden, simplifizierenden Schuldanalysen von Nazi-Einzeltätern verunsichert, indem sie den Fall Eichmann nicht aus der Sicht individueller Betroffenheit beurteilte, nicht aus Sicht eines Menschen in der Entscheidung, sondern auf die Ebene philosophischer Abstraktion hob. Also: philosophische Distanznahme und Differenzierung als Verunsicherung des Mainstreams. Auf dieser philosophisch-analytischen Ebene aber verflüchtigte sich die individuelle Schuld des Individuums Eichmann, zugleich aber auch – und das wurde von der Umwelt als problematisch empfunden – die persönliche Entschiedenheit der urteilenden Person Hannah Arendt. Dieses Absehen vom rhetorischen Ansatz und jeglicher Prohairesis, die Aristoteles dem rhetorisch handelnden Orator als innere Entschiedenheit zuschreibt,⁸⁶ nahmen ihr jene Zeitgenossen übel, die die Differenz von rhetorischer und philosophischer Praxis nicht zugestehen konnten. Fundamentalrhetorisch gesehen ist der Orator immer ein Mensch in der Entscheidung. Das gilt aber vielleicht nicht in gleicher Weise oder nicht immer für den Philosophen. Beide Rollenmodelle unterschied schon die Antike, indem sie zwei grundlegende kommunikative Problemlösungsfälle bzw. Problemstellungen auseinanderhielt: die Quaestio infinita (gr. thésis) als allgemein-philosophische und die Quaestio finita (gr. hypóthesis) als konkrete oratorische Kontroversfrage.⁸⁷ Cicero trennt begrifflich die rhetorischen Kommunikationsfälle als konkrete causae von jenen Fällen, in denen situationserlöste, ins Allgemeine gehende quaestiones verhandelt werden.⁸⁸ Für ihn geht es in beiden Fällen um eine Kontroverse. Diese kann aber eben einerseits eine spezielle und ganz konkrete

 Vgl. Sontheimer (2005) 181– 213; Prinz (1998) 228 – 256.  Aristot. poet. 1450b,8 – 10; Heidegger kommentiert diese Kategorie in seiner Aristoteles-Vorlesung von 1924 wie folgt: „Die ‚Vorwegnahme‘ eines télos, eines ‚Endes‘ der práxis, ist die prohaíresis“. Die Prohairesis kann aber auch der überlegte und entschiedene „Zugriff“ sein (Heidegger 2002, § 9 b ɤ, 60 und § 13, 106).  Zum Beispiel Cic. inv. 1,8; Quint. inst. 3,5,5 – 16; siehe auch Lausberg (1960) §§ 66 – 78.  Cic. inv. 1,8.

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Sachlage betreffen, bei der ganz bestimmte Umstände oder Personen in Erscheinung treten, oder aber andererseits eine allgemeine Fragestellung (infinitae rei quaestio). Die rhetorischen Fälle jedoch (causae), die von der allgemeinen Fragestellung (communis quaestio) unterschieden seien, kämen teils bei Prozessen vor, teils bei (politischen) Beratungen.⁸⁹ Rhetorische Instrumente sind in beiden Fällen gefragt, aber nur der konkret-rhetorische Problemlösungsfall führt auch das eigentlich-rhetorische Dezisions-Setting mit sich. Dazu gehören ganz bestimmte, konkrete Interaktionsszenarien und aktuelle Handlungsnotwendigkeiten, die sich aus dem gesamten Interaktions-Frame und aus entsprechenden rhetorischen Nützlichkeitserwägungen ergeben. Lloyd F. Bitzer hat dieses „dringliche Erfordernis (exigence)“ 1968 zum Kern der rhetorischen Handlungssituation erklärt. Für ihn entsteht rhetorisches Reden immer als „response“ auf eine Handlungsnotwendigkeit in der Weise, wie eine Antwort immer aufgrund einer Frage entsteht.Wenn dies nicht auf die ganz allgemeine und damit nichtssagend-banale Kausalitätsbedingung hinauslaufen soll, nach der alles irgendwie eine Ursache hat, dann muss Bitzer damit im Sinne des seinerzeitig hoch in Konjunktur stehenden objektivistischen Denkansatzes meinen, dass oratorisches Handeln von äußeren Zwängen und Notlagen bedingt ist. Das bedeutet dann aber zugleich, dass der rhetorisch fundamentale, an die Strategieinstanz des oratorischen Akteurs gebundene Voluntarismus, der sich auch mit ganz individuellen Motivationen verbinden kann, ausgeschlossen wird.⁹⁰ Subjektive, kreative und revolutionäre Impetus treten nicht in Bitzers Horizont, wenn er schreibt: „Not the rhetor and not persuasive intent, but the situation is the source and ground of rhetorical activity – and I should add, of rhetorical criticism.“⁹¹ Demgegenüber wird man heute sagen müssen, dass objektive Zwänge und höchst subjektiv motivierte Ausgangslagen gleichermaßen rhetorische Aktivitäten auslösen können.⁹² Wichtig bleibt freilich die von Bitzer stark gemachte Handlungssituativik als solche, die sich mit der Dezisionsnotwendigkeit verbindet. Der rhetorische Fall bedingt, dass in die Kommunikationskalküle immer Handlungsergebnisprojektionen einbezogen werden sowie Kalküle, die die Er-

 Cic. de orat. 1,138 – 141.  Zum rhetorischen Strategiebegriff siehe Knape u. a. (2009).  Bitzer (1968) 5 – 6; zur starken, bisweilen auch revolutionären Kreativität siehe Knape (2013b) 30 – 33 und Knape (2013c) 212– 213.  Die akteursbezogene Rhetoriktheorie lässt die Frage offen, wie das oratorische Zertum und das dann kommunizierte oratorische Anliegen zu Stande gekommen sind. Das bedeutet, dass der ganze psychologische Motivationskomplex auf einem anderen Blatt steht (siehe Knape 2012a, 76 – 77).

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gebnissicherheit, -unsicherheit, -wahrscheinlichkeit sowie die Eintrittswahrscheinlichkeit von Konsequenzen der rhetorischen Intervention einbeziehen.⁹³ Theoretische Grundlagen bieten hier die sozialpsychologische Rational ChoiceTheorie und die Subjective Expected Utility (SEU)-Theorie an.⁹⁴ Unendlich lässt sich nämlich die Frage nach der Natur und Ursache des Bösen diskutieren, mit der sich Hannah Arendt auseinandersetzte. Damit ist die Frage nach dem eigentlichen rhetorischen Fall deutlich aufgeworfen, eingedenk der Feststellung Platons im Phaidros (261b,d–e), dass es Rhetorik überall gebe, wo geredet wird. Es lohnt sich auch in diesem Fall, über Platons Hinweis, den er als rhetorische Ubiquitätsthese formuliert, nachzudenken, zumal ihm in diesem Punkt auch Cicero und andere bis hin zu Hans-Georg Gadamer zustimmen. Zweifellos kann man sich schnell darauf einigen, dass die in argumentativen Auseinandersetzungen jedweder Art, also auch bei philosophischen Kontroversen regelmäßig persuasiv eingesetzten kommunikativen Instrumente überall dieselben sind. Wenn die Ubiquitätsthese also instrumentalrhetorisch gemeint sein sollte, dann ist sie unproblematisch. Auch wenn man das Philosophieren formal an eine rhetorische Verfahrensteleologie bindet, sind die beiden Elementarfälle rhetorischer und philosophischer Kommunikation versöhnt und gehen zusammen einher, d. h. wenn Philosophieren darin besteht: – – – – – –

das thematisch auf Philosophisches gerichtete Kommunizieren auf einen zeitlich definierten Abschlusspunkt hinzuführen, dabei Meinungs-Sicherheit als Dezisionsgrundlage herzustellen, aggregiertes Wissen und hoch verbindliche Gewissheit zu erzeugen, mittels entsprechender Kommunikation zur Findung gültiger Urteile zu gelangen, fixierbare Entscheidungen in philosophischen Streitfragen herbeizuführen und zur Formulierung von ‚Wahrheiten‘ zu kommen.

Wenn man jedoch einen ganz anderen Frame und auch ein anderes Telos der kommunikativen Interaktion für das Philosophieren vorsieht, treten die beiden Kommunikationsfälle und ihre Settings auseinander, und man muss sie trennen. Philosophisches Kommunizieren steht dann in einem anderen Frame, für den sich der von Jürgen Habermas als Idealkonstrukt dargestellte herrschaftsfreie Diskurs besonders eignen würde. In diesem Frame gilt eine andere Zielprojektion als im rhetorischen Fall. Es geht dann nicht mehr darum, ein vom Orator als berechtigt

 Zum rhetorischen Fall vgl. Knape (2012a) 64– 65.  Dazu Esser (1991) und Vogt (2010) 71– 80.

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erkanntes Anliegen gegenüber konkurrierenden Anliegen durchzusetzen, sondern um voraussetzungslose oder zumindest ergebnisoffene Kommunikation unter allen Beteiligten. Entsprechend müssten die Settingbedingungen sein, einschließlich des Ausschlusses einer Einwirkungsmöglichkeit von Machtinteressen. Ob dieses ideale Modell mit den psychologischen Tatsachen der Welt zusammengeht, muss an dieser Stelle nicht diskutiert werden.⁹⁵ Immerhin scheint es aber doch so zu sein, dass Habermas an sozialpraktikable Vorgänge, d. h. an eine zeitpunktfixierte Ergebnisfindung im Interesse des Funktionierens demokratischer Gesellschaften glaubt. Rhetorik (also persuasives Handeln) ist dabei von Habermas freilich nicht vorgesehen, weil er meint, Rhetorik mit Demagogie verbinden und darum ablehnen zu müssen.⁹⁶ Das ist bei der in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstandenen Denkschule der Dekonstruktion ganz anders. Hier spielt ein bestimmter Umgang mit dem Begriff der Rhetorik eine wichtige Rolle. Darüber ist nun zu sprechen. Am Anfang freilich ist auch etwas zu den antiken Vorläufern dieser Denkschule zu sagen.

Die Skepsis als klassische Schule der Verunsicherung Was sich hinsichtlich der Haltung zu philosophisch infiniten Quaestiones schon bei Gorgias andeutet (5. Jh. v. Chr.)⁹⁷ und bei der Lektüre von Platons Dialogen als Schlussfolgerung aufdrängt, nämlich die prinzipielle Unabgeschlossenheit des Philosophierens als Kommunikationsvorgang – und nur dieser interessiert den Rhetoriker – bzw. der Diskussion philosophischer Einzelfragen, wurde von der Schule der Skepsis (4. Jh. v. Chr.), die sich mit dem Namen des Pyrrhon verbindet, radikalisiert. Sextus Empiricus resümiert deren Positionen in seinem Grundriss der pyrrhonischen Skepsis (2. Jh. n. Chr.).⁹⁸ Dabei hebt er selbst zwei Aspekte hervor: den Antidogmatismus und die permanente Suche. Sextus Empiricus selbst ist kein radikaler Skeptiker, sondern erkennt praxisrelevante, von den Sinnen gestützte Einsichten an, deren Problemlagen man, wenn man sie denn diskutieren wollte, dem Bereich der finiten Quaestiones zuordnen würde: „Wenn wir sagen, daß der Skeptiker nicht dogmatisiere, dann meinen wir nicht jene Bedeutung von ‚Dogma‘, in der einige ‚Dogma‘ ganz allgemein die Billigung irgendeiner Sache nennen.

 Knape (1998) 55 – 56.  Vgl. König (1997); siehe auch Wellmer (1992) 21– 22.  Zu Gorgias vgl. u. a. Agnoli (1999) 56 – 58.  Im Folgenden mit kleineren Abweichungen zitiert nach der deutschen Übersetzung von Malte Hossenfelder (Sextus 1968).

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Denn den vorstellungsmäßig aufgezwungenen Empfindungen stimmt der Skeptiker zu.Wenn ihm z. B.warm oder kalt ist, so würde er nicht sagen: ‚Ich glaube, mir ist nicht warm bzw. kalt‘“ (1,7,13). Sextus Empiricus will den von uns aus seinem Werk bezogenen Dogma-Begriff speziell auf grundsätzliche Fragen der Tiefenstruktur des Wirklichen, also Prinzipien und Ähnliches, beschränkt sehen: „Vielmehr behaupten wir, nicht zu dogmatisieren in dem Sinne, in dem einige ‚Dogma‘ die Zustimmung zu irgendeiner der in den Wissenschaften erforschten verborgenen Sachen nennen. Denn keinem der verborgenen Dinge stimmt der Pyrrhoneer zu“ (1,7,13). In Hinsicht auf unsere bisherigen Überlegungen bezieht Sextus Empiricus die Dogmatismusfrage auf den Bereich der oben genannten philosophisch infiniten Fragestellungen. Es geht also um die Fragwürdigkeit der Erkenntnis eventueller Tiefenstrukturen des Wirklichen auf der Basis generalisierender Schlussfolgerungen aus den Oberflächenphänomenen, aus dem, was wir als Daten und Fakten meinen sinnlich wahrzunehmen (z. B. Temperaturschwankungen oder Handlungen von Politikern). Der Antidogmatismus ist letztlich auf abstrakte Schlussfolgerungen, Grundüberzeugungen und Prinzipienannahmen gerichtet, das, was Sextus die nicht-evidenten oder verborgenen Dinge nennt. Der grundsätzliche Antidogmatismus oder besser: Adogmatismus der Skepsis ist – wie gesagt – auf Dogmen als Abstraktionen, in Form von Prinzipienannahmen, bezogen. Im Hintergrund steht hier die ebenfalls von Sextus formulierte Isosthenie-These, d. h. dass sich für jedes prinzipielle Argument im Lauf der Zeit ein gleichwertiges Gegenargument finden lässt, darum jede Dogmendiskussion letztlich sinnlos und der Schwebezustand der Entscheidungslosigkeit als Ideal anzustreben ist: „Das Hauptbeweisprinzip der Skepsis dagegen ist, daß jedem Argument ein gleichwertiges entgegensteht. Von hier aus nämlich glauben wir schließlich dabei zu enden, daß wir nicht dogmatisieren (dogmatízein)“ (1,6,12). Wer dies eingesehen hat, hört auf, nach Entscheidung zu drängen, und gewinnt für sich das, was die moderne Psychologie als Homöostase bezeichnet, Ataraxie, also Ruhe und das Gefühl des Lebens in Harmonie und innerer Ausgeglichenheit, das alle Menschen immer wieder nach dem Unsicherheits- und Ungewissheitserleben, auch nach jeglichem Zweifel anstreben.⁹⁹ Für die philosophische Er-

 „Denn der Skeptiker begann zu philosophieren, um die Vorstellungen zu beurteilen und zu erkennen, welche wahr sind und welche falsch, damit er Ruhe finde. Dabei geriet er in den gleichwertigen Widerstreit, und weil er diesen nicht entscheiden konnte, hielt er inne. Als er aber innehielt, folgte ihm zufällig die Seelenruhe in den auf dogmatischem Glauben beruhenden Dingen. Wer nämlich dogmatisch etwas für gut oder übel von Natur hält, wird fortwährend beunruhigt“ (1,12,26 – 27). Sextus versteht sein Philosophieren, so Markus Gabriel, als Entwurf einer Therapie. Die auszuprägende „skeptische Fähigkeit ist situations- und adressatenbezogen,

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kenntnis heißt dies letztlich, dass von vorneherein alles in der Schwebe, die philosophische Kommunikation und Erkenntnis unabgeschlossen bleibt: „Wenn jemand eine Sache sucht, dann ist der zu erwartende Erfolg entweder ihre Entdeckung oder die Verneinung ihrer Entdeckung und das Eingeständnis ihrer Unerkennbarkeit oder die Fortdauer der Suche“ (1,1,1). – „Die Skeptiker aber suchen noch“ (1,1,3). Sextus Empiricus geht nicht so weit wie die radikalen Skeptiker, die jede Erkenntnis leugnen, weil sich Schein und Sein grundsätzlich nicht trennen ließen. Das griechische Verb sképtomai, von dem sich der Name der Skepsis ableitet, bedeutet nicht ‚zweifeln‘, sondern ‚genau hinsehen‘ oder ursprünglich ‚spähend in die Ferne sehen, indem man die Hand über die Augen hält‘. Das Ergebnis ist dann keine festlegende theōría im Sinne eines genau identifizierenden und erkennenden Sehens. Die Skepsis ist also bestrebt, immer wieder genau hinzusehen und eine voreilige Überzeugungsbildung zu vermeiden.¹⁰⁰ Da die Abstraktion von den Phänomenen aber immer wieder nur zu neuen Annäherungen führt, nie zu dogmatischen Gewissheiten, hält sich der Skeptiker mit irgendwelchen Entscheidungen zurück und begnügt sich mit dem Weg der Suche als Ziel. Dazu Sextus Empiricus: „Die skeptische Schule wird auch die ‚suchende‘ genannt nach ihrer Tätigkeit im Suchen und Spähen. Sie heißt auch die ‚zurückhaltende‘ nach dem Erlebnis, das der Spähende nach der Suche an sich erfährt. Ferner wird sie die ‚aporetische‘ genannt, und zwar entweder, weil sie in allem Aporien und Fragwürdigkeiten findet, wie einige sagen, oder, weil sie kein Mittel sieht zur Zustimmung oder Verneinung“ (1,3,7). Die genannte „‚Zurückhaltung‘ (epochē) ist ein Stillstehen des Verstandes, durch das wir weder etwas aufheben noch setzen“ (1,4,10). Im Hintergrund steht hier die Ununterscheidbarkeitsvermutung, die Aparallaxie, d. h. die Annahme, dass sich das Wahre und das Irrtümliche nicht ohne Weiteres unterscheiden lassen. Die permanente Suche nach weiterer Annäherung, das Sich-nicht-Festlegen und die Zurückhaltung beim Zustimmen zu oder beim Verneinen von bestimmten allgemeinen Erkenntnissen bzw. Grundüberzeugungen, all dies, darüber ist sich Sextus Empiricus im Klaren, bewegt sich im Bereich des Philosophierens und der reinen Erkenntnistheorie, wie wir heute sagen würden, und hebt sich unter antidogmatischen Vorzeichen als Denkprinzip auch immer wieder selbst logisch auf.

d. h., sie ist eine kontextsensitive Performanz, eine rhetorische Kunst, die nicht die Absicht hat, die Wahrheit zu entdecken, sondern ihren Adressaten vom Willen zur Wahrheit zu therapieren. Nur auf diese Weise lässt sich Philosophie als Therapie und als Lebensform zugleich verstehen“ (Gabriel 2008, 80 – 81).  Vgl. Gabriel (2008) 55.

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In der lebensweltlichen Praxis freilich, der sich die Rhetorik verschrieben hat, etwa auf dem Parteitag einer deutschen politischen Partei, würde die skeptische Zurückhaltung als ein in der Schwebe haltendes „Stillstehen des Verstandes“ angesichts des Entscheidungszwangs gerade bei Grundsatzüberlegungen dysfunktional. Sie entspräche nicht der Tatsache, dass uns die Lebenspraxis dem „Zwang der Leidenschaften (bzw. des Erlebens oder der äußeren Eindrücke)“ (1,11,23 – 24) ausliefert, wie es Sextus Empiricus nennt, und den sozial determinierten Notwendigkeiten.

Die Dekonstruktion als neue Schule der Verunsicherung Man kann die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aufblühende Bewegung der Dekonstruktion als Wiedererstehen einer radikalen, pyrrhonischen Skepsis sehen, die intersubjektives bzw. überindividuell-gemeinsames Verstehen und Erkennen grundsätzlich in Zweifel zieht, ja geradezu als denkfaschistische Gefahr sieht. Aus fachlicher Sicht der Rhetorik könnte man dies lediglich als Problem eines Auf- und Abwogens philosophischer Wellen- und Konjunkturbewegungen sehen und folglich ignorieren, wenn da nicht der in eigenartiger Weise vorgenommene, explizite und theoretisch gemeinte Rekurs der Dekonstruktion auf den Begriff der Rhetorik wäre. Ja, man kann sagen, frz. rhétorique oder engl. rhetoric werden zu Schlüsselbegriffen, zu positiven Leit- und Orientierungskategorien des ganzen Unternehmens. So einleuchtend und nachvollziehbar die Motive der dekonstruktiven Denker unter den Bedingungen des zeitgenössisch verkrusteten Denkhorizonts ihrer Umwelt aus der historischen Distanz heraus auch sind, so problematisch erscheint ihr schillerndes Rhetorikverständnis heute aus fachlicher Sicht. Aus diesem Grund soll im Folgenden immer das unterminologische englische Wort rhetoric verwendet werden, wenn von Rhetorik im dekonstruktiven Zusammenhang die Rede ist.¹⁰¹ Ihren Ausgang nahm die Entwicklung des Dekonstruktions-Ansatzes ausgerechnet im Land des rationalistischen Cartesianismus bei Denkern wie Jacques Derrida mit seiner 1967 erschienenen Grammatologie. Die Radikalität seines Ansatzes, der mit allen Denkgewohnheiten Frankreichs und Alteuropas bricht, muss man historisieren, um sie zu verstehen. Derridas Anliegen hat drei Dimensionen: eine grundlagenphilosophische, eine erkenntnis- und zeichentheoretische sowie eine politische. Zunächst zu den ersten beiden Dimensionen: Derrida und die

 Ein Überblick über die mit einem mangelnden Theorieverständnis der Rhetorik verbundenen sieben rhetorical fallacies bei Knape (2013a) 23 – 31.

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anderen Dekonstruktivisten seiner Generation formulieren eine klare Gegenposition gegen die in den 1950er-Jahren im Westen noch herrschende, metaphysisch geprägte, religiöse oder idealistische Weltsicht. Von Friedrich Nietzsche inspiriert sind das Zeichen und der mit ihm unterstellte Zeichenrealismus die großen Angriffspunkte. Derrida postuliert unter dem für ihn allzu lange nachwirkenden Eindruck der mittelalterlichen Zeichenspekulationen gar eine Epochenschwelle: „Die Epoche des Zeichens ist ihrem Wesen nach theologisch.“¹⁰² Seinem Ansatz liegt freilich kein moderner, sondern der alte dyadische Zeichenbegriff zu Grunde, der dem Zeichen ganz schlicht die Welt gegenüberstellt. Besser steht es auch nicht mit seinem Sprach-Konzept. Derridas materialistischer Gegenbegriff zu der unter Generalverdacht gestellten Sprache ist der der Schrift (freilich als generalisiertes Kollektiv-Abstraktum verwendet), die eben immer nur materiell-konkret gegeben sein kann, und die nach der alten Lehre die idealistisch gedachte Sprache lediglich darstellen darf. Dagegen wendet sich Derrida und verkehrt dabei die platonische Schriftkritik gewissermaßen in ihr genaues Gegenteil. Jetzt heißt es im abgewandelten Sinn des Lutherwortes sola sciptura! Und jetzt soll die Epoche der Aufhebung jeglicher Grenze zwischen Zeichen und Nicht-Zeichen, man könnte aus heutiger Sicht sagen: die eines materialistischen, undifferenziert ontologisierenden Monismus, folgen. Das eher banale Ergebnis lautet dann: Alles in der empirischen Welt ist irgendwie Materie. Schnell zeigt sich auch hier der Preis eines jeglichen Monismus: Es treten keine modularen, bereichsspezifischen Theorien mehr ins Blickfeld.¹⁰³ Im konkreten Fall betrifft das den bedenkenlos-oberflächlichen Umgang mit der Linguistik und Zeichentheorie Ferdinand de Saussures, die als bereichsbezogene und von Normaldenkern anerkannte Theorien Derrida selbst nur schwach reflektiert, dafür aber heftigen Angriffen aussetzt und seinem einebnenden Ur-Schrift-Monismus opfert. Unter den gegebenen historischen Bedingungen der 1950er- und 1960er-Jahre hatte diese Lehre eine ungeheure Sprengkraft, insbesondere in den Humanities. Man verstand jetzt Derridas eigentlich ganz anders kontextualisierten, nämlich auf seine Rousseau-Lektüre bezogenen Satz „Ein Text-Äußeres gibt es nicht (Il n’y a pas de hors-texte)“¹⁰⁴ im radikal monistischen Sinn mit entsprechenden Be-

 Derrida (1990) 28. „L’époque du signe est essentiellement théologique“ (Derrida 1967, 25).  Dazu aber würde nicht der ontologisierende, sondern der epistemologische Blick auf die Welt gehören. Mit ihm kann man nämlich auch Sprachwissen und Weltwissen unterscheiden und zu ganz anderen Theoriekonzepten (in Hinsicht auf Sprache und Zeichen) kommen, wie es etwa die moderne Linguistik tut.  Derrida (1967) 227; (1990) 274. Dieser eigentlich Rousseau gewidmete Satz hat in der neueren Theoriegeschichte wegen seiner Prägnanz unter Anhängern der Dekonstruktion als völlig verselbstständigtes Dictum eine enorme Karriere gemacht.

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hauptungsfolgen. Nun kann der Ethnologe den modular sinnvoll begrenzt definierten Textbegriff ¹⁰⁵ aufgeben und behaupten, alles um ihn herum sei „Text“,¹⁰⁶ und der Literaturinterpret kommt zu dem Schluss, dass jenes „nichtsprachliche ‚Außen‘, auf das die Sprache referiert, durch das sie bedingt ist und auf das sie einwirkt“ methodisch hinterfragt werden müsse, denn das Innen und Außen von Text sei letztlich nur als „Innen/Außen-Metapher“ zu verstehen, die ihrerseits bedauerlicherweise „nie ernsthaft in Frage gestellt“ worden sei,¹⁰⁷ und dass nun endlich eine solche Differenz zu fallen habe. Derrida bekämpft jeglichen Idealismus und jede Metaphysik, die ja „immer schon Erniedrigung der Schrift“ mit sich gebracht hätten, weil sie die materiale Schrift dem idealistischen „Logozentrismus“ unterwarfen.¹⁰⁸ Er bezieht den Begriff „Logozentrismus“ vor allem auf das rationale Denken, die Logik und ihre Ausläufer („was im ‚Denken‘ als Logos auf den ‚Sinn‘ bezogen ist“),¹⁰⁹ obwohl das griechische Wort lógos nicht zuletzt auch den gesprochenen Redetext meinen kann. Gegen diese vermeintliche Herrschaft der Idee, die am Anfang steht und nach traditionellem Sprachverständnis auch die Sprache regiert, will Derrida angehen, indem er an den Anfang nicht die rein geistig vorzustellende Idee, sondern eine Materie-emergente „Ur-Schrift“ als Origo auch allen Weltverstehens des Menschen setzt. Die zu bekämpfende Sprachmetaphysik hingegen erniedrigt die Schrift und macht sie – wie auch die ganze materiell verfasste Welt der Dinge – zur bloßen Helferin des so genannten ‚Geistes‘. In stillschweigender Auseinandersetzung mit Marshall McLuhan, dem Vater der modernen Medientheorie,¹¹⁰ postuliert Derrida in seiner Grammatologie die Existenz der Schrift (schlechthin) nicht nur avant la lettre, sondern sogar als vorsprachliche Daseinsgröße. In gedanklichem Kurzschluss kontaminiert er die Konzepte ‚Schrift‘ und ‚Zeichen‘ und will deren Existenz in seinem immer wieder aufflammenden antiidealistischen Impetus mit ihren materiellen Daseinsbedingungen zusammenfallen oder sie zur Spur der Materie schlechthin werden lassen. Damit fiele, wie gewünscht, unter materialmonistischen Vorzeichen die Trennung  Begrenzter, geordneter Zeichenkomplex in kommunikativer Absicht.  Geertz (1973) 448 – 449; vgl. auch Schneider (1987).  de Man (1988) 31; 33.  Derrida (1990) 12; 11; „a toujours été […] l’abaissement de l’écriture“, „le logocentrisme“ (Derrida 1967, 11– 12).  Derrida (1990) 24; „ce qui dans la ‚pensée‘ comme logos a rapport au ‚sens‘“ (Derrida 1967, 21).  Der von Derrida nicht genannte Marshall McLuhan hat in seinem 1962 erschienenen Buch The Gutenberg Galaxy vielen bei der Schrift und den Aufschreibsystemen ansetzenden Theoretikern der Folgezeit maßgebliche Impulse gegeben, ohne dass diese es immer gebührend gewürdigt hätten.

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von Sprache (Zeichen) und Ding an sich, wie sie die kantianisch-idealistische Tradition kennt, weg. Das mit solchen Absichten verbundene gedankliche Abenteuer Derridas kann hier nicht genauer beschrieben werden. Für unseren Zusammenhang ist letztlich nur seine für die intellectual history des Westens wichtig gewordene, bewusste Verabschiedung der Logik und gedanklichen Konsistenz des Textes, auch seines eigenen Textes, von Belang. Zu dessen Bizarrerien – würde ein Normalleser heute vielleicht wieder sagen – gehört es, dass neben dem beliebigen Umgang mit wissenschaftlich-linguistischen Kategorien auch die Wurstigkeit in Hinblick auf innere Kohärenz der Ausführungen erkennbar wird. Derrida gibt uns eine Erklärung: „Strenggenommen läuft dies auf die Dekonstruktion des Begriffs ‚Zeichen‘ und seiner ganzen Logik hinaus.“¹¹¹ Derridas Denken schweift und wird mit der Forderung nach dekonstruktiver Suspendierung der Logik gerechtfertigt. Dass er weiß, was er damit tut, zeigt sich etwa an einer Stelle, an der er eine Paradoxie formulieren muss, weil er sich bei seinem „Ur-Schrift“ und „Spur“-Konzept endgültig verheddert, denn die Schrift, wie er sie sieht, kann nicht vor allem Existierenden schon da sein und gleichzeitig die spätere Spur von etwas Davorliegendem: „Der Begriff der Ur-Spur muß sowohl dieser Notwendigkeit als auch dieser Durchstreichung gerecht werden. Nach den Gesetzen der Identitätslogik ist er widersprüchlich und unzulässig.“¹¹² Um dies zu verstehen, müssen wir uns nun zunächst der dritten der oben genannten drei Dimensionen zuwenden: der politischen, auch wissenspolitischen Stoßrichtung des Unternehmens Dekonstruktion seit den 1960er-Jahren. Derrida weiß natürlich, dass solche Logik-subversiven Äußerungen ihrerseits nur Geltung beanspruchen können, wenn der klassisch-logische Satz vom Widerspruch seinerseits für seine eigenen Äußerungen als Geltungsbedingung vorausgesetzt werden kann, weil sonst alles, was er selbst sagt, bedeutungslos würde. Doch mit seinem Spiel, darum geht es rhetorisch, will er den Leser verunsichern. Ihm sind Vorwürfe des wilden Denkens nicht nur egal, sondern er möchte sie mit seinen für Normaldenker bisweilen absurden Äußerungen geradezu provozieren. Für ihn gehört das ganze traditionale Denken, einschließlich seines formallogischen Gerüsts, dekonstruiert. Dass zur Zeit der Veröffentlichung der Grammatologie so viele Leser, insbesondere unter den Literaturwissenschaftlern, fasziniert auf den Verzicht der Unbedingtheit logischer Konsistenz und pragmatischer Rückbindungsabsichten reagiert haben, ja, ebenfalls deren Sinn leugneten, zeigt uns  Derrida (1990) 18: „Cela revient, en toute rigueur, à détruire le concept de ‚signe‘ et toute sa logique“ (Derrida 1967, 16).  Derrida (1990) 107: „Le concept d’archi-trace doit faire droit et à cette nécessité et à cette rature. Il est en effet contradictoire et irrecevable dans la logique de l’identité“ (Derrida 1967, 90).

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heute,welche epistemische Befreiungsnot damals herrschte,wenngleich sich viele Gefolgsleute vielleicht auch nur im oberflächlich-modischen Neutönen gefielen. Bei Jacques Derrida geht die Kritik sehr tief, eben bis in die Grundfesten der Logik hinein, und auch die Stoßrichtung seines dekonstruktiven Denkens ist weitreichender eingestellt. Es geht letztlich um gesellschaftliche Veränderung durch Fundamentalsubversion, um ein gesellschaftliches Grundprinzip, das aber als Denkmethode keine feste Kontur besitzt, auch nicht besitzen darf,¹¹³ wie Derrida noch in einem 1990 entstandenen Interview bestätigt. Er stellt darin die Dekonstruktion durchaus als generalisierungsfähige Möglichkeit gesellschaftlicher Praxis dar. Auf dem Feld der Kunst etwa, sagt er in dem genannten Interview, diene sie nur „als Mittel zur Entfaltung eines Raumes für neue Kunstformen. Dieser neue Raum sieht selbstverständlich unterschiedlich aus“.¹¹⁴ Derrida sieht die Dekonstruktion hier als individuelles (durchaus anarchisches) Verunsicherungsereignis, nicht als methodischen Zweifel im Sinne eines sozialen Verfahrens cartesianischer Art.¹¹⁵ Solche neue Räume schaffende Dekonstruktion sei kein „vorgegebenes Sortiment von Möglichkeiten, Regeln, Verfahren oder Instrumenten“, auch „kein einfaches logisches Destrukturieren, keine logische Entlarvung von Widersprüchen“. Er „beharre darauf, daß es die Dekonstruktion nicht gibt,“ weil sie „je individuell sein muß und von den diversen konkreten Bedingungen abhängt, in denen sie auftritt“. Es gibt sie nur im Plural.¹¹⁶ Auch hier wieder die Idee der Radikalindividuierung, um jede Konformität auszuschließen. Man kann bei diesen Äußerungen Derridas zur Dekonstruktion den Ansatz oder die Hinwendung zum Anderen, vielleicht zum Neuen, erkennen, eine Charakteristik, die wir oben in Bezug auf die Verunsicherung ‚transitorisch‘, im Übergang auf Weiteres blickend, genannt haben. Dekonstruktion ist, so Derrida eher andeutendkryptisch weiter, „nicht negativ und keine Destruktion – es gibt eine Bestätigung, ein gewisses ‚Ja‘, aber ein ‚Ja‘, das nicht positiv ist“.¹¹⁷ Gerade hier zeigt sich der Bezug zur klassisch-radikalen Skepsis mit ihrer erkenntniskritischen Unbestimmtheitsvorstellung besonders deutlich.¹¹⁸

 Kamuf (2008).  Derrida in Ryklin (2006) 20.  Agnoli (1999) 16.  Derrida in Ryklin (2006) 18 – 19.  Derrida in Ryklin (2006) 26.  Derrida selbst stellt sein „Ja“ hier eher raunend in den Zusammenhang von kurzen Überlegungen zum Heidegger’schen „es gibt“ bzw. „geben“ und zur „Gabe“. Das in der Destruktion enthaltene „Ja“ ist etwas, das er „Gabe“ nennen möchte. Dieser Gedanke wird aber nicht weiter ausgeführt (Derrida in Ryklin 2006, 26 – 27).

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Im Rückblick treten die oft ganz persönlichen Erfahrungen der Verstricktheit, Wirrnis und Schrecknis, mit denen die Vertreter der Dekonstruktion in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts konfrontiert waren, als motivierender und inspirierender Hintergrund ihrer in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts entwickelten Ansätze deutlich hervor.¹¹⁹ Begriffe wie Faschismus, Totalitarismus, Stalinismus, Rassismus, Kollektivismus und ideologisierter Idealismus charakterisieren die Angriffsziele ihrer philosophisch-theoretischen Kritik. Diese Kritik war radikal, brach mit vertrauten Denkgewohnheiten und Interpretationsmethoden und führte die traditionell hermeneutisch arbeitenden Fächer in eine Krise. Rhetoriktheoretisch von Belang ist dabei die Tatsache, dass rhetoric nicht als Weg aus der Verunsicherung verstanden wurde – wie wir es bislang diskutiert haben –, sondern umgekehrt als Existenzform der Verunsicherung bzw. der prinzipiellen Vorläufigkeit. Rhetoric ist hier insofern inhaltlich leeres, dogmenfreies Geschehen, als es nicht von Persuasionsanstrengungen gefüllt gesehen werden darf. Die Analyse wendet sich der so verstandenen rhetoric als Prozess um des Prozesses willen zu, nimmt also letztlich die Perspektive der allgemeinen Kommunikationswissenschaft ein und erschöpft sich darin. Nun ist der amerikanische Philosoph Richard Rorty zu nennen, dessen Rhetorikverständnis keineswegs konsistent ist. Auch sein pragmatistischer Ansatz positioniert sich gegen einen philosophischen Realismus oder Objektivismus, die sich seiner Meinung nach unvermeidlich mit Intoleranz verbinden.¹²⁰ Jeder Versuch, absolute Wahrheit oder objektives Wissen bzw. objektive Erkenntnis zu erlangen, führt nach Rorty in die diktatorische Irre. Er ist überzeugt, „that even in science, not to mention philosophy, we simply cast around for a vocabulary which lets us get what we want“.¹²¹ Philosophisches Sprechen sollte ganz anders, nämlich als Ausdruck einer Haltung gegenüber einem Sachverhalt gesehen werden, eher als Teil eines Gesprächs, eines Prozesses, denn als Ergebnis einer strengen Untersuchung. Rorty nennt dies ‚aufbauende Philosophie’ (edifying philosophy), deren Hauptziel im Aufrechterhalten der klärenden Diskussion besteht: „to keep the conversation going rather than to find objective truth. Such truth […] is the normal result of normal discourse“.¹²² Was Rorty den normal discourse nennt, führt seiner Meinung nach zur dogmatischen Zementierung und Intoleranz des Normalismus. Damit wird die Standard- oder Normalkommuni-

 Man denke nur an die bei Paul de Man erst spät entdeckte Nazi-Kollaborations-Problematik.  Zum Folgenden siehe Hikins u. Zagacki (1993); zum Gesamtzusammenhang auch Knape (2007) 44– 47.  Rorty (1982) 152.  Rorty (1979) 377.

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kation in der Gesellschaft grundsätzlich und nicht nur philosophisch in Frage gestellt.¹²³ Pragmatisten, so Rorty, wenden sich einerseits vom Normalismus ab und wollen andererseits den Wunsch der Essentialisten nach Objektivität, also den Wunsch, mit einer Realität in Berührung zu kommen, die über unsere bloße Sozialität hinausgeht, durch den Wunsch nach Solidarität mit der Gemeinschaft ersetzen.¹²⁴ Gefährdet wird dies, wenn soziale Institutionen hierarchische Ordnungen konstruieren, die auf objektivistischen Konzepten des Menschseins basieren und infolgedessen Zwang ausüben. Aus dem pragmatistischen Ansatz heraus haben sich in Amerika philosophische Strömungen entwickelt, die man als rhetorical relativism und the rhetoric of inquiry bezeichnet hat, und zu denen Autoren wie Robert L. Scott, Barry Brummett und Walter M. Carleton gehören.¹²⁵ Sie verlagern jede Erkenntnistätigkeit in die Kommunikation als Vorgang, leiten daraus den Inhalt und Status des Erkennens ab und begründen damit die Relativität allen Erkennens. Entsprechend sagt Carleton 1978, alles Erkennen und Wissen wachse aus menschlicher Interaktion, weshalb man es als social oder rhetorical bezeichnen müsse. Bemerkenswert ist dabei, dass sich der Begriff rhetoric auch hier auf die Interaktion als solche, nicht auf irgendwelche Semantiken bezieht. Carleton erklärt das Erkennen zur Sprachfunktion, wenn er sagt, „that no typically human knowledge is possible outside the framework such phrases denote. That is, the genus term ‚knowledge‘ is properly understood as ‚social knowledge‘, or knowledge made possible through ‚the decision and action of an audience‘.“¹²⁶ Wie Rorty fürchten die rhetorical relativists die objektivistischen oder substantialistischen Ansprüche von „Gewissheit“ und „Wahrheit“, die Fanatiker und Diktatoren anderen Menschen als unverhandelbar aufzwingen könnten: „Wenn Wahrheit irgendwie sowohl vorgängig als auch substantiell ist, dann brauchen diesbezügliche Probleme nicht mehr gelöst zu werden, sondern lediglich klassifiziert und abgefertigt. Unabsichtlich legt sich jemand dann vielleicht auf eine rhetoric fest, die nur noch Gleiche toleriert, das heißt jene, die seine ‚Wahrheiten‘ verstehen und, was sich aus ihnen ableiten lässt; solch eine rhetoric spricht jene, die nicht fähig sind, diese Wahrheiten für bare Münze zu nehmen, als Minderwertige an, die dementspre-

 Zum heutigen Stand der Normalitätstheorie und zur medienwissenschaftlichen Kategorie der „normalcy“ siehe den Überblick bei Thiele (2006) 121– 136 sowie zum theoretischen Hintergrund des Normalismus Link (2009) und (2013).  Rorty (1987) 45.  Hikins u. Zagacki (1993) 104– 108.  Carleton (1978) 318.

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chend als solche zu behandeln sind“.¹²⁷ Um es dazu nicht kommen zu lassen, ist das Bewusstsein wichtig, dass Wahrheit situational ist und die Rhetoren ethisch an eine Toleranz gebunden sind, gemäß der es keine höherwertige Einschätzung gegenüber anderen Positionen geben kann; alle im Wettstreit stehenden Meinungen würden dann offen diskutiert und der allgemeinen Prüfung anheimgestellt. Nach Brummett muss sogar jede Meinungsdivergenz, auch wenn sie sich als Kulturdifferenz darstellt, durch offene Kommunikation in Form von Verhandlung aufgelöst werden.¹²⁸ Das sind Überlegungen, die wir auch aus Habermas’ ‚Theorie des kommunikativen Handelns‘ kennen, und die dort aber gerade nicht mit dem Begriff der Rhetorik zusammengebracht werden, was die Differenz unter den Rhetorikvorstellungen hervortreten lässt. Die pragmatistische Position wird ergänzt durch Vertreter der rhetoric of inquiry: John Nelson, Allen Megill und Calvin Schrag. Auch sie treten vehement gegen die traditionelle Gewissheitsphilosophie an, die sie mit dem Begriff der traditional epistemology ablehnen und durch eine neue Hermeneutik ersetzen wollen. Hatte Hans-Georg Gadamer die Rhetorik in seinem Zweiseitenmodell von Rhetorik und Hermeneutik noch in klassischer Tradition als konstruktive Wissensvorderseite der interpretierenden Hermeneutik-Rückseite einer einzigen methodischen Medaille angesehen,¹²⁹ so soll nun der an sich produktionstheoretisch zu denkende Rhetorikansatz im rezeptiven Hermeneutikvorgang aufgehen. Letztlich ist diese Idee ein Produkt der immer noch fortwirkenden hermeneutischen Verblendung selbst dieser Denker, die gegen die traditionelle Hermeneutik und ihren angeblichen Gewissheitsterror antreten. Der philosophische Realismus der Neuzeit, der eine Folge des Strebens nach dogmatischer Gewissheit von Hermeneutik ist, habe sich in seiner Suche nach objektivierbarer Wahrheit verausgabt und sei in einen Fundamentalismus auf Basis von dictatorial rhetorics (womit der eigentliche, aristotelische Rhetorikansatz gemeint ist) abgeglitten. Damit habe man nur autoritative Positionen zementiert. Demgegenüber will Calvin Schrag 1985 eine rhetoric der Abnormalität einführen, die sich als permanente Hermeneutik versteht und das unvertretbare Gewissheitsdenken durch Abweichung aufbricht: „The task of rhetoric, then, should be one of hermeneutics, where hermeneutics is conceived in terms of communicative praxis. In other

 „If truth is somehow both prior and substantial, then problems need not be worked out but only classified and disposed of. Unwittingly, one may commit himself to a rhetoric which tolerates only equals, that is, those who understand his ‚truths‘ and consequently the conclusions drawn from them; such a rhetoric approaches those who are not able to take its ‚truths‘ at face value as inferiors to be treated as such“ (Scott 1967, 12).  Brummett (1981) 293 – 297.  Gadamer (1976).

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words, rhetoric seen as hermeneutic is similar to what Rorty called ‚abnormal discourse‘.“¹³⁰ Für Schrag ist das Telos der üblichen Argumentationen im abzulehnenden normal discourse auf den Erfolg in Diskussionen fixiert. Hier wird das Erkennen durch abstrakte und rationale Vorgaben und objektivistische Themenfixierung kontrolliert. Rekurs auf die Praktiken der Hermeneutik würde im Gegensatz dazu bedeuten, auf die sozialen Sinnzusammenhänge als die eigentlichen Inhalte zu achten, die etwas mit dem Selbstverständnis des Rhetors und seiner Partner zu tun haben, jedoch nicht mehr auf Sachfragen fixiert sind.¹³¹ Die moderne Rhetoriktheorie kann diese Haltung mit ihrer Vermengung von Rhetorik und Hermeneutik aus theoretischen Gründen nur schwer integrieren. In Hinblick auf die Status diverser Kommunikations-Frames sieht sie die systematisch begründete Notwendigkeit „for a clear distinction between normal/standard and specialized modes of communication“. Der rhetorisch handelnde Orator „deals with true issues and real matters und acts with and within the framework of the true and real, i. e. under standard communicative conditions“. Hier gelten die von Herbert P. Grice identifizierten konversationellen Maximen uneingeschränkt. Doch der Verbindlichkeitsernst „of material or life-world communication does not exist in cases of licensed or specialized communication (in the de-pragmatized textures of the arts, in literature, theater, advertising, carnival, etc.). The frame of understanding that defines specialized communication is usually established by specific markers.“¹³² Es ist ganz offensichtlich, dass das letztendliche Streben der Vertreter der Dekonstruktion dahin geht, die Unterscheidung zwischen den beiden grundlegenden Kommunikationsstatus aufzuheben und nur noch die lizenzierte Sonderkommunikation als Frame gelten zu lassen. Selbst Argumentationstheoretiker wie Henry W. Johnstone Jr. sind bereit, dafür im Sinne Derridas die vermeintlich zwanghafte Logik zu opfern. Natürlich kann man die Überlegung anstellen, ob das philosophische Kommunikationssetting nicht eher den Status lizenzierter Sonderkommunikation hat.¹³³ Es sei

 Hikins u. Zagacki (1993) 107.  Schrag (1985) 172– 173.  Knape (2013a) 15.  Hingegen ist die Idee einer Generalskepsis gegenüber dem Realismus jeglicher Art von Kommunikation dem Reich lebensweltfremder Spekulation zuzuordnen. Generalskeptiker würden verhungern, wenn das nicht so wäre. Entsprechende Unterscheidungen sind selbst den Vertretern der klassischen Skepsis klar gewesen. Deren Grundsätze gehen, wie oben bereits gesagt, auf den skeptischen Philosophen Pyrrhon zurück (ca. 360 – 270 v. Chr.), der selbst nichts Schriftliches hinterlassen hat. „Wie es aussieht, hat er den Versuch, an der Differenz von Sein und Schein festzuhalten und auf dieser Basis nach Wahrheit zu suchen, aufgegeben.“ Hier ist insbesondere folgende Anekdote elementar: „Der Lehrer Pyrrhons, Anaxarchos (ca. 360 – 320 v. Chr.), hat einem Bericht bei Sextus Empiricus zufolge gelehrt, dass ‚das Seiende eine Bühnen-

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daran erinnert, dass zu Beginn der europäischen Philosophietradition (wenn auch nicht am Anfang) Platon mit Hilfe fiktionaler Dialogszenen philosophierte, und dass Richard Rorty das Philosophie-Department seiner Universität verließ, um im literaturwissenschaftlichen Department weiterzuarbeiten mit der Begründung, er könne in diesem Frame angemessener philosophieren.¹³⁴ Das sind systematisch gesehen deutliche Grenzüberschreitungen. Gibt es also doch so etwas wie lizenzierte philosophische Sonderkommunikation? Johnstones Projekt geht in die entgegengesetzte Richtung, doch ebenfalls mit dem Ziel einer Grenzaufhebung. Er will die philosophische Rede ausdrücklich als von jeder esoterischen Sonderung und traditionellen methodischen Fesselung befreite, lebensweltliche Rede verstehen, zu der es keine Alternative gibt. Um dieses Projekt einer rhetorisch in die Lebenswelt rückgeführten Philosophie zu begründen,¹³⁵ braucht auch er die radikale Dekonstruktion der Logik als der traditionell zentralen philosophischen Voraussetzung, die das Denken in einen als ‚objektiv‘ markierten, dekontextualisierten „Raum der Besonderung“¹³⁶ stellt. Dagegen habe die wahre Philosophie, schreibt er 1973, ihrem Wesen nach rhetorical, also empraktisch zu sein, und diese rhetoric sei jenseits aller Logikpostulate angesiedelt.¹³⁷ Ohne ihn zu erwähnen, wird Sextus Empiricus, und mit ihm die klassische Skepsis, aktiviert.¹³⁸ Im Zerstören logischer philosophischer Argumente zeige sich zuallererst die Rationalität der Philosophie, ja, werde das philosophische Unternehmen erst eigentlich etabliert: „The position for which I want to argue is that in the very process through which philosophical arguments are demolished,

malerei ist, die den Bildern vergleichbar ist, die uns im Traum oder im Wahnsinn zufallen‘ (Math. 7,88). Als er eines Tages in einen Sumpf fiel und zu ertrinken drohte, soll Pyrrhon sich geweigert haben, ihm zu helfen (Diog. Laert. 9,63). Die Anekdote zeigt u. a., dass Pyrrhon im Unterschied zu Anaxarchos nicht einmal glaubte, dass das Leben ein Traum und das Seiende nicht erfassbar sei. Er wollte seinem Lehrer Anaxarchos demonstrieren, dass auch die Überzeugung, das Leben sei (wie) ein Traum, fragwürdig sei. Denn in Situationen, die blitzartige Aktionen und instinktartige Reaktionen erfordern wie die Situation des Ertrinkens, wären wir zur vollkommenen Handlungsunfähigkeit verurteilt, wenn wir die Situation lediglich und buchstäblich für ein Traumbild hielten“ (Gabriel 2008, 37– 38).  Rorty in Ullrich u. Mayer (2001) 163 – 164.  Zum Begriff „Lebenswelt“ siehe wiederum Anm. 10.  Zu diesem Begriff siehe Knape (2008) 898; 900.  Johnstone (1973).  Das tritt in folgender Passage deutlich zu Tage: „No position in the history of philosophy is so strong that we should want to say that only the arguments favoring it are valid; and none so weak that we should want to say that only the arguments opposing it are valid. For every argument there has been an equally strong counterargument. It follows at once that neither the argument nor the counterargument could really have been valid“ (Johnstone 1973, 383).

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the rationality of the philosophical enterprise is established.“¹³⁹ Bewusst will Johnstone einen Keil treiben „between rationality and validity in philosophy.“ Das philosophische Unternehmen „can be rational even though none of the arguments used by philosophers are formally valid and few if any are valid in any other sense.“ Weisheit lässt sich philosophisch grundsätzlich nur erringen „by giving it the benefit of the doubt“.¹⁴⁰ Der Fundamentalzweifel führt mit sich den Zweifel an der Logik von Argumenten. Die Kommunikationsbewegung als Weg ist das Ziel. Johnstone räumt ein, dass ihn der radikale Zweifel ganz folgerichtig in dekonstruktiv-konklusionsunfähige Ratlosigkeit stürzt: „If the rationality of philosophy has escaped the gravitational field of logic, into what gravitational field is it falling? I know of no conclusive way to answer this question.“ Wenn man jedoch in die kommunikative Praxis schaue und den „success of successful arguments in general“ untersuche, dann sehe man zwei Kraftfelder und gelange zu zwei Erklärungsmöglichkeiten: „these are the logical explanation and the rhetorical explanation.“ Da die Logik dem Fundamentalzweifel unterliegt, schlägt Johnstone vor, sich der rhetoric als leerer (man könnte auch sagen ‚reiner‘) Praxis zuzuwenden. Ihm sei klar, dass dieser Ansatz jene Rationalisten schockiere, die die Rationalität nur für logische Erklärungsansätze reservierten. Aber er wolle dagegen setzen: „If we believe that philosophy is rational, therefore, we undercut this belief when we attempt to explain such rationality in terms of logic.“¹⁴¹ Rhetoric soll hier als eine mit sich selbst befasste, reine Performanz gesehen werden: „Eine rhetorical explanation richtet sich auf Parameter der Redeinteraktion wie: die Haltung des Sprechers, die Art, wie er seine Botschaft präsentiert, und die Adressaten, denen er sie präsentiert. In ihrer Befassung mit diesen Parametern ist sie vollkommen anders geartet als die Erklärung des Erfolgs eines Arguments unter der Perspektive formaler Logik. Denn nichts davon trägt zur Analyse der formalen Validität eines Arguments bei. Die stichhaltigen oder tragenden Sätze des Syllogismus werden ohne Bezug zum Sprecher, zum Adressaten oder zum Stil der Präsentation formuliert. Insbesondere in Hinblick auf diesen letzten Punkt können wir ganz besonders dann auf unsere logische Erklärung des Erfolgs eines Arguments vertrauen, wenn wir jegliche stilistische Überformung zugunsten einer möglichst purifizierten Darstellungsform eliminiert haben.“¹⁴² Im Fall einer rhetorical Sichtweise spiele aber genau diese traditionelle Haltung keine Rolle.

 Johnstone (1973) 384.  Johnstone (1973) 385.  Johnstone (1973) 386 – 387.  „A rhetorical explanation appeals to such parameters of discourse as the attitude of the speaker, the way in which he presents his message, and the audience to which he presents it. In its concern with these parameters, it is totally unlike an explanation of the success of a succ-

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Bei Johnstone tritt zunächst der in der amerikanischen Dekonstruktion etwas anders gefärbte, reduktionistische bis leere Rhetorikbegriff hervor, von dem schon die Rede war, und der ebenfalls einer verbreiteten Vorurteilsstruktur entspricht (Rhetorik als inhaltsfreier kommunikativer Aktivismus). Wie gesagt, fällt dieses Rhetorikkonzept letztlich mit dem allgemeinen Kommunikationskonzept zusammen. Also: Rhetoric ist einfach Kommunikation. Die kommunikative Interaktion und Performanz als solche, nicht aber als persuasiv orientierte, steht hier im Mittelpunkt des Interesses. Damit verliert der Rhetorikbegriff jedes Proprium gegenüber dem allgemeineren Kommunikationsbegriff; ein Verständnis von Rhetorik, das nicht gerade auf fachlicher Reflexion beruht, auch nicht beruhen will.¹⁴³ Bemerkenswerterweise bleibt Johnstone jedoch nicht an diesem Punkt stehen. Selbstdekonstruktiv modifiziert er im Verlauf seiner weiteren Überlegungen sein Rhetorikverständnis und steuert – freilich unkommentiert – letztlich doch auf den fundamentalrhetorischen Ansatz einer persuasionstheoretisch begründeten, also standardkommunikativ verankerten Rhetorik (mit dem üblichen Dreischritt von Persuasion-Judizium-Dezision) zu. Die rhetorische Interaktion als solche, so Johnstone, ist der Sitz von Erkenntnis, weil diese Interaktion Menschen zum Nachdenken bringt. Es geht um eine Art der Rationalität (und nun wird auch bei Johnstone der antiidealistische Impetus deutlich), „die nicht außerhalb des Körpers von Menschen in Erscheinung treten kann. Menschen sind rational in einer Art und Weise, die Gott nicht möglich ist, denn Gott ist nicht mit der Prüfung von Argumenten befasst. Als Herrscher im Reich der Zwecke bringen Menschen die genannte Art von Rationalität in die Welt. Darum kann eine bestimmte rhetorische Praxis, die sich, wie jedes rhetorische Agieren, an Menschen richtet, als Sitz der Rationalität des philosophischen Unternehmens dienen. Sie spielt diese Rolle einfach dadurch, dass sie an die Zuhörer appelliert, genau zu überlegen, ob sie nicht hinters Licht geführt worden oder auf etwas hereingefallen sind“.¹⁴⁴

essful argument from the point of view of formal logic. For none of these has any bearing on the analysis of the formal validity of an argument. The valid moods of the syllogism are formulated without reference to speaker, audience, or style of presentation. With regard to this last point, in particular, we can be most confident in our logical explanation of the success of an argument when we have eliminated style altogether in favor of an aseptic symbolism“ (Johnstone 1973, 387).  Siehe demgegenüber aber Knape (2012a) 64– 71.  „[…] that cannot manifest itself apart from its embodiment in people. Human beings are rational in a way in which God could not be because God is not concerned to examine arguments. As sovereigns in the kingdom of ends, humans bring rationality of this kind into the world. This is why a certain rhetoric, which is, like all rhetorics, addressed to people, can serve as the locus of the rationality of the philosophical enterprise. It serves this role simply by calling on its listeners to consider whether they may not have been taken in“ (Johnstone 1973, 388).

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Am Ende seiner Überlegungen weitet sich Johnstones Blick also in rhetoriktheoretischer Hinsicht. Er will die Herausforderungen (challenges) des philosophischen Denkens pragmatistisch-lebensweltlich verankern, nicht mehr einem separierten Raum des zwanglosen, herrschaftsfreien Argumentierens überlassen.¹⁴⁵ Darum sieht er für die infiniten Quaestiones kein eigenes Setting mehr vor. In letzter Konsequenz überführt Johnstone damit die Fälle infiniter QuaestionesVerhandlung aus einem spezifisch philosophischen Kommunikations-Setting (für ihn Teil eines sophistical Unternehmens) in ein lebensweltlich-rhetorisches (responsible), in welchem der Dezisionismus angesichts finiter Quaestiones waltet: „Yet if rhetorical theory is to be the sole rubric under which challenges to philosophical arguments fall, how shall we distinguish the sophistical from the responsible challenge?“¹⁴⁶ Und so erklärt sich vielleicht auch die überraschende Beobachtung, dass Richard Rorty den persuasiven Ansatz der Rhetorik an bestimmten Stellen seines Werks – erwartungsgemäß nicht gerade konsequent – dann doch nicht nur als diktatorisch abtut. Wenn im Sinne Johnstones philosophische Positionen lebensweltlicher Aushandlung unterliegen, das sieht Rorty in solchen Überlegungen recht klar, dann lässt sich Überzeugungshandeln und damit Rhetorik nicht vermeiden. Allerdings, darauf legt er dekonstruktiv-emphatisch doch Wert, bedarf es dabei nicht des Logikpostulats, sondern nur der Aufrichtigkeitsbedingung: „Manche Philosophen sehen einen wesentlichen Unterschied zwischen Logik und Rhetorik oder zwischen ‚Überzeugen‘ und ‚Überreden‘. Ich nicht. Es gibt einen Unterschied zwischen guten und schlechten Argumenten, aber das ist ein publikums- oder adressatenbezogener Unterschied. Gut ist ein Argument für ein Publikum, wenn diesem die Prämissen des Arguments plausibel erscheinen. Es gibt auch einen Unterschied zwischen aufrichtigen und unaufrichtigen Argumenten: Erstere sind so beschaffen, dass diejenigen, die sie vorbringen, von ihnen selbst überzeugt sind. Ich glaube aber nicht, dass wir eine Unterscheidung zwischen logischen Argumenten und ‚bloß rhetorischen‘ Argumenten brauchen. Ich würde Habermas’ Unterscheidung zwischen strategischem und nicht-strategischem Sprachgebrauch ersetzen durch die ‚common-sense‘-Unterscheidung zwischen unaufrichtigen und aufrichtigen Überredungsversuchen.“¹⁴⁷

 Vgl. Knape (1998) 55 – 56.  Johnstone (1973) 388.  Rorty in Ullrich u. Mayer (2001) 168.

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Verunsicherung der Verunsicherung der Dekonstruktion Derridas rhetorische Strategie der Verunsicherung bestand aus einem für die Zeitgenossen überraschenden, weil verwegenen Angriff auf die traditionelle Metaphysik und deren formallogisch basierte Grundlagen einschließlich der herrschenden Sprachtheorie, der bestimmte idealistische Präsuppositionen untergeschoben wurden. Den Verunsicherungsangriff empfanden viele Normaldenker als dreiste Infestation, weil der formale Kern des europäischen Denk- und Erkenntnissystems bezweifelt oder ungeniert ignoriert wurde. Logik, historische Spezifität und historisch-positivistische Genauigkeit wurden plötzlich verschmäht.¹⁴⁸ Da Derrida keinen modularen Blick auf die Wirklichkeit anstrebt, der etwa Werkzeuge als eigene Entitäten in Handlungsräumen erkennt und davon ausgeht, dass Zeichenkomplexe, sprich: Texte als „Geräte“ (Bühler) in pragmatischen Kommunikationszusammenhängen modularisiert fungieren und gesehen werden können (wie es die fachliche Rhetoriktheorie tut),¹⁴⁹ fallen für ihn aufgrund seiner veralteten Zeichentheorie die Ebenen von Zeichen- und Außenreferenz zusammen. Ja, seine Nachfolger haben den Blick auf die pragmatische Außenwelt völlig abgelehnt und damit die für die Rhetorik konstitutive Unterscheidung von menschlichem Handlungsraum (extrinsisches Beobachtungsfeld) und textlichem Innenraum (intrinsisches Beobachtungsfeld) geleugnet oder abgetan. Derridas schon erwähnter, berühmter Satz „Ein Text-Äußeres gibt es nicht“ wird bei Paul de Man, dem Haupt der literaturwissenschaftlichen Dekonstruktion, methodisiert weiter gedacht und als Handlungsanleitung für Textwissenschaftler zu der Formel verdichtet: „Rhetoric ist die radikale Suspendierung der Logik und eröffnet schwindelerregende Möglichkeiten referentieller Verirrung“.¹⁵⁰ Rhetoric also ein Reich der Verirrung und nicht etwa der Zertifikation? Wiederum bricht die Frage nach der Sache Rhetorik und einem terminologisch sinnvoll gefassten Rhetorikbegriff auf. Immerhin muss man Paul de Man zu Gute halten, dass er von Literaturinterpretation spricht und als Textinterpret seine methodischen Karten auf den Tisch legt (da er keine philosophischen Überlegungen anstellt), indem er sagt, er interessiere sich methodisch nicht für die Außenwelt des Textes.¹⁵¹

 Das zeigt sich etwa auch in Michel Foucaults bedenkenlos mystifizierendem Umgang mit Quellen. Siehe dazu Kasten (1992); Kemper (1996); Bénévent (2014).  Zu deren erweitertem Textbegriff siehe Knape (2005) 19; (2008) 896 – 897.  „Rhetoric radically suspends logic and opens up vertiginous possibilities of referential aberration“ (de Man 1988, 40; 1979, 10).  de Man (1988) 33; 49.

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Dieser Ansatz hat Vertreter jener Disziplinen, die mit hermeneutischen und naturwissenschaftlichen Methoden zugleich arbeiten, äußerst verunsichert. Paradigmatisch kann hier die Geographie mit ihren Abteilungen Humangeographie und Ethnographie genannt werden. Obwohl wir uns inzwischen im Post-Postmodernismus befinden und die Theoriebildung der 1960er- und 1970er-Jahre durchaus als ‚veraltet‘ betrachten können, entbrannte hier mit deutlicher Verspätung ebenfalls eine dekonstruktiv angeheizte Methodendiskussion, die ihren Ausgang bei dem genannten Schlüsselsatz Derridas nimmt. Der Titel eines methodenkritischen Überblicksartikels zur Debatte von Mike Crang aus dem Jahr 2005 gibt dies unumwunden zu erkennen: „Qualitative methods: there is nothing outside the text?“¹⁵² Die in diesem Aufsatztitel steckende Anfrage richtet sich an die Vertreter qualitativer Untersuchungsmethoden, die in Konkurrenz zu den zählenden und messenden Quantitisten stehen. Crang schätzt die Diskussionslage durchaus spektakulär ein, wenn er von „apocalyptic tones of this debate“ spricht. Man spürt geradezu den methodologischen Schrecken, der den Geographen hinsichtlich ihrer nun vermeintlich naiven Methodik in die Glieder gefahren ist. Der als apokalyptisch empfundene Zweifel an allem Sprachlichen betreffe insbesondere die Ethnologie, die sich auf sprachgebundene Beobachtungen der Feldforschung stützt.¹⁵³ Selbstkritisch muss Crang zunächst von einer „crisis of representation“¹⁵⁴ sprechen, die in seiner Disziplin entstanden sei. Als Spätfolge der Dekonstruktionsdebatten wird dabei die Frage diskutiert, welche Rolle die Sprache bei der wissenschaftlichen Analyse genauso wie bei der wissenschaftlichen Präsentation von Ergebnissen überhaupt noch spielen kann, ohne dass sie die Daten grundsätzlich verfälscht. Zwingt nicht jede sprachliche Abhandlung als sprachliche Repräsentation die Daten im Sinne Rortys diktatorisch unter ihre ideologischsystemischen Prämissen? „How is unruly experience transformed into an authoritative written account?“¹⁵⁵ Offensichtlich steht hier die Frage im Raum, ob nicht die Sprache (wie bei Derridas Gefolgsleuten die Logik) die Rolle des cartesianischen Deus deceptor, des Betrügergotts, einnimmt, der die menschliche Erkenntnis der Wirklichkeit vernebelt (Descartes, Meditationes III, 4). Crang verschiebt die Sprachproblematik (theoretisch gesehen völlig zu Recht) auf die Ebene der parole und sieht hier – wen wundert es – natürlich insbesondere die rhetoric als Problem, genauer: „die strittigen Fragen der rhetorischen Struktur“: „There

 Crang (2005).  Crang (2005) 228: „particular to anthropology with its habitual definition of fieldwork as residential participant observation“.  Crang (2005) 226.  Clifford (1988) 25; vgl. auch Besio u. Butz (2004).

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clearly are issues of rhetorical structure.“ Freilich zeigt sich dann bei genauerem Hinsehen, dass er damit eigentlich zunächst einmal textlinguistische Phänomene meint, die sich keineswegs spezifisch unter die fachliche Vorstellung von Rhetorik subsumieren lassen: „if we look at how informant quotes, fieldnotes and the like are presented – for instance, the evidential yet context-free quote or the apparently transparently described enigma that draws the reader into an explanatory game“.¹⁵⁶ Auch hier also wieder die regelmäßig in der Debatte auftauchende Kategorienvermischung bzw. kategoriale Undifferenziertheit, bei der nicht zwischen Textlinguistik, Textrhetorik (im Sinne des restringierten eloquenzrhetorischen Verständnisses) und eigentlicher Rhetorik (im komplexen persuasionstheoretischen Sinn) unterschieden wird. Crang schwankt zwischen den Konzepten. So kommt er unter anderem zu der merkwürdig generalisierenden Feststellung: „The creation of effects is precisely the business of writing.“¹⁵⁷ Was heißt das? Tatsächlich muss man doch wohl die propositionalen Sprechakte im Dienste der referentiellen Sprachfunktion (Jakobson)¹⁵⁸ von Sprechakten in persuasiver Funktion trennen. Nicht jede Rede ist persuasiv. Es gibt auch reine Skriptkommunikation (im Fall alltäglicher automatisierter Kommunikationsvorgänge, z. B. wenn man eine Bestellung aufgibt). Insofern ist die Warnung von Katz aus dem Jahre 2002 ernst zu nehmen: „It is tempting to imagine that nothing more than manipulative rhetoric produces descriptions of social life that convey a ‚youare-there‘ sense of immediacy.“ Katz warnt vor übertriebener Ablehnung sprachlicher Verständigungsmittel bzw. übertriebener Sprachskepsis.¹⁵⁹ Dem schließt sich Crang im Verlauf seiner weiteren Ausführungen an. Er mahnt einerseits wohlbegründet methodische Vorsicht und die Abkehr von einem naiven Sprachrealismus an, doch möchte er dies andererseits auch nicht überziehen: „We should not fall back into a position where ‚realism‘ and transparency are taken as unproblematic, nor should we suggest that all rhetorical work conveying a sense of the real is somehow out to deceive.“¹⁶⁰ Hier deutet sich ein sinnvoller Pragmatismus an, der zu zwei methodischen Auswegen aus den Schwierigkeiten führt: 1. Der Wunsch nach Annäherung an objectivity muss immer eine strukturelle Selbstreflexivität (structural reflexivity) hinsichtlich der Enkodierungsverfahren mit sich führen. 2. Stets sollte ein Methodenmix angewandt werden.¹⁶¹ Gerade dieser letzte Punkt besitzt hohe Plausibilität, weil wir Menschen uns ja auch

     

Crang (2005) 226 unter Bezug auf Katz (2001) 450. Crang (2005) 226. Jakobson (1960). Katz (2002) 71. Crang (2005) 226. Crang (2005) 226; 228 – 229.

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alltäglich unser Weltwissen nicht allein über sprachliche Erfahrung aneignen, sondern über höchst verschiedenartige Experienzen. Was wir an diesem Fall einer von der Dekonstruktion ausgelösten wissenschaftlichen Methodendebatte erkennen, ist die Tatsache, dass die Verunsicherung des Faches hinsichtlich tragfähiger Methoden produktiv genutzt wurde, um auf dem Weg einer Methodendiskussion von einer gewissermaßen naiv-sprachrealistischen Position (z1) zu einer differenzierteren Neupositionierung (z2) zu gelangen. Diese Art des selbstkritisch-nachdenklichen Umgangs mit der durch die Dekonstruktion ausgelösten Verunsicherung fand nicht überall in gleicher Weise statt. Jacques Derrida, Jacques Lacan oder Jean Baudrillard, um nur einige Namen zu nennen, haben jene Vorstellung von „Dekonstruktion“ wesentlich ausgeprägt, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in den interpretierenden Fächern zu krisenhaften Symptomen der genannten Art führte. Dabei kam durchaus die Hoffnung auf, endlich ganz neue Denkwege einschlagen zu können. Insbesondere bei Literaturwissenschaftlern fand dies großen Widerhall, aus verschiedenen Gründen: sei es aus Neigung zum wilden Denken,¹⁶² sei es aus der Bereitschaft heraus, die Geisteswissenschaften den Anforderungen an Wissenschaftlichkeit zu entziehen, oder sei es aus dem Wunsch, sich dem künstlerischen Diskurs anzunähern. Auch das kritische Bewusstsein für Methodenfragen wurde so bisweilen geschärft. Doch dabei blieb es nicht. Schon bald nämlich haben viele Normaldenker die Dekonstruktion als einen rhetorischen Versuch der epistemologischen Verunsicherung verstanden, dem sie unter anderem mit Polemik entgegenzutreten beabsichtigten. Das oben vorgestellte Modell rhetorischer Dialektik sieht für die Entwicklung von Adressateneinstellungen folgende Prozessstufen vor: Vom Zertum z1 über eine Phase der Infestation zum Zertum z2. Im Sinne dieses Ablaufschemas war den Kritikern der Dekonstruktion zumindest intuitiv klar, dass Derrida die alte Gewissheit des Vertrauens auf die formalen Bedingungen des Erkennens als z1 in Frage stellte und damit für viele eine Phase der Verunsicherung initiierte. Derridas neu zu etablierende Gewissheit z2 jedoch bestand in der Behauptung, es gebe keine neue Gewissheit, höchstens die (heideggerianisch gefärbte) Annahme des Fortwirkens der Ur-Spur der Materie. Dekonstruktion heißt eben nicht, einen vorübergehenden cartesianischen Zweifel zuzulassen, sondern mit einer prinzipiellen Verunsicherung des Denkens zu leben. War das die Empfehlung, dem Chaos doch zu vertrauen, oder eher der von der Lebenswelt abge-

 Philosophischer Gewährsmann konnte hier auch Paul Feyerabend (1976) mit seinem damals berühmten Buch Wider den Methodenzwang sein.

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hobene Versuch eines Anschlusses an die philosophisch-skeptische Tradition? Für Denker wie Rorty oder Johnstone herrschen zwar ebenfalls grundsätzlich Unbestimmtheit und Zweifel, doch beide wollen die bisweilen lebensweltlich notwendig werdenden rhetorischen Entscheidungslagen grundsätzlich nicht aus dem philosophischen Diskurs ausschließen und alle Kommunikationsarten in einen lebensweltlichen Pragmatismus überführen. Der ganze Ansatz brachte nun manche Normaldenker (die sich erst jetzt als solche erkannten) dazu, ihrerseits zu einem rhetorischen Gegenangriff überzugehen und die oben genannten Ablaufphasen in Gang zu setzen mit dem Ziel, die Logik zu verteidigen und als z2 die klassischen Denkmethoden zu re-etablieren bzw. zu verteidigen, um ihre Geltung weiterhin aufrechtzuerhalten. Insbesondere naturwissenschaftlich geschulte Normaldenker schätzten die dekonstruktiven Verfahrensangebote (die letztlich in der Ablehnung formaler Verfahren bestanden) schlicht als Unverfrorenheit ein, obschon klar war, dass die Naturwissenschaften aus Gründen ihres praktischen Erfolgs im Ingenieurwesen, „zumindest auf kurze Sicht, von der postmodernen Dummheit wenig zu befürchten“ hatten, wie man mit polemischem Unterton feststellte.¹⁶³ Zu den Vertretern dieser Beurteilungsrichtung gehören Alan Sokal und Jean Bricmont, die 1998 mit ihrem Erfolgsbuch Fashionable Nonsense für viel Furore sorgten.¹⁶⁴ Derrida selbst entging in diesem Buch weitgehend einer Besprechung seines ‚eleganten Unsinns‘, weil er vorsichtig genug war, sich mit dem „verworrenen Denken“¹⁶⁵ nicht – wie die anderen – in Form von Kommentaren an naturwissenschaftliche Tatsachen heranzuwagen.¹⁶⁶ Verschiedene deutsche Philosophen haben sich kritisch mit den Grundlagen der neuen philosophischen Verunsicherungsbewegung auseinandergesetzt.¹⁶⁷ Auch ein aus Sicht der Dekonstruktion eher biederer deutscher Normaldenker wie Jürgen Habermas nahm die Versuche Derridas auf seine Weise sehr ernst und diskutierte sie. Im Diskurs der Moderne (1985) erkennt und kritisiert er deren Denkbewegungen kopfschüttelnd als Verlust an Rationalitätskontrolle.¹⁶⁸ Damit ist das Problem auf den Punkt gebracht: Habermas konnte nicht akzeptieren, so  Sokal u. Bricmont (1999) 321 Anm. 4.  Das Buch geht auf ein Experiment zurück, in dessen Verlauf eine renommierte Zeitschrift bedenkenlos einen aus Zitaten dekonstruktiver Autoren zusammengestellten Nonsens-Artikel von Alan Sokal publizierte. Dokumentiert in der dt. Ausgabe bei Sokal u. Bricmont (1999) 17– 35; 262– 330; die französische Originalausgabe erschien 1997 unter dem Titel Impostures Intellectuelles.  Sokal u. Bricmont (1999) 322 unter Bezug auf Andreski (1974) 92.  Vgl. für eine bemerkenswerte Ausnahme freilich Sokal u. Bricmont (1999) 314.  So etwa Frank (1983).  Heinle (2012) 21– 22.

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sein Interpret Andreas Heinle 2012, dass Derrida nicht mehr „zwischen Philosophie und Literatur unterscheide, sondern den philosophischen Text zum scheinbar literarischen Text bloss verfremde“.¹⁶⁹ Egal, für wie seriös Habermas die Ausführungen Derridas hielt oder ob er dessen subversiven und denkanarchistischen Ansatz überhaupt wahrnahm; er sah auf jeden Fall sehr deutlich die Tatsache, dass hier eine Grenze aufgehoben werden sollte. In seiner Kritik ruft Habermas die fehlende Differenzierung zwischen standardkommunikativem und lizenziert-sonderkommunikativem Status von Texten auf, wie sie die moderne Rhetoriktheorie vornimmt, wovon schon die Rede war.¹⁷⁰ Derrida wolle, so Habermas, der paradoxen Selbstbezüglichkeit der Vernunftkritik, die ihre Kriterien immer nur aus sich selbst beziehen könne, dadurch entgehen, dass er den „traditionellen Vorrang der Logik vor der Rhetorik auf den Kopf stelle und die Souveränität der Rhetorik über das Gebiet des Logischen ausdehne“.¹⁷¹ Hier taucht bei Habermas, der selbst mit dem neoaristotelischen, strategischpersuasionstheoretischen Kommunikationsansatz der Rhetorik Schwierigkeiten hat,¹⁷² dann doch urplötzlich der in der Dekonstruktion übliche Begriff rhétorique/ rhetoric auf, mit dem tatsächlich aber Strukturästhetik gemeint ist,wie sie sich etwa in Textfigurationen ausdrückt.¹⁷³ In der Tat ist es so, dass, wenn solche ästhetischen Kalküle (die Habermas eigentlich anspricht) die Vertextung ausschließlich beherrschen, die Logik unter Umständen ins zweite Glied zurücktreten darf und der Phantasie jeglicher Freiraum zugestanden werden kann. Mit Rhetorik haben die entsprechenden Produktionskalküle aber nur indirekt etwas zu tun, nämlich dann, wenn dahinter auch ein auf Weiteres schauendes, lebensweltlich gerichtetes Kommunikationskalkül steckt. „Wenn die Logik ihren herkömmlichen Vorrang vor der Rhetorik verliere,“ sagt Habermas und meint mit Rhetorik auch hier die Strukturästhetik, dann „würden allfällige Konsistenzanforderungen nämlich hinfällig. Die Triftigkeit einer radikalen Vernunftkritik müsse dann vielmehr ‚nach Massstäben des rhetorischen Gelingens und nicht [mehr] der logischen Konsistenz‘ beurteilt werden. Und: Eine solche Kritik richte sich ‚nicht unmittelbar auf das Netz diskursiver Beziehungen, aus denen Argumente sich aufbauen, sondern auf die stilbildenden Figuren, die über die literarisch erhellende und rhetorisch

 Heinle (2012) 22 mit Bezug auf Habermas (1986).  Hier ist etwa auch an die ähnlich konzipierte Differenzvorstellung von semantic and poetic naming zu denken, die Kenneth Burke 1941 entwickelt hat. Generell Knape (2013a) 169 – 170.  Heinle (2012) 36.  Habermas (1981a) 384– 396.  Zum Begriff der „Strukturästhetik“ siehe Knape (2012b) 15 – 19.

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aufschliessende Kraft eines Textes entscheiden‘¹⁷⁴.“¹⁷⁵ Habermas kritisiert die Ansicht, wonach „alle Gattungsunterschiede in einem umfassenden, alles einbegreifenden Textzusammenhang“ untergingen.¹⁷⁶ Er meint damit die Differenz der beiden oben genannten Kommunikationsstatus. Interessanterweise findet er dann doch noch – von ihm selbst unbemerkt und auch nicht weiter reflektiert – zum Ästhetikbegriff (ohne einfach weiter von Rhetorik zu sprechen), wenn er sich nachdrücklich gegen eine Position wendet, die die „Autonomie des sprachlichen Kunstwerkes und den Eigensinn des ästhetischen Scheins“¹⁷⁷ bestreitet und damit eine „Ästhetisierung der Sprache“ betreibe, welche die Differenzen zwischen „normaler und poetischer Rede“¹⁷⁸ verleugne.¹⁷⁹ Aus rhetoriktheoretischer Sicht ist insgesamt bemerkenswert, dass wir es bei der Habermas’schen Derrida-Kritik mit einer offensichtlichen begrifflichen Kontamination von Ästhetik und Rhetorik zu tun haben (die einem weit verbreiteten vulgären Rhetorikverständnis entspricht).

Das rhetorische Ende der Verunsicherung im rhetorischen Dezisionssetting Die Frage, ob rhetorisches und philosophisches Kommunikationssetting sowie deren spezifische Verfahrensbedingungen am Ende doch in eins gehen, kann offen bleiben. Cicero jedenfalls vertrat in dieser Frage eine klare Position. Für ihn war klar, dass man die beiden Typen von Kontroversien unterscheiden muss: „Daß diese grundsätzlichen Streitfragen (quaestiones) überhaupt nicht zum Aufgabenbereich des Orators gehören, sehen, wie ich meine, alle leicht ein. Denn die Gegenstände, mit denen sich, wie wir bemerkten, die größten Geister unter den Philosophen unter größter Anstrengung beschäftigen, gleichwie irgendwelche geringfügigen Gegenstände dem Orator zuzuteilen, erscheint als große Unvernunft“.¹⁸⁰ Am Ende meines Beitrags scheue ich nicht, doch noch eine Anleihe bei der Mythologie vorzunehmen: Terminus, der Gott der Grenze, ist in gewissem Sinn auch Schutzgott der Rhetorik. Die pragmatischen Frames der Entscheidungsnotwendigkeit und der Zeitlimitierung haben beim Setting die aristotelische Einheit       

Habermas (1986) 222. Heinle (2012) 36 – 37. Habermas (1986) 224. Habermas (1986) 225 – 226. Habermas (1986) 240. Heinle (2012) 38. Cic. inv. 1,8; Übers. n. Nüßlein.

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von Ort, Zeit und Handlung als Interaktionsbedingung der Rhetorik zur Folge, wenn es um das Basissetting der Situativik – also der Face-to-face-Kommunikation – geht.¹⁸¹ Hier erreicht die rhetorische Intervention als kommunikativer Kern der Wechselerzeugung ihren höchsten Effektivitätsgrad. Alle antiken Rhetoriktheoretiker gehen von solch einer Lage aus, bei der ein asymmetrisches Verhältnis zwischen den Bewusstseinszuständen von Orator und Adressaten vorliegt. Der Orator muss sein Anliegen in der Regel klar vor Augen haben, wenn er reüssieren will; der Richter, die Jury, das Publikum können abwarten, wie argumentiert wird, um sich dann zu entscheiden, müssen zunächst keine Sicherheit haben. Daher hat die Rhetorik ihren sozialkommunikativen Ort im Agon bzw. in der Kontroversie. Alle römischen Rhetoriker, der Autor ad Herennium, Cicero und Quintilian¹⁸² gehen bei ihren Überlegungen stets auch von Kontroversien aus, einem Kontroversdebattenfall im politischen Leben oder einem juristischen Streitfall.¹⁸³ Da hat die Rhetorik ihren eigentlichen Platz. Die bloße Vorzeigerede ist demgegenüber ein Spezialfall, dessen Problematik in Hinblick auf das rhetorische Persuasionskriterium schon in der Antike diskutiert wird.¹⁸⁴ Dieses hier am Schluss nochmals herausgestellte disziplinäre Verständnis des Sachbereichs Rhetorik steht hinsichtlich seines wohldefinierten Designs, wie sich gezeigt hat, in gewissem Kontrast zu den teils undifferenzierten, teils generalisierten Konzepten von rhétorique oder rhetoric in rhetorikfachfremden Diskurszusammenhängen. Diejenigen, heißt es in Platons Phaidros mit kritischem Blick auf die Sophisten, „die jetzt rednerische Kunstlehren schreiben, sind listig und verheimlichen, daß sie sich gar trefflich auf die Seele (psychē) verstehen,“ denn „die Kraft der Rede“ ist „eine Seelenleitung (psychagogía)“ (271 c). Von diesem nach wie vor gültigen Urkonzept der Rhetorik war oben schon verschiedentlich die Rede. Die Seelenlenkung aber beginnt mit jener Redeintervention, die den Aufbau vektoriell gerichteter mentaler Konstruktionen in Gang setzt. Die entsprechende, rhetorisch orientierte Kommunikation steht als soziale Anstrengung der physikalischen Entropie entgegen, wenn man diese eingangs erwähnte Begrifflichkeit einmal für Veranschaulichungszwecke beibehalten will. Während die physikalische Entropie immer zum Chaos strebt, erzeugen die kulturellen Energiezufuhren in zivilisatorischen Systemen durch Negentropie immer neue informationelle Ordnungsstrukturen, die wir im menschlichen Denken und Fühlen als zeitweilig dogmatische Verfestigungen oder mentale Aggregierungen erkennen. Ihre Er-

 Siehe wiederum Anm. 57.  Wagner-Egelhaaf (2009) 34– 40.  Aristoteles hat sich nicht als Rhetoriker, sondern nur als Dialektiker zur Amphibolie/ Ambiguität geäußert (Sophistische Widerlegungen 166a).  Aristot. rhet. 1,3 sowie Cic. inv. 1,8.

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zeugungsmodi sind das rhetorisch herbeigeführte Dogmatisieren (einem Gedanken feste Form geben) und die Versicherung (die Zertifikation) als Abbau unerwünschter kognitiver oder emotionaler Dissonanz und Aufbau von Vertrauen. Wenn ein mentaler Wechsel erzeugt werden soll, muss jedoch als Zwischenmodus die Verunsicherung als Zweifelerzeugungsinitiative (Infestation) rhetorisch prozessiert werden. Insofern ist rhetorische Verunsicherung die Mediatrix, die Mittlerin und Vermittlerin, zwischen zwei differenten Bewusstseinszuständen der Gewissheit (einer alten und einer neuen). Anfängliche Verunsicherung ermöglicht mir am Ende eines Denkvorgangs die Zustimmung zu neuen Ansichten und Schlussfolgerungen. Sie ist die Bedingung des mentalen Wandels. So gesehen wird Rhetorik zu einer großen Bewegerin bei kulturellen Veränderungen,¹⁸⁵ wenn sie auch gewiss nicht die alleinige Bewegerin ist. Wie sich gezeigt hat, lässt sich die Frage, ob das Habermas’sche Idealkonstrukt eines herrschaftsfreien Kommunikationssettings, in dem logische Rationalität und nur der zwanglose Zwang des besseren Arguments walten, nicht nur Idee bleiben muss, nicht ohne Weiteres beantworten.¹⁸⁶ Entsprechende Zweifel haben offenbar nicht nur die auf alle Realitäten der Welt eingestellten Rhetoriker, sondern auch mit theoretischen Gründen argumentierende Denker wie Johnstone. Anders als bei diesem oder Rorty, und anders als das oben zitierte DerridaInterview (ursprünglich geführt 1990) vermuten lässt, findet die dekonstruktive Theorie eines Derrida nicht eigentlich zur Pragmatik, denn das würde das Zugeständnis bedeuten, dass Entscheidungen – inklusive Festlegungen – auch im philosophischen Denken nötig sind. Seine Theorie ist eine non-pragmatische Theorie und entzieht folglich das Kommunikationsgeschehen (wenn es denn überhaupt Interesse findet) den immer gegebenen konkreten Status und Frames. Wie bei Nietzsche wird die Sprache als de-pragmatisiertes Theorieobjekt gesehen, das ja als solches immer nur hypothetisches Konstrukt für Lerner, Grammatiker und Theoretiker ist, aber (anders als Texte) in der Lebenswelt nicht vorkommt. Kommunikationstheoretisch-lebensweltlich gesehen tritt Sprache immer nur als Komponente der parole hervor, als kontextualisierte und in Form von Text Gestalt gewordene Größe. Johnstone hat das wohl gesehen. Texte aber sind auch das wichtigste Instrument der Persuasion, und diese ist der Kern des rhetorischen Geschehens. Insofern kann man sagen: Rhetorik ist die Gefährtin des Dezisionismus.¹⁸⁷ Ihre Bindung an die Husserl’sche Lebenswelt

 Knape (2012a) 86.  Knape (1998) 55 – 56.  Das rhetorische Setting liegt also nicht einfach im Allgemeinen vor, wenn irgendein Erfordernis oder irgendein Bedarf für kommunikatives Handeln gegeben ist, also das, was Bitzer exigence oder urgency nennt. Denn das könnte jeden beliebigen Anlass betreffen, auch den des

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unterscheidet eben fundamental die rhetorischen Kommunikationsbedingungen, insbesondere die Produktionskalküle, von den ästhetischen. In reiner Wirksamkeit kann der ästhetische Ansatz eben, so Theodor W. Adorno, ein „jähes Entronnensein“ aus der lebensweltlichen Bindung hin zu entpragmatisierten, autonomen Werkstrukturen für sich reklamieren, denen „nicht ein Brocken dessen, woraus Kunst entrann“ mehr anhaften muss.¹⁸⁸ Ästhetik findet ihren kommunikativen Ansatz im Frame lizenzierter Sonderkommunikation, die für sich das Recht auf reine Werkkalküle reklamieren kann.¹⁸⁹ Die Rhetorik führt demgegenüber mit ihren Mitteln unter dem Druck von Zeitgrenzen, von Ereigniszwängen oder von Personeneinwirkungen Mentalzustände herbei, die konkrete Entscheidungen erleichtern oder erlauben, auch wenn die im Moment des Geschehens gewonnenen Einsichten, Meinungen oder Gefühlshaltungen bald nach der Entscheidung neuerlich der Infestation ausgesetzt und nächstens wieder verflogen sein mögen.¹⁹⁰ Unter den auf diese Lage eingestellten Bedingungen des rhetorischen Settings kann es der Rhetorik nicht um letzte oder apodiktische ‚Wahrheiten‘ gehen, wie man sie bisweilen im philosophischen Diskurs anstrebt, sondern nur um Entscheidungshaltungen, die auf den Moment der Entscheidung bezogen sind. Diese beruhen auf Sachverhaltseinschätzungen, für die sich Begriffe wie momentane Plausibilität oder Wahrscheinlichkeit zur Charakterisierung eignen. Das rhetorische Setting gibt uns Menschen immerhin die Möglichkeit, wenigstens in begrenzten Zeiträumen reflektiert und konstruktiv entschieden zu

infiniten Philosophierens, wohingegen die Ausgerichtetheit auf Entscheidungen eine genauere Differentia specifica des rhetorischen Settings gegenüber anderen Settings darstellt. Vgl. dagegen Bitzer (1968) 6 – 7.  Adorno (1970) 30 – 31.  Knape (2008) 896 – 898; Knape (2012b) 22– 23.  Angesichts der Dekonstruktion traditioneller Vorstellungen von Entscheidungsprozessen (Chia 1994; vgl. Ortmann 2008, 122 – 127) wäre in jedem Einzelfall der Zusammenhang von rhetorischem Input und dezisivem Output (bzw. der Wirkungsgrad rhetorischer Elemente im Verhältnis zu anderen) empirisch zu untersuchen. Vor Gericht gelten in Deutschland stärkere Rationalitätskriterien bei der Entscheidungsfindung (die auch höheren Instanzen standhalten müssen) als in der Politik. Auf jeden Fall aber sind auf beiden Kommunikationsfeldern Entscheidungen schwerlich ohne rhetorische Intervention vorstellbar. „Der entscheidende Unterschied besteht in der Dimension der Zeit“, das Philosophieren und auch die „Wissenschaft kann warten oder steht unter der Konvention, es zu können, während Rhetorik den Handlungszwang des Mängelwesens [der Freiheit] als konstitutives Situationselement voraussetzt“. „Sich unter dem Aspekt der Rhetorik zu verstehen, heißt, sich des Handlungszwanges ebenso wie der Normentbehrung in einer endlichen Situation bewußt zu sein“ (Blumenberg 1981, 113). Auch Kopperschmidt konstatiert als Rahmenbedingung der Rhetorik den „notorischen Zeitmangel“ der Prozessparteien vor Gericht (Kopperschmidt 2000, 227).

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handeln. Nur so konnte der Mensch den steinzeitlichen Lebensverhältnissen entrinnen. Anthropologisch sieht Hans Blumenberg hier als Hintergrund die Tatsache, dass wir Menschen gegenüber anderen Lebewesen eben nicht in allem wirklich festgelegt sind. Diese Unbestimmtheit aber ist der Grund für eine fundamentale Verunsicherung als Haltung zur Welt. „Handeln ist die Kompensation der ‚Unbestimmtheit‘ des Wesens Mensch, und Rhetorik ist die angestrengte Herstellung derjenigen Übereinstimmungen, die anstelle des ‚substantiellen‘ Fundus an Regulationen,“ wie sie etwa Tiere haben, „treten müssen, damit Handeln möglich wird.“¹⁹¹ Unter diesen Bedingungen wird Persuasion zur Gewissheitserzeugerin in den lebensweltlich oft so schwerwiegenden, nicht selten Leben und Tod betreffenden Momenten eines Entscheidungszwangs, also eines Dezisions-Ereignisses, in dem alle theoretische Zurückhaltung aufgegeben werden muss. Das ist die eigentliche Aufgabe der Persuasion. Ob sich die einem konkreten persuasiven Anlass entzogene philosophische Rede indes einen Freiraum (im Sinne eines eigenen Settings) für die Diskussion infiniter Quaestiones reservieren sollte oder überhaupt reservieren kann, sei dahingestellt.

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Therese Fuhrer

Das ‚Zeitalter der Angst‘ als Konstrukt einer Rhetorik der Verunsicherung Eine Analyse zweier Sequenzen aus Augustins Sermones ad populum Abstract The theme of ‘an age of anxiety’ is ever-present in the literature of the high empire and – as one might object against E.R. Dodds’ hypothesis – even more so in Late Antiquity. The present study adopts approaches from literary studies and communication theory to focus on how the trained rhetor and later bishop, and hence preacher, Augustine works with and plays on the phenomenon of ‘anxiety’, and how he functionalises anxieties to motivate his audience to a change in behaviour. The rhetorical analysis presented here studies sermons that can be classed as an unusual type of public speech, in that their rhetorical or homiletic goal is not to move the audience to a change of position within the established secular system of social, political or moral norms; the intention is rather a re-orientation towards values and laws that are established on a transcendental basis. Augustine develops a kind of rhetoric of anxiety: the Christian orator wants to translate fear focused on punishment in the afterlife into a “pure fear” (timor castus) which is oriented solely towards the divine law and which will become a love of justice; thus one will choose not to do wrong even when one no longer expects to be punished. The preacher induces fear in his audience so that a negative emotion can be translated into a positive one.

Die Spätantike – ein ‚Zeitalter der Angst‘? Der Oxforder Altphilologe Eric R(obertson) Dodds hat im Titel der Publikation einer Vortragsreihe aus dem Jahr 1963 die Zeit „von Marc Aurel bis Konstantin“, also das ausgehende zweite, das dritte und das beginnende vierte Jahrhundert n. Chr., als „an age of anxiety“ bezeichnet, was in der deutschsprachigen Ausgabe mit „Zeitalter der Angst“ übersetzt wird.¹ Die Stimmung oder Gefühlslage, die Dodds im Blick hatte, entspricht allerdings vielmehr – wie lateinisch angor – der prägnanten Bedeutung von ‚anxiety‘ im Sinn von Beklemmung, weshalb man mit

 Dodds (1965/1992).

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Therese Fuhrer

Reinhard Herzog besser vom „Zeitalter innerer Unruhe“ spricht.² Dodds vertritt die auf der (neo‐)freudianischen Schule der Psychoanalyse (auf C.G. Jung) und dem psychologisch-anthropologischen Ansatz von William James basierende Vorstellung, dass die Bevölkerung des römischen Reichs die Zeit „von Marc Aurel bis Konstantin“ im Zeichen einer „allgemeinen Angstneurose“ erfahren habe.³ Die „Dodds hypothesis“ wurde in der Folge zum Teil scharf kritisiert: Einerseits könnten die Schlüsse, die Dodds, ausgehend von einzelnen Texten und Autoren wie Plotin und Aelius Aristeides, zieht, nicht ohne weiteres auf eine bestimmte Periode der römischen Kaiserzeit übertragen werden; andererseits ließen sich in der abendländischen Ereignis- und Mentalitätsgeschichte oder überhaupt in der Weltgeschichte eine ganze Reihe von „Ages of Anxiety“ oder Phasen der „WeltAngst“ feststellen.⁴ Immerhin geht auch Dodds davon aus, dass andere Epochen oder Perioden infolge zeitgeschichtlicher Spezifika und besonderer Konstellationen von Ereignissen und Wissensständen ebenfalls solchen Stimmungen unterworfen waren; doch bleibt er die Erklärung schuldig, warum er das Phänomen insbesondere der genannten Zeit zuschreibt.⁵ Nicht gestellt wird zudem die methodische Frage, die angesichts von Dodds’ vor allem textbasierter und dabei selektiver Analyse nicht unwichtig ist: ob in der Literatur der Jahre von Marc Aurel bis Konstantin das Thema ‚anxiety‘ tatsächlich mit größerem Engagement oder – rein quantitativ gemessen – häufiger diskutiert wird als in Texten anderer Zeitstellungen. Eine Antwort auf die Frage ergibt allein schon der Blick auf die Literatur des späteren vierten und des frühen fünften Jahrhunderts, in der nicht zuletzt infolge existentieller Bedrohungen durch den Einfall der Goten und nach der Plünderung Roms durch Alarich im Jahr 410 und dem verheerenden Zug der Vandalen durch die römischen Provinzen Phänomene einer individuellen und kollektiven Verunsicherung und Welt-Angst auffallend oft thematisiert und auch –

 Herzog (1989) 5. In diesem Sinn beschreibt auch Robin (2004) 73 – 94 den Begriff ‚anxiety‘. Zur Begriffsbestimmung vgl. auch Häfner (1971) 310.  Dazu Strobel (1993) 21. Auf William James beruft sich Dodds (1965/1992) 1 f./17 f. mit Bezug auf M.P. Nilssons „Geschichte der griechischen Religion“; zu C.G. Jung vgl. ebd. 4/20.  Für eine kritische Sicht vgl. insbesondere Gager (1984). Zu den Erscheinungen von ‚anxiety‘ seit dem Beginn der Kaiserzeit vgl. Strobel (1993) 21– 24. Die Junktur „Age of Anxiety“ ist eine Prägung des anglo-amerikanischen Dichters Wystan H. Auden („The age of anxiety: a Baroque eclogue“, 1947), auf den sich Dodds (1965/1992) 3/19 als seinen Freund beruft; das Gedicht inspirierte Leonard Bernstein zur Symphonie Nr. 2. Der Begriff der „Welt-Angst“ nach Häfner (1971) 310.  Dazu Gager (1984) 4 f.

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so durch Augustin und Orosius – im Rahmen geschichtstheoretischer Konzepte reflektiert werden.⁶ In den Texten dieser hohen Zeit der Spätantike wird mit Rekurs auf die jüdisch-christliche (Heils‐)Geschichte ein Geschichtsbild entworfen, das die Vorstellung eines ‚Zeitalters der Angst‘ sowohl historisch als auch anthropologisch begründet: Es ist pessimistischer als die bekannten paganen Modelle, da es sogleich nach der Erschaffung der Welt dem Menschen mit dem Sündenfall fortan ein Scheitern gleichsam einschreibt. Nach einem langen linearen Verlauf der irdischen Geschichte steht am Weltende für Juden und Christen das Reich Gottes, das nicht mehr zeitlich, sondern nur noch spirituell fassbar und transzendent ist. Das christliche Geschichtsbild unterscheidet sich insofern vom jüdischen, als noch vor dem Ende der Menschheitsgeschichte die Geburt Christi angesetzt ist; in dieser ‚neuen‘ Ära kann sich – nach Paulus Eph 4,22 und 24 – der ‚neue Mensch‘ herausbilden, der in der christlichen Kirche verwurzelt ist.⁷ Danach verläuft die Geschichte der Menschheit weiter bis zu Christi Wiederkunft und dem Jüngsten Gericht. Die Vorstellung, dass die letzte Phase der irdischen Geschichte angebrochen sei, ist mithin sehr konkret, das nahe Ende gilt als gewiss, in den chiliastischen Konstruktionen wird es sogar genau datiert.⁸ Für eine literaturwissenschaftlich und im vorliegenden Kontext persuasionsoder kommunikationstheoretisch geleitete Untersuchung sind in erster Linie die textuell geführten Diskurse von Interesse, und sie kann sich auf die Frage beschränken, wie in der Literatur einer bestimmten Zeitstellung das Thema ‚anxiety‘ verhandelt und modelliert wird. In den folgenden Ausführungen steht daher die Frage im Zentrum, wie der unter dem Leitbegriff der ‚anxiety‘ gefasste Komplex von negativen Emotionen in rhetorischen Situationen eingesetzt wird bzw. ob und in welchen Texten und Kontexten ihr Einsatz als rhetorische Strategie zu beobachten ist.⁹ Ausgehend von Dodds’ These, dass das ‚Zeitalter der Angst‘ oder

 Herzog (1989) 5 hat daher Dodds’ Beobachtungen auf die gesamte Spätantike ausgeweitet, für deren Diskurse Stimmungen wie ‚Welt-Angst‘, ‚Beklemmung‘, „innere Unruhe“ und ein „Bedürfnis, … sich … der individuellen Verheißung monotheistischer Erlösungsreligionen zuzuwenden“ als prominente Signaturen gelten können. Je nach Periodisierungsschema wird auch das 6. Jh. zur ‚Spätantike‘ gerechnet (bis zum Einfall der Langobarden); im Folgenden stehen jedoch nur das 4. und 5. Jh. im Blick.  ‚Alt‘ sind nur die Juden und Heiden, aber auch die dem Fleisch verhafteten Christen bleiben ‚alte Menschen‘; dazu Fuhrer (2012).  Auf das Jahr 500 (Hippolytos, Alexandriner) bzw. 800 (Eusebius und Hieronymus); dazu Mratschek (2008) 242 f.; Fuhrer (2012) 268 f.  Cicero nennt in seiner ‚Pathosliste‘ in de orat. 2,178, wo er den Emotionen einen entscheidenden Einfluss auf die vernunftgeleitete Entscheidungsfindung zugesteht, die Furcht (timor) als negativen Affekt neben dem positiven der Hoffnung: plura enim multo homines iudicant odio aut

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„innerer Unruhe“ bereits im späten zweiten Jahrhundert einsetzt, ist auch zu fragen, ob sich die Diskurse in der hohen Zeit der Spätantike verändern: Wie wird mit und an dem Phänomen ‚Angst‘ gearbeitet? Werden die Ängste im ‚Jammertal‘ oder auf der ‚Pilgerschaft in der Fremde‘ durch den Ausblick und die biblisch begründete Hoffnung auf ein kategorial anderes Leben nach dem Tod relativiert und – was im Sinn einer ‚Rhetorik der Verunsicherung‘ in erster Linie interessiert – auch funktionalisiert im Hinblick auf neue Werte und Angebote für das Leben in der Gegenwart des Diesseits? Gegenstand der folgenden rhetorischen Analyse sind christliche Predigten, die als „Sonderfall öffentlicher Rede“ betrachtet werden können.¹⁰ Gemäß der bereits frühchristlichen Begrifflichkeit werden Predigten auch als Homilien und die Theorie der Predigt als Homiletik bezeichnet, die als „jüngere Schwester“ der Rhetorik gilt, zu dieser allerdings „in einem Spannungsverhältnis“ steht, „das von Abgrenzungsbedürfnis und Selbstbehauptung, von Anlehnung und Rivalität bestimmt ist“.¹¹ Da die meisten antiken Prediger bzw. Autoren der überlieferten antiken Predigten rhetorisch geschult waren und da dies auf den Autor Augustin, um den es im Folgenden gehen wird, in besonderem Maß zutrifft, sollen vor dem Hintergrund genau dieses Spannungsverhältnisses die Texte einer rhetorischen Analyse unterzogen werden, d. h. sie sollen als auf Publikumswirkung und persuasive Kommunikation hin angelegte und von einem Orator in einer konkreten, hier tatsächlich homiletischen Situation aufgeführte Reden verstanden werden. Der Einsatz der unter dem Leitbegriff ‚anxiety‘ zusammengefassten Emotionen lässt sich somit als rhetorische Strategie der Affekterregung verstehen.¹² Im Folgenden wird der Begriff ‚anxiety‘ durch die beiden deutschen Begriffe ‚Angst‘ und ‚Furcht‘ ersetzt, ‚Angst‘ im Sinn einer Beklemmung ohne konkreten Gegenstand, ‚Furcht‘ im Sinn eines situationsbezogenen, aber „existentiell eher peripheren“ Gefühls.¹³ Eine Abgrenzung ist nicht immer möglich oder sinnvoll.

amore aut cupiditate aut iracundia aut dolore aut laetitia aut spe aut timore aut errore aut aliqua permotione mentis quam veritate aut praescripto aut iuris norma aliqua aut iudici formula aut legibus („Die Menschen entscheiden ja viel mehr aus Hass oder aus Liebe, Begierde oder Zorn, Schmerz oder Freude, Hoffnung oder Furcht, aus einem Irrtum oder aus irgendeiner Regung des Gemüts als nach der Wahrheit oder einer Vorschrift, nach irgendeiner Rechtsnorm oder Verfahrensformel oder nach Gesetzen“; Übers. H. Merklin).  So Beutel (2005) 48; vgl. auch Bachem (1992) 530 – 532.  So Müller (1996) 1497.  Zur Wirkungsweise der Emotion ‚Angst‘ bzw. ‚Furcht‘ auf kognitive Funktionen sei hier nur verwiesen auf die Überlegungen von Schwarz-Friesel (22013) 109 – 117, bes. 115.  Nach Häfner (1971) 310, der allerdings darauf hinweist, dass die begriffliche Unterscheidung eher heuristischen Wert hat und sich nicht durch die Verwendung in der Literatur und den allgemeinen Sprachgebrauch stützen lässt.

Das ‚Zeitalter der Angst‘ als Konstrukt einer Rhetorik der Verunsicherung

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Das ‚Zeitalter der Angst‘ als Konstrukt christlicher Rhetorik? Unabhängig von der Frage, inwiefern die Spätantike als ‚Zeitalter der Angst‘ oder „innerer Unruhe“ und Beklemmung gelten kann, soll im Folgenden die Frage diskutiert werden, wie in spätantiken Predigten mit dem Begriff bzw. dem AffektKomplex ‚Angst/Furcht‘ gearbeitet wurde.Wenn die Erregung des Affektes ‚Angst‘ im Prozess der rhetorischen Persuasion – in einer (politischen, gerichtlichen, persönlichen) Entscheidungssituation, in einer (persönlichen, politischen) Krisensituation oder in der direkten Auseinandersetzung eines Streitgesprächs – die Funktion hat, ein Publikum zu einer Reaktion zu veranlassen, d. h. aufzurütteln, habitualisiertes Verhalten zu überdenken, geltende Normen in Frage zu stellen, kurz: zu verunsichern, kann eine durch die Rede erzeugte ‚Angst/Furcht‘ als Konstrukt oder Produkt des Orators betrachtet werden, das nicht notwendigerweise eine Realität beschreibt. Am Beispiel zweier augustinischer Predigten aus dem ersten Viertel des fünften Jahrhunderts soll untersucht werden, wie und in welchen homiletischen Situationen ein solches rhetorisches Verfahren der Angsterzeugung eingesetzt wird. Ich möchte zeigen, wie der Bischof und Prediger Augustin mit dem Pathos-Komplex ‚Angst‘, ‚Furcht‘, ‚Beklemmung‘, ‚Unruhe‘ usw. arbeitet, um sein Publikum – seine christliche Gemeinde – zu einer Verhaltensund Sinnes- oder Gesinnungsänderung zu bewegen.¹⁴ Die Predigten sind an jeweils unterschiedlichen kirchlichen Anlässen gehalten worden, ihnen ist jedoch eine paränetische und protreptische Wirkungsabsicht gemeinsam, mithin ein vergleichbares rhetorisches – und homiletisches – Ziel: Der Orator – der Prediger – mahnt seine Gemeinde oder auch einzelne Mitglieder oder Gruppen, dass sie ihr Verhalten ändern sollen. Mahnungen oder Mahnreden gelten in der Rhetoriktheorie als besonderer Diskurstyp, in dem die rhetorische Strategie daraufhin ausgerichtet ist, den „Bezugsrahmen, in dem der Adressat Botschaften versteht, so grundlegend zu verändern, dass sich ein radikaler Wandel seiner Ansichten bis hin zur Konversion einstellt“.¹⁵

 Zu Augustins Auseinandersetzung mit dem Thema (metus, timor) vgl. Dodaro (2006); Dietz (2009), 34– 43 sowie Anm. 42 unten S. 76. Der Artikel „Timor“ im AL ist noch nicht erschienen; ein Lemma „Metus“ existiert nicht.  So bei Ostermann (2012) 628, mit Bezug auf Edwin Benjamin Black. Ostermann 629 f. verweist auch auf die alttestamentlichen prophetischen Umkehrmahnungen, die „den Appell an die Zuhörer zumeist mit der Ankündigung drohenden Unheils verbinden“, sowie auf die mittelalterliche ‚Memento-mori‘- und ‚Contemptus-mundi‘-Literatur. Man kann auch von ‚Furchtappell‘

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Mit Bezug auf die von Joachim Knape erarbeiteten kommunikationstheoretischen Grundlagen bezeichne ich mit dem Terminus ‚Verunsicherung‘ ein Zweifelerzeugungsverfahren im Prozess der rhetorischen Persuasion.¹⁶ Im Fokus der Analysen steht also nicht die gelingende Persuasion, sondern das dieser vorangehende, zunächst inversive Verfahren, mit dem der Sprecher sein Publikum von einer mental verankerten Meinung, einem Zertum (Z1), abbringen und dazu bewegen will, seinen Standpunkt zu übernehmen, also einen mentalen Wandel zu vollziehen und ein anderes Zertum (Z2) sich zu eigen zu machen und zu vertreten. Der Pathos-Komplex ‚anxiety‘ wird dann wirksam, wenn beispielsweise ein Gefahrenszenario vorgestellt wird, das sich ergibt, wenn der Adressat einer Rede bei seiner Position (Z1) bleibt, also z. B. durch den Aufweis, dass er sich fälschlicherweise in Sicherheit wähnt, dass die gegenwärtige Situation aber Anlass zur Sorge oder Angst gibt, dass er also einen Positionswechsel (zu Z2) vollziehen und dementsprechend handeln sollte. Die Frage, ob eine christliche Beredsamkeit von anderen Grundvoraussetzungen ausgehen muss als die Klassische Rhetorik, wird in der antiken Literatur seit Tertullian diskutiert, und Augustin selbst hat in unterschiedlichen Phasen seines Schaffens immer wieder versucht, der Rhetorik einen Platz im System der Wissenschaftsdisziplinen (der artes oder disciplinae liberales) zuzuweisen, zuletzt im Rahmen der Predigtlehre im vierten Buch von De doctrina christiana. Explizit spricht er der Rhetorik die Funktion zu, wenn der Redner keinen falschen Gebrauch von ihr mache, biblisch fundierte christliche Glaubenswahrheiten und Verhaltensregeln zu vermitteln.¹⁷ Die rhetorica sacra geht von der Vorstellung aus, dass der orator Christianus seine rhetorische Kompetenz (eloquentia) immer in den Dienst der biblischen Wahrheit und ihrer Verkündung stellen muss. Eine weitere Besonderheit ist die vertikale Richtung des Kommunikationsgeschehens, da das wahre ‚Wort Gottes‘, das per se unverfügbar ist, allein spirituell – durch den Heiligen Geist – vermittelbar ist und das Gelingen seiner Vermittlung von der göttlichen Gnade abhängig bleibt.¹⁸ Wie die christliche Lehre auf einer Reihe von sprechen; dazu s.u. S. 73 f. mit Anm. 37. Zur Metabole als Ziel der Fundamentalrhetorik vgl. Knape (22012) 79 – 82.  Dazu Knape in diesem Band.  Zu diesem Prinzip des usus iustus vgl. doctr. chr. 4,3; 2,54: non est facultas ipsa culpabilis, sed ea male utentium perversitas. ‚Chresis‘ ist „ein Schlagwort der Sophistik“ in der Diskussion zum Wert der Rhetorik in Platons Euthydem und Menon; dazu Gnilka (1984) 31– 34. Zu Augustins hermeneutischer Funktionalisierung der Rhetorik vgl. Murphy (1960/1991/2008); Blümer (1996 – 2002).  Dazu Beutel (2005) 46: „Hinsichtlich dieses theologisch konstitutiven Predigtanspruchs bleibt die rhetorische Analyse überlieferter Predigten notwendig defizitär.“ Die Bezogenheit auf ‚Gottes Wort‘ kann aber auch als Teil der Selbstmodellierung des Orators verstanden werden.

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über die Verstandesebene hinausreichenden Paradoxa basiert, die im biblischen Sprachgebrauch als ‚Torheit‘, ‚Skandalon‘, ‚Ärgernis‘ (1 Kor 1,23) bezeichnet werden, so kann auch die christliche Rede – insbesondere die Mahnrede – nicht das Wohlwollen des Publikums erwirken wollen, sondern muss Anstoß erregen und provozieren.¹⁹ Der grundlegende Unterschied zwischen einer in der Klassischen Rhetorik vorgestellten Kommunikationssituation und einer homiletischen Situation besteht allerdings darin, dass die Predigt nicht darauf abzielt, das Zielpublikum zu einem Positionswechsel innerhalb des säkular – im saeculum – verankerten sozialen, politischen oder moralischen Normensystems zu bewegen, das in der sozialen Gruppe, der Gemeinschaft oder dem Staat gültig ist. Vielmehr verlangt der christliche Redner eine Neuorientierung und Ausrichtung an transzendental verankerten Werten und Gesetzen; Zertum Z1 und Zertum Z2 sind nicht Teil desselben Wertesystems. Dies wird oft mit der (paulinisch geprägten) Vorstellung des Übergangs vom ‚alten‘ zum ‚neuen‘ Leben oder der Transformation vom ‚alten‘ zum ‚neuen‘ Menschen verbunden.²⁰ Der mit persuasiven Strategien erstrebte Positionswechsel muss somit als kategorial gelten und dementsprechend in der Rede dargestellt werden. Ob das persuasive Ziel, das darin besteht, die Adressaten einer Predigt zur Akzeptanz des Zertum Z2 oder vielmehr zur Hoffnung auf eine solche ‚Gewissheit‘ zu bewegen, je erreicht wird, ist grundsätzlich nicht verifizierbar. Denn einerseits kann das Subjekt der Akzeptanz diesen Prozess nur für sich allein, intrinsisch, vollziehen; auch ist das Gelingen der Persuasion, das in einem Gesinnungswandel und moralischem Handeln relevant werden muss, gemäß der hier grundlegenden theologischen Vorstellung von einem göttlichen Gnadenwirken abhängig. Andererseits kann auch das Akzeptanzobjekt – das sind in diesem Zusammenhang die christlichen Glaubensinhalte ‚Auferstehung und ewiges Leben‘ – nur spekulativ bleiben. Eine auf diesen Voraussetzungen basierende Verunsicherungsrhetorik muss anders funktionieren als eine, die in klassisch-paganen und säkularen Kontexten wirken soll. Während zwar in der christlichen Rede das Zertum Z1 in der Regel ebenfalls bekannt und beschreibbar ist – das an säkularen Werten orientierte, diesseitige Leben, das als ‚Leben im Jammertal‘, als ‚Pilgerschaft in der Fremde‘, mithin als grundsätzlich elender Zustand gilt, der allein durch die heilsgeschichtlichen Versprechen und die Hoffnung auf das ewige Leben im Jenseits und die Naherwartung aufgewertet wird –, lässt sich ein auf das eschaton projiziertes rhetorisches Ziel nicht als Gewissheit, sondern als Gegenstand der Hoffnung und des Glaubens und mithin nur als Dubium oder Inzertum definieren. Für eine

 Vgl. hierzu auch Cameron (1991) 155 – 188.  Dazu s.o. S. 63 mit Anm. 7.

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rhetorische und kommunikationstheoretische Analyse wird das Zertum Z2 somit irrelevant.²¹ Da der Erfolg der rhetorischen Handlung nicht extrinsisch und erst recht nicht empirisch überprüfbar ist, kann allein der Prozess der Verunsicherung im Sinn des In-Frage-Stellens interessieren, der Destabilisierung, der Erschütterung des Zertum Z1, der Werte und Normen, die bisher für maßgeblich gehalten wurden.²² In den Texten manifestiert sich das ‚Zeitalter der Angst‘ somit nicht in der Darstellung einer – mit Herzog gesprochen – „inneren Unruhe“, sondern in der immer wieder thematisierten Unsicherheit im Hinblick auf das Schicksal im Jenseits und damit in einem notwendigerweise permanenten Zustand des Unsicher-Seins, der im Fall der Predigttexte, im Prozess der rhetorischen Handlung, gezielt evoziert wird. Diesen besonderen Voraussetzungen für eine verunsicherungsrhetorische Analyse augustinischer Predigttexte soll mit folgenden drei Fragekomplexen Rechnung getragen werden: (1) Wie nutzt der geschulte Redner Augustin, der ehemalige Professor für Rhetorik in Karthago, Rom und Mailand, der Rhetor am Mailänder Kaiserhof, das Pathos ‚Furcht‘ oder ‚Angst‘ im Zusammenhang mit der von den biblischen apokalyptischen Szenarien gegebenen Möglichkeit, das irdische Leben radikal abzuwerten, das wahre Leben allein auf das eschaton zu beschränken und der Aporie im Diesseits die Aussicht auf Erlösung im Jenseits entgegenzustellen? (2) Wie geht der Prediger Augustin in der Rolle des Bischofs der katholischen Staatskirche mit dem Problem um, dass er einem in traditionellen Normen denkenden und danach lebenden Publikum (der Gemeinde) gegenübersteht, dessen durch das weltliche Rechts- und Normensystem geleitetes Verhalten – auch das an diesen Normen orientierte Angst-Verhalten – er konse-

 Das gilt natürlich nicht für eine Analyse gemäß theologisch und religionshistorisch orientierten Fragestellungen.  Diese besondere Charakteristik der ‚christlichen Persuasion‘ hat Søren Kierkegaard 1844 in seinen Reden über die „geistliche Beredsamkeit“ herausgestellt. Hagemann (2001), bes. 75 – 80, und (2012) 45 – 51 fasst Kierkegaards Rhetorik und Predigtlehre unter dem etwas irreführenden Begriff der ‚anti-persuasiven Rhetorik‘ zusammen. Zu Kierkegaards impliziter Predigtlehre vgl. Haizmann (2006). Hierzu passt, dass Kierkegaard in Der Begriff der Angst (1844) die Angst „als das, was durch den Glauben Erlösung bringt“ definiert: Der einzelne Mensch findet den Ausweg aus der Angst, die er vor seiner individuellen „Freiheit der Selbstgestaltung und Entscheidung“ empfindet (so Häfner 1971, 311), im Glauben an Gott, für den er sich von sich aus entscheiden muss. In der Logik Kierkegaards leitet der Redner mit der Erregung von Angst durch den Hinweis auf die Höllenstrafen keinen persuasiven Prozess ein, sondern erinnert den einzelnen Menschen an die Urschuld, die zur Urangst vor der Entdeckung der Nacktheit Adams durch Gott führte. Auf die adamische Urangst als motivischen Prototyp der Angst weist auch Robin (2004) 1 f. hin. Der Angst kommt in Kierkegaards impliziter Predigtlehre somit nicht eine persuasive, sondern vielmehr eine diagnostische Funktion zu.

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quent an biblisch und transzendental verankerte und damit eine andere Kategorie von Angst evozierende Werte rückbinden muss? (3) Wie geht der Orator Augustin in der homiletischen Situation der Predigt mit dem Problem um, dass er gemäß der christlichen Anthropologie und der von ihm selbst geprägten Gnadenlehre immerzu seine Abhängigkeit von einer transzendenten Macht behaupten muss, dass er also selbst über keine Kompetenzen verfügt, sein Publikum zu bestrafen oder eine Bestrafung – die im Jenseits im Höllenfeuer erfolgen soll – zu erwirken und so das Angstszenario im Fall der Reaktanz, einer verweigerten Verhaltensänderung, Realität werden zu lassen?²³

Angst und Verunsicherung: Zwei Beispiele augustinischer Predigt-Rhetorik Die folgende Auswahl umfasst Textausschnitte aus zwei Predigten, die Augustin in den Jahren zwischen 412 und 425 in seiner Funktion als Bischof von Hippo Regius in Nordafrika gehalten hat, wahrscheinlich vor seiner, d. h. der katholischchristlichen, Gemeinde in Hippo. Die Überlieferungsumstände der Predigten sind kompliziert, da es sich um Gebrauchs- und damit lebendige Texte handelt, und meist sind Datum und Redesituation nicht genau rekonstruierbar.²⁴ Der Anlass der Predigten, aus denen die Textstellen stammen, lässt sich jedoch so weit bestimmen, dass das konkrete rhetorische Ziel und die situative Verortung – kirchlicher Festtag,Wortgottesdienst im Kirchenraum – ersichtlich oder rekonstruierbar sind, so dass es möglich ist, die oben genannten Fragen an die Texte zu stellen, d. h. wie der klassisch geschulte und professionelle Rhetor Augustin sein – offenbar gebildetes – Publikum²⁵ mittels persuasiver Strategien zu einer Verhaltensänderung zu motivieren versucht, wie er seine Autorität als Vertreter einerseits der katholischen Staatskirche und andererseits einer höheren, transzendentalen Macht in diesem Persuasionsprozess funktionalisiert. Für das Verständnis augustinischer Predigttexte und ihrer Wirkungsabsicht sind einige Informationen über die kirchenpolitischen Ereignisse und die soziale Funktion von Kirche und Klerikern im römischen Nordafrika vorauszuschicken. Die nizänisch-katholische Kirche, der Augustin seit der Taufe durch den Bischof Ambrosius in Mailand im Jahr 387 angehörte, erlebte in Nordafrika im vierten und

 Dazu Mühlenberg (1994).  Zu den Entstehungs- und Überlieferungsbedingungen antiker Predigten vgl. Partoens (2007) 243 f.; Müller (2012) 300.  Zum sozialen Status des Publikums vgl. Partoens (2007) 245.

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zu Anfang des fünften Jahrhunderts eine große Krise, verursacht durch die in der Bevölkerung weitaus stärker verankerte donatistische Kirche, die dann im Jahr 405 von Rom als häretisch verurteilt wurde. Die Berufung des katholisch getauften Rhetorikprofessors Augustin, der mehrere Jahre am kaiserlichen Hof in Mailand und im Umfeld des kirchenpolitisch engagierten Ambrosius gewirkt hatte, zum Priester und die wenig später erfolgte Ernennung zum Bischof in den Jahren 391 bzw. 395 oder 396 sind im Kontext der religiösen Konflikte Nordafrikas zu verstehen. Weitere Konflikte ergaben sich durch die starke Präsenz der manichäischen Kirche und anderer religiöser Splittergruppen sowie der pelagianischen Askese-Bewegung. Augustins Erfolge an den aus diesen Anlässen einberufenen Konzilen und beim sog. Religionsgespräch von 411 einerseits und in den Gemeinden im Gottesdienst andererseits sind wohl nicht zuletzt auf seine rhetorische Kompetenz und Wirkung zurückzuführen.²⁶ Von den schwierigen Verhältnissen und Spannungen in den Gemeinden und den Problemen mit der zivilen Disziplin in der Bevölkerung geben neben Konzilsakten das augustinische Briefcorpus sowie einzelne Predigten Auskunft. Die erhaltenen Predigttexte, die zum größten Teil entweder mitstenographierte improvisierte Reden sind oder auf solchen Aufzeichnungen basieren, enthalten öfter Kommentare des Predigers über das Verhalten seiner Zuhörer, von Zwischenrufen, lautem Beifall, Klatschen, Geschrei, Tränen oder auch Gleichgültigkeit.²⁷ Die im Folgenden analysierten Textausschnitte sollen – gemäß der oben formulierten Fragestellung – exemplarisch zeigen, wie der Orator Augustin in einer durch den kirchlichen und liturgischen Rahmen vorgegebenen rhetorischen bzw. homiletischen Situation auftritt, wie er mit den lebensweltlich verankerten Denkgewohnheiten (oder Zerta) umgeht, wie er mit dem Affekt-Komplex ‚Angst‘ und ‚Furcht‘ arbeitet und wie er seine Rolle als christlicher Prediger modelliert.

Sermo 232,8: Exkommunikation und Umkehr-Appell Die Predigt s. 232 wurde wahrscheinlich am Dienstag nach Ostern des Jahres 412 oder 413 gehalten, also während der für die Liturgie wichtigen acht Tage der

 Den Zusammenhang zwischen Augustins beruflicher Erfahrung als Rhetor und der Berufung zum Kleriker sehen Gutsfeld (2003) und Müller (2012) 299 f. Zu Augustins Erfolgen in den Debatten mit den Vertretern der nicht-‚katholischen‘ Kirchen vgl. Partoens (2007) 242; Baker-Brian (2013); mit einem Zug zum Hagiographischen May (2003).  Zur Praxis der stenographischen Mitschrift und Übertragung der Predigttexte in Handschriften vgl. Merkt (2003); Müller (2012) 300 – 305. Zu den in den Texten erwähnten Reaktionen des Publikums vgl. May (2003) 103; Merkt (2003) 109 f.; Müller (2012) 300.

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Osteroktav.²⁸ Im Anschluss an die Lesung und Auslegung des Narrativs von Jesu Passion und Auferstehung spricht der Prediger gegen Ende der Predigt (§ 8) erneut von der Möglichkeit, dass der Leib jedes Menschen nach dem Vorbild des Leibes Christi auferstehen kann und damit ewig lebt, setzt dies jedoch in Abhängigkeit von einer Erneuerung des Lebens bzw. der Lebensführung (si vita vetus nostra mala moriatur et cottidie nova proficiat).²⁹ Der Bischof Augustin hatte zuvor eine Reihe von Mitgliedern seiner Gemeinde durch den Akt der Exkommunikation aus der Kirche ausgeschlossen. Als Bischof kann er einen solchen formal geregelten Akt durchführen,wenn ersichtlich wird, dass jemand nach der Aufnahme in die Christengemeinde durch die Taufe die ‚alte‘ Lebensweise nicht aufgegeben hat.³⁰ Ein excommunicatus hat die einmalige Möglichkeit, einen „zweiten Nachlass der Sünden“ zu erhalten, indem er während einer bestimmten Zeit besondere Demut beweist, in Enthaltsamkeit lebt und eine „große öffentliche Reue- und Klagebuße“ ablegt.³¹ Die von Augustin angesprochenen excommunicati absolvieren offenbar dieses Bußritual; sie sind als „Büßer“ (paenitentes) im Gottesdienst erschienen und stehen an einem ihnen zugewiesenen Platz in der Kirche (locus) – hier offenbar im Zusammenhang mit der Osterkommunion –, und zwar in großer Zahl (abundant hic paenitentes; quando illis inponitur manus, fit ordo longissimus). Die Liturgiehistoriker gehen davon aus, dass solche Pönitenten auf den Apsis-Stufen vor dem sitzenden Bischof standen, der ihnen durch Handauflegung den Nachlass der Sünden gewähren und die Exkommunikation aufheben sollte.³²

 Dazu Doyle (22010) 288. Zu Beginn nimmt Augustin Bezug auf kritische Äußerungen gegen eine von ihm eingeführte liturgische Neuerung (s. 323,1): Er hatte während der Osteroktav die Passionsgeschichten aller vier synoptischen Evangelien vorlesen lassen.  Das Thema spricht Augustin in allen Osteroktav-Predigten an; dazu van der Meer (1958) 396 – 398.  Dazu Munier (1996 – 2002); van der Meer (1958) 398: „Um 400 betrachtete man in Afrika die Exkommunikation als eine große Schande und ein fast unüberwindliches Hemmnis im gesellschaftlichen Verkehr.“  Jeder Getaufte konnte nur noch einmal Buße leisten, mit Ausnahme der großen Buße auf dem Sterbebett, die jedoch kein kirchlicher Vertreter, nur Gott abnehmen konnte. Zur paenitentia secunda vgl. van der Meer (1958) 398 – 403 (die Zitate von dort); Munier (1996 – 2002) 1170.  Die Informationen zu den Lokalitäten und Konstellationen von Akteuren und Requisiten im Kirchenraum stellen Merkt (2003) 109, Partoens (2007) 244 f. und Dolbeau (2015) zusammen. Mit der Aussage aliqui excommunicati a nobis in paenitentium locum redacti sunt verweist Augustin offenbar auf diesen ihnen zugewiesenen Ort im Kirchenraum (er verweist insgesamt sechs Mal auf den locus). Zum Bußritual vgl. van der Meer (1958) 400; im Besonderen zur Geste der Handauflegung vgl. Klöckener (2004– 2010) 561, der allerdings die Junktur ordo longissimus im oben aufgeführten Zitat missversteht, indem er sie auf den Ablauf des Bußrituals bezieht.

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In dieser Situation, gegen Ende der Predigt, in der Anrede an die Gruppe der Reumütigen, inszeniert sich nun der Bischof selbst als Klagenden (er „stöhnt und wehklagt“, gemo et plango). Er hatte sich über ihre mangelnde Bereitschaft beklagt, mit dem Bußakt auch ein moralisch besseres Leben zu verbinden (discutio paenitentes et invenio male viventes). Nun fleht er sie an, sich zu ändern (mutamini, mutamini, rogo), und hält ihnen die Möglichkeit eines nahen Todes vor Augen (vitae finis incertus est).³³ Der Bischof verzichtet zwar darauf, den Angesprochenen damit zu drohen, dass ein Rückfall nicht mehr tolerierbar bzw. eine zweite Exkommunikation irreversibel sein würde, und sie so zur Angst vor den Höllenstrafen nach dem Tod aufzufordern; er tut dies aber implizit, in Form eines illokutionären Sprechakts, indem er konstatiert, dass sie sich vor dem Tod „nicht fürchten“ (mortem subitaneam non timetis).³⁴ Der Sprecher weist aber auch für sich selbst den Anschein von Furcht zurück, da ihm zum Vorwurf gemacht werden könnte, dass er auch aus Angst um sich selbst zu den Pönitenten spreche (nemo me calumnietur quia timendo magis quam confirmando locutus sum … timeo ne mihi imputetur quia timeo). Gemeint ist offenbar die Angst des Bischofs vor dem Vorwurf, seine Ansprache nicht mit ganzem seelsorgerlichem Engagement für die Büßer zu halten (confirmando), sondern allein die Amtspflicht abzuleisten, also extrinsisch motiviert zu sein. Diese „Furcht“ (timeo ne) weist er von sich: Er erfüllt seine „Pflicht“ (ego officium meum impleo), indem er die „guten Werke“ und die „Hoffnung“ der Pönitenten „auf Christus“, nicht eine pekuniäre Entlohnung, zum Gegenstand seiner „Freude“ macht (de bonis operibus vestris gaudium volo habere, non pecuniam … spes vestra in Christo).³⁵ Diese Argumentation gegen den Vorwurf der Verfolgung von Eigeninteressen, die der Sorge um die Pönitenten vorgeordnet sein könnten, wird aber bereits in dieser Aussage selbst und auch im Folgenden weiter unterlaufen: Er macht letztlich doch sein Wohlbefinden („Freude, Trost, Erleichterung“) vom Verhalten der Angesprochenen, von ihrer Umkehr zur bona vita, abhängig und begibt sich ihnen gegenüber in die Position des Bittstellers: obsecro vos, si obliti estis vestri, miseremini mei. Damit endet die Predigt. Der klagende wird nun auch  Die Denkfigur der Prokrastination findet sich öfter in den augustinischen Predigten (vgl. z. B. s. 339,7: crastino die te victurum nemo tibi promisit; en. Ps. 102,16; s. 20,4 f.; 82,14; 87,11; 224; auch conf. 6,18 und 8,28). Dazu Straw (1999).  Vgl. die Zuschreibung der Ausrede an die ‚Säumigen‘ in s. 339,7: ‚vivo quantum volo, quomodo volo, postea conversurus ad deum … quia promisit deus indulgentiam, si me mutavero‘. Dort spricht Augustin einen expliziten Furchtappell aus (ibid. 8): timeo taceri. praedicare cogor, territus terreo. timete mecum, ut gaudeatis mecum. ne tardes converti ad deum [Ecli 5,8].  Zur „Aufsichtsfunktion“ des Bischofs vgl. Doyle (2007). Augustins Aussage legt die Vorstellung von Versuchen nahe, die Rückkehr in die Gemeinschaft der Kirchenmitglieder auch durch Bestechung zu erkaufen (vgl. ep. 265,7).

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noch zum bittflehenden Bischof. Die Büßer sollen also doch sein Wohl über das ihre stellen, indem sie ihr Leben aus Mitleid mit ihm ändern. Nicht die Angst um sich selbst, sondern Mitleid mit dem kirchlichen Amtsträger soll sie zur Umkehr motivieren. Das rhetorische Ziel lässt sich also definieren als nachhaltige Verhaltensänderung der Pönitenten und mithin die nachfolgende Aufhebung der Exkommunikation. Da der rhetorische Erfolg der Mahnrede, die erstrebte Metabole, jedoch, wie der Bischof in seiner Rede deutlich macht, von den Angesprochenen offensichtlich nicht erwartbar ist, jedenfalls nicht allein aufgrund ihrer Anwesenheit im Gottesdienst und der formalen Erfüllung der Regeln des Bußrituals, endet der Orator mit einem Sprechakt, der ein hohes verunsicherungsrhetorisches Potential aufweist: Er fleht um Erbarmen. Die verunsichernde Wirkung lässt sich wie folgt beschreiben: Die Rede setzt eine bestimmte räumliche und personelle Konstellation voraus: Der Bischof steht einer Gruppe von Menschen gegenüber, die er für ein regelwidriges Verhalten mit dem Ausschluss aus der Gemeinschaft der Christen bestraft hat. Diese ersuchen ihn im rituellen Akt der Bußklage, die Exkommunikation aufzuheben; eigentlich sind also sie es, die in der Situation sind, klagen und flehen zu müssen. Indem der Bischof selbst diesen Gestus ausführt, kehrt er die Hierarchie um, inszeniert also eine Inversion der Rollen. Er gibt den Pönitenten die Möglichkeit, ihn aus seiner Not zu erlösen, und so weist er ihnen einen ihm überlegenen Status zu. Damit reagiert er auf einen Anspruch, den er ihnen zuvor zugeschrieben hat, indem er ihnen fehlende Demut vorwirft: Wenn sie sich vom „Ort der Reumütigen“ nicht „erheben“ (surgere) wollen, verhalten sie sich so, als hätten sie diesen Ort von sich aus „auserwählt“ (quasi electus sit locus paenitentium), und so machen sie den ihnen zugewiesenen Platz in der Kirche zum Ort der „Ungleichheit“, statt der „Demut“, der er im Prozess des Bußrituals – auf den Stufen unter dem Bischofsstuhl – sein müsste (qui debet esse locus humilitatis, fit locus iniquitatis). Der Bischof, der von der erhöhten Apsis aus spricht, weist so den Reuigen auch im Kirchenraum einen privilegierten Platz zu, den sie sich allerdings anmaßen. Doch auf diese Weise kann er ihnen im Bußritual auch die Handlungskompetenz übertragen: Nicht er muss die Bringschuld leisten, oder vielmehr: nicht er kann sie zu einem ‚neuen Leben‘ motivieren, sondern allein sie sich selbst. Die Intention der Verunsicherung wird insbesondere im letzten Sprechakt deutlich, mit dem der Prediger, begleitet vom Fleh-Gestus des klassisch gebildeten Redners (obsecro vos … miseremini mei)³⁶ und mit einer logischen Implikation (si

 Die Situation ist auch insofern invers im Vergleich zur klassisch-rhetorischen Praxis, als dort der Orator die Richter um Erbarmen für seine Mandanten bittet.

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obliti estis vestri), sein Wohl von ihrer Reaktion – der inneren Umkehr – abhängig macht: Wenn ihr Verhalten – das „Selbstvergessen“ – dazu führen kann, dass der klerikale Würdenträger zum Bittsteller wird, dann muss für sie selbst Wichtiges auf dem Spiel stehen; das Verbleiben in den alten Denk- und Lebensgewohnheiten (in der vita vetus, dem Zertum Z1) muss als riskant erscheinen. Die Schlussworte obsecro … miseremini verfolgen also den illokutionären Zweck einer Drohung und damit eines Furchtappells; der Orator unterstreicht mit dieser inszenierten Asymmetrie der Rollen die Relevanz des Themas für seine Adressaten.³⁷ Er stellt jedoch den Angesprochenen in Aussicht, die Angst vor der selbstverursachten prekären Situation – der drohenden endgültigen Exkommunikation und der Jenseitsstrafe – durch den Akt des Erbarmens aufheben zu können; damit ist das Angebot verbunden, die negative Emotion in eine positive zu überführen, und zwar im doppelten Sinn, nämlich sowohl gegenüber sich selbst, da sie sich dann ja wieder der „Hoffnung“ hingeben können, von der ewigen Verdammnis gerettet zu werden, als auch gegenüber dem Bischof, der daraus „Freude,Trost und Erleichterung“ schöpfen kann (spes vestra in Christo, gaudium meum … solatium … respiramentum … nullum est nisi bona vita vestra).³⁸ Mit dieser Inversion der Hierarchie in der Handlungskompetenz trägt Augustin der – oben beschriebenen – besonderen rhetorischen Situation Rechnung, in der sich ein christlicher Prediger befindet, dessen persuasives Ziel darin besteht, das Publikum zu Reue und Umkehr und damit zum ‚neuen‘ Leben zu bewegen (mutamini, mutamini): Als der handelnde Protagonist in einem solchen Persuasionsverfahren kann und soll nicht der Orator erscheinen, da die mit der Wirkungsabsicht verbundene Verhaltensänderung der Adressaten nicht extrinsisch sein darf, sondern allein von diesen selbst – intrinsisch – herbeigeführt werden muss. Der christliche Prediger kann nicht, gestützt auf seine amtliche Autorität, das Versprechen abgeben, dass die Verhaltensänderung dem Adressaten konkrete Vorteile bringt. Er darf sein Redner-Ethos nicht so modellieren, dass er selbst dem Gegenüber erfahrener und damit überlegen erscheint, da er in diesem eine Reaktion herbeiführen will, für die seine eigenen Kompetenzen nicht ausreichen und im laufenden Pönitenz-Verfahren nicht dezisiv sein können.

 Zu den Modalitäten des Furchtappells und der Hervorhebung der Relevanz des Gegenstands einer Rede vgl. Früh (in Arbeit). – Der Gestus der Unterwerfung des Predigers gegenüber den ‚Sündern‘ kann auch als imitatio Christi verstanden werden (den Hinweis verdanke ich Martin Hose).  Das Thema caritas durchzieht zudem die ganze Predigt; der Begriff steht auch am Anfang der hier besprochenen Passage (hesterna die monui et admonui caritatem vestram, quia resurrectio est Christi in nobis, si bene vivamus).

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Damit wird nochmals deutlich, dass eine christliche Predigt immer auch in einer sehr spezifischen kommunikativen Situation – einer Situation der Glaubenskommunikation – stattfindet, in der der persuasive Erfolg der Verunsicherungshandlung und damit der performative Effekt der Rede nicht empirisch überprüfbar sind, selbst im Moment des mündlichen Vortrags. Unabhängig davon lassen sich jedoch rhetorische und im Besonderen verunsicherungsrhetorische Strategien beobachten und beschreiben: Der Orator isoliert innerhalb des rhetorischen Settings eine Gruppe von Adressaten, die zuvor in einem formalen Disziplinierungsverfahren aus der Gemeinschaft ausgeschlossen worden sind; indem er der Gruppe in Aussicht stellt, dass der vorerst reversible Akt der Exklusion bei weiteren Regelverstößen wiederholt und dann irreversibel und auf Dauer gestellt – im Jenseits perpetuiert – werden würde, wird seine Rede zum Furchtappell. Der offensichtlichen Renitenz dieser Gruppe begegnet er mit den durch Klage- und Bittgestus performierten Emotionen. Diese definiert der Orator explizit nicht als Angst vor dem eigenen rhetorischen Scheitern, sondern als Kummer eines MitMenschen um die Gruppe der Renitenten und als Sorge infolge der eigenen Hilflosigkeit und Unterlegenheit ihnen gegenüber. So kann der Orator die Handlungskompetenz und damit die Verantwortung für den Ausgang des Sanktionierungsverfahrens auf die Adressaten seiner Rede übertragen.

Sermo 161,4 – 9: Die augustinische Angst-Lehre und ihre Rhetorik Während der Bischof in der Ansprache an die exkommunizierten Pönitenten, für die nach der zweiten Buße keine weitere Möglichkeit der Umkehr mehr besteht, mit dem Hinweis auf das Skandalon, dass sich die Pönitenten nicht fürchten, den Furchtappell nur als indirekten Sprechakt formuliert, gibt er in anderen Predigten mit dem Charakter von Mahnreden dem Affekt-Komplex ‚Angst‘ öfter eine dominierende Funktion. Gestützt auf einen Psalmenvers³⁹ sowie den Römerbrief ⁴⁰ und den ersten Johannesbrief ⁴¹ entwickelt er eine in sich stimmige Lehre der Angst bzw. Furcht und, damit verbunden, eine Art Angst-Rhetorik. Grundsätzlich un-

 Ps 19 [18 LXX],10: timor domini castus permanens in saeculum saeculi.  Röm 8,15: non enim accepistis spiritum servitutis iterum in timore, sed accepistis spiritum adoptionis filiorum, in quo clamamus: abba pater.  1 Joh 4,18: timor non est in caritate, sed perfecta caritas foras mittit timorem: quoniam timor poenam habet, qui autem timet, non est perfectus in caritate. Zur Rezeption der Stelle in den augustinischen Schriften vgl. Dideberg (2008).

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terscheidet er zwischen einem timor castus oder filialis und einem timor servilis,⁴² einer „reinen“ oder „kindlichen“ und einer „sklavischen“ Angst. Erstere wird im Sprachgebrauch der Bibelübersetzungen in der Regel mit ‚Furcht‘ übersetzt, meist in der Junktur ‚Furcht des Herrn‘; der timor servilis ist die Angst vor Bestrafung, die den Menschen unfrei macht. In Sermo 161, gehalten in der Zeit zwischen 415 und 420 in Hippo,⁴³ setzt Augustin die beiden Typen von timor in der rhetorischen Argumentation ein, um seine Gemeinde von der – offenbar in einer für die Gemeinschaft problematischen Weise – verbreiteten und daher in den Predigten wiederholt gerügten Praxis des Ehebruchs abzubringen. Ehebruch wurde gemäß römischem Recht als Delikt der Frau gegenüber ihrem Ehemann geahndet, der sie und den Ehebrecher töten durfte; gemäß mosaischem Recht, dem neunten Gebot des Dekalogs, ist Ehebruch ein Verstoß gegen göttliches Recht.⁴⁴ Das Argumentationsschema des Predigers ist folgendes: Er beginnt die Predigt mit dem durch Bibelzitate belegten Bild, das die Körper der Menschen als Glieder Christi vorstellt, die nicht zu „Huren“ gemacht werden dürfen (§ 1).⁴⁵ In der Anrede an ein unpersönliches Du stellt er unterschiedliche Kategorien von Räumen einander gegenüber: den versteckten Ort des Ehebruchs, das eheliche Schlafzimmer, den menschlichen Körper als „Tempel des Heiligen Geistes“ und schließlich das Reich Gottes, „den neuen Himmel und die neue Erde“, von denen der Ehebrecher als Schänder des Leibes Christi und seiner Glieder ausgeschlossen werden kann (§§ 2 f.). Dagegen riskiert er, im Höllenfeuer ewige Qualen zu erleiden, und selbst die mildesten Höllenstrafen sind schlimmer als die säkularen Strafen, vor denen sich der Ehebrecher jetzt fürchtet (§ 4: quaecumque ibi mitiora tormenta sunt, peiora sunt, quam quae formidas in isto saeculo).⁴⁶

 Die Gegenüberstellung findet sich auch z. B. in civ. 21,24; ep. 140,53; 58 u. ö. in den Predigten; vgl. die Zusammenstellung der Stellen bei Berrouard (1988). Die weiteren lateinischen Begriffe des Wortfelds ‚Angst‘, wie metus (dazu div. qu. 33), anxietudo, angor, spielen in dem hier verhandelten Kontext keine Rolle.  Dazu Doyle (22010) 215.  Dazu La Bonnardière (1986 – 1994). Der Dekalog „spielt in der katechetischen und liturgischen Praxis Augustins“ allerdings „keine Rolle“, so Schindler (1996 – 2002) 249; zum neunten Gebot vgl. immerhin die ebd. 254 aufgeführten Stellen in den Predigten (nicht s. 161).  Zitiert werden 1 Kor 6,15 und Eph 5,23.  Die Aussagen zum „Wohnsitz“ in der Hölle und dem „ewigen Feuer“ wirken sehr konkret (vgl. § 4: duae quippe habitationes sunt; una in igne aeterno, alia in regno aeterno. puta quia in igne aeterno aliter ille, aliter ille torquebuntur: ibi erunt tamen, ibi omnes cruciabuntur) und scheinen dem oben beschriebenen rhetorischen Ziel doch ein Zertum Z2 vorzugeben (den Hinweis verdanke ich Bernd Seidensticker); doch muss die Frage, ob ein ‚Sünder‘ tatsächlich zu dieser Strafe verdammt wird oder nicht, gemäß der augustinischen Gnadenlehre offen bleiben.

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Die Furcht vor der Strafe gemäß säkularem Recht ist die Angst vor dem Kerker oder der Kapitalstrafe, mithin die Angst vor dem Tod (§ 4).⁴⁷ Sie ist auf den Leib und daher falsch ausgerichtet, entspricht also einem timor falsus (§ 5). Die falsche Ausrichtung der Furcht verhindert die Einsicht, dass die Gefährdung der Seele und damit die Strafe im Höllenfeuer schlimmer sind als jede körperliche Züchtigung (§§ 4 f.). Augustin unterscheidet hier also bereits im Bereich der Angst vor der Strafe zwei Typen: die Angst vor der Strafe gemäß menschlichem Recht im Diesseits und die Angst vor dem göttlichen Gericht und damit der ewigen Strafe im Jenseits. Angst ist also nicht von vornherein „schlecht“ oder „nichtig“ im Sinn von „unbegründet“ (§ 8: ein male oder vane timere), sondern hat, wenn sie auf das Jenseits ausgerichtet ist, auch einen relativen Nutzen: Sie ist „nützlich“ (§ 7: timorem utilem capiamus),⁴⁸ da sie moralisches Fehlverhalten wie Ehebruch verhindert (§ 8: cum … utiliter timere coeperis … et ideo adulter non fueris). Doch auch die Furcht vor dem Höllenfeuer ist als serviliter timere negativ konnotiert, solange sie eben eine Angst vor Bestrafung ist (§ 8). Weil sie sich jedoch am göttlichen Recht orientiert, führt sie zur Liebe zur Gerechtigkeit (§ 8: amare iustitiam; § 9: diligere iustitiam). Dieser timor ist somit nicht allein custos, sondern auch paedagogus legis (§ 8).⁴⁹ Die Liebe zur Gerechtigkeit leitet nun dazu an, dass man das Schlechte auch dann nicht mehr tun will, wenn man nicht mit einer Strafe zu rechnen hat (Ende § 8: caritas id agit, ut nolis facere, etiam si impune possis admittere), und gemäß dem ersten Johannesbrief vertreibt die Liebe auch die „nützliche“ Furcht schließlich ganz (§ 9: perfecta caritas foras mittit timorem). Dies ist der Moment, in dem der servilis timor vom timor castus, der Gottesfurcht, abgelöst wird (§ 9: servilis timor est, quo times cum diabolo ardere: timor castus est, quo times deo displicere); aus der Angst vor Strafe wird Liebe zur Gerechtigkeit (denn: quia poenam timebat, non iustitiam diligebat). Erst dann ist der Mensch gerecht und frei (nam solus iustus est liber), und er verzichtet auf das Unrecht-Tun

Als Zertum darf der Prediger weder Lohn noch Strafe in Aussicht stellen. Zur Vorstellung der Hölle als Strafort vgl. Wlosok (2004– 2010).  In der Folge macht der Prediger den Menschen selbst für seine Todesangst verantwortlich, da er sich als Sünder vor Gott fürchten muss (§§ 6 f.).  Im Folgenden wird der timor vanus als unentrinnbare Verlustangst und Todesangst definiert (§ 7): timore vano timorem utilem capiamus. timor vanus est omnium hominum timentium amittere temporalia, quandoque migraturorum, et migrare trepidantium, volentium semper differre quod non possunt auferre. vanus est iste timor hominum: et tamen est, et vehemens est, et resisti ei non potest. hinc increpandi, hinc obiurgandi, hinc plangendi, hinc lugendi homines, timentes mori, et nihil aliud agentes, nisi serius mori.  Vgl. auch § 12: adhuc enim iste timor ille servilis est, custos quidem malorum; s. 349,7: timor paedagogus sit, non ipse in te remaneat, sed te ad caritatem quasi ad magistrum perducat.

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allein aus Liebe zum „Herrn“, der ihn seinerseits liebt, dem er nicht missfallen will (§ 9: timet non ne damnetur, non ne puniatur, non ne crucietur, sed ne offendat gaudium paternum, ne displiceat oculis amantis).⁵⁰ Die knapp gefassten Ausführungen zur Funktionalität von Angst bzw. Furcht, die Augustin in mehreren Schriften und auch in den Predigten weiter ausführt,⁵¹ sind in Sermo 161 eingebettet in einen fingierten Dialog, den der Sprecher mit einem verängstigten Gegenüber, einem anwesend zu denkenden Mitglied der Gemeinde, inszeniert, das er – wie bereits in mehreren Predigtsequenzen zuvor – in der zweiten Person Singular anspricht (§§ 4– 6). Er lässt den fiktiven Interlokutor (das Du) sich einen konkreten Anlass vorstellen: Jemand wolle ihn verleumden (§ 4: cogita quomodo tremas, si tibi aliquis calumnietur) – im Kontext heißt das: er werde zu Unrecht des Ehebruchs bezichtigt –, und daher müsse er sich fürchten, in den Kerker gesperrt oder, wie später deutlich wird, hingerichtet zu werden (§ 6).⁵² In seiner Angst (contremiscis, conturbaris, pallescis) eilt er zur Kirche, fragt nach dem Bischof, wirft sich ihm zu Füßen, berichtet ihm, was ihm droht,⁵³ und bittet ihn, dass er sich seiner erbarme und ihn aus der Situation befreie (miserere mei, libera me). Der Bischof konfrontiert ihn wiederholt mit dem Vorwurf, dass er nicht bedenke, dass er für sein „schlechtes Leben“ eine weitaus schlimmere Strafe fürchten sollte: nicht den Kerker, sondern die Hölle.⁵⁴ In dem fingierten Dialog inszeniert sich der Prediger als Bischof, den er als Figur in der dritten Person auftreten lässt, einerseits als klerikale Autorität, im

 Nach einem kurzen Sketch, in dem im Stil der römischen Liebeselegie das Verhalten des gefallsüchtigen und unterwürfigen Liebhabers gegenüber der stolzen Geliebten und dessen Angst, ihr nicht mehr zu gefallen, vorgeführt wird (§ 10: hoc solum ibi timetur: ‚non te videbo‘), geht die Predigt in ein Plädoyer für die eheliche Treue und die Keuschheit der jungen Frauen über (§§ 11 f.). Am Ende wird nochmals der relative Nutzen der Furcht vor der Höllenstrafe betont, die die Menschen vor dem ‚Schlechten‘ bewahrt und zur ‚richtigen‘ Liebe führt (§ 12: adhuc enim iste timor ille servilis est, custos quidem malorum, ut abstineant se a malis, et abstinendo digni sint ad se admittere caritatem).  Am ausführlichsten in seiner Predigtsammlung In epistulam Ioannis ad Parthos decem, in den Predigten zum Johannes-Evangelium (In Ioannis evangelium tractatus) sowie in den Psalmen-Predigten (Enarrationes in Psalmos); vgl. Dietz (2009) 34– 39 und Anm. 42 oben S. 76.  § 6: ille qui te occisurus est, quem times, quem exhorrescis, quem fugis, a cuius timore non sineris dormire, et ipsum in somnis si vides, cum dormieris, expavescis, quid est facturus tibi?  § 4: ad ecclesiam curris, episcopum videre desideras, ad pedes eius. quaerit, ‘quare?’ ‘libera me’, inquis. ‘quid agitur?’ ‘ecce ille mihi calumniatur’ ‘et quid tibi facturus est?’ ‘domine, concutior; domine, in carcerem mittor’.  § 4: et tu ipse contra te male vivis, ut mittaris in ignem? … ecce quomodo timetur carcer, quomodo timetur conclusio; et non timetur gehennae exustio; § 5: timet quaestionarios tortores, et non timet infernales angelos? timet cruciatum temporalem, et non timet poenas ignis aeterni? postremo timet ad modicum mori, et non timet in aeternum mori?

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Besonderen als Anlaufstelle für die Mitglieder seiner Gemeinde, die in Bedrängnis sind, die ihm ihre Sorgen und Ängste anvertrauen und sich von ihm auch juristischen Beistand in Konflikten mit den staatlichen Behörden erhoffen.⁵⁵ Dann aber destruiert er dieses Rollenbild vollständig: In seiner Antwort (§ 5: facile huic ego respondeo) verweigert der Bischof dem verängstigten Bittsteller nicht nur die Hilfe gegen das ihm angedrohte Unrecht, sondern macht ihm seinerseits Vorwürfe: Er qualifiziert die Angst des Bittstellers als „falsch“ (timore falso), denn nach Mt 10,28 kann sein Widersacher zwar den Körper, nicht aber die Seele töten; diese kann nur er selbst töten (ab illo occidi non potest, a te potest), nicht mit der „Lanze“, sondern mit der „Zunge“, wenn er also lügen würde (os autem quod mentitur occidit animam).⁵⁶ Damit spielt der Prediger einerseits die Angst des Bittstellers vor der Verleumdung und der Einkerkerung hinunter, stellt ihm die Möglichkeit tatsächlichen unmoralischen Verhaltens vor Augen und schürt andererseits die Angst vor der weitaus schlimmeren, ewigen Strafe im Höllenfeuer. Der Bischof brüskiert ihn auf allen drei Ebenen, auf denen er um Unterstützung gebeten hatte: Er verweigert ihm die Hilfe,⁵⁷ er beschuldigt ihn der „falschen“ Furcht, verdächtigt ihn der Lüge und steigert so das Angstgefühl. Das in der kurzen Szene vorgeführte Verhalten des Bischofs ist vergleichbar mit den Reaktionen, die in der Textsorte ‚Weisheitsliteratur‘ Figuren wie Sokrates, Jesus, einem religiösen Lehrer oder einem Rabbi zugeschrieben werden: Eine mit bestimmten Kompetenzen, Autorität und Wissen ausgezeichnete Persönlichkeit wird um Rat gefragt oder um Hilfe angegangen und gibt – kontraintuitiv – eine Antwort oder Auskunft, die den Fragenden irritiert und dazu bewegen soll, das Problem aus einer anderen Perspektive zu betrachten und neu anzugehen, anders gesagt: seine Denkgewohnheiten (Zertum Z1) aufzugeben und sich in seinem Streben und Handeln an einem neuen Paradigma (Zertum Z2) zu orientieren. Augustin stilisiert seine Predigt hier in der Tradition des fiktiven Lehrgesprächs, das sowohl in philosophischer wie auch in biblischer (paulinischer) Tradition steht und das in der Rhetorik und Literaturgeschichte unter dem modernen Begriff der ‚Diatribe‘ erfasst wird.⁵⁸

 Dazu May (2003) 99 f. Seine juristische Kompetenz beruht auf der Praxis der audientia episcopalis; Mayer (2000); Doyle (2007) 222– 224.  Damit wird die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass die Anklage doch nicht auf Verleumdung beruht.  Er, der Bischof, kann zwar sein „Fleisch“ (caro) und den „Körper“ (corpus) zu retten versuchen, für seine anima, sein „Leben“ und seine „Seele“, kann nur der Bittende selbst etwas tun (§§ 4 f.).  Dazu Stowers (1994); vgl. auch Müller (1996) 1498.

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Augustin modelliert seinen Orator also als Magister-Figur in der Ansprache an die Gemeinde, für die der fiktive Interlokutor beispielhaft steht: für eine Gruppe von Menschen, die sich im geltenden (römischen) Rechtssystem bewegen und ihr Verhalten danach ausrichten; sie fürchten sich vor weltlichen Klägern und Richtern und der entsprechenden Strafe (§ 5: ex his ergo quae in hoc tempore homines timent, coniciant quae timere debeant). Wenn der Orator ihnen nun eine andere Ausrichtung der Furcht – nicht Kerker-, sondern Höllenstrafe – nahe legt, stellt er das weltliche Rechtssystem keineswegs in Frage; vielmehr haben das utiliter timere und der timor castus die konkrete Funktion, das Denken und Handeln so zu konditionieren, dass jeder Einzelne von sich aus, ohne Furcht vor der Kerkerstrafe, allein aus Liebe zur Gerechtigkeit, moralisch gut handelt und – so der Kontext – nicht mehr „die Ehe bricht“ (§ 8: et cum timorem correxeris, et utiliter timere coeperis … adulter non fueris). Der Bischof funktionalisiert die auf eine kategorial andere Existenzform ausgerichtete Angst durchaus im Hinblick auf das Leben im Hier und Jetzt.⁵⁹ Doch dadurch, dass er der Angst vor dem Höllenfeuer (dem timor servilis) die Angst vor der säkularen Strafe unterordnet, trifft er bereits innerhalb der Kategorie der Furcht vor Bestrafung die klare Unterscheidung zwischen einem Bereich, wo Gewissheit im Sinn der rhetorischen Zerta Z1 und Z2 definierbar ist,⁶⁰ und einem Bereich, wo das Zertum Z2 (das Erleiden der Höllenstrafe) spekulativ bzw. ein Inzertum bleiben muss. Der Prozess der Verunsicherung läuft somit über zwei Stufen: Der Redner beginnt mit der Angst vor der Kerker- und Todesstrafe, die er dem fiktiven Bittsteller zuschreibt, den er bereits in der Phase des Verunsichert-Seins darstellt (er hat Angst und läuft zum Bischof); danach disqualifiziert er diesen timor und stellt damit diese erste Verunsicherung als verfehlt heraus. Indem er dem Publikum die Notwendigkeit einer ganz anderen Angst vor Augen stellt, die nicht von den geltenden Gesetzen und Normen geleitet ist, verschiebt er den Bereich der Verunsicherung in transzendente Vorstellungsräume. Doch nicht allein die im fiktiven Dialog auftretende Magister-Figur, sondern auch der vom positiven Recht abgehobene Gerechtigkeitsbegriff verweist auf einen philosophischen, insbesondere platonischen Denk- und Argumentationszusammenhang,⁶¹ und auch die caritas lässt sich – wie amare iustitiam – im Sinn einer

 Vgl. auch die Argumentation gegen die Praxis der Lynchjustiz in s. 302; dazu van der Meer (1958) 160 f.  Eine persuasive Handlung könnte beispielsweise daraufhin zielen, das Gegenüber von einem Z1 ‚Ehebruch ist eine lässliche Sünde‘ über die Verunsicherung durch das Szenario der Angst vor Kerker- und Todesstrafe zu Z2 ‚Gut sein bedeutet Befreiung von dieser Angst‘ zu führen.  Zur Konzeption des augustinischen zweistufigen Gerechtigkeitsbegriffs vgl. z. B. vera rel. 58; lib. arb. 1,14 f.; div. qu. 53,2; civ. 19,16: Die irdische Gerechtigkeit enthält Spuren der ewigen,

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philosophischen Strebenstendenz verstehen.⁶² Der Unterschied zwischen dem platonischen Sokrates und dem augustinischen Prediger besteht jedoch in der rhetorischen Situation: Auch wenn der Bischof sich an ein Du wendet und damit die Handlungskompetenz dem Einzelnen überträgt, ist die Predigt eine Ansprache an ein Kollektiv, das rhetorische Ziel ist mithin die kollektive Verunsicherung. Der Gottesdienst ist zudem der Ort, in dem der Prediger bei seinem Publikum ein Wissen über das biblische Referenzsystem voraussetzen kann; er potenziert die Irritation des Gegenübers mit Zitaten aus der Bibel, mit der Vorstellung des Höllenfeuers und dem Verweis auf eine höhere richterliche Instanz. So treibt er den Interlokutor und damit das Publikum in die Angst – das tut weder der platonische Sokrates noch eine andere philosophische Magister-Figur. Allerdings soll auch an dieser Stelle wiederum die negative in eine positive Emotion überführt werden: Die Angst soll zur Liebe werden, und die Predigt schließt mit einer Definition der Liebe (§ 12: quid sit amare) als Leben in ehelicher Treue und jungfräulicher Keuschheit, mithin als moralisch gutes Leben, das von der Angst wegführt.

Fazit: Der Prediger als Verunsicherer Auch gemäß der modernen Homiletik gehört es – unter anderem – zu den Aufgaben des Predigers, seine Zuhörerinnen und Zuhörer aufzurütteln, zu wecken, zum Nachdenken anzuregen oder zu provozieren, und dabei fehlt in der Regel nicht der Rekurs auf die antiken officia oratoris oder die sokratische Rolle des Zitterrochens oder der Bremse.⁶³ Während aber die Funktion des movere in den antiken Rhetoriken entweder auf die Redeteile Prolog und Epilog oder auf bestimmte Rede- oder Textsorten – die Protrepse, Paränese bzw. Mahnrede (adhortatio) – beschränkt bleiben soll, wird sie in der antiken Predigt zu einer dominierenden Wirkungsabsicht, in den meisten Fällen mit dem Ziel der mora-

wahren Gerechtigkeit (vera iustitia oder perfectio iustitiae); Recht und Gesetz des säkularen Staates sind aus der unveränderlichen lex aeterna abgeleitet, die in der lex temporalis, dem positiven staatlichen Recht, das göttliche Recht repräsentiert. Das ewige Gesetz ist den Menschen als naturgegebene moralische Handlungsnorm oder ‚Sinn für Gerechtigkeit‘ (lex naturae/ naturalis) in der Seele eingeschrieben und als moralisches Gewissen präsent. Zum platonischen und stoischen Hintergrund vgl. Chroust (1973); vgl. auch Dodaro (2004– 2010) 865 f.; 869 f.; 876 f.  Augustin versteht caritas und amor (auch dilectio) als treibende Kraft, die von der Wahrnehmung der Sinnenwelt über die Erkenntnis ihres göttlichen Ursprungs zur Gotteserkenntnis führt; zum (neu)platonischen Hintergrund vgl. Tornau (2005). Zur Verbindung von Gerechtigkeits- und Liebesbegriff vgl. Catapano (2004) 54– 56.  Vgl. Beutel (2005) 46 f.; auch Haizmann (2006) 73.

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lischen Reflexion oder Läuterung.⁶⁴ Augustin bespricht diese besondere Funktionalisierung und Finalisierung der sprachlichen und rhetorischen Mittel in seiner Predigtlehre im vierten Buch von De doctrina christiana: Ziel der Persuasion christlicher Rede soll es sein, eine Verhaltensänderung der Zuhörer im Bereich des moralischen Denkens und Handelns zu bewirken.⁶⁵ In den Predigten selbst finden sich Spuren einer solchen Theorie der paränetischen und protreptischen Rhetorik gelegentlich in den Äußerungen über die Wirkungsabsicht der aktuellen Rede oder in Beobachtungen zur erfolgten Wirkung der Rede.⁶⁶ In einer Predigt, die Augustin wohl im Jahr 425 am Jahrestag seiner Bischofsweihe in Hippo gehalten hat (s. 339),⁶⁷ reflektiert der Orator über seine Amtspflicht als speculator – womit er das griechische Fremdwort episcopus übersetzt – und als procurator (§§ 8 f.), über seine Rolle des lästigen Mahners (§ 4: taedio esse, oneri esse), der ständig „prüfen“ (scrutari), „anklagen“ (arguere), „zurechtweisen“ (corripere), „aufbauen“ (aedificare), „sich um jeden Einzelnen bemühen“ muss (pro unoquoque satagere), der diese „Last“ aber auf sich nimmt, weil ihn – als Oxymoron formuliert – „das Evangelium erschreckt“ (terret evangelium).⁶⁸ Am Ende der Rede lässt er sein Publikum mit einem entsprechenden Kommentar reagieren (§ 9): „Was wollte er uns sagen? Er hat uns erschreckt, belastet, zu Angeklagten gemacht“ (quid nobis voluit dicere? terruit, gravavit nos, reos nos fecit). Auch wenn dieser fingierte Vorwurf dazu dienen soll, dass der Prediger ihn widerlegen kann (immo, a reatu volui liberare), bestätigt er doch das Angstpotential seiner Predigt, das das Evangelium einfordert: Wer sein Verhalten nicht ändert (mores suos non mutantibus), dem „droht der Herr mit dem Tod, der Hölle, dem ewigen Untergang“ (dominus illis mortem minatur, gehennas minatur, interitum sempiternum minatur).

 Vgl. Ostermann (2012) 629 f.  Dazu Pollmann (1996) 235 – 241 mit den entsprechenden Stellenverweisen.  Dazu Schäublin (1994/2005) 44 f./321 f.; Mühlenberg (1994) 21 nennt den Prediger Augustin eine „Nervensäge“ (mit Bezug auf die Stelle in s. 339,9, allerdings mit der Stellenangabe s. Frangip. 2,9; die Zuschreibung an diese frühe Predigt ist unsicher, dazu Doyle 2010, 387 f.). Müller (2012) 306 – 308 spricht von einer „implicit theory of Augustine’s sermons“.  Vgl. Doyle (2010) 387 f.  § 4: possem enim dicere: quid mihi est, taedio esse hominibus? dicere iniquis, inique agere nolite, sic vivite, sic agite, sic agere desistite. quid mihi est, oneri esse hominibus? accepi quomodo vivam: vivam quomodo iussus sum, quomodo praeceptus sum. adsignem quod accepi: de aliis reddere rationem quo mihi? evangelium me terret. nam ad istam securitatem otiosissimam nemo me vinceret: nihil est melius, nihil dulcius, quam divinum scrutari nullo strepente thesaurum: dulce est, bonum est; praedicare autem, arguere, corripere, aedificare, pro unoquoque satagere, magnum onus, magnum pondus, magnus labor. quis non refugiet istum laborem? sed terret evangelium.

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Als Sprachrohr des „Herrn“ muss der Bischof seine Gemeinde ständig wachrütteln,⁶⁹ und das bedeutet auch „erschrecken“, um ihr die ‚richtige‘ Angst beizubringen. Das terrere wird damit gleichsam zum biblisch legitimierten officium praedicatoris,⁷⁰ das homiletische Ziel ist der timor castus, der zur caritas führen soll, also nicht zur Persuasion, sondern zu einem Streben im Sinn des platonischen Eros, dessen Ziel im rhetorischen Setting des Diesseits nicht realisierbar ist.

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 Dies illustriert der Vergleich der Mahnrede des „Herrn“ und der des Bischofs mit der eines Arztes, der einem Mann die Anweisung gibt, seinen kranken Vater dadurch vor dem Sterben zu bewahren, dass er ihn vom Schlafen abhält (s. 339,8): dominus tibi clamat: noli dormire, ne in aeternum dormias; evigila, ut mecum vivas, ut patrem habeas, quem numquam efferas. et surdus es.  So Kursawe (2000) 69 – 73.

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Ramona Früh

Verunsicherung im philosophischen Brief Senecas Epistulae Morales Abstract The Epistulae Morales present a form of rhetorical communication in which the orator Seneca aims to persuade his internal textual addressee Lucilius of the validity of the Stoic position. Research to date has focused on the affirmative, paraenetic strategies pursued, but the present paper shows that other strategies are used that have a destructive goal, which aim to raise doubts about the addressee’s existing certainties and so to destabilise him. Central to the investigation is the rhetorical form of the paradox, the contradictory character of which seems especially well suited to the task of raising doubts about existing opinions or values and of moving the addressee to change his position. How this functions in detail will be demonstrated by analysing as an example the paradox of poverty in Letters 1, 2, 4 and 17.

Einleitung Senecas Epistulae Morales werden gemeinhin als paränetische Texte gelesen, die den Adressaten dazu auffordern, ein tugendgemäßes Leben zu führen, und ihn in seinem Fortschreiten zu bestärken und motivieren suchen.¹ In der Tat machen konstruktive Strategien einen zentralen Bestandteil des rhetorischen Repertoires der Briefe aus und tragen wesentlich zu ihrer Überzeugungskraft bei.² Allerdings erschöpft sich die Rhetorik der Briefe nicht darin; es fällt vielmehr auf, dass neben den affirmativen, paränetischen Strategien auch solche mit destruktiver Zielrichtung eingesetzt werden, die den Adressaten hinsichtlich seiner Position, seiner Einstellung und seines Habitus erschüttern, ihn also verunsichern sollen. Der vorliegende Beitrag hat zum Ziel, diesen bisher von der Forschung vernachlässigten Aspekt der Epistulae Morales näher zu beleuchten und die Briefe als eine Form der rhetorischen Kommunikation zu erweisen, in der Verunsicherung einen notwendigen Bestandteil des Persuasionsprozesses ausmacht. Verunsicherung soll dabei nicht als Gegensatz zur Paränese aufgefasst werden; vielmehr wird zu zeigen sein, dass sich beide Strategien ergänzen und gemeinsam das persuasive

 Vgl. u. a. Cancik (1967); Hadot (1969); Maurach (1970); Hachmann (1995).  Zur Rhetorik Senecas siehe Wilson (2007).

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Potenzial der Briefe bilden, indem Verunsicherung und Versicherung als aufeinanderfolgende Teile innerhalb des Persuasionsprozesses aufgefasst werden. Zur Illustration soll eine rhetorische Strategie näher in den Blick genommen und ihr Verunsicherungspotenzial erwiesen werden. Es handelt sich dabei um die rhetorische Form des Paradoxons, die in der Forschung bereits vielfach als ein Merkmal des Senecanischen Stils genannt wurde, wobei vor allem ihre Aufmerksamkeit erzeugende und aufrüttelnde Funktion betont wurde.³ Das Paradoxon scheint aufgrund seiner Widersprüchlichkeit besonders geeignet, gängige Meinungen in Frage zu stellen und so verunsichernd zu wirken. Da die Untersuchung keine umfassende Analyse des Paradoxons im gesamten Briefcorpus leisten kann, wird sie sich auf den Aspekt der stoischen Güterlehre und hier insbesondere auf die Bewertung von Armut und Reichtum beschränken.⁴ Zum einen ist diese Thematik innerhalb der Epistulae Morales von zentraler Bedeutung und wird immer wieder in den unterschiedlichsten Kontexten aufgegriffen.⁵ Dabei besteht Senecas Anliegen darin, dem Adressaten die Furcht vor der Armut zu nehmen und aufzuzeigen, dass diese kein Übel darstellt, sondern ebenso wie Reichtum den ἀδιάφορα, den gleichgültigen Dingen, zuzurechnen ist. Zum anderen ist auffällig, dass Seneca seine Aussagen hinsichtlich der Armut häufig in die Form des Paradoxons kleidet und so gängige Auffassungen in Frage stellt.⁶ Im ersten Teil dieses Beitrags sollen nun die epistolographische Kommunikationssituation sowie der Stellenwert und die Funktion der Verunsicherung in ihr bestimmt werden. Im Anschluss daran werde ich, ausgehend von einigen theoretischen Überlegungen zum Verunsicherungspotenzial des Paradoxons, zeigen, wie dieses rhetorisch instrumentalisiert und in die philosophische Argumentation integriert wird. Abschließend möchte ich mich der Frage nach dem Zusammenhang von Verunsicherung und Paränese zuwenden.

 Vgl. Clark (1975) 2; Wilson (1988) 108; Motto u. Clark (1990) 49. Dagegen sieht Lefèvre (1992) 232 das Paradoxon hauptsächlich als stilistische Kategorie.  Der Fokus der vorliegenden Darstellung soll dabei auf der rhetorischen Gestaltung liegen und nicht auf dem philosophischen Gehalt der Briefe. Die Untersuchung beschränkt sich auf die ersten drei Epistelbücher, die sich durch ihre Darstellungsweise und Lehrmethode von den folgenden Büchern abgrenzen lassen (vgl. Sen. epist. 33; Hadot 1969, 64– 66; Hachmann 1995, 7).  Siehe beispielsweise epist. 1,4 f.; 2,4– 6; 4,10 f.; 5,2– 6; 8,5; 14,17 f.; 16,7; 17,1– 12; 18,6 – 13; 20,7– 13; 21,7; 25,4; 27,9. Siehe hierzu auch Richardson-Hay (2006) 143.  Armutsparadoxa finden sich u. a. in epist. 1,5; 2,6; 4,10; 4,11; 14,17; 16,7; 17,3; 17,10; 17,11; 20,9; 21,7; 25,4; 27,9. Zum Armutsparadoxon bei Seneca siehe Motto u. Clark (1992).

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Die Epistulae Morales als Form der rhetorischen Kommunikation Zunächst gilt es also den rhetorischen Charakter der epistolographischen Kommunikationssituation zu erweisen. Eine Kommunikationssituation ist immer dann rhetorisch, wenn sie auf Persuasion abzielt, den oder die Adressaten also zu einem Meinungswechsel, einer Einstellungs- und/oder Verhaltensänderung veranlassen will.⁷ Die prototypische rhetorische Kommunikationssituation der Antike ist die der forensischen oder politischen Rede. Sie ist jedoch nicht darauf beschränkt: Definiert man die Persuasion als das zentrale Merkmal der rhetorischen Kommunikation, so zeigt sich, dass es neben der Rede zahlreiche weitere Texte beziehungsweise Textgattungen mit dieser Intention gibt. Entscheidend für eine entsprechende Bestimmung ist neben dem kommunikativen Ziel der Persuasion insbesondere die Ausgangslage. Voraussetzung für das Eintreten einer rhetorischen Situation ist eine „mentale Differenz“ zwischen Orator und Adressat.⁸ Diese besteht beispielsweise in der unterschiedlichen Bewertung eines Sachverhalts; bei der forensischen Rede etwa in der Frage, ob der Angeklagte schuldig oder nicht schuldig sei. In den Epistulae Morales bestehen solche Differenzen ebenfalls, beziehungsweise sie werden zwischen dem Orator Seneca und seinem Adressaten Lucilius konstruiert,⁹ etwa hinsichtlich der Frage, ob Reichtum ein Gut darstelle und daher erstrebenswert sei oder nicht. Die Differenz muss dabei nicht notwendigerweise absolut oder kontradiktorisch, sondern kann auch graduell sein oder sich nur auf einzelne Teilbereiche des strittigen Sachverhalts beziehen. So lehnt Lucilius die stoische Güterlehre nicht per se ab, sondern hat vielmehr Schwierigkeiten mit deren praktischer Umsetzung und der Habitualisierung sei-

 Vgl. Knape (22012) 79.  Knape (2003) 875. Der Begriff des Orators wird gewählt, weil er im Gegensatz zum Begriff des Redners unabhängig von der konkreten Kommunikationssituation den rhetorisch Handelnden bezeichnet (vgl. Knape 22012, 38 f.).  Mit dem Begriff ,Adressat‘ ist hier stets der textinterne Adressat Lucilius gemeint. Auf textexterner Ebene werden ebenso die intendierten Leser angesprochen und so in den philosophischen Austausch miteinbezogen (vgl. Teichert 1990, 71 f.; Edwards 2005, 277). Dagegen sieht Wilson (1988) 110 den Leser nicht als Adressaten, sondern lediglich in einer Beobachterrolle. Dies schließt jedoch nicht aus, dass sich der Leser mit Lucilius identifiziert oder die philosophischen Anweisungen auf sich bezieht.

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nes Wissens. Der Persuasionsprozess kommt dann in Gang, wenn der Orator beschließt, diese Differenz zu überwinden und Konvergenz zu erzielen.¹⁰ Die Ausgangslage der mentalen Differenz lässt sich schematisch folgendermaßen beschreiben: Der Adressat der rhetorischen Kommunikation vertritt eine bestimmte Meinung, Einstellung oder Überzeugung, die sich neutral mit der ,Adressatenposition A‘ umschreiben lässt. Diese Position ist mehr oder weniger gefestigt, sie stellt eine Gewissheit, ein „Zertum“, dar.¹¹ Der Orator will den Adressaten dazu bringen, diese Position aufzugeben und stattdessen seine eigene, die ,Position B‘, zu übernehmen. Die Voraussetzung für den angestrebten Positionswechsel ist eine Phase der Verunsicherung, die die Adressatenposition (das Zertum 1) aufweicht oder erschüttert und so den Adressaten in einen Zustand des Zweifelns (Dubium) an seiner ursprünglichen Position überführt. Nur so wird der Adressat empfänglich für die Position des Orators, der versucht, durch bestimmte kommunikative Mittel den Adressaten zu einer neuen Überzeugung (Zertum 2) zu bringen. Die Verunsicherung ist folglich „transitorisch“, sie ist darauf ausgerichtet, auf den erzeugten Zweifel eine neue Gewissheit folgen zu lassen.¹² Gleichwohl ist sie ein zentraler Bestandteil persuasiver Prozesse, da nur durch sie der Adressat überhaupt veranlasst wird, seine Position zu hinterfragen und eine Alternativposition in Erwägung zu ziehen. Wie stark jeweils verunsichert werden muss, hängt dabei davon ab, wie gefestigt die Adressatenposition ist und welche Relevanz der Adressat dem verhandelten Gegenstand beimisst, also von der Bereitschaft des Adressaten, seine Position aufzugeben und die des Orators anzunehmen. Ausgangslage und Zielsetzung erweisen die Epistulae Morales folglich als Form der rhetorischen Kommunikation,¹³ wenngleich sie einige wesentliche Unterschiede zur prototypischen Redesituation aufweisen; dies betrifft vor allem das konkrete kommunikative Ziel sowie das rhetorische Setting.Während nämlich die forensische oder politische Rede in einer bestimmten Entscheidungssituation gehalten wird und auf einen unmittelbaren Meinungswechsel der Adressaten abzielt, also ein kurzfristiges kommunikatives Ziel verfolgt, besteht das Ziel der  Zur Konvergenz als Ziel rhetorischer Kommunikation siehe Ortak (2004) 89. Dort definiert Ortak Persuasion als ein „Strategiemuster, mit dem Sp1 [sc. Sprecher 1] bezweckt, bei Sp2 [sc. Sprecher 2] Konvergenz in Handlungs- und Bewertungsfragen herzustellen“.  Knape (2003) 877. Dort spricht Knape vom „Oppositionspaar ‚Gewißheit und Zweifel‘ (Certum und Dubium)“, wobei der Adressat durch Persuasion vom Zweifel zur Gewissheit geführt werden soll. Da Knape sonst vom „Zertum“ spricht (z. B. Knape 22012, 76), soll diese Schreibweise auch hier verwendet werden.  Vgl. Knape in diesem Band.  Den rhetorischen Charakter der Briefe macht auch Hengelbrock (2000) 190 deutlich, indem er Senecas Rolle in den Briefen explizit mit der eines Redners vergleicht.

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Briefe in einer längerfristigen Einstellungsänderung in Bezug auf allgemeingültige Wertvorstellungen und Lebensentwürfe:¹⁴ Der Adressat soll Werte neu definieren, Ziele neu setzen, Habitualisierungen überdenken und Tugendwissen in praktisches Handeln umsetzen. Darüber hinaus unterscheiden sich Rede und Brief auch im Hinblick auf die jeweilige Rezeptionssituation. Während bei der mündlich vorgetragenen Rede Produktion und Rezeption zur gleichen Zeit im selben rhetorischen Setting stattfinden und der Orator als Redner unmittelbar mit seinem Publikum interagiert und gegebenenfalls spontan Änderungen an seiner Rede vornehmen und diese an neue oder unvorhergesehene Gegebenheiten anpassen kann,¹⁵ kann der Briefschreiber keinen direkten Einfluss auf die Rezeptionsbedingungen nehmen und weder Entscheidungen, die er hinsichtlich seiner rhetorischen Strategien getroffen hat, in der Rezeptionssituation selbst korrigieren noch deren Erfolg unmittelbar überprüfen.¹⁶ Neben der Stabilität der Adressatenposition stellen somit also auch das konkrete rhetorische Ziel sowie das rhetorische Setting mit seinen spezifischen Rezeptionsbedingungen wesentliche Faktoren dar, die der Orator bei seinen strategischen Erwägungen berücksichtigen muss. Da das persuasive Ziel eines Redners mit dem Fällen eines Urteils zugunsten seines Klienten oder dem Verabschieden des von ihm unterstützten Senatsbeschlusses erreicht ist, genügt es dem Orator der forensischen oder politischen Rede, die Zustimmung der Adressaten für den Moment der Abstimmung gewonnen zu haben. Ob er sie dauerhaft von seiner Position überzeugen kann, ist für das Gelingen seiner rhetorischen Handlung irrelevant, da die getroffene Entscheidung in der Regel nicht oder zumindest nicht unmittelbar rückgängig gemacht werden kann.¹⁷ Dagegen ist die  Vgl. Knape (22012) 79: „Ein kurzfristiges kommunikatives Ziel ist erreicht, wenn Konsens dergestalt eintritt, dass am Ende in der anstehenden Sache alle die Meinung des Orators übernommen haben. Langfristiges Ziel wäre die Verfestigung dieser Meinung als Einstellung bei den Kommunikationspartnern, zunächst auf kognitiver Ebene, dann aber auch auf der Ebene des Verhaltens.“  Eine Einschränkung muss hier dennoch gemacht werden: Die Koinzidenz von Produktion und Rezeption gilt nur für den mündlichen Vortrag, die actio, einer vorher konzipierten Rede; inventio, dispositio und auch die sprachlich-stilistische Ausgestaltung werden in der Regel vorbereitet. Gleichwohl kann der Redner diese abhängig von der Reaktion seines Publikums verändern.  Die direkte Interaktion zwischen Orator und Adressat wird auch als „primäre Kommunikation“ bezeichnet. Findet die Kommunikation allein mittels Texten statt, sind also Orator und Adressat zeitlich wie räumlich getrennt, so spricht man von „terziärer Kommunikation“ (Knape 2000, 173 – 175).  Eine Revidierung wäre hier nur möglich, wenn ein (anderer) Orator eine neue rhetorische Kommunikationssituation initiieren würde und dann die Mehrzahl der Adressaten für eine gegensätzliche Entscheidung gewinnen könnte.

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Verstetigung der einmal erzeugten Konvergenz für den Orator der Briefe essentiell; eine einmalige Entscheidung genügt hier nicht. Der kommunikative Erfolg bemisst sich vielmehr danach, ob der Adressat bei seinem Positionswechsel bleibt, also auch nach dem Abschluss der rhetorischen Kommunikation, nach dem Lesen der Briefe die Oratorposition im Denken und Handeln beibehält. Dementsprechend werden innerhalb des Briefcorpus dieselben Themen immer wieder aufgegriffen und variiert, um einem Rückfall in alte Sichtweisen und Verhaltensmuster vorzubeugen und um den Adressaten trotz eventueller Zweifel oder Rückschläge zu motivieren, den eingeschlagenen Weg weiterzugehen und Einstellungsänderungen auch zu habitualisieren. Indem der Orator darüber hinaus bisweilen eine Dialogizität inszeniert und seinen Adressaten selbst zu Wort kommen lässt, kann er mögliche Einwände vorwegnehmen oder entkräften sowie seine eigene Position deutlicher darlegen.¹⁸ Welche Positionen der Orator der Epistulae Morales im Einzelnen vertritt und welche dem textinternen Adressaten zugeschrieben werden, soll im Folgenden kurz dargelegt werden. Im Gegensatz etwa zur agonalen Situation vor Gericht wird in den Briefen ein freundschaftliches Verhältnis zwischen Orator und Adressat inszeniert, wobei der Orator Seneca die Position der stoischen Ethik vertritt und bei seinem Adressaten Lucilius für deren Übernahme wirbt; Seneca nimmt dabei die Rolle des Lehrers ein, ist jedoch selbst noch Lernender, ein proficiens, der auch eigene Zweifel und Rückschläge bekundet und so bisweilen selbst die von ihm konstruierte Adressatenposition widerspiegelt.¹⁹ Diese Adressatenposition ist nicht leicht zu bestimmen. Innerhalb der Briefe wird Lucilius als jemand gezeichnet, der sich für die stoische Lehre interessiert und bei der Habitualisierung seines Tugendwissens bereits Fortschritte gemacht hat, jedoch weiterer Unterweisung und Ermunterung bedarf.²⁰ Lucilius tritt auch als kritischer Interlokutor auf, der Einwände vorbringt und an bestimmten Positionen festhält, obwohl sie der stoischen Lehre widersprechen. Diese Einwände scheinen nicht nur individuelle Vorbehalte des Adressaten zu artikulieren, sondern bisweilen auch kon Siehe hierzu unten S. 104 f.  Vgl. zur Rolle Senecas als Freund und Lehrer die einführenden Bemerkungen mit relevanten Textstellen und weiterführender Literatur im Kommentar von Richardson-Hay (2006) 37– 40. Pohlenz (71992) 318 schreibt in seiner Studie zur Stoa, dass die Ermahnungen und Ermunterungen an Lucilius „nur eine Art von Objektivierung seiner Selbstermahnungen“ seien. Zur Rolle des Beziehungsaspekts und dem damit verbunden positiven Emotionspotenzial, das den Erfolg von Verunsicherungsstrategien begünstigen kann, siehe Peters u. a. in diesem Band.  Zum Fortschritt des Lucilius siehe beispielsweise im ersten Buch epist. 1,2: fac ergo, mi Lucili, quod facere te scribis; 4,1: persevera ut coepisti; 5,1: quod pertinaciter studes et omnibus omissis hoc unum agis, ut te meliorem cotidie facias, et probo et gaudeo, nec tantum hortor, ut perseveres, sed etiam rogo.

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kurrierende philosophische Positionen widerzuspiegeln oder landläufige Meinungen zu repräsentieren.²¹ Dabei ist es für eine rhetorische Analyse der Briefe unerheblich, welcher philosophischen Richtung Lucilius angehört. Entscheidend ist vielmehr, dass in den Briefen ein Adressat inszeniert wird, der in seinen Überzeugungen und in seinem Habitus (noch) nicht die Aufforderungen der von Seneca vertretenen stoischen Position erfüllt, dass also zwischen Orator und Adressat eine Differenz hinsichtlich der Akzeptanz und Umsetzung der stoischen Lehre besteht beziehungsweise konstruiert wird. Der Adressatenbezug ist somit wesentlich für den rhetorischen Charakter der Briefe, da nur durch einen Adressaten, der gegen die Argumentation des Orators Widerstand leistet, Persuasion überhaupt notwendig wird.²² Am Beispiel der stoischen Güterlehre, die auch im Zentrum der folgenden Analyse stehen wird, lässt sich die Ausgangslage konkretisieren: Ihr zufolge ist die Tugend alleiniges Gut, wohingegen Reichtum, Ruhm, Gesundheit oder Schönheit gleichgültig, d. h. ohne Wert für die sittliche Vervollkommnung sind.²³ Diese Auffassung widerspricht jedoch nicht nur den Lehren anderer, weniger rigider philosophischer Schulen wie der peripatetischen, die die genannten Werte zu den Gütern rechnet,²⁴ sondern auch dem common sense sowie der Lebenswirklichkeit des textinternen Adressaten und der intendierten Leserschaft. Während Seneca also versucht, allgemein anerkannte Güter als ἀδιάφορα zu erweisen,wird Lucilius gerade zu Beginn des Briefcorpus als jemand dargestellt, der diese Auffassung (noch) nicht teilt und stattdessen Reichtum als ein Gut erachtet, was zwar der Alltagserfahrung und dem allgemein akzeptierten Wertesystem entsprechen mag, nicht jedoch der stoischen Lehre. Gerade durch den lebensweltlichen, außerliterarischen Bezug der Güterlehre und der damit verbundenen Möglichkeit, philosophische Forderungen mit der Realität abzugleichen, wird der dem Lucilius zugeschriebene Widerstand verständlich und plausibel. Die Erfahrung zeigt, dass Reichtum nicht nur vorgezogen, sondern Armut regelrecht verachtet wird. Der Orator muss demzufolge einigen kommunikativen Aufwand betreiben, um seinen

 Siehe beispielsweise epist. 2,4; 4,4; 8,1; 12,6; 13,8; 17,9. Darüber hinaus finden sich in den Briefen fingierte Streitgespräche mit weiteren adversarii, die Kritikpunkte und Alternativpositionen äußern und so Seneca die Gelegenheit geben, diese aufzugreifen und zu widerlegen (vgl. Clark 1975, 3; Wilson 2007, 434).  Zum kommunikativen Widerstand gegen den Orator siehe Knape (22012) 58 – 63. Siehe hierzu ausführlicher unten S. 105.  Siehe hierzu Forschner (1995) 165 – 171; Hossenfelder (1995) 58 f.  Im vierten und fünften Buch von De finibus stellt Cicero diese beiden Auffassungen einander gegenüber (vgl. u. a. fin. 4,20 – 23; 4,72 f.; 5,78 – 80; 5,90 f.). Gleichwohl gilt auch den Peripatetikern die Tugend als das höchste Gut.

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Adressaten von dieser Position abzubringen und seine bisherige Gewissheit abzubauen; er muss ihn also verunsichern. Im Kontext der Güterlehre bedient sich Seneca gerade zu Beginn des Briefcorpus häufig des Paradoxons,²⁵ um die Aufmerksamkeit seines Adressaten auf diejenigen Aspekte der stoischen Lehre zu richten, von denen dessen Einstellung und Verhalten noch abweichen. Das Paradoxon soll nun zunächst als rhetorische Kategorie näher definiert werden, um dann am Beispiel ausgewählter Texte aufzuzeigen, wie es im epistolographischen Setting rhetorisch instrumentalisiert wird und inwiefern es über verunsicherndes Potenzial verfügt.

Das rhetorische Paradoxon als Verunsicherungsstrategie Im Senecanischen Briefcorpus finden sich zahlreiche Beispiele für Paradoxa, was aufgrund der stoischen Praxis, die Grundsätze ihrer Ethik in Paradoxien zu formulieren, nicht überrascht.²⁶ Diese erklärt sich dadurch, dass die Inhalte der stoischen Lehre häufig landläufigen Meinungen und Erwartungen widersprechen, und sie kann dazu dienen, das Unkonventionelle und Provokante der Lehre hervorzuheben.²⁷ Seneca macht sich diese Vorgehensweise in seinen Briefen zu Eigen, instrumentalisiert die Paradoxa jedoch rhetorisch. Sie erfüllen nicht nur den Zweck, stoische Grundsätze prägnant zusammenzufassen oder die Lehre pointiert zu illustrieren, sondern sie sollen den Adressaten so auf zentrale Positionen und Aussagen aufmerksam machen, ihn seine Einstellung überdenken lassen und so letztlich ihr persuasives Potenzial entfalten. In der Alltagssprache gilt eine Äußerung dann als paradox, wenn sie gängigen Auffassungen oder Erwartungen widerspricht, wenn sie also gemäß der wörtlichen Bedeutung des Paradoxons einer Meinung oder einer Ansicht zuwiderläuft und somit παρὰ δόξαν, gegen die herrschende Meinung gerichtet ist.²⁸ Versteht

 Vgl. Anm. 6.  Diese Praxis ist jedoch nicht nur stoisch, wie die zahlreichen Zitate von auf epikureische Dogmen gegründeten Paradoxa in Senecas Briefen zeigen. Zur Rolle der Epikurzitate bei Seneca siehe Freise (1989); Hachmann (1996). Vgl. auch Anm. 46.  Vgl. Lefèvre (1992) 211. Siehe hierzu auch Stewart (1997).  Vgl. Probst (1989) 82; Plett (1992) 89; Neumeyer (2003) 516. Dieses Verständnis vom Paradoxon schließt in der Regel die Erkenntnis mit ein, dass das Paradoxon einen wahren Kern enthält, der aber gewissermaßen erst auf den zweiten Blick zu erkennen ist. Schon Cicero bezeichnet in den Paradoxa Stoicorum den Gegenstand seiner Ausführungen als admirabilia contraque opinionem omnium (parad. 4).

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man das Paradoxon in diesem wörtlichen Sinn, so wird deutlich, auf welche Weise es als rhetorische Strategie verwendet werden kann: Die δόξα nämlich lässt sich mit der Adressatenposition gleichsetzen, repräsentiert also diejenige Position, die der Orator mittels seiner rhetorischen Handlung aufzuweichen und seiner eigenen Position anzugleichen sucht. Das Paradoxon scheint daher besonders geeignet, den Adressaten im Hinblick auf seine Position zu verunsichern, da es diese direkt aufgreift und mit einer Alternativposition konfrontiert, die in eklatantem Widerspruch dazu steht. Dass es sich bei dem Paradoxon um eine destruktive Strategie handeln kann, zeigt Heinrich F. Plett, wenn er dieses als „rhetorische Wirkungskategorie“ bezeichnet, „[…] die herrschendes Meinungswissen nicht verstärkt, sondern im Gegenteil destabilisiert. Dazu bedarf es solcher Überzeugungsstrategien, die vorgefaßte Ansichten erschüttern, ja geradezu verdrehen und umkehren. In ihrer Summe bilden sie das Potential einer Inversionsrhetorik.“²⁹

Plett weist hier auf das verunsichernde Potenzial des Paradoxons hin, indem er den oben als Verunsicherung charakterisierten Prozess beschreibt, ohne jedoch den entsprechenden Begriff zu verwenden. Ihm zufolge zielt das Paradoxon darauf ab, den Adressaten von seinem Standpunkt abzubringen. Die von Plett verwendeten Begriffe „herrschendes Meinungswissen“ und „vorgefaßte Ansichten“ entsprechen dabei der Adressatenposition beziehungsweise der existierenden δόξα. Indem diese Position „destabilisiert“, „erschüttert“ oder „umgekehrt“ wird, soll der Adressat zum Nachdenken über seine Position und deren Gültigkeit angeregt werden mit dem Ziel, der ursprünglichen Meinung beziehungsweise

 Plett (1992) 92. Plett untersucht das rhetorische Paradoxon zwar hauptsächlich am Beispiel der Renaissance-Rhetorik, weist aber auch auf die antiken Vorbilder hin. In der römischen Rhetoriktheorie wird das Paradoxon zum einen als Teil des ornatus behandelt, zum anderen in der inventio verortet. Als rhetorische Figur bezeichnet das Paradoxon etwas Unerwartetes (Quint. inst. 9,2,22: inexspectatum; 9,2,24: inopinatum), beispielsweise wenn der Redner eine bestimmte Erwartungshaltung aufbaut, diese dann aber enttäuscht, etwa indem er ankündigt, über eine große Untat sprechen zu wollen, dann aber nur über ein kleineres Vergehen berichtet. Im Zusammenhang mit der inventio tritt das Paradoxon unter dem Terminus des genus admirabile in Erscheinung. Dieses behandelt Gegenstände, die der allgemeinen Meinung zuwiderlaufen: admirabile autem vocant quod est praeter opinionem hominum constitutum (Quint. inst. 4,1,41). Als Beispiel hierfür nennt der Auctor ad Herennium, der das genus admirabile allerdings unter dem Begriff des genus turpe abhandelt, die Anklage des Ehrenwerten oder die Verteidigung des Schändlichen (Rhet. Her. 1,5: turpe genus intellegitur, cum aut honesta res obpugnatur aut defenditur turpis). Im Plettschen Sinne werden demnach „vorgefaßte Ansichten“ der Adressaten im Hinblick auf die Bewertung einer Streitsache in Frage gestellt, um so für eine entgegengesetzte Position zu werben.

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δόξα, dem Zertum 1, eine neue Position, ein Zertum 2, entgegenzusetzen. Der Einsatz von Paradoxa kann also letztlich das persuasive Potenzial von Texten verstärken.³⁰ Pletts Begriff der „Inversionsrhetorik“ ist aber insofern treffend, als die Paradoxa im Gegensatz zu genuin persuasiven Strategien Gewissheiten nicht schaffen, sondern ins Wanken bringen wollen, also gleichsam invers wirken.³¹ Zur Illustration seien hier drei Beispiele aus dem Senecanischen Briefcorpus angeführt, die sich mit dem Begriff der Armut und seiner Definition befassen.³² Vorausgesetzt wird dabei die weit verbreitete Auffassung, dass der Besitz beziehungsweise Nichtbesitz materieller Güter ausschlaggebend dafür sei, ob jemand als wohlhabend oder als arm zu gelten habe. Seneca versucht einen solchen Maßstab als unangemessen zu erweisen und zu zeigen, dass äußere Güter für ein tugendgemäßes Leben ohnehin unerheblich seien. Dabei gilt die Kritik nicht dem Reichtum an sich, sondern vielmehr dem falschen Umgang damit. Dieser erweise sich nämlich vielfach als Belastung, da er ständige Furcht vor dessen Verlust mit sich bringe. Ein Anliegen der Briefe ist es daher, dem textinternen Adressaten Lucilius die Furcht vor der Armut zu nehmen, indem sie als ἀδιάφορον charakterisiert wird, dessen Bewertung sich vor allem aus der inneren Einstellung dazu ergibt:³³ (1) non puto pauperem cui quantulumcumque superest sat est. (epist. 1,5)³⁴ Ich halte denjenigen nicht für arm, dem, wie wenig auch immer übrig ist, genügt.

 Zur persuasiven Funktion des Paradoxons siehe Hagenbüchle (1992) 41, der in diesem Zusammenhang vom „Appellcharakter des Paradoxons“ spricht. Zudem wird dem Paradoxon allgemein „erkenntniskritische und erkenntnisfördernde Funktion“ zugeschrieben (Neumeyer 2003, 516). In Bezug auf die ersten beiden Briefe Senecas schreibt von Albrecht (2004) 32, dass „das Paradox tiefere Zusammenhänge [erhellt]“. An erster Stelle steht somit zunächst das Bewusstmachen alternativer Sichtweisen. Geschieht dies mit dem Ziel, den Adressaten zu deren Übernahme zu bewegen, erhält das Paradoxon persuasiven Charakter.  Vgl. Knape in diesem Band.  Zum Armutsbegriff bei Seneca siehe Knoch (2010) 323 – 327, der insbesondere drei Aspekte betont: Erstens wolle Seneca zeigen, dass Armut subjektiv und somit Einstellungssache sei. Zweitens gehe es Seneca darum, den Adressaten seiner Schriften, Angehörigen der relativ wohlhabenden Oberschicht, die Furcht vor der Armut zu nehmen, indem er die Bedeutung von Reichtum relativiert. Drittens stelle Seneca Armut als vorteilhaft für das Philosophieren dar, weil sie den Geist von unnötigen Sorgen, etwa der Furcht vor dem Verlust des Reichtums, befreie.  Vgl. Knoch (2010) 325 f. Zur Furcht vor der Armut siehe Rosivach (1995). Zum Ziel, diese zu bekämpfen, siehe Sen. epist. 2,4: aliquid cotidie adversus paupertatem, aliquid adversus mortem auxili compara; 80,5: libera te primum metu mortis (illa nobis iugum inponit), deinde metu paupertatis.  Der lateinische Text folgt der Ausgabe von L. D. Reynolds (1987). Alle Übersetzungen stammen von der Verfasserin.

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(2) non qui parum habet, sed qui plus cupit, pauper est. (epist. 2,6) Nicht derjenige, der zu wenig besitzt, sondern derjenige, der mehr begehrt, ist arm. (3) cui cum paupertate bene convenit dives est. (epist. 4,11) Wer mit der Armut gut zurechtkommt, ist reich.

Da die Briefe 1, 2, und 4 alle mit einem Epilog zum Thema Armut enden, bilden sie eine thematische Einheit, die gleichsam als Einleitung in diesen Themenkomplex dient.³⁵ Gemein ist diesen Beispielen, dass sie jeweils eine bestimmte Auffassung von Armut aufgreifen und ins Gegenteil verkehren. Es erfolgt eine Neudefinition von Armut, die sich nicht mehr am Fehlen materieller Güter bemisst, sondern auf Grundlage der individuellen Einstellung zum Besitz erfolgt und somit die Armut als subjektive Kategorie erweist. Im Paradoxon sind somit zwei Positionen zugleich angelegt: Explizit ausgedrückt wird die des Orators, die vor dem Hintergrund der gängigen Meinung dem Adressaten als paradox erscheint. Nur implizit erschließen lässt sich hingegen die Adressatenposition, die δόξα, der das Paradoxon entgegensteht. Hierin bestätigt sich, wie es in einer gängigen Definition des Paradoxons heißt, dass die Widersprüchlichkeit des Paradoxons „nicht in ihm selbst, sondern […] aus der Relation zu dem jeweils gültigen Verständnissystem, vor dessen Hintergrund es formuliert wird“, besteht.³⁶ Um rhetorisch instrumentalisiert werden zu können, benötigt das Paradoxon also einen textexternen, lebensweltlichen Referenzrahmen. Paradox erscheint das Armutsparadoxon somit nur einem Adressaten, der einer δόξα, einer Auffassung, verhaftet ist, der zufolge Armut nach objektivierbaren, materiellen Maßstäben im Sinne eines Mangels definiert wird und aufgrund dessen als Übel gilt, wohingegen Reichtum als Gut angesehen wird. Aus der Oratorperspektive hingegen verdeutlicht es eine zentrale Position der stoischen Ethik, die sich letztlich unter dem oft zitierten Satz „Nur der Weise ist reich“ zusammenfassen lässt.³⁷ Dieses Paradoxon kann gewissermaßen aufgelöst werden, indem materielle Umstände als unerheblich für ein tugendgemäßes Leben angesehen werden und an die Stelle des materiellen Reichtums ein geistiger gesetzt wird, den nur der Weise, der sich von einer Abhängigkeit von äußeren Gütern freimachen kann und somit im ideellen Sinne

 Vgl. Maurach (1970) 62 f. Zur Armutsthematik in den Spruchepilogen siehe Hachmann (1996) 387– 389. Das erste Epistelbuch besitzt überhaupt einleitenden Charakter (vgl. Cancik 1967, 4; Richardson-Hay 2006, 15 f.). Zum Aufbau der Sammlung, ihrer inneren Gliederung sowie der Entwicklung von praktischen Anleitungen hin zu theoretischeren Ausführungen siehe Cancik (1967) 7; Hadot (1969) 54– 56; Maurach (1970) 205 f.; Hachmann (1996) 405 – 409.  Neumeyer (2003) 516.  In Ciceros Paradoxa Stoicorum steht dieses Paradoxon an sechster Stelle und lautet solum sapientem esse divitem (parad. 42– 52). In fin. 5,84 schreibt Cicero dieses Paradoxon Zenon zu.

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immer reich ist, erlangen kann. Allein diese Art von Reichtum im Sinne der Tugend gilt somit als erstrebenswert. Für den Adressaten jedoch, der sich diese Position noch nicht zu Eigen gemacht hat oder der an der Habitualisierung dieses Grundsatzes noch scheitert, ist diese Auflösung zunächst unzugänglich, er stolpert über den vermeintlichen Widerspruch und soll so dazu motiviert werden, seine bisherigen Gewissheiten zu hinterfragen. Wie das Armutsparadoxon im Einzelnen rhetorisch funktionalisiert und in die philosophische Argumentation integriert wird, soll nun eine exemplarische Analyse zeigen. Der Fokus liegt dabei zunächst auf den bereits zitierten Beispielen aus dem ersten Buch, in denen die Subjektivität des Armutsbegriffs betont wird und Armut und Reichtum nicht als materielle, sondern als mentale Kategorien gefasst werden. Den Abschluss der Analyse bildet der 17. Brief, der den Zusammenhang zwischen stoischer Güterlehre, dem Philosophieren und dem Seelenheil erstmals systematisch aufzeigt, indem er zum einen Armut zur Voraussetzung für das Philosophieren erklärt und zum anderen den Weisen als immer reich bezeichnet, da dieser von vermeintlich äußeren Gütern frei und sein Reichtum somit geistiger Reichtum sei.³⁸

Das Armutsparadoxon im ersten Epistelbuch Die Frage nach der Bewertung von Armut und Reichtum wird bereits im ersten Brief der Sammlung gestellt, was auf die große Bedeutung dieser Thematik hinweist. Der Brief beginnt mit einer Aufforderung an Lucilius, sorgsam mit seiner Zeit umzugehen und diese nicht zu vergeuden.³⁹ Daraufhin lässt Seneca Lucilius zu Wort kommen mit der Frage, wie Seneca selbst es damit halte (1,4: fortasse rogabis quid ego faciam […]). In seiner Antwort gesteht Seneca seine eigene Unvollkommenheit ein, relativiert diese aber durch einen Hinweis darauf, dass er immerhin wisse, womit und weshalb er Zeit vergeude: Non possum dicere nihil perdere, sed quid perdam et quare et quemadmodum dicam; causas paupertatis meae reddam. Sed evenit mihi quod plerisque non suo vitio ad inopiam redactis: omnes ignoscunt, nemo succurrit. (5) Quid ergo est? non puto pauperem cui quantulumcumque superest sat est. (1,4 f.)

 Zur Entwicklung der Armutsthematik in den ersten beiden Büchern siehe die knappe Zusammenfassung bei Maurach (1970) 78 f. Anm. 15.  Zur Gedankenführung des Briefes siehe von Albrecht (2004) 11– 16. Zur Stellung des Briefes innerhalb des Corpus siehe Maurach (1970) 199.

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Ich kann nicht sagen, dass ich nichts verliere, aber was ich verliere und warum und auf welche Weise, könnte ich sagen; über die Ursachen meiner Armut könnte ich Rechenschaft ablegen. Aber mir geht es wie den meisten, die ohne eigenen Fehler in Not geraten sind: Alle verzeihen, niemand hilft. (5) Also was? Ich halte denjenigen nicht für arm, dem, wie wenig auch immer übrig ist, genügt.

Die Frage Quid ergo est? lenkt dabei die Aufmerksamkeit des Adressaten auf das Problem der Zeitverschwendung und kann als Aufforderung verstanden werden, selbst Schlüsse aus den vorangegangenen Ausführungen zu ziehen. Sie lässt sich aber auch in Fortführung des fortasse rogabis gleichsam als vorweggenommene Frage des Lucilius lesen, der eine Erklärung wünscht, die dann in Form des Paradoxons non puto pauperem cui quantulumcumque superest sat est gegeben wird. Diese Definition der Armut mag zunächst überraschend anmuten; allerdings hatte Seneca bereits zuvor den Verlust beziehungsweise Mangel an Zeit metaphorisch als paupertas bezeichnet,⁴⁰ was vermuten lässt, dass das Paradoxon auch in diesem Kontext der Zeit zu verstehen ist: Wer mit dem zufrieden ist, was er hat, gilt nicht als arm, d. h. auch wenig Zeit kann ausreichen, sofern man diese richtig nutzt. Senecas Zeitverlust bedeutet daher keine wirkliche Armut, weil ihm die verbleibende Zeit genügt. Obwohl das Paradoxon hier in den konkreten Kontext des Zeitsparens eingebettet ist,weist es doch bereits darüber hinaus auf die generelle Problematik von Armut und Reichtum hin, sowohl im Hinblick auf materielle als auch auf immaterielle Güter. Die herkömmliche δόξα, dass für die Beurteilung von Reichtum und Armut der Besitz, die Höhe des Vermögens oder der Mangel daran, also gewissermaßen objektivierbare Maßstäbe, ausschlaggebend seien, wird hier zurückgewiesen. Stattdessen wird Armut als subjektive Kategorie gefasst: Arm ist nicht der, der wenig besitzt, sondern der, der mit seiner Situation unzufrieden ist, der mehr begehrt, als er nötig hat. Demzufolge liegt es in der Verantwortung jedes Einzelnen, konkret in der des Adressaten Lucilius, sein Leben entsprechend einzurichten und sich von Äußerlichkeiten frei zu machen. All dies wird hier jedoch nur angedeutet, eine Auflösung des Paradoxons erfolgt nicht. Seneca gibt keine nähere Erklärung oder Handlungsanweisung, die Bedeutung des Paradoxons bleibt zunächst offen.⁴¹ Insbesondere findet keine unmittelbare Re-Zertifikation statt,⁴² es folgen keine weiteren persuasiven Strategien, mittels derer der eingetretene Zweifel abgebaut werden und durch eine neue Gewissheit ersetzt

 Zu Metaphern aus dem Bereich des Geldes bei Seneca siehe von Albrecht (2004) 34– 40.  Maurach (1970) 28 spricht von einer „offenen Formulierung“, die „Fragen aufwirft, sie aber offen läßt, bis daß sie in späteren Briefen beantwortet werden“.  Knape spricht hier von „Neuordnung bzw. Redogmatisierung“ (vgl. Knape in diesem Band).

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werden könnte. Der Adressat – und dies dürfte auf den textinternen ebenso zutreffen wie auf die intendierten Leser – bleibt mit der Verunsicherung allein und wird so motiviert, sich weiter mit der Problematik zu beschäftigen und eine Lösung zu finden.⁴³ Die Verunsicherung hat so eine pädagogische Funktion.⁴⁴ Das Thema der Armut wird im zweiten Brief wieder aufgegriffen und konkretisiert. Ausgangspunkt ist die Mahnung, dass zu häufige Ortswechsel schaden. Diese Ruhelosigkeit wird dann auf die Lektüre übertragen. Anstatt möglichst viel, aber ziellos zu lesen, solle man sich auf weniges konzentrieren und dies dafür gründlich studieren.⁴⁵ Als Beispiel zitiert Seneca aus seiner eigenen Lektüre: ‚honesta‘ inquit ‚res est laeta paupertas‘ (2,6: „‚Eine ehrenhafte Sache‘, sagt er [sc. Epikur], ‚ist freudige Armut‘“).⁴⁶ Das Paradoxon besteht hier in der Charakterisierung der Armut als ehrenhaft (honesta) und freudig (laeta). Aus zeitgenössischer Perspektive müssen Freude und Armut geradezu als unvereinbare Gegensätze erscheinen, gilt Armut doch in der Regel als Anlass zur Sorge. Die Attribute honesta und laeta hingegen suggerieren sogar, dass Armut erstrebenswert sei – ein Aspekt, der im 17. Brief aufgegriffen und ausgebaut wird.⁴⁷ Seneca fügt nun eine Erklärung hinzu, indem er den Begriff paupertas neu definiert und seine vorherige Aussage gleichsam zu relativieren scheint: Eine „freudige Armut“ könne gar nicht mehr als Armut bezeichnet werden, denn: non qui parum habet, sed qui plus cupit, pauper est (2,6: „nicht wer zu wenig besitzt, sondern wer mehr begehrt, ist arm“).Wie schon im ersten Brief verweist Seneca auf die persönliche Einstellung, die ausschlaggebend dafür sei, ob man sich als arm oder reich bezeichnen könne: Nicht der Besitz (habere) sei maßgeblich, sondern das Begehren (cupere). Armut ist somit nicht mit Besitzlosigkeit oder materieller Not gleichzusetzen, sondern eine Disposition, eine Frage der Einstellung; sie wird

 So schreibt auch von Albrecht (2004) 20 zum ersten Brief, dass die „paradoxe Ausdrucksweise […] zu weiterem Nachdenken anregen will“.  Zur Rolle Senecas als Erzieher siehe Baier (2005). Zur Verunsicherung im pädagogischen Kontext siehe Paul in diesem Band.  Von Albrecht (2004) 26 spricht davon, dass sich „das Problem der Stetigkeit vom Äußeren ins Innere“ verlagere.  Auffällig ist, dass zahlreiche Armutsparadoxa epikureischen Ursprungs sind. Zur Diskussion möglicher Gründe für die Übernahmen siehe die ausführlichen Arbeiten von Freise (1989) und Hachmann (1996). Für die vorliegende Untersuchung sind zwei Aspekte relevant: Zum einen bringen die Zitate anderer Philosophenschulen einen gewissen Überraschungseffekt mit sich (vgl. Hachmann 1996, 396), was die schockierende Wirkung, die dem Paradoxon an sich schon attestiert wird, noch weiter verstärken dürfte. Zum anderen werden dadurch wichtige stoische Grundsätze in eine weitere philosophische Tradition gestellt und so deren Allgemeingültigkeit betont, was wiederum die Autorität der stoischen Position stärkt (vgl. Wilson 2001, 176).  Siehe unten S. 104.

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von einer äußeren zu einer inneren Kategorie.⁴⁸ Der Komparativ plus weist bereits auf ein zentrales Problem des Reichtums hin, ohne dass dies hier näher ausgeführt würde, nämlich dass niemand mit seinem Besitz zufrieden ist, sondern immer noch mehr begehrt, dass dieses Begehren aber vom Philosophieren ablenkt.⁴⁹ Jemand, der Reichtum als ein Gut ansieht, werde nie mit dem Erreichten zufrieden sein, sondern immer nur sehen, was ihm noch fehlt: non adquisita sed adquirenda (2,6: „nicht das Erworbene, sondern das zu Erwerbende“) berechne er. Eine derartige Einstellung soll durch das Paradoxon aufgeweicht werden, indem das habere als irrelevant und somit auch das Streben danach als nutzlos bezeichnet werden. Dass diese Strategie erfolgreich sein könnte, zeigt die darauffolgende Frage des Lucilius: Quis sit divitiarum modus quaeris? (2,6: „Du fragst, was das Maß für Reichtum sei?“). Das vorangegangene Paradoxon wird mit der Antwort, der Definition von Reichtum, die sich nicht nach absolutem Besitz richtet, wieder aufgegriffen: primus habere quod necesse est, proximus quod sat est (2,6: „Zuerst das zu haben, was nötig ist, dann das, was genügt“). Solange die grundlegenden Bedürfnisse befriedigt werden, sei man nicht arm. Notwendigkeit und Genügsamkeit werden somit zum zentralen Maßstab bei der Bewertung von Armut und Reichtum.⁵⁰ Was gemäß der Natur zum Leben nötig ist, erklärt Seneca im Epilog des vierten Briefes. Dieser beginnt erneut mit einem Epikur-Zitat: magnae divitiae sunt lege naturae composita paupertas (4,10: „großer Reichtum ist nach dem Naturgesetz geordnete Armut“). Auch hier wird eine bestimmte Art von Armut mit Reichtum gleichgesetzt, nämlich eine Armut, die sich mit den grundlegenden, lebensnotwendigen Dingen zufrieden gibt und nicht nach Überflüssigem strebt: non esurire, non satire, non algere (4,10: „nicht zu hungern, nicht zu dürsten, nicht zu frieren“). Dies zu gewährleisten sei nicht schwer,⁵¹ weshalb derjenige als reich gelten könne, der sich mit diesen wenigen, aber für ein tugendgemäßes Leben ausreichenden Dingen zufrieden gibt: cui cum paupertate bene convenit dives est (4,11: „Wer mit der Armut gut zurechtkommt, ist reich“). Die ersten drei Beispiele zeigen, wie der Orator mit Paradoxa die Einstellung seines Adressaten zu hinterfragen, ja als falsch zu erweisen sucht. Die δόξα, dass jemandes Geld oder Besitz als Maßstab für dessen Reichtum zu gelten habe, und

 Vgl. von Albrecht (2004) 30. Siehe auch Richardson-Hay (2006) 161.  Siehe hierzu Sen. epist. 17.  In dieser Definition liegt zugleich die Verbindung zum eigentlichen Thema des zweiten Briefes, schreibt Seneca doch, dass es genug sei, so viele Bücher zu besitzen, wie man lesen könne: satis est habere quantum legas (2,3). Der Blick weitet sich gewissermaßen vom Besitz von Büchern zum Besitz allgemein (vgl. von Albrecht 2004, 28).  Epist. 4,10: parabile est, quod natura desiderat et adpositum; 4,11: ad manum est quod sat est.

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insbesondere, dass man Reichtum als Gut erstreben müsse, wird aufgeweicht. Der Orator Seneca erklärt solche Kriterien für hinfällig und setzt einen anderen Maßstab an: Armut ist keine äußere, materielle, sondern eine innere, mentale Kategorie. Er will den Begriff der Armut nicht mehr wörtlich, sondern metaphorisch verstehen, in dem Sinne, dass er ihn auf eine Geisteshaltung bezieht statt auf Besitz. Verunsicherndes Potenzial hat dies insofern, als traditionelle Wertvorstellungen, das was common sense zu sein scheint, erschüttert werden und die außerliterarische, lebensweltliche Praxis als falsch erwiesen wird. Wie diese metaphorische Bedeutung von Armut und Reichtum auch als philosophische Kategorie verstanden werden kann, macht der 17. Brief deutlich, der nun abschließend behandelt werden soll. Dort greift Seneca zahlreiche Aspekte auf, die in den vorherigen Briefen bereits angedeutet wurden, und setzt sie in Beziehung zum Philosophieren.⁵² Die Quintessenz lautet, dass der Weise nie arm sein könne, da er durch sein tugendgemäßes Leben von äußerem Besitz völlig unabhängig sei. Dementsprechend überschreibt Manfred Rosenbach in seiner Übersetzung den 17. Brief mit „Nur der Weise ist reich“ und stellt ihm somit das bekannte stoische Paradoxon voran.⁵³

„Nur der Weise ist reich“ – Das Armutsparadoxon im 17. Brief Der Brief beginnt mit einer Aufforderung des Seneca an Lucilius, allen Ballast, der ihn am Philosophieren hindere, von sich zu werfen. Direkt im Anschluss daran referiert Seneca dessen ‚unstoische‘ Reaktion: ‚Moratur‘ inquis ‚me res familiaris; sic illam disponere volo ut sufficere nihil agenti possit, ne aut paupertas mihi oneri sit aut ego alicui.‘ (2) Cum hoc dicis, non videris vim ac potentiam eius de quo cogitas boni nosse; et summam quidem rei pervides, quantum philosophia prosit, partes autem nondum satis subtiliter dispicis […]. (17,1 f.) ‚Mich hält‘, sagst du, ‚mein Vermögen auf; so will ich mir jenes einteilen, damit es mir, wenn ich nichts tue, genügen kann, damit weder die Armut mir, noch ich einem anderen zur Last falle.‘ (2) Wenn du das sagst, scheinst du wohl die Kraft und das Vermögen des Gutes, über das du nachdenkst, nicht erkannt zu haben; du siehst freilich die Hauptsache, wie viel die Philosophie vermag, aber die Einzelheiten durchschaust du noch nicht gründlich genug […].

 Siehe hierzu auch Maurach (1970) 201 f.  Rosenbach (1989) xiii.

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Die Passage gibt über das Verhältnis zwischen Seneca und Lucilius sowie über dessen Fortschritte Auskunft. Lucilius spricht davon, dass er sich noch nicht völlig der Philosophie widmen könne, weil er zunächst über ein ausreichendes Vermögen verfügen müsse. Interessanterweise spricht er hier von der Genügsamkeit (sufficere) als Maßstab, scheint diese aber nicht in dem von Seneca intendierten Sinn zu verstehen, sondern das Genügen nach wie vor anhand von materiellen Kriterien, im Sinne von Besitz versus Nicht-Besitz zu beurteilen und Reichtum als ein Gut anzusehen, Armut hingegen als ein Übel zu fürchten. Seneca lässt Lucilius die common-sense-Auffassung vertreten, dass nur genügend finanzielle Mittel die Möglichkeit gewähren, sich auf die Philosophie zu konzentrieren, um dann diese Einstellung kritisieren zu können. Die Differenz zwischen Seneca und Lucilius hinsichtlich der Bewertung von Armut und Reichtum besteht demnach weiter: Lucilius versteht Armut im wörtlichen Sinn, legt also konventionelle Wertmaßstäbe an, und fürchtet sie deshalb (ne aut paupertas mihi oneri sit). Die Position, dass Armut, wie in den vorangegangenen Briefen immer wieder betont wurde, nicht aus einem Mangel an Besitz, sondern aus Unzufriedenheit mit diesem resultiert, scheint sich Lucilius noch nicht zu Eigen gemacht zu haben. Seneca gesteht ihm zwar zu, prinzipiell die Richtigkeit und Gültigkeit der von ihm beworbenen Position erkannt zu haben (summam quidem rei pervides, quantum philosophia prosit), weist aber darauf hin, dass dieses Wissen bisher nur oberflächlich ist (partes autem nondum satis subtiliter dispicis). Die folgenden Überlegungen Senecas gehen noch einen Schritt weiter. Er sieht den Grund in Lucilius’ Zögern in dessen Furcht vor Armut, weist diese jedoch zurück: Nempe hoc quaeris et hoc ista dilatione vis consequi, ne tibi paupertas timenda sit: quid si adpetenda est? Multis ad philosophandum obstitere divitiae: paupertas expedita est, secura est. […] (5) Si vis vacare animo, aut pauper sis oportet aut pauperi similis. Non potest studium salutare fieri sine frugalitatis cura; frugalitas autem paupertas voluntaria est. Tolle itaque istas excusationes: ‚nondum habeo quantum sat est; si ad illam summam pervenero, tunc me totum philosophiae dabo‛. (17,3 – 5) Natürlich suchst du dies und willst es durch diesen Aufschub erreichen, dass du die Armut nicht fürchten musst: was, wenn man nach ihr streben muss? Viele hinderte der Reichtum am Philosophieren: Armut ist leicht, ist sorgenlos. […] (5) Wenn du den Geist frei haben willst, musst du entweder arm oder einem Armen ähnlich sein. Ohne Sorge um Genügsamkeit kann die wissenschaftliche Betätigung nicht heilsam sein; Genügsamkeit aber ist freiwillige Armut. Lass also diese Entschuldigungen: ‚Ich besitze noch nicht so viel, wie genug ist; wenn ich jene Summe erlangt habe, dann werde ich mich ganz der Philosophie hingeben.‘

Hatte Seneca bisher zu erweisen versucht, dass Armut kein Übel darstelle und man mit der richtigen Geisteshaltung Armut nicht als solche empfinde, so stellt er hier

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die Frage, ob Armut nicht sogar erstrebenswert (adpetenda), also als Gut anzusehen sei.⁵⁴ Reichtum und Armut werden einander antithetisch gegenübergestellt: obstitere divitiae, paupertas expedita est, secura est, so dass die Auffassung des Lucilius, nur ein ausreichendes Vermögen ermögliche eine völlige Hinwendung zur Philosophie, durch das Paradoxon erschüttert und geradezu ins Gegenteil verkehrt wird: Reichtum sei sogar hinderlich für das Philosophieren; die Armut hingegen befreie von Sorgen und mache den Geist frei. Diese Überlegung mutet zunächst überraschend, sogar provozierend an, da sie mit der bisher vertretenen Oratorposition (Armut ist ein ἀδιάφορον) nicht übereinstimmt, sondern vielmehr der kynischen Position entspricht, die Seneca zuvor jedoch bereits abgelehnt hatte.⁵⁵ Dieser vermeintliche Widerspruch lenkt die Aufmerksamkeit auf die Bedeutung der Armut, die im Folgenden allerdings explizit entsprechend der Argumentation in früheren Briefen mit Genügsamkeit (frugalitas) gleichgesetzt und somit als mentale Kategorie gefasst wird – im Gegensatz zu dem materiellen Verständnis, das Lucilius zugeschrieben wird. Wie zu Beginn des Briefes wird ein Einwand des Lucilius zitiert, nämlich dass er noch nicht (nondum) genug habe, um sich allein der Philosophie zu widmen. Die δόξα des Adressaten steht somit explizit der Oratorposition gegenüber und wird durch das Paradoxon in Frage gestellt. Hatte Lucilius in epist. 17,1 Armut noch als Hindernis für seine völlige Hinwendung zum Philosophieren benannt, so macht Seneca diese nun zur notwendigen Voraussetzung dafür und lehnt die Entschuldigung des Lucilius wie zuvor ab.⁵⁶ Stattdessen lässt er wenig später den sapiens selbst auftreten und das stoische Paradoxon ‚Nur der Weise ist reich‘ formulieren: repraesentat opes sapientia, quas cuicumque fecit supervacuas dedit (17,10: „Sofort bewirkt Weisheit Reichtum, welchen sie demjenigen gegeben hat, dem sie ihn überflüssig gemacht hat“). Nur der Weise kann tatsächlich reich sein, weil er Reichtum nicht als Gut wertet und sich so von Äußerlichkeiten freimacht; sein Reichtum ist geistiger Reichtum. Die Einwände des Lucilius verleihen dem Brief dialogischen Charakter, verdeutlichen, dass das kommunikative Ziel der Briefe insgesamt noch nicht erreicht ist und nehmen zugleich auch potenzielle Gegenstimmen textexterner Adressaten vorweg. Diese Position entspricht nämlich nicht nur dem (überzeitlichen) common sense, sondern lässt sich auch im realen Umfeld des empirischen Autors und des in diesem situierten Adressaten Lucilius verorten. Weder der empirische Autor

 Siehe hierzu Motto u. Clark (1992) 77 f.  Epist. 5. Siehe auch dial. 7,18,3.  Der Einwand des Lucilius wird in epist. 17,9 wiederholt und mit dem aus 4,10 f. bereits bekannten Hinweis zurückgewiesen, dass die natürlichen Grundbedürfnisse des Menschen leicht befriedigt werden können.

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Seneca noch seine intendierten Leser, die gebildete Elite Roms, waren arm,⁵⁷ so dass sich ein gewisser Gegensatz zur beworbenen Position ergibt. Diese vermeintliche Doppelmoral wurde von Zeitgenossen daher auch kritisiert. Seneca referiert diese Kritikpunkte in seiner Schrift De vita beata und versucht sie zurückzuweisen.⁵⁸ Dabei macht er jedoch auch deutlich, dass er selbst ,nur‘ ein proficiens ist und mit der stoischen Haltung gegenüber Reichtum ringen muss.⁵⁹ In einer Gesellschaft, in der Reichtum als erstrebenswert gilt, und in der andere philosophische Richtungen diesen als ein Gut erachten, ist eine Philosophie, die die Abkehr von dieser Einstellung fordert, nicht leicht zu akzeptieren und umzusetzen. Diese Schwierigkeit wird in der Figur des Lucilius auf plausible Weise repräsentiert. Dass Lucilius als kritischer, Einwände vorbringender Adressat gezeichnet wird, der die von Seneca präsentierten stoischen praecepta nur zögerlich in tugendgemäßes Handeln umsetzt, unterstreicht den rhetorischen Charakter der Epistulae Morales. Es handelt sich eben nicht um eine skriptgeleitete, formalisierte Lehrer-Schüler-Kommunikation, in der Persuasion weder beabsichtigt noch nötig ist, da der Schüler Interesse am Gegenstand zeigt, freiwillig lernt und daher kein Widerstand zu erwarten ist. Lucilius wird vielmehr explizit Widerstand zugeschrieben, so dass durch den Einsatz persuasiver Strategien ein kommunikativer Mehraufwand geleistet werden muss. Das Paradoxon erfüllt hier eine wichtige Funktion, indem es die Adressatenposition aufgreift und eine mit dieser nicht zu vereinbarende Auffassung zum Ausdruck bringt. Dieser Widerspruch veranlasst zum Überdenken der ursprünglichen Haltung und dazu, die vom Orator vorgebrachte Alternativposition in Erwägung zu ziehen und sich von dieser in letzter Konsequenz auch überzeugen zu lassen. Durch das Paradoxon soll der Adressat also zunächst verunsichert werden, um ihn so empfänglich zu machen für die Neubewertung der Armut.

Fazit: Verunsicherung und Paränese Zuletzt stellt sich nun die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Verunsicherung und Paränese. Wie am Beispiel des rhetorischen Paradoxons gezeigt wurde, nehmen Verunsicherungsstrategien einen nicht unerheblichen Stellenwert innerhalb der Epistulae Morales ein. Diese Strategien wirken destruktiv, da sie

 Vgl. Knoch (2010) 325.  Dial. 7,18,1: aliter loqueris, aliter vivis. Siehe hierzu auch Fuhrer (2000); Beck (2010).  Dial. 7,17,3; 7,18,1.

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bestehende Gewissheiten abbauen wollen, und scheinen so der an sich konstruktiven und affirmativen Paränese zu widersprechen, die durch Zuspruch, aber auch durch Ermahnungen den Adressaten zum tugendgemäßen Handeln anleiten und immer wieder neu motivieren will. Das kommunikative Ziel der Briefe besteht in der überzeugenden Präsentation der Lehre. Der Adressat soll diese nicht nur akzeptieren, sondern ihre Grundsätze auch habitualisieren. Die analysierten Beispiele zeigen, wie Seneca einen Lucilius konstruiert, der zwar prinzipiell für die stoische Lehre offen ist, dem es aber schwer fällt, die Oratorposition nicht nur als Grundsatz anzuerkennen, sondern auch in seinem Handeln umzusetzen. Die Adressatenposition, die δόξα, dass Reichtum ein Gut darstelle, ist aufgrund gesellschaftlicher Normen und aufgrund der persönlichen Erfahrung gefestigt. Um erfolgreich für seine Position werben zu können, muss der Orator zunächst die des Adressaten erschüttern und aufbrechen. Das Paradoxon ist dafür besonders geeignet, weil es aufgrund seiner Widersprüchlichkeit direkt auf den Adressaten einwirkt, Aufmerksamkeit erzeugt und aufrüttelnd wirken kann. Es kann bestehende Konzeptualisierungsmuster, Wertvorstellungen und Verhaltensweisen hinterfragen und so den Adressaten zu einer Neubewertung von Gütern veranlassen. Erst wenn der Adressat Zustimmungsbereitschaft zur Position des Orators erkennen lässt, sind affirmative Strategien erfolgversprechend. So zeigt sich, dass Verunsicherung und Paränese keine Gegensätze darstellen, sondern unterschiedliche Funktionen innerhalb des Persuasionsprozesses erfüllen, indem Verunsicherung bestehende Gewissheiten erschüttern und Paränese zur Übernahme einer neuen Gewissheit motivieren will. Wie zu Beginn gezeigt wurde, besteht die Ausgangssituation einer rhetorischen Kommunikation in einer mentalen Differenz zwischen Orator und Adressat. In Bereichen, in denen diese Differenz sehr groß, die Adressatenposition also relativ gefestigt ist, muss zunächst verunsichert werden. Ist die Differenz hingegen relativ klein oder zum Teil schon überwunden, etwa nachdem Verunsicherungsstrategien erfolgreich eingesetzt wurden, können affirmative Strategien eingesetzt werden.Verunsicherung erweist sich somit auch als Voraussetzung für die Paränese.⁶⁰

Literaturverzeichnis von Albrecht (2004): Michael von Albrecht, Wort und Wandlung. Senecas Lebenskunst, Leiden u. Boston.

 Für wertvolle Hinweise und Anmerkungen danke ich Therese Fuhrer (München).

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Michael Erler

Vom admirativen zum irritierten Staunen Philosophie, Rhetorik und Verunsicherung in Platons Dialogen Abstract Philosophy can have a disorientating, destabilising effect, which may then permit a new orientation. Beginning from this observation, the present paper investigates the destabilising effect of Socrates in Plato, with attention to both its cause and its function. The Apology has been chosen as startingpoint, which will be followed by reflections on the theory of rhetoric in relation to the Gorgias. The paper, further, reflects on the presentation and significance of the emotions in the design of Platonic dialogues. It will be made clear that negative emotional reactions, such as disappointment, anger or irritation, as a consequence of destabilising rhetoric are accepted if they serve to improve one’s own outlook. By this Plato characterises the destabilisation effected by Socrates not as something pursued for its own sake but rather as an initial spark – also expressed as the transformation from admiring to irritated astonishment – which leads to further questions and so to learning. „Philosophie orientiert, indem sie desorientiert“: Was kürzlich mit Blick auf den Französischen Philosophen Michel Serres gesagt wurde,¹ passt vielleicht besser noch auf den Protophilosophen Platons, Sokrates. Hauptmerkmal dieser Figur Platons² in Gestaltung, Verhalten und Reden ist in der Tat, dass sie irritiert. Sie irritiert, indem sie in einer auch von Könnensbewusstsein geprägten Zeit im Athen des 5. Jahrhunderts³ eigene Inkompetenz und Unwissen nicht nur bekennt, sondern darin sogar eine Dienstleistung für die Gemeinschaft, ja einen Gottesdienst sieht, für die sie freilich – anders als andere – kein Geld verlangt.⁴ Platons Sokratesfigur, umschwärmt von jungen Leuten der Athener jeunesse dorée, selbst freilich – zumindest äußerlich – keineswegs dem Ideal der Kalokagathie entsprechend,⁵ ist ein átopos, der durch ‚Selbststigmatisierung‘, also durch positive Umwertung negativer Merkmale, zu dem wird, was Max Weber als den Typos des Charismatikers bezeichnet.⁶ In der Tat ist das, was Platons Sokrates tut und was er  Ch. Geyer, „Neues Denken sticht in neue See“, FAZ vom 4. Mai 2012, 31.  Zu Sokrates vgl. Döring (1998) 141 ff.  Vgl. Meier (1983) 435 – 499.  Vgl. Blank (1985) 1– 49.  Vgl. Plat. symp. 216d; siehe dazu Blondell (2002) 70 – 75.  Zur Atopie des Sokrates vgl. Plat. Lach. 195a; Gorg. 473a; 480c; Prot. 361a; symp. 215a; 221d; Phaidr. 230c; Tht. 149a; rep. 515a; vgl. Turner (1993) 69 – 77; zum Begriff der Selbststigmatisierung

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sagt, staunenswert, sowohl im Sinne von admiratio – das Ende des Phaidon legt hierfür eindrucksvolles Zeugnis ab⁷ – wie auch von irritatio. Letzteres gilt insbesondere für Sokrates’ argumentativen Umgang mit seinen Partnern, die er gerne in die Enge treibt und in Ratlosigkeit über Dinge stranden lässt, deren sie sich so sicher zu sein schienen – und bei denen er mit seiner desillusionierenden Strategie Desorientierung hervorruft.⁸ Die detailgenaue Darstellung Platons schildert immer wieder die bis ins Somatische reichenden Reaktionen von Sokrates’ Partnern auf das, was sie je nach Temperament, Anspruch oder geistiger Disposition als Zumutung, Provokation oder Anregung empfinden,⁹ Reaktionen, die – wie die Interpretationsgeschichte der Dialoge zeigt – diejenigen der Leser Platons antizipieren: Aus verunsichernder Rhetorik in den Dialogen wird verunsichernde Literatur. Wenn Sokrates in der Apologie droht, nach ihm würden andere kommen, die den Richtern beschwerlich fallen würden, dann darf, ja soll man dies auch als Ankündigung seiner philosophischen Nachfolger, aber auch als Hinweis auf die sokratischen Dialoge, ihre Funktion und die erwartete Rezeption lesen; die über zweitausendjährige Rezeptionsgeschichte gibt Platons Erwartung Recht.¹⁰ Sokrates wird also als Meister einer philosophischen Rhetorik¹¹ präsentiert – und gilt damit sicherlich als eine Hauptfigur für das Thema dieses Bandes: So sehr dies auf der Hand zu liegen scheint, sollte darüber nicht vergessen werden, dass seine eher auf Irritation abzielende Rhetorik und generell sein als ungewöhnlich empfundenes Verhalten und seine Reden¹² keineswegs als Provokation um der Provokation willen gemeint sind, wie es manche seiner Partner empfunden haben mögen und wie dies in der weiteren Tradition zu beobachten ist;¹³ sie ist vielmehr

im Kontext der Charismadiskussion vgl. Lipp (1993) 15 – 32; Lipp (1985). Zum Charisma vgl. Weber (51976) 1. Hlbbd. Teil 1, Kap. III; 2. Hlbbd. Kap. IX Abschn. 5.  Vgl. Plat. Phaid. 118a.  Vgl. z. B. bei Thrasymachos in rep. 337a.  Vgl. z. B. bei Alkibiades im symp. 212dff.; dazu vgl. Erler (2010), bes. 49 f.; man denke an den Ärger – vielleicht als Zeichen von Verunsicherung –, den Kallikles bei seiner Befragung durch Sokrates empfindet (Gorg. 497b; 499b; 505c), oder an die Beschimpfung durch die Eristiker, als diese durch Sokrates verunsichert werden (Euthyd. 284e). Die von Sokrates bewirkten Aporien in den Dialogen gehen einher mit Schwindel, Zorn und Sprachlosigkeit der Betroffenen (vgl. z. B. Men. 84c; Prot. 321c).  Vgl. apol. 39c–d, dazu Heitsch (2002) 159.  Vgl. Vöhler (2013).  Vgl. Kallikles’ Ausführungen im Gorg. 485e–486a; zu Sokrates als átopos vgl. symp. 221d; Irritation bei Partnern finden sich z. B. Men. 79e–80b; Lys. 216c.  Vgl. z. B. im wohl unechten Kleitophon, wo Sokrates reine Aggressivität und Verunsicherungsstreben bei seiner Argumentation unterstellt und beklagt wird, dass keine positiven Aspekte geboten würden (406a). Dabei handelt es sich um eine spätere Interpretation und um literarisches Spiel; dazu vgl. Erler (2008b).

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Teil einer Gesamtstrategie, die in der Desorientierung nur eine Vorstufe, keineswegs einen Selbstzweck sieht.

Sokratische Rhetorik der Irritation: Tradition und Transformation Bekanntestes Dokument des als provokant empfundenen sokratischen Verhaltens ist wohl Sokrates’ Verteidigung vor Gericht, die Platon in der Apologie schildert.¹⁴ Dieser Text ist eine merkwürdige Schrift. Ganz offensichtlich von Platon dazu bestimmt, seinem Protagonisten ein Denkmal der Standhaftigkeit zu setzen und ihn gegen die Anklage der Gottlosigkeit und des Verführens der Jugend zu verteidigen, ist die Sokratesfigur in der Apologie nicht nur von Zeitgenossen vielfach als Beleg für als hochmütig empfundenes Verhalten gewertet worden.¹⁵ Und das kann nicht erstaunen, wirkt doch seine Rede in der Tat auf weite Strecken eher wie eine Anklage seiner Ankläger, denn als Verteidigung. Und Sokrates bekennt sich auch dazu: νῦν οὖν, ὦ ἄνδρες ᾿Aθηναῖοι, πολλοῦ δέω ἐγὼ ὑπὲρ ἐμαυτοῦ ἀπολογεῖσθαι, ὥς τις ἂν οἴοιτο, ἀλλὰ ὑπὲρ ὑμῶν, μή τι ἐξαμάρτητε περὶ τὴν τοῦ θεοῦ δόσιν ὑμῖν ἐμοῦ καταψηφισάμενοι. (apol. 30d5–e1)¹⁶ Ich bin daher, ihr Männer von Athen, jetzt weit davon entfernt, mich um meinetwillen zu verteidigen,wie mancher glauben mag, sondern ich verteidige mich in eurem Interesse, damit ihr euch an der Gabe, die der Gott euch gegeben hat, durch meine Verurteilung nicht vergeht. (Übers. nach Heitsch 2002)¹⁷

In der Tat wirken Sokrates’ Ausführungen eher wie eine Anklage als eine Verteidigung. Man denke an die Art sokratisch elenktischer Diskussion, die Sokrates in der Apologie praktiziert. Sie soll die Ankläger prüfen, widerlegen, um sie von Unwissen zu befreien, nicht Sokrates rechtfertigen. Man denke an Sokrates’ Hinweis auf seine Nachfolger, die weiterhin quälende Fragen stellen werden. Das

 Vgl. z. B. Sokrates’ Gegenantrag apol. 36b–37a; dazu Heitsch (2002) 146 – 148.  Vgl. Plat. symp. 219c. Sokrates selbst rechnet mit dem Vorwurf, er sei hochmütig (vgl. apol. 20e; 34d). Auch Xenophons Apologie ist eine Verteidigung des Sokrates gegen den Vorwurf des Hochmuts (vgl. Xen. apol. 1).  Der griechische Text folgt hier und im Folgenden der Ausgabe von I. Burnet, Platonis Opera, Vol. 1– 5, Oxford 1900 – 1907 (und öfter).  Vgl. Plat. apol. 28d; 23a–c; 30a; vgl. auch Euthyphr. 14a; Phaidr. 274b; dazu Erler (2002), bes. 402 ff.

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musste geradezu als Drohung verstanden werden.¹⁸ Auch dass Sokrates sein philosophisches Pragma als Gottesdienst und sich selbst als ein Gottesgeschenk bezeichnet, wird von einem Gremium, das über Sokrates’ Leben entscheidet und Demut erwartet, als Provokation empfunden. Die Verurteilung des Sokrates durch die Richter scheint unvermeidbar und kann als Folge jener rhetorischen Inkompetenz angesehen werden, die Sokrates selbst vor Gericht für sich reklamiert, die er z. B. im Theaitet als Signum des wahren Philosophen ausmacht, und die ihm z. B. Kallikles im Gorgias bescheinigt.¹⁹ Sieht man freilich genauer zu, dann ist nicht zu übersehen: Seine ‚unrhetorische‘, das Publikum irritierende Haltung, lässt zahlreiche Kniffe und tópoi jener rhetorischen Kunst erkennen, über die Sokrates nach eigenen Worten nicht verfügt.²⁰ Schnell wird klar, dass Sokrates’ Argumentation in der Tat desorientierend und irritierend ist. Sie ist dies jedoch nicht infolge von Inkompetenz, sondern aufgrund einer Strategie, einer Verstellung, die rhetorischem Kalkül folgt, dabei freilich das traditionelle Verständnis von Ziel und Zweck forensischer Rhetorik auf den Kopf stellt und deshalb als verunsichernd empfunden werden muss und soll. Was Sokrates in der Apologie praktiziert, begründet er im Dialog Gorgias, in dem er mit der traditionellen Rhetorik in großer Schärfe abrechnet, dabei aber die Umrisse einer neuen, philosophisch akzeptablen Redekunst – jedenfalls was die Intention angeht – erkennen lässt. Da diese Andeutungen den Horizont dafür abgeben, was Sokrates in der Apologie vorführt, sei ein kurzer Blick in den Gorgias erlaubt. Im Gorgias nämlich rechnet Sokrates nicht nur mit der Rhetorik als einer Kochkunst ab, die jedem nach dem Munde redet. Er vertritt gleichzeitig auch eine durchaus positive Haltung gegenüber der Rhetorik, die traditionellem Verständnis freilich paradox scheinen muss. Denn er deutet die Möglichkeit einer Rhetorik an, deren Ziel es ist, die Adressaten nicht zu etwas zu überreden, sondern sich um die Seele der Adressaten zu kümmern, indem man diese von lieb gewordenen Vorstellungen losreißt, wie z. B. das Höhlengleichnis illustriert. Wenn dort von gewaltsamem Umdrehen der Gefangenen die Rede ist, kann man dies als Eigenkommentar des Sokrates zu seinem ‚verunsichernden‘ Vorgehen in den aporeti-

 Vgl. apol. 21b–23c; 39cd.  Vgl. Tht. 172d; Gorg. 485e–486b.  Vgl. dazu auch Rossetti (1989) 225 – 238. In der Apologie bietet Sokrates tópoi und Vorgehensweisen (z. B. 20d–24b; Widerlegung verbunden mit Exkurs, 28a–34b), die bei der Gerichtsrhetorik erwartet werden, z. B. der Anspruch, nur die Wahrheit zu sagen und keine blumige Sprache zu verwenden (17b); der Wunsch, den Richtern zu vertrauen und ohne Emotion zu sprechen (34c–d); auf mangelnde Erfahrung hinzuweisen (17d–18a).

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schen Dialogen lesen. Dieser Zustand der Verunsicherung mündet bisweilen in Sprachlosigkeit.²¹ Sokrates macht im Gorgias nicht nur kritisch darauf aufmerksam, dass die Grundlage und Intention traditioneller affirmativer Rhetorik, das rücksichtslose Durchsetzen von Eigeninteressen, nicht – wie allgemein angenommen – Zeichen von Stärke, sondern vielmehr von Schwäche ist. Er eröffnet zudem die Perspektive einer neuen Art von ‚starker Rhetorik‘ mit neuen Aufgaben, einer Rhetorik freilich, die traditionelle Vorstellungen auf den Kopf stellt. Ziel ist für ihn die innere Ordnung des Menschen.²² Um diese zu stärken oder zu schaffen, dürfe es keineswegs darum gehen, zu entlasten und dadurch anscheinend zu bekräftigen, sondern zu belasten und zu irritieren. Denn nach Sokrates’ Ansicht müsse es Ziel der Rhetorik sein, einem Täter zur Erkenntnis zu verhelfen, dass er sich z. B. durch Unrecht selbst geschadet habe und Strafe deshalb nicht als Belastung, sondern als Reinigung und Entlastung zu verstehen sei.²³ Deshalb dürfe es der Rhetorik keineswegs darum gehen, Sachverhalte zu verdunkeln, um Strafe in jedem Fall zu meiden, sondern Ziel müsse Aufklärung und Wahrheit sein. Der wirkliche Redner solle also nicht erstreben, einen Sachverhalt so plausibel wie möglich zu machen, ganz gleich, ob er sich wirklich so verhalte, sondern er solle im Gegenteil Verunsicherung bewirken, ob sich alles wirklich so verhält wie behauptet. Traditionelle Rhetorik jedoch – so klagt Sokrates – rede dem Publikum nach dem Mund und gebe nur vor zu wissen, was der Fall ist und was wirklich gut ist.²⁴ Wahre Rhetorik hingegen habe der ‚Pflege der Seele‘ zu dienen – dies freilich geschehe bei einer durch Irrtümer kranken Seele nicht durch Affirmation, sondern eben durch Desorientierung. Desorientierung wird zum strategischen Ziel von Rhetorik: Von einer derartig antipersuasiven Rhetorik erwartet Sokrates einen heilsamen Effekt für den Adressaten. Sie wird zu einem Instrument sokratisch-platonischer Seelentherapie,von der wir in der Apologie eine Kostprobe erhalten. Es ist offenbar seine therapeutische Intention, die Sokrates vor Gericht aus der Verteidigungsrede eine Anklage jener Richter machen lässt, die im Begriff sind, Unrecht zu tun. Jene verunsichernde Rhetorik zeichnet nach Sokrates auch den wahren Politiker aus, wie er im Gorgias sagt:

 Vgl. Plat. rep. 514a–521b, bes. 515d; vgl. Erler (2006) 111; 159 – 161. Diese Sprachlosigkeit (vgl. Euthypr. 11b; Gorg. 505c–506c; 515c; Lach. 194ab; Phil. 21d; Tht. 146a; dazu Blondell 2002, 122) unterscheidet sich in ihrem weiterweisenden Aspekt von demjenigen Schweigen, welches Eristiker im Streitgespräch bewirken wollen (vgl. Erler 1986, 73 – 92).  Vgl. Plat. Gorg. 504b–d; 507c–508c; Erler (2006) 175 – 178. Zum Ordnungsbegriff grundlegend Krämer (1959) 41 ff.  Vgl. Plat. Gorg. 527b.  Vgl. Gorg. 462b–c; 463a–b; 464e–465a.

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οἶμαι μετ᾽ ὀλίγων ᾿Aθηναίων, ἵνα μὴ εἴπω μόνος, ἐπιχειρεῖν τῇ ὡς ἀληθῶς πολιτικῇ τέχνῃ καὶ πράττειν τὰ πολιτικὰ μόνος τῶν νῦν· (Gorg. 521d6 – 8) Ich glaube, dass ich als einer von wenigen Athenern, um nicht zu sagen als Einziger die wahre politische Kunst anpacke und dass ich als Einziger von allen Zeitgenossen Politik treibe. (Übers. Dalfen 2004)

Diese These wird zum Anlass der Kritik und fördert den Vorwurf des Hochmuts. Doch erscheint sie als konsequent, wenn man bedenkt, dass die griechische Polis als ein Personalverbund gedacht wurde und Politik deshalb weniger auf Institutionen als auf die Seelen der Mitbürger gerichtet sein sollte.²⁵ Deshalb sucht Sokrates in der für ihn kritischen Situation seinen Mitbürgern nicht zu gefallen; er schockiert sie lieber als ihnen nach dem Munde zu reden. Denn er ist überzeugt, als wahrer Politiker zum Besten seiner Mitbürger zu handeln,²⁶ wenn er angesehene Bürger und Fachleute einem Test unterwirft, ihnen wie eine Stechmücke keine Ruhe lässt, sie auf diese Weise versucht gut zu machen, und so – wie es im Euthyphron heißt – Gottes Wirken unterstützt.²⁷

Emotionalisierung und Emotionen in den Dialogen Sokrates erscheint also als Fachmann einer Verunsicherungsrhetorik: Die Dialoge bieten Gespräche, in denen Sokrates seine Partner verunsichert und dadurch für Irritation und durchaus vielfältige Emotionen sorgt. Emotionen und ihre Darstellung in Rede und Verhalten sind in der Tat ein wichtiges Ingredienz platonischer Dialoggestaltung.²⁸ Nicht selten lässt uns Platon an der Frustration der Gesprächspartner teilnehmen, schildert ihre emotionale Reaktion bis hin zur Darstellung ihrer psychosomatischen Befindlichkeit – es sei hier nur an Thrasymachos’ Wutanfall im ersten Buch der Politeia erinnert, an die unfreundliche Behandlung des Lysis im gleichnamigen Dialog, an die Frustration eines Kritias im Charmides oder an die Irritationen, die Sokrates’ Partner, aber bisweilen auch er selbst konstatieren, wenn sie sich im Labyrinth der Aporie wiederfinden, wie es im Euthydem heißt.²⁹ Fast immer geht Sokrates’ verunsichernde Rhetorik mit Emotionalisierung einher – man klagt über Sokrates oder ist verärgert über

 Vgl. Thuk. 7,77,7; dazu Blößner (1997) 191 Anm. 525.  Vgl. Gorg. 503d–505b; dem wahren Politiker hingegen geht es um das Gute (vgl. Gorg. 499e).  Vgl. apol. 28d; 23a–c; 30a; Euthyphr. 14a.  Vgl. Blank (1993) 428 – 439; Matthews (1999). Traditionelle Rhetorik will nach Sokrates’ Auffassung als Emotion Annehmlichkeit erzeugen (vgl. Gorg. 462c; 464e).  Vgl. rep. 337a; Lys. 210e; Charm. 162d–173d; Lach.; Euthyd. 291b–c.

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ihn.³⁰ Im Symposium fühlt man sich an den Satyrn Marsyas erinnert, der durch die Gewalt seines Mundes sein Publikum bezaubert. Sokrates scheint Alkibiades staunenswert, denn wenn man ihn selbst oder einen anderen seine Reden vortragen höre, dann seien alle wie außer sich und ganz davon hingerissen. Und dann beschreibt Alkibiades mit einem Vokabular, das an die Darstellung der Wirkung der göttlich inspirierten Rhapsoden im Dialog Ion erinnert, den psychosomatischen Zustand, der ihn befällt, wenn er Sokrates reden hört.³¹ Ihm pocht das Herz heftiger als einem, der vom Korybantentanz ergriffen ist, Tränen vergießt er, er fühlt sich wie in einem knechtischen Zustand – Zustände, die er bei Perikles oder anderen guten Rednern nicht empfindet. Sokrates’ lógoi also werden als Unruhestifter empfunden, die Emotionen wecken und denen man sich hilflos ausgeliefert fühlt; Alkibiades bietet eine Sichtweise der Wirkung von Sokrates’ lógoi, die in der Tat bei vielen Lesern in Erinnerung rufen wird, was in den Dialogen als Effekt sokratischer Argumentation zu beobachten ist. Sokrates erscheint also als Wortzauberer, der seinen Hörern Minderwertigkeitsgefühle und das Bewusstsein von Defiziten vermittelt. Seine auf Irritation abzielende Rhetorik gleicht also einem Rhapsoden-Vortrag, der seinerseits auf Emotionen wie Freude abzielt:³² Es sei festgehalten, dass Emotionalisierung durch Verunsicherungsrhetorik von Sokrates nicht einfach in Kauf genommen, sondern bewusst eingesetzt und funktionalisiert wird. Im Theaitet nämlich lässt Platon Sokrates im Namen des Protagoras sein eigenes rhetorisches Vorgehen geradezu kommentieren: […] ἐν δὲ τῷ διαλέγεσθαι σπουδάζῃ τε καὶ ἐπανορθοῖ τὸν προσδιαλεγόμενον, ἐκεῖνα μόνα αὐτῷ ἐνδεικνύμενος τὰ σφάλματα, ἃ αὐτὸς ὑφ᾽ ἑαυτοῦ καὶ τῶν προτέρων συνουσιῶν παρεκέκρουστο. ἂν μὲν γὰρ οὕτω ποιῇς, ἑαυτοὺς αἰτιάσονται οἱ προσδιατρίβοντές σοι τῆς αὑτῶν ταραχῆς καὶ ἀπορίας ἀλλ᾽ οὐ σέ, καὶ σὲ μὲν διώξονται καὶ φιλήσουσιν, αὑτοὺς δὲ μισήσουσι καὶ φεύξονται ἀφ᾽ ἑαυτῶν εἰς φιλοσοφίαν […] (Tht. 167e6 – 168a6) […] im dialektischen Gespräch aber sollte man ernsthaft sein und dem Partner wieder aufhelfen, indem man ihn nur auf jene Fehler hinweist, wo sein Irrtum in ihm selbst und seinem bisherigen Umgang begründet ist. Denn wenn du so verfährst, werden deine Gesprächspartner die Schuld für ihre Verwirrung und Verlegenheit bei sich selbst und nicht bei dir sehen, und dir werden sie folgen und dich verehren, sich selbst aber hassen und Zuflucht suchen vor sich selbst bei der Philosophie […]. (Übers. Heitsch 2002)³³

 Vgl. Men. 80b; Gorg. 482e. Vgl. Blondell (2002) 123 – 126.  Vgl. symp. 215d–e; 216c–d; 220a; Ion 533e; 534a; 535b; 536b; dazu Flashar (1958) 68 f.; Gaiser (1984) 55 ff.; Giuliano (2005) 216 ff.  Vgl. symp. 212dff. und oben Anm. 9.  Diese Stelle führt auch Blank (1993) an.

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Gefühlsreaktionen wie Enttäuschung, Ärger oder Irritation als Folge von verunsichernder Rhetorik werden also nicht einfach nur konstatiert, sondern bewusst in Kauf genommen, funktionalisiert und akzeptiert. Voraussetzung ist freilich, dass der Partner die Emotion nicht auf Sokrates, sondern auf sich selbst richtet. Denn sonst führt die Emotion zu jener Misologie, vor der Sokrates’ Phaidon warnt.³⁴ Richtig eingesetzt werden die Emotionen offenbar zum Mittel der Selbsterkenntnis. Emotionalisierung wird Teil des therapeutischen Programms sokratischer lógoi, weil diese dazu verhelfen können, eigene Fehler zu erkennen und sich von ihnen zu befreien. Deshalb fordert Sokrates immer wieder auf, den eigenen Unwillen nicht auf ihn, sondern auf sich selbst zu richten und nicht unwillig zu sein.³⁵ Die Dialoge führen ein breites Spektrum derartiger Verhaltensweisen vor – negative wie auch positive –, es sei hier nur an das unterschiedliche Verhalten eines Nikias oder Laches im Laches erinnert.³⁶

Staunen als Mittel der Rhetorik Der Einsatz von Emotion als rhetorischem Mittel mag zunächst an Gorgias und seine emotionsbetonte Art der Rhetorik erinnern, wie sie z. B. in seinem Enkomion auf Helena zu beobachten ist. Doch signalisiert auch die Forderung, dass der Unwille sich gegen die eigene Person richten soll, jene Transformation von Rhetorik, die wir oben konstatierten, eine Transformation, die sich in Platons Verwendung eines Begriffes spiegelt, der in diesem Zusammenhang nicht selten auftaucht: Es ist der Begriff der Irritation oder des Staunens. Die Dialoge lassen bei der Verwendung dieses Wortes eine ähnlich dynamisierende Umprägung erkennen wie etwa beim platonischen Philosophiebegriff. Betrachten wir deshalb kurz, wie Platon diesen Begriff verwendet.³⁷ Dabei begegnen wir einer Vielzahl von Bedeutungen, vor allem aber einer Art des Staunens, welche Ausdruck einer admirativen Haltung ist – mit verschiedenen Stufen der Intensität: Da ist zum einen jene admiratio seiner Freunde, von der der Dialog Phaidon berichtet, wo gegen Ende Sokrates als gerechtester aller Menschen gepriesen und sein Freund Aristodemos den Meister sogar in seinem Gehabe und seiner Kleidung imitiert – Aristodemos trägt ebenfalls keine Schuhe.³⁸ Es handelt sich also um eine admiratio für Sokrates’ Verhalten gegenüber dem nahenden Tod,

    

Vgl. Phaid. 89d–e. Vgl. Erler (2008a), bes. 31 ff. Vgl. Lach. 187e–188c. Dazu vgl. Mette (1961) 49 – 71; vgl. auch Matuschek (1991). Vgl. Phaid. 118a; zu Aristodemos vgl. symp. 173b.

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welche bei manchem der Freunde wie eine Art von Beleg für seine argumentative These von der Unsterblichkeit der Seele sorgt, eine pístis, welche sich durch die philosophische Argumentation bei Sokrates’ Partnern im Phaidon nicht so recht einstellen will.³⁹ Auch Alkibiades im Symposium ist voller Bewunderung für Sokrates, die sich allerdings mit leichter Irritation mischt. Denn er vermag bei Sokrates gerade nicht jene Reaktion auszulösen, die er bei anderen Menschen zu erzielen gewohnt ist. Staunen erscheint also als Folge irritierter admiratio, aber auch als Ausdruck dafür, dass man von einer Sache oder Person überzeugt ist: Diese Konnotation von thaumázein ist, wie ein Blick in die Wortgeschichte seit Homer lehrt, durchaus traditionell. Es sei hier an jenes staunende Schauen erinnert, mit dem Priamos Hektor bewundernd würdigt;⁴⁰ bei Hesiod wird Staunen auch auf akustische Erscheinungen bezogen.⁴¹ Archilochos kann dann gleichsam übersteigernd argumentieren, nichts sei mehr zu bestaunen – d. h. könne ihn erschüttern – seit Zeus aus Mittag Nacht gemacht hat, wobei Staunen gleichsam zum Mittel wird, pístis zu kreieren.⁴² Staunen (thaumázein) im Sinne eines Bewunderns und als Mittel des Beglaubigens (pístis) findet sich dann vor allem bei Herodot, bei dem (wie z. B. die Solon-Geschichte zeigt) die Bereitschaft zu staunender Aufnahme zur Voraussetzung für kluges Wissen wird.⁴³ Wer schaut und staunt, hat an Wissen teil. Admiratives Staunen wird also einmal mehr als Hilfsmittel für Wissenserwerb gewertet, gerade weil es nicht zum Anlass genommen wird, etwas zu hinterfragen. Staunen erscheint auch als Initialzündung zum Nachfragen. Dies ist bereits ansatzweise bei Pindar der Fall,⁴⁴ als Alternative zur Möglichkeit, eigentlich Unglaubhaftes zu beglaubigen, aber vor allem im Drama und insbesondere bei Euripides. Es sei hier nur auf die Bakchen hingewiesen, in denen über Staunen, Verwunderung, Bewunderung im Kontext von pístis geradezu implizit reflektiert wird. Denn in den Bakchen will ja der ankommende Gott Dionysos seine Göttlichkeit durch Taten, die Staunen und Bewunderung hervorrufen sollen, gleichsam ‚beglaubigen‘ – wenn z. B. der Boden von Milch, Wein und Bienenhonig überfließt, Kranke ihr Bein wieder bewegen können, Frauen mit bloßen Händen Eber in Stücke reißen, kurz: der Gott Wunder wirkt, ja geradezu als Wundermann

 Vgl. Erler (2009a) 5 – 26.  Vgl. Hom. Il. 5,601; 24,629 – 633; Mette (1961) 49 – 54; vgl. die Lügengeschichte des Odysseus über die goldene Fibel, die Staunen erregt (Od. 19,229 – 231).  Vgl. Hes. theog. 834.  Vgl. Archil. Fr. 74 Diehl = POxy. 2313, Fr. 1 a = Fr. 122 West.  Vgl. Hdt. 1,29 ff.; Mette (1961) 65 – 67. Zum Staunen bei Herodot vgl. Lloyd (1975) 141 ff.  Vgl Pi. P. 10; Mette (1961) 56 ff.

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bezeichnet wird. Erinnert sei auch an das sogenannte Befreiungswunder der Frauen aus dem Gefängnis und das sogenannte Palastwunder.⁴⁵ Besonders Pentheus will er durch Bewunderung überzeugen und glaubt, dass dieser überzeugt worden wäre, hätte er es gesehen.⁴⁶ Doch gerade diese Beglaubigungsfunktion des Staunens wird durch den Protagonisten Pentheus infrage gestellt: Für ihn ist der Wunderwirker ein Gaukler,⁴⁷ er bewundert nicht, sondern ist verwundert, versteht Staunen nicht als Argument für pístis, sondern nimmt das Verwundern zum Anlass nachzufragen. Eben diese Funktion – Staunen als Anlass zum Nachfragen – greift Platons Sokrates auf. Gewiss, auch bei Platon findet man Staunen im Sinne einer Bewunderung, die pístis verleiht. Doch verwendet Platon Staunen eben vielfach auch als Ausdruck seiner Verunsicherung und Desorientierung, die bei manchen zur Resignation führt, manchen aber auch Anlass zum Nachfragen ist. Für Platon wird dieses irritierte Staunen zum signum des philósophos, wie im Theaetet ausgeführt wird. Demnach gibt es keinen anderen Anfang der Philosophie als das Staunen. Damit wird vorweggenommen, was Aristoteles dann in der Metaphysik ebenfalls formuliert.⁴⁸ Staunen erscheint also als eine Irritation, die zum Nachfragen und zum Lernen führt – als eine Verwunderung, die Bewunderung ersetzen soll und die aus jenen Widersprüchlichkeiten hervorgeht, welche bei Diskussionen mit Sokrates, aber auch bei Betrachtung der sinnlichen Welt entstehen.⁴⁹ Verwunderung statt Bewunderung korrespondiert im Kontext platonischer Philosophie mit jener Transformation, die bei der traditionellen Rhetorik im Gorgias zu beobachten war: Wie die verunsichernde und desorientierende Rhetorik wird auch das Staunen im Sinne von Verwunderung als stimulans zum Nachfragen in die Philosophie Platons integriert und Teil einer philosophischen Rhetorik. Dabei wird deutlich, dass dieses Erregen von Staunen kein Selbstzweck ist, sondern eine Station auf dem Weg zum Wissen, bei dem das Staunen im traditionellen Verständnis des Bewunderns wiederkehrt. Denn Platon verwendet ‚Staunen‘ durchaus auch weiterhin im Sinne einer beglaubigenden, also pístis bewirkenden admirativen Haltung. Freilich kennzeichnet dieses Staunen bei ihm einen Zustand am Ende eines Erkenntnisprozesses, der mit einem Staunen im Sinne der Irritation beginnt. Admiratives Staunen markiert für Platon den Zustand, der einen bei Anblick und

 Vgl. Eur. Bacch. 187 ff.; 449 ff.; 735 ff.; 1125 ff.; 667; Befreiungswunder 443 ff.; Gott als Wundermann 449 ff.; Palastwunder 576 ff.  Vgl. Bacch. 712 f.  Vgl. Bacch. 234.  Vgl. Plat. Tht. 155d; Aristot. metaph. A 2,982b12 ff.  Vgl. Plat. rep. 523b–c; Tht. 162c–d; Phil. 36e.

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Erkenntnis der Ideen erfasst. Im Phaidros und im Symposion wird die Schau der Ideen in der Tat mit bewunderndem Staunen oder zumindest mit admirativer Haltung verbunden und beschrieben.⁵⁰

Verunsicherungsrhetorik: Selbstzweck oder Mittel zum Zweck? Damit wird deutlich, dass die Methode der verunsichernden Rhetorik bei Platon keineswegs als Selbstzweck, als lose Provokation anzusehen ist. Einige Partien in den Dialogen, die in diesem Zusammenhang geradezu als Eigenkommentare verstanden werden können und sollen, bestätigen, was die Verwendung des Begriffes ‚Staunen‘ bei Platon lehrt. Auf drei einschlägige Partien sei kurz hingewiesen: Zunächst sei an das Höhlengleichnis erinnert.⁵¹ Denn das Gleichnis führt nicht nur die verblendete Ausgangssituation des Menschen, sondern auch die Möglichkeit seiner Befreiung aus dieser misslichen Situation bildlich vor Augen. Platons Sokrates fordert im Höhlengleichnis eine Umwendung der Seele.⁵² Dabei wird deutlich, dass diese Umwendung und die hierzu notwendige Befreiung von Fesseln mit Hilfe einer ungenannten Person unter Zwang und Schmerzen mit Frage und Antwort und mit Aporien erfolgen müssen. Auf diese Weise werden die Gefangenen gegen ihren Willen⁵³ auf den illusionären Charakter ihres bisherigen Wissensanspruches mit Blick auf die Schatten an der Wand aufmerksam gemacht, auch wenn dies unter Lebensgefahr geschieht.⁵⁴ Man sieht also, dass Irritation durch Frage und Antwort als conditio für die befreiende Umkehr ein wesentlicher Bestandteil der Umwendung und des Erkenntnisprozesses ist. Jeder Leser des Höhlengleichnisses soll und wird bei den Worten sofort an Sokrates, an die von ihm praktizierte Verunsicherungsrhetorik und an die nicht zuletzt aus ihr resultierende Todesstrafe denken.⁵⁵ Platon lässt in diesem Gleichnis Sokrates seine spätere Situation – Lebensgefahr und Verurteilung infolge seiner Gesprächspraktik – gleichsam antizipieren. Das Höhlengleichnis stellt zudem einen Kommentar zu Platons Dialogen dar. Insofern es nämlich schildert, wie auf irritiertes

     

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

Phaidr. 250e; symp. 216e–217a. Szlezák (1997) 205 – 228. rep. 521c. rep. 515c. rep. 515d–e. rep. 517a.

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Erstaunen und Aporie der Aufstieg aus der Höhle folgt, bestätigt es, dass die Rhetorik des Sokrates nicht das letzte Wort zu den Dingen ist, sondern nur einen ersten Schritt zur Erkenntnis darstellt. Irritiertes Erstaunen ist in der Tat ein erster Schritt auf dem Weg zur admirativen Bewunderung, die sich bei der Erkenntnis einstellt. Eben diese Funktion von Verunsicherungsrhetorik als praeparatio für Belehrung und Aufstieg wird gleichzeitig in der Politeia illustriert. Sie beginnt ja im ersten Buch mit einer Diskussion über die Frage, was Gerechtigkeit sei, die ergebnislos bleibt und bei Sokrates’ Partner Thrasymachos eine Desillusionierung bewirkt, die mit starker Emotionalisierung einhergeht. Diese Situation erinnert an die frühen Definitionsdialoge Platons, in denen es ja auch um Tugenden und ihre Bestimmung geht. Anders jedoch als in den früheren aporetischen Dialogen ist in der Politeia mit der Aporie die Untersuchung nicht zu Ende, sondern wird der Aspekt der Nützlichkeit und der Gutheit der Tugend thematisiert. Anders als in den aporetischen Dialogen folgt in der Politeia also nach der Desillusionierung der Aufstieg, d. h. eine positive Belehrung darüber, was Gerechtigkeit in Staat und Seele ist, warum beides nützlich ist und wer für Gerechtigkeit zuständig ist. Gewiss, auch jetzt gibt es keine letzten Antworten. Die Struktur der Politeia unterstreicht jedoch die dienende Funktion der sokratischen Verunsicherungsrhetorik.⁵⁶ Eben diese Funktion wird im Symposium unterstrichen, wenn Diotima Sokrates über die Anwendung des élenchos belehrt. Nachdem Sokrates dort Agathon einem traditionell sokratischen élenchos – einer destruktiven Prüfung – unterzogen hat, berichtet er von einer Lehrstunde durch Diotima, wobei angedeutet wird, dass es sich um die Wiedergabe wiederholter Gespräche handelt.⁵⁷ Nach eigenen Worten ist Sokrates nämlich selbst einmal von Diotima mit ähnlichen Argumenten in Verlegenheit gebracht und damit von Irrtümern befreit worden,⁵⁸ freilich sei man im Gespräch dann positiv weitergekommen. In der Tat beginnt das Gespräch mit Diotima so, wie es sonst Sokrates zu eröffnen pflegte, mit einem elenktischen Teil – doch gibt die Seherin dann auf Sokrates’ Fragen durchaus positiven Bescheid, ohne Nichtwissen vorzuschützen, kurz: Wir werden Zeugen einer Art Schulstunde für einen an Philosophie interessierten und belehrungsbereiten Sokrates, in der er in eben dieser Methode – wie er behauptet – unterrichtet wurde. Sokrates bestätigt denn auch, dass seine Wiedergabe auf mehreren Lehrstunden durch Diotima basiert. Halten wir fest: Auch hier bleibt es nicht bei der rein negativ sokratischen, verunsichernden Rhetorik, sondern es folgt auf

 Vgl. Erler (2009b) 12– 24.  Vgl. symp. 206b.  Vgl. symp. 201d.

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Verunsicherung die positive Belehrung. Wieder wird deutlich: Die neue sokratische Art der Rhetorik wird als wichtiges Mittel im pädagogischen curriculum vorgeführt – aber eindeutig als nur eine Phase, der eine weitere folgen muss.

Verunsichernde Rhetorik als Mittel zum Zweck Es hat sich gezeigt, dass die sokratisch-platonische Verunsicherungsrhetorik als praeparatio für wirklichen Erkenntnisgewinn und damit als Teil des sokratischplatonischen Philosophiemodells Merkmal sokratisch-platonischer Methode und Dialogkunst ist. Platon hat die traditionelle Rhetorik zwar kritisiert, sie gleichwohl aber bewahrt, insofern er sie durch eine neue Zielvorgabe transformiert und in seine Philosophie integriert hat. Schaut man freilich auf die weitere Geschichte der sokratischen Verunsicherungsrhetorik, dann fällt bisweilen eine Trennung dessen auf, was bei Platon zusammengehört: Bei späteren Sokratikern scheinen sich die antipersuasiven Aspekte bisweilen geradezu verselbständigt zu haben. Diogenes aus Sinope mit seiner Methode des ‚Umprägens der Münze‘ und der damit bisweilen verbundenen reinen Provokation scheint ein Beispiel für einseitige Rezeption der provozierenden Rhetorik zu sein.⁵⁹ Platon selbst hat diese Entwicklung offenbar vorausgesehen, wenn in der Apologie davor gewarnt wird, Dialektik in unerfahrene Hände geraten zu lassen oder in der Politeia gemahnt wird, dialektische Rhetorik nicht zum Selbstzweck werden zu lassen.⁶⁰ Auf der anderen Seite wäre es interessant zu untersuchen, ob die Verbindung von antipersuasiver Rhetorik und Belehrung mitverantwortlich ist für die Struktur mancher Traktate, in denen – Bacons Strategie gleichsam vorwegnehmend – eine pars destruens der positiven Darstellung vorgeschaltet ist.

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 Vgl. Diog. Laert. 6,20 = SSR 5 B 2,5 f. (Giannantoni, 1990).  Vgl. Plat. rep. 539c–d.

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Marcel Humar

Wiederholungen und Häufungen als rhetorische Mittel der Verunsicherung in den Platonischen Dialogen* Abstract It has often been remarked that Socrates seems to be using a particular rhetoric in dialogue with his interlocutors. However, less attention has been given to asking what this looked like in practice, what rhetorical techniques and elements he uses and what the effect of his rhetoric is. The present paper concentrates on the ‘destabilising’ effect exerted by Socrates on his interlocutors in the early Platonic dialogues and analyses one of the means deployed by Socrates to destabilise: in select passages figures of repetition and accumulation are analysed and their amplificatory function is studied. The aim is to present a more precise description and analysis of Socrates’ debating by means of the conceptual tools of rhetoric. The figures of repetition and accumulation are first defined and distinguished according to two basic functions, viz. the preparatory and the heuristic. In select passages from three dialogues – Ion, Hippias minor and Euthyphro – the destabilising effect of such figures is traced.

Fragestellung Dem Leser der Platonischen Dialoge – vor allem der frühen Schriften¹ – ist ein Phänomen besonders bekannt: die eigenartige Wirkung, die Sokrates auf seine

* Für wertvolle Hinweise und Anmerkungen möchte ich an dieser Stelle Therese Fuhrer (München), Thomas C. Schirren (Salzburg) und Martin Vöhler (Nicosia/Berlin) danken.  Darüber, welche Dialoge Platons aus der frühen, mittleren und späten Periode seiner literarischen Gesamtproduktion stammen, besteht heute weitestgehend Einigkeit; die Einteilung resultiert aus den sprachstatistischen Analysen von Lewis Campell, Constantin Ritter und anderen. Eine Übersicht dazu findet sich bei Brandwood (1990). Die einzelnen Dialoge innerhalb einer Periode chronologisch zu ordnen, scheint jedoch schwieriger; Kahn (1996) 47 konstatiert diesbezüglich: „The division into three groups represents a well-established consensus; the order of dialogues within each group is a matter of personal conjecture.“ Eines der Hauptmerkmale der frühen Dialoge (Apologie, Charmides, Euthydemos, Euthyphron, Gorgias, Hippias minor, Ion, Kriton, Laches, Lysis, Menexenos, Menon, Phaidon, Protagoras) ist die partielle oder vollständige Aporie der Gesprächspartner und auch teilweise der Figur des Sokrates. Daher hat sich für die frühen Dialoge auch der Terminus der aporetischen Dialoge etabliert. Aporetisch sind diese Dialoge, weil sie ihr Ziel nicht erreichen, sondern in einer Ausweglosigkeit zu enden

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Gesprächspartner ausübt. So induziert er bei ihnen interessierte Neugier, verwundertes Staunen² oder auch tiefgreifende Verunsicherung. Unter Verunsicherung wird hier der Übergang zwischen einem vermeintlich sicheren Wissen oder auch einem gefestigten Selbstbild und der mit Zweifel verbundenen Erschütterung dieser Ansicht verstanden; die Richtigkeit des eigenen Urteils wird dadurch in Frage gestellt. Dabei wird die Verunsicherung von einer anderen Person verursacht.³ Die Verunsicherung macht empfänglich für ein Überdenken und die Entwicklung einer neuen Ansicht; sie geht (im besten Fall) der Persuasion voraus. Verunsicherung muss daher nicht ausschließlich negativ verstanden, sondern kann auch mit einer positiven Wirkung in Verbindung gebracht werden. So wird in einem aktuelleren Beitrag zum Platonischen Menon von Andrea Albrecht im Kontext der Demonstration der Anamnesis die „Nützlichkeit aporetischer Verunsicherung“⁴ unterstrichen, da sie das Eingeständnis der eigenen Unkenntnis provoziert und somit für den Erkenntnisfortschritt von Vorteil ist; dass dieser nicht immer erreicht wird, hängt meist mit der charakterlichen Disposition der Gesprächspartner des Sokrates zusammen. So reagieren die Teilnehmer eines Dialogs selten motiviert auf diese Verunsicherung, eher sind Verwirrung oder gar Wut die Folge. Bleibt es bei diesem Verhalten, wirkt die Verunsicherung destruktiv; wird eine Anregung verursacht und eine gemeinsame Untersuchung begonnen, wirkt sie konstruktiv. Die Erwiderungen auf die erzeugte Verunsicherung fallen somit unterschiedlich aus.⁵ In den frühen Dialogen Platons ist die tiefgreifende Verunsicherung das zentrale Moment; sie wird nicht überwunden und sie leitet keine Reflexionen bezüglich der eigenen Person ein.

scheinen (vgl. exemplarisch Waldenfels 1961, 53 und Wieland 1982, 12). Daher bieten vor allem die frühen Dialoge ein fruchtbares Feld für die Untersuchung der Verunsicherung, wie sie von Platon dargestellt wird.  Vgl. dazu auch den Beitrag von Michael Erler in diesem Band.  Vgl. dazu auch die Begriffsbestimmung der Verunsicherung in dem Beitrag von Boris Dunsch in diesem Band. Zur generellen Einbettung der Verunsicherung in den theoretischen Rahmen der Rhetorik siehe den Beitrag von Joachim Knape.  Vgl. Albrecht (2011) 152. Dies ist der „fruchtbare Augenblick der Aporie“ (Waldenfels 1961, 12).  Ein Beispiel für Ungehaltenheit als Reaktion auf die Verunsicherung gebe ich weiter unten aus dem Hippias minor. Eine positive, zur weiteren Untersuchung anregende Wirkung der Verunsicherung kann im Laches beobachtet werden: Dort reagiert der gleichnamige Feldherr des Dialogs mit der Bemerkung, er sei von einem Eifer gepackt worden; vgl. Lach. 194a7–b4 und dazu Horster (1994) 23: „Auf dem Weg zur Erkenntnis des Wesens der Tapferkeit ist Laches durch die Einwände des Sokrates verunsichert worden. Von dieser Verunsicherung als Basis schritt der Dialog weiter fort.“ Zu unterschiedlichen Reaktionen der Gesprächspartner je nach Disposition ihres Charakters vgl. auch Blondell (2002) 123 – 124.

Wiederholungen und Häufungen als rhetorische Mittel der Verunsicherung

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Wie Sokrates diese Verunsicherung seiner Dialogpartner erzeugt und welche Rolle dabei rhetorische Techniken spielen, ist bisher nicht hinreichend betrachtet worden.⁶ Bei der Fokussierung auf die Wortfiguren⁷ der Wiederholung und Häufung soll vor allem die amplifizierende Wirkung – also die hervorhebende, einseitig betonende Wirkung – dieser Figuren berücksichtigt werden, da sie besonders zur Erhöhung der affektiven Bindung dient.⁸ Dabei stehen zwei Fragestellungen im Vordergrund: Kann durch Amplifikation gezielt Verunsicherung erzeugt werden? Lassen sich hinsichtlich der Funktion verschiedene Formen der amplificatio finden? Vor der Durchführung der Analyse werden zunächst – nach einer Einführung in die amplificatio – die Begriffe der Wiederholung und Häufung schärfer gefasst und voneinander unterschieden. Hierfür bietet die Rhetorik ein geeignetes Begriffsinstrumentarium, das verschiedene Figuren und Formen von Wiederholung und Häufung terminologisch differenzierter zu beschreiben erlaubt. Die zentrale Frage richtet sich dabei nicht darauf, ob die entwickelten Argumentationsgänge logisch einwandfrei sind, sondern welche rhetorischen Elemente sich finden lassen, die bestimmte Annahmen unterstützen, Aspekte herausstellen, andere reduzieren und so einige Lösungswege versperren oder ganz bestimmte hervorheben; die diskutierte Frage nach der Wertung der Absichten solcher rhetorischen

 So verweisen Interpreten zwar auf den Befund, dass Sokrates eine eigene Rhetorik zu haben scheint. Wie diese jedoch aussieht und welche sprachlichen bzw. rhetorischen Mittel dabei eine Rolle spielen, ist bisher eher hintergründig besprochen worden. Als eventuelle Erklärung für diesen Sachverhalt führt Livio Rossetti an, dass man sich bei der Analyse der Dialoge auf die Rhetorik der Sophisten konzentriert habe. So habe man übersehen, dass auch Sokrates seine eigenen rhetorischen Strategien habe (vgl. Rossetti 1989, 225). Farness (1987) 46, der auf „Socrates’ ad hominem conversational rhetoric“ in der Apologie verweist, gibt keine genaue Analyse, wie diese Rhetorik und die eingesetzten Figuren oder Techniken aussehen. Wenn auf die besondere Rhetorik des Sokrates hingewiesen wird, ist diese meist auf den Inhalt seiner Fragen oder deren Verbindung zur Person und deren Selbstbild bezogen; kaum werden jedoch rhetorische Figuren besprochen oder ausgewiesen. So verfährt zum Beispiel die Analyse von Henry Teloh zum Gorgias. Teloh sieht die Besonderheit der sokratischen Rhetorik darin, dass er (a) eine längere Rede mit mehreren Fragen hält, (b) Gorgias als Rhetoriker in seiner eigenen Disziplin schlägt und (c) dessen „self-image“ angreift, da noch weitere potentielle Schüler anwesend sind, die seine Niederlage miterleben (vgl. Teloh 2008, 62– 64).  Zur Unterscheidung zwischen Wort- und Gedankenfiguren und ihrer Entwicklung im System der Rhetorik siehe Knape (1996). Zu den wichtigsten historischen Stationen der Figurenlehre siehe Schirren (2009b).  Siehe dazu Fuhrmann (52003) 117.

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Strategien und der erzeugten Verunsicherung ist für den Ausweis der Strategien von sekundärer Bedeutung.⁹

Begriffsklärung In der Rhetorik wird die amplificatio definiert als ein Verfahren, das durch zusätzliche Worte oder Gedanken einem Argument oder einem Teil einer Rede nachdrückliches Gewicht verleiht. So bewirkt sie eine Intensivierung, die die affektive Anteilnahme erhöht und Sachverhalte zuspitzt oder auch verzerren kann; diese Verengung in der Thematik und die affektive Beeinflussung machen eine „objektive Behandlung des Gegenstands unmöglich“.¹⁰ Die amplificatio kann auf verschiedene Weisen erzeugt werden; bei Quintilian werden vier Möglichkeiten beschrieben, die einen amplifizierenden Effekt hervorrufen: Quattuor tamen maxime generibus video constare amplificationem, incremento comparatione ratiocinatione congerie. (Quint. inst. 8,4,3)

 Im Rahmen der Diskussion einer ‚sokratischen Rhetorik‘ oder der Art der sokratischen Gesprächsführung ist immer wieder die Frage nach der Absicht des Gebrauchs rhetorischer Mittel oder auch Tricks, die Sokrates einsetzt, und deren Bewertung gestellt worden. So hat zum Beispiel Erler (2006) 83 darauf hingewiesen, dass rhetorische Tricks, die Sokrates anwendet, keinesfalls negativ zu bewerten seien, sondern der bewussten Lenkung der Seele dienen. Vgl. auch Teloh (2008); dagegen siehe etwa Beversluis (2000) 342– 3. Dazu, dass Sokrates sich in seinem Umgang auf die Gesprächspartner einstellt, vgl. auch Blondell (2002) 119. Sokrates unterscheidet selbst zwischen guter und schlechter Rhetorik, wobei nicht die Qualität, sondern das Ziel bzw. die Absicht von Aussagen ausschlaggebend für diese Kategorisierung ist. So können wir aus dem Gorgias (454d–e) entnehmen, dass Sokrates nicht gegen Rhetorik und den Einsatz ihrer Figuren an sich ist, sondern nur gegen die Art, die darauf aus ist, Ergebnisse zu produzieren, deren Wahrheitsgehalt durchaus fraglich sein könnte, sowie gegen jegliche Art der Manipulation. Vgl. dazu auch Carone (2005) 253 sowie Teloh (2008) 57: „Socrates uses rhetoric as a part of his philosophical and educational task to attempt a care of his interlocutors’ souls (ψυχαί).“ Die ‚sokratische Rhetorik‘ und ihre Absicht sei daher nicht gleichzusetzen mit dem Ziel, durch rhetorische Tricks einen Sieg zu erringen ohne Berücksichtigung der Wahrheit, sondern lediglich damit, Zweifel zu evozieren und somit die Grundlage für eine eventuelle Persuasion zu schaffen oder aber wenigstens den Gesprächspartner in seinem Bild zu erschüttern und in ihm eine Reflexion der bisherigen Umstände oder seines eigenen Charakters einzuleiten. Zur Desorientierung als Vorstufe einer (positiv zu verstehenden) Gesamtstrategie siehe auch den Beitrag von Michael Erler in diesem Band.  Ueding (1995) 73. Für Aristoteles gehört die Vermehrung (gr. αὔξησις) zu den rhetorischen Grundoperationen; sie macht Dinge erst bedeutend oder unbedeutend. Vgl. dazu Rapp (2002) Bd. 2, 798 und Schirren (2009a); zur aristotelischen Auffassung der αὔξησις siehe Aristot. rhet. 1368a10 – 15 und 1403a16 – 1403b3.

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Indessen besteht, soweit ich sehe, das Vergrößern aus vier Arten: dem Zuwachs, der Vergleichung, der Schlußfolgerung und der Häufung. (Übers. H. Rahn)

Das incrementum stellt eine graduelle Steigerung dar, die comparatio überbietende Vergleichungen. Mit der ratiocinatio werden logische Schlussfolgerungen beschrieben, die der Sprecher selbst in den einzelnen Schritten durchführt und so seinen eigenen Gedankengang vor dem Publikum aufzeigt;¹¹ die congeries bezeichnet Häufungen. Diese amplifizierenden Mittel dienen der Affirmation. Sie tragen zur Erhöhung der affektiven Anteilnahme bei, die Quintilian etwa in Bezug auf eine Figur der Wiederholung, die geminatio, bemerkt hat. So hält er fest, dass die erste Nennung des Wortes die Bedeutung anzeigt (indicat),während die wiederholte Nennung der affektiven Steigerung dient (adfirmat).¹² Die erste Nennung dient somit der semantischen Information, die Wiederholung hat affirmierenden Charakter. In der sokratischen Rhetorik dagegen werden nicht nur die Häufung, sondern verschiedene Wortfiguren der Wiederholung und Häufung zur Erzeugung von Verunsicherung eingesetzt; sie werden somit strategisch zu einem anderen Ziel verwendet und erreichen genau das Gegenteil: Sie können ein starkes Verunsicherungspotenzial entwickeln und wirken nicht affirmativ, sondern destruktiv. Mit Wiederholung (lat. repetitio) wird in der Rhetorik die nochmalige Setzung eines bereits verwendeten Wortes bezeichnet, Wiederholung bezieht sich hier auf die rhetorische Wortfigur;¹³ sie findet auf der lexikalischen Ebene statt, denn Wiederholung setzt die Gleichheit des wiederholten Wortes voraus (eine Figur der Wortwiederholung wäre etwa das Polyptoton¹⁴). Bei der Wiederholung als Wortfigur kann ferner zwischen strenger und gelockerter Gleichheit unterschieden werden. Bei strenger Gleichheit, d. h. wörtlicher Wiederholung, wird die Wieder-

 Zur ratiocinatio siehe Quint. inst. 8,4,26.  Vgl. Quint. inst. 9,3,28. Dass die amplificatio eine affektive Erregung hervorrufen kann, geht aus anderen Stellen bei Quintilian (inst. 6,2,24; 8,3,88) und weiteren Rhetorikern der Antike hervor. Zur amplificatio und einem expliziten Zusammenhang mit der Erregung von Gefühlen siehe auch Rhet. Her. 4,28.  Der Begriff ‚Wiederholung‘ ist jedoch nicht so streng definiert und bezeichnet meist verschiedene Repetitionsphänomene wie – neben der hier in den Fokus gestellten Wortfigur – Wiederholung durch Repetition eines syntaktischen Musters (Isokolon, Parallelismus) oder auch als Element der dispositio die nochmalige Rekapitulation der wichtigsten Informationen einer Rede; vgl. dazu Till (2009) 1371– 1372. Die Unschärfe in der Terminologie zur Wiederholung bemerkt auch Frédéric (1985) 43; Frédéric (1985) gibt zu jeder Figur eine kurze Übersicht über die unterschiedliche Terminologie bei verschiedenen Autoren wie Quintilian, Johannes de Garlandia (13. Jhd.) und anderen. Zu Wiederholungen in der aristotelischen Rhetorik siehe Aristot. rhet. 1413b21– 1414a7 mit Rapp (2002) Bd. 2, 932– 933.  Zum Polyptoton siehe Lausberg (31967) § 640 – 648.

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holung nach der Position beschrieben und in drei Grundtypen aufgeteilt; es gibt die Wiederholung im Kontakt (zum Beispiel die geminatio), die Klammer (lat. redditio) und die absatzmäßige Wiederholung (Anapher). Die Formen sind fließend. Durch die Zwischenschaltung nicht wiederholter Satzteile wird aus dem engen Kontakt eine Klammer, die durch noch größere Zwischenschaltungen zu Figuren der Wiederholung auf Abstand (Anapher, Epipher) werden kann. Die gelockerte Gleichheit kann die leichte Veränderung des Wortkörpers betreffen (zum Beispiel beim Polyptoton) oder auch auf die Wortbedeutung gerichtet sein (zum Beispiel bei der Paronomasie).¹⁵ Mit dem Begriff ‚Häufung‘ (lat. congeries) dagegen wird eine Hinzufügung von Satzgliedern bezeichnet, die in einem koordinierten oder subordinierten¹⁶ Verhältnis stehen; sie findet sich eher auf der inhaltlichen Ebene. Häufung besteht in der Hinzufügung semantisch zusätzlicher Wörter, die den Inhalt ausdehnen, nicht in der semantischen Wiederholung; dies wäre die Synonymie. Zur Analyse des Phänomens der Wiederholungen bietet Heinrich Plett vier Kategorien an: 1) 2) 3) 4)

Die Frage nach der Position (Wo wird wiederholt?), die Frage nach der Frequenz (Wie oft wird wiederholt?), die Frage nach der Similarität (Welches wird wiederholt?), die Frage nach der Extension (Wie Großes wird wiederholt?).¹⁷

Diese Kategorien können zur Systematisierung von Figuren der Wiederholung und Häufung herangezogen werden und damit auch zum Verständnis der Verunsicherung und des strategischen Einsatzes der amplificatio dienen. Bei der Beschreibung der Funktionen rhetorischer Wiederholung oder Häufung im Kontext der sokratischen Rhetorik wird im Folgenden zwischen zwei Grundfunktionen unterschieden: 1) Figuren, die die Verunsicherung ‚vorbereiten‘, und 2) Figuren, die die Verunsicherung unmittelbar erzeugen. Diese sollen im Folgenden beschrieben und voneinander abgegrenzt werden.

 Vgl. Lausberg (31967) § 274.  Bei der subordinierten Häufung wird ein Satzglied näher bestimmt. Das gängigste Phänomen dieses Häufungstyps ist das Epitheton (vgl. Lausberg 31967, § 676 – 685).  Vgl. Plett (92001) 41.

Wiederholungen und Häufungen als rhetorische Mittel der Verunsicherung

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Die Wahl der Dialogausschnitte Die für die Analyse herangezogenen Gesprächspartien stimmen darin überein, dass Sokrates in ihnen auf Experten trifft, die aufgrund ihres Fachwissens zuversichtlich und selbstbewusst in das Gespräch gehen. Im Verlauf des Gesprächs werden sie jedoch immer unsicherer, da sie sich und ihr Selbstbild und die damit verbundenen Kompetenzen in Zweifel ziehen; alle drei Gesprächspartner reagieren unterschiedlich auf die von Sokrates erzeugte Verunsicherung, wie sich zeigen wird. Amplifikation kann am Beginn, im Mittelteil des Dialogs und am Ende besonders gut eingesetzt werden, wie die drei Beispiele zeigen.

Die Positionierung des Partners am Gesprächseingang Für einen die Verunsicherung vorbereitenden Einsatz der amplificatio bietet die einführende Passage aus dem Ion ein gutes Beispiel. In diesem Dialog trifft Sokrates auf den Homerrhapsoden Ion, der gerade von einem Sieg im Wettstreit kommt, wo er die Epen Homers erfolgreich präsentiert hat und nun voller Selbstbewusstsein zurückkehrt. Im Verlauf des Dialogs wird die Tätigkeit des Rhapsoden, die angemessene Darstellung der Epen Homers, von Sokrates hinterfragt und das Selbstbild¹⁸ des Ion ins Wanken gebracht; denn es stellt sich heraus, dass das Wissen, das er für sich beanspruchte, nicht durchdacht ist. Sokrates stellt es in Frage und zeigt Ion im Verlauf des Dialogs, dass dessen Tätigkeit nicht dem Anspruch von technischem Können standhält; dies ist der Punkt, der die Verunsicherung bei Ion auslöst: Er reagiert mit Nachfragen an Sokrates und mit der Bitte, ihn über seine eigene Person und seine Tätigkeit aufzuklären (532b7– 9). Später wird sein Wissensanspruch immer geringer bis hin zur Umkehrung des Ausgangspunktes: Ion hat kein technisches Wissen und keinerlei Anspruch, dieses für sich zu behaupten.¹⁹ Nach einem kurzen einleitenden Gespräch kommt Sokrates auf die Kompetenz der Rhapsoden zu sprechen, die zum Thema des gesamten Dialogs wird. Sokrates schreibt im Folgenden dem Wissen des Rhapsoden den Charakter von

 Heitsch (2004) 23 spricht in diesem Zusammenhang von seinem Selbstverständnis.  Vgl. Beversluis (2000) 80: „Here is a linguistic virtuoso whose auditors are putty in his hands whom he can alternately convulse with laughter and move to tears but who, upon being administered a mild dose of Socratic cross-examination, can explain neither the homeric wisdom he imparts nor how he is able to impart it.“

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technischem Wissen zu; es sei ein ‚Sich-verstehen-auf‘, eine spezifische Fähigkeit, die den Fachmann vom Laien unterscheidet. Ion nimmt diese Zuschreibung an, ohne jedoch genau über sie nachgedacht zu haben. So erhebt er „genau den Wissensanspruch, den Sokrates ihm nahegelegt, ja ihm fast aufgedrängt hatte“.²⁰ Wie bringt nun Sokrates Ion dazu, für sich Fachwissen zu beanspruchen? Dies zeigt die folgende Textstelle: καὶ μὴν πολλάκις γε ἐζήλωσα ὑμᾶς τοὺς ῥαψῳδούς, ὦ Ἴων, τῆς τέχνης: τὸ γὰρ ἅμα μὲν τὸ σῶμα κεκοσμῆσθαι ἀεὶ πρέπον ὑμῶν εἶναι τῇ τέχνῃ καὶ ὡς καλλίστοις φαίνεσθαι, ἅμα δὲ ἀναγκαῖον εἶναι ἔν τε ἄλλοις ποιηταῖς διατρίβειν πολλοῖς καὶ ἀγαθοῖς καὶ δὴ καὶ μάλιστα ἐν Ὁμήρῳ, τῷ ἀρίστῳ καὶ θειοτάτῳ τῶν ποιητῶν, καὶ τὴν τούτου διάνοιαν ἐκμανθάνειν, μὴ μόνον τὰ ἔπη, ζηλωτόν ἐστιν. οὐ γὰρ ἂν γένοιτό ποτε ἀγαθὸς ῥαψῳδός, εἰ μὴ συνείη τὰ λεγόμενα ὑπὸ τοῦ ποιητοῦ. τὸν γὰρ ῥαψῳδὸν ἑρμηνέα δεῖ τοῦ ποιητοῦ τῆς διανοίας γίγνεσθαι τοῖς ἀκούουσι: τοῦτο δὲ καλῶς ποιεῖν μὴ γιγνώσκοντα ὅτι λέγει ὁ ποιητὴς ἀδύνατον. ταῦτα οὖν πάντα ἄξια ζηλοῦσθαι. (Ion 530b4–c6)²¹ Wahrhaftig, schon oft habe ich euch Rhapsoden beneidet, Ion, um euer technisches Können [τῆς τέχνης]. Denn sowohl, daß die Pflege des Äußeren stets angemessen ist eurem technischen Können, sowie auch das möglichst schöne Auftreten, zugleich aber in die Notwendigkeit versetzt zu sein, sich mit vielen anderen trefflichen Dichtern zu beschäftigen, und ganz besonders mit Homer, dem trefflichsten und göttlichsten Dichter, und seinen Gedanken durch und durch kennenzulernen, nicht bloß den Wortlaut, das ist beneidenswert. Denn es kann doch wohl keiner als guter Rhapsode gelten, der nicht versteht, was der Dichter meint. Der Rhapsode muß ja zum Vermittler zwischen den Gedanken des Dichters und den Zuhörern werden. Das aber richtig zu tun, ohne zu erkennen,was der Dichter meint, ist unmöglich. Dies alles also ist beneidenswert. (Übers. nach H. Flashar 1963)

Sokrates berichtet hier von den Tätigkeiten und dem Auftreten der Rhapsoden in lobender Weise: Es finden sich fünf positive Wertungen des Berufsstandes und der Kunst der Rhapsoden, die Neid und Lob verbinden und sich von dem gepflegten Äußeren (τὸ σῶμα κεκοσμῆσθαι), das dem Können angemessen ist, über das ästhetische Auftreten, der Beschäftigung mit vielen Dichtern bis hin zu intellektuellen Fähigkeiten (διάνοιαν ἐκμανθάνειν) ausdehnen. Das Thema des Neides wird in der rhetorischen Figur des Polyptoton wiederholt. Der Verweis auf die Attraktivität und die Erscheinung bleiben einmalig. Auf den Neid²² wird zu Beginn, ziemlich genau in der Mitte und am Ende in Form einer Klammer pointiert verwiesen; er umrahmt die gesamte Passage. Das

 Vgl. Westermann (2002) 57.  Der griechische Text folgt hier und im Folgenden der Ausgabe von I. Burnet, Platonis Opera, Vol. 1– 5, Oxford 1900 – 1907 (und öfter).  Die Verwendung des Motivs des Neides ist hier nicht als negative Bewertung zu verstehen (das wäre φθόνος). Das Wort ζῆλος verweist hier auf die positive Bewunderung, das „desire to

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Erste und Letzte, was Ion hört, ist also, wie sehr Sokrates ihn und seine Kollegen beneidet, und das damit verbundene, durch die Wiederholung amplifizierte Lob. Welche Funktionen erfüllt dieses extensive, durch den Neid gesteigerte Lob? Die Motivierung des Gesprächspartners ist gerade bei den aporetisch konstruierten Gesprächen des Platonischen Sokrates von entscheidender Bedeutung. Der Gesprächspartner muss in seinem fachlichen Wissen und in seiner exponierten Bedeutung für das folgende Fachgespräch aufgebaut werden, bevor die konsequente Destruktion der vermeintlichen Sachkompetenz einsetzt. Deshalb ist es besonders am Gesprächsbeginn wichtig, dass Ion motiviert wird, mit Sokrates in den Dialog zu treten. Ion hegt nach einem solchen Auftakt die Hoffnung,weitere angenehme Dinge über seine Kunst zu hören. Diese Taktik wird von Ernst Heitsch als „vertrauenbildende Maßnahme“ bezeichnet;²³ sie stellt eine captatio benevolentiae dar. Doch noch weitere Funktionen sind erkennbar: Die amplificatio des Lobes lenkt von allem anderen ab. So konzentriert sich Ion – wie der weitere Verlauf des Gesprächs zeigt – nur auf die Aufnahme und Ausweitung des Lobes, ohne genau den Inhalt der Aussagen und deren Implikationen zu reflektieren. Ion betont selbst noch einmal,wie schwierig es war, den Grad der Perfektion erlangt zu haben, und nennt weitere Vertreter seiner Kunst, die er bei weitem übertreffe.²⁴ Weiterhin schafft die amplificatio eine Aufwertung Ions. Sokrates beneidet ihn; das Verhältnis ist asymmetrisch. Das Lob vermittelt ein hohes Maß an Achtung und Respekt; im Verlauf des Dialogs wird dies jedoch umgekehrt. Diese Umkehrung entsteht durch die Verunsicherung, wie sie im Dialog entfaltet wird. Steht Ion zu Beginn positiv und sicher da, bleiben zum Schluss nur Infragestellung und Verunsicherung in Bezug auf die eigene Person zurück. So hat Sokrates in dieser Passage 1) Vertrauen hergestellt, 2) die entscheidende Prämisse, die Tätigkeit Ions beruhe auf technischem Können, eingeführt, wobei das Lob diese Einführung überdeckt; an dieser Prämisse wird Ion jedoch scheitern. Und 3) wird die vermeintliche Überlegenheit Ions behauptet, die zum Ende des Dialogs ins Gegenteil umgekehrt wird. Denn die vermeintliche Erwar-

imitate“, welches damit transportiert wird. Vgl. Walcot (1978) 2; dort auch weitere Stellen zu ζῆλος und φθόνος sowie deren unterschiedlichen Bedeutungsnuancen. Grundsätzlich beschreibt ζῆλος bewundernden, positiven und zum Nacheifern anregenden Neid; vgl. auch Isokr. or. 5,69. Im [Ps.]platonischen Menexenos wird beschrieben, wie (positiver) Neid in negativen umschlagen kann (πρῶτον μὲν ζῆλος, ἀπὸ ζήλου δὲ φθόνος). Vgl. Mx. 242a; dazu Walcot (1978) 15.  Heitsch (2004) 20.  Dieses Selbstlob vollzieht sich in zwei Schritten: 1) werden drei historische Personen genannt (Metrodoros, Stesimbrotos und Glaukon), dann wird 2) eine Verallgemeinerung getroffen (so viele je gelebt haben), die das Selbstbewusstsein des Ion hervorhebt.

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tungshaltung wird nicht bestätigt. So bereitet die einführende Passage mit einem durch Wiederholung amplifiziertem Lob die Verunsicherung vor.

Ablenkung durch Häufung im Mittelteil der Dialoge Im Hippias minor findet sich ein ähnlicher ablenkender Einsatz der Häufung; dort wird eine These des Gesprächspartners, dem Sophisten Hippias, eingeführt und von Sokrates verändert. Durch die Figur der Häufung, die eine Veränderung der These überdeckt, wird diese jedoch nicht bemerkt. Hippias hat gerade eine Rede gehalten,²⁵ in der er über die Ilias Homers gesprochen hat. Hier setzt nun Platons Dialog ein: Während des Gesprächs werden Überlegungen über die Charaktere Achill und Odysseus in den homerischen Epen angestellt und die Frage nach dem Falschen (d. h. einem Lügner) und Wahren (d. h. dem, der die Wahrheit spricht) sowie der Wertung der Intention beim Lügen untersucht. Die Diskussion wird nur mit Sokrates geführt; es sind aber noch all die anderen Zuhörer anwesend.²⁶ Hippias gibt sich bei seinem Eintritt in den Dialog sehr selbstbewusst,²⁷ was zum einen dadurch begründet scheint, dass er

 Verweise auf die Epideixis finden sich auch an weiteren Stellen des Dialogs (vgl. Hipp. min. 363a2; 363c2; 363d2; 364b6; 364b8). Als ‚Vater‘ dieser dogmatisch-dozierenden Form der improvisierten und auf Wunsch vorgetragenen Rede wird bei Cicero der Sophist Gorgias genannt: Eorum erat iste mos qui tum sophistae nominabantur, quorum e numero primus est ausus Leontinus Gorgias in conventu poscere quaestionem, id est iubere dicere, qua de re quis vellet audire (Cic. fin. 2,1). Cicero verurteilt diese Form im Einleitungsteil von Buch 2 als dreist (audax) und schamlos (impudens).  Jantzen (1989) 29 geht davon aus, dass nur noch die drei Teilnehmer Hippias, Sokrates und Eudikos anwesend sind. Dies ist jedoch angesichts der Stelle in 369c7, in der Hippias auf Anwesende hinzuweisen scheint (vgl. unten Anm. 48), eher unwahrscheinlich.  Haden (1997) 146 bezeichnet ihn als „serenely confident“. Vgl. auch Beversluis (2000) 95: „If Plato’s portrayal is accurate, Hippias was not notable for his modesty. He is constantly flaunting his knowledge and boasting about his achievements. Hippias is not only a braggart, he is also something of an exhibitionist – the sort of person who is forever praising his own abilities and, what is worse, forever threatening to display them.“ Dass Hippias sehr selbstbewusst ist, zeigt auch, wie er auf die Fragen des Sokrates reagiert: Nach der Bitte des Sokrates, Hippias möge ihm den Terminus πολύτροπος erklären, pflegt Hippias eine selbstbewusste und selbstdarstellerische Art. Es wäre, nach seiner eigenen Aussage, ja schlimm, wenn er seine Dienste überall anböte, sie aber nun Sokrates verweigerte. Die Einleitung in die Untersuchung mit „Ich will dir also noch deutlicher als vorhin erklären“ (ἐθέλω ἔτι σαφέστερον ἢ τότε διελθεῖν) und seine Ausführungen in 363c3 – 4 zeigen ebenfalls eine positive Selbsteinschätzung an. Des Weiteren weist der Sophist darauf hin, dass er auch noch keinen getroffen habe, der ihm überlegen gewesen sei (364a7– 9). Hippias scheint der Ansicht zu sein, mit Sokrates ebenso umgehen zu

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gerade eine Rede gehalten hat, die mit Applaus aufgenommen wurde, und zum anderen durch die Tatsache, dass er seit Jahren erfolgreich als Sophist sein Wissen zur Schau stellt, unterstützt wird. Sein Selbstbewusstsein ist also durch seine Reden, die er regelmäßig und mit Erfolg hält, und mit denen er die breite Masse zu begeistern pflegt,²⁸ durchaus gerechtfertigt.²⁹ Ähnlich war die Ausgangssituation im Ion: Auch das Selbstbewusstsein des Rhapsoden speist sich aus seinem Erfolg und der Begeisterung der Zuschauer. Sokrates wirft die Frage auf, welche Charaktereigenschaften Odysseus und Achill in den homerischen Epen zukommen; es wird zunächst festgelegt, dass der eine eher die Wahrheit sagt, der andere eher die Unwahrheit. Beide Charaktermerkmale können nicht in einer Person zusammengehen. Dies wird Sokrates im weiteren Verlauf jedoch genauer ausdifferenzieren.³⁰ Hippias behauptet, dass bei Homer der eine so, der andere so dargestellt werde (365b5: ὁ μέν […] ὁ δέ); und dies ist durchaus richtig: Bei Homer wird der eine so, der andere so präsentiert und diese Charaktere sind – natürlich – nicht dieselben: Σ.: ἐδόκει ἄρα, ὡς ἔοικεν, Ὁμήρῳ ἕτερος μὲν εἶναι ἀνὴρ ἀληθής, ἕτερος δὲ ψευδής, ἀλλ᾽ οὐχ ὁ αὐτός. – Ἱ.: πῶς γὰρ οὐ μέλλει, ὦ Σώκρατες; – Σ.: ἦ καὶ σοὶ δοκεῖ αὐτῷ, ὦ Ἱππία; – Ἱ.: πάντων μάλιστα: καὶ γὰρ ἂν δεινὸν εἴη εἰ μή. (Hipp. min. 365c3 – 4) S.: Also schien, wie es aussieht, dem Homer der eine ein Mann zu sein, der die Wahrheit spricht, der andere einer, der Falschaussagen macht, aber das ist nicht derselbe. – H.: Wie sollte es denn nicht [so sein], Sokrates? – S.: Scheint es dir selbst etwa auch so, Hippias? – H.: Am meisten von allen Dingen, denn es wäre auch schlimm, wenn nicht. (Übers. MH)

Hier hat Sokrates bereits einen ersten Schritt zur Unterscheidung zwischen Achill und Odysseus unternommen.³¹ Als klar einander entgegengesetzt erscheinen die Charaktere jedoch hier noch nicht; sie sind nur bezugslos verschieden und Hippias geht von einer „Andersheit des Wahren und des Falschen“³² aus.

können wie mit jedem anderen Gesprächspartner auch (vgl. 363c7–d4 und 364d3 – 6). So auch Blundell (1992) 138.  Zum Lob der breiten Masse siehe auch Hipp. mai. 281c2– 3; 284c8; 285b3 – 4; 288a3 – 5; 289e4; 292e4– 5.  Darauf weist auch Blundell (1992) 139 hin: „In these terms, his confidence is fully justified.“  Ähnlich, aber nicht explizit, scheint diesen Sachverhalt Sprague (1962) 66 zu verstehen: „Hippias has characterized Achilles as brave and Odysseus as wily, but this does not oppose the two sufficiently for Socrates’ purposes.“  Vgl. Sprague (1962) 67: „Socrates has now established one of the two statements necessary to produce the refutation at 369B; he has induced Hippias to assert that, in his opinion, Achilles is true and Odysseus false, and that the true man and the false are in no wise the same.“  Jantzen (1989) 46.

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Nachdem man gemeinsam den Begriff πολύτροπος³³ eingeführt und als negativ charakterisiert hat,³⁴ wird die Frage erörtert, wie einer beschaffen sein muss, der die Unwahrheit spricht, also ein ἀνὴρ ψευδής ist.³⁵ Sokrates beschreibt in einer weiten Sequenz³⁶ dann die Lügner als fähig (δυνατοί), klug (φρόνιμοι), wissend (ἐπίστανται) und weise (σοφοί). Diese Begriffe werden nacheinander eingeführt und beschreiben stets immer denselben Sachverhalt: Es geht Sokrates hier um eine von Wissen geleitete Fähigkeit hinsichtlich des Lügens (nicht um die moralische Dimension): Σ.: τοὺς ψευδεῖς λέγεις οἷον ἀδυνάτους τι ποιεῖν, ὥσπερ τοὺς κάμνοντας, ἢ δυνατούς τι ποιεῖν; – Ἱ.: δυνατοὺς ἔγωγε καὶ μάλα σφόδρα ἄλλα τε πολλὰ καὶ ἐξαπατᾶν ἀνθρώπους. – Σ.: δυνατοὶ μὲν δή, ὡς ἔοικεν, εἰσὶ κατὰ τὸν σὸν λόγον καὶ πολύτροποι: ἦ γάρ; – Ἱ.: ναί. – Σ.: πολύτροποι δ᾽ εἰσὶ καὶ ἀπατεῶνες ὑπὸ ἠλιθιότητος καὶ ἀφροσύνης, ἢ ὑπὸ πανουργίας καὶ φρονήσεώς τινος; – Ἱ.: ὑπὸ πανουργίας πάντων μάλιστα καὶ φρονήσεως. – Σ.: φρόνιμοι μὲν ἄρα εἰσίν, ὡς ἔοικεν. – Ἱ.: ναὶ μὰ Δία, λίαν γε. – Σ.: φρόνιμοι δὲ ὄντες οὐκ ἐπίστανται ὅτι ποιοῦσιν, ἢ ἐπίστανται; – Ἱ.: καὶ μάλα σφόδρα ἐπίστανται: διὰ ταῦτα καὶ κακουργοῦσιν. – Σ.: ἐπιστάμενοι δὲ ταῦτα ἃ ἐπίστανται πότερον ἀμαθεῖς εἰσιν ἢ σοφοί; – Ἱ.: σοφοὶ μὲν οὖν αὐτά γε ταῦτα, ἐξαπατᾶν. – Σ.: ἔχε δή: ἀναμνησθῶμεν τί ἐστιν ὃ λέγεις. τοὺς ψευδεῖς φῂς εἶναι δυνατοὺς καὶ φρονίμους καὶ ἐπιστήμονας καὶ σοφοὺς εἰς ἅπερ ψευδεῖς; – Ἱ.: φημὶ γὰρ οὖν. – Σ.: ἄλλους δὲ τοὺς ἀληθεῖς τε καὶ ψευδεῖς, καὶ ἐναντιωτάτους ἀλλήλοις; – Ἱ.: λέγω ταῦτα. – Σ.: φέρε δή: τῶν μὲν δυνατῶν τινες καὶ σοφῶν, ὡς ἔοικεν, εἰσὶν οἱ ψευδεῖς κατὰ τὸν σὸν λόγον. – Ἱ.: μάλιστά γε. (Hipp. min. 365d5 – 366a7) S.: Meinst du mit den falsch Sprechenden zum Beispiel, dass sie unfähig sind, etwas zu tun, wie Kranke, oder dass sie fähig sind etwas zu tun? – H.: Ich jedenfalls meine, dass sie fähig sind und zwar sehr, sowohl in anderen Dingen als auch darin, Menschen zu täuschen. – S.: Fähige sind sie also, wie es scheint, nach deiner Rede und verschlagen, oder nicht? – H.: Ja. – S.: Verschlagen sind sie, und täuschen sie aufgrund von Einfältigkeit und Unverstand oder aufgrund von Können und Verstand? – H.: Aufgrund von Können und vor allem Verstand. –

 Das Wort πολύτροπος hat mehrere unterschiedliche Konnotationen und bedeutet einerseits vielgewandert oder herumgekommen, andererseits aber auch listig oder trickreich. Ein Begriff, der im Deutschen beide Aspekte vereint, ist etwa ‚verschlagen‘. Für die antiken Interpretationen des Terminus’ siehe Stanford (21963) 99 – 101.  Hippias und Sokrates verständigen sich darauf, dass mit vielgewandt ‚falsch‘ (ψευδής) gemeint sei. Für die Untersuchung wird also die negative Konnotation im Sinne von listig oder trügerisch gesetzt.  Vlastos (1991) 275 – 277 hat darauf hingewiesen, dass ψευδής hier nicht (moralisch konnotiert) mit Lügner zu übersetzen sei; vgl. auch van Ackeren (2003) 54. Eine Möglichkeit wäre hier ‚verlogen‘ zu übersetzen wie Erler (1987) 123 – 125 vorschlägt. Um den moralischen Aspekt, der bei Lügner immer mitgedacht wird, auszuklammern, könnte man hier von einem, der ‚eine Falschaussage tätigt‘, sprechen.  Unter Sequenz wird hier eine Einheit eines Gesprächs, die sich aus einander bedingenden Gesprächsschritten zusammensetzt, verstanden (hier konkret ein thematisch abgeschlossener Wechsel von Frage und Antwort); zum Begriff der Sequenz vgl. Henne u. Rehbock (1979) 24.

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S.: Klug sind sie also,wie es scheint – H.: Ja, bei Zeus, sehr. – S.: Klug,wenn sie es sind,wissen sie dann nicht, was sie machen oder wissen sie es? – H.: In hohem Maße wissen sie; deshalb tun sie ja Übles. – S.: Als Wissende aber darin, was sie wissen, sind sie da ungelehrt oder weise? – H.: Nun, weise sind sie, darin eben, zu täuschen. – S.: Weiter also: Lass uns erinnern, was das ist, was du sagst. Du sagst, diejenigen, die eine Falschaussage machen, sind fähig und klug und wissend und weise, in dem Gebiet, auf dem sie täuschen. – H.: Das sage ich. – S.: Diejenigen, die die Wahrheit sprechen und die, die eine Falschaussage machen, sind andere, ganz entgegengesetzt. – H.: Das sage ich. – S.: Also weiter: die Täuschenden gehören, wie es scheint, zu den Fähigen und Weisen nach deiner Rede. – H.: Ganz klar. (Übers. MH)

Die Sequenz ist durchgehend geprägt von der rhetorischen Figur der koordinierten Häufung (lat. congeries). Sokrates unternimmt hier eine Zerlegung eines übergeordneten (Kollektiv‐) Begriffs.³⁷ Der dabei zugrunde gelegte ‚kollektive Begriff‘ ist das Wissen. Bei der Zerlegung wird der Begriff in zahlreiche Facetten aufgefächert; die Häufung erfolgt auf der Ebene der Semantik: So ist man weise, fähig etwas zu tun usw., wenn man eben etwas weiß und sich darauf versteht. Sokrates arbeitet hier mit der Extension. Es werden vier Begriffe gehäuft: fähig, klug,wissend,weise. Er verwendet sie auf kleinem Raum, denn sie werden insgesamt zwölfmal genannt. Sie sind dabei häufig am Anfang des jeweiligen Gesprächsbeitrags positioniert und prägen sich daher gut ein. In der Partie wird aber nicht nur die Häufung eingesetzt. Sie wird verstärkt durch Figuren der Wiederholung: Sokrates verwendet die Anapher (φρόνιμοι μέν; φρόνιμοι δέ) und die Klammer (ἐπίστανται … ἢ ἐπίστανται). Damit wird der Fokus gänzlich auf die ψευδεῖς, also auf diejenigen, die die Unwahrheit sagen, gelegt. Inwiefern hat diese Sequenz eine die Verunsicherung vorbereitende Funktion? In der gesamten Partie wird eine entscheidende Aussage von Sokrates eingebracht, der Hippias beiläufig zustimmt und die eine wesentliche Verschiebung der Ausgangsthese des Hippias bewirkt. Sokrates behauptet nämlich, dass beide Charaktere „entgegengesetzt“ seien. Durch die Fokussierung auf das Themengebiet des ‚Wissens‘, die vor allem durch die Häufung der Begriffe gewonnen wird, geht die entscheidende Aussage, die nur in einem Nachsatz erfolgt (καὶ ἐναντιωτάτους ἀλλήλοις), unter.³⁸ In der gesamten Sequenz tauchen nur einmal die ἀληθεῖς, die Aufrichtigen, auf; die Lügner dagegen fünfmal und ihre Umschreibungen zweimal.

 Vgl. die Definition bei Lausberg (31967) § 294. Dieser Kollektivbegriff kann ausgedrückt werden oder aber unausgesprochen bleiben.  Jantzen scheint diesen Punkt zu übergehen, wenn er in seiner Zusammenfassung der Argumentation resümiert: „Der Wahre und der Falsche sind keineswegs voneinander verschieden und einander entgegengesetzt (366a), sondern sie sind derselbe“ (vgl. Jantzen 1989, 47; kursiv im Original).

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Die Sequenz bekommt durch die Häufung der Begriffe einen sehr monotonen Charakter. Daher bemerkt Hippias auch nicht die gewichtige Verschiebung der Ausgangsthese. Mit Heinrich Plett könnte man hier von der amplificatio in der Funktion der „planvollen Einschläferung des Rezipienten“³⁹ sprechen. Der vermeintlich überlegene Sophist wird dadurch unaufmerksam. Dass dies Sokrates’ Intention ist, zeigt die sofortige Rückkehr zum Thema des Wissens gleich nach der Zustimmung durch Hippias (366a6: λέγω ταῦτα); Sokrates schließt mit „also weiter“ wieder an den Aspekt der Fähigkeit und des Wissens hinsichtlich des Lügens an. Der Einsatz der Häufung bereitet insofern die Verunsicherung vor, als hier eine Voraussetzung für diese geschaffen wird: Es wird eine Behauptung aufgestellt, auf die später rekurriert und so die Verunsicherung ausgelöst wird. Im weiteren Verlauf appliziert Sokrates nun das Ergebnis auf die Tätigkeiten des Hippias. Für den Universalgelehrten und Lehrer Hippias besteht die Gefahr – wenn eben die beiden Charaktertypen nicht verschieden sind –, dass er in all seinen Bereichen auch als Lügner gelten könnte.⁴⁰ Sokrates verwendet drei Beispiele, die sich alle direkt auf den Sophisten beziehen. Durch die Häufung der Beispiele wird die affektive Anteilnahme erhöht;⁴¹ Sokrates erzeugt so unmittelbar Verunsicherung. Im ersten Beispiel zielt Sokrates auf die Rechenkunst; mit direktem Bezug zu Hippias: „Sage mir also, Hippias, bist du (σύ) nicht wohl erfahren im Rechnen und der Rechenkunst?“⁴² Da Hippias der Fähigste in Bezug auf den Umgang mit Zahlen

 Plett (92001) 53. Hier findet sich auch ein Anknüpfungspunkt zur aristotelischen Rhetorik: In seiner Besprechung der Enthymeme kommt Aristoteles auf die zielführende Konstruktion eben dieser zu sprechen; dabei gilt es zu befolgen, nicht zu extensive Beispiele zu verwenden, da diese sonst ablenken können (Aristot. rhet. 1395b20 ff. und 1357a7– 22). Vgl. auch die Bemerkung von Christof Rapp in Bezug auf Redundanzen: Diese verfolgen grob zwei Ziele, denn „entweder trägt die Redundanz zur Länge bei oder sie lenkt den Hörer ab und ermüdet ihn, bevor er die relevante Schlussfolgerung erreicht, so dass auf beide Weisen das Verständnis gerade behindert wird, während das gesuchte Gegenstück in einem besonders leicht verständlichen Schluss bestehen müsste“ (vgl. Rapp 2002, Bd. 1, 185).  Dies bemerken auch die meisten Interpreten; vgl. Jantzen (1989) 48 Anm. 5: „Der Polymath Hippias, der sich in den meisten Fertigkeiten für den Wissendsten hält (368b), hat keine Möglichkeit, sich von sich selbst als dem zugleich besten Falschen und besten Betrüger zu unterscheiden.“ Ebenso O’Brien (1967) 102 zu der Stelle. Ähnlich auch Haden (1997) 152.  Die Annahme, dass Sokrates dies intendiert haben könnte, scheint durch seine Wahl der Beispiele plausibel. Es wären auch andere Bereiche möglich, die nichts mit den Kompetenzen des Sophisten zu tun haben und eher generalisierend sind. Sokrates entscheidet sich jedoch bewusst für Bereiche, in denen Hippias kompetent ist, was er sich auch vor jeder Untersuchung von diesem nochmals bestätigen lässt.  Hipp. min. 366c6 – 7: λέγε δή μοι, ὦ Ἱππία, οὐ σὺ μέντοι ἔμπειρος εἶ λογισμῶν καὶ λογιστικῆς.

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ist, folgt daraus, dass der Gute (ἀγαθός) der ist, der Falsches darüber sagen kann. Also ist der Wahre um nichts besser als der Falsche. Hippias stimmt zu, jedoch mit einer Einschränkung: „So scheint es, hierin wenigstens (367d3: ἐνταῦθά γε).“ Daraufhin fragt Sokrates, ob sie es auch an einem anderen Beispiel prüfen wollen. Hippias ist zwar einverstanden,⁴³ allerdings mit dem Zusatz „wenn du willst“. An diesem Punkt ist die Lust an dem Gespräch nicht mehr so groß wie vorher.⁴⁴ Es folgen noch zwei weitere Beispiele, die die Verunsicherung des Hippias erhöhen, da sie immer mehr Bereiche – allesamt Kompetenzen des Sophisten – aufzeigen, in denen der Experte auch zum Lügner wird; inhaltlich bieten sie nichts Neues.⁴⁵ Die zunehmende Verunsicherung des Hippias lässt sich an dessen weiterem Antwortverhalten⁴⁶ ablesen; er bezieht sich ständig auf den Logos, den Argumentationsverlauf, und nicht mehr auf seine eigene Meinung. Dies hatte er vorher oft getan, etwa mit Antworten wie „das meine ich“ oder „ich stimme zu“; jetzt konzentrieren sich seine Antworten auf den Verlauf der Argumentation. Er sagt etwa „So verhält es sich“ (367a5: ναί, οὕτως ἔχει ὡς σὺ λέγεις) oder „So wurde gesagt“ (367b7: ναί, ἐλέχθη γέ τοι καὶ τοῦτο) oder auch „So scheint es“ (368a6: φαίνεται οὕτως).⁴⁷

 Aufgrund der Klugheit von Hippias, die im Dialog bisher mehrmals erwähnt wurde, kann man davon ausgehen, dass Hippias hier schon merkt, wie jegliche Analogien auf das gleiche Ergebnis hinauslaufen und sich kein Beispiel finden lässt, bei dem es sich nicht so verhält.  Vgl. auch Haden (1997) 151: „[…] ‚If you wish‘, with perhaps an emphasis on the ‚you‘ to show that he personally is inclined to withdraw from the conversation.“  Vgl. Sprague (1962) 69: „No really new points emerge with the addition of these two new examples [sc. geometry and astronomy], but some of those implied in the previous one come out more clearly.“  Das Antwortverhalten der Gesprächspartner des Sokrates ist m. E. zu Unrecht vielfach unberücksichtigt geblieben, obwohl es gute Hinweise zu deren Stimmung oder Gesprächsbereitschaft gibt; so lohnt es sich, Wechsel im Tenor der Antworten bzw. bewusstes Verwenden oder Nicht-Verwenden von einzelnen Wörtern durch Platon genauer zu beobachten. Dass zum Beispiel Platon auch absolute Zustimmung klar kennzeichnet, belegt das Antwortverhalten der Dialogpartner im Kreislauf-Argument im Phaidon (70c4– 72d10). Dort versichern die Gesprächspartner Sokrates und Kebes ganz konkret ihre Übereinstimmung (ausdrücklich durch ὁμολογεῖν: 71d13; 72a4; a9; a11; d8). Ferner wird oft betont, dass sich die Ergebnisse, die von Sokrates entwickelt werden, zwangsläufig ergeben (insgesamt achtmal durch ἀναγκαῖον bzw. ἀνάγκη) und dass alles hinreichend gesagt sei (insgesamt viermal ἱκανός); vgl. dazu die ausführliche Analyse von Heitsch (2000) 25 – 26. Diese starke Zustimmung kann auch von Platon bewusst eingesetzt werden, um den Leser erkennen zu lassen, ob ein Beweisziel wirklich erreicht ist oder eben nicht (vgl. Heitsch 2000, 38). Berücksichtigt wurde das Antwortverhalten bisher – eher zurückhaltend – bei Haden (1997) 151; die Analyse der Apologie von Vöhler (2013) berücksichtigt das Antwortverhalten des Meletos als Anzeichen für Verunsicherung.  Dies bemerkt auch Haden (1997) 151 mit Bezug zur aufkommenden Verunsicherung des Sophisten: „The conversation began with Socrates curious and Hippias serenely self-confident,

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Nachdem nun der Sophist in einer beiläufig eingeführten und ihm zugeschriebenen Aussage widerlegt wurde und sich vor den Anwesenden gezeigt hat, dass er als Fachmann auch immer potentiell Falschaussagen machen könne, reagiert Hippias wütend. So behauptet er, dass Sokrates Argumente immer so zusammendrehe, wie er wolle, und sich nicht auf die Sache an sich konzentriere. Die zunehmende Verunsicherung wird daran deutlich, dass er sich so schnell wie möglich wieder in das ihm vertraute Gebiet der Rede und Gegenrede zurückziehen und die dialektische Gesprächssituation verlassen möchte.⁴⁸ Seine Verunsicherung offen verbalisieren kann er nicht – im Gegensatz zu Ion. Dies ist angesichts der Tatsache, dass noch andere Personen – potenzielle Schüler – anwesend sind, auch verständlich. Verunsichert und von Sokrates beschämt, zeigt Hippias daher eine wütende Reaktion, um das Gefühl der Verunsicherung und Scham zu überspielen⁴⁹ bzw. sein Gesicht zu wahren. So hat Sokrates mit einer ‚vorbereitenden‘ amplificatio durch Häufung Hippias abgelenkt und ihm eine andere These zugeschrieben. Unter Einbezug dieser neuen These wird dann durch die Verunsicherung ‚erzeugende‘ amplificatio die Irritation bei ihm erhöht und bis zur Wut sowie einem ‚Fluchtversuch‘ gesteigert.

but toward the end of this inquiry the latter’s certainty is shaken, and words like phainetai, ‘so it seems’, begin to occur in his answers (Cf. 367D, 367E).“ (Kursiv im Original). Vgl. auch Heitsch (2000) 22: „Hippias versucht zwar bisweilen, seine von Sokrates erzwungenen Bejahungen einzuschränken durch ein ‚jedenfalls sieht es so aus‘ oder ‚jedenfalls hier‘. Doch der Suggestion, die von der Fülle scheinbar gleich gearteter Fälle ausgeht, vermag er sich nicht zu entziehen.“  Hipp. min. 369b8–c8: „Sokrates, immer verknüpfst du solche Argumente, und aufgreifend, was das am schwierigsten zu durchschauende an einem Argument ist, bleibst du an diesem hängen und erfasst nur in kleinem Maße [das Problem], und nicht stellst du die Sache, um die sich die Rede dreht, als Gesamtes zur Diskussion. Denn auch jetzt, wenn du willst, werde ich dir aus vielen Beweisen mit einer hinreichenden Rede aufzeigen, dass Homer den Achill besser als Odysseus dargestellt hat und nicht als falsch, [Odysseus] aber als listig und vieles erlügend und schlechter als Achill. Wenn du willst, wirf du im Gegenzug gegen die Rede eine Gegenrede ein, dass der andere besser ist. Und die [Anwesenden] hier werden genauer erfahren, wer [von uns beiden] besser spricht.“ (Übers. MH). Vgl. auch Haden (1997) 152: „Socrates needs to be put down to preserve Hippias’ honor.“ Der Wunsch nach dem Wechsel der Kommunikationsform kann als Eingeständnis der Unterlegenheit des Sophisten aufgefasst werden. An dieser Stelle ist durch diesen Versuch des Kommunikationstypenwechsels eine gewisse Hilflosigkeit spürbar.  Schamerzeugende Situationen lösen neben der eigentlichen Scham auch verschiedene andere Gefühle wie Zorn, Hass oder Verzweiflung aus, die Scham überdecken können; zu diesen „Deckaffekten“ vgl. Mertens (1992).

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Die Verwirrung des Euthyphron Die Wiederholung kann auch zur Verwirrung eingesetzt werden, wie eine Partie aus dem Euthyphron belegt. Hier trifft Sokrates auf den selbstbewussten Religionsfachmann Euthyphron. Sie beginnen im Gespräch eine gemeinsame Untersuchung zum Begriff der Frömmigkeit (τὸ ὅσιον). Euthyphron wird am Eingang des Dialogs als Kenner der traditionellen Religion und ihrer Auslegung eingeführt.⁵⁰ Kein anderer als er selbst weist sich als ein solcher Fachmann aus und behauptet genau zu wissen, wie es sich mit dem Frommen und dem Ruchlosen verhalte (5a1– 2); diese Kenntnis macht ihn aus.⁵¹ Es wird am Anfang – wie im Ion – ein asymmetrisches Personenverhältnis entworfen; Sokrates zeichnet sich selbst als Euthyphrons Schüler und diesen als erfahrenen Kenner der Religion, wobei Sokrates wiederholt sein eigenes Nichtwissen hervorhebt.⁵² Euthyphron geht bereitwillig in das Gespräch, um Sokrates über die Frömmigkeit aufzuklären. Nach zwei gescheiterten Definitionen⁵³ definiert nun der Religionsfachmann die Frömmigkeit als „das den Göttern Liebe“ (τὸ θεοφιλές).⁵⁴ In einer ausführlichen, monologischen Passsage zeigt Sokrates auf, dass bei dieser Definition erhebliche Probleme auftreten; denn auch hier habe Euthyphron nicht das Wesen der Frömmigkeit erfasst, sondern nur einen ihm zufällig zukommenden Umstand genannt, nämlich dass mit dem Frommen zufällig zusammenfällt, dass es von den Göttern geliebt werde.

 Anderson (1969) 461 nennt ihn einen „self-appointed expert on matters divine“; für verschiedene, aber im Grundtenor gleiche Charakterisierungen des Euthyphron durch moderne Interpreten siehe Furley (1985) 201– 202 mit Anmerkungen.  Dass das Thema eine hohe Relevanz hat, wird schon in der Eingangspartie deutlich, in der Euthyphron selbst betont, er wäre unnütz, wenn er nicht eben in den göttlichen Dingen kompetent wäre: „Denn ich dürfte wohl zu nichts zu gebrauchen sein, Sokrates, und Euthyphron unterschiede sich ja in Bezug auf nichts von den vielen [anderen] Menschen, wenn ich nicht genau in Bezug auf solche [göttlichen Dinge] Bescheid wüsste“ (4e9 – 5a4; Übers. MH).  Sokrates weist im gesamten Dialog immer wieder explizit auf sein Nichtwissen hin (vgl. Euthyphr. 2c6; 6b3; 16a2).  Die erste Definition wird in Euthyphr. 5c4– 6e2 gegeben: Hier führt Euthyphron sein eigenes Handeln als Exemplum für Frömmigkeit an. In der zweiten Definition von 6e9–a1 wird dann von Euthyphron etwas allgemeiner erklärt, das, was den Göttern lieb sei, sei fromm und das Fromme sei dem Ruchlosen entgegengesetzt. Beide Definitionen zeigen jedoch nur einen Teilaspekt, nicht aber das Wesen der Frömmigkeit als Ganzes auf, wie schnell festgestellt wird.  Bereits diese Definition scheint von Sokrates durch Wiederholung provoziert gewesen zu sein. So verwendet er dicht gedrängt die Wendung „alle Götter“ (9a2: πάντες θεοί; 9b1: πάντες θεοί; 9b9: οἱ θεοὶ ἅπαντες; 9c3: οἱ θεοὶ ἅπαντες; 9d1: θεοὶ ἄδικον καὶ πάντες; 9d2– 3: πάντες οἱ θεοὶ) bis Euthyphron diese als konkreten Gegenstand in seine Definition aufnimmt; dies bemerkte bereits Dalfen (2004) 196.

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Hier finden sich wiederholt die Begriffe ‚lieb‘ und ‚fromm‘. Durch die Amplifikation wird negativ verdeutlicht, dass Euthyphron keine praktikable Definition geboten hat und dass er die Begriffe und deren Zusammenhänge, die eigentlich Gegenstand seines Wissens sein sollten, überhaupt nicht hinreichend durchdacht hat: ἀλλ᾽ εἴ γε ταὐτὸν ἦν, ὦ φίλε Εὐθύφρων, τὸ θεοφιλὲς καὶ τὸ ὅσιον, εἰ μὲν διὰ τὸ ὅσιον εἶναι ἐφιλεῖτο τὸ ὅσιον, καὶ διὰ τὸ θεοφιλὲς εἶναι ἐφιλεῖτο ἂν τὸ θεοφιλές, εἰ δὲ διὰ τὸ φιλεῖσθαι ὑπὸ θεῶν τὸ θεοφιλὲς θεοφιλὲς ἦν, καὶ τὸ ὅσιον ἂν διὰ τὸ φιλεῖσθαι ὅσιον ἦν· νῦν δὲ ὁρᾷς ὅτι ἐναντίως ἔχετον, ὡς παντάπασιν ἑτέρω ὄντε ἀλλήλων. τὸ μὲν γάρ, ὅτι φιλεῖται, ἐστὶν οἷον φιλεῖσθαι· τὸ δ᾽ ὅτι ἐστὶν οἷον φιλεῖσθαι, διὰ τοῦτο φιλεῖται. καὶ κινδυνεύεις, ὦ Εὐθύφρων, ἐρωτώμενος τὸ ὅσιον ὅτι ποτ᾽ ἐστίν, τὴν μὲν οὐσίαν μοι αὐτοῦ οὐ βούλεσθαι δηλῶσαι, πάθος δέ τι περὶ αὐτοῦ λέγειν, ὅτι πέπονθε τοῦτο τὸ ὅσιον, φιλεῖσθαι ὑπὸ πάντων θεῶν· ὅτι δὲ ὄν, οὔπω εἶπες. εἰ οὖν σοι φίλον, μή με ἀποκρύψῃ ἀλλὰ πάλιν εἰπὲ ἐξ ἀρχῆς τί ποτε ὂν τὸ ὅσιον εἴτε φιλεῖται ὑπὸ θεῶν εἴτε ὁτιδὴ πάσχει—οὐ γὰρ περὶ τούτου διοισόμεθα—ἀλλ᾽ εἰπὲ προθύμως τί ἐστιν τό τε ὅσιον καὶ τὸ ἀνόσιον. (Euthyphr. 10e9 – 11b4) Aber wenn, lieber Euthyphron, das vom Gott Geliebte und das Fromme dasselbe wären und wenn das Fromme geliebt wird, weil es das Fromme ist, [dann] muss auch das vom Gott Geliebte geliebt werden, weil es vom Gott geliebt wird; wenn aber, weil es von den Göttern geliebt wird, das vom Gott Geliebte ein vom Gottgeliebtes wäre, [dann] sollte auch das Fromme, weil es geliebt wird, ein Frommes sein. Nun siehst du aber, dass es sich entgegengesetzt verhält, weil beide gänzlich voneinander verschieden sind. Denn das eine ist, weil es geliebt wird, ein zu Liebendes, das andere wird, weil es ein zu Liebendes ist, eben deshalb geliebt. Und du scheinst, Euthyphron, auf die Frage, was das Fromme eigentlich sei, das eigentliche Wesen davon mir nicht klarmachen zu wollen, sondern nur irgendeine Eigenschaft von dem zu nennen, [nämlich] das, was diesem Frommen zukommt, [nämlich] von den Göttern geliebt zu werden. Was es aber ist, sagst du nicht. Wenn es dir nun gefällt, verbirg es mir nicht, sondern sag noch einmal von Anfang an, was eigentlich seiend das Fromme von den Göttern geliebt wird und was es für Eigenschaften hat – denn hierüber wollen wir nicht streiten – sondern sage frei heraus,was das Fromme und nicht Nicht-Fromme ist. (Übers. MH)

Die Frequenz der Wiederholung der Begriffe τὸ θεοφιλές und des Verbums φιλεῖσθαι sowie des Terminus τὸ ὅσιον ist sehr hoch: Sie werden fünf-, zehn- und achtmal wiederholt. Anders als im ersten Beispiel, dem Ion, wird hier nicht an wichtigen Stellen (Anfang, Mitte, Ende) wiederholt, sondern viel extensiver; dies macht einen Unterschied zwischen die Verunsicherung vorbereitenden und diese erzeugenden Wiederholungen und Häufungen aus: Der vorbereitende Einsatz lenkt von einem Aspekt, der später wichtig wird, ab, ohne den Gesprächspartner zu überfordern oder durch eine Fülle von Wiederholungen bereits zum Nachfragen zu bringen; der erzeugende Einsatz bedient sich breiter Wiederholung und Häufung, um die Wirkung zu steigern.

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Die mehrfach genannten Begriffe sind in verschiedenen Figuren der Wiederholung angeordnet: So finden sich hier die innere Verdoppelung (lat. geminatio) (τὸ θεοφιλὲς θεοφιλὲς ἦν), mehrere Klammern (τὸ θεοφιλὲς εἶναι ἐφιλεῖτο ἂν τὸ θεοφιλές; τὸ φιλεῖσθαι … φιλεῖσθαι) und ein Chiasmus (ὅτι φιλεῖται, ἐστὶν οἷον φιλεῖσθαι· τὸ δ᾽ ὅτι ἐστὶν οἷον φιλεῖσθαι, διὰ τοῦτο φιλεῖται). Es ist sicherlich richtig, dass hier die Wiederholung der Begriffe auch dem formalisierten Verfahren der Dialektik geschuldet ist. Jedoch hätte Sokrates, wie er es vorher bereits getan hatte, auch Zwischenschritte einbauen können, in denen er sich versichert, ob Euthyphron ihm folgen kann, und gegebenenfalls eine Verständnisabsicherung durchführen können. Durch die monologische Passage wird dies jedoch nicht gewährleistet. Man könnte hier auch – etwas vorsichtiger – von rhetorisierter Dialektik sprechen. Die dialektische Methode und ihr Verfahren werden rhetorisch genutzt; Dialektik und Rhetorik überlappen sich.⁵⁵ Diese resultiert aus dem im Gespräch immer deutlicher gewordenen Widerstand des Euthyphron; er ist zufrieden mit den Definitionen und will sich nicht recht belehren lassen. Dieses Verhalten rechtfertigt den rhetorischen Mehraufwand des Sokrates. Die Wirkung ist klar abzulesen: Als Sokrates im Anschluss an seine Ausführungen noch betont, dass Euthyphron noch einmal von vorne beginnen sollte (11b2: εἰπὲ ἐξ ἀρχῆς), ist das zu viel für den Religionsfachmann; hier erreicht der Dialogverlauf einen entscheidenden Wendepunkt: War Euthyphron zu Beginn des Dialogs selbstsicher und zuversichtlich – genau wie auch Ion und Hippias in den vorher besprochenen Dialogen –, so kann er nun nicht mehr sagen, was er denkt, und gesteht, dass ihm die Definition immer wieder entrinne, wenn er sie festgestellt zu haben glaubte: ἀλλ᾽, ὦ Σώκρατες, οὐκ ἔχω ἔγωγε ὅπως σοι εἴπω ὃ νοῶ: περιέρχεται γάρ πως ἡμῖν ἀεὶ ὃ ἂν προθώμεθα καὶ οὐκ ἐθέλει μένειν ὅπου ἂν ἱδρυσώμεθα αὐτό. (Euthyphr. 11b3 – 5) Aber Sokrates, ich für meinen Teil (ἔγωγε) weiß nicht, wie ich dir sagen soll, was ich denke: Denn wovon wir auch ausgehen, das entwischt uns immer und will nicht bleiben, wohin wir es gestellt haben. (Übers. MH)

 Dass sich bei Platon viele verschiedene Elemente wie Mythos, Dialektik und Rhetorik überlappen, hat in letzter Zeit Teloh (2008) 59 betont. Eine ähnliche Stelle wie im Euthyphron, in der Sokrates in einer monologischen Passage gehäuft Flexionen von οἶδα verwendet und so den Gesprächspartner verwirrt, findet sich im Tht. 200a11-c4.

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Für das ‚Entwischen‘⁵⁶ der Definitionen macht Euthyphron Sokrates selbst verantwortlich (11d1– 2). Sokrates wiederum erklärt unmissverständlich, dass die Thesen des Euthyphron Ursache für das Ergebnis des Gesprächs sind (11c5: νῦν δὲ σαὶ γὰρ αἱ ὑποθέσεις εἰσίν). Im Vergleich zur Reaktion des Sophisten Hippias ist hier die Verunsicherung deutlicher verbalisiert. Platon addiert demnach nicht einfach verunsicherte Reaktionen, sondern variiert je nach Charakter der Gesprächsteilnehmer und der jeweiligen Dialogsituation (Einzelgespräch; weitere Anwesende).

Abschluss Die hier angeführten Textbeispiele sollen verdeutlichen, wie Platon seinen Sokrates die amplificatio durch Häufung oder Wiederholung von Begriffen, Beispielen oder Motiven als Mittel der Verunsicherung gebrauchen lässt. Es kann bei Sokrates zwischen zwei Typen der amplificatio je nach ihrer Funktion unterschieden werden. So schaffen ‚vorbereitende‘ Techniken ein asymmetrisches Personenverhältnis und motivieren den Dialogpartner überhaupt zur Gesprächsbereitschaft (dies ist im Ion der Fall). Oder sie können wichtige Prämissen oder Vorstellungen im gemeinsamen Dialogwissen verankern, die nachträglich eine Verunsicherung herbeiführen (Ion, Hippias minor). Die erste Funktion kann von der zweiten, der Verunsicherung ‚erzeugenden‘, deutlich abgegrenzt werden. Denn hierbei dienen die Häufungen und Wiederholungen zur negativen Steigerung der affektiven Irritation (Hippias minor, Euthyphron). Insgesamt zeigt sich, dass die amplificatio durch Häufung und Wiederholung eine zentrale Rolle in der verunsichernden Rhetorik des Sokrates einnimmt und ein hohes Potenzial zur Verunsicherung der Gesprächspartner enthält.⁵⁷

 Ein ähnliches Motiv der entfliehenden Definition verwendet der Feldherr Laches im gleichnamigen Dialog, der in Bezug auf seine Definitionen der Tapferkeit sagt: „Es scheint mir nämlich, dass ich in Bezug auf die Tapferkeit einen Gedanken habe, was sie ist; ich weiß aber nicht, wie sie mir jetzt gerade entflohen ist, so dass ich sie nicht durch einen Begriff erfassen und sagen [konnte], was sie ist.“ (Lach. 194b1– 4). Zum Motiv des sich bewegenden Logos als Anzeichen für Verunsicherung siehe Pender (1999); dort wird auch die Stelle aus dem Euthyphron angeführt und als Marker für „confusion“ interpretiert (vgl. ebd. 91).  Den hier exemplarisch besprochenen Stellen können noch weitere hinzugefügt werden, in denen Sokrates Wiederholungen und Häufungen zur Vorbereitung sowie zur Erzeugung von Verunsicherung einsetzt: Etwa vorbereitend im Protagoras durch Häufung von Beispielen (312a– e) oder auch im Laches (198d–199a); vgl. dazu Boder (1973) 51.

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Lehre und Gespräch Zur Aktualität der sokratischen Dialoge für die Lehrerausbildung¹ Abstract Advancing from the current debate on the requirements for professional discussion competence on the part of teachers, the present paper undertakes a focused reading of the Socratic method from the perspective of professionally relevant communication analysis. An attempt will be made to identify some reasons for the incomplete and one-sided reading of the Socratic method commonly found in teacher training and education science. Finally, a plea is presented for a cool-headed consideration of the structural demands of discussion-based teaching in theory and practice in the light of Socratic dialogue.

Einleitung Der sokratische Dialog diente den Bildungswissenschaften und Didaktiken immer wieder als Leitbild eines schülerorientierten Lehrgesprächs.² Dies gilt auch für die aktuelle Diskussion um eine zeitgemäße Methodik des Unterrichtsgesprächs, in der Forderungen nach selbst entdeckendem Lernen, ganz allgemein nach „offenen Formen“ und damit nach einer Abkehr vom traditionellen Frontalunterricht dominieren. Aber nicht in allen Punkten erweist sich das antike Vorbild als anschlussfähig. Der sokratische Dialog zeigt bei näherem Hinsehen viele Eigenschaften, die aus heutiger Sicht sehr problematisch sind. Dazu zählt die klare Lehrerzentrierung, die konstitutive Asymmetrie in der Lehrer-Schüler-Beziehung,³ aber auch ein klares Bekenntnis zur Verunsicherung der Schüler als erwartbarer oder gar notwendiger Bestandteil des Lehrgesprächs.

 Dieser Artikel wurde angeregt durch die fachübergreifenden Diskussionen in mehreren Workshops zur „Rhetorik der Verunsicherung“, die im Rahmen des Exzellenzclusters „Languages of Emotion“ 2011– 2013 an der FU Berlin stattfanden. Eine frühere Version wurde im Kolloquium „Bildungsforschung made in Bielefeld“ vorgestellt.  Als ein aktuelles Beispiel unter vielen mag der „sokratische Eid“ der Laborschule (Bielefeld) dienen (vgl.: http://www.uni-bielefeld.de/LS/laborschule_neu/dieschule_hentig_eid.html). Viele Gesprächszirkel, auch im Kontext der Lehrerausbildung, berufen sich auf die Sokratik als Vorbild.  Vgl. Szlezák (1988).

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Im Folgenden betrachte ich den sokratischen Dialog und seine Rezeption in den einschlägigen Foren aus dem Blickwinkel der Lehrerausbildung. In meiner Argumentation konzentriere ich mich auf einige wichtige Fragen, die im Zusammenhang mit der Entwicklung von professioneller Gesprächs(führungs)kompetenz bei jungen Lehrerinnen und Lehrern relevant werden. Dazu gehört die Bearbeitung der Interaktionsparadoxien im Unterrichtsgespräch, die notwendige Integration von Wissen und Können bei der Ausbildung professioneller Gesprächskompetenz und die systematische Ausbildung subjektiver Theorien als Ergebnis der Bearbeitung von wiederkehrenden praktischen Problemen im Unterrichtsalltag. Aus den geschilderten Fragen und Problemen ergibt sich eine gezielte interessengeleitete Lektüre der sokratischen Methode aus kommunikationsanalytischer und professionsbezogener Perspektive und, davon abgeleitet, ein Plädoyer für eine kritische ganzheitliche Rezeption des antiken Vorbildes in den lehrerausbildenden Disziplinen. Ich werde dafür argumentieren, dass die Methodisierung des Lehrgesprächs, das Platon in seinen sokratischen Dialogen entwickelt, inszeniert und reflexiv bearbeitet, nach wie vor vorbildlich und inspirierend sein kann für eine unaufgeregte und analytische Betrachtung der strukturellen Anforderungen, die jeder Lehrer im Unterrichtsgespräch bearbeiten muss und die besonders in der Ausbildung junger Lehrer offen zu Tage treten, wenn es – anders als in der Routine des Berufsalltags – darum geht, methodische Entscheidungen zu reflektieren und zu begründen.

Professionelle Gesprächsführungskompetenz: Anforderungen an die Lehrerausbildung Das Unterrichtsgespräch als Medium, Methode und Gegenstand Wenn man von Sonderfällen wie E-Learning, Fern- oder Eigenstudium absieht, dann wird Unterricht im Allgemeinen interaktiv oder gesprächsförmig zwischen einer Lehrperson und einer Gruppe von Schülerinnen und Schülern organisiert. In der mündlichen Interaktion zwischen Lehrern und Schülern werden Arbeitsbündnisse ausgehandelt und etabliert, es werden Themen und Probleme („Stoffe“) verhandelt und es gibt Phasen, in denen die Unterrichtskommunikation als solche thematisch wird. Gesprächsförmigkeit und die Fähigkeit zu dieser besonderen Gesprächsförmigkeit im institutionellen Kontext sind Voraussetzungen für die methodische interaktive Konstruktion von Unterricht. Gesprächskompetenz in

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einer spezifischen, näher zu begründenden Ausprägung gehört daher zum Kern der Lehrerausbildung oder sollte dazu gehören. Die Gesprächsförmigkeit von Unterricht erscheint im folgenden Zitat von Fienemann und von Kügelgen als zweifache Anforderung an zukünftige Lehrer. Zum einen wird die methodisch-didaktische Unhintergehbarkeit einer „diskursiven Konstituiertheit“ von Unterricht festgestellt, zum anderen zielen die Autoren auf die ebenso zentrale Notwendigkeit einer unmittelbar an der Praxis ansetzenden „diskursiven Reflexion“: „Wenn Lernen bedeutet, etwas zu verstehen, was man zuvor nicht verstanden hat, dann kommt der aktiven Konfrontation mit dem Unwissen eine zentrale Rolle im Lernprozess zu. Fasst man das Verstehen in diesem Sinne als Problemlösungsprozess (Ehlich & Rehbein 1986) auf, so rückt seine diskursive Konstituiertheit ins Zentrum der Didaktik. Erfolgreiches Lehren und Lernen verlangt die Meisterung des Lehr-Lern-Diskurses. Dies bedeutet v. a., dass die Lehrenden die Fähigkeit entwickeln, parallel zur Anleitung der Erarbeitung des Sachverhalts eine In-actu-Analyse des gerade ablaufenden Lernprozesses zu entwickeln. Diese Inactu-Analyse, die man auch als ein gemeinsames, wenn auch vom Lehrer geleitetes, diskursives Reflektieren des Lehr-Lern-Prozesses bezeichnen kann, stellt unserer Überzeugung und Erfahrung nach den Dreh- und Angelpunkt des Lehrerberufs dar.“⁴

Zum Konzept des „fragend-entwickelnden Unterrichtsgesprächs“ Zur terminologischen Klärung des alltagsweltlichen Konzepts „Unterrichtsgespräch“ oder „fragend-entwickelndes Unterrichtsgespräch“ unterscheide ich drei Ebenen. Das Unterrichtsgespräch ist Medium (1) und Methode (2) von Unterricht und es kann zugleich Gegenstand (3) der Unterrichtskommunikation und anschließender Reflexionen (z. B. im Lehrerseminar) sein. Als Medium, Methode und Gegenstand gerät das Unterrichtsgespräch unterschiedlich intensiv und unterschiedlich konturiert in den Blick der jeweiligen Akteure. Während das Unterrichtsgespräch für die Teilnehmer auf der medialen Ebene nur praktisch, also in Kontinuität zum Erlebnisstrom reflektierbar ist, kann es auf der methodischen und auf der gegenständlichen Ebene auch einer handlungsentlasteten Analyse unterzogen werden.⁵ Die Übergänge zwischen den einzelnen Ebenen und den entsprechenden Reflexionsmöglichkeiten sind offensichtlich nicht fließend, obwohl dies durch die Logik der Ausbildung, in der auf die Theorie häufig die Praxis oder

 Fienemann u. von Kügelgen (2003) 139 f.  Zur Logik praktischer und handlungsentlasteter Reflexionsformen in authentischer Kommunikation vgl. Paul (1999).

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auf die Praxis häufig die Theorie folgt, in der Wahrnehmung der Akteure zum Teil nahe gelegt wird. Dies gehört zu den größten Herausforderungen der Ausbildung professioneller Gesprächskompetenz im Allgemeinen und von Unterrichtskompetenz im Besonderen (s. u.). Ad (1): Das Unterrichtsgespräch fungiert als Medium, d. h., wie jedes andere Kommunikationsereignis ist Unterricht ein soziales Geschehen, das von Schülern und Lehrern fortlaufend konstruiert wird. Als Medium von Unterricht entspricht das Unterrichtsgespräch anderen Textsorten und kann wie diese einer konstitutionslogischen Analyse unterzogen werden, bei der das notwendige (implizite) Handlungswissen der Teilnehmer rekonstruierbar wird. Vorbilder für dieses Verfahren liefern die Konversationsanalyse,⁶ aber auch systemtheoretische Ansätze.⁷ Ad (2): Das Unterrichtsgespräch wird dem Anspruch nach methodisch hervorgebracht, nicht zuletzt deshalb, weil ein Teil der Akteure ihrer professionellen Rolle und ihrem gesellschaftlichen Auftrag entsprechend zur Gestaltung des Unterrichtsgesprächs ausgebildet und geschult werden. Es gibt prominente bereichsspezifische Formen des Fragens, der Impulsgebung und der Steuerung des Lehr-Lern-Gesprächs. Das Unterrichtsgespräch unterliegt daher als professionsspezifische Methode, insbesondere in der Form des institutionell überformten Lehr-Lern-Gesprächs, spezifischen Gestaltungs- und Begründungserwartungen.⁸ Hier setzt daher in der Regel die Ausbildung von zukünftigen Lehrerinnen und Lehrern an. Zentrale Phasen der Lehrerausbildung wie das Praxissemester oder das Referendariat erhalten ihre Legitimation dadurch, dass das Wissen und Können, welches den methodischen Verfahren des Unterrichtsgesprächs zugrunde liegt, reflektierbar und explizierbar ist oder doch ganz allgemein dafür gehalten wird. Die Geschichte der Methodisierung des Unterrichtsgesprächs im Sinne des vertrauten „fragend entwickelnden Unterrichtsgesprächs“ beginnt in unserem Kulturkreis⁹ mit den sokratischen Dialogen. Ad (3): Das Unterrichtsgespräch kann innerhalb und außerhalb des eigentlichen Kommunikationsereignisses, also in Kontinuität und Diskontinuität zum Erfahrungsstrom der Teilnehmer thematisiert werden: Schüler und Lehrer (wie auch Seminarleiter, Referendare und Gesprächsanalytiker) reflektieren das Unterrichtsgespräch, machen es zum Gegenstand ihrer Überlegungen und nutzen

 Zuletzt Schmitt (2012).  Vgl. Hausendorf (2008).  Vgl. Ehlich (1981).  Ein interkultureller Vergleich zwischen vergleichbaren Redekonstellationen wäre durchaus interessant: Konfuzius, ein Zeitgenosse von Platon, methodisiert das Lehr-Lern-Gespräch in entscheidenden Punkten (Schülerorientierung, Frageformat und –offenheit) komplementär zu den sokratischen Dialogen. Ich danke den Studierenden in Nanjing für diesen Hinweis.

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ihre Reflexionsprodukte für weitere Planungen. Beispiele für diese dritte Ebene des Unterrichtsgesprächs sind metakommunikative Passagen im Unterricht, die Behandlung von Kommunikationsmodellen im Deutschunterricht, aber auch die handlungsentlastete Auseinandersetzung mit Fragen des Unterrichtsgesprächs außerhalb des eigentlichen Lehr-Lern-Gesprächs.

Gesprächs(führungs)kompetenz In Abgrenzung zu anderen erlernbaren Fähigkeiten wie Fahrradfahren oder Schwimmen handelt es sich bei der Fähigkeit, ein Gespräch zu führen – ähnlich wie bei künstlerischen Fähigkeiten –, um eine komplexe, mehrdimensionale Kompetenz. Gesprächskompetenz als Voraussetzung für eine durch eine bereichsspezifische Schulung erworbene Gesprächsführungskompetenz umfasst nach Fiehler und Schmitt folgende Teilkompetenzen:¹⁰ die Fähigkeit zur Situations- und Partnereinschätzung, die Fähigkeit, die eigenen Absichten in Relation zu den vermuteten Zielen des Gesprächspartners zu setzen, die Fähigkeit zur Planung und Realisierung gesprächsrhetorisch angemessener Äußerungen durch den Einsatz entsprechender sprachlich-kommunikativer Mittel, die Fähigkeit, die Äußerungen des Gesprächspartners auf verschiedenen Ebenen zu verstehen sowie die Fähigkeit zu einem permanenten Monitoring des laufenden Gesprächsprozesses. Kompetente oder professionelle Teilnehmer üben diese Fähigkeit bzw. diese Fähigkeiten in Abhängigkeit und in laufender Anpassung an wechselnde Kontexte aus, sie können sich auf unterschiedliche Personen einstellen und sie „wissen“ mit emergenten Problemen sicher umzugehen. Die Anführungsstriche im letzten Satz verweisen darauf, dass das zu erwerbende Wissen und Können weitgehend implizit, „träge“ und schwer kommunizierbar ist.¹¹ Die Fähigkeit, ein Gespräch zu führen, entsteht bzw. wächst folglich nicht linear, sondern durch die erfahrungsgesättigte Routinisierung von Gesprächstechniken und durch die reflexive Rückkopplung des jeweiligen Könnens an bewusstseinsfähige Modellierungen der situationsspezifischen Herausforderungen.

 Fiehler u. Schmitt (2004).  Zum Wissen und Können aus professionalisierungstheoretischer Sicht s. u.

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Interaktionsparadoxien Die größte Herausforderung bei der Etablierung und Prozessierung eines Unterrichtsgesprächs liegt neben der fachlichen Vorbereitung und einer sorgfältigen zielgruppenspezifischen didaktischen Analyse in der Bearbeitung von regelmäßig auftretenden strukturellen Widersprüchen der institutionellen Lehr-Lern-Interaktion. Professionalisierungsforscher sprechen mit Bezug auf die Lehrerrolle auch von kontextspezifischen „Handlungsdilemmata“,¹² pädagogisch professionellen Antinomien¹³ oder von besonderen Interaktionsparadoxien.¹⁴ Professionelles Lehrerhandeln zeichnet sich demzufolge dadurch aus, neben der Bewältigung aller anderen Aufgaben, insbesondere die strukturellen Widersprüche des Unterrichtsgesprächs analytisch zu erfassen und sie im praktischen Handeln nicht einseitig aufzulösen. Die besondere Herausforderung für angehende Lehrerinnen und Lehrer besteht in diesem Problemfeld in der Ausbildung einer ausbalancierenden und reflektierenden Grundhaltung, die sich unter Handlungsdruck bewährt: „Man könnte also die umsichtige, situationsflexible Vermittlung von grundlegenden Unvereinbarkeiten ‚hier und jetzt‘ (…) als einen wesentlichen Aspekt der grundlegenden Logik der Paradoxien professionellen Handelns bezeichnen, die für jegliche professionelle Arbeit in gleicher Weise gilt.“¹⁵

In seiner Kurzdarstellung der pädagogisch-professionellen Antinomien unterscheidet Helsper fünf Ebenen,¹⁶ von denen in unserem Zusammenhang, in dem es um Formen der Methodisierung des Unterrichtsgesprächs geht, vor allem die vierte Ebene, nämlich die der konkreten Handlungsdilemmata, interessiert. Bei der Darstellung der konkreten Anforderungen für die Gestaltung des Unterrichtsgesprächs folge ich Schütze,¹⁷ der drei Interaktionsparadoxien unterscheidet: die Praxisantinomie (1), die Ungewissheitsantinomie (2) und die Symmetrie- bzw. Machtantinomie (3). Später versuche ich zu zeigen, dass die platonische Methodisierung des Lehr-Lern-Gesprächs aus der Sicht der jungen Lehrerinnen und Lehrer durchaus fruchtbar auf die in den Interaktionsparadoxien pointierten strukturellen Herausforderungen des Unterrichtsgesprächs bezogen

     

Helsper (1996) 528 in Anlehnung an Watzlawick u. a. (1967). Helsper u. a. (2000). Schütze (1992) 152 ff. Schütze u. a. (1996) 334. Helsper (2000) 37. Schütze (1992).

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werden kann, obwohl sie zugestandenermaßen unter ganz anderen Prämissen vorgenommen wurde (s. u. Abschnitt 5). Ad (1) „Praxisantinomie“: Akademisches und praktisches Wissen werden in der Lehrerausbildung nicht selten in einem Abhängigkeits- oder Folgeverhältnis wahrgenommen: Zuerst kommt die akademische, theoretische Ausbildung, dann folgt der praktische Teil als Anwendung des Gelernten – und umgekehrt. Diese Vorstellung wird aber der Qualität des praktischen und methodischen Wissens nicht gerecht, weil es anders entsteht, anders eingesetzt wird und anders reflektierbar ist als das akademische. Theoretisches Wissen ist unter Handlungsdruck nicht mechanisch abrufbar, es bedarf einer kontextsensitiven Vermittlung mit dem praktischen Können und erfahrungsnahen Formen des Wissens. Die Praxisantinomie bzw. das Theorie-Praxis-Problem wird in der Lehrerausbildung seit langem intensiv diskutiert. Eine intelligente Antwort scheint die programmatische Integration von Theorie und Praxis im Leitbild des Reflektierenden Praktikers zu sein.¹⁸ Ad (2) „Ungewissheitsantinomie“: Diese Interaktionsparadoxie hat eine gesprächsethische und eine pädagogische Dimension. Der Lehrende soll sich seiner Methode sicher sein, denn er muss den Erfolg seines professionellen Handelns begründen und antizipieren können – dafür gibt es in der Lehrerausbildung die methodische Reflexion, die Erarbeitung von Erwartungshorizonten usw.; andererseits haben wir es in der Schule mit menschlichen Individuen zu tun, die naturgemäß auch völlig unerwartete Reaktionen zeigen können. Schüler sind mit einem Ausdruck des Bielefelder Soziologen Niklas Luhmann keine „Trivialmaschinen“.¹⁹ Ihr Handeln lässt sich ebenso wenig wie das anderer Menschen mechanisch steuern. Die Ungewissheitsantinomie enthält – ganz im Sinne der sokratischen Dialoge – auch eine pädagogische Dimension: Lernen bedeutet, sich von lieb gewordenen Gewissheiten zu trennen. Bei Helsper heißt es dazu: „(die Lehrenden) müssen also (bei den Schülern) Destabilisierungen initiieren, denn die Krise der kognitiven und psychischen Struktur impliziert ja nichts anderes, als den Ver-

 Im Kern geht es um die Frage, wie und ob angehende Lehrerinnen und Lehrer angesichts der relativen Autonomie der Lernorte Schule und Hochschule bereits in der ersten Phase der Ausbildung „praktische Erfahrungen“ machen sollen. Gegenwärtig schlägt das bildungspolitische Pendel in Richtung auf eine stärkere Integration praktischer und analytischer Anteile in der Lehrerausbildung aus. In vielen Bundesländern wird in der Masterphase der Lehrerausbildung ein so genanntes „Praxissemester“ eingerichtet. Dieses wird seinen Zweck m. E. nur dann erfüllen können, wenn die Studierenden dem Lernort Schule im Modus des „forschenden Lernens“ begegnen, wenn sie also in die Lage versetzt werden, theoretisches Fragen und praktisches Handeln konstruktiv zu integrieren.  Vgl. Luhmann (1985) 81.

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lust vorhergehender Gewissheiten und Sicherheiten. Gleichzeitig gibt es keine Gewissheit, diese produktive Öffnung zu erreichen – alle Didaktiken, Kenntnisse, Fähigkeiten, Methoden und Routinen im Handlungsrepertoire von LehrerInnen können hier keine Sicherheit garantieren“.²⁰

Die Destabilisierung von vorgefertigten Meinungen, subjektiven Theorien und Vorurteilen und die damit einhergehenden Irritationen und Verunsicherungen der Lernenden sind also notwendige Bestandteile des Lehrgesprächs, aber sie sind aufgrund der Personengebundenheit und der Offenheit von Lernprozessen per se nicht kontrollierbar und vorhersagbar. Gesprächsethisch gefasst: Je stärker die gesprächsförmigen Anteile des Lehrgesprächs sind, desto geringer die methodische Kontrolle eines einzelnen Teilnehmers über den Verlauf des Gesprächs (s. u. zum Verhältnis von Lehre und Gespräch). Ad (3) „Symmetrie- bzw. Machtantinomie“: Der praktische Widerspruch, der mit dieser Antinomie angesprochen ist, besteht darin, dass Lehrende den Lernenden faktisch überlegen sind, der Lernerfolg in der Interaktion mit dem Schüler aber zugleich von der Konstruktion symmetrischer Verhältnisse abhängt. Auf die Spitze getrieben könnte man sagen: Ein Lehrer ist immer dann erfolgreich gewesen, wenn er sich (in der Beziehung zum Schüler) überflüssig gemacht hat. Eine weniger paradoxe und daher aussichtsreichere Strategie besteht darin, die Überlegenheit des Lehrers nicht zu leugnen, sie aber in der Interaktion ironisch²¹ zu relativieren und ggf. zu thematisieren.

Integration von Wissen und Können: Der Reflektierende Praktiker Die professionelle Gesprächskompetenz von jungen und erfahrenen Lehrern speist sich aus verschiedenen, z. T. auch heterogenen Quellen. In der prototypischen professionellen Reflexionsbiografie werden die eigene praktische Interaktionserfahrung, die situationsgebundene Reflexion von Unterricht und nicht zuletzt die theoretische Reflexion in Seminaren und vergleichbare Formen der handlungsentlasteten Reflexion integriert und sedimentiert. Die Komplexität des erforderlichen Wissens und Könnens resultiert also – neben den allgemeinen Anforderungen (s. o. Gesprächsführungskompetenz) und den bereichsspezifischen Herausforderungen (s. o. Interaktionsparadoxien) aus der Integration von

 Helsper (2000) 39.  „Ironisch“ im Sinne einer bewussten Gleichstellung von Lehrer und Schüler, nicht im Sinne von versteckter Kritik o. ä. (vgl. Loch 1962).

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Formen des Reflektierens, die nicht ohne weiteres miteinander kompatibel und anschlussfähig sind. Der Sprachphilosoph Ryle, auf den die berühmte Unterscheidung von „knowing how“ und „knowing that“ zurückgeht, wehrt sich in einem Artikel von 1946 gegen die weit verbreitete Annahme, dass Intelligenz eine Eigenschaft des handelnden Menschen sei, die vom eigentlichen Handlungsvollzug abgelöst werden könnte. Die philosophische Denktradition ist – nach Ryle – „intellektualistisch“ geprägt, sie habe sich zu stark auf die Fähigkeit, etwas zu wissen, fokussiert. Das Können („knowing how“) in seiner komplexen Beziehung zum Wissen sei dagegen zu Unrecht auf der Strecke geblieben: „Philosophers have not done justice to the distinction which is quite familiar to all of us between knowing that something is the case and knowing how to do things. In their theories of knowledge they concentrate on the discovery of truths or facts, and they either ignore the discovery of ways and methods of doing things or else they try to reduce it to the discovery of facts. They assume that intelligence equates with the contemplation of propositions and is exhausted in this contemplation.“²²

Dagegen hält Ryle die Beobachtung, dass man jemandem genau erklären kann, wie ein (Sprach‐)Spiel zu spielen ist (einschließlich aller Tricks), ohne dass der Betreffende deswegen schon in der Lage wäre, das Spiel auch wirklich zu spielen. Übertragen auf das analytische Verständnis und die Fähigkeit, ein Unterrichtsgespräch erfolgreich zu prozessieren, gilt, dass viele Aspekte des notwendigen Wissens und Könnens kaum jemals bewusst reflektiert werden, sondern dass die Teilnehmer sich die entsprechenden Kompetenzen erfahrungsnah im Abgleich mit bereits vorhandenem, von Lehrergeneration zu Lehrergeneration tradiertem Wissen aneignen. Der geheime Lehrplan der Lehrerausbildung ist dabei durchaus praktikabel und funktional, weil auf diese Weise eine relative Stabilität und Kontinuität der Unterrichtskultur gewährleistet ist.²³ Um aber den Herausforderungen, wie sie durch die bereichsspezifischen Interaktionsparadoxien umschrieben wurden, gerecht werden zu können, müssen die Novizen so weit wie möglich in die Lage versetzt werden, ihr eigenes Handeln zu beschreiben, zu verstehen und damit

 Ryle (1946) 215.  Petrat (1996) weist am Beispiel der Lehrerfrage die relative Stabilität des einschlägigen prozeduralen Wissens nach. Petrats Untersuchung legt nahe, dass es in diesem Bereich der Gesprächskompetenz eine Kontinuität auch ohne bewusste Fortschreibung eines operationalisierten Wissens gegeben hat. Die Traditionslinien des professionellen Wissens folgen demnach weder einer blinden Mechanik noch unterliegen sie zwischen den Generationen einer permanenten kritischen Reflexion. Petrat zieht den Vergleich zur Sprachgeschichte und spricht mit Keller (1990) von einem „Phänomen der dritten Art“.

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auch sinnvoll gegenüber sich, den Kollegen und den Schülern begründen zu können. Dafür ist es aus professionstheoretischer Sicht wichtig, dass die Lehramtsanwärter befähigt werden, an einer Gesprächskultur über Unterricht kompetent teilzunehmen, ohne reflexartig subjektive Theorien zu reproduzieren oder das eigene Verhalten im Sinne eines normativen Verständnisses der Lehrerrolle zu rationalisieren. Schoen greift in seiner viel zitierten Schrift „Educating the Reflective Practitioner“ die in der Sprachwissenschaft inzwischen geläufige Unterscheidung zwischen „knowing that“ (entspricht deklarativem, explizierbarem Wissen) und „knowing how“ (entspricht implizitem, handlungsleitendem Wissen) auf.²⁴ Dies vor allem deshalb, weil er deutlich machen will, dass es unterschiedliche Zugangsweisen zum Wissen und Können des Praktikers gibt. Im Hinblick auf die professionstheoretisch und lerntheoretisch entscheidende Rückkopplung von Theorie und Praxis kommt es nach Schoen darauf an, ob man sein Wissen in einer Handlung offenbart, ob man es in der Reflexion über diese Handlung offenbart oder ob man durch die Reflexion zu einer neuen Grundlage für sein Handeln kommt. In der Folge unterscheidet Schoen zwei Formen der Reflexion von professionellen Handlungen: reflection in action und reflection on action. Ob man das Handeln unterbricht, um zu reflektieren oder ob man erst im Anschluss an eine abgeschlossene Handlung reflektiert, macht für Schoen keinen prinzipiellen Unterschied im Vergleich zum Reflektieren einer Handlung im Vollzug, „in action“ oder „online“. Die Herausforderung für den professionellen Lehrer besteht darin, theoretische (handlungsentlastete) und praktische erfahrungsnahe Reflexion des Unterrichtsgeschehens im Vollzug zu integrieren. Dafür steht das Konzept des Reflektierenden Praktikers. Ganz neu ist dieser Gedanke nicht. Hermann Nohl fand für die paradox anmutende Integration von Theorie und Praxis in Gestalt des Reflektierenden Praktikers das Bild vom „klugen Gefühl“ des professionell Handelnden. Im folgenden Zitat finden wir eine Umschreibung für das, was wir oben als Praxisantinomie und als Ungewissheitsantinomie beschrieben haben: „Der Takt steht zwischen Theorie und Praxis als das entscheidende Mittelglied, als das kluge Gefühl für das Richtige des Augenblicks, für die fremde Lebendigkeit und das ihr gemäße. Er transformiert die erzieherischen Absichten unter dem Eindruck der Persönlichkeit des Kindes, seines augenblicklichen Zustandes mit allen Unwägbarkeiten, und ist der eigentliche Ort der Produktivität des Erziehers. Der gute Erzieher weiß, ohne viel zu überlegen, was zu tun ist und wie es zu tun ist.“²⁵

 Schoen (1987). Schoen bezieht sich direkt auf Ryle. Zu den Eigenschaften des impliziten Wissens vgl. aber auch Polanyi (1985).  Nohl (1967) 84.

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Der pädagogische „Takt“ ist eine Kategorie mit langer Tradition,²⁶ in der gleich mehrere wichtige Dimensionen des Lehrerhandelns zusammengefasst sind, die sich wiederum auf die oben skizzierten Interaktionsparadoxien abbilden lassen: die Beziehungsdimension zwischen Lehrer und Schüler (Höflichkeit, Distanz und Nähe; vgl. auch die Machtantinomie), die zeitliche Dimension (Sequenzierung und Prozessierung des Unterrichtsgesprächs; vgl. auch die Praxisantinomie) und die notwendige Balance als Herausforderung des Lehrerhandelns (vgl. die Ungewissheitsantinomie).

Lehre und Gespräch: Zur Ambivalenz der sokratischen Dialoge Merkmale des sokratischen Dialogs/der sokratischen Dialogführung Obwohl Platon die Vorzüge des authentischen Lehrgesprächs von Angesicht zu Angesicht sehr deutlich hervorgehoben hat²⁷ und obwohl er die sokratischen Dialoge vermutlich auch deshalb kontextsensibel und personenbezogen angelegt und entwickelt hat, wird man ihnen nur gerecht, wenn man sie als literarische, medial schriftliche und trialogisch komponierte Texte behandelt. Bei der Lektüre der sokratischen Dialoge müssen in grober analytischer Trennung zwei Ebenen unterschieden werden: Autor/Platon – Leser; Lehrer/Sokrates – Schüler. Die Trialogizität²⁸ der Kommunikationssituation impliziert mithin eine Doppelung und Verschachtelung der Lehr-Lern-Situation. Dabei ist die eigentliche Lehr-Lern-Interaktion, die bei einer immanenten Lektüre der Dialoge im Vordergrund stehen kann, logisch von der Kommunikation zwischen Autor und Leser abhängig: Wenn Sokrates mit einem Schüler spricht, muss der Leser – dies gilt in besonderem Maße für methodenreflexive und metakommunikative Passagen – als gemeinter Adressat Platons mitgedacht werden, wobei im Einzelfall nicht zu entscheiden ist, ob eine metakommunikative Äußerung lediglich dem Fortgang der Binnenkom Zurückgehend u. a. auf den Pädagogen Johann Friedrich Herbart (1776 – 1841).  Die Skepsis am geschriebenen Text begründet Platon vor allem mit der Unkontrollierbarkeit der Rezeptionssituation. Anders als ein Sämann, der genau weiß, auf welchem Boden und zu welcher Zeit er die Saat ausbringen kann, kennt der Autor seinen Leser nicht. Dem Leser wiederum erscheint das Buch zwar lebendig wie ein Bild, aber der geschriebene Text kann, anders als der Gesprächspartner, keine Fragen stellen und nicht auf Fragen eingehen (vgl. Phaidr. 275c5 – 277a6).  Vgl. Dieckmann (1981).

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munikation dienen soll oder ob sie für die Explikation des Verfahrens gegenüber dem Leser notwendig ist.²⁹ Die Komplexität der Textkomposition möchte ich für meine Fragestellung im Überblick so darstellen: 1. Rahmung und Trialogizität – medial schriftlich – Mehrfachadressierung – Wechsel von Erzählung und Gespräch – Spiel mit den historischen Figuren 2. Das eigentliche Lehrgespräch – Situierung, konkrete (historische) Personen – Individualität und Adressatenspezifik des Vorgehens – Rollenverteilung: Asymmetrie und Ungleichheit – Methodisches Vorgehen: keine positive Lehre, sondern kunstfertiges Fragen – Hebammenbild, Merkmale der Maieutik: Schwangerschaft, Misslingen (Fehlgeburt) nicht ausgeschlossen – Lernen als erfahrungsbezogener schmerzhafter Prozess: Irritation und Verunsicherung des Schülers als Regelfall 3. Methodenreflexivität und transparenter Umgang mit gesprächsethischen und pädagogischen Fragen – Explikation des Verfahrens – Metakommunikation – methodische Kommentare – Ironie (ironische Gleichstellung, Rollendistanz) – Kontrastierung: Inszenierung von abweichenden Positionen

Mögliche Gründe für die Konjunkturen des sokratischen Dialogs in den Bildungswissenschaften und Didaktiken Die sokratische Methode wird häufig und geradezu erwartbar als historisch autorisiertes Leitbild angeführt, wenn es um die Begründung eines schülerorientierten Vorgehens geht.³⁰ Es ist jedoch ratsam, bei der Rezeption der sokratischen

 Als ein Beispiel unter vielen kann eine kurze Passage im Thrasymachos-Dialog in rep. Buch 1 gelten, in der Sokrates sich mit Glaukon über das weitere Verfahren abspricht (vgl. rep. 347a7– 348b7).  Zu den Konjunkturen des von der Sokratik inspirierten Unterrichtsgesprächs gehören die Zeit der Aufklärung, die Reformpädagogik in verschiedenen Ausprägungen (Otto, Gaudig, Nelson)

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Methode zwischen bildungspolitischen, dem jeweiligen Zeitgeist verpflichteten Konzeptualisierungen des Lehr-Lern-Gesprächs einerseits und dem literarischen Sokrates (Platon) andererseits zu unterscheiden. In einer geistreichen Formulierung brachte der Neosokratiker Nelson den Sachverhalt so auf den Punkt: Viele Anhänger der sokratischen Methode fanden bei ihrer Beschäftigung mit der sokratischen Methode die sokratische Methode nicht,³¹ weil sich nämlich ihre Vorstellung gegenüber den historischen Texten verselbstständigt hatte. Viele Eigenschaften des sokratischen Dialogs harmonieren mit einer aufgeklärten Pädagogik bzw. mit einer Pädagogik im Dienste der Aufklärung. Loch hebt in diesem Zusammenhang folgende Merkmale des sokratischen Dialogs hervor: Abkehr vom Typus des (pedantischen) Schulmeisters (kein Eintrichtern, kein Abfragen); Einsicht in die Gesprächsförmigkeit von Erkenntnisprozessen und konsequente Umsetzung dieser Gesprächsförmigkeit (Mündlichkeit und Partnerorientierung als Voraussetzung von Lernprozessen); Integration von Methode und Lernziel (Vernunft als Ziel muss in einer vernünftigen Methode begründet sein); ironische Gleichstellung von Lehrer und Schüler.³² Zu ergänzen wäre, dass sich das sokratische Verfahren vor allem durch einen kontrollierten und reflektierten Umgang mit einer gesprächsförmigen Lern- und Erkenntnismethode auszeichnet: Platon lässt Sokrates das maieutische Verfahren über weite Strecken nicht nur anwenden, sondern zugleich werden immer wieder grundlegende Merkmale des methodischen Vorgehens (z. B. Gesprächskonstitution, Themenwahl, Gesprächsregeln) von Sokrates expliziert oder sogar mit den Schülern und anderen Anwesenden verhandelt.³³ Das sokratische Verfahren als methodisch gesteuertes Lehrgespräch zeichnet sich darüber hinaus durch eine (individuelle) Engführung des Schülers durch den Lehrer aus, durch die eine maximale Erfahrungsnähe erreicht wird. Halbwissen und „Vorurteile“ können auf diese Weise überprüft und – wenn nötig – verworfen werden. Zugleich geht Sokrates nicht „dogmatisch“ vor, er indoktriniert seine Schüler also nicht. Vielmehr konzentriert er sich auf die fehlerlose Durchführung des methodischen Verfahrens.³⁴ Das Bild der Hebamme impliziert ferner, dass ein und zuletzt die Aufbruchzeit in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts, die man als „kommunikative Didaktik“ bezeichnen könnte (s. u.). Zu den Konjunkturen des sokratischen Dialogs vgl. Loch (1981). Aus der Sicht der historischen Dialogforschung Kilian (2002).  Nelson (2002) 65.  Loch (1981).  Zur Explikation und Demonstration konstitutiver Merkmale vgl. vor allem den gesamten Menon und einige Passagen des Theätet, zur Aushandlung von Gesprächskonstitution, Themenwahl und Gesprächsregeln vgl. u. a. die Anfangsphase des Streitgesprächs mit Thrasymachos in der Politeia (337a4 ff.).  Vgl. u. a. Tht. 150b5 – 151d3.

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greifbares Ergebnis (ein Lernfortschritt, eine Erkenntnis) nur zustande kommen kann und soll, wenn es aus dem Schüler kommt. Ein wichtiges Merkmal der sokratischen Dialoge ist daher die situative Verweigerung des Lehrers, die Rolle des Fragenden mit der des Antwortenden zu tauschen, für die Sokrates in den Dialogen häufig gescholten wird.³⁵

Widerstände gegen die sokratische Methode Der sokratische Dialog unterscheidet sich in seinen Rahmenbedingungen gravierend vom institutionell organisierten Lehr-Lern-Gespräch: Im Klassenraum sitzen nicht ein oder zwei, sondern zwanzig bis dreißig Schüler und es geht in der Unterrichtskommunikation längst nicht immer um Fragen, die von der Sache her diskursiv zu bearbeiten wären. Bildungspolitische Anforderungen wie die Ergebnisorientierung des Unterrichts und die Angleichung bzw. Kanonisierung des Schulwissens als Folge der gesellschaftlich geforderten Vergleichbarkeit und Evaluation der Lernfortschritte führen zu einem produktlastigen, lernziel- oder kompetenzorientierten Umgang mit Lernsituationen. In der Lehrerausbildung erscheint die Methodisierung des Wissens- und Kompetenzerwerbs im Unterrichtsgespräch daher in der Regel als logische Folge konsekutiver oder spiralförmiger Curricula, bei denen die jeweils zu planende Lernsituation als Baustein eines linearen konstruktiven Prozesses fungiert. Institutionelle Voraussetzungen, unpassende Lerngegenstände und fehlende Offenheit erschweren die Übertragung des sokratischen Vorbildes auf die heutige Schulwirklichkeit. Wichtiger noch als die institutionellen Voraussetzungen des real existierenden Unterrichtsgesprächs sind aber aus Sicht vieler Fachdidaktiker und Pädagogen gesprächsethische und anthropologische Argumente, die das sokratische Gespräch als Vorbild für eine moderne Gestaltung von Unterricht ungeeignet erscheinen lassen. Ein prominentes Beispiel lieferte Spinner, der anders als Loch die Sokratik im direkten Gegensatz zu den Ansprüchen einer sich als aufklärerisch verstehenden Didaktik sieht: „Indem die Aufklärung zur Mündigkeit des Menschen erziehen will, muß sie den Menschen, den sie vorfindet, für unmündig erklären. Mit der Setzung des einen Begriffs, der Mündigkeit, ist zugleich sein Gegenteil gesetzt; und dies nicht nur im theoretisch-logischen Sinne, sondern ganz konkret im Verhalten zu den Heranwachsenden. Weil die aufklärerischen Erzieher

 Vgl. u. a. zornig von Thrasymachos in rep. 1,337a2– 338a3. Die auffällige Verweigerung einer positiven Lehre kann mit Platons Skepsis gegenüber medial schriftlichen Texten plausibel begründet werden. Vgl. hierzu auch Szlezák (1988).

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die Heranwachsenden mündig machen wollen, behandeln sie sie wie Unmündige. Dieser dialektische Umschlag ist bis in die Feinstruktur des sokratischen Lehrverhaltens hinein zu beobachten.“³⁶

Die Kritik an der sokratischen Methode entzündet sich bei Spinner daran, dass sie den strukturellen Gegensatz von Lehre und Gespräch – als eine spezifische Ausprägung der drei Interaktionsparadoxien, insbesondere der Macht- bzw. Symmetrieantinomie – einseitig für die Lehre entscheidet und damit den Schüler über Gebühr gängelt und in seiner Selbstständigkeit einschränkt. In der Tat muss jede Theorie des sokratischen Dialogs und damit auch jeder seriöse Pädagoge, der sich zu Recht auf Platon berufen will, erklären können, warum das sokratische Gespräch eindeutig als Kommunikation unter Ungleichen konzeptualisiert wird, wobei der überlegene Gesprächspartner von keinem seiner Gegner widerlegt werden, alle Fragen und Einwürfe beantworten, aber niemals „festgenagelt“ werden kann.³⁷ Die größten Zumutungen für eine aufgeklärte Pädagogik und Didaktik, die sich dem Ideal der Schülerorientierung und der „Diskussion“ als stillschweigendem Leitbild des Unterrichtsdiskurses verschrieben hat, stellt wohl die Geburtshilfe als zentrale Metapher für den sokratischen Dialog dar.³⁸ Dazu gehört, dass Sokrates im Bild der Hebamme zwar selbst nicht (mehr) fähig ist zu gebären, stattdessen aber Geburten einleiten und vor allem Geburtsschmerzen erzeugen und lindern kann bzw. darf (vgl. Tht. 151a5 ff.); darüber hinaus nimmt Sokrates sich das Recht, über das Ergebnis des von ihm eingeleiteten Geburtsvorgangs zu entscheiden, indem er „Windeier“ von gesunden Kindern unterscheidet. Er begründet dieses rigorose Verfahren damit, dass er einzig seiner Methode verpflichtet sei, und nimmt sich konsequenterweise das Recht, Urteile ohne Rücksicht auf die jeweilige Person zu treffen. Ferner kann Sokrates sich seine Schüler auswählen und er kann oder will seine Methode nur bei jenen anwenden, die tatsächlich schwanger sind, die also gebären wollen oder müssen. Ganz klar positioniert sich Platon im Umgang mit der „Ungewissheitsantinomie“: Der „Geburtsvorgang“, der von Sokrates methodisch eingeleitet wird, führt die „Gebärenden“ regelmäßig und planmäßig an die Grenzen ihrer intellektuellen, aber auch ihrer körperlichen Möglichkeiten. Dabei führt Sokrates seinen Schülern die Unzulänglichkeit ihrer Anstrengungen buchstäblich schmerzhaft vor Augen und arbeitet dann mit ihnen an einer Lösung. Am Ende der gemeinsamen Arbeit steht

 Spinner (1992) 314.  Vgl. hierzu Szlezák (1988) 99.  Expliziert im Theätet. Zu den negativen Seiten der sokratischen Methode, die in der Rezeption tendenziell eher ausgeblendet wurden und werden, vgl. zuletzt Bühler (2012).

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aber in der Regel keine abschließende positive Lösung, sondern es werden weitere Fragen, die es noch zu beantworten gilt, in Aussicht gestellt.³⁹

Kritik des institutionell organisierten Lehrgesprächs: Der sokratische Dialog als Postulat⁴⁰ Die Ambivalenz und Widerständigkeit der sokratischen Methode zeigte sich auch in der gesprächsanalytischen Rekonstruktion des Lehr-Lern-Gesprächs in den siebziger und achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts.⁴¹ Unauflösbar blieb der Widerspruch zwischen der Einsicht in die notwendige Zweckorientiertheit der institutionell geregelten Kommunikation, die sich u. a. in einer asymmetrischen Rollenverteilung niederschlagen muss, und dem bildungs- und kommunikationsethischen Postulat einer Gestaltung des Unterrichtsgesprächs nach dem Vorbild eines herrschaftsfreien Dialogs.⁴² Im Zentrum der Kritik stand auch der traditionelle Frontalunterricht, der zusammen mit dem fragend-entwickelnden Unterrichtsgespräch als prominentester Nachfolger der sokratischen Methode gelten kann. Becker-Mrotzek und Voigt kritisieren das fragend-entwickelnde Unterrichtsgespräch z. B. als „Lehrervortrag mit verteilten Rollen“, bei dem die Schüler zu „Stichwortlieferanten“ degradiert werden.⁴³

 Am Ende des Streitgesprächs mit Thrasymachos (Politeia, Ende des ersten Buches) stellt Sokrates zwar positiv fest, dass sein Kontrahent ruhiger geworden sei, aber was ihn selbst betrifft, kommt er zu dem selbstkritischen Urteil „dass nunmehr das Ergebnis des ganzen Gesprächs für mich das ist, dass ich überhaupt nichts weiß“. Andere Dialoge wie z. B. Kratylos nehmen am Ende des Gesprächs weitere Anstrengungen und Forschungen in Aussicht.  Ehlich (1981).  Ungefähr zeitgleich mit der pragmatischen Wende in den Humanities wuchs auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen das Interesse an Kommunikationsmodellen und Kommunikationsprinzipien. In den ersten empirischen Arbeiten zur Gesprächs- und Diskursanalyse standen in Deutschland häufig Beispiele der institutionell geregelten Kommunikation im Fokus. Was den Unterrichtsdiskurs betrifft, kann man feststellen, dass das Interesse an der Rekonstruktion authentischer Kommunikationsereignisse durchaus mit einem ideologiekritischen und normativen Interesse verbunden war und ist. Vgl. u. a. Ehlich u. Rehbein (1986); zusammenfassend BeckerMrotzek (1993); aktuell: Becker-Mrotzek u. Voigt (2001, 2. Auflage 2012).  Legte man den Maßstab des herrschaftsfreien Diskurses (Habermas) oder die egalitären Prinzipien der Gesprächskonstitution (vgl. Schütze 1971) zugrunde, erschiene das Lehrgespräch in seiner institutionellen Prägung als systematisch verzerrte oder als „gestörte“ Kommunikation. Zu den „Fehlern der sokratischen Lehrweise“, zu der er die Degradierung des Schülers zum „Jasager“ und andere „didaktische Mängel“ rechnet, vgl. auch schon früher Nelson (2002) 35.  Becker-Mrotzek u. Voigt (2001) 95 f.

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In einem kritisch resümierenden Vortrag beim Jahrestreffen des Instituts für deutsche Sprache (1980) kommt Konrad Ehlich unter der Fragestellung „Schulischer Diskurs als Dialog?“ zu dem Ergebnis, dass gesprächsförmige Ideale von Unterricht nicht identisch sind mit der Umsetzung des idealen oder eigentlichen Gesprächs im Unterricht.⁴⁴ In der Systematik von Ehlich finden wir einerseits einen emphatischen Dialogbegriff, der mit Egalität,Wahrheitssuche, Diskursivität usw. assoziiert ist. Davon unabhängig existiert ein Dialogtyp, der mit der Vermittlung von Wissen zu tun hat. Diesen Dialogtyp, der sich am emphatischen Dialogbegriff orientieren kann, gibt es zum einen in seiner naturwüchsigen Form (bei Ehlich heißt er dann „Lehr-Lern-Diskurs“) oder in einer institutionell überformten bzw. „transformierten“ Variante (dem „Unterrichtsdiskurs“).⁴⁵ Weil sich die schulische Diskurswirklichkeit dem emphatischen Dialogbegriff gegenüber „spröde“ verhält, kann er Ehlich zufolge „daher der Schulwirklichkeit weithin nur als eine Art Postulat gegenübergestellt werden“: „Er (der emphatische Dialogbegriff) insistiert kommunikationsmoralisch auf einem Sinn schulischen Diskurses, der häufig nicht realisiert werden kann. Nur relativ selten kommt es tatsächlich zu einem solchen gemeinsamen Arbeiten von Lehrer und Schüler, wie es der emphatische Dialogbegriff verlangt.“⁴⁶

Bezeichnenderweise sucht Ehlich den „emphatischen“ Dialogbegriff nicht in der zeitgenössischen Kommunikations- und Diskurstheorie (z. B. im Diskursbegriff von Habermas), sondern er erinnert an Bubers Philosophie des Ich und Du und an die Anfänge der Philosophie vor und mit Sokrates, bei dem die „Erkenntnis der Wahrheit dem gemeinsam diskutierenden Bemühen geschuldet“ war.⁴⁷ Ehlichs wichtigste Referenzpunkte lassen sich schematisch so darstellen:⁴⁸ Emphatischer Dialog (z. B. Sokrates, Buber) Lehr-Lern-Diskurs naturwüchsig (z. B. in der Familie) vs. institutionell überformt (z. B. in der Schule)

Die von Ehlich diagnostizierte Widerständigkeit der sokratischen Methode korrespondiert mit den professionstheoretischen Herausforderungen wie sie von Schoen, Schütze, Helsper u. a. in den berufsfeldspezifischen Interaktionsparadoxien zusammengefasst wurden (s. o.). Die institutionenskeptische, am Leitbild

    

Ehlich (1981). Vgl. Ehlich (1981) 366. Ehlich (1981) 366. Ehlich (1981) 225. Ehlich (1981).

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des natürlichen (Lehr‐)Gesprächs orientierte Rekonstruktion des Lehr-Lern-Gesprächs wie sie von Gesprächsanalytikern vorgelegt wurde, findet keine adäquate Antwort auf die Ungewissheitsantinomie, vor allem aber nicht auf die Macht- und Symmetrieantinomie, der das Lehrerhandeln unterworfen ist. Im Zentrum meiner weiteren Überlegungen steht exemplarisch die systematische Spannung von Lehre und Gespräch als Erscheinungsform der professionellen Interaktionsparadoxien. Mit einer analytischen Trennung von Lehre und Gespräch will ich vorbereiten auf einige Argumente für die Nützlichkeit und Aktualität des sokratischen Verfahrens, das sich u. a. durch einen entschiedenen und reflektierten Umgang mit den Antinomien des Lehrerhandelns auszeichnet. Zum anderen will ich anhand authentischer Daten ebenfalls exemplarisch zeigen, welche Dynamik der strukturelle Gegensatz von Lehre und Gespräch als wiederkehrender Reflexionsauslöser sowohl in praktischer wie in handlungsentlasteter Reflexion bei der Ausbildung junger Lehrer entfaltet.

Analytische Trennung von Lehre und Gespräch⁴⁹ Loch akzeptiert in einem ersten Schritt den Gegensatz von Gespräch und Lehre ganz pointiert, um ihn dann in einem weiteren Schritt dialektisch aufzuheben. Als Loch das Verhältnis von Lehre und Gespräch wenige Jahre vor der kommunikativen Wende in den Fachdidaktiken und in der Bildungspolitik thematisierte, bezog er sich ausdrücklich auf die sokratische Methode: „Das Gespräch erscheint in verschiedenen erziehenden Grundbezügen wie Prüfung, Entbindung (Mäeutik), Klärung, Beratung, Übung. Es kann sogar ‚belehrend’ sein. Das vollkommene Gespräch ist jedoch die vollkommene Destruktion des Lehrens und umgekehrt.“⁵⁰

Gespräch und Lehre schließen sich in diesem Zitat kategorisch aus. Die apodiktische Gegenüberstellung von Lehrgespräch und vollkommenem Gespräch konnte und sollte vor dem Hintergrund eines alltagsweltlichen Verständnisses vom Unterrichtsgespräch – schon in dem Ausdruck „Unterrichtsgespräch“ finden wir ja beide Begriffe integriert – provozierend wirken. Sie ist aus heutiger Sicht aber zugleich faszinierend, denn Loch hat, obwohl seine Intention ursprünglich eine ganz andere gewesen sein mag, nicht nur auf einen zentralen Punkt in der Diskussion um das Unterrichtsgespräch hingewiesen, sondern auch einen wiederkehrenden Reflexionsauslöser in der praktischen Bearbeitung der Interaktions-

 Loch (1962).  Loch (1962) 644.

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paradoxien und einen wesentlichen Beweggrund für die Entstehung subjektiver Theorien benannt.

Begriffliche Modellierung von Lehre und Gespräch Die nun folgende begriffliche Differenzierung geht – angeregt durch Loch – in idealisierender Form von zwei Polen des Unterrichtsgesprächs aus, nämlich, wenn man so will, von der „reinen“ Lehre und vom „eigentlichen“ Gespräch. In seinem Beitrag unterscheidet Loch die Eigenschaften von Lehre und Gespräch in klarer und anschaulicher Kontrastierung. Während sich die Lehre demnach durch eine charakteristische „Vor- und Nachstruktur“ (649), „Linearität“ bzw. „Weghaftigkeit“ (645), „Ungleichheit der Gesprächspartner“, eine „logische“ Progression (646) und eine „spezifische Zeit- und Raumgestalt“ (650 f.) auszeichnet, finden wir beim „eigentlichen“ Gespräch ein komplementäres Profil. Demnach ist das eigentliche Gespräch nicht planbar. Der didaktisch-methodischen Linearität der Lehre entspricht auf der thematischen Ebene des Gesprächs ein „kreisendes Hin und Her“ (645), also ein freier Aushandlungsprozess der Gesprächspartner. Die konstitutive Ungleichheit der Lehre wird im eigentlichen Gespräch zumindest „ironisch“ im Sinne eines Arbeitsbündnisses auf Augenhöhe gebrochen (647) und der Verlauf des Gesprächs ist im Gegensatz zur Lehre „dialogisch“ (646) organisiert. Raum und Zeit sind im eigentlichen Gespräch im phänomenologischen Sinne „aufgehoben“ (651). Folgen wir dieser Logik von Loch, dann stellen wir fest, dass sich das empirisch vorfindbare Unterrichtsgespräch im Schnittpunkt zweier Extrempunkte bewegt. Das eine Extrem – nämlich das Konzept eines idealen Gesprächs − finden wir exemplarisch bei Gadamer, der vom „eigentlichen Gespräch“ spricht:⁵¹ „Wir sagen zwar, dass wir ein Gespräch ‚führen‘, aber je eigentlicher ein Gespräch ist, desto weniger liegt die Führung desselben in dem Willen des einen oder anderen Gesprächspartners. So ist das eigentliche Gespräch niemals das, das wir führen wollten.Vielmehr ist es im allgemeinen richtiger zu sagen, dass wir in ein Gespräch geraten, wenn nicht gar, dass wir uns in ein Gespräch verwickeln. Wie da ein Wort das andere gibt, wie das Gespräch seine Wendungen nimmt, seinen Fortgang und seinen Ausgang findet, das mag sehr wohl eine Art Führung haben, aber in dieser Führung sind die Partner des Gesprächs weit weniger die Führenden als die Geführten. Was bei einem Gespräch ‚herauskommt‘, weiß keiner vorher.

 Wichtige Referenzpunkte für das eigentliche Gespräch im Sinne von Loch könnten neben dem Ideal des hermeneutischen Gesprächs auch das Ideal der herrschaftsfreien Kommunikation (Habermas), das Ideal der authentischen Unterhaltung (vgl. Buber oder Berger-Luckmann) oder das Ideal des tiefen Gesprächs (Bollnow) sein.

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Die Verständigung oder ihr Misslingen ist wie ein Geschehen, das sich an uns vollzogen hat.“⁵²

Wir finden wesentliche Eigenschaften, die Loch in der Kontrastierung von Gespräch und Lehre dem Gespräch zugeschrieben hat, in Gadamers Konzept des eigentlichen oder hermeneutischen Gesprächs wieder. Charakteristische Eigenschaften des hermeneutischen Gesprächs sind demnach folgende: Das eigentliche Gespräch ist zeit- und ergebnisoffen (man kommt nicht dort an, wo man hinwill).⁵³ Das eigentliche Gespräch entsteht ungeplant. Es ist nicht planbar. Im eigentlichen Gespräch ist der rhetorische Handlungsmodus zugunsten eines handlungsentlasteten dialogischen Gesprächsmodus aufgehoben.⁵⁴ Im eigentlichen Gespräch sind die Teilnehmer offenbar gleichberechtigt. Sie haben die gleichen Voraussetzungen. Keiner kann den Verlauf des Gesprächs determinieren: Das Subjekt des Gesprächs ist das Gespräch: Die Teilnehmer führen das Gespräch nicht, sondern sie werden eher geführt. Loch war sich darüber im Klaren, dass er mit seiner Kontrastierung von Lehre und Gespräch eine analytische Unterscheidung vornahm, die in der Unterrichtsrealität keinen Bestand haben kann. Gespräch und Lehre sind in der Praxis immer miteinander verwoben; es gibt Mischformen, funktionale Varianten und wechselseitige Abhängigkeiten. Zudem steht das Gespräch nicht nur im Gegensatz zur Lehre, es kann auch – vergleichbar anderen Leitbildern der Erziehung wie der Arbeit, dem Fest oder dem Spiel – eine Form, eine Ausprägung der Lehre sein. Als Gewährsleute nennt Loch hier z. B. Schleiermacher und Fröbel.⁵⁵ Während Ehlich seinen emphatischen Dialogbegriff in der philosophischen Tradition des Lehr-Lern-Gesprächs sucht und findet, lässt Loch den gesellschaftlichen Ort bzw. die gesellschaftliche Funktion des Gesprächs als Komplement zur Lehre offen. Anders als Ehlich bleibt er aber nicht bei einer idealisierenden Gegenüberstellung, die aus diskursanalytischer Sicht eher resignativ und ratlos enden muss, weil in der Realität des institutionell überformten Lehr-Lern-Diskurses allenfalls

 Gadamer (1990) 387.  Vgl. auch Loch (1962) 652 f., der von einer „epoché“ besonderer Art spricht.  Zur Handlungsentlastung und zur Aufhebung des Zeitdrucks vgl. auch die methoden- und gesprächsreflexiven Passagen im Theätet, z. B. in der Gegenüberstellung von Gerichtsrede und philosophischem Gespräch.  Vgl. Loch (1962) 642.

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Nischen oder zeitliche und räumliche Inseln für den emphatischen Dialog bereitgestellt werden können.⁵⁶ Vielmehr sucht er die Lösung in einer dialektischen Integration von Lehre und Gespräch. Die beiden Komplemente des Unterrichtsgesprächs bedingen sich nach Loch in der Praxis gegenseitig: „Das Lehren setzt das Gespräch geradezu voraus und zwar in einem strengen zeitlichen Sinne, weil es das faktische geistige Niveau der Teilnehmer bloßstellt und damit ans Licht bringt, wo Belehrung möglich bzw. notwendig ist. Aber nicht nur dies: Das Gespräch weckt die Frage als den existentiellen Modus, in dem der Mensch Belehrung will. M. a. W.: Im Gespräch versetzt sich der Mensch, in dem die Frage wach wird, selbst in die Lage des Schülers, worin eine unvergleichlich günstige Disposition für ein echtes Lehrverhältnis liegt.“⁵⁷

Aus der Sicht der Praktiker bleibt bei Loch offen, wann genau dieses Gespräch (als Komplement zur Lehre), das dem Lehrgespräch vorgeschaltet sein soll, stattfinden soll und kann, ob es z. B. Teil des institutionell überformten Lehrgesprächs ist oder nicht. In der Logik von Loch kann das Gespräch ja nicht Teil der Lehre sein: Entweder haben wir es also mit einer im Sinne der Lehre methodisierten Form des Gesprächs zu tun oder das Gespräch findet räumlich und zeitlich außerhalb der Lehre statt.

Ursachenforschung: die Entstehung und Verdichtung subjektiver Theorien über das Unterrichtsgespräch Im Folgenden will ich andeuten, wie das Wissen und Können junger LehrerInnen – abgesehen von bildungspolitischen und fachdidaktischen Konjunkturen – durch (unvermeidliche) emergente Erfahrungen beeinflusst wird, wie subjektive Theorien über Unterricht entstehen und wie sich sedimentiertes Wissen über Unterricht verfestigt. Der Ausflug in die Empirie soll zum einen die Dynamik realer Reflexionsbiografien junger Lehrer zeigen, die m. E. wesentlich für eine perspektivische und konjunkturabhängige Rezeption der sokratischen Dialoge verantwortlich ist,

 Schütze u. a. (1996) 340 sprechen in einem vergleichbaren Zusammenhang von „Inseln des Diskurses und der Reflexion“.  Loch (1962) 660.

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zum anderen bildet er die Folie für eine neue Betrachtung der sokratischen Dialoge. Die Unvereinbarkeit von Lehre und Gespräch wird in den Beispielen mehrfach bearbeitet und reflektiert: In der konkreten Handlungssituation (Beispiel 1) muss sich der Lehrer einer typischen Interaktionsparadoxie stellen. Dabei kann sein Umgang mehr oder weniger reflektiert und balanciert bzw. „taktvoll“ sein. Der Lehrer kann eine Interaktionsparadoxie erfahren und sich anschließend reflektierend, resümierend und wertend mit ihr auseinandersetzen (Beispiel 2). Oder er kann mit Reflexionsprodukten in Form sedimentierten Lehrerwissens konfrontiert werden (Beispiel 3). In der Abfolge der Beispiele versuche ich Stationen und Perspektiven realer Reflexions- und Professionalisierungsbiografien nachzubilden, in denen sich vergleichbare Situationen verschränken und ablösen, die ich im Rahmen dieses Textes nur stellvertretend und prototypisch zeigen kann. Wissenssoziologisch gewendet stellt das Verhältnis von Lehre und Gespräch aus Sicht der Akteure einen wiederkehrenden Reflexionsauslöser dar, der zur Ausbildung von Ad-hoc-Rationalisierungen ebenso wie zu subjektiven Theorien und auf längere Sicht zu abgesunkenem oder sedimentiertem Wissen führt, in das z. B. Novizen beim Eintritt in die Institution einsozialisiert werden. Bei der Darstellung meiner Beispiele will ich dieser wissenssoziologischen Systematik folgen: Beispiel 1: wiederkehrender Reflexionsauslöser; Beispiel 2: Ad-hoc-Rationalisierung; Beispiel 3: abgesunkenes Wissen.

Beispiel 1: wiederkehrender Reflexionsauslöser⁵⁸ Sprecherkürzel: L = Lehrer; N, V, C, P, Ch, Le, O, G, J = Schüler (Niko, Vicky, Christina, Patrik, Christian, Leon, Oliver, Georg, Judith); S = unbekannter Schüler; SuS = mehrere Schüler Kontextinformation: Nach einem Rollenspiel (Tauschen als frühe Form des Handelns ohne Geld) organisiert der Lehrer eine Zusammenfassung der Ergebnisse. Er hat ein bestimmtes Ergebnis im Kopf. Die Schüler denken aber schon in eine andere Richtung oder sie denken weiter. 1 2 3 4 5 6 7 8

L:

jetzt ist GANZ wichtig? (‐) ihr wart jetzt EINmal, (.) die marktteilnehmer in der famIlie.(‐) ja? (.) aber in der SCHUle muss man auch, (.) ab und zu UMschalten=das heißt die !ROLL!e wechseln. (.) das heißt, (‐) jetzt, (.) sollt ihr EUre beobachtungen? (‐)die ihr IN dem spiel gemacht habt, (.) schildern und dann tragen wir die zusammen, (.) und noTIERN, (.) letztendlich mit der FRA:ge, (.) hat das jetzt !GUT! geklappt ohne geld oder hat das !NICH! so gut geklappt (‐‐) ich werd das hier AUFschreiben? (.) (‐-‐) also ich nenn das mal runde EINS=hier auf dem platz, (.) erstmal SAMMeln wir das und ihr sch‘=könnt das hinterher, (.) in ruhe ABschreiben. (3.5) ((schreibt „Runde 1“ an die Tafel)) wolln wir mal SAMMeln. (2.0) NIko. also es war irgendwie LEICHT=weil die anderen hatten auch das was ma’=was [WIR] hatten [ja] mHM, (‐) also der TAUSCH? (‐) ging, (.) SCHNELL. (.) oder wa’=war LEICHT. (16.0) ((schreibt „der Tausch war leicht“) an die Tafel)) VIcky, war nicht immer so FAIR unbedingt=weil wenn man ähm, (.) jetzt zum beispiel n ganzes SEIL gegen ne BIRNe tauscht=oder so, mHM; (.) warum ist das nicht FAIR, (2.0) chris[TIna.] [viell]eicht weil das, (.) SEIL mehr wert ist, (‐) ja weil man mit dem seil mehr !AN!fangen kann; (.) (eine) BIRNne=das isst man einmal AUF? (.) und n SEIL kann man ja ähm mehrere !JAH!re benutzen ja:? =und für alles MÖGliche. oKE, (12.0) ((schreibt „Tausch war nicht gerecht“ an die Tafel)) da habt ihr schon was ganz WICHtiges, (.) ge!NANNT!? (.) da werden wir aber in einer SPÄTeren stunde noch mal ge!NAU!er drauf eingehen. (.) was denn da FAIR ist=und was geRECHT ist? (‐) aber (‐) PAtrik? da wollt ich noch was zu SAgen=weil an dem dem seil SITZT man ja auch länger. genau. (.) aber !DA!rum? (.) was jetzt geRECHT ist und was NICHT gerecht=und, (.) WIE viel die waren !WERT! sind; (.) DA kommen wir, (.) in zwei drei STUNden noch mal drauf. (.) oKE? (1.0) jetzt tauschen wir erst mal SO wie das auf den einkaufszetteln STEHT. (.) christian; das ist AUCH so=wenn, (.) eins MEHR wert ist? (.) da kann man ja das nicht in verschiedene TEILe; (‐) schneiden=sozusagen dass es ähm, (.) GLEICH viel wert ist. ja; (.) aber auch zu DIR noch mal, (.) da kommen wir SPÄTer drauf. (‐) ja? (.) ich weiß dass das WICHtig ist? (‐‐) ist auch son bisschen; (.) ich fands n bisschen UNlogisch=wenn man äh dem, (.) BÄCKer nen NETZ gibt und dafür kriegt man n stück Kuchen oder so. =das’ =wofür braucht der bäcker n SEIL; (.) oder n NETZ. (jetzt) vielleicht hat er n OBSTbaum; (.) wo er das mit ABdecken will vor vögeln; (2.0) Oliver, ich fands auch noch komisch ähm, (.) !WIR! hatten das was die ANdern brauchten=und die hatten dann das was WIR brauchten=[so dass] wir nur hin und HER tauschen mussten.

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56 57 58 59 60 61 62 63 64 65 66 67 68 69 70 71 72 73 74 75 76 77 78 79 80 81 82 83 84 85 86 87

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L: S: L:

[mHM,] ja. ja(h)a, (‐) aber das wollen wir jetzt ja gerade beObachten. (.) also das’=du hast RECHT das is natürlich (‐) aber erstmal noch eure GRUND (.) legenden beobachtn’=tungen in dem SPIEL. (‐‐) sind denn alle jetzt zu!FRIE!den von euch. (‐) oder die faMIlien. (3.0) christian? Ch: da HAT man nicht viel auf den ähm, (‐‐) da hat man ohne ver!LUST!e sozusagen gemacht=da hat man (.) ähm so öh zum beispiel jetzt n STUHL gegen n APfel getauscht oder so. L: ja. Ch: nich viel auf verLUSTe=hauptsache man !HAT! es. L: okE. (.) das ist RICHtig. (.) das ist aber WIEder auf die werte; (.) da KOMM wir noch drauf christian=verSPROCHen. (‐‐) also sind !ALL!e zuFRIEden jetzt nach HAUSe gegangen. (.) das ist ja !WICH!tig beim tausch. S: Mhm, L: [GEeorg.] G: [ähm] ich wollt nur noch grad SAgen=das ist, (.) doch völlig egal ob es gerecht ist oder !NICHT! hauptsache die die es tauschen wollen sind damit EINverstanden. L: genau. (1.0) das ist RICHtig. (‐‐) aber NOCH mal meine frage? (.) da !KOMM! wir auch drauf? (‐) aber JETZT konzentriert euch bitte mal auf die FRAge die ich gestellt habe? (‐‐) si’=sind jetzt ALLe zuFRIEden nach HAUse gegangen=sind die zuf’=EUre familien wo ihr SEID=sagen die, (.) hier JAN. (.) du hast, (.) überhaupt nichts=du KANNST das nicht? (.) oder s’=ko’=sind die nach HAUse, (‐) wenn du nach HAUse kommst=sagen die, (.) !TOLL! gemacht jan. (5.0) JUdith, J: äh sie haben ja jetzt das was sie WOLLten=und den rest haben sie dann verTAUSCHT=also. (.) das BRAUchen sie ja eigentlich nicht=davon können sie ja genug noch MACHen. L: geNAU. (‐‐) also ALLe sind zuFRIEden jetzt=oder? SuS: ja

Interpretation: Das emergente Problem, das der Lehrer in diesem Ausschnitt bearbeitet, ist eine Form der Praxisantinomie: Die Schüler verhalten sich aus der Perspektive des Referendars widerständig. Sie „stören“ den Unterricht, nicht weil sie zu laut sind, sondern – pointiert gesagt – weil der Lehrer sie nicht wahrnimmt. Der Referendar hat offensichtlich sehr klare Vorstellungen von dem, was er mit der Klasse unternehmen will, er ist bestens vorbereitet. Er ist sich klar über das einzusetzende Material (Folie, schriftliche Spielanleitung, Kurzgeschichte zur Einführung in die Spielszene, Tafel), über Phasen (Einstieg, Kurzgeschichte, Spielphase, Reflexion, Spielphase, Reflexion, Schluss), über Phasenwechsel, über Methoden und Methodenwechsel. Woran es dem jungen Lehrer fehlt, ist nicht die intrapersonelle Koordination der Situation: das materielle Handwerk – so wie es sich in Arbeitsblättern und didaktischen Reflexionen abbilden lässt –, sondern es

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fehlt ihm in der gezeigten Sequenz an der Fähigkeit zur interpersonellen Koordination seiner Ziele, also einer kontextsensitiven Umsetzung seiner didaktischen Absichten. Als Folge seines mangelnden „Taktgefühls“ im Umgang mit der LehrLern-Situation laufen die Beiträge der Schüler ins Leere.Weil sie immer wieder als unpassend oder verfrüht im Sinne der Fragestellung deklariert werden, entsteht kein Gespräch, etwa dadurch, dass der Lehrer Beiträge reformuliert und den anderen Teilnehmern zur Bewertung vorhält. Und es gibt als Konsequenz des Lehrerverhaltens keine erkennbare Progression (Fortschritt in der Ergebnissicherung oder im Gespräch). Aus professionsbezogener Sicht ist neben der auffälligen Lehrerzentrierung vor allem der Umgang des Lehrers mit den Schülerbeiträgen kritisch zu bewerten: Der Lehrer konzentriert sich auf die kognitiven Aspekte, seine Reaktionen sind schematisch, auf Unruhe reagiert er mit Anheben der Stimme, es gibt keine erkennbare wechselseitige Wahrnehmung und es gibt keine ironischen Bemerkungen, keine Relativierung des eigenen Tuns. Zusammenfassung: Der Novize hat seine Stunde sehr genau vorbereitet. Er möchte die Stunde so durchführen, wie er sie geplant hat. Er sieht sich in der Vorbereitung, vielleicht noch stärker während der Durchführung, einem institutionell bedingten Rechtfertigungsdruck ausgesetzt, weil er im Anschluss an die gehaltene Stunde Erklärungen für sein Handeln geben muss (das beschriebene Handlungsdilemma tritt verschärft in der Ausbildungsphase auf, weil vom Novizen erwartet wird, dass er seine Entscheidungen begründet und dass er sich an seine Planungen halten kann). Weil ihm noch die Erfahrung und die Kompetenz des Reflektierenden Praktikers fehlt, um auf emergente Entwicklungen situationsgerecht einzugehen, kann er den strukturellen Gegensatz von Lehre und Gespräch (noch) nicht ausbalancieren oder produktiv gestalten.

Beispiel 2: Ad-hoc-Rationalisierung (auf dem Weg zum Reflektierenden Praktiker)⁵⁹ Sprecherkürzel: L2 = Referendar; IN = Interviewer Kontextinformation: Ein Referendar erzählt in einer Interviewsituation (zentrale Fragen: Selbstverständnis als Lehrer, was ist guter Unterricht …) von einer Stunde, in der seine gesamte Stundenplanung zu scheitern drohte. Die Stunde verläuft deutlich anders als von ihm zu Hause am Schreibtisch geplant.

 Quelle: Sacher (2012).

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„die ganze unterrichtsplanung geht inne dutten“ 0725 0726 0727 0728 0729 0730 0731 0732 0733 0734 0735 0736 0737 0738 0739 0740 0741 0742 0743 0744 0745 0746 0747 0748 0749 0750 0751 0752 0753 0754 0755 0756 0757 0758 0759 0760 0761 0762 0763 0764 0765 0766 0767 0768

L2: dann entstEht auch mal so ne stUnde- da wAr=ich; (‐) ähm; hab=ich=mich sEhr gefrEUt drü’ (‐) also; (.) man in der Ersten sekunde gedacht hat- (‐) oh (‐) was mAchste jetzt- (‐) dass wir; (‐‐) ähm:::; (1.0)

(‐‐) das war also (.) war in nem ANdern; (.) also im kurs vom lEtzten seMEster- (.) und äh (.) KEIner hatte die hAUsaufgaben gemAcht- (‐) der klAssiker [sozusagen- (.) genAU- (‐‐) IN: [ L2: und man dEnkt sich- (‐) schEIße- (‐) die gAnze Unterrichtsplanung geht inne dUtten? [(‐) Ä::hm:::; (.) IN: [m=hm? L2: und dann: (‐‐) ö wUsst=ich aUch erst nicht so genAU; (.) mAchen wir das jetzt im KURS? (‐) p’ pädagogisch auch nicht das klÜgste; (.) [glAUb=ich- (.) IN: [((schmunzelt)) L2: aber- (‐‐) GING nicht anders. [also man hätte’ IN: [

L2: sonst wär=mer ja NIE: wohIn gekOmmen? IN:

L2: und dann war irgendwie erArbeitungsphAse? und dann::- (‐)

(‐) aUs hEIterem hImmel (.) ↑kUrz vor Ende mEldet sich ähm: (.) EIN- (‐) (.) sagt sozusagen eIn schÜler- (1.25) de::r- (‐)

sOnst auch VIEL so:; (.) Eher so frOtzelEIen; [(.) [m=hm? L2: und

mal so=n blÖden spruch von lInks (.) und so; (‐) also so eInbringt- (‐) und äh:; (‐)

(‐) sAgt? (‐) äh:: er hÄtte jetzt mal ne ERNste frAge. und ich so ja=a? (‐) wAs kOmmt eigentlich nach dem tOd. (1.5) un::d [ä::h; IN: [

L2: [dAs ist dirEkt ein klOpfer? und äh: (.) in dEr sekUnde wusst=ich noch (.) geht mir (.) ging mir also durch den kOpf was mAchst du jEtzt? (‐) die ganze stUndenpla’ (.) wenn du jEtzt- (‐) wenn du jEtzt noch drauf eIngehst ist die ganze stundenplanung sowieso HIN? [(‐‐) ä::hm; (‐‐) IN: [

L2: und ich hab dAnn (.) aber es ist DIE gelegenheit; (‐) ähm; (‐‐)

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0769 0770 0771 0772 0773 0774 0775 0776 0777 0778 0779 0780 0781 0782 0783 0784 0785 0786 0787 0788 0789 0790 0791 0792 0793 0794 0795 0796 0797 0798 0799 0800

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mIteinander ins ge[sprÄch zu kommen? (‐) IN: [m=hm? L2: und (‐) ähm; (‐) es ergAb sich dann? (‐‐) ähm; (1.25) mIt dem geSAMten kUrs; (.) da warn dann plötzlich alle dAbei; (.) (‐) das war auch gUt so- (‐‐) ähm; (‐‐) ne drEIviertelstUnde oder so was; n gespRÄCH über solche frAgen. [(.) IN: [

L2: dann gings irgendwie um (.) über stErbehilfe- [(.) und (‐) IN: [

L2: sInnfrAgen- und- (‐) und so wEIter [und so fOrt. (.) IN: [

L2: und gIng so=n bIsschen so in die rIchtung- (‐‐) mh:: (2.0) und wo=ich gedAcht hab (.) das IS (‐) was wo i’ (.) wo wir; (.) also wo ich glAUbe (.) auch die schüler gemErkt haben und wo Ich das auch noch mal besonders gemerkt habe (‐‐) dass ich (‐) dass (.) Ich n’ nicht der mit den ANTworten und sie die mit den frAgen sind- [(‐) IN: [

L2: sondern dass wir gemEInsam auf dieser sUche sind. [(‐) IN: [

L2: und ähm; (‐) uns gemeinsam fragen und antworten anbieten können? [(‐) IN: [

L2: und ähm; (1.75) JA; (‐) und so was eben dann auch zUlassen.[(‐) IN: [

L2: und ähm; (‐) zUlassen auch dass ne stUnde dann mal- [(‐‐) IN: [

L2: ANders läuft als man sich das zu hause am schreIbtisch geplant hat. (‐-‐) (ja.)

Interpretation: Beispiel 2 kann komplementär zu Beispiel 1 gelesen werden: Ein junger Lehrer, ebenfalls Referendar, wird von einer unvorhergesehenen und ungeplanten Unterrichtskonstellation überrascht. Statt sich an seine Agenda zu klammern, führt er ein Gespräch mit den Schülern. Die Pointe der Erzählung liegt in der Brechung der typischen Lehrerperspektive, die sich an der Stundenplanung im Sinne der Lehre zu orientieren hat. Am Ende kann der Lehrer aber, für ihn selbst überraschend und daher erzählenswert, sogar ein „ernstes“ Gespräch mit den Schülern führen. Der Auslöser kommt ausgerechnet von einem Teilnehmer, von dem er dies zuletzt erwartet. Das Gespräch, das den Rahmen „normaler“ Stunden thematisch, zeitlich und rollenmäßig sprengt, trägt deutlich Merkmale des eigentlichen Gesprächs im Sinne von Loch und Gadamer. Unplanbarkeit: Die kritische Sequenz, von der erzählt wird, „entsteht“ (sie ist nicht geplant); und zwar

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entsteht das Gespräch entgegen der didaktisch-methodischen Strategie des Lehrers. Die Unterrichtsplanung geht „in die Dutten“ usw. Dialogizität, Symmetrie vs. Asymmetrie, „kreisendes Hin und Her“: Schüler und Lehrer sind gemeinsam auf der Suche. Der Lehrer gibt keine Antworten, die Schüler stellen keine Fragen. Aufhebung von Zeit und Raum: Die Gesprächssequenz, von der berichtet wird, ist für schulische Verhältnisse sehr lang. Zusammenfassung: Der Lehrer bewertet das Unplanbare im Nachhinein eindeutig positiv. Er arbeitet in seiner Erzählung erkennbar an der Integration von Lehre und Gespräch, indem er die didaktischen Ziele benennt, die er durch das Unplanbare erreichen konnte: Optimale Beteiligung der Lerngruppe, thematische Fokussierung auf existentielle Fragen (es handelt sich um Religionsunterricht) und Etablierung einer symmetrischen Rollenstruktur. Zugleich wird durch die Geschichte der paradoxale Charakter des Ereignisses im Hinblick auf die professionelle Lehrerrolle unterstrichen.

Beispiel 3: abgesunkenes Wissen (Verfestigung sedimentierten Wissens) Das fragend-entwickelnde Unterrichtsgespräch kann inzwischen als sedimentiertes, fraglos akzeptiertes Wissen der Praktiker gelten, das sich auf geheimnisvolle Weise von Lehrergeneration zu Lehrergeneration überträgt. Diese Feststellung ist ebenso gültig wie die Tatsache, dass das fragend-entwickelnde Unterrichtsgespräch in bildungswissenschaftlichen und fachdidaktischen Kontexten – also in handlungsentlasteter analytischer Perspektive – immer wieder hinterfragt wird. Auf welche gesellschaftlichen und auf welche individuellen Faktoren die ideologischen Konjunkturen des Unterrichtsgesprächs zurückgeführt werden können, müsste Gegenstand einer längeren Untersuchung sein. Beispielhaft für die letzten Jahrzehnte und unmittelbar einschlägig für die Rezeption und Bewertung der sokratischen Dialoge ist das moderne Leitbild der „Diskussion“ als spezifische Ausprägung einer emphatischen Konzeption von „Kommunikation“ oder von „sprachlichem Handeln“, das inzwischen ebenfalls zum sedimentierten und kanonisierten Wissen der Praktiker gerechnet werden kann. Am Beispiel des inflationär und strategisch gebrauchten Kommunikationsbegriffs in den sechziger und siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts lässt sich zeigen, wie „Kommunikation“ als Kampfbegriff in der Entwicklung eines schülerorientierten Curriculums eingesetzt wurde. Noch in den 70er Jahren konnte die Sprachdidaktik sehr plakativ auf „sprachliches Handeln“ verweisen, ohne dies

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durch empirische Arbeiten belegen zu müssen.⁶⁰ Interessant ist am folgenden Zitat die Verquickung von Kommunikationsbegriff, Lernzielformulierung und bildungspolitischer Verankerung des „sprachlichen Handelns“ als Hochwertbegriff: „Wenn sprachliches Handeln die Mitbestimmung über die Bedingungen dieses sprachlichen Handelns, das Aushandeln der zugrunde liegenden Beziehungen einschließt; und wenn die Fähigkeit zu solchem sprachlichen Handeln nur dadurch entwickelt werden kann, daß man es tut, können Unterrichtsziele nicht ‚gesetzt‘ werden, sondern nur mit den Schülern entwickelt werden, und zwar in der Auseinandersetzung zwischen ihren aktuellen Bedürfnissen und ihren objektiven Interessen. Der Schüler wird zur curricularen Instanz.“⁶¹

Im Kontext dieses aufgeladenen Klimas trat die Diskussion vorübergehend an die Stelle des emphatischen Gesprächs (s.o. Gadamer) als Leitkonzept der Unterrichtsplanung, -durchführung und -rekonstruktion. Welchen Einfluss dies auf die Unterrichtsgestaltung gehabt hat, lässt sich empirisch nicht mehr rekonstruieren. Ich behaupte aber aus eigener Anschauung, dass der strukturelle Gegensatz von Lehre und Gespräch nicht aufgelöst werden konnte. In der Lehr-Lern-Praxis blieb es bei Kompromissbildungen im Sinne des fragend-entwickelnden Gesprächs, der punktuellen Einführung „neuer“ Sozialformen wie Gruppenarbeit, der flächendeckenden Gestaltung der Klassenzimmer in der so genannten U-Form o. ä. „Diskussion“ wurde einer frühen Kritik von Dieckmann zufolge von der Fachdidaktik als komplexes Verfahren dekontextualisiert und auf bestimmte „Techniken“ reduziert.⁶² Sie war entgegen der vorherrschenden Ideologie nicht dazu angetan, den Schüler als Subjekt zu stärken, da es sich nach Dieckmann um eine Scheindemokratisierung des Schüler-Lehrer-Verhältnisses handelte, (die Schule bleibt die Schule. Die Schüler können in einem klar umrissenen Verfahren „mitreden“) und – last but not least – gibt die Verabsolutierung der Diskussion nicht die gesellschaftliche Realität wieder. Andere diskursive Verfahren – Verhandlung, Vorstellung, Werbung – sind für den beruflichen Erfolg und für die gesellschaftliche Teilhabe der Schülerinnen und Schüler mindestens ebenso wichtig.  Inzwischen leistet die Kommunikationslinguistik/Interaktionslinguistik durch konsequente holistische, dem sequentiellen Ablauf und der emergenten Dynamik singulärer Ereignisse folgende Interaktionsanalysen einen wichtigen Beitrag zur Rekonstruktion dessen, was man in den 70er Jahren noch eher kommunikations- oder diskursethisch gewendet als „kommunikative Kompetenz“ bezeichnet hat (vgl. dazu die Arbeiten von Deppermann 2009; Fiehler u. Schmitt 2004 usw.). Allerdings bewegt sie sich hier konsequent auf der medialen Ebene (s. o.). Schmitt (2012) spricht zwar von einer sequenzanalytisch rekonstruierten „De-facto-Didaktik“. Die methodische, didaktische und gegenstandsbezogene Ebene bleiben aber ausgeklammert.  Nündel (1976) 116. Vgl. auch Kochan (1974).  Dieckmann (1978).

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Bezogen auf die Systematik von Medium, Methode und Gegenstand (s. o.) halte ich fest, dass die Diskussion als historisches Leitkonzept des Unterrichtsgesprächs vom Anspruch her alle drei Ebenen umfasste, faktisch aber vor allem auf der zweiten und dritten Ebene angesetzt wurde/angesetzt werden konnte.

Zur Aktualität der sokratischen Dialoge für die Lehrerausbildung Was Platon in den sokratischen Dialogen methodisch durchgeführt, inszeniert und kritisch reflexiv bearbeitet hat, wird selektiv, in Abhängigkeit von bildungswissenschaftlichen und -politischen Konjunkturen, wahrgenommen. Die Beispiele (1), (2) und (3) sollten schlaglichtartig zeigen, unter welchen Rahmenbedingungen sich die Gesprächsführungskompetenz und die dafür erforderliche analytische Kompetenz junger LehrerInnen konkret entwickeln. Die authentischen Sequenzen zeigen in der reflexiven Bearbeitung systematisch wiederkehrender und damit erwartbarer, aber nicht planbarer Herausforderungen des LehrLern-Gesprächs den qualitativen Unterschied praktischer und handlungsentlasteter Zugänge zum professionsbezogenen Erfahrungswissen. Außerdem deuten sie an, welche Mechanismen in der weiteren Verarbeitung dieser Herausforderungen im Rahmen der Lehrerausbildung den Nährboden für die Ausbildung von Ad-hoc-Rationalisierungen, subjektiven Theorien und weiteren theoretischen Überformungen bilden. Unabhängig davon, ob das Lehr-Lern-Gespräch aus bildungswissenschaftlicher, unterrichtsmethodischer oder gesprächsethischer Perspektive betrachtet wird, steht immer wieder die Frage nach einer adäquaten Modellierung der LehrerSchüler-Beziehung im Fokus. Die notwendige Gestaltung der Interaktionsparadoxien als praktische Herausforderung und wiederkehrender Reflexionsauslöser steht erwartbar in Konkurrenz oder in Widerspruch zu pädagogischen, anthropologischen und ethischen Ansprüchen. Damit sind zugleich die Chancen und Risiken angedeutet, denen unter den jeweiligen historischen Voraussetzungen die Rezeption der sokratischen Dialoge unterworfen ist.

Risiken Die Risiken für eine unaufgeregte und fruchtbare Rezeption der sokratischen Methode resultieren aus den praktischen und ideologischen Herausforderungen, die mit der notwendigen Bearbeitung der Interaktionsparadoxien im Lehrge-

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spräch verbunden sind. Sie bilden den Katalysator für die einseitige Auflösung struktureller Probleme des Lehr-Lern-Gesprächs, die sich wiederum in der Verfestigung subjektiver Theorien über das Unterrichtsgespräch niederschlagen können. Zur Kompensation handlungspraktischer Probleme, aber auch zur Forcierung reformpädagogischer Anstrengungen wird häufig ein emphatischer Gesprächsbegriff gesucht, der in diskursiven oder philosophischen Gesprächsidealen gefunden wird. Hierbei ist aus kommunikationsanalytischer Sicht, wie am Beispiel der Analyse institutioneller Kommunikation gezeigt wurde, die Gefahr einer Vermischung konstitutionslogischer und gesprächsethischer bzw. pädagogischer Fragen zu konstatieren. Dagegen steht die kommunikationstheoretische Einsicht, dass die Konstitution von Unterrichtskommunikation durchaus – wie jede andere Kommunikation – auf der Grundlage egalitärer Prinzipien erfolgen kann,⁶³ dass dieser Umstand aber nichts an der asymmetrischen Rollenverteilung im LehrLern-Gespräch ändert.

Chancen für die Lehrerausbildung Der sokratische Dialog eignet sich offenbar nicht als Vorbild für eine aufklärerische Kritik institutioneller Kommunikation. Das sokratische Verfahren kann aber, trotz aller Zumutungen, die es aus heutiger Sicht beinhalten mag, in Zeiten von E-Learning (Aufhebung der unmittelbaren Reflexivität in der Lehrer-Schüler-Beziehung), riesigen Seminargruppen (fehlende Situierung und Individualisierung der Schüler-Lehrer-Beziehung) und falsch verstandener Schülernähe (ideologische oder problematische Aufhebung der Distanz zum Schüler) als Vorbild für eine methodisch reflektierte Gestaltung des Lehr-Lern-Gesprächs dienen. Dies insbesondere im Hinblick auf die Herausforderungen einer Lehrerausbildung, die ernsthaft versucht, die Theorie und Empirie des Unterrichtsgesprächs angesichts der beschriebenen strukturellen Probleme zu integrieren. Sokrates/Platon macht die anstehenden Probleme in vielen reflexiven Passagen und methodischen Einschüben immer wieder transparent und er bezieht in der Gestaltung der LehrerSchüler-Beziehung eine begründete und klare Position. Der Gegensatz von Lehre und Gespräch, an dem ich die praktischen Dilemmata der jungen Lehrer exemplarisch veranschaulichen wollte, kann ohne eine konsequente Vermittlung einer reflexiven Grundhaltung in der Lehrerausbildung nicht adäquat bearbeitet werden. Vor diesem Hintergrund halte ich die auffällige

 Vgl. Schütze (1971).

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Methodenreflexivität der sokratischen Dialoge für bemerkenswert. Sie kann – so eine naheliegende Vermutung – mit der Schriftskepsis von Platon begründet werden, aber sie geht auch einher mit einer Explikation, Distanzierung und damit Relativierung des binnenkommunikativen Lehrgesprächs zwischen Sokrates und seinen jeweiligen Schülern. Auffällige Beispiele für diese methodische Reflexivität finden sich in vielen sokratischen Dialogen. Im Folgenden gebe ich zur Veranschaulichung einiger Konzepte, die zugleich für die Entwicklung einer forschend reflektierenden Grundhaltung im Rahmen der Lehrerausbildung zentral sind, Hinweise auf prägnante Episoden aus mehreren sokratischen Dialogen. Dabei geht es mir nicht so sehr um die Erläuterung der maieutischen Methode, wie sie am prominentesten im Theätet oder im Menon nachzulesen ist, sondern um eine vorläufige Systematisierung wiederkehrender bzw. durchlaufender Verfahren.

Explikation der Methode (Theätet) Ausgelöst durch eine Selbstdiagnose des Theätet, in dem seine Ratlosigkeit, aber zugleich auch seine Lernwilligkeit zum Ausdruck kommt, expliziert Platon/Sokrates seine Vorgehensweise (vgl. Tht. 148d4– 150b4). Sokrates gibt sich selbst als Sohn einer Hebamme aus und knüpft daran das zentrale motivierende Bild seiner Lehrmethode. Im späteren Verlauf des Dialogs greift er diese Erklärungen immer wieder auf, wenn er etwa zum Ende des Dialogs Theätet darüber belehrt, wie es ihm ergehen wird, falls er wieder „schwanger“ sein sollte: „[S]o wird die jetzige Untersuchung zur Folge haben, dass es dann bessere Gedanken sind, die dich erfüllen; solltest du aber leer bleiben, so wirst du deiner Umgebung weniger lästig sein und milder, indem du bescheidentlich dich des Glaubens entschlägst zu wissen, was du nicht weißt. Denn nur so viel vermag meine Kunst, aber nicht mehr, und ich besitze nicht das Wissen der anderen großen und bewundernswerten Männer unserer und der vergangenen Zeit“ (210 c1– 6).⁶⁴

Wie alle anderen gesprächs- und methodenreflexiven Passagen in den sokratischen Dialogen lässt sich diese Sequenz gemäß ihrer trialogischen Komposition sowohl binnenkommunikativ als auch außenkommunikativ deuten.

 Alle Übersetzungen der Dialoge Platons sind der deutschsprachigen Gesamtausgabe von Otto Apelt entnommen.

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Aushandlung des methodischen Verfahrens (Thrasymachos) Nachdem Sokrates die provokative These des Thrasymachos in einem ersten Durchgang widerlegt hat, tritt er in eine Unterhaltung mit Glaukon ein, in der er ihn über die richtige Methode für das weitere Vorgehen befragt. Nachdem Glaukon bestätigt hat, dass er – genau wie Sokrates – gewillt ist, Thrasymachos zu widerlegen („wie sollte ich das nicht wollen“?), fragt Sokrates nach dem geeigneten Verfahren, indem er Glaukon vor die Alternative stellt, das fortlaufende Gespräch entweder Schritt für Schritt zu bewerten und zu ratifizieren oder – wie im Gericht – erst das Gespräch als Ganzes zu beurteilen: „Wenn wir nun lauter förmliche Reden einander gegenüberstellen, also zunächst wir zur Erwiderung eine halten über das viele Gute des Gerechtseins, darauf er wieder eine und dann wir wieder eine andere, dann wird man die Vorteile zusammenrechnen und gegeneinander abmessen müssen, die wir beiderseits geltend machen, und wir werden nicht mehr ohne Richter auskommen, die zwischen uns entscheiden. Wenn wir aber die Untersuchung so führen, dass wir, wie soeben, über jeden einzelnen Punkt uns gleich miteinander verständigen, dann werden wir Richter und Redner (Anwälte) zugleich sein.“ (rep. 1,348a7–b4).

Glaukon entscheidet sich, ganz im Sinne der Unterscheidung von Gerichtsrede und „freiem Gespräch“ für die Vorteile der Gesprächsmethode. (Die Gerichtsrede dient Sokrates immer wieder als Kontrastfolie zur „ernstlichen Unterredung“ oder zum philosophischen Gespräch.)

Profilierung der Methode durch Abgrenzung und Kontrastierung (Thrasymachos, Lysis) Die sokratische Methode wird von Platon nicht nur explizit anderen konkurrierenden Verfahren (Gerichtsrede, Streitgespräch, Unterricht) gegenübergestellt, sondern das markierte Auftreten von Kontrahenten, die sich auffällig oder gegenläufig verhalten, dient zur Begründung und Legitimation der eigenen Methode. Im Gespräch mit Thrasymachos ist beispielsweise zu beobachten, dass der Gesprächspartner sich ungewöhnlich aggressiv verhält, dass er polemisiert und monologisiert. Die offene Kritik am sokratischen Verfahren, vor allem gegen Sokrates’ Ironie und seine Weigerung, Antworten zu geben, anstatt zu fragen, schlägt durch die Widerlegung des Thrasymachos am Ende positiv zu Buche. Neben reflexiven Erwähnungen konkurrierender Verfahren wie der Gerichtsrede oder dem inszenierten Rededuell, gibt es an prominenter Stelle auch szenische Kontrastierungen mit der sokratischen Art der Gesprächsführung, etwa am Ende des Lysis,

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wenn das freie (sokratische) Gespräch unter Freunden durch das Auftreten der Pädagogen abgebrochen werden muss.

Methodenreflexivität (Menon) In 76a8 – 77a2 kokettiert Sokrates mit Menon: „Du belästigst einen alten Mann mit der Zumutung zu antworten (…)“ Frage und Antwort wird bezogen auf das Spiel von Liebhaber und Geliebtem. Zugleich wird das Format der Frage und der Antwort thematisiert. Sokrates will im Sinne von Gorgias antworten, nämlich so, dass er das Vorwissen des Adressaten berücksichtigt. Die Erläuterung für dieses Vorgehen findet sich unmittelbar vorher, nämlich 75c9 – 76a7, wo es heißt: „Wünschen aber die Disputierenden, so wie wir jetzt, als gute Freunde ihre Sache zu führen, so ziemt es sich selbstverständlich, freundlicher und dem eigentlichen Zweck der Wahrheitsforschung entsprechender zu antworten. Dies letztere aber ist so zu verstehen, daß man nicht bloß die richtige Antwort gibt, sondern dies auch nur auf Grund dessen tut, was der Fragende zugestandenermaßen auch wirklich verstanden hat.“ (Men. 75d2–d7)

Metakommunikative Bearbeitung von Zumutungen (Menon) Eine besondere Form der metakommunikativen Bearbeitung von Zumutungen und Verunsicherungen, die das sokratische Verfahren systematisch erzeugt, findet sich im Menon. Menon stellt 79e7– 80b4 bei sich selbst eine Lähmung (wie von einem Zitterrochen) fest. Die metakommunikative Thematisierung dieses entscheidenden Vorgangs ist nur durch die Trialogizität der Textkomposition zu erklären. Wäre Menon wirklich gelähmt, könnte er nicht reden und könnte somit seinen Zustand auch nicht thematisieren. In den reflexiven Passagen der sokratischen Dialoge spiegelt sich der planmäßige und (selbst‐)kritische Umgang Platons mit seiner Lehrmethode. Auch wenn Platon weniger an die strukturellen Antinomien des Lehrerhandelns als an die Außenwirkung seiner Texte und an die Mängel eines medial schriftlichen Lehrgesprächs gedacht haben dürfte, sehe ich in ihrer ausgeprägten methodischen Reflexivität eine ernst zu nehmende Chance für eine erneute Lektüre der sokratischen Dialoge aus dem Blickwinkel der modernen Lehrerausbildung. Pointiert gesagt: Die methodische Reflexivität der sokratischen Dialoge ist geeignet, eine forschende Mentalität zu befördern, die einen „taktmäßigen“ Umgang junger Lehrerinnen und Lehrer mit den Interaktionsparadoxien begünstigt.

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Zu den Interaktionsparadoxien im Einzelnen Praxisantinomie Platon vermeidet durch die planvolle Reflexivität seiner Lehrdialoge gezielt deren identifikatorische Lektüre. Die Verweigerung einer positiven Lehre, die programmatische Ergebnisoffenheit der Gespräche und die mehrfache Brechung des Gesprächsverlaufs, die ihre Wirkung sowohl auf binnenkommunikativer als auch auf außenkommunikativer Ebene entfalten, verbieten eine mechanische Reproduktion des Vorbilds. Lehr-Lern-Gespräche erscheinen bei Platon als kontextsensitive, personenabhängige Passagen. Darüber hinaus folgen sie keiner ausschließlich kognitiven Logik, sondern sie schließen die körperliche Dimension des Lernvorgangs nicht nur metaphorisch mit ein. Die Koinzidenz von sinnlicher Erfahrung und kognitiver Herausforderung in den sokratischen Dialogen integriert auf der Ebene des Lernenden die heterogenen Logiken von theoretischem Reflexionswissen und praktischem Erfahrungswissen.⁶⁵

Ungewissheitsantinomie Die Aporie des Lernenden ist konstitutiver Bestandteil der sokratischen Dialoge. Ungewissheit und Verunsicherung des Schülers treten binnenkommunikativ nicht beiläufig oder ungewollt auf, sondern sie sind ein notwendiger Schritt auf dem Weg zu einer neuen, besseren Erkenntnis. Dabei ist hervorzuheben, dass Sokrates niemals behauptet, es besser als seine Schüler zu wissen. Die Aufgabe des Lehrers in den sokratischen Dialogen liegt entschieden nicht in der Explikation einer gültigen Lehre, sondern in der Kontrolle des methodischen Verfahrens. Auf diese Weise soll gewährleistet sein, dass der Schüler eigenständig lernt. Die schmerzhafte Zumutung, die das Aushalten der Ungewissheit für den Schüler bedeuten muss,wird weitgehend abgefedert durch eine klare Rollenverteilung und durch die metakommunikative Explikation des Verfahrens. Bezogen auf die Kommunikation zwischen Autor und Leser erscheint die Aporie des Schülers dagegen als geplant.

 Bildungswissenschaften und -planer tendieren zu einem kognitivistischen bzw. intellektualistischen Verständnis von Lernprozessen. Die Integration von Wissen und Können ist aber nicht nur für die Ausbildung der professionellen Gesprächsführungskompetenz erforderlich, sie erstreckt sich auch auf den Lerngegenstand.

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Symmetrie- bzw. Machtantinomie Die methodenreflexiven Passagen in den sokratischen Dialogen können neben der Bearbeitung der Praxisantinomie und der Ungewissheitsantinomie auch der Bearbeitung der Symmetrie- oder Machtantinomie dienen. Die Gefahr eines Gesichtsverlusts für den Schüler wird dadurch kontrolliert, dass die Positionen des Lehrenden und des Schülers für den Zweck der Unterhaltung ausgehandelt werden können.

Fazit Professionelles Lehrerhandeln besteht zu wesentlichen Teilen darin, Interaktionsparadoxien im Lehrgespräch auszubalancieren. D. h. konkret, Widersprüche, Spannungen und Konflikte des Unterrichtsgesprächs auf einer gewissen Abstraktionsebene als erwartbaren Fall zu unterstellen, sie im Unterrichtsalltag nicht „auszuhalten“ oder zu verdrängen, sondern sie mit einer geschulten Analysekompetenz, über deren Erwerb in der Lehrerausbildung noch genauer nachzudenken wäre, zu verstehen, zu reflektieren und entsprechend praktisch zu bearbeiten. Soweit die methodenreflexiven Passagen der sokratischen Dialoge Hinweise zur praktischen und analytischen Kontrolle der unvermeidlichen Interaktionsparadoxien des Lehrgesprächs geben, schaffen sie zugleich eine wichtige Voraussetzung für die Entwicklung einer analytischen bzw. forschenden Grundhaltung des Lesers. Diese ist wiederum eine wichtige Voraussetzung für die Ausbildung einer professionsbezogenen Gesprächsführungskompetenz mit dem Ziel einer taktmäßigen Führung des Lehrgesprächs im Sinne des Reflektierenden Praktikers. Für die Entwicklung einer balancierenden taktvollen Gesprächsführungskompetenz ist m. E. entscheidend, dass die Unvereinbarkeit von Lehre und Gespräch analytisch vorgenommen wird, auch wenn sie im Alltag de facto nicht realisiert werden kann. Das Gespräch im Sinne der phänomenologischen Unterscheidung von Loch kann als emphatisches kontrafaktisches Korrektiv dienen, nicht aber als Vorbild oder realistischer Anspruch des Unterrichtsgesprächs. Lohnenswert scheint mir die analytische Trennung von Lehre und Gespräch insbesondere deshalb zu sein, weil sie m. E. gut geeignet ist, subjektive Theorien und ideologische Verzerrungen im theoretischen und praktischen Umgang mit dem Gegenstand wenn nicht zu verhindern, so doch abzumildern und zu relativieren. Die Dialektik von Lehre und Gespräch im Sinne von Loch ist analytisch klarer und daher tragfähiger für die professionelle (Selbst‐)Reflexion als die gängige integrative Position (vertreten durch das Konzept des „fragend entwickelnden Unterrichtsgesprächs“), weil sie die Eigenart des Lehrgesprächs – seine

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Unvereinbarkeit mit dem Alltagsgespräch und mit dem philosophischen Gespräch – nicht verschweigt. Die Konzeptualisierung von Loch könnte ein hilfreicher Schritt sein für eine neue Bewertung der sokratischen Methode einerseits und die theoretische und praktische Bearbeitung der Interaktionsparadoxien einschließlich der mit ihr verbundenen Dilemmata andererseits. Diese Dilemmata zeigen sich nicht nur in der analytischen Rekonstruktion (s. o. Ehlich), sondern auch und vor allem in der Reflexion eigenen und fremden Unterrichts im Rahmen der Lehrerausbildung. Wie sich in der selbstbewussten Gegenüberstellung mit anderen zeitgenössischen Lehrformen zeigt, kann Platon/Sokrates für sich in Anspruch nehmen, eine vergleichsweise offene Lehrform zu gestalten, die klaren methodischen Prinzipien verpflichtet ist. Dazu gehören neben der personen- und kontextsensitiven Gestaltung des Gesprächs die zeitliche und ergebnisbezogene Offenheit sowie die bewusste, d. h. methodisch kontrollierte und thematisierte Verunsicherung des Schülers und die Integration kognitiver, affektiver und motivationaler Aspekte im Lernprozess. Bezogen auf die Ebenen des Unterrichtsgesprächs profitieren junge Lehrerinnen und Lehrer von der Lektüre der sokratischen Dialoge insbesondere auf der methodischen und auf der gegenstandsbezogenen Ebene. Der Gegensatz von Lehre und Gespräch, der stellvertretend für die notwendige Bearbeitung der zentralen Interaktionsparadoxien des Lehrgesprächs behandelt wurde, wird auch bei Sokrates nicht aufgelöst, aber er wird methodisch und transparent gestaltet.

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Stephan Peters, Monika Schwarz-Friesel u. Sally Zielske

Den Gesprächspartner verunsichern, um das Publikum zu überzeugen?

Verunsicherung als persuasive Strategie in Polit-Talkshows¹ Abstract To what extent do speakers in political talkshows intentionally play on negative emotions to be persuasive? The present article pursues this question and develops the concept of the potential for destabilisation as part of a persuasive strategy. Destabilisation is defined as the attempt to create doubt in the hearers about their position. Constitutive of this, and distinguishing it from purely destructive statements, is a verbal balance of negative and positive potentials for emotion, so that the interlocutor does not block the intended change in position but instead remains open to it. In the situation of public communication, ‘the interlocutor’ needs to be defined more closely: Does it include the fellow participants in the discussion, or (only) the viewers? It is only on this basis that an analysis of discussion can yield advances, as will be demonstrated here taking as example a long discussion sequence.

Einleitende Bemerkungen: Verunsicherung aus kognitionslinguistischer Perspektive Der Mensch betreibt einen hohen kommunikativen Aufwand, um andere von seiner Sicht auf die Welt zu überzeugen. Die Persuasion als der intentionale Versuch, die Einstellung² des Gesprächspartners zu beeinflussen,³ kann als ein Hauptanliegen vieler Redebeiträge angenommen werden.

 Hierbei handelt es sich um Ergebnisse aus dem DFG-Forschungsprojekt „Rhetorik der Verunsicherung – Muster negativer Affekt-Strategien und ihre persuasive Funktion“ (10/2010 – 10/ 2012).  „Emotionale Einstellungen stellen konzeptuelle Bewertungsrepräsentationen hinsichtlich bestimmter Referenzbereiche dar.“ Sie „determinieren Kategorisierungs-, Entscheidungs- und Handlungsprozesse, da sie restringierend und selektiv auf alle mentalen Repräsentationen einwirken können“ (Schwarz-Friesel 2007, 81 f.; vgl. auch Klima 1975). In dieser Definition wird die enge Interaktion (und keinesfalls ein Gegensatz) zwischen Kognition und Emotion betont. Eine strikte Trennung zwischen (moralisch wertvollen) argumentativen Strategien und (moralisch verwerflichen) emotionalen Strategien scheint hinfällig, da stets beide Ebenen im Verarbeitungsprozess involviert sind (vgl. Schwarz-Friesel 2007, 117).

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In der Forschung lag der Fokus lange Zeit auf den persuasiven Strategien, die zu diesem Zweck positive Affekte erzeugt haben, also den Gesprächspartner mittels Schmeicheln, Erfreuen und Bestätigen zu überzeugen versuchten.⁴ Seit der Antike ist allerdings bekannt, dass ebenfalls negative Affekte als Teil persuasiver Strategien fungieren können.⁵ Das bringt bereits Hippias zum Ausdruck, wenn er wie folgt über Sokrates spricht: „Aber Sokrates verwirrt einen immer im Gespräch, Eudikos, und tut recht wie einer der auf Beleidigung ausgeht.“⁶ Bekanntermaßen wollte Sokrates allerdings niemanden beleidigen, sondern vielmehr überzeugen – und das mittels negativer Affektstrategien.⁷ Dennoch wurde dieser Teil in der sprachwissenschaftlichen Persuasionsforschung größtenteils ausgeklammert.⁸ Warum kann es aber persuasiv wirkungsvoller sein, jemanden zu tadeln als ihm zu schmeicheln? Gerade in Gesprächssituationen, in denen sich die Überzeugung als besonders problematisch darstellt,⁹ scheint die Verunsicherung eine Erfolg versprechende Teilstrategie zu sein, wie das folgende authentische Beispiel aus dem Universitätsdiskurs veranschaulichen soll: Eine gute Studentin ist von übertriebenem Selbstzweifel vor ihrer Abschlussprüfung geplagt und lässt sich auch durch gutes Zureden nicht beruhigen. Schließlich reagiert die Professorin mit folgender Äußerung: (1) „Stimmt! Sie werden die Prüfung nicht bestehen, weil Sie schon immer eine völlig unbegabte Studentin waren und nie irgendetwas gut gemacht haben.“ Daraufhin zeigt die Betroffene ostentative Verunsicherungssignale, wie eine entsetzte Mimik und Sprachlosigkeit, und flieht zunächst aus der Kommunikati-

 Vgl. bereits Bettinghaus (1968) sowie Ortak (2004) und Merten (2005).  Vgl. Klein (1994); Stöckl (1998) u. a.  Siehe die weiteren Beiträge in diesem Band.  Plat. Hipp. min. 373 b3 – 4. Übersetzung Schleiermacher.  Schwarz-Friesel u. a. (2012) 228.  Ausnahmen stellen zum einen der Bereich der Konflikt- und Streitgesprächsanalyse dar, in dem man sich auch mit Mustern affektiver Redebeiträge auseinandergesetzt hat (vgl. bspw. Deppermann 1999; Günthner 1999 oder Drescher 2003) und zum anderen die linguistische Analyse von politischen und ideologischen Diskursen (vgl. Kindt u. a. 2009; Schwarz-Friesel 2010).  Folgt man jener Unterteilung, nach der Persuasion dazu dienen kann, „to shape, reinforce, or change the responses of another“ (Stiff 1994, 4), so steht bei der Verunsicherung die Einstellungsänderung (change) im Mittelpunkt. Bei der Einstellungsänderung muss zunächst der bisherige Standpunkt aufgegeben werden, damit ein davon divergierender angenommen werden kann.

Den Gesprächspartner verunsichern, um das Publikum zu überzeugen?

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onssituation.Wenig später kehrt sie jedoch deutlich stabilisiert zurück und äußert motiviert: (2) „Sie haben Recht, ich muss mir eigentlich keine Sorgen machen. Ich habe mich ja auch sehr gut vorbereitet.“ Durch die Reaktion der Studentin wird ersichtlich, dass die ironische Äußerung der Professorin zwar kurzfristig destabilisierend wirkte und eindeutig negative Affekte bei ihr evoziert hatte, längerfristig¹⁰ gesehen jedoch persuasiv erfolgreicher war als alle vorangegangenen Versuche mittels positiv-affektiver Stimulation, wie „Du wirst deine Prüfung schon bestehen, weil Du bisher immer eine gute Studentin warst und alle anderen Prüfungen auch bestanden hast!“ etc.¹¹ Der intentionale Versuch,¹² mittels kommunikativer Impulse Zweifel beim Rezipienten zu erzeugen, fassen wir unter den Terminus Verunsicherung. ¹³ Der Zweifel selbst ist eine kognitive Erscheinung, bei der das bisherige Wissen durch eine neue Information erschüttert wird. In diesem Moment, wenn das bislang sicher geglaubte Wissen in Frage gestellt wird, verbindet sich mit der Irritation¹⁴ auch eine negative Emotion, die konstitutiv für die Verunsicherung ist. Der Zweifel erzeugt somit emotional eine Disharmonie im mentalen Gesamtzustand des Verunsicherten; er stört die emotionale Äquilibrationstendenz, die zur Homöostase des menschlichen Organismus gehört.¹⁵ Verunsichernde Sprechhandlungen

 Die Kurz- oder Langfristigkeit der Einstellungsänderung wird in der Persuasionsforschung mittels der Begriffe überreden und überzeugen ausgedrückt: Während eine Überredung lediglich auf die „Initiation von Handlungsbereitschaft“ abzielt, strebt die Überzeugung eine langfristige „Manifestierung einer bestimmten Haltung“ an (Ortak 2004, 62); vgl. zudem Merten (2005) 300.  Vgl. zu diesem Beispiel auch Schwarz-Friesel (2012).  Alle nicht-intentionalen Arten der Verunsicherung sind davon abzugrenzen. Hierunter fallen kommunikative Missverständnisse oder Fehlinterpretationen, die zu einem „Aneinander-vorbeiReden“ führen können. Das kann zwar ebenfalls Unsicherheit bei den Gesprächspartnern auslösen, findet hier aber keine Berücksichtigung.  Wir ordnen die rhetorische Verunsicherung der Persuasion und nicht der Manipulation zu, da erstere den zweiten (spezifischeren) Terminus einschließt. Im Unterschied zur Persuasion zeichnet sich die Manipulation dadurch aus, dass die Beeinflussung des Gesprächspartners ohne dessen Wissen und gegen seinen Willen geschieht (vgl. Merten 2005 oder Schenk 2002). Diese Bestandteile sind zwar nicht durchgängig bei der Verunsicherung auszuschließen, allerdings sind sie auch nicht elementar für sie.  Irritation ist als negative Verwunderung oder Verärgerung ein Teil von Verunsicherung. Verunsicherung geht insofern darüber hinaus, als dass erst mit ihr der Zweifel an der eigenen Einstellung einhergeht. Somit kann ein Rezipient durchaus irritiert sein, ohne gleichzeitig verunsichert sein zu müssen (vgl. Schwarz-Friesel u. a. 2012, 231).  Vgl. Schwarz-Friesel (2007) 44 ff. und Woolfolk (102008) 40 ff.

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sind dabei nicht nur durch ihre persuasive Intention von rein destruktiven Äußerungen abzugrenzen, sondern unterscheiden sich auch essentiell hinsichtlich ihres sprachlichen Aufbaus von ihnen: Neben dem (auch für Äußerungen sprachlicher Gewalt¹⁶ typischen) negativen Emotionspotenzial¹⁷ lässt sich im Falle der spezifischen, rhetorisch eingesetzten Verunsicherung immer wieder auch ein positives Emotionspotenzial nachweisen. In der Äußerung (1) lässt sich das wie folgt beschreiben: Aus der Proposition X ist eine unbegabte Studentin, zusätzlich intensiviert durch das Adverb völlig, sowie durch die anschließende Begründung in Form eines deduktiven Schlusses, noch nie irgendetwas gut gemacht zu haben, ergibt sich ein sehr hohes negatives Emotionspotenzial. Das Urteil der Professorin ist vernichtend, spricht sie doch der Studentin jegliche Kompetenz ab und scheint sie somit in ihrer Selbstwahrnehmung noch zu bestätigen. Da sie dies allerdings offensichtlich ironisch tut, die Aussage eine Dissoziation zu der Wirklichkeit darstellt, in der die Studentin bislang immer gute Leistungen gezeigt hat, wird der Studentin schließlich die Ironie der Äußerung bewusst. Dabei reicht es nicht, die Ironie nur dahingehend zu beschreiben, dass qua Implikatur das Gemeinte als das Gegenteil des Gesagten verstanden wird, sondern es sollte dabei der (emotive) Beziehungsaspekt berücksichtigt werden, der durch die ironische Äußerung in den Vordergrund gerückt wird¹⁸ und so ein positives EP konstituiert. Die negativ affektive Komponente bei einer Verunsicherungsstrategie „irritiert zwar den Adressaten, gewährt so aber zugleich die notwendige Aufmerksamkeit bzw. mentale ‚Erschütterung‘, was ein rein auf positive Affekte zielender Persuasionsversuch oft nicht (mehr) schafft, um damit den Absichten des Sprechers Zugang zur inneren Einstellung des Adressaten zu verschaffen“.¹⁹ Die positive Komponente schwächt hingegen die Schwere der Irritation ab. Dadurch wird eine Verweigerungshaltung bis hin zu einer Blockade des Rezipienten verhindert, so

 Folgt man allerdings der Definition nach Luginbühl (1999) 83, der von sprachlicher Gewalt spricht, sobald ein Sprechakt „eine am Gespräch teilnehmende Person in deren durch die Textsorte gewährten konversationellen Spielraum in einer dramatischen Weise einschränkt und so diese Person in ihrer Integrität, ihren Einflussmöglichkeiten und ihrer sprachlichen ‚Funktionsfähigkeit‘ schädigt, einschränkt oder gefährdet“, so wäre auch die persuasive Strategie der Verunsicherung darunter zu fassen.  Als Emotionspotenzial (EP) bezeichnen wir diejenigen Komponenten sprachlicher und nichtsprachlicher Information, durch die eine affektive Wertung transportiert wird und damit zu einer Emotionalisierung des Rezipienten führen kann (vgl. Schwarz-Friesel 2007, 210ff.). Dass dazu auch wesentlich non-verbale Merkmale beitragen, zeigen Girnth u. Michel (2007) in ihrer Arbeit am Beispiel der Polit-Talkshow.  Vgl. dazu ausführlich Schwarz-Friesel (2009).  Vgl. Schwarz-Friesel u. a. (2012) 231.

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dass er trotz des Angriffs für die persuasive Absicht des Sprechers offen bleibt. Entscheidend für eine erfolgreiche Verunsicherung ist also eine genaue sprachliche Ausbalancierung zwischen negativem und positivem Emotionspotenzial. Der Grad bzw. die Intensität der Verunsicherung ist zudem abhängig von dem Äußerungskontext, den Gesprächsteilnehmern sowie ihrer Beziehung zueinander. Um in der Analyse einzig die Äußerungsebene fokussieren zu können – auch da sich die anderen Parameter weitestgehend einer linguistischen Untersuchung entziehen – sprechen wir von einem (situationsübergreifenden) Verunsicherungspotenzial und meinen damit (in Analogie zum EP²⁰) die textinhärente Eigenschaft, welche die Wahrscheinlichkeit einer evozierten Verunsicherung (mit-) bestimmt. Der Zusammenhang zwischen der Verunsicherung als Teilstrategie für die intendierte Persuasion und dessen grundlegender Ausbalancierung der EPs wird in Abbildung 1 abschließend noch einmal dargestellt.

Abb. 1: Persuasionspotenzial in Abhängigkeit von der Intensität des Emotionspotenzials in privaten und öffentlichen Verunsicherungsäußerungen

Das EP wird durch die Pfeile abgebildet, wobei die Qualität durch die Richtung (von links für ein negatives EP, von rechts für ein positives EP) und die Intensität durch die Länge angezeigt werden. Das Zusammenspiel ergibt dann das Persuasionspotenzial, hier dargestellt durch das grau unterlegte Fünfeck. Aus dem optimalen Verhältnis zwischen positivem und negativem EP resultiert das höchstmögliche Persuasionspotenzial einer Äußerung. Ist in einer sprachlichen Äußerung kein positives EP wahrnehmbar, handelt es sich um eine rein de-

 Siehe Anm. 17.

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struktive Äußerung (rechter Rand) mit geringer bis gar keiner Überzeugungskraft. Fehlt das negative EP, kann die Äußerung zwar persuasiv sein, doch stellt sie dann keine verunsichernde, sondern eine motivierende Äußerung dar (linker Rand). Die Unterscheidung zwischen privaten und öffentlichen Diskursen ergibt sich aus dem unterschiedlich starken Einfluss der situationellen Faktoren. In privaten Gesprächen können die kommunikativen Spielregeln (im Laufe der Zeit) neu verhandelt werden, so dass sich hier eine größere Flexibilität im Vergleich zu den starren Konversationsbedingungen in öffentlichen Diskussionen zeigt, was durch die gepunkteten bzw. durchgezogenen Pfeile in der Abbildung hervorgehoben werden soll.

Verunsicherung als persuasive Strategie in öffentlichen Diskussionen Um die Besonderheiten öffentlicher Diskussionen hinsichtlich der Fragestellung zu untersuchen, mittels welcher kommunikativen Strategien Verunsicherung als persuasive Teilstrategie hervorgerufen werden kann, folgte eine Korpuserstellung zu Polit-Talkshows im öffentlich-rechtlichen Fernsehen. Dieses umfasst ca. 20 Stunden Video- und Transkriptionsmaterial der Sendungen „Anne Will“ (ARD) und „Hart aber fair“ (WDR) aus den Jahren 2010/2011. Ein wesentliches Kriterium für die Auswahl dieses Korpus war die persuasive Absicht, die man den Gesprächspartnern in diesem Format per se unterstellen kann.²¹ Schließlich werden sie zu einem vorgegebenen Thema eingeladen, um kontrovers miteinander zu diskutieren (Bucher spricht hier von „Confrontainment“²²). Da es sich bei dem größten Teil der Gäste um professionelle Redner handelt, die aus dem Bereich der Politik, des Journalismus oder aus großen Wirtschaftsunternehmen kommen, kann man von ihnen einen strategischen Einsatz der Sprache als Instrument der Persuasion erwarten. Die Analyse muss jedoch die Besonderheiten des Formats „öffentliche PolitTalkshow“ berücksichtigen, die es fundamental von der dyadischen Kommunikationssituation im eingangs gezeigten Beispiel unterscheiden. In (2) hat die

 Vgl. Holly u. a. (1989) 87: „Die kommunikative Grundfunktion der Polit-Talkshows ist […] informativ-persuasiv, das heißt Polit-Talkshows haben neben ihrer unbestrittenen Unterhaltungsfunktion vor allem die Funktion, die Öffentlichkeit zu informieren und politisches Handeln zu begründen, zu analysieren, zu kritisieren und zu rechtfertigen.“ Natürlich heißt das nicht, dass die Persuasion ausschließlich mittels Verunsicherung realisiert wird.  Bucher (2004).

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Studentin zunächst (unbewusst) ihre Verunsicherung durch ihr Verhalten gezeigt, später sogar ihre Einstellungsänderung, also den persuasiven Erfolg der Äußerung, (bewusst) sprachlich explizit gemacht. In der privaten oder auch halb-öffentlichen Situation versucht der Sprecher also, den Gesprächspartner zu überzeugen, indem er ihn verunsichert. In den Polit-Talkshows stellt jedoch gar nicht der Gesprächspartner das persuasive Ziel des Sprechers dar, sondern vielmehr die (nur indirekt beteiligten) Zuschauer.²³ Diese Trialogizität aus Sprecher, Gesprächspartner und Zuschauer führt dazu, dass die Perlokution aufgrund der Mehrfachadressierung gewissermaßen zerfällt. Bei genauer Betrachtung ist die Kommunikationssituation sogar noch komplexer, da sich auch das Publikum noch einmal in Saalpublikum und Fernsehpublikum unterteilen lässt. Nimmt man außerdem den Moderator in seiner besonderen kommunikativen Funktion hinzu, kommt man gar zu einer tetradischen Konstellation, wie sie von Klein beschrieben wird.²⁴ Den Moderator können wir in Folge aus der Analyse ausklammern, da seine Gesprächsbeiträge einzig der Strukturierung und Forcierung des Gesprächs dienen. Er hat (idealerweise) keine persuasive Intention, sondern sorgt mehr für Dramatisierung und Zuspitzung, nicht zuletzt um den Unterhaltungswert und schnellen thematischen Fortgang in der Sendung sicherzustellen. Indem er Gesprächssequenzen in Form eines mehrteiligen Schlagabtausches unterbindet, verhindert er unterdies eine Eskalation und wirkt so zusätzlich artifiziell auf die Kommunikationssituation ein. Auf der anderen Seite vertritt das Saalpublikum im Studio den Zuschauer vor dem Fernseher. Dabei übernimmt das Saalpublikum die Funktion, dessen Reaktion sicht- und/oder hörbar zu machen.²⁵ Durch Klatschen, Lachen oder Buhen als emotionale Ausdrucksmöglichkeiten fungieren sie als Indikator einer möglichen Persuasion. Die Persuasion gilt nahezu ausschließlich dem Zuschauer, auch wenn sich die politischen Akteure scheinbar einzig ihrem Gesprächspartner zuwenden. Daher gelten politische Fernsehdiskussionen²⁶ als inszeniert,²⁷ da sie ihre Sprech Dass das Publikum im Zentrum steht, wird dadurch sichtbar, dass es konstitutiv für die Diskussionen ist – ohne Massenpublikum würden die Politiker in der Form nicht zusammen kommen – und „mit einer Anzahl normativer Ansprüche und Erwartungen an Inhalt, Form und Ablauf solcher Gespräche und an den Umgang der Gesprächspartner miteinander“ enormen Einfluss auf das Format nimmt (vgl. Klein 1989, 66 f.).  Klein (1989) 66.  Vgl. Burger (32005) 13.  Auch wenn im Fortlauf weiterhin mit dem Begriff ‚Diskussion‘ gearbeitet wird, sind dabei stets die Einwände von Holly u. a. (1989) 2 zu bedenken: „Diskussionen sind dem Ideal nach themenbezogen, sachlich, rational, argumentativ; es geht um die Überzeugung von einer expliziten These bzw. um ihre Widerlegung. Der Zugang ist frei, der Status der Teilnehmer gleich.

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handlungen „an der massenmedialen Wirksamkeit orientieren und die Öffentlichkeit als primären Adressaten begreifen“.²⁸ In der Literatur finden sich für dieses Phänomen auch die Ausdrücke „Fensterreden“²⁹ oder „Doppelspiel“.³⁰ Der jeweilige Gesprächspartner entzieht sich weitgehend dem persuasiven Wirkungskreis, da er nicht als Einzelperson auftritt, sondern vielmehr als Vertreter bestimmter Parteien, Verbände oder Unternehmen und sich somit gar nicht überzeugen lassen „darf“. In diesem Wissen agieren die Sprecher gleichzeitig in unterschiedlichen Kommunikationskreisen: „Erstens mit den unmittelbaren Kommunikationspartnern im Setting der Sendung, also mit Moderatoren, Journalisten, geladenen Mitdiskutanten, zweitens mit dem Studiopublikum und drittens mit dem Publikum an den Fernsehgeräten. Die Mehrfachadressierung besteht darin, dass Politiker mit derselben Äußerung gleichzeitig verschiedene Adressaten in verschiedenen Kommunikationskreisen ansprechen und auch unterschiedliche kommunikative Absichten verfolgen können: beispielsweise mit den anwesenden Teilnehmern diskutieren, das Studiopublikum unterhalten und beim Fernsehpublikum für die eigene Person oder Partei werben“.³¹

Wie in Abbildung 2 dargestellt, ist zwischen dem „inneren Kreis“ des dialogischen Geschehens und dem „äußeren Kreis“ als der Beziehung zwischen den Diskutanten (A, B, C) im inneren Kreis und dem Publikum zu differenzieren. Der äußere Kreis lässt sich noch einmal in Studio-(SP) und Fernsehpublikum (R) unterteilen.³² Auch wenn die Diskussion im inneren Kreis als rein inszeniert beschrieben werden kann, so „erwarten die Zuschauer […], dass diese Inszenierung weitgehend unsichtbar bleibt und die Gespräche ‚echt‘ wirken. Die Fokussierung auf den ‚inneren Kommunikationskreis‘ im Studio spielt dabei als AuthentizitätsSignal eine entscheidende Rolle“.³³ Die Gesprächspartner müssen unterschiedliche kommunikative Aufgaben erfüllen, darunter die Beantwortung der ModeNicht der Stärkste gewinnt, sondern das beste Argument. Diskussionen sind zeitlich offen; sie enden, wenn alle Argumente ausgetauscht sind bzw. ein echter Konsens gefunden ist. Nichts davon im Fernsehen.“  Vgl. dazu Holly u. a. (1989). Es gibt sogar eine doppelte oder sich überlagernde Inszenierung, da bei der Präsentation von Politik „gegenläufige Inszenierungsinteressen“ zwischen Politikbetreibenden (als Objekt der Darstellung) und den Medienmachern (als den Bearbeitenden) austariert werden müssen; siehe dazu Hicketier (2003) 46.  Vgl. Girnth u. Michel (2007) 88.  Hicketier (2003) 46.  Luginbühl (1999) 55.  Bucher (2004) 289.  Vgl. Burger (32005) 19 f. Statt von Kommunikationskreisen ließe sich ebenfalls von primärer, sekundärer, tertiärer Diskursebene sprechen (vgl. Bondi Paganelli 1990).  Bucher (2004) 291.

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Abb. 2: Kommunikationskreise in Polit-Talkshows (aus: Burger 32005, 20)

ratorenfragen, Bearbeitung der Redebeiträge der Diskutanten und das Berücksichtigen der Einwände aus dem Publikum. „In diesem Kommunikationsbereich sammelt ein Politiker Punkte für seine Kompetenz und sein Image. Kommuniziert er zu offensichtlich über diesen inneren Kommunikationskreis hinaus mit dem Fernsehpublikum und vernachlässigt dadurch den kommunikativen Kontext der Sendung, so wird das vom Publikum negativ sanktioniert.“³⁴ Die Devise für eine erfolgreiche Persuasion des Publikums könnte also wie folgt formuliert werden: „Führe ein Streitgespräch so, daß du beim Publikum in Berücksichtigung von dessen Interessen an Informativität, Wahrheit, Glaubwürdigkeit, Relevanz und verständlicher, überschaubarer Gesprächsführung möglichst als fairer Sieger dastehst!“³⁵ Dabei stellt es keineswegs einen Widerspruch dar, verunsichernde Mittel einzusetzen, um als „fairer Sieger“ aus der Diskussion hervorzugehen. Oder noch globaler formuliert, nutzt man in der politischen Kommunikation ohnehin „immer stärker [die] Formen der Medien, die emotional wirksam sind, Eindruck erzeugen, ohne dass sich die Agierenden dabei allzu konkret in ihren wirklichen Entscheidungen festlegen“.³⁶ Der Sprecher muss sich in seinen Redebeiträgen dem Anschein nach an seine Gesprächspartner wenden. Das gilt auch für die Verunsicherung. Die Aussichten, den Gesprächspartner erfolgreich zu verunsichern, sind dabei größer, als ihn letztlich zu überzeugen, da

 Bucher (2004) 290.  Klein (1989) 78.  Hicketier (2003) 211; vgl. auch Kindt u. a. (2009).

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Verunsicherung als (ggf. auch nur kurzfristige) Erschütterung der bisherigen Position nicht mit der Übernahme der intendierten Einstellung gleichzusetzen ist. Wie beschrieben, ist das für den Sprecher wenig problematisch, da die Persuasion ohnehin auf den Zuschauer ausgerichtet ist und dieser sehr wohl ggf. eine Verunsicherung beim Kontrahenten ausmachen und als Schwäche in dessen Position werten kann. Der Gesprächspartner dient für den Zuschauer somit auch als Projektionsfläche.Wird er in seiner Einstellung verunsichert, überträgt sich das bis zu einem gewissen Grad wahrscheinlich auch auf den Zuschauer. Daher sind die Gesprächspartner stets bemüht, sich keinesfalls eine Verunsicherung anmerken zu lassen. Als Medienprofis sind sie es ohnehin gewohnt, ihren Emotionsausdruck zu kontrollieren, auch wenn das nie in vollem Umfang möglich ist. Die Verunsicherung kann aber auch direkt beim Publikum evoziert werden, was insofern als wahrscheinlicher angenommen werden kann, als dass das Publikum im Vergleich zu den Politikern nicht auf eine Einstellung institutionell festgelegt ist und meist eine weniger gefestigte Meinung aufweisen sollte. So ergeben sich prinzipiell zwei Wege der Verunsicherung: a) Der Gesprächspartner wird sichtbar verunsichert und darüber die Zuschauer. Durch die erfolgreiche Verunsicherung des Gesprächspartners steigt die Wahrscheinlichkeit der erfolgreichen Verunsicherung des Zuschauers, wobei es auch hier keine Eins-zu-eins-Wirkungsrelation gibt. b) Der Gesprächspartner wird nicht sichtbar verunsichert, bei den Zuschauern wird dennoch eine Verunsicherung evoziert. Auch wenn der Gesprächspartner nicht (sichtbar) verunsichert wird, kann das Verunsicherungspotenzial einer Äußerung immer noch hoch genug sein, um den Zuschauer zu verunsichern.³⁷

 Natürlich gibt es ebenfalls die Möglichkeiten, dass weder Gesprächspartner noch Zuschauer verunsichert werden, also die Verunsicherung missglückt, oder aber zwar der Gesprächspartner verunsichert wird, der Zuschauer jedoch nicht. Letzteres erscheint allerdings sehr unwahrscheinlich, da die Schwelle einer erfolgreichen Verunsicherung aus genannten Gründen beim Zuschauer niedriger sein sollte als beim Gesprächspartner.

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Verunsicherungspotenzial in der Gesprächsanalyse Die aufgezeigte Unterscheidung der Verunsicherungstypen ist ohnehin rein theoretischer Natur, da ihr Erfolg – ebenso wie bzgl. der Persuasion – nicht ohne externe Verfahren, wie der Messung von körperlichen Symptomen (Pupillenveränderung oder Pulsfrequenz), zweifelsfrei nachgewiesen werden kann. Zudem macht es auf der Produzentenseite keinen strategischen Unterschied, da der Sprecher ohnehin das Verunsicherungspotenzial maximieren muss, um darüber letztlich beim Zuschauer persuasiv erfolgreich sein zu können. Entscheidend für diese Analyse ist also einzig die Intention der Verunsicherung. Für die Unterstellung dessen gilt die Einzelfallanalyse, so „dass es möglich sein muss, über diese Begründung intersubjektive Verständigung zu erzielen. […] Darin bemisst sich die Vernünftigkeit der Begründung. Dass dies keine letztgültige wissenschaftliche Begründung ist, bedeutet keine Einschränkung: Eine solche ist nirgendwo möglich“.³⁸ Die intentionale Verunsicherung wird in Folge den beiden Gesprächspartnern Alexander Dobrindt (CSU-Generalsekretär) und Klaus Wowereit (Regierender Bürgermeister von Berlin, SPD) unterstellt, die am 13.10. 2010 in der Sendung „Hart aber fair“ zum Thema „Özil hui, Ali pfui – wieviel Zuwanderer braucht Deutschland?“ diskutiert haben. Hierbei kam es zu einem längeren Gesprächsabschnitt (00:08:56 – 00:11:58), in dem beide Kontrahenten immer wieder die Möglichkeit hatten, direkt aufeinander Bezug zu nehmen und somit für einen Fortlauf der Diskussion zu sorgen. Daraus sollen nun vier der insgesamt sechs Sequenzen³⁹ dargestellt und hinsichtlich des Verunsicherungspotenzials der verschiedenen Sprechhandlungen beispielhaft analysiert werden. (3) Hart aber fair, 13.10.10, 00:08:56 – 00:09:59 Mod: Kommen wir gleich noch drauf, * ist richtig. Ähm, die Zahl der Türken nimmt ab, * die Frage der Entschuldigung steht im Raum.

 Frank (1992) 8.  Legende: Mod = Moderator, Dob = Dobrindt, Wow = Wowereit, Kol = Kolat, Pub = Publikum, Unb = unbekannt.

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Dob:

Kol: Wow: Pub: Dob: Kol: Pub: Kol: Pub: Wow: Mod: Pub: Wow:

Pub:

Stephan Peters, Monika Schwarz-Friesel u. Sally Zielske

Nein ((kopfschüttelnd)) das ist ja vollkommener Unsinn, Herr Kolat. Wahrheit diffamiert nicht, das muss man als erstes festhalten + und eines der größten Integrationsprobleme, des wir in unserem Land haben, ist es doch, dass es nach wie vor Menschen wie Herrn Wowereit gibt, die leugnen, dass es bestimmte Gruppen von Migranten gibt, in denen die Probleme größer sind als in anderen Gruppen. Das stimmt doch überhaupt nicht. Woher ((klatschen)) Ja ** Das ist aber leider so. Das stimmt doch nicht. ((klatschen)) Falsch! ((klatschen)) Woher nehmen Sie diese Kenntnis? ** Woher nehmen Sie diese Kenntnis? Also ((klatschen)) Woher nehmen Sie diese Kenntnis, dass ich äh Probleme leugne? Im Gegenteil * Wir arbeiten jeden Tag daran, Probleme zu lösen * in dieser Stadt, in München, in Rostock, überall in dieser Republik arbeiten tausende von Menschen daran, Probleme der Integration zu lösen. Und übrigens Ihre Kanzlerin auch + die hat n großen Integrationsgipfel gemacht. Da war Herr Kolat da, da war ich als Ministerpräsident da,waren andere da, ist sie sehr gelobt worden dafür, da braucht man nicht erst ein Buch von Herrn Sarrazin, dass wir über die Probleme diskutieren oder diesen Spruch von Seehofer. ((klatschen))

Nach dem Hinweis des Moderators geht Dobrindt kurz auf den vorherigen Redebeitrag von Kolat ein, bevor er eine Themenverschiebung vornimmt, indem er Wowereit ins Zentrum seiner Anschuldigung stellt. Die Adressierung Wowereits geschieht dabei lateral, d. h. er wird trotz seiner Anwesenheit nicht direkt angesprochen. Das kann von Dobrindt als eine humoristische Einführung in seinen Gesprächsbeitrag intendiert sein, wie es bspw. auch von Günthner als eine Art des „Frotzelns“ beschrieben wird.⁴⁰ Dadurch könnte sich demzufolge ein positives EP konstituieren, welches benötigt wird, um den harschen Vorwurf abzumildern, dass Menschen wie Herr Wowereit bestimmte Tatsachen leugnen. Dass es sich dabei um Tatsachen handelt, impliziert das Schlüsselwort leugnen. Darüber hinaus stellt dies nach Dobrindt eines der größten Integrationsprobleme in diesem Land dar. Diese Evaluation verstärkt zusätzlich das negative EP und soll Wowereit in Form eines indirekten Sprechakts zu einem Geständnis aufrufen. Er greift somit

 Vgl. Günthner (1999). Im Korpus ließen sich viele Belege dafür finden, dass die Initiierung von verunsichernden Sprechakten häufig mit einer Verlagerung der Konversation von der Sachauf die Beziehungsebene einhergeht.

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direkt Wowereits Glaubwürdigkeit an und setzt ihn (vor laufender Kamera) unter Druck. Wowereit bleibt jedoch betont ruhig. Während Kolat mehrfach energisch widerspricht, antwortet er mit einer rhetorischen Frage und versucht so, den Angriff als haltlos auszuweisen. Dabei greift er bewusst die Wortwahl des ProblemeLeugnens von Dobrindt auf und widerlegt dessen Position im anschließenden Redebeitrag. Mittels welcher Strategien das geschieht, soll hier nicht weiter verfolgt werden. Stattdessen gilt unser Interesse dem nächsten verbalen Angriff von Dobrindt, der sich direkt an die in (3) gezeigte Sequenz anschließt: (4) Hart aber fair, 13.10.10, 00:09:59 – 00:10:07 Also Herr Wowereit, dass Sie sich trauen, über Problemlösen, bei der Frage der Integration zu reden, ist schon ein starkes Stück Wow: Ja Pub: ((klatschen)) Wow: Nee, das ist gar kein starkes Stück Pub: ((klatschen)) Dob:

Dobrindt kritisiert explizit das Verhalten Wowereits, da dieser sich traue, über Problemlösen in der Integrationsfrage zu sprechen. Damit impliziert er, dass Wowereit dazu die notwendige Kompetenz fehle. Er gebraucht den Ausdruck dass Sie sich trauen als Vorwurf (und nicht etwa als Lob), sodass vermutlich Scham (als negatives EP) bei Wowereit aufgrund seines suggerierten Fehlverhaltens evoziert werden soll. Dobrindt verstärkt das Emotionspotenzial durch seine erneut starke Evaluierung, dass dies ein starkes Stück sei. Aber gerade durch die konventionelle Metapher starkes Stück wird der Angriff zugleich abgemildert. Man vergleiche stattdessen eine Beleidigung der Art „Es ist eine absolute Unverschämtheit“, wodurch die Gesichtsbedrohung ungleich größer wäre. Auch in dieser Situation zeigt Wowereit nach außen keine Verunsicherung, indem er durch das ja schon zu Anfang selbstbewusst bestätigt, dass er sich traut. Er schließt sich jedoch nicht der Evaluierung von Dobrindt an, sondern negiert diese explizit: „Nee, das ist gar kein starkes Stück“. Dadurch deutet er das Sich Trauen als eine positive Eigenschaft für sich um. (5) Hart aber fair, 13.10.10, 00:10:27– 00:10:53 Dob:

Und Sie tun immer so, als ob Sie die größte Zahl ** als ob Sie die größte Zahl an Ausländern in Berlin haben Wow: ((???)) Pub: ((klatschen))

200

Dob: Unb: Dob: Wow: Dob: Wow: Wow: Pub: Wow: Dob: Pub: Unb: Pub: Wow: Pub:

Stephan Peters, Monika Schwarz-Friesel u. Sally Zielske

Ich weis Sie mal darauf hin *+ in München ist die Zahl der Ausländer + ((???)) fast doppelt so hoch + wie in Berlin + genau richtig und wir haben eine Politik gestaltet, die integriert, die es schafft + Leute abzuholen und und in München haben Sie keinen CSU-Bürgermeister, sondern einen SPD-Bürgermeister ((klatschen)) na Herr Dobrindt, so ((???)) ich meine ((???)) ((???)) ((klatschen)) ((lacht)) ((klatschen)) Vielen Dank für das Kompliment an Herrn Ude ((klatschen))

Weil die bisherigen Angriffe nicht die gewünschte Wirkung bei Wowereit und dem Publikum⁴¹ gezeigt haben, fährt Dobrindt mit hoher Intensität fort. In seiner nächsten Äußerung unterstellt er Wowereit, dass er so tue, als ob die größte Zahl an Ausländern in Berlin lebe. Auch damit greift er wieder direkt dessen Glaubwürdigkeit an, indem er ihn der Täuschung bezichtigt, d. h. Wowereit etwas trotz besseren Wissens behauptet. Dieser Vorwurf wird durch den Allquantor immer generalisiert und verstärkt. Auch der anschließende, explizite Hinweis („Ich weis Sie mal darauf hin“) trägt wohl kaum zur Abschwächung bei, auch wenn gut gemeinte Hinweise durchaus eine Entlastung und Hilfestellung darstellen können. In diesem Fall dient die folgende Kontrastierung zwischen München und Berlin jedoch dazu, Wowereits Täuschung aufzudecken sowie seine bisherige Arbeit herabzuwürdigen. Auch diese Attacke fängt Wowereit ab, indem er zunächst dem „Fakt“, dass München doppelt so viele Ausländer habe wie Berlin, zustimmt, um somit seine eigene Kenntnis zu demonstrieren. Darauf folgt jedoch nicht ein Widerspruch wie bisher, sondern eine Art Konter von Wowereit, der nun erstmals selbst eine verunsichernde Sprachhandlung tätigt. Das gelingt ihm, indem er die Beweisführung Dobrindts aufnimmt, aber zu einer anderen Konklusion gelangt, nämlich dass für die guten Ergebnisse in München der SPD-Bürgermeister und nicht die CSU verantwortlich sei. Durch diese humoristische Einlage gewinnt Wowereit das Publikum für sich: Das Publikum klatscht und auch andere Gesprächspartner in der Runde beginnen zu lachen. Er führt seinen politischen Kontrahenten vor, tut dies allerdings hu-

 Dobrindt schaut zwischen den Redebeiträgen immer wieder bewusst in die Kamera und in das Publikum, um sich der Wirkung seiner Worte zu versichern.

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morvoll, so dass sich ein hohes Verunsicherungspotenzial (aus positivem wie negativem EP) konstituiert. Für einen Moment zeigt Dobrindt dann auch Verunsicherungssignale, dadurch dass seine Mimik ein gequältes Lächeln erkennen lässt und er nicht mehr seine Konklusion – die genau das Gegenteil aussagen sollte – vorbringen kann, sondern schlicht einige Sekunden benötigt, um fortzufahren. Dass die Verunsicherung an dieser Stelle auch beim Gesprächspartner Wirkung gezeigt hat, liegt vermutlich daran, dass der Angriff Wowereits für Dobrindt unerwartet kam, er sich nicht entsprechend darauf einstellen konnte. Es überrascht daher auch nicht, dass Dobrindt nun bemüht ist, den Moderator den Schlagabtausch nicht mit diesem Ausgang beenden zu lassen, und ihm stattdessen ins Wort fällt: (6) Hart aber fair, 13.10.10, 00:11:14– 00:11:46 Herr Dobrindt, Herr Wowereit,+ ich verspreche Ihnen warum müssen die Kinder in Berlin nicht Deutsch können+ wenn sie in die Schule gehen **+ die müssen,+ natürlich müssen die Deutsch k[ö|e]nnen in Bayern müssen sie vorher Deutsch lernen+ und dann können sie (???) wir haben als erstes Land den Sprachtest + wir haben als erstes Land den Sprachtest flächendeckend eingeführt, wir haben als erstes Land schon im vorschulischen Alter Sprachförderung angeboten, tun es auch heute, erzählen Sie doch nicht so einen Unsinn, von dem Sie nichts verstehen, Sie haben Ihre gepflegten Vorurteile *+ Pub: ((klatschen)) Wow: Sie haben Ihre gepflegten Vorurteile * und die lassen Sie schön raus. Mod: München gegen Berlin ist ein schöner Wettstreit für eine eigene Sendung Unb: ((???))

Mod: Dob: Dob: Wow: Wow: Dob: Dob: Wow:

In der letzten Sequenz stellt Dobrindt die Behauptung auf, dass die Kinder in Berlin kein Deutsch können müssten, wenn sie in die Schule gehen. Damit kritisiert er Wowereit, da er diesen Missstand als regierender Bürgermeister zu verantworten hätte. Durch die rhetorische Frage wird das negative Emotionspotenzial abgemildert. Derartige rhetorische Fragen sind per se ein geeignetes Mittel, um zu verunsichern, da sie einerseits kaum Raum für Antwort und Verteidigung lassen, dies andererseits jedoch indirekt als vorgeschobene Frage und damit weniger aggressiv tun.⁴²

 Vgl. Meibauer (1986).

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In der Reaktion Wowereits sieht man einen (taktischen) Wandel.War er bisher stets um Contenance bemüht und konnte zuletzt mittels eines Konters Dobrindt selbst unter Druck setzen, fällt seine Reaktion nun sehr emotional aus. Er lässt die rhetorische Frage nicht gelten, unterbricht und widerspricht Dobrindt. Es kommt zum ersten Mal dazu, dass beide parallel sprechen, also das Prinzip one-speakerat-a-time missachten.Wowereit setzt sich hier durch und formuliert einen Direktiv: „Erzählen Sie doch nicht so einen Unsinn!“ Die Komplexanapher Unsinn enthält eine negative Bewertung bzgl. der vorangehenden Redebeiträge Dobrindts und qualifiziert ihn dadurch gänzlich ab. Dabei verschärft er die negative Evaluation tautologisch mit dem Zusatz „von dem Sie nichts verstehen“. So will Wowereit vermutlich die andauernden Angriffe Dobrindts beenden und wirkt entsprechend destruktiv. Es findet sich in seiner Äußerung kein positives EP, das den Angriff abmildern könnte. Aus der Diskussion hat sich ein Streitgespräch entwickelt, das zunehmend vom Sachthema auf eine persönliche Ebene verlagert wurde. Waren die ersten Angriffe Dobrindts schon bezüglich einer Verunsicherung nicht sonderlich gut austariert, da bspw. mittels lateraler Ansprache oder expliziter Hinweise kaum hinreichend abgeschwächt, werden die Redebeiträge auf beiden Seiten nach dem Konter Wowereits zusehends destruktiver. Am Ende will Wowereit mit einem Rundumschlag aus der Diskussion aussteigen, wahrscheinlich auch weil die Angriffe Dobrindts ihn in der Summe stark unter Druck gesetzt haben. Daran wird ersichtlich, dass Sprechhandlungen nicht isoliert, sondern immer im Ko(n)text des bisherigen Gesprächsverlaufs analysiert werden sollten. Auch wäre der Rückschluss, dass sich in Dobrindts Äußerung kein Verunsicherungspotenzial manifestiert, da eine offensichtliche Reaktion bei Gesprächspartner und Zuschauer (bis auf vereinzeltes Klatschen im Publikum) ausbleibt, nicht zulässig.⁴³ Wie erwähnt, ist der Erfolg jeder Verunsicherung rezipientenabhängig. Dennoch lässt sich aus der dargestellten Analyse ableiten, dass der Konter von Wowereit nicht nur sprachlich am besten austariert war, sondern auch aufgrund des situativen Überraschungseffekts vermutlich das größte Verunsicherungspotenzial trägt.

Fazit Der intentionale Einsatz von negativen Affekten kann als persuasive Strategie durchaus wirksam sein. Das gilt insbesondere für Kommunikationssituationen, in

 Vgl. Bollow (2004) 225: „If hiding emotions is one guiding principle for politicians on screen, one cannot conclude that they do not exist and therefore fall out of the scope of analysis.“

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denen die bisherigen Einstellungen verhärtet scheinen. Auf sprachlicher Ebene erscheint es sinnvoll, mit dem Terminus des Verunsicherungspotenzials zu arbeiten, da so weitgehend externe und situationsbedingte Faktoren ausgeklammert werden können, die für eine Wirkungsanalyse relevant wären.⁴⁴ Das zeigte sich insbesondere bei der Analyse des Korpus aus Polit-Talkshows, bei dem immer auch die Unterschiede zur Dyade, wie insbesondere die Doppeladressierung und die unterschiedliche Ausrichtung von Illokution und Perlokution, berücksichtigt werden müssen. Dabei hat sich weitgehend bestätigt, „dass Argumentationen zur Klärung strittiger Fragen durch kommunikative Aktivitäten der Emotionalisierung und verbalen Konfliktaustragung überlagert werden und dass dann politische Positionen als gerechtfertigt erscheinen, die sachlogisch nicht ausreichend begründet sind“.⁴⁵ Zumindest setzen darauf die Gesprächsteilnehmer, wenn sie sich bewusst negativer Affekte bedienen, die für Verunsicherung beim Gesprächsteilnehmer wie vor allem beim Zuschauer sorgen sollen.⁴⁶ In der Untersuchung konnten diesbezüglich verschiedene Strategien herausgestellt werden, die auf unterschiedliche negative Affekte (Wut, Trauer, Scham) abzielen. Konstitutiv für alle Strategien ist immer ein positives EP, das nicht die Absicht des Sprechers verdecken, sondern lediglich für den Gesprächspartner ertragbar machen soll. Die sprachliche Ausbalancierung der Emotionspotenziale kann auf lexikalischer Ebene bspw. mittels evaluierender, emotionsausdrückender und emotionsbezeichnender Wörter geschehen; auf Satzebene können Exklamativsätze, Vergleiche und Metaphern Bewertungen vermitteln, und auch die Informationsstruktur (Fokussierung, Perspektivierung, die durch syntaktische Strukturierung und rhetorische Fragen bewirkt werden können) einer Äußerung kann maßgeblich zum EP beitragen und damit als inhärente E-Eigenschaft einer Äußerung beschrieben werden.⁴⁷ Die Forschungsergebnisse sollen Anlass geben, in Zukunft weiter gerade die emotiven Einflüsse der Persuasion in den Fokus zu stellen. Der Terminus der Verunsicherung kann hier eine Kategorie der negativen Affektstrategien darstellen, bedarf aber natürlich weiterer Ausdifferenzierung.

 Um die persuasiven Erfolgsaussichten genauer zu bestimmen, müssten Faktoren wie Status, Alter, Bildungsstand, emotionaler Zustand u.v.m. berücksichtigt werden und selbst dann wäre eine Voraussage noch zu einem Großteil spekulativ (vgl. Burkart 2002, 191 ff.).  Vgl. Kindt u. a. (2009).  Vgl. auch Bollow (2004) 235.  Vgl. dazu ausführlich Schwarz-Friesel u. a. (2012).

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Stephan Peters, Monika Schwarz-Friesel u. Sally Zielske

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Den Gesprächspartner verunsichern, um das Publikum zu überzeugen?

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Boris Dunsch

Labefacto paulatim Zur Rhetorik der Verunsicherung in der römischen Komödie Für Cesare Questa zum 80. Geburtstag

Abstract Techniques of emotional destabilisation are deployed in the internal communication system of Roman comedy primarily against persons who are to be deceived in the context of an intrigue. Three types of destabilisation can be distinguished: Type I aims to destabilise the victims with respect to their knowledge, Type II with respect to their perception, Type III with respect to their identity. A precondition of destabilisation is that the intriguer achieves control over the perceptions of the victim of intrigue. It was possible to identify the following techniques of destabilisation in samples of dialogue from Mostellaria and Miles gloriosus: (1) a manipulative-selective information flow; (2) control of the discussion by the intriguer, e. g. by usurping control of the dialogue or by fear appeals; (3) the use of delegitimising ad personam techniques; (4) twisting logic; (5) avoiding argumentative engagement, e. g. by verbal reprises and reaffirmation; (6) transferring emotions from the intriguer onto the victim of intrigue. From the perspective of communication theory, numerous violations of Grice’s cooperative principle and the maxims derived from it can be identified.

Einleitung: Verunsicherung und Intrige Verunsicherung Fragt man nach einer Rhetorik¹ der Verunsicherung in der römischen Komödie – deren generelle Verbindung mit der Rhetorik ihrer Zeit von der Forschung schon

 Der Begriff der Rhetorik impliziert, dass unter Verwendung bestimmter Techniken eine affektive Reaktion in persuasiver Redeabsicht bei einem Gegenüber erzeugt werden soll. Dies formuliert schon die antike Theorie des movere vielfach; zum Verhältnis von Rationalität und Emotionalität im Horizont antiker Theoriebildung zur rhetorischen Psychagogie vgl. z. B. Heldmann (2007) und Vogt-Spira (2008). Allgemein zur Emotionstheorie in Antike und Mittelalter vgl. Knuuttila (2004). Einen interdisziplinären kulturhistorischen Überblick über die Affektpoetik bietet Meyer-Sickendiek (2005); der in dieser Untersuchung verwendete weite Affektbegriff ist seinem (30) vergleichbar, insofern er Affekte im engeren Sinne, aber auch Gefühle und Stimmungen umfasst. Zum Verhältnis von Emotion und Urteil bei Aristoteles vgl. Konstan (2007)

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oft betont worden ist² –, so ergeben sich entsprechend der Grundkonstellation jedes dramatischen Geschehens zunächst zwei mögliche Untersuchungsbereiche. Zum einen ließe sich untersuchen, in welcher Weise das Publikum als Beobachter der Handlung auf der Bühne in seiner Deutung dieser Handlung affektiv verunsichert wird, z. B. durch überraschende Volten im Verhalten von Bühnenpersonen oder durch eine wider die Erwartung laufende Entwicklung eines bestimmten Handlungsstrangs. Zum anderen ließe sich untersuchen, wie die Personen auf der Bühne interagieren und einer den anderen mit Hilfe bestimmter Techniken verunsichert. Dieser zweite Untersuchungsansatz erscheint schon deshalb vielversprechend, weil die auf Verunsicherung des Gegenübers zielenden Aktionen des einen ebenso wie die Reaktionen des anderen in den überlieferten Texten – manchmal mehr, manchmal weniger eindeutig – dokumentiert sind.³ Für eine Untersuchung ist vor allem auch der Umstand vorteilhaft, dass die auf der Bühne dargestellten Interaktionen kein reales Verunsichern eines Gegenübers sind, sondern auf überschaubare Weise eine vereinfachte Diskurswelt präsentieren, bei der – wie man annehmen darf – zumindest teilweise Elemente realer Diskurswelten mimetisch integriert werden.⁴ Dass man hier sowohl mit Überzeichnungen als auch mit schon durch die Gattung Komödie selbst bedingten Abweichungen von realem Diskursverhalten zu rechnen hat, liegt auf der Hand. Im Gegensatz dazu können bei einer Untersuchung des Rapports der Zuschauer mit den Schauspielern mögliche Reaktionen des Publikums oft nur hypothesenhaft rekonstruiert werden, so dass eine Untersuchung solcher Interaktionen in noch viel stärkerem Maße auf das spekulative Ausfüllen von Lücken im Befund angewiesen ist. Überdies liegen zu dieser Fragestellung bereits zahlreiche Untersuchungen vor.⁵ Deshalb soll im Folgenden die Analyse der auf Verunsicherung zielenden Interaktionen einzelner Bühnenpersonen untereinander im

37 f. und passim; zur Kultivierung der Gefühle durch Literatur im Rahmen von Aristoteles’ Katharsiskonzept vgl. Schmitt (2008). Allgemein zur Theorie der Gefühle bei Aristoteles vgl. Krewet (2011), wo allerdings Verunsicherung nicht behandelt wird, sowie Rapp (2008) und Price (2010), der auch Platon behandelt. Zu Platon vgl. Erler (2008); zu stoischen und epikureischen Emotionstheorien vgl. die Überblicke bei Buddensiek (2008) und Gill (2010); speziell zur Stoa Graver (2007) und Krewet (2013).  Vgl. z. B. Hughes (1997); Barsby (2007).  Hierzu ist auch das Schweigen als Reaktion zu zählen, das aus den Dramentexten meist leicht erschlossen werden kann; zum Schweigen in der plautinischen Komödie siehe Foucher (2007).  Vgl. hierzu das äußerst brauchbare Modell des „lexicalized residue“, wie es Kaster (2005) 7– 9 entwickelt und in seiner Untersuchung wiederholt anwendet.  Vgl. v. a. Moore (1998); Ergänzungen bei Marshall (2006) 73 – 82 und Stürner (2011) 117– 124. Das Wenige, was über die Realien antiken Theaterbesuchs bekannt ist, fasst jetzt Manuwald (2011) 98 – 108 zusammen.

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Zentrum stehen. Der Schwerpunkt wird also auf dem Verhältnis der Personen im inneren Kommunikationssystem des Dramas liegen, auf der Binnenkommunikation der Charaktere, und gerade nicht auf der Untersuchung des äußeren Kommunikationssystems, also auf den mannigfaltigen und komplexen Interaktionen vom Publikum mit Schauspielern und Dichtern.⁶ Die Analyse wird anhand ausgewählter Texte erfolgen, die mir für bestimmte Arten bzw. Grade der erzeugten Verunsicherung typisch zu sein scheinen.

Intrige Die Mehrzahl der erhaltenen römischen Komödien lässt sich dem Typus des Intrigendramas zuordnen. Komödien dieser Art sind dadurch gekennzeichnet, dass sie eine oder mehrere Intrigen als wichtiges Element ihrer Handlung enthalten.⁷ Eine Intrige kann definiert werden als eine absichtlich und mit List herbeigeführte Komplikation im Drama, die demjenigen, der sie verwendet, zur Durchsetzung seiner Ziele verhelfen soll.⁸ Will man nun von einer Rhetorik der Verunsicherung in der römischen Komödie sprechen, so findet diese ihren natürlichen Ort im Intrigendrama. Bei einer Intrige geht es ja gerade darum, eine Scheinwelt⁹ zu konstruieren, um die Intrigenopfer zu etwas zu überreden bzw. von etwas zu überzeugen, was sie eigentlich nicht zu tun bereit oder als Tatsache anzunehmen gewillt sind. Ziel der Intrige muss es also sein, jemanden dazu zu bringen, dass er eine bei sich bereits bestehende Überzeugung zumindest nicht mehr nachdrücklich vertritt bzw. im besten Falle sogar ganz aufgibt, also dass er an seinen bisherigen Kriterien zur Beurteilung des Wahrheitswertes einer Sache irre wird und etwas anderes leichter als wahr oder wünschenswert annimmt. Mithin ist die Verunsicherung des Intrigenopfers bei der Durchführung einer Intrige als Manipulationstechnik ersten Ranges anzusehen. Die Verunsicherung des Intrigenopfers ist gleichsam der affektive Boden, auf dem die übrigen persuasiven Strategien des Intrigierenden gedeihen können. Daher überrascht es, dass in der bisherigen Forschung zwar der Analyse der jeweiligen Intrigen und ihrer Strukturen eine Reihe wichtiger Un-

 Völlig ausblenden lassen sich auch diese freilich nicht: Die Spieler interagieren immer unter den Augen eines Publikums, dessen Anwesenheit zwar nicht ständig explizit, aber doch häufig implizit von den Schauspielern anerkannt wird.  Vgl. Dieterle (1980); ergänzend Wieand (1920). Aus komparatistischer Sicht interessant: von Matt (2008).  Die Definition folgt, mit Modifikationen, von Wilpert (82001) 380.  Zur Erzeugung der „Scheinwelt“ vgl. Dieterle (1980) 6 f.

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tersuchungen gewidmet worden ist, dass aber die einzelnen Techniken und persuasiven Strategien des Verunsicherns bisher kein systematisches Interesse geweckt haben.¹⁰ So stellt etwa Dieterle fest, dass sich an jeder Intrige vier Wesensmerkmale finden lassen: Personen (Intrigant/-en und Opfer), Ziel, Mittel (Vorspiegeln einer Scheinwelt), Handlung (Interaktion).¹¹ Doch auf den Umstand, dass die Verunsicherung ein wichtiges Mittel der Intrigendurchführung ist, geht selbst er in seiner grundlegenden Monographie zur Intrige in der antiken Komödie nicht ein. Der mit Hilfe einer Verunsicherungstaktik Manipulierte handelt in einer Scheinwelt und damit in mangelhafter Kenntnis dessen, was wahr oder für ihn vorteilhaft ist. Mithin handelt ein solches Verunsicherungsopfer nicht mehr im eigenen wohlbegründeten Interesse. Hiermit ist zudem klar, dass eine Verunsicherung stets dialogischen Charakter hat. Der Vollzug einer Verunsicherung ist verbal weder reflexiv noch intransitiv formulierbar. Eine Person kann sich, wie auch der Sprachgebrauch zeigt, zwar täuschen oder unsicher werden, sich aber nicht selbst verunsichern.¹² Der Begriff der Verunsicherung impliziert also mindestens zwei am Vorgang des Verunsicherns beteiligte Parteien. Überdies setzt die Rede von der Verunsicherung begriffslogisch die Sicherheit voraus, nämlich die Sicherheit des Urteils, das Fürwahrhalten einer Aussage. Ziel der Verunsicherung ist es, denjenigen, der etwas für wahr hält, dazu zu bringen, an der Richtigkeit eben dieses Fürwahrhaltens zu zweifeln. Insofern bieten sich Autoritätspersonen, die ja in aller Regel ein hohes Maß an Sicherheit für ihre Urteile in Anspruch nehmen, in der Komödie als besonders dankbare Ziele einer Verunsicherung an.

 Auch in den in jüngerer Zeit in größerer Zahl vorgelegten Arbeiten zur Emotionalität in der antiken Literatur werden weder die affektive Verunsicherung überhaupt noch auch die Komödienintrige thematisiert. Knuuttila (2004) 109 referiert die Aufteilung der Furcht („fear“) im 21. Kapitel der spätantiken Abhandlung De natura hominis des Nemesios von Emesa (ca. 400 n. Chr.), wobei im Zusammenhang mit unserem Thema am ehesten an die Kategorie ὄκνος („shrinking“, „fear of taking action“) zu denken ist; Kaster (2005) 13 – 27 untersucht die verecundia „between respect and shame“. Wichtig auch Graver (2007), die in einer Appendix (213 – 220) „confidence“ (confidere; vgl. Cic. Tusc. 4,66) behandelt, woraus sich e negativo auch Aspekte auf das Konzept der Verunsicherung ergeben.  Dieterle (1980) 5.  Man könnte argumentieren, dass auch eine einzelne Person sich verunsichern kann, indem sie von ihrem eigenen, zunächst eingenommenen Standpunkt Abstand nimmt, mit sich selbst in einen Dialog tritt und sich – wie in einem inneren Streitgespräch – selbst überzeugt, dass er möglicherweise nicht richtig ist. Dies würde allerdings eine Ausweitung des Begriffs der Verunsicherung darstellen, die es nicht mehr zuließe, zwischen Verunsicherung (von außen, durch einen anderen verursacht) einerseits und Meinungsänderung oder Zweifeln (von innen, durch sich selbst verursacht) andererseits zu unterscheiden.

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An Textbeispielen aus den plautinischen Komödien Mostellaria und Miles gloriosus soll untersucht werden, mit welchen Mitteln die Intrigierenden ihre Opfer verunsichern, affektiv irritieren und bis hin zur emotionalen Verstörung aus dem Gleichgewicht bringen, um sie dann um so effektiver dazu zu bewegen, entsprechend dem Ziel der Intrige eine bestimmte Handlungs- oder Denkweise anzunehmen und die ihnen in der Intrige zugedachte Rolle einzunehmen. Wer auf eine solche Intrige hereinfällt, sich dergestalt verunsichern und umstimmen lässt, wird zur Spielfigur des Intriganten, derer er sich im Handlungsverlauf bedienen kann, indem er ein Theaterstück im Theaterstück inszeniert.¹³

Zur Terminologie der Verunsicherung Zuvor soll jedoch kurz die Terminologie der Verunsicherung in den Blick kommen, wie sie von Plautus und Terenz verwendet wird. Zunächst wäre an das Adjektiv incertus zu denken, das neben anderen Verwendungsweisen, die hier nicht von Interesse sind, entweder mit Bezug darauf verwendet werden kann, dass man sich einer Sache nicht sicher ist, oder aber mit Bezug auf die Sache, derer man sich nicht sicher ist, so wie es in der verzweifelten Monodie eines unglücklichen jungen Liebhabers bei Plautus zu hören ist (Merc. 341– 349): Miser amicam mihi paravi, animi causa, pretio †eripui†, ratus clam patrem meum posse habere; is rescivit et vidit et perdidit me; neque is quom roget quid loquar cogitatumst, ita animi decem in pectore incerti certant. nec quid corde nunc consili capere possim scio, tantus cum cura meost error animo, dum servi mei perplacet mi consilium, dum rursum hau placet (…) Ich Armer habe mir eine Freundin verschafft, zum Vergnügen, für einen hohen Kaufpreis habe ich sie befreit (?), in der Meinung, ich könnte sie heimlich vor dem Vater besitzen; der hat es herausgefunden und sie gesehen und mich zugrundegerichtet; weder ist erdacht, was ich sage, wenn er mich (nach ihr) fragt, so kämpfen zehn Gemüter unsicher in meiner Brust. Noch was ich im Herzen jetzt für einen Plan fassen kann, weiß ich, so groß ist meinem Gemüt mit der Sorge jetzt die Ungewissheit,

 Vgl. Blänsdorf (1982).

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während mir meines Sklaven Plan sehr gut gefällt, während er mir wiederum nicht gefällt (…)¹⁴

Zehn verschiedene animi, Gemüter, sagt der Liebende, kämpfen in ihm, und er weiß nicht, was er als nächstes tun soll. Die zehn animi werden als incerti gekennzeichnet, als ungewiss bzw. unsicher. Es finden sich eine Reihe derart illustrativer Beschreibungen des Zustands der Verunsicherung bzw. der inneren Zerrissenheit in der Komödie, zumal in den ἀμηχανία-Monologen junger Liebhaber. Ein davon abgeleitetes Verb incertare („verunsichern“) ist hingegen selten; es findet sich bei Terenz gar nicht, bei Plautus immerhin einmal. Wiederum wird der animus als Träger der Verunsicherung aufgefasst (Epid. 544 f.):¹⁵ (…) longa dies meum incertat animum. sin east quam incerte autumo, hanc congrediar astu. (…) Die lange Zeit verunsichert mich. Wenn sie aber die ist, für welche ich sie in Ungewissheit halte, werde ich mit schlauer List an sie herantreten.

Um auszudrücken, dass jemand einen anderen so täuscht, dass dieser Wahres von Falschem nicht mehr unterscheiden und Gegensätze nicht auseinanderhalten kann, verwendet Plautus den Begriff praestigiae (bzw. für den, der ein solches Verunsicherungsmanöver ausführt, praestigiator/praestigiatrix).¹⁶ Der Begriff leitet sich von physischer Blindheit her, deren Zustand im übertragenen Sinne mit der geistigen Blindheit desjenigen verglichen wird, der als Opfer einer Täuschung in den Zustand der Verunsicherung gerät.¹⁷ Wie man schon an diesen wenigen Beispielen sieht, wird der Zustand der Verunsicherung in der Palliata durchaus terminologisch gefasst. Auch Ausdrücke für das Verunsichern als Strategie der Dialogführung finden sich. Die entscheidenden Verben sind hier labefacere und labefactare für die Tätigkeit des Verunsicherns bzw. für das Ergebnis einer Verunsicherung labascere (bzw. labefieri). So äußert sich der Vater des jungen Liebhabers im Mercator, aus dessen Mono Alle Übersetzungen in diesem Beitrag stammen vom Verfasser.  OLD s.V. incerto 2 („to make uncertain or doubtful; to make indistinct, obscure“) führt außer der Plautusstelle noch Pac. trag. 150 an: me incertat dictio: quare expedi!; Apul. met. 5,13 und 11,16 (bei Apuleius wird das Verb allerdings eher im Sinne von „to make indistinct“ verwendet, nicht im Sinne eines Verunsicherns).  Vgl. Brotherton (1926) 90 f. Bei Terenz sind die Wörter nicht belegt.  Es handelt sich um „[a]pparent physical blindness, resulting in mental bewilderment and error“ (siehe Brotherton 1926, 90).

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die bereits zitiert wurde, als er merkt, dass seine Verunsicherungstaktik gegenüber dem Sohn Erfolg hat, in einem À part an die Zuschauer folgendermaßen (Merc. 403 – 405): DE. (beiseite) labefacto paulatim. (laut, zum Sohn) verum quod praeterii dicere, neque illa matrem satis honeste tuam sequi poterit comes neque sinam. CH. qui vero? (…)

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DE. (beiseite) Ich bringe ihn allmählich ins Schwanken. (laut, zum Sohn) Aber was ich versäumt habe zu sagen, jene kann deiner Mutter weder genügend sittsam als Begleitung folgen noch werde ich es zulassen. CH. Aber wieso? (…)

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Ebenfalls in einem À part äußert sich in den Adelphoe des Terenz ein intrigierender Sklave über den positiven Verlauf seines Manipulationsmanövers gegenüber einem Zuhälter (Ad. 239 – 242): SY. (beiseite) labascit. (laut) unum hoc habeo. vide si satis placet: potius quam venias in periclum, Sannio, servesne an perdas totum, dividuom face; minas decem conradet alicunde. (…) SY. (beiseite) Er kommt ins Schwanken. (laut) Dies eine habe ich noch. Sieh, ob es dir hinreichend gefällt: Eher als dass du in Gefahr gerätst, Sannio, die gesamte Summe zu retten oder zu verlieren, geh’ auf die Hälfte; zehn Minen wird er irgendwoher zusammenkratzen. (…)

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Offenbar hat diese Ausdrucksweise die Aufmerksamkeit des antiken Schulunterrichts erregt; es findet sich eine aufschlussreiche Erläuterung zum Verb labascere in Donats Kommentar zu der soeben zitierten Stelle (Don. ad Ter. Ad. 239): (2) (…) inchoativum verbum est, μεταφορᾷ ab arbore significanter facta, quae multis succisa ictibus ferri tandem incipit in casum pendere ruinamque minari. ¹⁸ Es handelt sich um ein inkohatives Verb, metaphorisch offensichtlich vom einem Baum hergeleitet, der, von vielen Schlägen getroffen, endlich beginnt, sich zu bewegen sowie zu drohen, sich zum Fall zu neigen und zu stürzen.

Dass diese Terminologie auch sonst in der Rhetorik gebräuchlich war, sei hier nur durch eine hergesetzte Stelle aus der Herenniusrhetorik angedeutet, wo es allerdings in erster Linie nicht um ein affektives Verunsichern geht (Rhet. Her. 2,31):

 Der lateinische Text folgt Jakobi (1996) 62 mit Anm. 156 und 157.

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Quoniam igitur ostendimus perfectam et plenam argumentationem ex quinque partibus constare, in una quaque parte argumentationis quae vitia vitanda sunt, consideremus, ut ipsi ab his vitiis recedamus ac adversariorum argumentationes hac praeceptione in omnibus partibus temptare et ab aliqua parte labefactare possimus. Da wir also gezeigt haben, dass die vollkommene und vollständige Beweisführung aus fünf Teilen besteht, möchten wir nun erwägen, welche Fehler bei jedem Teil der Beweisführung zu vermeiden sind, damit wir selbst von diesen Fehlern ablassen und die Beweisführung unserer Gegner durch diese Vorschrift in allen Teilen testen und in irgendeinem Teil ins Schwanken bringen können.

Darauf, dass diese Begrifflichkeit auch im antiken Schulunterricht verwendet wurde, deutet Donats Kommentar zu Hecyra 108 (p. 212, 18 – 20 Wessner), wo es heißt, dass eine Äußerung des Sklaven Parmeno zeige, dass er quasi ex parte labefactus est, sic enim loquitur.

Verunsicherungsstrategien in der römischen Komödie: Textbeispiele Doch nun zu den angekündigten Analysen von Textpassagen, die zwei Komödien des Plautus entnommen wurden, unter der Fragestellung, wie Strategien der Verunsicherung dort unter Einsatz affektiv wirksamer sprachlich-rhetorischer Mittel operativ umgesetzt werden. Außer Betracht bleiben die vielen kleineren, wenige Verse umfassenden Momente der Verunsicherung, wie sie in einer Komödie häufig vorkommen können, z. B. Augenblicke komischer Begriffsstutzigkeit, kurzes Aneinander-Vorbeireden oder die vor allem für Zwillingskomödien wie z. B. die Menaechmi typischen Situationen wiederholt verwechselter Identitäten. Solche Momente der Verunsicherung dienen als autonome Motive in Form komischer Routinen in der Regel der spontanen Erzeugung situativer Komik. Auch die Verunsicherung im Kreuzverhör,¹⁹ wie sie z. B. im Mercator auf höchst amüsante Weise eine Ehefrau gegenüber ihrem beim Rendezvous mit einer Hetäre ertappten Mann bei diesem erzielt, soll nicht untersucht werden, da es in solchen Fällen nur um das Aufdecken einer aufgrund des schlechten Gewissens des Ertappten ohnehin bestehenden, gleichsam natürlich entstandenen Unsicherheit geht, ohne dass dabei persuasive Strategien notwendig zum Einsatz kommen müssten. Es geht im Kreuzverhör ja gerade um das Aufdecken, nicht um das

 Vgl. Wallochny (1992) 159 – 161.

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Dissimulieren von Wahrheit.²⁰ Auch die in vielen Variationsformen vorliegenden eristischen Zänkereien und streithaften Wechselreden in der römischen Komödie bleiben hier außer Betracht; diese gewinnen ihre besondere Dynamik und Bühnenwirksamkeit ja gerade dadurch, dass beide Seiten ihrer Sache mehr oder weniger sicher und jedenfalls nicht verunsichert sind – und sich auch vom Gegenüber nicht verunsichern lassen.²¹ Hier hingegen soll eine andere, komplexere, dissimulierende Art von Verunsicherungen untersucht werden, und zwar jene, die in eine Intrige eingebettet sind, die sich über größere Teile der Handlung erstreckt. Solche Fälle sind dadurch gekennzeichnet, dass in ihnen die Verunsicherung gänzlich artifiziell ist und erst mittels bestimmter sprachlicher Manöver induziert werden muss.²² Nach dem Grad der vom Intrigierenden angestrebten Verunsicherung seines Opfers lassen sich die Taktiken der Verunsicherung in drei Typen einteilen. Im ersten Beispiel, das aus der Mostellaria stammt, wird ein alter Mann, der von einer mehrjährigen Reise zurückkehrt, durch das, was einer seiner Sklaven ihm erzählt, so verunsichert, dass er nicht mehr wagt, sein eigenes Haus zu betreten, sondern voll Furcht von der Bühne läuft. Hier liegt, könnte man sagen, ein einfacher Fall von Verunsicherung vor: Eine Person verunsichert eine andere so, dass diese von ihrem bisherigen Vorhaben ablässt und sich entschließt, etwas anderes zu tun. Bei einer solchen Verunsicherung, die man Typ-I-Verunsicherung nennen könnte, bleibt die Wahrnehmung der Wirklichkeit selbst unhinterfragt, d. h. das Intrigenopfer wird nur in Hinsicht auf seine Deutung der wahrgenommenen Wirklichkeit verunsichert, nicht aber in Hinsicht auf seine Fähigkeit, sinnlich gegebene Daten überhaupt richtig wahrzunehmen. Doch auch für diesen Fall, also eine Verunsicherung, die dazu führt, dass man sozusagen seinen eignen Augen nicht mehr trauen mag, finden sich Beispiele. So redet in der zweiten näher zu betrachtenden Komödie, dem Miles gloriosus, ein Sklave einem seiner Mitsklaven, der etwas gesehen hat, was er nicht hätte sehen sollen, mit Unterstützung einer Reihe anderer Personen ein, dass er überhaupt nicht gesehen habe, was er doch tatsächlich gesehen hat. Am Ende ist das Opfer dieser Verunsicherung dermaßen aus der Bahn geworfen, dass es nicht mehr

 Ziel der Taktik des Verunsicherns im Kreuzverhör ist es jedenfalls nicht unbedingt und nicht in erster Linie, jemanden zur Änderung seines Verhaltens zu bringen.  Zu diesen vgl. Schmude (1988) und Wallochny (1992).  Andere wichtige paralinguistische Signale, z. B. Tonfall, Mimik, Körperhaltung, können zur Verunsicherung eines Gegenübers sehr beitragen, müssen aber hier schon allein deshalb außer Betracht bleiben, weil uns von den Komödien, die zweifellos multimediale Gesamtkunstwerke waren, nur noch der Text, das Libretto, vorliegt und daher alle Aussagen zur Inszenierung der Stücke mehr oder weniger spekulativ wären.

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glaubt, überhaupt noch etwas über die Außenwelt sicher zu wissen. Immerhin jedoch wird das Opfer dieser Typ-II-Verunsicherung nicht an sich selbst irre, sondern nur an seinen kognitiven Fähigkeiten. Dem gegenüber noch gesteigert ist die Typ-III-Verunsicherung, die darauf abzielt, das Opfer glauben zu machen, seiner eigenen Existenz nicht mehr sicher sein zu können. Eine solche kaum noch überbietbare Verunsicherung existentieller Natur findet sich im Amphitruo. ²³ Hier begegnet der Sklave Sosia dem Gott Merkur, der es bewirkt hat, dass er genau so aussieht wie dieser Sklave. Um eine Entdeckung des ausgedehnten Tête-à-Tête seines Vaters Jupiter mit Alcumena zu verhindern, verwehrt Merkur dem Sklaven den Zugang zum Haus seines Herrn Amphitruo, der ihn nach Rückkehr aus dem Krieg als Vorhut vom Hafen zu seinem Heim geschickt hat. Merkur, dessen äußere Gestalt und dessen Wissen von intimen Geheimnissen völlig mit dem Sosias identisch sind, behauptet nun, dass Sosia nicht der sei, der er zu sein glaube. Nach viel Sträuben und einigen Prügeln, die er von Merkur bezieht, gibt sich Sosia zunächst geschlagen und verlässt die Bühne, wobei er tatsächlich Zweifel äußert, ob er der ist, der er zu sein glaubt. Allerdings wird die Verunsicherung auch hier noch nicht auf die Spitze getrieben; vielmehr zeigt Sosia einen immer noch vorhandenen, recht robusten Realitätssinn, der ihn davor bewahrt, seinen Verstand zu verlieren – anders als sein Herr Amphitruo, dem genau dies gegen Ende des Dramas geschieht, so dass das Stück schließlich nur durch Jupiter als deus ex machina zu einem guten Ende gebracht werden kann. Lässt sich nun diese Typ-III-Verunsicherung nicht mehr weiter steigern, so handelt es sich bei der Asinaria um eine Komödie, in der eine Verunsicherung misslingt, weil das ins Visier genommene Opfer, ein Kaufmann, der einem ihm unbekannten Sklaven Geld auszahlen soll, darauf besteht, dies nur in Gegenwart des ihm persönlich bekannten Herrn selbst zu tun, für dessen Rechnung und mit dessen Vollmacht dieser Sklave zu handeln behauptet. Der Kaufmann bleibt standhaft, zumindest während der Handlung auf der Bühne. Dass er kurze Zeit später das Geld dennoch dem Falschen gibt, weil ihn der ihm bekannte alte Demaenetus als freiwillig an der Intrige gegen sich selbst Beteiligter dazu bewegt, spielt demgegenüber eine untergeordnete Rolle.²⁴ Immerhin – und das ist entscheidend – hat sich der Kaufmann während seiner Zeit auf der Bühne nicht verunsichern lassen.

 Zu den philosophischen Implikationen dieser Art von Verunsicherung vgl. Schmitz (1996).  Freilich ist es höhere Ironie, dass ausgerechnet der Kaufmann, der großen Wert darauf legt, das Geld nur einer ihm persönlich bekannten Person zu übergeben, ausgerechnet von dieser Person am ärgsten betrogen wird. Wie aber auch könnte der Kaufmann damit rechnen, dass gerade der alte Herr wissentlich und willentlich bei einer Intrige mithilft, bei der es darum geht, ihn selbst zu bestehlen?

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Aus Raumgründen werden in dieser Untersuchung nur die Typ-I- und Typ-IIVerunsicherung an Textbeispielen detailliert dargestellt. Auf die Typ-III-Verunsicherung und die gescheiterte Verunsicherung sei aber aus systematischen Gründen verwiesen; ihre genaue Darstellung bleibt ebenso einer späteren Untersuchung vorbehalten wie die vergleichende Analyse aller drei Verunsicherungstypen. Immerhin sei hier angedeutet, dass sich die jeweils von den Intrigierenden verwendeten Taktiken der Verunsicherung bei allen Typen ähneln und dass dieser Befund durch die Analyse der gescheiterten Verunsicherung noch bestätigt werden kann. Ein Blick auf Menander zeigt, dass sich ähnliche Techniken auch in der griechischen Neuen Komödie finden lassen; auch dies sei weiteren Studien vorbehalten.

Mostellaria Zunächst zur Mostellaria, wo die Situation folgende ist: Der reiche Kaufmann Theopropides ist nach einer längeren Handelsreise in seine Heimatstadt zurückgekehrt. Aufgabe des schlauen Sklaven Tranio ist es, ihn daran zu hindern, sein eigenes Haus zu betreten, da dort sein Sohn Philolaches mit Zechkumpanen und weiblicher Begleitung eine ausgelassene Party feiert. Die Intrige, die Tranio zu diesem Zweck entwickelt, so verspricht er seinem jungen Herrn, wird dazu führen, dass der alte Herr nicht nur nicht das Haus betreten, sondern vielmehr vor ihm davonlaufen wird. Das Publikum weiß ebenso wenig wie der junge Herr, was der Sklave im Schilde führt; sicher ist nur, dass es eine Intrige geben wird.²⁵ Kaum hat der vom Hafen kommende, von zwei²⁶ Lastträgern begleitete Kaufmann in komödienüblich heftiger Weise an die Tür seines Hauses gedonnert und lauthals gerufen, dass ihm jemand öffnen solle, tritt Tranio hinzu, und es entspinnt sich ein lebendiger Dialog (Most. 454– 496): TH. quid vos, insanin estis? TR. quidum? TH. sic, quia foris ambulatis; natus nemo in aedibus servat, neque qui recludat neque [quis] respondeat. pultando [pedibus] paene confregi hasce ambas . TR. eho an tu tetigisti has aedis? TH. cur non tangerem? quin pultando, inquam, paene confregi foris. TR. tetigistin? TH. tetigi, inquam, et pultavi. TR. vah. TH. quid est? TR. male hercle factum. TH. quid est negoti? TR. non potest

450

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 Zur Vielfalt der Hinweise darauf vgl. Janka (2004) 73.  Die Zahl ergibt sich aus V. 467 (et, heus, iube illos illinc ambo abscedere), wo Scaliger überzeugend ambo statt des überlieferten amabo konjiziert hat.

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dici, quam indignum facinus fecisti et malum. TH. quid iam? TR. fuge, obsecro, atque abscede ab aedibus. fuge huc, fuge ad me propius. tetigistin foris? TH. quo modo pultare potui, si non tangerem? TR. occidisti hercle – TH. quem mortalem? TR. omnis tuos. TH. di deaeque omnes faxint cum istoc omine – TR. metuo, te atque istos expiare ut possies. TH. quam ob rem? aut quam subito rem mihi adportas novam? TR. et heus, iube illos illinc ambo abscedere. TH. abscedite. TR. aedes ne attigatis. Tangite vos quoque terram. TH. opsecro hercle, quin eloquere *** TR. quia septem menses sunt, quom in hasce aedis pedem nemo intro tetulit, semel ut emigravimus. TH. eloquere, quid ita? TR. circumspicedum, numquis est, sermonem nostrum qui aucupet? TH. tutum probest. TR. circumspice etiam. TH. nemo est. loquere nunciam. TR. capitale scelus factum est. TH. quid est? non intellego. TR. scelus, inquam, factum est iam diu, antiquom et vetus. TH. antiquom? TR. id adeo nos nunc factum invenimus. TH. quid istuc †est sceleris†? aut quis fecit? cedo. TR. hospes necavit hospitem captum manu; iste, ut ego opinor, qui has tibi aedis vendidit. TH. necavit? TR. aurumque ei ademit hospiti eumque hic defodit hospitem ibidem in aedibus. TH. quapropter id vos factum suspicamini? TR. ego dicam, ausculta. ut foris cenaverat tuos gnatus, postquam rediit a cena domum, abimus omnes cubitum; condormivimus: lucernam forte oblitus fueram exstinguere; atque ille exclamat derepente maximum. TH. quis homo? an gnatus meus? TR. st! tace, ausculta modo. ait venisse illum in somnis ad se mortuom. TH. nempe ergo in somnis? TR. ita. sed ausculta modo. ait illum hoc pacto sibi dixisse mortuom – TH. in somnis? TR. mirum quin vigilanti diceret, qui abhinc sexaginta annis occisus foret. interdum inepte stultus es, TH. taceo. (…) TH. Was ist mit euch? Seid ihr verrückt? TR. Wieso? TH. Na, weil ihr vor der Tür herumspaziert, keine Seele im Haus Dienst tut, weder einer, der öffnet, noch einer, der antwortet. Mit meinem Klopfen habe ich beinahe die beiden aufgebrochen. TR. Herrje, hast du etwa dieses Haus angefasst? TH. Warum hätte ich es nicht anfassen sollen? Ja, ich habe sogar, sag’ ich, beim Anklopfen beinahe die Tür aufgebrochen. TR. Du hast angefasst? TH. Ich habe angefasst, sag’ ich, und angeklopft.

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TR. Ach je! TH. Was ist? TR. Beim Herkules, da hast du übel dran getan. TH. Was ist los? TR. Es kann nicht ausgesprochen werden, was für eine schändliche und üble Untat du begangen hast. TH. Wieso denn? TR. Fliehe, ich beschwöre dich, und tritt vom Haus weg. 460 Fliehe hierher, fliehe näher zu mir. Du hast die Tür angefasst? TH. Wie hätte ich anklopfen können, wenn ich nicht angefasst hätte? TR. Beim Herkules, umgebracht hast du … – TH. Welchen Sterblichen? TR. … alle deine Leute. TH. Alle Götter und Göttinnen mögen dich mit diesem Unheilswort … – TR. Ich fürchte, dass du dich und diese Leute da nicht mehr entsühnen kannst. 465 TH. Aus welchem Grund? Und wie plötzlich bringst du mir die Neuigkeit? TR. Und heda, befiehl jenen beiden, dass sie von dort wegtreten. TH. Tretet weg. TR. Fasst das Haus nicht an. Berührt auch ihr die Erde. TH. Ich beschwöre dich, beim Herkules, warum sprichst du nicht ***? TR. Weil es schon sieben Monate sind, seitdem in dieses Haus niemand einen Fuß hinein gesetzt hat, sobald wir ausgezogen waren. 470 TH. Sprich, warum denn? TR. Sieh dich mal um, ob irgendeiner da ist, der unser Gespräch aufschnappt? TH. Es ist völlig sicher. TR. Sieh dich nochmal um. TH. Da ist niemand. Jetzt rede schon. TR. Ein todeswürdiges Verbrechen ist begangen worden. TH. Was? Ich verstehe nicht. 475 TR. Ein Verbrechen, sag’ ich, ist schon vor langem begangen worden, vergangen und alt. TH. Vergangen? TR. Diese Tat haben wir jetzt gerade entdeckt. TH. Was für ein Verbrechen? Und wer hat es begangen? Raus damit. TR. Ein Gastfreund überwältigte und mordete seinen Gast mit eigner Hand; derjenige, wie ich glaube, der dir dieses Haus verkauft hat. 480 TH. Er mordete? TR. Und nahm ihm das Gold weg und vergrub den Gast just hier im Hause. TH. Weshalb habt ihr den Verdacht, dass dies geschehen ist? TR. Ich werde es sagen, hör zu. Als dein Sohn einmal außerhalb gegessen hatte, nachdem er vom Abendessen zurückgekommen war, 485 gingen wir alle zu Bett; wir schliefen ein; zufällig hatte ich vergessen, die Lampe zu löschen; und jener schreit urplötzlich ganz laut auf. TR. Welche Person? Etwa mein Sohn? TR. Pst! Schweig, hör nur zu. Er sagt, jener Tote sei ihm im Traum erschienen. 490 TH. Ja, also im Traum? TR. Genau. Aber hör nur zu. Er sagt, jener Tote habe so zu ihm gesprochen … – TH. Im Traum? TR. Ein Wunder, dass er zu ihm nicht im Wachzustand sprach, wo er doch vor sechzig Jahren umgebracht worden ist. Manchmal bist du unerhört dumm, . 495 TH. Ich schweige. (…)

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Was tut Tranio im Einzelnen, um Theopropides dazu zu bewegen, an seiner ursprünglichen Absicht irre zu werden und das Haus nicht zu betreten? Wie zuvor mit den im Hause befindlichen Mitintriganten besprochen, rührt sich die Partygesellschaft auf das Klopfen von draußen nicht. Theopropides muss also glauben, dass niemand im Haus seinen Pflichten nachgeht. Stattdessen sieht er Tranio, einen seiner Sklaven, scheinbar völlig sorglos draußen vor dem Haus herumspazieren, als ob es das Normalste von der Welt wäre, während drinnen niemand den Türdienst versieht. Es ist verständlich, dass der alte Herr fragt: Insanin estis? „Ja, seid ihr verrückt?“ (V. 450) – und gleich darauf versetzt, dass er beim Anklopfen fast die Tür aufgebrochen habe. Statt aber eine Erklärung vorzubringen, beginnt Tranio mit einer Frage, die in ihrer Paradoxalität geeignet ist, sein Gegenüber zu verblüffen, ja zu überrumpeln und von Anfang an in diesem Wortwechsel in eine passive Rolle zu drängen. Denn wenn man an eine Haustür klopft, zumal an die eigene, erwartet man nicht eine ängstliche Nachfrage, ob man gerade das Haus angefasst habe. Der Überraschung über diese absurd anmutende Frage entspricht die Antwort, die Theopropides gibt. Schon aus dieser ergibt sich, dass es Tranio gelungen ist, die Aufmerksamkeit seines Herrn in eine bestimmte, ihm genehme Richtung zu lenken. „Warum hätte ich nicht anfassen sollen?“, fragt der verblüffte Theopropides, aus seiner Perspektive ganz zu Recht (V. 454 f.). Er wiederholt auch seine süffisant-ärgerliche Bemerkung, er hätte beim Klopfen ja fast die Tür aufgebrochen. Hierin liegt ein an Tranio und alle Bediensteten des Hauses gerichteter Tadel; denn der Herr meint, mit gutem Recht erwarten zu können, dass man gerade ihm sofort hätte öffnen müssen. In der griechischen und römischen Komödie finden sich mehrere Stellen, an denen ein Versäumnis des Türdienstes als Zeichen für einen generellen Mangel an disciplina unter den Sklaven des Hauses bezeichnet wird.²⁷ In eben dieser Weise fasst Theopropides es hier auch auf. Umso seltsamer muss ihm die Frage Tranios vorkommen, ob er etwa das Haus angefasst habe. Immerhin – eine aus der Perspektive des Theopropides mögliche lebensweltliche Deutung dieser Frage wäre, dass Tranio sich selbst und seine Mitsklaven im Haus zu entschuldigen versucht, indem er nachfragt, ob sich der Herr denn überhaupt laut und deutlich bemerkbar gemacht habe. Darum wiederholt Theopropides in seiner Antwort, dass er heftig geklopft hat. Nun folgt aber nicht, wie man erwarten könnte, eine Entschuldigung; vielmehr stellt der Sklave in verkürzter Form nochmals seine Ausgangsfrage: „Du hast angefasst?“ (V. 457). Diese Wiederholung muss Theopropides irritieren.Warum betont Tranio widersinnigerweise den Umstand des Anfassens? Noch aber behält der Herr seine Fassung und ant-

 Men. Dysk. 459 – 465; Plaut. Merc. 130 – 133.

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wortet, er habe angefasst und auch angeklopft, wahrscheinlich immer noch in der Hoffnung, dass der Sklave, den er mittlerweile wohl für schwer von Begriff hält, endlich einsieht, dass man sofort hätte öffnen sollen. Doch diese Erwartung wird nochmals frustriert: Statt einer Entschuldigung ruft der Sklave nur: vah („ach je“) – eine Interjektion, die positiv wie negativ konnotiert sein kann²⁸ und damit Theopropides weiter im Dunkeln tappen lässt. Die Wechselrede ist hier und in den folgenden Versen durch immer weiter steigenden Affekt gekennzeichnet.²⁹ So ist er gezwungen, abermals nachzufragen, was denn sei (V. 457): Quid est? Darauf teilt ihm der Sklave mit, dass er, der Herr, eine üble Tat begangen habe. Immer noch ahnungslos, fragt Theopropides, diesmal stärker insistierend (V. 458): Quid est negoti? – „Was ist denn los?“ Diese Steigerung des Ausdrucks in der Frage zeigt, wie die Spannung bei Theopropides immer mehr steigt. Statt einer klaren Antwort erhält er eine ebenfalls gesteigerte Variation des bereits zuvor Gesagten: Es könne nicht ausgesprochen werden, was für eine unwürdige und üble Tat das sei. Dem Herrn bleibt nichts übrig, als seinen Sklaven weiter zu befragen: Quid iam? Statt einer klaren Antwort erhält er jedoch zunächst einen Befehl (V. 461 f.): Fuge, obsecro, atque abscede ab aedibus. / Fuge huc, fuge ad me propius. „Fliehe, ich beschwöre dich, und tritt vom Haus weg. / Fliehe hierher, fliehe näher zu mir.“ Die metrische Gestaltung der beiden Verse ist interessant. Die große Zahl von Elisionen in Tranios Aufforderungen zur Flucht ist ein Zeichen der Atemlosigkeit, mit der die Worte von ihm in vorgetäuschter Angst stoßweise ausgesprochen werden.³⁰ Vielleicht zögert Theopropides; denn den Fluchtappellen folgt nun kurioserweise eine dritte Wiederholung der Ausgangsfrage (V. 461):Tetigistin foris? Theopropides ist immer noch verblüfft, wohl mehr noch als zuvor; er antwortet mit einer Gegenfrage, die zeigt, dass er seinen Sklaven tatsächlich für schwer von Begriff hält (V. 462): „Wie hätte ich klopfen können, wenn ich nicht angefasst hätte?“ Diese Gegenfrage pariert Tranio mit einem auf Verblüffung angelegten Themenwechsel; er lässt sich auf das,was sein Herr sagt, gar nicht ein, sondern lenkt – wie auch sonst – den Verlauf des Gesprächs. Jetzt behauptet er, dass Theopropides getötet habe: Occidisti hercle (V. 463). Dieser ist daraufhin so überrascht, dass er Tranio unterbricht und die bange Frage einwirft: „Welchen Menschen?“ Die Antwort, die er erhält, ist ein hyperbolisches Omnis tuos. – „Alle deine Leute.“

 Vgl. Hofmann (21985) 115 f. (= § 16).  Vgl. Lorenz (21883) 97.  Zum affektiven Charakter der Elisionen vgl. Collart (1970) 101 mit Verweis auf Soubiran (1966) 631 und 642. Mit abscede ab aedibus wiederholt Tranio übrigens interessanterweise genau den Imperativ, den er am Anfang der Komödie seinem Mitsklaven Grumio entgegen geschleudert hat (in V. 7); nun aber ist er an seinen Herrn gerichtet. Vgl. den Hinweis bei Perutelli (2000) 29.

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Diese Mitteilung muss Theopropides dermaßen absurd vorkommen, dass er zu einer Verfluchung Tranios ansetzt, nicht zuletzt, um das durch die Erwähnung des Mordes potentiell heraufbeschworene Unheil durch Entsühnung abzuwenden (V. 464). Spätestens in diesem Moment ist Theopropides nicht nur verblüfft, wie zuvor, sondern auch verärgert. Um den Ärger nicht stärker werden zu lassen, lenkt Tranio die Aufmerksamkeit wieder auf das Thema des Frevels, indem er den Fluch des Theopropides unterbricht und voll gespielter Sorge seiner Furcht Ausdruck verleiht, dass er, sein Herr, sich und seine beiden Begleiter (istos) nicht mehr wird entsühnen können (V. 465). Der zu bloßem Reagieren verdammte Theopropides ist mit seinem neuerlichen Versuch, die Führungsrolle in diesem Wortwechsel an sich zu bringen, gescheitert. So fragt er, sicherlich nicht ohne Angst, weshalb eine Entsühnung nicht möglich sei und was das überhaupt für eine seltsame Neuigkeit ist, mit der er so plötzlich konfrontiert wird (V. 466). Es hilft nichts – der Sklave ignoriert auch diese Frage seines Herrn und verlegt sich wieder auf die Verwendung von Imperativen, die er salopp mit et, heus einleitet:³¹ Theopropides solle seinen Sklaven befehlen, von dort, illinc, also vom Haus, wegzugehen. An der Deixis der Personalpronomina, die Tranio in den Versen 465 und 467 verwendet, lässt sich eine weitere Beobachtung machen. Sind die beiden Lastträger des Theopropides in V. 465 für Tranio noch istos, also „diese da (bei dir)“, so bezeichnet er sie in V. 467 als illos, „jene dort“. Daraus kann man schließen, dass sich der alte Herr im Verlauf von V. 466 von den beiden Lastträgern wegbewegt hat, während diese vor dem Haus stehengeblieben sind.³² Hier manifestiert sich, wie verunsichert Theopropides schon ist. Auf der Ebene des dramatischen Dialogs mag er ja noch relativ selbstsicher wirken – immerhin reicht es dazu, dass er wieder eine Gegenfrage stellt. Die Bewegung seines Körpers auf der Bühne allerdings zeigt etwas anderes: Er ist verunsichert, weil er einfach nicht weiß, worauf alles hinauslaufen wird; daher folgt er jetzt der zweifachen Aufforderung fuge, „flieh“, die sein Sklave an ihn gerichtet hatte (V. 460 f.). Damit ist er zur Schachfigur Tranios geworden, an dem es nun ist zu bestimmen, wo sein Herr steht und geht. So ist dieser nun bereit, der Aufforderung Tranios zu folgen und seiner Begleitung zu befehlen, ebenfalls vom Haus wegzutreten. Damit will der intrigierende Sklave natürlich erreichen, dass die drei Personen weit genug vom Haus entfernt sind, um eventuell doch entstehenden Lärm der Partygäste nicht

 Es ist unnötig, mit Leo, Ernout und anderen einen Textausfall nach V. 466 anzunehmen; vgl. Bettini (21984) 78, der zu Recht feststellt, „che Tranione volutamente evita di rispondere alle domande di Teopropide, per tirare il più possibile la corda.“ Überflüssig ist auch Ussings subtile Konjektur ere für das überlieferte et (vgl. Collart 1970, 102).  Vgl. Bettini (21984) 78 f.

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hören zu können.³³ In der Scheinwelt der Intrige jedoch handelt es sich um ein probates Mittel, den momentan noch völlig rätselhaften Tabu-Status des Hauses weiter zu verstärken. Darüber hinaus bringt Tranio alle drei dazu, wie er³⁴ mit der Hand die Erde zu berühren, also in apotropäischer Absicht den Beistand chthonischer Mächte zu beschwören. Mit diesem bereitwillig geleisteten Gehorsam hat Tranio einen weiteren Beweis dafür, dass seine Taktik der Verunsicherung Erfolg hat.³⁵ Nun bittet Theopropides Tranio inständig (opsecro), ihm doch endlich zu sagen, was los ist (V. 469). Längst ist er nicht mehr der strenge Herr, der seine Sklaven zurechtweisen will. Er ist auf die Rolle des Bittstellers reduziert, der erfahren möchte, was eigentlich vorgeht. Jetzt endlich scheint der Sklave ihn zu erhören. Immerhin erteilt er ihm nun ausführlicher Auskunft (V. 470 f.).Vor sieben Monaten seien alle Bewohner ausgezogen; niemand habe seitdem mehr einen Fuß in das Haus gesetzt. Wieder aber gibt Tranio wichtige Informationen nicht preis; der Grund für den Auszug bleibt ungenannt. Als Theopropides danach fragt (V. 472: eloquere, quid ita?), erhält er statt einer Information wieder einen Befehl: Er solle sich umsehen, ob da jemand sei, der das Gespräch aufschnappen könne. Diese Frage ist, bedenkt man die Situation der Aufführung im Theater, von metatheatralischer Komik. Theopropides schaut auf die Menge der Theaterzuschauer und sagt (V. 473): „Alles völlig sicher.“ In komödientypischer Art fordert Tranio ihn auf, nochmals genau hinzusehen; er aber sagt wieder (V. 474): „Da ist niemand.“³⁶ Jetzt ist es soweit: Tranio enthüllt, dass ein todeswürdiges Verbrechen begangen worden ist (V. 475). Noch immer aber wissen weder Theopropides noch das Publikum, worum es eigentlich geht. Da sich die Zuschauer jedoch aufgrund ihres überlegenen Wissens darüber im Klaren sind, dass Tranio hier eine Intrige spinnt, sind sie nicht verunsichert, sondern nur auf die Art der Durchführung dieser

 Vgl. Glücklich (22005) 64.  Das quoque in V. 469 wird in diesem Sinne richtig gedeutet von Collart (1970) 102 mit Verweis auf Lorenz: „Tranion touche lui-même la terre, puis il prie son maître et les deux porteurs d’en faire autant.“  Es ist bemerkenswert, wie sehr Tranios Manipulationen dem Werbewirkungsmodell der so genannten „AIDA-Formel“ gleichen: Attention (Erlangen von Aufmerksamkeit), indem er Theopropides zum Zuhören nötigt – Interest (Wecken von Interesse), indem er auf Theopropides’ Eigeninteresse abhebt – Desire (ein Bedürfnis wecken), indem er vor Theopropides eine imaginäre Bedrohung aufbaut – Action (Handlungsvollzug erreichen), indem er ihn schließlich zur hastigen Flucht bewegt; zur „AIDA-Formel“ und zur Aufmerksamkeitslenkung in der modernen Rhetoriktheorie vgl. Mayer (2007) 102– 104.  Dies ist natürlich dann ganz besonders komisch, wenn es vor einem Publikum gesagt wird, das bereits beim ersten „Alles völlig sicher“ in lautes Gelächter ausgebrochen ist.

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Intrige gespannt.³⁷ Das Intrigenopfer hingegen ist verunsichert und versteht noch immer nicht (non intellego). Mittels der für ihn in der gesamten Szene typischen kleinschrittigen Informationsvergabe wiederholt Tranio seine Aussage, dass ein Verbrechen geschehen sei, ergänzt nun aber, es sei ein altes, lange zurückliegendes (V. 476). Diesen Umstand betont er bedeutungsschwanger mit drei verschiedenen weitgehend synonymen Ausdrücken (iam diu, antiquom et vetus).³⁸ Die Redundanz betont den Begriff „alt“ und trägt sehr zum Ton der Geheimniskrämerei bei, den er hier anschlägt.³⁹ Theopropides fragt sofort nach: Antiquom? „Alt?“⁴⁰ Tranio erklärt, sie hätten das Verbrechen eben erst jetzt gefunden (V. 477), was wunderbar doppeldeutig ist, da der Wortlaut (invenimus) entweder bedeutet, dass sie jetzt erst ein altes Verbrechen entdeckt haben – oder aber, dass sie gerade eben erst dieses Verbrechen erfunden haben. Auf Nachfrage beginnt Tranio, mehr Einzelheiten des Verbrechens preiszugeben (V. 479 f.). Ein Mord zwischen Gastfreunden sei geschehen (eine für antike Vorstellungen besonders frevelhafte Untat). Sofort fragt Theopropides erschreckt nach (V. 481): Necavit? „Er mordete?“; doch seine gespannte Neugier lässt ihn sofort wieder schweigen und weiter zuhören. Tranio erzählt, der Mörder sei der gewesen, der Theopropides das Haus verkauft habe. Hierbei verwendet er deiktische Pronomina und Adverbien (ei – eum – hic – ibidem), die dem Ausdruck der Verse 481 und 482 eine nachdrückliche Fülle verleihen.⁴¹ Er, der Mörder, habe seinem Opfer Gold gestohlen und ihn im Haus vergraben. Theopropides wundert sich nun, woher man denn diese Dinge überhaupt wissen könne – ganz zu Recht; denn der einzige Zeuge neben dem Täter ist ja angeblich tot.⁴² Tranio sagt darauf nur (V. 484): ego dicam, ausculta. „Ich werde es sagen. Hör zu.“ Der Hiat, die Pause hinter ausculta, betont den Befehl ebenso, wie sie den Beginn der jetzt ansetzenden Erzählung wichtigtuerisch markiert. Nun berichtet Tranio von einem Traum, den Philolaches, der Sohn des Theopropides, gehabt haben soll (V. 484– 488). Wieder verunsichert der Sklave seinen Herren durch selektive und irritierende Informationsvergabe. Alle im Haus seien zu Bett gegangen. Er, Tranio, habe aber vergessen, das Licht zu löschen, da plötzlich, so sagt er mit beabsichtigter  Ein wichtiger Unterschied zwischen dem Gefühl der Spannung und dem der Verunsicherung liegt also zumindest zum Teil im Grad der Informiertheit.  Vgl. Lorenz (21883) 99 („schon in längst vergangener Zeit geschehen und veraltet“).  Vgl. Stärk (1991) 112.  Meiner Meinung nach völlig zu Recht gibt die junge Handschrift F dieses Wort an Theopropides, was einen psychologisch überzeugenden Effekt erzielt, während die Handschriften der palatinischen Rezension Tranio weitersprechen lassen (vgl. Collart 1970, 104).  Vgl. Schuster u. Schupp (1934) 57.  Dementsprechend sagt er suspicamini und nicht etwa z. B. scitis; für ihn handelt es sich also zunächst einmal um einen (in seinen Augen nur schwer fundierbaren) Verdacht.

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Undeutlichkeit des Bezugs,⁴³ habe „jener“ (ille) aufgeschrien. „Wer? Etwa mein Sohn?“, fragt Theopropides sofort erschrocken. Doch Tranio verbietet ihm in V. 489 den Mund und sagt ihm, er soll einfach weiter zuhören (ausculta modo). Diesen Imperativ wiederholt er im übernächsten Vers. Dreimal innerhalb von acht Versen gebietet also der Sklave seinem Herren, er solle ihm zuhören; jede der Aufforderungen wird in ihrer Nachdrücklichkeit gegenüber der vorigen gesteigert: ausculta (V. 484); ausculta modo (V. 489); sed ausculta modo (V. 491).⁴⁴ Es ist übrigens genau dies, was die Rolle des Theopropides nicht nur hier, sondern in der gesamten Szene ausmacht: Er hat die Rolle des Zuhörers, des Passiven und des Manipulierten. Seine Position ähnelt insofern teilweise der des Publikums,⁴⁵ freilich ohne dass er vorab wie dieses privilegierte Informationen zum Hintergrund der Handlung erhalten hätte. So kann Tranio um ihn herum mit den überlegenen Mitteln seiner Sprache eine irritierende Welt konstruieren, die voll von Bedrohungen und von verunsichernden Faktoren zu sein scheint. Im Traum nun, so Tranio zu seinem Herrn, sei seinem Sohn Philolaches ein Toter erschienen, der vor sechzig Jahren im Haus ermordet worden sei. Theopropides wiederholt echohaft in einer für ihn in dieser Szene typischen Weise einen Ausdruck, den Tranio zuvor verwendet hat, in Form einer erstaunten Nachfrage, nämlich in somnis?, „im Traum?“ (V. 493). Zuvor hatte der Alte bereits die Wörter antiquom? (V. 477) und necavit? (V. 481) in Frageform wiederholt. Diese Wiederholungen zeigen deutlich, wie unsicher Theopropides mittlerweile ist. Er muss wie ein Kind, dem man eine Geschichte erzählt, das dieser aber nicht ganz folgen kann, von Tranio gleichsam an die Hand genommen und durch die Erzählung geführt werden.⁴⁶ Der Sklave hat nun deutlich die Oberhand gewonnen und wird frech, indem er seinem Herrn mitteilt, dass ja ein sechzig Jahre toter

 Vgl. Schuster u. Schupp (1934) 59.  Vgl. Glücklich (22005) 65 f. Zum Einsatz des Imperativs ausculta als Fortsetzungssignal in der Dialogdynamik bei Terenz vgl. Müller (1997) 36 f.  Dem entspricht die Ankündigung, die Tranio kurz vor dem Auftritt des Theopropides macht, dass er nämlich heute – also in diesem Theaterstück – dem alten Mann zu Lebzeiten Spiele aufführen wolle, die dieser als Toter wohl nie erhalten werde: Ludos ego hodie vivo praesenti hic seni / faciam, quod credo mortuo numquam fore (Most. 427 f.).  Lorenz (21883) 101 deutet die Nachfrage positiver: „Theopropides klammert sich noch ungläubig an das in somnis fest und hat die Hoffnung noch nicht aufgegeben, der ganze Schrecken werde sich als grundlos erweisen. Daher die unverschämte Antwort Tranios, der da merkt, daß er jetzt mit aller Frechheit zu Werke gehen müsse, um den keimenden Zweifel zu ersticken.“ Dabei isoliert Lorenz zu sehr diese einzelne Textstelle und übersieht ihren Kontext, der deutlich macht, dass Theopropides schon längst nicht mehr so rational agieren kann wie es hier zu seinen Gunsten angenommen wird.

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Mann dem Philolaches wohl kaum im Wachzustand erschienen sein wird (V. 493 f.). Dann krönt er seinen Spott mit einer Beleidigung (V. 495): „Manchmal bist du unerhört dumm, Theopropides.“⁴⁷ Mittlerweile ist dieser so verunsichert, dass er sich gegen die manifeste Beleidigung gar nicht wehrt, sondern nur noch sagt: Taceo. „Ich bin ja schon still.“ In den folgenden Versen tischt Tranio dann seinem Herrn den Rest der Schauergeschichte auf (V. 496 – 505).⁴⁸ Verunsichert wie er ist, glaubt er nun wirklich alles, und die Szene endet damit, dass Theopropides, von Angst ergriffen, zu seinem Schutz Herkules⁴⁹ anrufend, im Laufschritt die Bühne verlässt – also sich genau so verhält, wie es Tranio seinen Mitintriganten versprochen hatte (V. 506 – 528). Wie ist Tranio vorgegangen? Seine wichtigsten Taktiken waren das Überrumpeln seines Gegenübers mit Hilfe unerwarteter oder paradoxer Äußerungen, das Ignorieren von dessen Äußerungen, der überraschende Wechsel des Themas und die dosierte Informationsvergabe. Diese Taktiken wurden eingesetzt, um Theopropides stets in der Rolle des Reagierenden zu halten und ihm eine eigene aktive Beteiligung an der Gesprächsentwicklung unmöglich zu machen. Überdies spielt Tranio den abergläubisch Furchtsamen, was sich durchweg in seinem „feierlich gedämpften, Unglück drohenden, zugleich aber völlig bestimmten Tone“, wie es ein Philologe des 19. Jahrhunderts formuliert hat,⁵⁰ manifestiert. Diese gespielte emotionale Disposition überträgt er erfolgreich auf Theopropides.

Miles gloriosus Im Miles gloriosus ist der Sklave Sceledrus mit der Bewachung einer schönen jungen Frau, Philocomasium, beauftragt. Diese ist eigentlich die Geliebte des Atheners Pleusicles und wurde vom Herren des Sceledrus, dem prahlerischen Soldaten Pyrgopolinices, nach Ephesus entführt, wo das Stück spielt. Palaestrio, der Sklave des Pleusicles, ist ebenfalls entführt und an den Haushalt des Pyrgopolinices verkauft worden, wo er Philocomasium wiederentdeckt und seinen  Das Ende von V. 495 ist unvollständig überliefert. Möglicherweise ist, vor allem wegen der Antwort taceo, die Theopropides gibt, der Vorschlag von Bettini (21984) 80 f. vorzuziehen, der konjiziert hat (Terzaghis verstößt gegen das Gesetz von BentleyLuchs). Für Schoells könnte man allerdings geltend machen, dass ein Ausfall des Eigennamens durch die unmittelbare Nachbarschaft der nachfolgenden Personensigle bedingt gewesen sein könnte.  Die Erzählung vom ermordeten Gastfreund Diapontius ähnelt typologisch den Spukgeschichten bei Plinius. Möglicherweise handelt es sich um einen festen Typ von Erzählung.  In seiner Funktion als Übelabwehrer (ἀλεξίκακος).  Lorenz (21883) 98.

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Herrn benachrichtigt. Dieser reist nach Ephesus und quartiert sich im Nachbarhaus bei seinem alten Gastfreund Periplectomenus ein. Durch einen Geheimgang in der Wand, die beide Häuser gemeinsam haben, kann er sich mit seiner Geliebten treffen. Zufällig wird er vom Dach des Hauses des Soldaten von Sceledrus dabei beobachtet, wie er im Nachbarhaus Philocomasium küsst. Was Sceledrus nicht ahnen kann: Palaestrio arbeitet als Drahtzieher einer Intrige für die andere Seite. Ziel dieser Intrige ist es, ihn davon zu überzeugen, dass er sich in dem, was er gesehen zu haben glaubt, täuscht. Ihm wird weisgemacht, er habe vom Dach nicht Philocomasium, sondern vielmehr Dicaea, die Zwillingsschwester Philocomasiums, beobachtet. Voraussetzung für die Errichtung dieser Scheinwelt ist jedoch, Sceledrus in dem, was er sicher gesehen zu haben weiß, zu verunsichern. Kaum hat er dem Mitsklaven Palaestrio von seiner Beobachtung erzählt, versucht dieser, ihm das Gesehene auszureden (Mil. 290 – 301): SCE. profecto vidi. PAL. tutin? SCE. egomet duobus his oculis meis. PAL. abi, non verisimile dicis, neque vidisti. SCE. num tibi lippus videor? PAL. medicum istuc tibi meliust percontarier. verum enim tu istam, si te di ament, temere hau tollas fabulam: tuis nunc cruribus capitique fraudem capitalem hinc creas. nam tibi iam ut pereas paratum est dupliciter, nisi supprimis tuom stultiloquium. SCE. qui vero dupliciter? PAL. dicam tibi. primumdum, si falso insimulas Philocomasium, hoc perieris; iterum, si id verumst, tu ei custos additus perieris. SCE. quid fuat me, nescio; haec me vidisse ego certo scio. PAL. pergin, infelix? SCE. quid tibi vis dicam nisi quod viderim? quin etiam nunc intus hic in proxumost. PAL. eho an non domist?

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SCE. Ich habe es wirklich gesehen. PAL. Du? SCE. Ja, ich, mit diesen meinen beiden Augen. 290 PAL. Geh, das ist nicht wahrscheinlich, und du hast es nicht gesehen. SCE. Scheine ich dir etwa trübsichtig zu sein? PAL. Besser ist es, dass man dies einen Arzt fragt. Jedoch, wenn die Götter dich lieben, mach du dieses Märchen nicht aufs Geratewohl publik: da schaffst du deinen Beinen und deinem Kopf kapitalen Schaden. Denn es liegt für dich auf zweifache Weise bereit, dass du zugrundegehst, wenn du nicht 295 dein dummes Gerede unterdrückst. SCE. Wie denn, zweifach? PAL. Ich werd’s dir erklären. Zum ersten, wenn du Philocomasium falsch beschuldigst, gehst du für dies zugrunde; zum zweiten, wenn das wahr ist, dann gehst du als Wächter, der ihr beigegeben war, dafür zugrunde. SCE. Was aus mir wird, weiß ich nicht; dass ich dies gesehen habe, weiß ich gewiss.

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PAL. Fängst du wieder an, Unseliger? SCE. Was willst du dass ich dir sage, wenn nicht, was ich gesehen habe? Ja, sogar jetzt noch ist sie drinnen hier in unmittelbarer Nachbarschaft. PAL. He, und sie ist nicht zu Hause?

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Palaestrio geht die Sache offensiv an. Er simuliert Ungläubigkeit und behauptet sogleich, das, was Sceledrus gesehen habe, sei unwahrscheinlich und schließt an, er habe es gar nicht gesehen (V. 291).⁵¹ Empört weist Sceledrus dies zurück; er leide schließlich nicht an einer Augenentzündung. Palaestrio meint, dafür sei der Arzt zuständig, nicht er – eine komödientypische kleine verbivelitatio unter Sklaven (V. 291 f.).⁵² Jetzt aber beginnt Palaestrio eine Argumentation, in der er zu zeigen versucht, dass es für Sceledrus gar keinen Unterschied macht, ob er wirklich gesehen hat, was er gesehen hat. Er beginnt mit der Aufforderung, Sceledrus solle, wenn ihn die Götter nicht verblenden, besser gar nicht weiter über die Sache reden und kein Märchen in die Welt setzen (V. 293).⁵³ Falls doch, werde die Bestrafung hart sein, was Palaestrio durch Nennung der Körperteile (Schienbeine, Kopf), an denen die Bestrafung vollzogen werden könnte,⁵⁴ noch unterstreicht (V. 294). Durch den Aufbau dieser Drohkulisse unter dem Motto „es geht um deinen Kopf“ gewinnt er die Aufmerksamkeit des Sceledrus. Dann steigert er seine Äußerung noch, indem er seinem Mitsklaven nicht nur einfachen, sondern doppelten Untergang androht (dupliciter), sollte dieser sein stultiloquium nicht im Zaum halten (V. 295 f.). Dies verunsichert Sceledrus noch mehr, so dass er nachfragt: „Wie denn, zweifach?“ Palaestrio hat also sowohl das Interesse als auch die Aufmerksamkeit seines Gegenübers gewonnen. Nun skizziert er das Dilemma, von dem er wünscht, dass sein Mitsklave es nicht nur akzeptiert, sondern sich zu eigen macht (V. 297 f.): Egal ob Sceledrus das, was er gesehen zu haben glaubt, auch wirklich gesehen hat – er wird auf jeden Fall Schaden davontragen. Sollte er Philocomasium fälschlich beschuldigen, dann wird ihn sein Herr, der Soldat, dafür bestrafen; sollte er jedoch richtig gesehen haben, dass sie einen anderen Mann geküsst hat, dann wird er als Wächter der jungen Frau für seine Unaufmerksamkeit bestraft.Wie er es also dreht und wendet, er wird bestraft werden, so suggeriert ihm Palaestrio. Anders als Theopropides ist Sceledrus jedoch ziemlich hartnäckig und hält zunächst an  Zum metatheatralischen Potential von verisimile vgl. Sharrock (2009) 106 mit Anm. 30.  Zum Begriff vgl. Wallochny (1992) 59.  Vgl. Lorenz (21886) 101: „Diese vorsichtige Meinungsäußerung ist eingekleidet in die bekannte hypothetische Aussageform des noch Möglichen; sie erscheint dadurch zurückhaltender und mehr auf Schrauben gestellt.“  Es ist wohl, wie sich bald darauf zeigt, schon hier an die Kreuzigung gedacht, bei der dem Gekreuzigten auch die Beine gebrochen wurden.

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seiner Auffassung fest. Palaestrio kann ihn, so scheint es jedenfalls zunächst, nicht in die Defensive zwingen und es bleibt nichts übrig, als ihn weiter ad personam anzugreifen (V. 300): „Fängst du wieder damit an, du Unseliger?“⁵⁵ Sceledrus sagt daraufhin mit großer Bestimmtheit, dass Philocomasium noch immer beim Nachbarn sei. Palaestrio bezweifelt, dass Philocomasium nicht zu Hause ist, woraufhin Sceledrus ihn auffordert, doch bitteschön nachzusehen. Dies tut Palaestrio. Nach dessen Abgang ist Sceledrus ein paar Verse lang allein auf der Bühne. Er baut sich vor dem Nachbarhaus auf, um dessen Tür zu bewachen (Philocomasium könnte ja versuchen, sich zurück ins Haus des Soldaten zu schleichen) und hält einen kurzen Monolog (V. 305 – 312). In diesem wird klar, dass er von dem Dilemma, das Palaestrio ihm aufgezeigt hat, viel beeindruckter ist, als er es gegenüber diesem hat deutlich werden lassen: Quid ego nunc faciam? custodem me illi miles addidit: nunc si indicium facio, interii; si taceo, tamen, si hoc palam fuerit. quid peius muliere aut audacius? (…) edepol facinus fecit audax. hocine si miles sciat, credo hercle has sustollat aedis totas atque hunc in crucem. hercle quidquid est, mussitabo potius quam inteream male; non ego possum, quae ipsa se venditat, tutarier.

305

Was soll ich jetzt tun? Als Wächter hat der Soldat mich jener beigegeben: Wenn ich jetzt eine Anzeige mache, ist es aus mit mir; wenn ich schweige, ist es dennoch aus mit mir, wenn die Sache öffentlich wird. Was ist schlechter oder frecher als eine Frau? (…) Beim Pollux, sie hat eine freche Tat begangen! Wenn der Soldat von dieser Sache erfahren sollte, glaube ich, beim Herkules, würde er wohl dieses ganze Haus und diesen Mann hier ans Kreuz schlagen lassen. Beim Herkules, sei es, wie es sei, ich werde eher den Mund halten als elend unterzugehen. Ich kann nicht die, die sich selbst verkauft, bewachen.

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310

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Hier zeigt sich, dass es Palaestrio bereits gelungen ist, Sceledrus genau die Perspektive auf die Lage zu suggerieren, die er in Form eines Dilemmas vor ihm

 Der Vokativ ist mit Bedacht gesetzt; infelix deutet an, dass – nach Palaestrios vorgeblicher Meinung – Sceledrus dabei ist, sich den Zorn der Götter zuzuziehen.

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ausgebreitet hatte.⁵⁶ Damit hat Palaestrio aber nur einen Teilsieg errungen. Zwar würde Sceledrus jetzt wohl tatsächlich aus Angst über das, was er gesehen hat, schweigen; doch noch ist er sich sicher, dass er gesehen hat, was er gesehen hat. Entsprechend ungläubig reagiert er daher, als Palaestrio nach Rückkehr aus dem Haus des Soldaten berichtet, Philocomasium sei zu Hause, also da, wo sie hingehöre. Was nun folgt, ist aus streng handlungsökonomischer Sicht nicht mehr erforderlich; denn Sceledrus als Zeuge für Philocomasiums Aushäusigkeit ist jetzt effektiv stillgestellt. Dass es hier mit der Verunsicherung des Sceledrus erst richtig losgeht, ist ein bemerkenswerter Zug dieser Komödie. Plautus führt geradezu eine kategoriale Steigerung der Verunsicherung vor. Es entspinnt sich zunächst ein längeres Wortgefecht, aus dem deutlich wird, dass Sceledrus die Position, die seine Wahrnehmung betrifft, nicht ohne weiteres zu räumen bereit ist. Im Gegenteil pocht er auf sein unabhängiges Urteil (V. 331−343): SCE. mihi ego video, mihi ego sapio, ego credo plurumum: me homo nemo deterrebit, quin ea sit in his aedibus. his obsistam, ne imprudenti huc ea se subrepsit mihi. PAL. (beiseite) meus illic homo est, deturbabo iam ego illum de pugnaculis. (laut) vin iam faciam, ut stultividum te fateare? SCE. age face. PAL. neque te quicquam sapere corde neque oculis uti? SCE. volo. PAL. nempe tu istic ais esse erilem concubinam? SCE. atque arguo eam me vidisse osculantem hic intus cum alieno viro. PAL. scin tu nullum commeatum hinc esse a nobis? SCE. scio. PAL. neque solarium neque hortum, nisi per impluvium? SCE. scio. PAL. quid nunc? si ea domist, si facio, ut eam exire hinc videas domo, dignun es verberibus multis? SCE. dignus. PAL. serva istas fores, ne tibi clam se subterducat istinc atque huc transeat. SCE. Für mich sehe ich, für mich bin ich klug, mir glaube ich am meisten: Mich bringt kein Mensch davon ab, dass sie in diesem Haus ist. Hier stelle ich mich auf, damit sie mir nicht unbemerkt von hier heimlich entwischt. PAL. (beiseite) Jener Mensch gehört mir, ich werde ihn gleich aus seiner Schutzwehr vertreiben. (laut) Möchtest du, dass ich mache, dass du zugibst, dass du blödsichtig bist? SCE. Mach nur! PAL. Und dass du weder deinen Verstand noch deine Augen zu etwas gebrauchen kannst? SCE. Das will ich! PAL. Nicht wahr, du sagst, die Konkubine unseres Herrn sei hier?

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 Anders Zwierlein (1991) 33 f., der die Verse 305 – 312 für eine nachplautinische Eindichtung hält, da er hier nicht eine weitere Stufe in einem Prozess zunehmender Verunsicherung, sondern einen Widerspruch zu den vorherigen Äußerungen des Sceledrus sieht.

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SCE. Und ich behaupte, dass ich sie gesehen habe, wie sie hier drinnen einen anderen Mann geküsst hat. PAL. Du weißt, dass es von uns keinen Zugang hierhin gibt. SCE. Ich weiß. PAL. Und dass es weder eine Dachterrasse noch einen Garten gibt, (und keinen Zugang) außer durch das Impluvium? SCE. Ich weiß. PAL. Was nun? Wenn sie zu Hause ist, wenn ich mache, dass du siehst, wie sie von hier aus dem Haus kommt, bist du dann vieler Prügel wert? SCE. Bin’s wert. PAL. Bewache diese Tür da, damit sie nicht heimlich von dort verschwindet und hierher schleicht.

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Sceledrus ist wirklich ein schwerer Fall. Er besitzt genügend Selbstvertrauen, um nicht leicht an seiner Wahrnehmung zu zweifeln. Seine Selbstsicherheit findet ihren Ausdruck nicht zuletzt in den betont knappen Antworten, die er Palaestrio in diesem Abschnitt gibt: age face, volo, scio (zweimal),⁵⁷ dignus. Interessant ist, dass Sceledrus, anders als im vorigen Beispiel Theopropides, metasprachliche Kritik äußert: me homo nemo deterrebit („mich bringt kein Mensch davon ab“). Er scheint zumindest teilweise zu durchschauen, was hier mit ihm gespielt wird. Im weiteren Verlauf der Komödie hat die Zermürbungstaktik aber langsam auch bei Sceledrus Erfolg, wie der folgende Textausschnitt zeigt (V. 375 – 379): (SCE.) sed paucis verbis te volo, Palaestrio. opsecro te, unde exit haec? PAL. unde nisi domo? SCE. domo? PAL. me viden? SCE. te video. nimis mirumst facinus, quo modo haec hinc huc transire potuit; nam certo neque solariumst apud nos neque hortus ullus neque fenestra nisi clatrata; nam certe ego te hic intus vidi. (SCE.) Doch auf einige wenige Worte, Palaestrio. Ich beschwöre dich, von wo ist sie herausgekommen? PAL. Von wo, wenn nicht vom Haus? SCE. Vom Haus? PAL. Traust du mir nicht? SCE. Ich traue dir. Es ist eine allzu wundersame Sache, wie diese von dort hierher herüberkommen konnte; denn sicher gibt es bei uns weder einen Balkon noch irgendeinen Garten und kein Fenster, außer vergitterte; denn gewiss habe ich dich hier drinnen gesehen.

Sceledrus wiederholt schon ganz brav die Argumente, die Palaestrio vorgebracht hat, zum Teil sogar wortwörtlich.⁵⁸ Es wird deutlich, wie sehr es Palaestrio ge Zwierlein (1991) 37 f. hält V. 340 für interpoliert, m. E. zu Unrecht; ist doch gerade die präzisierende Variation der Frage aus V. 339 durch Palaestrio Teil seiner Verunsicherungstaktik. Überdies ist das Antwort-Echo des Sceledrus für das Publikum ein weiteres Zeichen seines (später weiter zu erschütternden) Selbstbewusstseins; zweimal sagt er scio, und weiß doch nicht, was wirklich um ihn herum geschieht! Zur Verwendung solcher und ähnlicher Verbalreprisen bei Terenz vgl. Müller (1997) 191 f.  Mit V. 378 vgl. V. 340.

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lungen ist, seinen Mitsklaven die Welt durch die von ihm gefertigte Brille sehen zu lassen. Sceledrus hat sich die Denkalternative, die Palaestrio ihm suggeriert hat, zu eigen gemacht. Er lässt dabei die Möglichkeit außer Acht, dass sein Herr, der Soldat, ihm ja auch glauben könnte. Tertium non datur. Gerade die stolze und betont selbstbewusste Behauptung des Sceledrus, er denke für sich selbst (V. 331: mihi ego sapio), wird auf diese Weise ironisch konterkariert. Wenig später ist es dann soweit: Sceledrus ist endgültig mürbe. Er sagt nun von sich selbst, dass er nicht mehr sicher weiß, was er sagen soll. Er hat die junge Frau nicht gesehen, und doch hat er sie gesehen (V. 407): Nihil habeo certi quid loquar: non vidi eam, etsi vidi. Schließlich gesteht er gegenüber dem Nachbarn Periplectomenus, der ein Mitintrigant ist, dass er so eingezwängt ist (und er weiß gar nicht, wie recht er damit hat), dass er nicht weiß, ob er sich bei dem alten Mann eigentlich beschweren oder doch eher entschuldigen soll (V. 514– 520): Ita sum coactus, Periplectomene, ut nesciam utrum me postulare prius tecum aequiust – nisi istaec non est haec neque istast, mihi me expurigare tibi videtur aequius; sicut etiam nunc nescio quid viderim: itast ista huius similis nostrai tua, siquidem non eadem est. (…) So sehr bin ich eingezwängt, Periplectomenus, dass ich nicht weiß, ob es besser ist, dass ich mich zunächst bei dir beschwere – es sei denn, dass diese nicht die und die nicht diese ist, mir besser scheint, mich bei dir zu entschuldigen. Wie ich sogar jetzt nicht weiß, was ich gesehen habe: So ist diese, deine, der, unserer, ähnlich, wenn es auch nicht dieselbe ist. (…)

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Wie Theopropides, so vertraut auch Sceledrus zu sehr dem Augenschein. Wie dieser, so lässt auch er sich – wenn auch unter stärkerer Gegenwehr – im Wortwechsel dominieren. Auch der Sklave Sosia im Amphitruo hält, wie Theopropides und Sceledrus, zu sehr und mit zu großer Überzeugung von der Richtigkeit der eigenen Annahmen am äußeren Schein, an der imago, dem Erscheinungsbild, fest.⁵⁹ Ohne dass dies hier näher ausgeführt werden kann, stellt gerade dies eine wichtige Übereinstimmung zwischen allen drei Verunsicherungstypen dar. Ganz im Gegensatz dazu betont der Kaufmann in der Asinaria sein Unwissen. Gerade der Umstand, dass er nicht genau weiß, wen er vor sich hat, macht ihn vorsichtig, wie

 Vgl. Amph. 458.

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er einem der Intrigierenden gegenüber mit einer später – weitgehend kontextlos rezipiert – berühmt gewordenen Formulierung deutlich macht (Asin. 493 – 495): (…) ME. fortassis. sed tamen me numquam hodie induces, ut tibi credam hoc argentum ignoto. lupus est homo homini, non homo, quom qualis sit non novit. (…) ME. Vielleicht. Aber dennoch wirst du mich heute niemals dazu verleiten, dass ich dir als Unbekanntem dies Geld anvertraue. Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf, nicht ein Mensch, wenn er nicht weiß, was für einer er ist.

Der Kaufmann lässt sich nicht auf die verschiedenen Versuche der Manipulation seiner Wahrnehmung der Wirklichkeit ein, die allesamt darauf gerichtet sind, ihm eine andere Perspektive aufzunötigen als seine eigene. Eine unbekannte Person bleibt eine unbekannte Person, unabhängig davon, was sie und andere über ihre Vertrauenswürdigkeit behaupten. Was von den Intriganten als einfache Typ-IVerunsicherung begonnen worden ist, muss in der Asinaria an der Spezifik des Charakters dieses intendierten Intrigenopfers scheitern. Die Umstände dieses Scheiterns illustrieren, unter welchen Voraussetzungen eine Bühnenperson gegen Verunsicherungsversuche immun sein könnte. Die Verunsicherung setzt, wie bereits zu Anfang festgestellt, begriffslogisch den Zustand der Sicherheit voraus. Nur wer glaubt, etwas sicher zu wissen, kann verunsichert werden. Dies heißt umgekehrt aber auch, dass man eine Person, die kein sicheres Urteil fällt oder ein solches gar nicht anstrebt, also z. B. jemanden, der Urteilsenthaltung (ἐποχή) praktiziert, streng genommen überhaupt nicht verunsichern kann. Ähnliches gilt, auf einer weniger philosophischen Ebene, für den Kaufmann in der Asinaria, dem gerade seine Unkenntnis (und sein Bewusstsein um sie) nicht etwa zur Quelle von Verunsicherung, sondern vielmehr von Sicherheit und Standhaftigkeit gerät.

Fazit und Ausblick In der römischen Komödie werden Techniken der affektiven Verunsicherung vor allem im Zusammenhang mit von langer Hand geplanten Intrigen verwendet. Hierbei richtet sich der Einsatz komplexer Verunsicherungstechniken gegen solche Charaktere, die im Rahmen einer Intrige getäuscht werden sollen. Nach den Bereichen, in denen das Intrigenopfer vom Intriganten verunsichert wird, lassen sich drei Arten der Verunsicherung unterscheiden: Typ I zielt darauf, das Opfer in Bezug auf sein Wissen zu verunsichern; Typ II in Bezug auf die Zuverlässigkeit seiner Wahrnehmung; Typ III bezüglich seiner Identität. Alle Strategien der Ver-

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unsicherung leben von der Kontrolle, die ein Charakter, der Intrigierende, über die Wahrnehmung eines anderen, des Intrigenopfers, erlangt. Hierzu ist unabdingbar, dass der Intrigierende den Wortwechsel dominiert.⁶⁰ An Techniken der Verunsicherung konnten in untersuchten Ausschnitten aus den beiden Komödien Mostellaria und Miles gloriosus v. a. festgestellt werden: (1) eine manipulativ-selektive Informationsvergabe, z. B. durch deren schrittweises Preisgeben;⁶¹ irreführendes Abschweifen vom Thema, praeteritio oder bedeutungsschwangere Geheimniskrämerei, auch Aufbauschen des Redegegenstandes (augere);⁶² (2) die Kontrolle der Gesprächsführung durch den Intrigierenden, z. B. mittels der Okkupation eines Wortwechsels bzw. der Gesprächsabnahme⁶³ (oder des quälenden Schweigens bzw. Verschweigens/Aposiopese⁶⁴), oft verbunden mit provozierenden Unterbrechungen oder Überrumpelungen durch paradoxe oder anderswie irritierende bzw. emotional aufwühlende Äußerungen, etwa hyperbolische Furchtappelle zum Aufbau einer imaginären Drohkulisse; (3) delegitimierende ad personam-Techniken (laesio und exprobratio), wie z. B. eine betont kritische Haltung, verbunden mit Widerspruch und andauernden Gegenfragen und/oder Unterbrechungen, aber auch ein permanentes Infragestellen der allgemeinen Kompetenz des Gegenübers; (4) logische Verdrehungen, besonders die Konsequenzmacherei in Form einer Entweder-Oder-Taktik, wie z. B. im Miles gloriosus; (5) Vermeiden einer eigentlichen argumentativen Auseinandersetzung, z. B. durch amplificatio, repetitio und congeries,Verbalreprisen, durch Reaffirmation von bereits Gesagtem⁶⁵ und damit durch stetige Zermürbung des Gegenübers – hierin der in Platons elenktischen Dialogen angewendeten Redetaktik nicht unähnlich;⁶⁶ (6) Affektübertragung vom Intrigierenden, der den zu

 Interessant, wenn auch nicht überraschend, ist in diesem Kontext der Befund, dass die Intrigierenden, v. a. die servi callidi, bei Plautus in der Regel auch die Monologbilanz der Stücke dominieren, vgl. Stürner (2011) 113.  Vgl. Wallochny (1992) 161– 166, aber in anderem Untersuchungszusammenhang.  Wobei es sich geradezu um eine Verkehrung des z. B. von Cic. de orat. 2,292 formulierten Prinzips handelt, die positiven Aspekte eines Falles vor Gericht besonders hervorzuheben und lange bei ihnen zu verweilen.  Vgl. hierzu Hough (1969), teilweise auch Thamm (1972); zur Gesprächsabnahme bei Terenz vgl. Müller (1997) 60 – 62.  Zu Formen des Verschweigens bei Terenz vgl. Müller (1997) 171– 176.  Wie dies in der plautinischen Komödie sprachlich bewerkstelligt wird, untersucht zum Teil Fugier (1995).  Vgl. Erler (2008) 22: „Auch bei der Frage nach Platons Affektverständnis lohnt es sich, neben der argumentativen die performative Ebene der Dialoge und neben Sokrates auch das andere Personal zu berücksichtigen.“ Eine enge Affinität zwischen Platons Dialogen und Bühnendrama versucht jetzt Charalabopoulos (2012) rezeptionsgeschichtlich nachzuweisen.

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induzierenden Affekt nur simuliert, auf das Intrigenopfer, z. B. durch Ausruf (exclamatio), eindringliche Bitte (obsecratio) oder bildhaft anschauliches Erzählen (ante oculos ponere bzw. evidentia).⁶⁷ Der Aufwand, der von den Intrigierenden beim Verunsichern getrieben wird, korreliert zum einen mit dem Grad der Verunsicherung, die im Rahmen der Intrige erzielt werden soll, zum anderen mit der Widerständigkeit des Intrigenopfers. Aus moderner Sicht verletzt der Intrigierende beim Verunsichern die basalen Regeln der Dialogorganisation, wie sie für das Gelingen einer erfolgreichen Kommunikation erforderlich sind und wie sie immer noch am klarsten im Kooperationsprinzip des Sprachphilosophen Paul Grice formuliert werden: „Make your conversational contribution such as is required, at the stage at which it occurs, by the accepted purpose or direction of the talk exchange in which you are engaged.“⁶⁸ Aus diesem Kooperationsprinzip leitet er eine Reihe von Maximen ab, gegen welche die intrigierenden servi callidi Tranio und Palaestrio in den untersuchten Komödiendialogen regelmäßig und vollumfänglich verstoßen haben, z. B. „do not say what you believe to be false“, „do not say for which you lack adequate evidence“, „be relevant“, „avoid obscurity“, „avoid ambiguity“, „avoid prolixity“ und „be orderly“. Dieser Katalog liest sich im Abgleich mit den soeben aufgezählten Techniken der Verunsicherung geradezu wie eine Negativliste: Er enthält die Punkte, an die sich jemand, der einen anderen im Dialog verunsichern will, nicht halten sollte.⁶⁹ Die makro- und mikrostilistischen Mittel, mit denen Intrigenopfer in den Komödiendialogen affektiv verunsichert werden, bedürfen weiterer Untersuchungen.⁷⁰ Die vorliegende Studie diente vor allem dazu, auf dieses lohnende  Insgesamt zeigt sich eine Nähe zu den Merkmalen moderner Propagandasprache, wie sie die Forschung auflistet: hohe Emotionalität; starke Wertungen; fertige Urteile; Meinungen als Tatsachen; Diffamierungen; Tendenz zu Verschwommenheit und Amphibolie; Schlagwörter und Stereotype; Scheinbeweise und Fehlurteile; vgl. Mayer (2007) 133. Zugleich lassen sich Übereinstimmungen mit den von Aristoteles in den Sophistischen Widerlegungen behandelten zwölf Konfigurationstypen der sprachbedingten und der nicht sprachbedingten Fremd- und Selbsttäuschung feststellen, kommunikative Tricks, mit denen ein Eristiker seinen unkundigen Gegner vermeintlich wiederlegen und „durch scheinbare Unrichtigkeiten oder Paradoxien verunsichern und ihn sogar zu unsinnigem und falschem Sprachgebrauch zwingen“ könne, z. B. Unklarheit der Aussage (Amphibolie), absichtliche Verwechslung von wesensbezogenen und akzidenzbezogenen Aussagen und kategorischem und relativem Charakter einer Aussage, petitio principii, Verwechslung von Ursache und Folge, Behandlung des Nicht-Ursächlichen als Ursache (vgl. den Überblick bei Gizewski 1999, 121– 123, das Zitat 122).  Grice (1975) 45; vgl. auch Fritz (1994) 195.  Vgl. Grice (1975) 46; vgl. auch Cooper (1998) 57.  Die grundsätzliche Frage, die v. a. Kaster (2005) aufwirft, ob ein antikes Emotionswort ohne weiteres mit einem modernen (und – wenn wir ehrlich sind – uns allein empirisch zugängli-

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Forschungsgebiet aufmerksam zu machen und erste Kategorien für die künftige Beschäftigung mit der antiken Komödie unter diesem Aspekt zu entwickeln.⁷¹

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David Himpel

Rhetorik der Verunsicherung in Senecas Tragödien Abstract The tragedies of the Younger Seneca at many points present scenes in which characters attempt to destabilise their interlocutors emotionally, to challenge their position in a sphere of great personal importance and so to undermine them. In the present essay, on the basis of the rhetorical communication model developed by Joachim Knape and drawing on linguistic and psychological findings, I will examine one sequence of debate from each of Hercules Furens and Agamemnon. The goal is to show how strategies of destabilisation are deployed persuasively to move the addressee to adopt a position favoured by the speaker and what is required for such strategies to be successful.

Einleitung Friedrich Leo prägte 1878 in seinen richtungsweisenden Observationes criticae das Attribut tragoedia rhetorica für Senecas Tragödien und verwies damit auf die omnipräsente Rhetorik der Dramen.¹ Diese wurde bis zu ihrer Rehabilitierung im vergangenen Jahrhundert jedoch weitgehend negativ beurteilt. Als prominente Vertreter einer ablehnenden Haltung kritisierten etwa Lessing, Herder und Schlegel die Tragödien wegen ihrer pompösen Rhetorik, die den Dialogen jegliche Lebensnähe raube und die Stücke zu rhetorischen Deklamationsübungen degradiere.² Erst zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts eröffneten die Studien von Howard Canter und Otto Regenbogen einen neuen Zugang zur Rhetorik in Senecas

 Leo (1878) 158.  Lessing äußert Kritik in seinem Laocoon 4,3 („Klopffechter im Kothurne“); Herder in Ders., Sämtl. Werke, ed. B. Suphan (Berlin 1877, repr. Hildesheim 1967) 5; 214; 314 und 631; Schlegel in Ders., Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur (1809) (Stuttgart 1966) I, 233 – 235. Für einen Überblick der frühen Seneca-Rezeption siehe Seidensticker u. Armstrong (1985), bes. 917– 921. Auf solche Kritik an den senecanischen Figuren reagiert Shelton (1978) und weist darauf hin, dass die Lebensnähe der senecanischen Dramen nicht am „Alltag“ gemessen werden dürfe, da sonst kein konventionelles Theaterstück die Anforderung der Lebensnähe erfüllen würde (ibid. 26 – 28). Ihrer Meinung nach müssten Charaktere „dramatisch“ funktionieren, nicht realistisch. Sie rechtfertigt die Stereotypisierung der Charaktere, da durch diese der Blick auf das Wesentliche, die Standpunkte der Figuren, nicht verstellt werde (ibid. 35 – 39).

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Dramen und ermöglichten dadurch eine wertfreie Interpretation rhetorischer Elemente.³ In der Tat scheinen die Tragödien prädestiniert für eine rhetorische Analyse, da sich in ihnen zahlreiche Szenen finden, in denen die Protagonisten vor einer Entscheidung stehen, die nicht nur den Fortgang des Plots, sondern auch das Schicksal der Figuren maßgeblich beeinflusst. Die entsprechenden Szenen sind als rhetorische Dezisionssettings gestaltet, das heißt ein Orator wendet sich mit persuasiver Absicht an einen Adressaten, um diesen zur Übernahme der von ihm favorisierten Position zu bewegen, also einen mentalen Positionswechsel, eine Metabolie, zu erzielen.⁴ Dementsprechend werden die in solchen Kontexten getroffenen Entscheidungen als Resultat rhetorischer Intervention dargestellt, ohne die die Figuren anders entschieden hätten. Der Orator vollzieht so eine rhetorische Handlung, die die Adressaten in der Terminologie Joachim Knapes aus einem Zustand des Zweifelns (Dubium) in einen der Gewissheit (Zertum) überführen will.⁵ Da die Adressaten selbst als Figuren gezeichnet werden, deren Handeln und Entscheidungen von bestimmten Gewissheiten, von Bewertungsgrundlagen und Handlungsmaximen, von Werten oder Erfahrungen beeinflusst sind, von Gewissheiten also, die rhetorisch gesehen ein Zertum 1 konstituieren, müssen sie zunächst dahingehend verunsichert werden, dass sie ihre Gewissheiten hinterfragen und zum Zweifeln gebracht werden, also in einen Zustand des Dubium versetzt werden.⁶ Auch wenn es sich dabei um inszenierte persuasive Prozesse handelt, sind die Tragödien für die Untersuchung von Verunsicherungsstrategien von besonderem Interesse: Aufgrund der Dialogizität der Dezisionssettings ist es möglich, einerseits aus der Oratorperspektive nach den Strategien zu fragen, mittels derer Verunsicherung erzeugt werden kann, und andererseits auch die Adressatenperspektive, das heißt die inszenierte Reaktion der Figuren auf Verunsicherungsversuche, zu berücksichtigen. So lässt sich der Persuasionsprozess in seiner Gesamtheit nachverfolgen, und es kann nach den Voraussetzungen und Gelin Canter (1925); Regenbogen (1930). Neuere Forschung zur Rhetorik in Senecas Dramen: z. B. Braden (1970), Seidensticker (1985) und Dammer (2004).  Zur Metabolie als Ziel rhetorischer Kommunikation siehe Knape (2003) 874 und Knape (22012) 79.  Knape (2003) 877.  Zur Theorie der Verunsicherung als eines inversiven Prozesses, der vom Zertum 1 zum Dubium und dann zum Zertum 2 führt, siehe ausführlich Knape in diesem Band. Ein solches Vorgehen wurde auch in der Forschung zur rhetorischen Technik der Suggestion beobachtet, etwa bei Demagogen, die ihr Publikum durch ein Drohszenario verunsichern. In diesem Zustand seien die Adressaten empfänglicher für eine Lösung der Misere, die ihnen der Demagoge präsentiert (vgl. Ziegler 2009, 259).

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gensbedingungen von Verunsicherung ebenso gefragt werden wie nach den Auswirkungen erfolgreicher respektive missglückter Verunsicherungsversuche auf die Entwicklung der Figuren sowie den weiteren Handlungsverlauf. Im Fokus stehen dabei destruktive Strategien, die über negatives Emotionalisierungspotenzial verfügen,⁷ den Adressaten also emotional zu destabilisieren suchen, indem sie Meinungen,Verhaltensweisen oder Konzepte, die für das Gegenüber von hoher persönlicher Bedeutung sind, in Frage stellen. Unter diesen Gesichtspunkten sollen im Folgenden zwei Gesprächssequenzen hinsichtlich der in ihnen eingesetzten Verunsicherungsstrategien und der ihnen zugeschriebenen Wirkung analysiert werden.⁸ Das Beispiel aus dem Hercules Furens zeigt einen erfolglosen Verunsicherungsversuch, die Passage aus dem Agamemnon eine geglückte Verunsicherung. Grundlegend für die Interpretation sind dabei die „Basiskomponenten rhetorischer Kommunikation“:⁹ Welche Figur tritt als Orator, als rhetorisch Handelnder auf? Wie ist das rhetorische Setting gestaltet, d. h. welche kommunikativen Rahmenbedingungen muss der Orator berücksichtigen? Welches rhetorische Ziel verfolgt er und wie gestaltet sich seine rhetorische Handlung?

Ein missglückter Verunsicherungsversuch im Hercules Furens Im zweiten Akt des Hercules Furens findet ein Gespräch statt, in dessen Verlauf Lycus, der Usurpator des thebanischen Thrones, Hercules’ Gattin Megara zu verunsichern sucht.¹⁰ Während Hercules’ Abwesenheit hatte Lycus Megaras Brüder und ihren Vater, den legitimen König, ermordet und die Herrschaft an sich gerissen. Nun versucht er, Megara zur Heirat zu überreden, um durch eine Beziehung zum rechtmäßigen Herrschergeschlecht seine Position zu stabilisieren und sein Ansehen beim Volk zu mehren.¹¹ Da Megara ihn als Mörder ihrer Familie hasst und somit eine denkbar missgünstige und verschlossene Adressatin darstellt,¹² muss Lycus erheblichen kommunikativen Aufwand betreiben und sie  Zum Emotionalisierungspotenzial siehe Peters u. a. in diesem Band.  Außer den im Folgenden behandelten Beispielen ließen sich etwa auch Tro. 301– 352 (Pyrrhus ↔ Agamemnon) und 533 – 704 (Ulixes → Andromacha); Phaedr. 129 – 273 (Amme → Phaedra) anführen.  Knape (22012) 16.  Herc. f. 359 – 515.  Herc. f. 344 f.  Herc. f. 372 f.

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hinsichtlich ihrer ablehnenden Haltung ihm gegenüber verunsichern, um den situativen Widerstand¹³ gegen seine Persuasionsversuche zu überwinden. Er tritt also an Megara heran, die eben noch mit ihrem Schwiegervater Amphitryon für Hercules’ baldige Heimkehr gebetet hatte, und schmeichelt ihr zunächst mit einer captatio benevolentiae, in der er ihre königliche Abstammung hervorhebt,¹⁴ um dann mit seiner Verunsicherungsstrategie zu beginnen (362– 367): si aeterna semper odia mortales gerant, nec coeptus umquam cedat ex animis furor, sed arma felix teneat, infelix paret, nihil relinquent bella; tum vastis ager squalebit arvis, subdita tectis face altus sepultas obruet gentes cinis. ¹⁵ Wenn die Menschen immer ewigen Hass hegten und begonnene Raserei niemals aus den Herzen wiche, sondern der vom Glück Begünstigte die Waffen festhielte, der Besiegte seine Waffen rüstete, dann würden die Kriege nichts übrig lassen; dann würde der Acker vertrocknet sein mit wüsten Saatfeldern, nachdem die Fackel unter die Dächer gelegt ist, würde hochgetürmte Asche die Völker begraben und verschütten.¹⁶

Lycus beschreibt hier in drastischen Worten ein bedrohliches Endzeitszenario als Folge fortdauernden Hasses: Wenn nach einer gewaltsamen Auseinandersetzung Sieger und Besiegte nicht zu einem friedlichen Miteinander fänden, würden ständige Kriege den Untergang bringen. Auf welche Weise damit die Lebensgrundlage entzogen wird, veranschaulicht der Verweis auf die wüsten, vertrockneten Äcker (vastis squalebit ager arvis) und die völkerbegrabende Asche (altus sepultas obruet gentes cinis). Eine solche Darstellung dient zunächst der Furchterregung, indem sie auf die negativen Konsequenzen einer Handlung, beziehungsweise Einstellung verweist und so den Adressaten zu einem Einstellungsoder Verhaltenswechsel zu bewegen versucht.¹⁷ Allerdings richtet sich der

 Mit „situativem Widerstand“ bezeichnet Knape (22012) 63 diejenigen Umstände des kommunikativen Settings, die den Erfolg der rhetorischen Handlung beeinträchtigen können, wie beispielsweise ein feindlich gesinntes Publikum.  Herc. f. 359 f.  Den lateinischen Text entnehme ich der korrigierten Oxford-Ausgabe Zwierleins (1986, repr. 2009).  Alle Übersetzungen stammen vom Verfasser.  Dies entspricht den Regeln der antiken Rhetoriktheorie zur Furchterzeugung, wie sie beispielsweise in Cic. de orat. 2,209 dargelegt werden. Zum Begriff und zur Theorie der Furchtappelle aus moderner psychologischer Perspektive vgl. die grundlegende Arbeit von Hovland u.

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Furchtappell hier nur indirekt an Megara, da Lycus ihr Verhalten nicht konkret thematisiert, sondern durch Hyperbeln und generalisierende Nomina alles ins Allgemeine rückt und auf die gesamte Menschheit ausdehnt (aeterna, semper, nihil, gentes). Gleichwohl wird deutlich, dass Megaras Schicksal in diesem allgemeinen Kontext gesehen werden muss, da Friede nur dann herrschen könne, wenn sie, obwohl unterlegen, ihren Hass dem Sieger Lycus gegenüber ablege und nicht länger auf Rache sinne. Die indirekte Darstellung jedoch nimmt der Äußerung die Schärfe und schwächt ihr konfrontatives Potenzial ab. Darüber hinaus verleiht das Kondizionalgefüge si … tum der Darstellung Appellcharakter. Die Beschreibung der Konsequenzen, die Megaras Handeln nicht nur für sie selbst, sondern auch für ihr Volk hätte, kann zugleich als Warnung verstanden werden und als Aufforderung, durch ein Umdenken eine alternative, nämlich friedliche, Entwicklung zu ermöglichen und so ihrer Verantwortung ihrem Volk gegenüber gerecht zu werden. Zugleich lässt sich daraus die Bereitschaft des Lycus ablesen, sich selbst versöhnlich zu zeigen und die alte Feindschaft zu überwinden. Die Heirat könnte eine solche Botschaft sichtbar nach außen transportieren und weitere Kämpfe verhindern. Um den Kreislauf der Gewalt zu durchbrechen, müssen jedoch beide Akteure, Sieger und Besiegte, zur Versöhnung bereit sein. Lycus’ Persuasionsversuch verfügt so zwar über furchterzeugendes Potenzial, bleibt aber versöhnlich und vereint somit positives und negatives Emotionalisierungspotenzial. Dennoch reagiert Megara darauf entschlossen und aggressiv.¹⁸ Anstatt einzulenken oder zumindest Gesprächsbereitschaft zu signalisieren, zeigt sie sich empört und initiiert sogar ihrerseits einen Verunsicherungsversuch (384– 397): Dominare tumidus, spiritus altos gere: sequitur superbos ultor a tergo deus. Thebana novi regna: quid matres loquar passas et ausas scelera? Quid geminum nefas mixtumque nomen coniugis gnati patris? quid bina fratrum castra? Quid totidem rogos? riget superbo Tantalis luctu parens maestusque Phrygio manat in Sipylo lapis. quin ipse torvum subrigens crista caput Illyrica Cadmus regna permensus fuga

a. (1953). Zu den Faktoren, die die Erfolgschancen von Furchtappellen beeinflussen, vgl. Dabbs und Leventhal (1966).  Aggression als Reaktion auf Furchtappelle ist durch psychologische Untersuchungen auch empirisch belegt (vgl. Hovland u. a. 1953).

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longas reliquit corporis tracti notas. haec te manent exempla: dominare ut libet, dum solita regni fata te nostri vocent. Herrsche aufgeblasen, trage hohen Stolz in dir: Übermütige verfolgt im Rücken ein Gott als Bestrafer. Ich kenne das thebanische Königtum: Was soll ich von den Müttern sprechen, die Verbrechen erlitten und gewagt haben? Was vom doppelten Frevel und vom vermischten Namen des Gatten, Sohnes, Vaters? Was vom doppelten Heereslager der Brüder? Was von ebenso vielen Scheiterhaufen? Starr ist die Mutter, von Tantalus abstammend, in hochmütiger Trauer und im phrygischen Sipylus trieft der traurige Stein. Ja sogar Cadmus selbst hinterließ, sein finsteres Haupt mit dem Kamm emporrichtend, lange Spuren seines dahingezogenen Körpers, als er die illyrischen Reiche auf der Flucht durchmaß. Diese Beispiele erwarten dich: Herrsche, wie es dir beliebt, solange dich nur die gewohnten Schicksale unseres Königtums rufen.

In dieser Rhesis charakterisiert Megara Lycus in seiner Herrscherrolle als aufgeblasen (tumidus), stolz (spiritus altos) und übermütig (superbus) und zeigt ihm am Beispiel früherer thebanischer Könige die verhängnisvollen Konsequenzen dieser Art Machtausübung auf. Der Verweis auf bekannte exempla hat dabei besonderes Emotionalisierungspotenzial:¹⁹ Zunächst nennt Megara in Form einer vierfachen Praeteritio (quid matres loquar; quid […]; quid […]; quid […]) verschiedene Verbrechen und zählt dann einzelne Strafen auf. Dabei genügen Andeutungen, um beim Adressaten das entsprechende Ereignis mit all seinen (grausamen) Einzelheiten aufzurufen und um durch den impliziten Vergleich mit Lycus’ Verhalten Furcht vor einer ähnlichen Strafe zu evozieren. So versucht Megara, Lycus in Bezug auf dessen Selbstsicherheit und Hybris und hinsichtlich seiner Rolle als unantastbarer Herrscher zu verunsichern, damit er sein Überlegenheitsgefühl verliert. Allerdings scheint Megaras Absicht im Gegensatz zu dem vorangegangenen Verunsicherungsversuch durch Lycus, der letztlich auf Persuasion abzielte, vornehmlich destruktiv zu sein,²⁰ da sie keine wirkliche Handlungsalternative anbieten kann oder will. Gleichwohl stellt sie ihm ein Zertum 2 in Aussicht, welches von Lycus jedoch weder eine Metabolie verlangt, noch für ihn erstrebenswert sein kann. Wenn Megara betont, dass sie das thebanische Königtum kenne (Thebana novi regna) und dass die genannten Beispiele auch Lycus erwarten (te manent), scheint dessen Schicksal besiegelt (solita fata te vocent). Die drohende Strafe kann  So zum Beispiel Cic. de orat. 3,205.  Man könnte hier einwenden, dass Megaras Intention durchaus persuasiv ist und darin besteht, Lycus von seinen Heiratsplänen abzubringen. Allerdings ist ihr Verunsicherungsversuch lediglich als Reaktion auf Lycus zu sehen und weniger als Versuch, einem zuvor gefundenen Zertum Geltung zu verschaffen, was nach Knape (22012) 76 die Voraussetzung einer persuasiven Handlung darstellt. Der Verunsicherungsversuch Megaras ließe sich daher auch als ‚reaktiv‘, der des Lycus als ‚initiativ‘ bezeichnen.

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auch durch eine Verhaltensänderung nicht mehr abgewendet werden, so dass kein entsprechender Appell zur Umkehr folgt. Vielmehr spornt sie ihn mittels der Imperative dominare und gere an, an seinem Verhalten festzuhalten. Im Sinne einer permissio oder Epitrope ist die Aufforderung ironisch zu verstehen, da sie im Widerspruch zur eigentlichen Intention Megaras steht, die zusammen mit ihrer Familie unter ebendieser Art der Machtausübung zu leiden hat, und negative Konsequenzen für den Adressaten mit sich bringt.²¹ So dient der Verweis auf die bekannten exempla auch der Mahnung an die Adresse des Lycus.²² Durch Megaras Verunsicherungsversuch gerät Lycus, der sich als aktueller Herrscher eigentlich in einer überlegenen Position befindet und diese auch im Gespräch rhetorisch zu instrumentalisieren suchte, tatsächlich unter Rechtfertigungsdruck. So entschuldigt er zwar im Folgenden die Ermordung von Megaras Familie mit der Eigendynamik des Krieges (402– 408), gibt die Hoffnung auf den Erfolg seiner Bemühungen um Megaras Hand jedoch nicht auf. Diese bleibt allerdings bei ihrer ablehnenden Haltung, weist die Aufforderung, die Vergangenheit hinter sich zu lassen, zurück (408 – 413) und schwört, lieber sterben zu wollen als Lycus’ Angebot anzunehmen (414– 421). Im Folgenden verdichtet sich das Gespräch zu einer Stichomythie,²³ in der Lycus schließlich seine Rolle als schmeichelnder und versöhnlicher Orator aufgibt und zu Spott und offenen Drohungen übergeht. Als Megara jedoch auch diese Angriffe abwehrt, ändert Lycus erneut seine Strategie und versucht nun, sie hinsichtlich ihres positiven Hercules-Bildes und in ihrer Rolle als Ehefrau zu verunsichern. Dabei kontrastiert er zunächst seine eigene Machtposition mit der unterlegenen des Hercules, der im Dienste des Königs Eurystheus Aufgaben zu erfüllen hat,²⁴ und zweifelt auch dessen göttliche Abstammung an.²⁵ Hier ändert sich nun die Gesprächskonstellation. Denn während sich Lycus zuvor ausschließlich an Megara wandte, schaltet sich nun auch Amphitryon in das Gespräch ein und

 Vgl. Plett (92001) 83.  Eine Mahnung unterscheidet sich rhetorisch gesehen von einer Drohrede dadurch, dass die dargestellten Konsequenzen nicht unmittelbar in der Macht des Sprechers liegen (vgl. Meyer 2011, 257).  Zum Phänomen der Gesprächsverdichtung in Senecas Tragödien siehe grundlegend Seidensticker (1969).  Sceptrone nostro famulus est potior tibi? – Hältst du etwa einen Diener für vorzüglicher als mein Szepter? (Herc. f. 430); cur ergo regi servit et patitur iugum? – Warum also dient er einem König und erduldet ein Joch? (ibid. 432).  Quo patre genitus caelitum sperat domos? – Von welchem Vater erzeugt erhofft er sich die Wohnungen der Himmlischen? (ibid. 438). Quid violas Iovem? / mortale caelo non potest iungi genus. – Was entehrst du Jupiter? Das sterbliche Geschlecht kann sich nicht mit dem Himmel verbinden (ibid. 447 f.).

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übernimmt ihre Rolle. Gleichwohl bleibt Megara die Adressatin des Verunsicherungsversuchs, da Lycus weiterhin Hercules’ Rolle als Ehemann thematisiert und so Megaras Vertrauen in ihn zu destruieren sucht. Lycus konzentriert sich dabei auf drei unrühmliche Kapitel, die sowohl Hercules’ Tapferkeit als auch seine moralische Tugendhaftigkeit in Frage stellen. Als erstes Beispiel dient die Omphale-Episode. Zur Strafe für die Tötung seines Gastfreundes Iphitos wurde Hercules in die Sklaverei verkauft und musste für Omphale die Tätigkeiten einer Magd, wie etwa die Spinnarbeit, verrichten.²⁶ Zudem zeugte er mit ihr zwei Kinder und erwies sich so als treuloser Ehemann.²⁷ Lycus nutzt diese Geschichte, um ein unmännliches, dekadentes und verweichlichtes Bild des Helden zu zeichnen und mit seiner vermeintlichen Tapferkeit zu kontrastieren (465 – 472): Fortem vocemus cuius ex umeris leo, donum puellae factus, et clava excidit fulsitque pictum veste Sidonia latus? fortem vocemus cuius horrentes comae maduere nardo, laude qui notas manus ad non virilem tympani movit sonum, mitra ferocem barbara frontem premens? Tapfer sollen wir den nennen,von dessen Schultern der Löwe, einem Mädchen zum Geschenk gemacht, samt Keule herabfiel und dessen Leib geschmückt mit sidonischer Kleidung strahlt? Tapfer sollen wir den nennen, dessen struppige Haare von Nardenöl triefen, der seine durch Lob berühmten Hände zum unmännlichen Klang der Handpauke bewegt und dabei die wilde Stirn mit einer barbarischen Mitra bedeckt?

Diese Passage erinnert also an drei Aspekte, die nicht zu einem Helden zu passen scheinen und Hercules in Megaras Augen verunglimpfen sollen, wenngleich die Tötung des Gastfreunds und der Ehebruch nicht explizit erwähnt werden. Nur die Unmännlichkeit wird im Detail geschildert. Dabei behauptet Lycus entgegen der allgemeinen Überlieferung,²⁸ dass Hercules seine bekannten Symbole, Löwenfell und Keule, Omphale zum Geschenk machte, um so die Freiwilligkeit der Affäre zu betonen. Die Destruktion des positiven Hercules-Bildes erfolgt durch die antithetische Gegenüberstellung der heldenhaften, männlichen Attribute (leo, clava, horrentes comae, ferox frons) mit weiblichen, dekadenten und orientalischen

 Vgl. Soph. Trach. 248 – 257; Aischyl. Ag. 1040 f.; Ov. fast. 2,319 – 326; Ov. epist. 9,53 – 128; Prop. 4,9,45 und 3,11,17. Abweichend davon berichten Apollod. 2,6,3 und Diod. 4,31 nur von Männerarbeiten, die Hercules für Omphale verrichtet.  Apollod. 2,7,8; Ov. epist. 9,54.  So bemerkt von Fitch (1987) 239 mit Verweis auf Ov. her. 9,11 ff. und fast. 2,325.

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(vestis Sidonia, nardus, tympanum, mitra barbara), wobei Hercules die alten Symbole seiner Tapferkeit gegen die neuen, verweichlichten eingetauscht und somit die Erwartungen an einen Helden enttäuscht hat. Dabei betont insbesondere das Paradoxon²⁹ der von exquisitem Nardenöl triefenden ungeordneten Haare das Bild eines verweichlichten Orientalen.³⁰ Insgesamt folgt die Darstellung den Prinzipien der Invektive, die den Gegner in Kleidung, Aussehen und Auftreten als von der Norm abweichend und somit als tadelnswert darstellt,³¹ so dass das Attribut fortis hier tatsächlich nicht mehr auf Hercules zuzutreffen scheint. Die zweimalige Wiederholung der spöttisch-ungläubigen rhetorischen Frage fortem vocemus cuius … (465; 468) betont dabei die Absurdität des von Megara vertretenen positiven Hercules-Bildes in Anbetracht der geschilderten Unmännlichkeit. Indem ihr vielmehr seine Schwäche vor Augen geführt wird, soll ihr Zertum, das Vertrauen in und die Hoffnung auf Hercules als Retter, in Frage gestellt und ihre ablehnende Haltung Lycus gegenüber aufgeweicht werden. Nachdem Amphitryon in seiner Erwiderung den vorübergehend weichlichen und orientalischen Habitus seines Ziehsohns einerseits mit dem Verweis auf das Beispiel des Bacchus entschuldigt und andererseits argumentiert, dass sich ein Held nach vollbrachten Taten auch einmal ausruhen dürfe (472– 476), greift Lycus nun mit der moralischen Tugendhaftigkeit einen weiteren Aspekt der herculeischen virtus an (477– 480):³² Hoc Euryti fatetur eversi domus pecorumque ritu virginum oppressi greges; hoc nulla Iuno, nullus Eurystheus iubet: ipsius haec sunt opera. Dies bezeugt das Haus des vernichteten Eurytus und die Herde der Jungfrauen, über die nach Vieh-Art hergefallen ist; dies befiehlt keine Juno, kein Eurystheus: Seine eigenen sind diese Werke.

Mit Hilfe der indignatio versucht Lycus, bei seinen Adressaten negative Emotionen wie Empörung, Abscheu und Unwillen zu erzeugen,³³ indem er auf zwei weitere Schandtaten des Hercules verweist und ihm so die virtus abspricht: Hercules hat den Eurytus mitsamt seiner Familie getötet, weil dieser ihm seine zuvor ver Zum verunsichernden Potenzial von Paradoxa vgl. Früh im vorliegenden Band; zum rhetorisch verwendeten Paradoxon im Allgemeinen vgl. Plett (1992).  Zu horrentes comae (468): Mit Billerbeck (1999) 360 bin ich der Ansicht, dass horrentes als ‚starrend‘ im Sinne von ‚struppig‘ zu verstehen ist. So auch Georges, s.v. „horreo“ I. 2.  Zu diesen und anderen Topoi der Invektive vgl. Neumann (1998) 550.  Vgl. dazu Georges, s.v. „virtus“ I. B. 1.  Zur indignatio siehe Zinsmaier (1998) 325.

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sprochene Tochter Iole verweigert hatte,³⁴ und die 50 Töchter des Thespius geschwängert. Der Überlieferung nach geschah Letzteres auf Wunsch des Thespius,³⁵ der Ausdruck oppressi jedoch rückt den Akt in die Nähe einer Vergewaltigung, und auch der Vieh-Vergleich (virginum greges, pecorumque ritu) bringt die animalische Unbeherrschtheit des Hercules zum Ausdruck.³⁶ Die Fokussierung auf die Untaten des Hercules steht in einem deutlichen Widerspruch zu dem bei Megara vorherrschenden Bild eines glorreichen Helden. Die Heldentaten werden zwar nicht geleugnet, aber dadurch relativiert, dass sie als nicht durch seinen eigenen Antrieb zustande gekommen, sondern als von anderen (Juno, Eurystheus) befohlen dargestellt werden. Wenn Hercules auf sich gestellt sei, begehe er nur Unrecht (ipsius haec sunt opera).³⁷ Lycus’ Angriff auf Megaras Hercules-Bild vollzieht sich somit in zwei Schritten: Zunächst stellt er Hercules als schwach dar – er diene einem anderen Herrscher, stamme nicht von den Göttern ab und habe sich als verweichlicht und dekadent erwiesen –, sieht dies jedoch vornehmlich als Folge äußerer Umstände. Dann, als diese Taktik erfolglos bleibt, zeichnet er Hercules als bösartig und animalisch und sucht somit die Gründe dafür in dessen Charakter. Insbesondere durch das Herausstellen der ehelichen Untreue ergibt sich ein hohes Verunsicherungspotenzial. Denn kurz vor der Auseinandersetzung mit Lycus hatte sich Megara in einem Gebet über die lange Abwesenheit ihres Gatten beklagt (298) und daran gezweifelt, ob Hercules imstande sei, aus der Unterwelt zu entkommen (313 – 327). Obwohl sich Megara also bereits in einem Zustand des Dubium befand, gelingt es Lycus nicht, sie in ihrem Zweifel zu bestärken, ihr Hercules-Konzept zu hinterfragen und ihre Hoffnung auf Rettung zu untergraben. Stattdessen wehrt Megara jeden Angriff ab; sie lässt sich nicht verunsichern, sondern redet sich in Rage und geht letztlich sogar gestärkt aus dem Gespräch hervor. Wo vorher noch Zweifel waren, herrscht nun Gewissheit: Megara ist entschlossen, Lycus weiterhin Widerstand zu leisten und ihn entweder von Hercules töten zu lassen oder selbst durch Lycus’ Hand zu sterben (495 – 500). Dieses Zertum entspricht jedoch nicht der Intention des Orators; vielmehr erreicht Lycus durch seine Verunsicherungsversuche das Gegenteil dessen, was er bewirken

 Vgl. etwa Soph. Trach. 281 f. und Apollod. 2,7,7.  Vgl. etwa Apollod. 2,4,10 und Herodor. FGrH 31 F20.  Vgl. Fitch (1987) 242 f. und Billerbeck (1999) 364 f.  Damit spricht Lycus eine Frage an, die die Forschung spaltet: Ist die Ursache von Hercules’ Wahn im späteren Verlauf des Stücks und die Tötung seiner eigenen Frau und Kinder in seinem eigenen Charakter, seiner Hybris, zu suchen? Dies bejahen u. a. Zintzen (1972) 195; Shelton (1978) 58 – 73; Fitch (1987) 30 – 33. Gegen eine solche interpretatio Stoica der Seneca-Dramen argumentieren Dingel (1974) 11– 19; 109 – 115; Seidensticker (1969) 136; Billerbeck (1999) 30 – 38.

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wollte:³⁸ Anstatt Megara zu besänftigen und durch eine Heirat an sich zu binden, bestärkt er sie in ihrer ablehnenden Haltung. Dass Lycus letztlich mit seinem Verunsicherungsversuch scheitert, liegt einerseits an seinen eigenen Strategien und andererseits am situativen Widerstand,³⁹ dem er sich hilflos gegenüber sieht. Er gibt sich keine Mühe, seine persuasiven Absichten zu verbergen (369 – 371), und lässt zudem die Maske des Schmeichlers recht schnell zu Gunsten von aggressiveren Strategien fallen. Weil Lycus nicht konsequent bei einer Taktik bleibt und zudem seinen Gesprächspartnern immer wieder die Gelegenheit gibt, zu kontern (447– 475), gerät er selbst unter Zugzwang und muss reagieren, anstatt das Gespräch zu dominieren. Noch entscheidender sind jedoch der Charakter und die innere Verfassung seiner Adressatin Megara. Ihr Hass gegenüber Lycus sitzt so tief, dass sie ihre unbeugsame Haltung nicht ablegen und den Tod einer Verbindung mit dem Tyrannen vorziehen würde.⁴⁰ Damit ist der Widerstand gegen die Persuasionsversuche des Lycus so groß, dass seine Drohungen ins Leere laufen und ein Erfolg seiner Strategien unmöglich wird. Anders verhält es sich in der folgenden Gesprächssequenz aus dem Agamemnon, in der die Verunsicherungsstrategien des Aegisthus zum Ziel führen und er Clytemestra letztlich zur Übernahme seiner Position bewegen kann (244– 309). Welche Strategien Aegisthus einsetzt und welche Faktoren für ihren Erfolg verantwortlich sind, soll nun gezeigt werden.

Ein erfolgreicher Verunsicherungsversuch im Agamemnon Das Gespräch zwischen Clytemestra und Aegisthus findet kurz vor der Heimkehr Agamemnons statt. Obwohl beide dessen Ermordung bereits geplant haben, zeigt sich Clytemestra unmittelbar, bevor Aegisthus die Szene betritt, unsicher und schwankend und versucht, ihren zögerlichen animus zur Mordtat anzuspornen (108 – 124). Als daraufhin die Amme auftritt, entwickelt sich ein Dialog, in dem  Anderer Meinung ist Shelton (1978) 29; 34; 36 f.: Megara und Amphitruo gelinge es nicht, Lycus’ Argumente hinreichend zu entkräften. Dagegen lässt sich jedoch ins Feld führen, dass Lycus fortwährend genötigt ist, das Thema zu wechseln, da seine Argumentation von seinen Gesprächspartnern widerlegt wird (vgl. besonders 422– 489), und dass er am Ende wieder auf eine reine Gewaltandrohung zurückgreifen muss, da ihm ein argumentativer Sieg nicht gelungen ist (493 f.).  Vgl. hierzu Anm. 13.  Vgl. Herc. f. 372– 383; 414– 421; 495 – 500.

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Clytemestra gegen die Warnungen der Amme konsequent für die Ermordung argumentiert und als Begründung ihre Ehre und ihre Gefühle anführt, die Agamemnon durch seine Affäre mit Cassandra und durch die Opferung der gemeinsamen Tochter verletzt habe (188 – 194).⁴¹ Das Gespräch der beiden Frauen wird durch den Auftritt des Aegisthus (226) unterbrochen, der zunächst in seiner a parte gesprochenen Rede selbst Zweifel am Mordplan hegt. Seine Unsicherheit ist jedoch sofort verflogen, als Clytemestra ihm mitteilt, dass ihre ehelichen Pflichtgefühle wiedererwacht seien und sie den Mordplan deshalb nicht weiterverfolgen wolle. Die abrupte Kehrtwende Clytemestras scheint überraschend, da es im Dialog mit der Amme keine Anzeichen eines Einlenkens gab, und es ist schwer feststellbar, ob ihre Äußerung Aegisthus gegenüber ernst zu nehmen ist.⁴² Immerhin hatte sie zuvor bereits der Amme gesagt, ihr pudor stemme sich gegen die zum Mord anspornenden Gefühle,⁴³ so dass ihr Schwanken nicht gänzlich unglaubwürdig scheint. Für eine rhetorische Interpretation der folgenden Szene ist die Frage nach Clytemestras Aufrichtigkeit jedoch ohnehin nur zweitrangig. Denn Aegisthus weiß nichts vom Gespräch mit der Amme und hat daher keinen Grund, an Clytemestras Meinungsänderung zu zweifeln. Er sieht sich daher vor die Aufgabe gestellt, sie wieder auf seine Seite zu ziehen und zur Durchführung des ursprünglichen Plans zu bewegen. Dem Orator Aegisthus präsentiert sich die Situation als eine rhetorische und entsprechend versucht er, Clytemestra zu verunsichern und das Zertum, das er ihr aufgrund ihrer Aussage zuschreiben muss – das Gefühl des pudor, der ehelichen Gewissenhaftigkeit, sowie ein positiveres

 Clytemestras Motivation für die Mordtat sieht Lefèvre (1972b) 461 damit allein in den Taten Agamemnons begründet, der somit die Schuld an seinem eigenen Untergang trage. Im Kontrast zum Negativhelden Agamemnon sei Cassandra eine Art stoische Heldin des Stücks (ibid. 468 – 472); ähnlich Croisille (1964). Dagegen lehnt Seidensticker (1969) 136 eine interpretatio Stoica ab. Vgl. Motto und Clark (1985) 138 Anm. 4 und 144 Anm. 13, die die Handlung sowohl vom Verhalten der Charaktere als auch vom fatum beeinflusst und Cassandra keineswegs als die Heldin des Stücks sehen (ibid. 141).  Clytemestras Meinungsumschwung hat in der Forschung zu einer kontroversen Diskussion geführt. Stilistische Kritik an der fehlenden Kohärenz üben Friedrich (1933) 46 und Stackmann (1950) 204 f. Motto und Clark (1985) 144 interpretieren den plötzlichen Gesinnungswechsel als bewusstes Mittel Senecas, um den Eindruck einer zerstörten, unheroischen Welt zu erzeugen. Croisille (1964) 464– 469 und Boyle (1983) 201 sehen die Kehrtwende gar als manipulativen Schachzug Clytemestras, um Aegisthus aus dessen Zaudern heraus zu zwingen. Dagegen Shelton (1983) Anm. 22. Auch Brandt (1986) 65 und 72 glaubt, dass die Königin den Positionswechsel nur vorspiele, jedoch nicht aus Taktik, sondern aus Unsicherheit.  Ag. 137 f.: fessus quidem et deiectus et pessumdatus / pudor rebellat.

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Agamemnonbild, auf dem ihre Hoffnung auf Aussöhnung beruht –, zu destruieren. So versucht Aegisthus gleich mit seiner ersten Reaktion auf Clytemestras Absage, ihr jegliche Hoffnung auf eine alternative Rettung zu nehmen (244– 252): Quo raperis amens? credis aut speras tibi Agamemnonis fidele coniugium? ut nihil subesset animo quod graves faceret metus, tamen superba et impotens flatu nimis Fortuna magno spiritus tumidos daret. gravis ille sociis stante adhuc Troia fuit: quid rere ad animum suapte natura trucem Troiam addidisse? rex Mycenarum fuit, veniet tyrannus: prospera animos efferunt. Wohin wirst du kopflos fortgerissen? Du glaubst oder erhoffst für dich ein treues Ehebündnis mit Agamemnon? Angenommen, unter deinem Herzen würde nichts stecken, das schwere Furcht erzeugen könnte: Dennoch würde sein stolzes und von zu großer Gunst⁴⁴ unbändiges Glück eine aufgeblasene Gesinnung geben. Streng war er gegen seine Gefährten, als Troja noch stand: Was, glaubst du, hat Troja seinem schon von eigener Natur her rauen Gemüt hinzugefügt? König von Mykene war er, als Tyrann wird er kommen: Glückliche Umstände lassen den Mut sich überheben.

Bereits mit seiner ersten Frage (quo raperis amens) betont Aegisthus, dass Clytemestras mentaler Wechsel unvernünftig und affektgesteuert sei, und stellt ihrem Verhalten implizit seinen eigenen Plan als Ergebnis rationaler Überlegungen gegenüber. So versucht er, sich selbst als vernünftigen Ratgeber zu stilisieren, der im Gegensatz zu Clytemestra die Situation objektiv beurteilen und ihre Beweggründe als subjektiv und trügerisch entlarven kann. Die rhetorische Frage credis aut speras lässt erkennen, dass er eine Hoffnung auf Versöhnung mit Agamemnon letztlich für unmöglich hält – eine Sichtweise, von der Clytemestra erst noch überzeugt werden muss. Um diesen Gedanken zu bestätigen, bedient sich Aegisthus also einer concessio und übernimmt vorübergehend ihre Argumentation, aber nur, um sie kurz darauf zu entkräften:⁴⁵ Selbst wenn sich Clytemestra nichts hätte zu Schulden kommen lassen, würde Agamemnon sie bestrafen, da der Triumph gegen Troja sein ohnehin schon schroffes Wesen (gravis, trux) noch verstärkt habe. Indem sich Aegisthus in seiner Argumentation rhetorischer Fragen und der concessio bedient, wirft er Fragen auf, ohne sie explizit zu beantworten;  Zur Übersetzung von flatus als ‚Gunst‘ (sc. des Glücks) vgl. Tarrant (1976) 218 f.  Vgl. Nitsch (1994) 309. In Abgrenzung dazu beschreibt man in der Statuslehre mit dem Begriff concessio die Taktik der Verteidigung, erst die Unrechtmäßigkeit der Tat des Angeklagten einzuräumen, dann jedoch auf mildernde Umstände hinzuweisen.

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anstatt selbst eine eindeutige Interpretation der Lage vorzugeben, bezieht er Clytemestra in den kommunikativen Prozess mit ein und regt sie zur Reflexion über ihr Schicksal an.⁴⁶ Aegisthus versucht so, einerseits Clytemestras positives Agamemnon-Bild, das sie sich für ihre neue Position zurechtgelegt hat, zu destruieren und andererseits Furcht vor dessen Reaktion zu erzeugen, der als Sieger aufgeblasen (spiritus tumidos) und hochmütig (animos efferunt) zurückkommen wird. Damit spricht Aegisthus genau das Gefühl an, das Clytemestra nach eigener Aussage zum Mord anspornte (133), weshalb die Erregung dieses Affekts als Erinnerung an ihr ursprüngliches Handlungsmotiv in hohem Maße dazu geeignet scheint, Clytemestra wieder für den Mordplan einzunehmen. In einem nächsten Schritt greift Aegisthus Clytemestras Selbstbewusstsein als unangefochtene Ehefrau und Herrscherin an, indem er sich den trojanischen Geliebten Agamemnons zuwendet, die dieser mit nach Mykene bringen werde (253 – 259): Effusa circa paelicum quanto venit turba apparatu! sola sed turba eminet tenetque regem famula veridici dei. feresne thalami victa consortem tui? at illa nolet. ultimum est nuptae malum palam maritam possidens paelex domum. nec regna socium ferre nec taedae sciunt. Mit welchem Prunk kommt, sich um ihn herum ergießend, der Schwarm seiner Nebenfrauen! Als einzige aber ragt aus der Schar hervor und besitzt den König die Dienerin des wahrsagenden Gottes. Wirst du als Unterlegene sie als Mitgenossin deines Ehebettes dulden? Aber sie wird nicht wollen. Äußerstes Übel ist es für eine Ehefrau, dass eine Nebenfrau unverhohlen das Ehe-Haus besitzt.Weder Regentschaften noch Ehen verstehen, einen Teilhaber zu dulden.

Aegisthus bedient sich der evidentia, um den Einzug der im Krieg erbeuteten Troerinnen in Mykene zu beschreiben.⁴⁷ Diese präsentiert er als Agamemnons neue Ehefrauen, die Clytemestra verdrängen, und konstruiert so ein Feindbild, demgegenüber im Sinne der indignatio negative Affekte, Neid, Hass und Eifersucht, evoziert werden sollen. Die Troerinnen erscheinen durch die für Feindbilder

 Zu diesem kommunikationsstiftenden Effekt rhetorischer Fragen vgl. Bechmann (2010) 106 – 111. Plett (92001) 80 weist zudem auf das große Emotionalisierungspotenzial rhetorischer Fragen hin.  Die evidentia, die Veranschaulichung, besitzt laut Plett (92001) 27 ein hohes Potenzial zur Affekterregung, da der Adressat einer solchen Veranschaulichung gleichsam als Augenzeuge des Dargestellten fungiere.

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typische Wassermetapher⁴⁸ (effusa turba) als unüberschaubare, zusammengeschmolzene und homogene Menge, die sich um Agamemnon ergießt, so auf ihn Einfluss ausübt und ihn von Clytemestra isoliert. Aus dieser entindividualisierten Masse, die zwar als Bedrohung wahrgenommen werden kann, aber dennoch wenig konkret erscheint, ragt Cassandra, Wahrsagerin und Tochter des Priamos, als Individuum hervor, die so als Anführerin der Nebenbuhlerinnen und somit als Clytemestras stärkste Konkurrentin gezeichnet wird. Sie ist die einzige (sola), die Macht über den König hat – die Formulierung tenetque regem ist dabei besonders brisant, da tenere auch erotisch konnotiert ist⁴⁹ – und die somit Clytemestras Rolle als Königin und Ehefrau übernimmt. Selbst wenn diese bereit wäre, Herrschaft und Ehebett zu teilen, würde sie ihre Stellung verlieren, da ihr Einfluss schon so schwach ist, dass nicht sie, sondern Cassandra darüber entscheiden würde (illa nolet). Zudem kommt dem abschließenden Verweis auf die Unteilbarkeit von regna und taedae beinahe ein allgemeingültiger Charakter zu, so dass ein Verstoß Clytemestras durch Agamemnon geradezu zwangsläufig erscheint.⁵⁰ So schreibt Aegisthus Clytemestra einen – für die Konstruktion von Feindbildern zentralen⁵¹ – vom Feind verursachten Souveränitätsverlust zu und macht sie so vollends zur Außenseiterin. Diesen Gegensatz zwischen Clytemestra und ihren Nebenbuhlerinnen verstärkt eine Reihe von Paradoxa. So widerspricht der beschriebene prachtvolle Einzug (quanto apparatu) der Erwartung an einen Zug von Kriegsgefangenen – und dem tatsächlichen Auftritt der ungekämmten und trauernden Troerinnen später im Stück (586 – 588) – und ist geeignet, die Empörung und den Neid der Königin gegen die Troerinnen zu erzeugen. Zudem werden nicht sie, sondern Clytemestra als victa bezeichnet, so dass die Königin in die Rolle der Unterlegenen gedrängt wird. Den König wiederum beherrscht eine Dienerin. Auch wenn famula hier auf Cassandras Rolle als Priesterin verweist, unterstreicht doch die direkte Gegenüberstellung regem – famula die Paradoxität von Cassandras Einfluss auf Agamemnon. Die Darstellung des Aegisthus zielt auf Clytemestras angestammte Rolle in Mykene; er zeichnet ein Szenario der Unterdrückung, aufgrund dessen die Ermordung Cassandras als Notwehr legitimiert werden könnte, da diese als Aggressorin gezeichnet wird, gegen die sich Clytemestra verteidigt. Sich selbst

 Vgl. Pörksen (2000) 190 – 192.  Vgl. Tarrant (1976) 220.  Diese Sentenz dient zugleich auch als Rechtfertigung für Aegisthus, der seine gegenwärtige Position gleichsam mit Agamemnon teilen muss und nur durch dessen Ermordung selbst zum alleinigen Herrscher und Ehemann werden kann.  Vgl. Pörksen (2000) 203.

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wiederum präsentiert Aegisthus als Verbündeten gegen die Willkür des Gegners.⁵² Clytemestra selbst reagiert auf Aegisthus’ Verunsicherungsversuche emotional, beschwört ihn, sie nicht wieder zum Mord zu drängen (260 f.), und nimmt ihren Gatten weiterhin in Schutz (262– 267). So gesteht sie Aegisthus’ Strategien zwar eine Wirkung zu, versucht aber, diesen nicht zu erliegen. Gleichwohl verändert sich ihr Auftreten: Während sie zuvor eher distanziert und mit allgemeingültigen Sentenzen, wie etwa der ehelichen Pflichterfüllung und ihrem pudor, gegen den Mordplan argumentiert hatte (239 – 243), wechselt Clytemestra nun auf eine persönlichere Ebene, indem sie beispielweise ihren Geliebten direkt mit Aegisthe anspricht und eine verzweifelte Frage an ihn richtet (260 f.). Außerdem werden ihre Antworten einerseits immer kürzer, während Aegisthus’ Redeanteile zunehmen und er so das Gespräch dominieren kann (268 – 284), und andererseits auch aggressiver, bis die Auseinandersetzung schließlich mit Verweis auf Aegisthus’ inzestuöse Abstammung in der Beleidigung ihres Geliebten gipfelt (288 – 301). Aegisthus reagiert darauf mit einem Selbstmordangebot (302– 305), was zunächst überraschend anmutet. Allerdings ist dieses nicht als schwächliches Einknicken zu werten, sondern entspringt rhetorischem Kalkül.⁵³ Aegisthus passt seine Strategien dem Verhalten Clytemestras an: Durch sein beinahe unterwürfiges Auftreten appelliert er an ihr Mitgefühl; zugleich macht er jedoch auch deutlich, dass sie die Verantwortung für seinen Tod zu tragen habe. So würde Clytemestra, von ihrem Gatten gänzlich zugunsten seiner Geliebten verlassen, die einzige Stütze verlieren, die ihr noch geblieben sei, nämlich Aegisthus. Der Strategiewechsel führt nun tatsächlich dazu, dass Clytemestra ihre ablehnende Haltung aufgibt und sich doch dazu entschließt, den ursprünglichen Plan in die Tat umzusetzen (306 – 309). Aegisthus hat somit letztlich sein persuasives Ziel erreicht. Die Gründe für seinen Erfolg liegen zum einen im rhetorischen Kalkül und in den Strategien des Orators, zum anderen im rhetorischen Setting und insbesondere in der Verfassung der Adressatin. Im Gegensatz zu Lycus im Hercules Furens, der anstatt zu agieren oftmals reagieren musste, scheinen die Strategien des Aegisthus weitaus durchgeplanter und konsequenter. Er erregt bei Clytemestra genau die Affekte, die sie

 So beispielsweise durch die Verwendung des Personalpronomens nobis; vgl. 269 – 272: ignota tibi sunt iura regnorum aut nova? / nobis maligni iudices, aequi sibi, / id esse regni maximum pignus putant / si quidquid aliis non licet solis licet. (Ist dir die Rechtsanwendung von Königen etwa unbekannt oder neu? Als uns missgünstige Richter, sich selbst gerecht, meinen sie, dass dies das größte Kennzeichen der Herrschaft sei, wenn all das, was anderen nicht erlaubt ist, ihnen allein erlaubt ist).  So auch Tarrant (1976) 229 und Shelton (1983) 167. Dagegen Croisille (1964) 468 f., der Aegisthus’ Selbstmordangebot als Zeichen seiner Schwäche und Perplexität wertet.

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zuvor schon einmal zum Mordplan getrieben hatten und die sie nur kurzzeitig hatte unterdrücken können. Zudem ist er in der Lage, seine Strategien entsprechend der Reaktionen Clytemestras zu verändern, so dass er zunächst Furcht vor Agamemnons Rache sowie Ablehnung und Eifersucht gegenüber ihren Nebenbuhlerinnen zu evozieren sucht, nach Clytemestras Wutausbruch jedoch an ihr Mitgefühl appelliert. Dass seine Verunsicherungsversuche glücken, liegt aber auch daran, dass Clytemestra im Gegensatz zu Megara selbst schon in hohem Maße unsicher war, bevor Aegisthus die Bühne betrat, und die Aufgabe des Mordplans daher nicht einer tiefen Überzeugung entsprang. Vielmehr schien ihr Meinungsumschwung hin zum pudor recht plötzlich, so dass Aegisthus’ Aufgabe nicht darin bestand, ein stabiles Zertum zu erschüttern, sondern ein Dubium noch zu verstärken und Clytemestra ein Zertum 2 in Aussicht zu stellen, das sie sich selbst bereits einmal zu Eigen gemacht hatte.

Fazit In beiden Gesprächssequenzen lassen sich Verunsicherungsstrategien erkennen, deren Ziel darin besteht, die Adressatin emotional zu destabilisieren und ihr Vertrauen in eine Person zu erschüttern, von der sie sich Hilfe und Unterstützung erhofft. Dazu werden bevorzugt emotionale Appelle eingesetzt: Die indignatio soll Empörung über das vermeintliche Fehlverhalten der Person erzeugen, Furchtappelle zeigen bedrohliche Konsequenzen auf, falls die Adressaten ihre Position nicht zugunsten der des Orators aufgeben. Ein Bündnis mit dem Orator, der sich selbst als Beschützer inszeniert, wird dabei als eine erstrebenswerte Alternative dargestellt. Die verunsichernden Oratoren legen somit großes Augenmerk auf die Modellierung ihres Rednerprofils und auf die Verknüpfung von positiven Gefühlen und Sicherheit mit ihrer Person. So versucht Lycus zunächst, Megara zu schmeicheln und ihr scheinbar Zugeständnisse zu machen, und stellt sich stets im Gegensatz zu Hercules in strahlendem Licht dar. Ebenso gibt sich Aegisthus als Ratgeber, der in das Innerste Clytemestras sehen kann, ihre Gefühle analysiert und sie versteht.⁵⁴ Als Voraussetzungen für eine erfolgreiche Verunsicherung konnten einerseits das rhetorische Kalkül des Orators und andererseits die mentale Verfassung der Adressaten ausgewiesen werden, wobei offen bleiben muss, ob letztlich die

 Aegisthus schreibt sich somit zwei Eigenschaften zu, die laut Aristot. rhet. 1378a15 f. ursächlich für die Glaubwürdigkeit eines Redners sind: Einsicht (φρόνησις) und Wohlwollen (εὐνοία).

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Rahmenbedingungen (Charakter der Adressatin, ihr Verhältnis zum Orator, die Vorgeschichte) oder die Art der Verunsicherungsstrategien ausschlaggebend sind. Beide Verunsicherungsversuche haben Folgen, auch wenn nicht beide in dem Sinne erfolgreich sind, dass sie bei den Adressatinnen zu einem Meinungswechsel führen. Zwar reagieren sowohl Megara als auch Clytemestra emotional und insbesondere aggressiv – Megara mit der Bekräftigung ihres Hasses und Clytemestra mit einer Beleidigung –, doch die Konsequenzen unterscheiden sich enorm: Megara startet ihrerseits eine Gegenverunsicherung, Clytemestra hingegen übernimmt die von Aegisthus favorisierte Position. In beiden Fällen jedoch erweist sich der Verunsicherungsversuch als eine zentrale Strategie der in den Tragödien inszenierten persuasiven Prozesse. Dabei sind die Verunsicherungsprozesse innerhalb des Tragödiencorpus keineswegs an bestimmte Orator-Typen (wie etwa die Bösewichte wie Lycus und Aegisthus)⁵⁵ gebunden oder auf die Verfolgung persuasiver Ziele beschränkt. Vielmehr greifen beispielsweise auch die rechtschaffenen Ammen Phaedras und Clytemestras – wenngleich ohne nachhaltigen Erfolg – auf Verunsicherungsstrategien zurück, um ihre Schützlinge auf den moralisch korrekten Weg zu führen.⁵⁶ Aufgrund dieser Beobachtungen möchte ich abschließend eine positive Würdigung der Rhetorik in den senecanischen Tragödien formulieren. Entgegen der anfangs zitierten Kritik des 18. und 19. Jahrhunderts lassen die rhetorischen Elemente die Dramen gerade nicht lebensfremd erscheinen. Vielmehr bilden sie persuasive Prozesse ab, die realen Dezisionssettings nachempfunden sind und deren Verlauf und Ergebnis für die weitere Handlung durchaus relevant sind.⁵⁷

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 Ähnlich auch Ulixes bei seinem Versuch, von Andromacha den Aufenthaltsort ihres Sohnes zu erfahren (vgl. Sen. Tro. 533 – 704).  Vgl. Phaedr. 129 – 273 und Ag. 145 – 225.  Der vorliegende Beitrag ist aus meiner Masterarbeit hervorgegangen. Er verdankt Ramona Früh wichtige Hinweise und Anregungen zu den theoretischen Konzepten. Danken möchte ich ihr auch für ihre Hilfe bei der Präzisierung von Formulierungen.

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Martin Hose

Die Logik des Irrsinns Paradox und Phantastik in der Alten Komödie am Beispiel der Wolken des Aristophanes¹ Abstract The paper investigates in the context of Old Comedy how within this particular dramatic form destabilising rhetorical strategies are made productive by deploying parodic mimesis and fantastic transgression of reality. For this the concept of probability (εἰκός), elaborated in the so-called Rhetorica ad Alexandrum (7,4– 6), will be used as a heuristic tool. With its help the contest between the Stronger and the Weaker Logos in Aristophanes’ Clouds will be analysed, in which the victory of the Weaker Logos seems also to be a victory over basic attitudes among the contemporary Athenian public. Closer investigation shows that the provocative-destabilising element of this result is weakened, and the position of the Weaker Logos made plausible, by the fact that, on the one hand, reference is made to weak points in traditional Greek ideas about education and morals and that, on the other hand, the argument uses the variant of εἰκός (also mentioned in the Rhet. ad Alex.) which aims at ‘gain’. Nonetheless what remains at the end of the agon is (in the spirit of a poetics of destabilisation) the presumably disturbing result for the public that the traditional values no longer hold. Es ist ein, wenn nicht das Charakteristikum der sogenannten Alten Komödie, dass die von ihr im Medium des Dramas entworfene Welt durch eine eigentümliche Verbindung von parodischer² Mimesis³ athenischer Wirklichkeit⁴ oder athenischer Diskurse und deren phantastischer Transgression geprägt ist. Wird man also vor die Aufgabe gestellt, die ‚Rhetorik der Verunsicherung‘ in den Komödien eines Aristophanes zu untersuchen, muss eben dieses Charakteristikum berücksichtigt werden. Immerhin bietet es eine große heuristische Chance. Denn wenn die Alte Komödie rhetorische Diskurse imitiert, so verbindet sich mit dem Modus der

 Ich danke den Teilnehmern der Diskussion, die auf den Vortrag folgte, für ihre Hinweise. Markus Hafner hat den Text durchgesehen und durch Kritik und hilfreiche Beobachtungen gefördert, wofür ihm auch an dieser Stelle gedankt sei.  Siehe zum Begriff Verweyen (1982). Zur Aristophanischen Verwendung siehe grundsätzlich Rau (1967) und Delaney (1984).  Zu diesem Begriff siehe Küpper (2009).  Siehe hierzu zuletzt Ruffell (2011) 29 – 53.

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Parodie eine Überzeichnung der Phänomene, die nachgeahmt werden, eine Überzeichnung, durch die eine Verdeutlichung des rhetorischen Instrumentariums und seiner Wirkung erfolgt. In meinem Beitrag⁵ soll es also darum gehen, wie in der Aristophanischen Komödie (die für uns die Form der Alten Komödie repräsentiert)⁶ eine Rhetorik aufgerufen wird, vermöge derer dem Publikum ein Argument oder ein Sachverhalt als gänzlich vernünftig bzw. ‚logisch‘ erwiesen werden kann, das oder der im Kontext der rekonstruierbaren Lebenswirklichkeit im Athen des späten 5. Jhdts. als unvernünftig, paradox, verrückt oder gar irrsinnig eingestuft werden muss.⁷ Verunsicherung wird hierbei auf zwei Ebenen erzeugt, zunächst auf der des dramatischen Spiels, insofern die Plausibilisierung des Paradoxen oder des Irrsinns gegen eine Position der – relativen – Vernunft erfolgt,⁸ deren Vertreter verunsichert werden, sodann aber auch und besonders auf der Ebene des Rezipienten, also zunächst des athenischen Publikums, das in seinen basalen Anschauungen in Frage gestellt wird, also in dem, was man – mit Christian Meier⁹ – als die ‚mentale Infrastruktur‘ des Polis-Bürgers bezeichnen kann. Diese zweite Ebene möchte ich terminologisch von der ersten dadurch abheben, dass ich sie als ‚Poetik der Verunsicherung‘ bezeichne. Für eine diesem Ziel adäquate Analyse muss ich jedoch zunächst außerhalb der Komödie beginnen. Bekanntermaßen gehört die Wahrscheinlichkeit oder Plausibilität, das εἰκός, zu den wesentlichen Ingredienzien einer gelingenden, d. h. ihr persuasives Ziel er-

 Inhaltlich grenzt sich dieser Beitrag von Cartledge (1990) insofern ab, als es Cartledge um die Frage der Grenzen althistorischer Auswertbarkeit der Aristophanischen Komödie, nicht um Probleme der Rhetorik geht.  Trotz der in der letzten Zeit intensiveren Bemühung um Eupolis (siehe etwa Storey 2003), Kratinos (siehe etwa Bakola 2010) und weitere Vertreter der Alten Komödie (siehe Harvey u. Wilkins 2000) bleiben die elf erhaltenen Stücke des Aristophanes für Form und Gehalt dieses Dramentyps die einzigen belastbaren, d. h. rekonstruktionshypothesenunabhängigen Zeugnisse.  Soweit ich sehe, ist diese Dimension in den bisher vorliegenden Analysen der Aristophanischen Rhetorik (siehe etwa Murphy 1938) nicht berücksichtigt. Ich knüpfe an eine eigene Arbeit an: Hose (2012).  Hiermit knüpft die Aristophanische Rhetorik an zentrale Strategien an, die von der Sophistik wenn nicht entwickelt, so doch stark ausgebaut worden sind und etwa in Gorgias’ Schrift über das Nichtseiende (Text und Übersetzung bei Schirren u. Zinsmaier 2003, 62– 73) in zugespitzter Form präsentiert werden. Kennzeichen dieser Rhetorik ist der Nachweis, dass entgegen a) Intuition und/oder Erfahrung bzw. b) traditioneller Auffassung das, was als richtig bzw. als falsch galt, falsch bzw. richtig sei. Ein derartiger Nachweis führt, da er grundlegende Bereiche von Welt- und Werteverständnis radikal in Frage stellt, zu einer entsprechenden Verunsicherung des Rezipienten.  Siehe Meier (1988).

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reichenden Rede. Mit εἰκός pflegt man eine Einschätzung zu bezeichnen, die der Adressat einer Rede gegenüber dem ihm Vorgetragenen vornimmt. Der Adressat muss das Gehörte für plausibel (nicht jedoch: wahr) erachten. Die Rede sollte also genau diese Einstufung durch den Hörer zu erreichen trachten. Bereits in ihren frühesten Stufen hat die griechische Rhetorik die besondere Bedeutung des εἰκός thematisiert und zu systematisieren versucht.¹⁰ So heißt es in der sog. AlexanderRhetorik, Kap. 7,4– 6 (1428a25–b11):¹¹ [7, 4] 1Εἰκὸς μὲν οὖν ἐστιν, οὗ λεγομένου παραδείγματα ἐν ταῖς διανοίαις ἔχουσιν οἱ ἀκούοντες. λέγω δ’ οἷον εἴ τις φαίη τὴν πατρίδα βούλεσθαι μεγάλην εἶναι καὶ τοὺς οἰκείους εὖ πράττειν καὶ τοὺς ἐχθροὺς ἀτυχεῖν καὶ τὰ τούτοις ὅμοια, συλλήβδην εἰκότα δόξει εἶναι. 3ἕκαστος γὰρ τῶν ἀκουόντων σύνοιδεν αὐτὸς αὑτῷ περὶ τούτων καὶ τῶν τούτοις ὁμοιοτρόπων ἔχοντι τοιαύταις ἐπιθυμίαις. 4ὥστε τοῦτο δεῖ παρατηρεῖν ἡμᾶς ἐν τοῖς λόγοις ἀεί, εἰ τοὺς ἀκούοντας συνειδότας ληψόμεθα περὶ τοῦ πράγματος οὗ λέγομεν· 5τούτοις γὰρ αὐτοὺς εἰκός ἐστι μάλιστα πιστεύειν. [7, 5] 1τὸ μὲν οὖν εἰκὸς τοιαύτην ἔχει φύσιν, διαιροῦμεν δὲ αὐτὸ εἰς τρεῖς ἰδέας. 2μία μὲν οὖν ἐστι τὸ τὰ πάθη τὰ κατὰ φύσιν ἀκολουθοῦντα τοῖς ἀνθρώποις τοῖς λόγοις συμπαραλαμβάνειν {ἐν τῷ κατηγορεῖν ἢ ἀπολογεῖσθαι}, οἷον ἐὰν τύχωσί τινες καταφρονήσαντές τινος ἢ δείσαντες, {ἢ καὶ αὐτὸ τοῦτο τὸ πρᾶγμα πολλάκις πεποιηκότες} ἢ πάλιν ἡσθέντες ἢ λυπηθέντες, ἢ ἐπιθυμοῦντες ἢ πεπαυμένοι τῶν ἐπιθυμιῶν ἤ τι τοιοῦτον ἕτερον πεπονθότες πάθος ταῖς ψυχαῖς ἢ τοῖς σώμασιν ἤ τινι τῶν ἄλλων αἰσθήσεων οἷς συμπάσχομεν· 3ταῦτα γὰρ καὶ τὰ τούτοις ὅμοια κοινὰ τῆς ἀνθρωπείας φύσεως ὄντα πάθη γνώριμα τοῖς ἀκούουσίν ἐστι. [7, 6] 1τὰ μὲν οὖν κατὰ φύσιν τοῖς ἀνθρώποις εἰθισμένα γίνεσθαι τοιαῦτά ἐστιν, ἅ φαμεν δεῖν συμπαραλαμβάνειν ἐν τοῖς λόγοις. 2ἕτερον δὲ μέρος ἐστὶ τῶν εἰκότων ἔθος, ὃ κατὰ συνήθειαν ἕκαστοι ποιοῦμεν. 3τρίτον δὲ κέρδος· πολλάκις γὰρ διὰ τοῦτο τὴν φύσιν βιασάμενοι καὶ τὰ ἤθη προειλόμεθα πράττειν. 2

[7,4] 1Eikós ist etwas, wofür, wenn darauf die Rede kommt, die Hörer in ihrem Sinn Beispiele haben. 2Ich meine etwa, wenn man sagt, man wolle, dass das Vaterland groß ist, dass es den Nahestehenden gut geht und dass die Feinde im Unglück sind und Ähnliches dieser Art: Kurz, all dergleichen wird als eikós erscheinen. 3Denn jeder einzelne Hörer ist sich bewusst, dass er hinsichtlich solcher und ähnlicher Gegenstände derartige Wünsche hat. 4Daher müssen wir in unseren Reden immer darauf achten, ob wir Zuhörer haben werden, die sich des Sachverhalts bewusst sind, über den wir sprechen. 5Denn in der Regel werden sie sich davon am ehesten überzeugen. [7,5] 1Das ist also das Wesen eines eikós, das wir wieder in drei Formen unterteilen. 2Die erste besteht darin, die natürlichen Gefühle eines Menschen in seiner Rede zu verwerten {als Ankläger wie als Verteidiger}, wie etwa, wenn manche von Verachtung gegenüber jemandem erfüllt sind oder von Furcht {oder eben diese Tat schon oft begangen haben} oder ein andermal in der Freude oder im Schmerz, oder weil sie begehrten oder ihr Begehren über-

 Zu den diesem Text vorausgehenden Konzepten, die sich mit den Namen Korax (siehe Cole 1991a) und T(e)isias verbinden, siehe etwa Plat. Phaidr. 272d–273a. Siehe hierzu insgesamt Cole (1991b).  Siehe hierzu Reinhardt (2010).

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wunden hatten, oder sonst aus einem Gefühl in der Seele oder im Leibe oder vermöge einer der anderen Wahrnehmungen, mit denen wir mitleiden. 3All dies nämlich und dergleichen mehr sind allgemein-menschliche Gefühle und den Zuhörern bekannt. [7,6] 1Dies also, was gemäß ihrer Natur in den Menschen gewöhnlich entsteht, so sagten wir, soll man in seinen Reden verwenden. 2Eine zweite Form des eikós ist die Gewohnheit,was jeder einzelne von uns aus Gewöhnung tut. 3Die dritte ist der Gewinn. Oft ist er nämlich der Anlass, dass man seiner Natur Gewalt antut und gegen seine Gesinnung handelt.¹²

Diese Partie der Alexander-Rhetorik gibt zunächst eine Wesensbestimmung der rhetorischen Wahrscheinlichkeit: Εἰκός entsteht grundsätzlich, so der Verfasser dieser ältesten erhaltenen griechischen Rhetorik, wenn eine Rede an Erfahrungen (παραδείγματα) der Zuhörer anknüpfen kann. Dies belegt der Verfasser in einem ersten Anlauf (7,4,2: λέγω δ’ οἷον εἴ τις κτλ.) mit einer Reihe von Beispielen, die auf der Fähigkeit des Hörers beruhen, eine Rede aufgrund von eigenen ähnlichen (7,4,3: ὁμοιότροπα) Dispositionen bzw. Wünschen (ἐπιθυμίαι) für plausibel zu halten, um darauf in einem zweiten Anlauf die Voraussetzungen für ein εἰκός systematischer zu bestimmen: Er geht dihairetisch von drei Formen (7,5,1: τρεῖς ἰδέαι) aus, aus denen sich das εἰκός herstellt: – – –

die Affekte (τὰ πάθη) die ‚Gewohnheit‘ bzw. der Brauch (τὸ ἔθος) der Gewinn (τὸ κέρδος) – oder etwas freier formuliert: der Nutzen.

Auch wenn diese drei Gestalten oder Formen formallogisch betrachtet nicht auf einer Ebene liegen (die Alexander-Rhetorik stellt bekanntlich eine der frühen Realisierungen dessen dar, was Manfred Fuhrmann als „systematisches Lehrbuch“ bezeichnet hat¹³ und insofern lässt sich hier noch eine gewisse Ungeübtheit im Systematisieren erkennen), haben sie dennoch einen heuristischen Wert. Denn sie sind augenscheinlich Ergebnis von Erfahrungen und Beobachtungen (oder Studien) des Verfassers dieser Rhetorik, die der Frage galten, was ein Redner aufrufen oder gebrauchen müsse, damit seine Hörer seine Darlegungen plausibel finden. Vor uns liegt eine Handlungs- und zugleich Verstehensanweisung, die auf die Praktiken gegründet ist, die sich mit und seit der Formierung der Rhetorik als einer τέχνη im 5. Jhdt. und insbesondere seit der Einführung der sog. kunstmäßigen Beweise (ἔντεχνοι πίστεις) ausgebildet haben.¹⁴ Bemerkenswert ist, dass in

 Griechischer Text nach Fuhrmann (1966); die Zählung der Sätze innerhalb der drei Absätze wurde vom Verfasser neu eingeführt, um die Zitation zu erleichtern. Die Übersetzung ist angelehnt an Gohlke (1959) 42−43. Gohlke übersetzt jedoch εἰκός mit „Regel“.  Fuhrmann (1960) 17– 20. Fuhrmann fasst pointiert das Verfahren dieser Rhetorik mit der Formel „Die Einteilung ist die bewegende Kraft der Systembildung“ (18).  Weiterhin hierzu wichtig Solmsen (1931) 5 – 8.

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dieser Partie das εἰκός durch die Anbindung an die menschliche Erfahrung als eine Art von Universalie (7,5,4: κοινὰ τῆς ἀνθρωπείας φύσεως) verstanden wird, durch die über die Dimension ‚Affekt‘ und ‚Verhaltensroutinen‘ der emotionale bzw. der soziale Haushalt eines Individuums beschrieben wird. Implizite Grundlage ist dabei die Annahme einer Art von ‚Wesensgemäßheit‘, nach der Plausibilität sich dann einstellt, wenn Denkformen aufgerufen werden, die (griechischen) ethischen Grunddispositionen und Denktraditionen entsprechen. Hierzu steht die dritte Form des εἰκός (7,6,3) in einem Spannungsverhältnis: Gewinn(‐streben) bezwinge Natur und Gesittung. Die Aufnahme dieser Form von Plausibilität (bzw. deren explizite Ausgliederung aus der Form der ‚Gewohnheit‘, in die sie prinzipiell aufnehmbar wäre) zeigt, dass der Verfasser dieser Rhetorik die Neuakzentuierung im griechischen anthropologischen Denken, die sich im letzten Drittel des 5. Jhdts. vollzieht und literarischen Niederschlag etwa in Thukydides’ Geschichtswerk und den Dramen des Euripides findet,¹⁵ nachvollzieht. Eine Wesensbestimmung des Menschen durch Ehrgeiz und Habgier, die nicht mehr als pathologische Deformationen betrachtet werden, musste, so scheint die Alexander-Rhetorik sagen zu wollen, auch zu einer entsprechenden erweiterten Systematik im Feld der Plausibilität führen. Kommen wir von hier aus zu Aristophanes, dessen Dramen diese Neuakzentuierung begleiten. Seine Komödien¹⁶ enthalten zahllose rhetorische Konstellationen, in denen entweder eine Figur vor einer Gruppe oder zwei Figuren in einer agonalen Situation um Zustimmung ringen. Es scheint, dass ein derartiges Ringen geradezu als konstitutiv für die Alte Komödie angesehen werden darf, da sie eine eigene und eigentümliche Bauform, den epirrhematischen Agon,¹⁷ hierfür ausgebildet hat. Ein dafür instruktives Beispiel bieten die Wolken und der in ihnen enthaltene Agon zwischen dem „Stärkeren (κρείττων) Logos“ und dem „Schwächeren (ἥττων) Logos“. In diesem Stück (dem Schmerzenskind im Schaffen des Dichters, der es seinem Publikum offenkundig sehr verübelte,¹⁸ dass es bei den Dionysien 423 durchgefallen war)¹⁹ setzt der Agon an dem Punkt ein, da Sokrates das Scheitern seiner Bemühungen, den tumben Bauern Strepsiades zu belehren, eingestehen musste; statt des Alten soll nunmehr dessen Sohn Pheidippides ein Studium der Sophistik aufnehmen; Sokrates kündigt in V. 886 an, dass Pheidip-

 Siehe hierzu Hose (2009).  Der Aristophanes-Text in diesem Aufsatz wird nach Wilson (2007) gegeben, der für die Wolken mit Dover (1968) verglichen ist. Alle Übersetzungen aus Aristophanes sind entnommen Seeger u. Weinrich (1952).  Unersetzt dazu Zielinski (1885); Gelzer (1960). Zu vergleichen ist Newiger (1996) 362– 365.  Zu den möglichen Gründen für dieses Scheitern Hose (1995).  Siehe die Kritik an der Urteilskraft des Publikums in Nub. 518 – 526 und Vesp. 1046 – 1048.

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pides – gemäß dem Wunsch seines Vaters – von der ‚stärkeren‘ und ‚schwächeren‘ Rede selbst lernen wird. Sokrates und Strepsiades gehen ab, Pheidippides bleibt vor dem mit dem Neologismus „Phrontisterion“ („Denkerei“) bezeichneten Haus des Sokrates – gemeinsam mit dem Wolkenchor in der Orchestra – zurück. Mit V. 889 treten der personifizierte Stärkere und Schwächere Logos²⁰ auf und beginnen ihre Unterweisung als werbenden Wettstreit um Pheidippides. In der Forschung ist seit langem gesehen worden, dass in diesem Wettbewerb um die Gunst des Jünglings Prodikos’ allegorische Fabel von Herakles am Scheideweg verarbeitet, ja parodiert ist.²¹ Xenophon referiert diese Fabel in den Memorabilien. ²² Dort beginnt Eudaimonia (bzw., wie sich später im Text herausstellen wird, Kakia) das Werben um Herakles. Sie verspricht ein Leben ohne Mühen, ohne Schwierigkeiten in Üppigkeit, Luxus und Schwelgerei (Mem. 2,1,23 – 25). Ihre Werberede gipfelt in dem Satz: Πανταχόθεν γὰρ ὠφελεῖσθαι τοῖς ἐμοὶ συνοῦσιν ἐξουσίαν ἐγὼ παρέχω. „Von allen Seiten nämlich gewähre ich denen, die mit mir verkehren, die Möglichkeit, für sich Gewinn zu erlangen.“²³ (Mem. 2,1,25 – 26) In der Gegenrede entwickelt Arete, die personifizierte Tugend, ausgehend von der Voraussetzung, dass von den „wahrhaftig guten und schönen Dingen“ (τῶν γὰρ ὄντων ἀγαθῶν καὶ καλῶν) die Götter nichts ohne Mühen und Sorgen geben (2,1,28), eine Reihe von Lebenszielen für Herakles, die jeweils an große Anstrengungen als Voraussetzung geknüpft sind (Ehre hat zur Vorbedingung den Einsatz für Griechenland, [bäuerlicher] Wohlstand die Sorge für Acker und Vieh etc.). Hieran schließt sich eine Einrede der Kakia an: „Du bemerkst, Herakles, wie schwierig und lang der Weg zur Freude ist, den dir diese Frau beschreibt“ – ihr Weg dagegen sei kurz und leicht (2,1,29). Diese Einrede erwidert Arete mit einem direkten Angriff auf Kakia, in dem sie einerseits ‚nachweist‘, dass deren Schwelgereien nicht nur der Natur entgegengesetzt sind („die du nicht einmal die Begierde nach dem Angenehmen abwartest, sondern sie vor dem Begehren auffüllst“), sondern mit erheblichen Anstrengungen verbunden sind (mitten im Sommer müsse sie – zum Kühlen des Weins – sich mit großem Aufwand Schnee besorgen). Und schließlich – im Gegensatz zu Arete – sei Kakia aus den peer groups

 Zu dieser Personenbezeichnung, die von der Bezeichnung abweicht, die die AristophanesHandschriften bieten, Dover (1968) lvii−lviii.  So zuletzt Papageorgiou (2004).  Mem. 2,1,21– 34 (zugrunde gelegt ist die Ausgabe von Bandini u. Dorion 2011). Diese Partie wird bei Diels u. Kranz (1960) VS 84 B 2 als Prodikos-Fragment geführt. Siehe zu dieser Partie zuletzt Harbach (2010) 93 – 134.  Übersetzung hier wie im Folgenden nach Schirren u. Zinsmaier (2003).

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ausgeschlossen: Weder habe sie, die sie selbst unsterblich sei, Gemeinschaft mit den Göttern noch mit den ‚guten Menschen‘ (2,1,31– 33). Dieser Text des Prodikos (es sei vorausgesetzt, dass Xenophons Referat ihn adäquat repräsentiert)²⁴ will, so darf man vermuten, einem Publikum, das mit einiger Wahrscheinlichkeit den Herakles-Mythos hinreichend kannte und mit Herakles ein entsagungsvolles, aber ruhmreiches mythisches Heldenleben verband,²⁵ Herakles’ Entscheidung für ein eben solches Leben als bewussten Akt präsentieren. Bemerkenswerterweise setzt er diese Entscheidung als symbuleutische rhetorische Konstellation um, in der nicht nur in allegorischer Form für die späterhin von Herakles praktizierte Lebensform, sondern auch für einen konträr dazu angelegten Entwurf geworben wird. Beide ‚Beratungsreden‘ argumentieren dabei auf eine Weise, die – vor dem Rezipienten – eine Plausibilität haben (müssen), allerdings in Abstufung: Die Argumentation der Kakia sollte als minder, die der Arete als höher plausibel erscheinen. Betrachtet man nun die beiden Reden in dieser Perspektive, so ist deutlich, dass Kakia – im Sinne der Dreiteilung des εἰκός in der Alexander-Rhetorik – allein mit dem „Gewinn“ argumentiert, der sich aus der Hinwendung zur ihr ergibt (ὠφελεῖσθαι). Wenn aber Arete (gleichsam kontraintuitiv) den Agon mit dem Versprechen von Ruhm auf der Basis härtester Mühen gewinnt, so liegt die höhere Plausibilität dieser zweiten Rede in der Hauptsache darin, dass sie seit Hesiod²⁶ belegte Grundpositionen der griechischen popular morality aufruft. Kurzum, das εἰκός für den Rezipienten besteht in der Gegenrede darin, dass diese trotz ihrer unbequemen Botschaft die allgemein als gültig in der archaischen und klassischen griechischen Kultur erachteten Maximen nennt. Dies, so kann man in Anlehnung an die Alexander-Rhetorik behaupten, erzeugt ein εἰκός auf Basis des Brauchs (vgl. dort 7,6,2). Kommen wir nun zu den Wolken zurück. Die Partie V. 889 – 1104 hat einen klaren Aufbau. Sie wird eröffnet durch ein Vorgeplänkel zwischen den beiden Logoi (in anapästischen Dimetern), das auf den eigentlichen Agon hinleitet; man kann daher V. 889 – 948 als ‚Proagon‘ bezeichnen. Darauf folgt ein vollständig ausgeführter epirrhematischer Agon mit den Bauteilen: – – –

Ode des Chores V. 949 – 958 Katakeleusmos (in anapästischen Tetrametern) durch den Chor V. 959−960 Epirrhema (in anapästischen Tetrametern) des κρείττων λόγος V. 961– 1008

 Skeptisch dagegen Gigon (1956) 60.  Siehe dazu etwa Galinsky (1972).  Vgl. etwa Hes. erg. 289; dazu insgesamt Gigon (1956) 74−75. Zum Gedankenkomplex der Arete-Rede siehe auch Dover (1974) 229; vgl. ferner Den Boer (1979).

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Pnigos (in anapästischen Dimetern) V. 1009 – 1023 Antode V. 1024– 1033 Antikatakeleusmos V. 1034−1035 Epirrhema des ἥττων λόγος V. 1036 – 1084 Antipnigos V. 1085 – 1104.

Am Ende dieses epirrhematischen Agons steht nicht nur der Abschluss der Belehrung des Pheidippides, vielmehr hat der Schwächere Logos einen überwältigenden argumentativen Sieg über den Stärkeren Logos errungen. Dass Strepsiades sodann seinen Sohn in die pädagogische Obhut nur dieses einen Logos gibt,²⁷ ist eine bemerkenswerte Veränderung seines ursprünglichen Plans – zugleich aber am Ende des Agons unausweichlich, hat doch der Stärkere Logos selbst seine Positionen aufgegeben und sich als ‚Überläufer‘ (V. 1104) zu den εὐρύπρωκτοι („Klaffärschen“) präsentiert. Dieses Resultat ist natürlich sonderbar. Denn der Stärkere Logos vertritt im Agon in etwa die Positionen, die Prodikos’ Arete verkörperte: So plädiert er für²⁸ – – – – – – –

körperliche Ertüchtigung und entsprechendes Training (V. 965; 973; 1002; 1005; 1054) die traditionelle Musik und Dichtung (V. 964) Respekt vor den alten Mythen (V. 902) Bewahrung von Recht und Sitte (V. 962; 979; 996) Bescheidenheit im Auftreten (V. 966; 974; 983) Respekt vor den Eltern (V. 994) Respekt vor dem Alter (V. 963).

Diese Forderungen kann man als einen Katalog von Grundpositionen griechischer Erziehung²⁹ und damit als Fundament griechischer Gesellschaft begreifen. Würde der Stärkere Logos im Agon obsiegen, so wäre für die Rezipienten ein solcher Sieg gleichsam die Bestätigung grundlegender Prinzipien ihrer Gesellschaft. Wenn aber, wie hier geschehen, Resultat des Agons eine unbestreitbare Niederlage ist, so sind damit eben diese grundlegenden Prinzipien radikal in Frage gestellt. Systematisch betrachtet, kann darauf der Rezipient in zwei bzw. drei Weisen reagieren: Entweder erkennt er dieses Resultat nicht an – dies hätte zur Folge, dass

 Zu dieser Personenansetzung in V. 1105 ff. siehe Revermann (2006) 213−214; anders etwa Sommerstein (2009).  Siehe hierzu Dover (1968) lix.  Vgl. etwa Platon (aus einer rekonstruierenden Sicht des 4. Jhdts.), rep. 424b−c; 425b. Einen weiteren Rahmen bietet Schwartz (1951) 67– 102, überschrieben mit „Wertprobleme der Klassischen Zeit“.

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zwar das Wertesystem des Rezipienten gleichsam intakt bliebe, die empathische Hinwendung des Rezipienten zum Stück jedoch zerbräche, kurz gesagt, er, weil er das Stück aufgrund einer fundamentalen Inkompatibilität mit dem, was man seine mentale Infrastruktur nennen kann, nicht mehr versteht, dem Stück nicht mehr folgte. Oder aber der Rezipient nimmt die Infragestellung ernst – was eine veritable ‚Verunsicherung‘ des Wertegefüges zur Folge hätte. Natürlich kann man für die Zuschauer der Wolken keinen empirischen Befund über ihre Reaktion auf das Stück erheben. Angesichts der Niederlage dieses Stückes im Agon scheint es möglich, dass das Publikum sich dem Stück – im Sinne der skizzierten ersten Option – verweigerte. Dass jedoch dies nicht die Intention des Autors (bzw. das naheliegende Verstehensangebot des Textes) gewesen sein dürfte, legt eine genauere Analyse der Rede des Stärkeren Logos offen: Die griechische traditionelle Ethik zeigt sich in ihr nicht in der argumentativen Höchstform, die sie bei Prodikos besaß. Dover merkte daher zu Recht in seinem Kommentar an: „There is a good deal of nonsense in Right’s argument.“³⁰ Eine genauere Analyse kann dies bestätigen: Der Stärkere Logos beginnt den Agon mit einer langen Rede (dem Epirrhema, V. 961– 1008, nebst Pnigos,V. 1009 – 1023), die durch zwei kurze Einwürfe des Schwächeren Logos, der in der komödientypischen Rolle als Bomolochos fungiert, unterbrochen und mit Stichworten versorgt wird (V. 984 f. bzw. 1000 f.). Diese Einwürfe gliedern zugleich die Rede des Stärkeren Logos in drei Teile. Diese Rede, ein gewaltiger Lobpreis der „alten Erziehung“, ἀρχαία παιδεία (V. 961), stellt a limine eine (temporale) Verbindung her (in V. 962 steht ὅτ’) zwischen der traditionellen Ethik (diese wird in V. 962 in Umschreibung apostrophiert: „als ich das Gerechte verkündend in Blüte stand und man die Sophrosyne/Sittsamkeit als verbindlich achtete“) und eben der „alten Erziehung“. Drei positiv besetzte Termini werden damit aufgerufen: das Alte, das Gerechte, die Sittsamkeit (ἀρχαίος, τὰ δίκαια, σωφροσύνη). Mit dieser Verbindung lässt Aristophanes den Stärkeren Logos ein seit Hesiod belegbares Denkmuster aufrufen, das mit einer stetigen moralischen Deszendenz operiert, das Alte als stets besser und dem Gegenwärtigen moralisch überlegen auffasst.³¹ Nach diesem verheißungsvollen Auftakt entwirft die weitere Rede in ihrem ersten Teil (V. 961– 983) ein Bild der alten Erziehung, in der die Knaben zu strenger Zucht und Ordnung herangebildet wurden. Bemerkenswert in diesem Entwurf sind die apodiktischen Verallgemeinerungen: Kein Knabe muckste (V. 963), man ging in schönster Ordnung (V. 964),

 Dover (1968) lxiii.  Siehe dazu den sog. Weltaltermythos in der Theogonie 109 – 201. Zur Hesiod-Rezeption in Athen siehe Graziosi (2010).

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man nahm keine Rücksicht auf schlechtes Wetter (V. 965) etc. Besondere Aufmerksamkeit widmet die Rede dabei dem sittsamen Verhalten der Knaben in alter Zeit: ἐν παιδοτρίβου δὲ καθίζοντας τὸν μηρὸν ἔδει προβαλέσθαι τοὺς παῖδας, ὅπως τοῖς ἔξωθεν μηδὲν δείξειαν ἀπηνές· εἶτ’ αὖ πάλιν αὖθις ἀνιστάμενον συμψῆσαι, καὶ προνοεῖσθαι εἴδωλον τοῖσιν ἐρασταῖσιν τῆς ἥβης μὴ καταλείπειν. ἠλείψατο δ’ ἂν τοὐμφαλοῦ οὐδεὶς παῖς ὑπένερθεν τότ’ ἄν, ὥστε τοῖς αἰδοίοισι δρόσος καὶ χνοῦς ὥσπερ μήλοισιν ἐπήνθει· (V. 973 – 978). Und im Ringhof dann, wenn sie saßen zu ruhn auf dem Sande, da mußten sie züchtig vorbeugen das Bein, um Unziemliches nicht den Umstehenden draußen zu zeigen. Und erhoben sie sich, so verwischten sie stets in dem Sande die Spuren mit Vorsicht, daß die blühenden Formen nicht, abgedrückt, unreine Begierden erweckten. Da salbte sich über den Nabel hinab kein Knabe, drum blüht’ ihm auch wollig und weich um die Scham das gekräuselte Haar, wie der Flaum auf dem reifenden Pfirsich.

Kenneth Dover merkte an: „[…] the most striking characteristic of Right is his obsession with boys’ genitals […]“.³² Im zweiten Teil seiner Rede verschränkt der Stärkere Logos sein Plädoyer für die alte Bildung mit einer Werbung um Pheidippides: „So nun, Jüngling, wähle beherzt mich, den stärkeren Logos“ (V. 900), wobei er in Aussicht stellt, nicht nur den mit der Chiffre „Marathon-Kämpfer“ (V. 986) bezeichneten Vorfahren gleichzukommen, sondern auch, sich an die harte Erziehung zu gewöhnen und damit in der Lage zu sein, die Eltern zu ehren und züchtig zu leben (V. 991– 999). Und auf die nochmalige Einrede des Schwächeren Logos (V. 1000 f.: Pheidippides werde so zum βλιτομάμμας: „Mamas Gemüseesserchen“³³) folgt im abschließenden, durch das Pnigos auch formal als peroratio gekennzeichneten Teil eine Gegenüberstellung zwischen der alten und der neuen Bildung mit Fokus auf die jeweiligen Konsequenzen bzw. Gewinne:³⁴ Pheidippides gewönne so das Gymnasion (V. 1002) statt der Agora (V. 1003), Ölglanz statt Redefähigkeit, statt Pro-

 Dover (1968) lxiv.  Siehe Dover (1968) 221 ad loc.  Die Rhetorik des ‚Gewinns‘ im gesamten Stück ist instruktiv, worauf mich Markus Hafner hinweist: Während der Stärkere Logos, wie an dieser Stelle, stets auf symbolische, immaterielle Gewinne hin argumentiert (was der Prodikeischen Arete entspricht), wirbt der Schwächere Logos mit materiellem Gewinn bzw. Lust-Gewinnen. Insofern Strepsiades wie auch Pheidippides (vgl. hier V. 259) vor dem drohenden finanziellen Bankrott stehen, erweist sich für sie die Aussicht auf materiellen Gewinn per se als plausibler denn die auf symbolischen. Bezeichnenderweise operiert selbst der Chor in der Nebenparabase gegenüber dem Publikum mit dem Inaussichtstellen von Gewinn (V. 1115 f.), wenn das Stück den ersten Platz im Agon erhielte.

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zessen Muße im Hain Akademos (bedeutsam ist in V. 1007 das Schlagwort ἀπραγμοσύνη). Und schließlich – gleichsam in einem holistischem Ansatz – wird die Differenz zwischen alter und neuer Bildung in unterschiedliche Entwürfe von Körperlichkeit übersetzt: ἕξεις ἀεὶ στῆθος λιπαρόν, χροιὰν λαμπράν, ὤμους μεγάλους, γλῶτταν βαιάν, πυγὴν μεγάλην, πόσθην μικράν. ἢν δ᾽ ἅπερ οἱ νῦν ἐπιτηδεύῃς, πρῶτα μὲν ἕξεις χροιὰν ὠχράν, ὤμους μικρούς, στῆθος λεπτόν, γλῶτταν μεγάλην, πυγὴν μικράν, {κωλῆν μεγάλην,} ψήφισμα μακρόν· (V. 1011– 1019). Dann wird dir zum Lohn eine kräftige Brust, ein blühendes Gesicht, breitschultriger Wuchs, und die Zunge hübsch kurz, und ein mächtig Gesäß, und ein mäßig Gemächt! Doch wenn du es treibst nach der Mode von heut, dann wird dein Gesicht bleichsüchtig und gelb, deine Schultern gedrückt und schmächtig die Brust, deine Zunge wird lang, weitoffen dein Maul, und klein dein Gesäß, und lang dein … Antrag!³⁵

Betrachtet man diese Rede in ihrer gesamten Argumentation, so wird deutlich, dass sie einerseits in Schlagworten die imaginäre ‚gute alte Zeit‘ evoziert; die Werbung für die ἀρχαία παιδεία insinuiert damit, über sie könne diese Zeit restituiert werden. Allerdings – und dies gilt es im Verhältnis zur Werbung der Arete bei Prodikos zu beachten – wird einem Pheidippides im Gegensatz zu Herakles kein Ruhm für die Wahl dieses unangenehmen Weges in Aussicht gestellt. Betrachtet man das Bild, das der Stärkere Logos von der Wirkung seiner Bildung entwirft, genauer, so fällt ins Auge, dass eine soziale und – im Kontext der Polis Athen erhebliche – politische Isolierung in Aussicht gestellt wird. Denn der erfolgreiche Absolvent ist eben nicht auf der Agora präsent (V. 1003), er kann sich nicht im Rahmen der Gerichte und Prozesse bewegen, die für die permanente Normenkontrolle in der Polis funktional unentbehrlich sind (V. 1004) – stattdessen wird, scheinbar beiläufig, mit dem idyllischen schattigen Hain Akademos der Begriff ἀπραγμοσύνη verbunden. Ich gehe davon aus, dass hier nicht, wie der berühmte

 Ob hier ein ἀπροσδόκητον vorliegt (so die Schol. ad loc.) oder eine obszöne Bedeutung von ψήφισμα, ist unklar. Dover (1968) 223 ad loc. bemerkt lapidar und dunkel: „ψήφισμα μακρόν gives precisely the new twist needed.“

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Gelehrte Aristophanes von Byzanz³⁶ mit großer Bestimmtheit feststellte, eine nur in der Akademie wachsende Blume gemeint ist (dass ein solcher Blumenname sonst nicht belegt ist, schien den Philologen nicht zu kümmern).³⁷ Dass mit diesem Begriff ein in Athen negativ konnotiertes Verhalten bzw. eine negativ konnotierte Disposition verbunden ist,³⁸ mag schlaglichtartig ein Satz aus Thukydides’ Perikles in den Mund gelegten Epitaphios verdeutlichen: ἔνι τε τοῖς αὐτοῖς οἰκείων ἅμα καὶ πολιτικῶν ἐπιμέλεια, καὶ ἑτέροις πρὸς ἔργα τετραμμένοις τὰ πολιτικὰ μὴ ἐνδεῶς γνῶναι· μόνοι γὰρ τόν τε μηδὲν τῶνδε μετέχοντα οὐκ ἀπράγμονα, ἀλλ’ ἀχρεῖον νομίζομεν […]. (2,40,2). Wir vereinigen in uns die Sorge um unser Haus zugleich und unsre Stadt, und den verschiedenen Tätigkeiten zugewandt, ist doch auch in staatlichen Dingen keiner ohne Urteil. Denn einzig bei uns heißt einer, der daran gar keinen Anteil nimmt, nicht ein stiller Bürger, sondern ein schlechter […].³⁹

Der Stärkere Logos scheint demgegenüber als Zielvision der ἀρχαία παιδεία ein un-, ja apolitisches Leben vorzugeben. Dass ein solches Leben einerseits beachtliche Risiken in Athen enthielt, zeigte Aristophanes selbst in den Acharnern (425 v. Chr. aufgeführt). Dort entwirft er in der Parabase das Bild vom schrecklichen Schicksal eines alten Aristokraten, der sich vor Gericht nicht zu helfen weiß:⁴⁰ τῷ γὰρ εἰκὸς ἄνδρα κυφὸν ἡλίκον Θουκυδίδην ἐξολέσθαι συμπλακέντα τῇ Σκυθῶν ἐρημίᾳ τῷδε τῷ Κηφισοδήμῳ τῷ λάλῳ ξυνηγόρῳ; ὥστ’ ἐγὼ μὲν ἠλέησα κἀπεμορξάμην ἰδὼν ἄνδρα πρεσβύτην ὑπ’ ἀνδρὸς τοξότου κυκώμενον· ὃς μὰ τὴν Δήμητρ’, ἐκεῖνος ἡνίκ’ ἦν Θουκυδίδης, οὐδ’ ἂν αὐτὴν τὴν †’Αχαιὰν ῥᾳδίως ἠνέσχετ᾽ ἄν… (Acharn. V. 703 – 709).

 Schol. ad 1007. Siehe dazu auch Dover (1968) 223 ad loc.  Siehe Nauck (1848) 214 f.  Siehe hierzu insbesondere Stein-Hölkeskamp (1992) zu Carter (1986). Nur hingewiesen sei auf Aristophanes’ Vögel, in denen nach einer Art Ort für Aussteiger, einem τόπος ἀπράγμων, gesucht wird: Av. 44. Siehe ferner Demont (²2009). Man kann daran denken, die Zielvision des Stärkeren Logos mit den Zielvisionen üblicher aristophanischer Helden zu vergleichen, die in Wespen oder Vögeln einen (freilich utopischen) Zustand in Athen entwerfen, in dem keine Prozesse geführt werden.  Griechischer Text nach Jones u. Powell (1942), Übersetzung nach Landmann (²1976). Positiv konnotierte πολυπραγμοσύνη findet sich dagegen in Thuk. 1,70 bzw. 5,87.  Ein Gegenbild vermitteln etwa Equ. 758 f.: Dort erscheint als „schillernder Mann“ (ποικίλος ἀνήρ) jemand, der es versteht „Unmögliches in Mögliches zu verwandeln“ (ἐκ ἀμηχάνων πόρους εὐμήχανους πορίζειν).

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Ist es recht, daß ein gekrümmter Alter, wie Thukydides hier verloren ist, als stäk er in dem skythischen Wüstensand, durch Kephisodemos, jenes freche Rabulistenmaul? Zum Erbarmen war’s, ich wischte mir die Augen, als ich sah, wie den edlen Greis der Skythe packt’ und schüttelte, den Mann, bei Demeter! der, solang’ er ganz Thukydides noch war, nie Unwürdiges hätt’ erduldet […].

Andererseits ist ἀπραγμοσύνη eine Chiffre für eine geradezu gegen die Polis Athen gerichtete, antidemokratische Haltung, wie sich wiederum aus Thukydides herleiten ließe.⁴¹ So ergibt sich für den athenischen Rezipienten bereits ohne die Einreden und späteren Argumente des Schwächeren Logos aus dieser ersten Rede des Agons eine eigentümliche Konstellation: Zwar wird für das Alte und die Tradition geworben, was – entsprechend den Ausführungen der Alexander-Rhetorik zum Brauch als Quelle für εἰκός – für Plausibilität sorgt und zudem angesichts der grundsätzlich positiven Besetzung von ἀρχαῖος („alt“) in der griechischen Kultur⁴² in sich eine attraktive Option darstellt. Dem steht gegenüber eine Engführung eben dieser traditionellen ἀρχαία παιδεία mit der sozial und politisch negativen Kategorie der ἀπραγμοσύνη, die im besten Fall als Nutzlosigkeit erscheinen mag. Kurzum, die Rede des Stärkeren Logos verfehlt, anders als die Rede der Arete bei Prodikos, ihr werbendes Ziel und hinterlässt bei den Rezipienten infolge der heterogenen Komponenten eine Irritation. In diese Situation stößt nun die Gegenrede des Schwächeren Logos, die – zusammengefasst – argumentativ nicht besonders brillant ist. Eine rhetorische Strategie durchzieht sämtliche Einlassungen des Schwächeren Logos: Er trachtet danach, die positive Besetzung des Alten durch immer neue Bewertungen als altmodisch oder nicht mehr zeitgemäß zu schwächen. Er tut dies einerseits über Beschimpfungen des Kontrahenten als antiquiert; ähnlich geht er in seiner ersten Einrede im Epirrhema vor: Schwächerer Logos: ἀρχαῖά γε καὶ Διιπολιώδη καὶ τεττίγων ἀνάμεστα καὶ Κηκείδου καὶ Βουφονίων. (V. 984 f.) Altvätrisches Zeug! Diipolischer Brauch! Urmode der goldnen Zikaden! Kekeidasgeleier! Buphonienzeit!

 Vgl. etwa Thuk. 2,63,3.  Siehe dazu Van Groningen (1953), für Aristophanes selbst vgl. Kassies (1963).

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Und ferner versucht er, die positive Konnotierung der Tradition durch Umwertung als „Memmengemüse“ (βλιτομάμμας, V. 1001)⁴³ aufzubrechen: Schwächerer Logos: εἰ ταῦτ᾽ ὦ μειράκιον πείσει τούτῳ, νὴ τὸν Διόνυσον τοῖς Ἱπποκράτους υἱέσιν εἴξεις καί σε καλοῦσι βλιτομάμμαν. (V. 1000 f.) Ich sage dir, Junge, vertraust du dich dem, dann macht er dich, beim Dionysos, Zu ’nem Bübchen, Hippokrates’ Püppchen gleich, und man wird dich ein Mutterkind schelten.

Sodann entwindet er dem Stärkeren Logos das Alte als den zentralen Beweis für die Geltung von dessen ἀρχαία παιδεία: Ein erster Punkt gelingt in der Frage der verweichlichenden warmen Bäder: Schwächerer Logos: ἐπίσχες· εὐθὺς γάρ σ᾽ ἔχω μέσον λαβὼν ἄφυκτον. καί μοι φράσον, τῶν τοῦ Διὸς παίδων τίν᾽ ἄνδρ᾽ ἄριστον ψυχὴν νομίζεις, εἰπέ, καὶ πλείστους πόνους πονῆσαι; Stärkerer Logos: ἐγὼ μὲν οὐδέν᾽ Ἡρακλέους βελτίον᾽ ἄνδρα κρίνω; Schwächerer Logos: ποῦ ψυχρὰ δῆτα πώποτ᾽ εἶδες Ἡράκλεια λουτρά; καίτοι τίς ἀνδρειότερος ἦν; (V. 1047– 1052) Schwächerer Logos: Halt! Sieh, da hab’ ich dich am Schopf! Du kannst mir nicht entrinnen! Ich frage dich: wen hältst du für den tapfersten der Söhne Des Zeus? und wer bestand mit Ruhm die meisten Abenteuer? Stärkerer Logos: Ich denke: tapferer ist kein Mann gewesen als Herakles! Schwächerer Logos: Hast du nun kalte Bäder je gesehn – Heraklesbäder? Und doch, wer war so stark wie er?

Der rhetorische Trick besteht darin, das Plädoyer für kalte Bäder, das der Stärkere Logos führte, dadurch zu entwerten, dass für den eingestanden größten griechischen Helden Herakles keine derartigen kalten Bäder belegbar sind – und hieraus die Berechtigung der warmen Bäder abzuleiten; dies hat insofern eine Legitimation, als an den warmen Quellen der Thermopylen (der Tradition nach ein Geschenk des Hephaist für Herakles) ein Herakles-Altar stand.⁴⁴ Der Schwächere

 Siehe Dover (1968) 221 ad loc. mit Verweis auf Plin. nat. 20,252 und Hesych β 749.  Siehe Hdt. 7,176,3; Ibykos Frg. 300 PMG; dazu Dover (1968) 224−225.

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Logos gewinnt damit für seine Position der ‚weichen Erziehung‘ eine doppelte Plausibilität: Sie kann auf die mythische Tradition verweisen und ist gewinnbringend. Ähnlich funktionieren die beiden weiteren mythologischen Exempla, Peleus und Zeus, die angeführt werden. Dass der Bezug auf Zeus, den traditionell höchsten Gott und Verkörperer der Gerechtigkeit, in V. 1080 ff. als Verteidigungsargument für den ertappten Ehebrecher dient,⁴⁵ macht sich gleichfalls ein in der griechischen Mythologie vorhandenes Stratum – die zahllosen Liebschaften des Zeus – zunutze. Im furiosen Abschluss der Rede verhört der Schwächere Logos seinen Gegner geradezu: Um die These zu beweisen, dass die Strafe für den ertappten Ehebrecher, die Strafvergewaltigung (qua Rettich) und als deren Resultat die εὐρυπρωκτία kein Übel seien (V. 1085), bringt der Schwächere Logos seinen Gegner dazu, zunächst einzugestehen, dass die Anwälte, dann, dass die Tragödiendichter, und schließlich, dass die Redner in der Volksversammlung aus εὐρύπρωκτοι bestünden. Formal liegt hier das Beweisverfahren einer interrogatio des Widersachers vor, dessen Ein- oder Zugeständnis besonderes Gewicht hat. Denn der Vertreter der ἀρχαία παιδεία bezeugt, dass drei wesentliche Berufsgruppen der demokratischen Polis (sie verkörpern das Normensystem, die Kultur und die Politik) nach den Maßstäben der ‚alten Zeit‘ stigmatisiert sind; da diese drei Gruppen aber zugleich Eliten der Gesellschaft (oder Kultur) darstellen, ist das Stigma Distinktionsmerkmal geworden. Hierzu fügt sich die Beobachtung des Stärkeren Logos, dass auch im Publikum zahlreiche εὐρύπρωκτοι sitzen,⁴⁶ und seine Kapitulation bzw. sein Überlaufen gewinnt daraus die Stringenz. Fassen wir zusammen: Der Agon der Wolken erweist geradezu, dass Tradition hinderlich, Scham verfehlt und Gerechtigkeit unsinnig ist. Der Vertreter von Tradition, Scham und Gerechtigkeit wird nicht nur widerlegt,vielmehr reicht seine Verunsicherung, ob er das Angemessene vertrete, so weit, dass er buchstäblich die Seiten wechselt. Insofern zeigt dieser Agon eine wirkungsvolle Rhetorik der Verunsicherung. Auf einer zweiten Ebene, die eingangs als Ebene einer Poetik der Verunsicherung bestimmt wurde, bedeutet das Resultat des Agons einen drastischen Widerspruch zu wesentlichen Positionen griechischer (oder athenischer) Ethik:

 Das Stück ruft damit ein ebenso berühmtes wie berüchtigtes Argument auf, das nicht nur benutzt (vgl. etwa Eur. Tro. 948 – 950), sondern bereits seit der Archaik als Problem für die traditionellen Göttervorstellungen angesehen wurde (siehe Xenophan. DK 21 B 11, fortgesetzt etwa bei Plat. rep. 391e).  Markus Hafner weist mich darauf hin, dass sich mit dieser ‚Beobachtung‘ in rhetorischer Hinsicht ein kunstfremdes Überzeugungsmittel (ἄτεχνος πίστις) verbindet, da ‚Beweise‘ für die These im Theater anwesend sind.

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Die Grundlagen des Zusammenlebens der Gesellschaft, die sich auf Respektierung von Eigentum oder eines ‚Generationenvertrages‘ beziehen, sind als nichtig bzw. individuell hinderlich und stornierbar gezeigt. Es bleibt am Ende des Agons (und modifiziert des Stückes, aber dies wäre gesondert zu untersuchen) die Frage: Kann eine Gesellschaft aus εὐρύπρωκτοι auf Gerechtigkeit verzichten? Ja schlimmer noch: Ist das Bild, das sich die Mitglieder der Polis von sich und ihrer Gesellschaft machen, d. h. Träger von Tugend und Wähler der Arete im Sinn der Prodikeischen Fabel zu sein, noch haltbar, wenn im Publikum εὐρύπρωκτοι vorherrschen, zu denen der Stärkere Logos überläuft? Hier kommt noch einmal das εἰκός der Alexander-Rhetorik zum Tragen: Eἰκός entsteht,wenn eine Argumentation Bilder oder Vorstellungen nutzen kann, die der Adressat der Argumentation in sich trägt.Wenn also das Publikum der Wolken (an dieser Stelle fehlt uns jede Möglichkeit eines empirischen Nachweises) die Rede (oder Teile der Rede) des Schwächeren Logos für plausibel halten konnte, wäre dies dann nicht eine Bestätigung dafür, dass dieses Publikum von sich selbst ein nicht (mehr) zutreffendes Bild in sich trug? Die Wolken waren ein Misserfolg des Aristophanes.

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Die Verunsicherung des tragischen Helden Zum Oedipus Rex von Sophokles Für Daniel Jakov

Abstract Oedipus’ detective work is directed against himself. The further the mythical hero advances in his investigations into the murder of Laius, the more troubled he becomes. Sophocles uses the ‘investigation of himself’ to present tragic fear in all its facets. The successful investigation becomes a process of increasing destabilisation of the tragic hero. It begins with mild irritations and passes through broad areas of negative emotions on to the terrible self-recognition. Sophocles develops a dynamic interplay between making certain and uncertain, between discovery and shock, into which the protagonists, the chorus and the public are drawn. The play contains a poetics of tragic destabilisation.

Die Aufklärungshandlung und ihr Held Durch den Spruch Apollons veranlasst, sieht der König Ödipus bei Sophokles¹ seine Aufgabe darin, den Mord an Laïos aufzuklären. Die Gespräche, die er führt, dienen der Rekonstruktion der weit zurückliegenden Tat und ihrer Umstände. Im Laufe der Untersuchung erfährt Ödipus immer neue Details, die er zu einem Ganzen verbinden muss. Bernd Manuwald bezeichnet das im Stück vorgeführte Geschehen treffend als „Aufklärungshandlung“.² Ödipus setzt sein Handeln entschieden zur Aufdeckung des Vergangenen ein. Dabei kommt er allerdings nur langsam voran. Gleich zu Beginn der Untersuchung folgt er einem falschen Verdacht und begeht gravierende Fehler: Er bezichtigt Kreon und Teiresias des versuchten Hochverrats. Nur mit Mühe lässt er sich davon abhalten, das Todesurteil an dem unschuldigen Kreon zu vollstrecken. Aber auch auf der richtigen Spur seiner Ermittlung kommt Ödipus nur mühsam vorwärts. Als Iokaste bereits mit Entsetzen entdeckt hat, wer er ist, erklärt Ödipus, dass sie sich irre, und bezeichnet

 Den zeitgeschichtlichen Hintergrund der griechischen ‚Aufklärung‘ im Athen des 5. Jahrhunderts behandelt Jochen Schmidt (1989), wobei er allerdings so weit geht, Sophokles als „Gegenaufklärer“ zu fassen; zur Kritik an Schmidt vgl. Kullmann (1994) 112 f.  Manuwald (2012) 14.

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sich vielmehr als einen „Sohn des Glücks“³ (1080). Wie kommt es, dass Ödipus in seinen Ermittlungen derartige Fehler begeht? Das Defizit der von ihm geleisteten Aufklärungsarbeit fasst Teiresias prägnant zusammen, wenn er dem König vorhält: „Du bist sehend und siehst doch nicht, in welchem Unglück du dich befindest“ (413). Ödipus wird als blind in eigener Sache charakterisiert. Er erkenne sein Unglück nicht, obwohl er dies nach Ansicht des Sehers könnte. Was hindert Ödipus daran, sein Unglück zu erkennen? Zur Handlungsmotivation im König Ödipus hat die neuere (vor allem deutschsprachige) Forschung, die sich auf die Analyse der Bühnenhandlung konzentriert,⁴ einschlägige Untersuchungen vorgelegt. Eckard Lefèvre leitet die signifikante „Unfähigkeit, sich zu erkennen“ wesentlich aus der Blindheit und Hybris des Ödipus ab, wobei er den Anteil des Zorns besonders hervorhebt.⁵ Arbogast Schmitt erkennt in der auf der Bühne dargestellten Handlung ein „vermeidbares Fehlverhalten“ des Helden, das wesentlich aus den tragischen Fehlern der Verblendung (ἄτη) und Selbstüberschätzung (ὕβρις) resultiere.⁶ Die Bühnenhandlung lasse den Schluss von der Gegenwart auf die Vergangenheit von Ödipus zu, denn auch die Tötung von Laïos sei aus der Verbindung von Verblendung und Selbstüberschätzung hervorgegangen. Selbstherrlichkeit und Überschätzung des Wissens charakterisieren auch nach Egon Flaigs Studie das Handeln von Ödipus am Dreiweg.⁷ Die folgende Analyse wendet sich den von der Forschung konstatierten ‚Fehlern‘ des Helden zu und fragt, ob sie das Handeln von Ödipus zureichend erklären. Sophokles stellt seinen Helden in eine sehr spezifische Situation. Die Ermittlung, die ihm abverlangt wird, richtet sich gegen ihn selbst. Sie hat einen eminent verunsichernden Charakter, denn Ödipus sieht sich gezwungen, sein Selbstbild grundsätzlich in Frage zu stellen: Alles, was er über sich in Erfahrung bringt, ist vernichtend. Seine glänzende Herkunft wird in der furchtbarsten Weise ‚befleckt‘. Er muss neu bestimmen, woher er stammt, von wem er gezeugt und geboren wurde, mit wem er zusammen ist, in welchem Verhältnis er zu den eigenen Kindern steht und nicht zuletzt, wen er einmal im Zorn erschlagen hat. Die

 Die Übersetzung richtet sich auch im Folgenden (mit kleinen Modifikationen) nach Manuwald (2012).  Zur ‚performativen Wende‘ der neueren Ödipusforschung siehe Kullmann (1994) 105 – 108; Nickau (1994) 9 – 14; Flashar (2000) 108 f.; Lurje (2004) 1– 12; Manuwald (2012) 34– 45.  Lefèvre (2001) 119 – 48, bes. 124– 33 (Das überarbeitete Ödipus-Kapitel geht auf eine ältere Fassung von 1987 zurück).  Schmitt (1988) 17; vgl. auch die Vertiefung des Ansatzes in Schmitt (1997). Gegen die These vom „vermeidbaren Fehlverhalten“ argumentiert Menke (2005) 80 – 85.  Flaig (1998).

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Aufklärung, die Sophokles seinem Helden zumutet, hat einen hohen Preis: Sie führt zur vollständigen Erschütterung seiner Selbstgewissheit. Sophokles zeigt seinen Helden „in seinem Scheitern, Versagen, Nieder- und Untergang“,⁸ wobei sich seine Intelligenz gegen ihn selbst richtet. Als weithin berühmter Herrscher von Theben hatte Ödipus die Enthüllung des Mordfalls selbstbewusst übernommen. Je weiter er jedoch in den Ermittlungen fortschreitet, desto mehr sieht er sich selbst involviert; die Fahndung läuft auf ihn zu. Er forscht solange, bis er, durch Zeugenaussagen gesichert, erkennt, dass er selbst derjenige ist, den er sucht. Mit der Aufklärungshandlung verbindet sich ein Prozess fortschreitender Verunsicherung. Die anfängliche Selbstgewissheit des Königs wird zunehmend in Frage gestellt, bis sie sich als haltlos und nichtig erweist. Anfang und Ende der Handlung sind einander diametral entgegengesetzt. Der große Stolz, mit dem Ödipus im Eingangsbild seinen Mitbürgern entgegengeht, wird vollständig destruiert. Die Verunsicherung des Helden bildet die Kehrseite seiner Aufklärungsbemühung. Das Stück entfaltet, wie im Folgenden gezeigt werden soll, eine Dialektik von Aufklärung und Verunsicherung. Sophokles führt den Verlust von Achtung und Selbstbewusstsein eindringlich vor Augen. Je weiter die Handlung fortschreitet, desto stärker gerät die Position des Ödipus ins Wanken. Im Folgenden soll dieser von der Forschung bislang nicht eigens hervorgehobene Aspekt der Verunsicherung profiliert werden. Als Verunsicherung wird hierbei die Irritation der Wahrnehmung begriffen, die ein weites Spektrum emotionaler und kognitiver Erfahrungen umfasst. Es reicht von der ersten Beunruhigung über die Furcht und Sorge bis zum Schrei des Entsetzens, mit dem Sophokles die Aufklärungshandlung beschließt. Zur Darstellung der Verunsicherung nutzt Sophokles die Möglichkeiten, die ihm die tragische Form bietet,⁹ geschickt aus. Der Informationszuwachs erfolgt für Protagonisten und Zuschauer gleichermaßen in einer Klimax von Szenen, die mit dem Prolog einsetzen und über den Einzug des Chors zum Wechsel von dialogischen und chorischen Partien bis zur Peripetie führen. Im Gang der Handlung entfaltet Sophokles ein dynamisches Widerspiel von Vergewisserung und Verunsicherung. Die Figuren verfügen über unterschiedliche Vorinformationen. Deren Austausch und Abgleich verursachen spezifische Konflikte. Zur Verdeutlichung des komplexen Geschehens erscheint ein Durchgang durch das Stück angezeigt.

 Lehmann (2009) 776.  Die Struktur der Bühnenhandlung untersucht Kremer (1963) ausführlich; eine rhetorische Analyse der Ermittlung bietet Daube (1983).

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Der Prozess der tragischen Verunsicherung Der Prolog (1– 150) verdeutlicht den Ausnahmezustand. Die Seuche hat die Stadt so heftig befallen, dass die Bürger Thebens ihre Häuser verlassen haben, um den Schutz der Götter zu suchen. An deren Altären setzen sie sich mit ihren Gaben, Klagen und Bittgesängen nieder. Der König kommt ihnen aus dem Palast entgegen und begrüßt eine hilfesuchende Abordnung, die er feierlich als „Nachkommen“ des Kadmos (1) anspricht, während er sich selbst als „den bei allen Menschen berühmten“ (8) Ödipus einführt.¹⁰ Der ruhmvollen Stadt mit ihrem sagenhaften Begründer steht ein nicht minder berühmter König vor. Worauf sich sein Ruhm gründet, braucht Ödipus nicht eigens zu erläutern: Er hatte einst die Sphinx besiegt und damit die Herrschaft über die Stadt gewonnen. Das Entgegenkommen, der paternalistische Ton und der Verweis auf die heroische Tradition, der er sich zuordnet, bilden einen deutlichen Gegenpol zur Verunsicherung der Bürger: Den ratlosen Thebanern stellt Sophokles den Rätsellöser gegenüber. Im Gespräch mit dem König (14– 86) verdeutlicht der Priester das Ausmaß der Seuche in dem Bild vom ertrinkenden Schwimmer (22– 24): πόλις γάρ, ὥσπερ καὐτὸς εἰσορᾷς, ἄγαν ἤδη σαλεύει κἀνακουφίσαι κάρα βυθῶν ἔτ’ οὐχ οἵα τε φοινίου σάλου Denn die Stadt, wie du auch selbst siehst, schwankt schon zu sehr und kann das Haupt nicht mehr erheben aus den Tiefen des tödlichen Wogengangs.

Die Seuche hat ein katastrophales Ausmaß angenommen. Die Stadt ist erfüllt von Seufzen und Totenklagen. In dem Bild der tödlichen Wogen ist das Gefühl des Schwankens (σαλεύω, σάλος, 23 f.) bestimmend. Diesen Wogen, die sich stürmisch heben und senken, kann sich der Schwimmer nicht mehr entgegensetzen. Die Bedrohung der Stadt betrifft jeden Einzelnen, sie hat ein existenzielles Ausmaß erreicht (vgl. 25 – 30). Die Bürger Thebens sehen keinen Ausweg mehr aus der Gefahr und wenden sich rituell an die Götter; sie bitten aber auch ihren König um Schutz. Dabei gründen sie ihre Hoffnungen auf dessen Sieg über die Sphinx. Ödipus hatte damals das Rätsel, das kein anderer Mensch zu lösen vermocht hatte, ganz allein, ohne die Hilfe der Thebaner, beantwortet. Er gilt daher im griechischen Mythos als der große Intellektuelle. Das Vertrauen auf seine einzigartige Kompetenz wird vom Priester bekräftigt. Indem er an die Bezwingung der Sphinx

 Zur Verantwortung des Königs gegenüber der Stadt vgl. Erler (2006).

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erinnert (31– 39), weckt er Zuversicht in der scheinbar aussichtslosen Lage. Der Priester appelliert an den König (46 – 51): ἴθ’, ὦ βροτῶν ἄριστ’, ἀνόρθωσον πόλιν· ἴθ’, εὐλαβήθηθ’· ὡς σὲ νῦν μὲν ἥδε γῆ σωτῆρα κλῄζει τῆς πάρος προθυμίας, ἀρχῆς δὲ τῆς σῆς μηδαμῶς μεμνῄμεθα στάντες τ’ ἐς ὀρθὸν καὶ πεσόντες ὕστερον. ἀλλ’ ἀσφαλείᾳ τήνδ’ ἀνόρθωσον πόλιν. Komm, Bester der Sterblichen, richte wieder auf die Stadt. Komm, nimm dich in Acht: Denn jetzt nennt dich dieses Land Retter wegen deiner früheren Bereitschaft zu helfen; an deine Herrschaft aber wollen wir uns niemals so erinnern: Erst auferstanden, kamen später wir zu Fall. Vielmehr: Richte unsere Stadt auf, so dass sie sicher ist.

Die Erinnerung an die einstige Rettung der Stadt begründet die Zuversicht, Ödipus vermöge die schwankende Stadt auch jetzt wieder aufzurichten. Dem Schwanken wird das Aufrichten (ἀνόρθωσον, 46; 51) entgegengesetzt. Der Unsicherheit der Bürger wird die Sicherheit (ἀσφάλεια, 51) des königlichen Handelns gegenübergestellt. Das Volk nennt Ödipus bereits seinen „Retter“ (σωτήρ, 48). Der Priester hingegen zeigt sich zurückhaltender: Er appelliert an Ödipus als den „Besten“ der Menschen, zu helfen, zugleich aber mahnt er ihn zur Achtsamkeit in der gegenwärtigen Krise, denn der einstige Sieg garantiert nicht den erneuten. Mit dem abschließenden Wunsch weist der Priester in die Zukunft voraus. Es möge nicht geschehen, dass die Bürger, wenn ihnen Ödipus jetzt aufhilft, später wieder zu Fall kommen. Der negative Wunsch erfüllt die Funktion der tragischen Ironie: Erstmals erscheint hier die Möglichkeit des Scheiterns im Stück. Zwar wird nicht die Stadt, sondern Ödipus zu Fall kommen, doch deutet sich die Gefährdung an. Das Eingangsbild vom segensreichen König trifft auf unterschiedliche Wertungen: Volk, Priester und Zuschauer/Leser betrachten Ödipus aus verschiedenen Perspektiven. Das Volk richtet seine Zuversicht auf die heroische Bewährung des Königs; der Priester grenzt bereits die Gegenwart von den vergangenen Taten ab; das Publikum blickt aufgrund seines Vorwissens um die Zukunft des Ödipus skeptisch auf diese Szene zurück.¹¹

 Der Ödipus-Stoff war dem athenischen Publikum z. B. durch die Odyssee, Ödipodie, Thebais, ferner durch Bühnenversionen, die Lyrik und Darstellungen in der Vasenmalerei sicherlich vertraut (vgl. Manuwald 2012, 21; 10 – 12).

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Die Einholung des Orakels bedeutet einen „Einbruch in die Sicherheit“ des Gefüges.¹² Im Gespräch mit dem gerade aus Delphi zurückgekehrten Kreon analysiert Ödipus den „Spruch des Gottes“ (86). Durch Apollons Bescheid wird die Ursache der Seuche erkennbar; sie erscheint als Strafe für ein ungesühntes Verbrechen. Solange der Täter nicht gefasst ist, geht von ihm eine ‚Verunreinigung‘ bzw. eine ‚Befleckung‘ im religiösen Sinne (μίασμα, 97) aus. Die Krise lässt sich (nach den griechischen Vorstellungen¹³) nur überwinden, wenn die ‚Reinheit‘ wiederhergestellt wird. Die Einholung des Orakels trägt zur Erleichterung der Bürger bei, da jetzt eine begründete Furcht an die Stelle der Angst treten kann. Ödipus nimmt die Suche auf; er versteht sich als „Bundesgenosse“ (σύμμαχος, 135), der im Interesse der Bürger, des Gottes wie auch der eigenen Sicherheit handelt. Die Tatsache aber, dass Ödipus auch aus dem eigenen Sicherheitsinteresse heraus ermittelt, macht ihn befangen. Es kommt sogleich zu einem bezeichnenden ‚Fehler‘¹⁴ in der Untersuchung. Obwohl Ödipus erfahren hat, dass es einen Zeugen für den Mord an Laïos gibt (118), kümmert er sich nicht um dessen Auffindung, sondern geht vielmehr zuerst der Frage nach, wer in Theben ein Interesse am Tod des Laïos gehabt haben könnte. Das eigene Sicherheitsinteresse überwiegt hier offenbar gegenüber dem Interesse an der Klärung der Tatumstände.¹⁵ Sobald Ödipus von den „Räubern“ (122) hört, die Laïos erschlagen haben sollen, entwickelt er die These von ihrer Bestechung durch unbekannte Auftraggeber in Theben. Mit der Vermutung eines Mordkomplotts gewinnt Ödipus eine konkrete Perspektive für seine Ermittlung. Seine Zuversicht überträgt sich auf die Thebaner: Sie erheben sich von den Tempelstufen. Durch die Befragung des Orakels ist es Ödipus gelungen, eine Handlungsperspektive zu gewinnen, die die Bürger aus ihrer Verunsicherung führen wird. Die entscheidende Frage lautet, wer ist der Mörder des Laïos? Das Stück beginnt mit einer klaren Polarität: Ödipus erscheint als der starke, selbstbewusste König, der sich (aufgrund seines Siegs über die Sphinx und seiner bisherigen Herrschaft) höchstes Ansehen und Respekt verdient hat; die Thebaner hingegen zeigen sich angesichts der Seuche als zutiefst verunsichert und hilfsbedürftig. Das Verhältnis kehrt sich im Laufe des Stücks radikal um: Die Stadt wird gerettet werden, Ödipus zugrunde gehen.¹⁶ Im Prolog rücken beide weit vonein-

 Reinhardt (41976) 106.  Parker (1983) 257– 280.  Karl Reinhardt (41976) 110 spricht von einer „irrigen Fixierung“ des Ödipus. Sie entspringe „der Notwendigkeit des Scheinbefangenen [d. h. Ödipus], einen Feind zu haben, den er greifen könne, um die eigene Sicherheit nicht zu verlieren.“  Hierzu siehe Scodel (1999) 93 f.  Zur „Verkehrung der Ausgangssituation“ siehe Seidensticker (2005) 5; 7; 10.

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ander entfernten Positionen erstmals aufeinander zu: Durch die Einholung des Orakels gewinnen die Thebaner Zuversicht, Ödipus hingegen verliert das Vertrauen auf die vorbehaltlose Akzeptanz seiner Herrschaft in Theben. Angesichts des unaufgeklärten Königsmordes schöpft er den Verdacht einer Intrige, die auch seine eigene Herrschaft (als Nachfolger des Laïos) treffen könnte. Das Einzugslied (151– 215) der zum Chor versammelten Thebaner besitzt retardierenden Charakter. Der Chor hat zwar bereits von dem Orakelspruch erfahren, den Ödipus hatte einholen lassen, doch weiß er ihn nicht zu deuten. Das Einzugslied fällt daher noch einmal auf die Position der Hilflosigkeit zurück, die vor Beginn der Handlung bestanden hatte. Eine tiefe Verunsicherung kommt zum Ausdruck. Die aktuelle Situation wird als quälend beschrieben. Der Chor fühlt sich auf die Folter gespannt, er bebt vor Angst und Zittern (152 f.). In immer neuen Wendungen werden einzelne Götter angerufen und bei ihren Namen genannt. Die Leiden lassen sich nicht mehr zählen, sie führen zur Bitte um Beistand (ἀλκά, 189). Im ersten Epeisodion (216 – 462) nach dem Einzug des Chors verspricht Ödipus den Thebanern den erwünschten Beistand (ἀλκή, 218). Er tritt, wie angekündigt, als Verbündeter der Götter auf, um den Bürgern Erleichterung (ἀνακούφισις, 218) zu verschaffen. Dabei betont er die Schwierigkeit der anstehenden Untersuchung. Als Fremder in Theben (ξένος, 220 f.) habe er weder etwas von der Mordsache gehört noch habe er etwas mit ihr zu tun gehabt. Ödipus verknüpft seine Herkunft aus Korinth mit der für ihn selbstverständlichen Unschuldsvermutung. Die Betonung der Fremdheit dient zugleich aber auch als Signal tragischer Ironie. Sie lässt das Publikum die Tiefe des Wandels ermessen, der Ödipus bevorsteht.¹⁷ In seiner Proklamation an das Volk (222– 275) setzt Ödipus ein Untersuchungsverfahren ein. Die Mitbürger werden (im Falle ihres Mitwissens) zur Zeugenaussage verpflichtet; dem unbekannten Täter wiederum stellt Ödipus bei Selbstanzeige eine Strafmilderung in Aussicht. Sollte die Suche jedoch erfolglos bleiben, so kündigt er harte Sanktionen an. Er nimmt die rituelle Verfluchung und Verstoßung bereits vorweg. Ödipus versteht seine Initiative als Unterstützung Apolls (244 f.; 253) und der Thebaner (vgl. 135). Für Laïos kämpfe er „wie für den eigenen Vater“ (264). Der von Ödipus in der Absicht formulierte Vergleich, den Thebanern seine Bereitschaft zu entschlossenem Handeln zu demonstrieren, verdeutlicht dem Publikum die Selbstverkennung des Helden besonders nachdrücklich. In seiner Antwort auf die Rede beteuert der Chorführer stellvertretend für die Bürger der Stadt seine Unschuld und rät dazu, den Seher Teiresias als Sachver-

 Funktion und Einsatz der tragischen Ironie arbeitet Segal (1993) 97– 157 in seiner Analyse gut heraus.

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ständigen herbeizuziehen: Als einzigem Menschen sei ihm die Wahrheit eingeboren (299). Da Ödipus dies bereits veranlasst hatte, kann das Gespräch (300 – 462) sogleich beginnen. Er empfängt den eintreffenden Seher mit größtem Respekt (300 – 315) und hebt die Überlegenheit seines Wissens anerkennend hervor: Es umfasse „Sagbares und Unsagbares, Himmel und Erde“ (300 f.). Als Vertrauter Apolls könne er zum „Retter“ (σωτήρ, 304) der Stadt werden. Ödipus überträgt den Titel des Retters, den er selbst erhalten hatte (vgl. 48), auf den Priester. Alle Hoffnungen seien auf ihn gerichtet: Teiresias solle sich selbst, die Stadt und ihren König retten. Der nachdrückliche Appell (mit dem dreifachen ῥῦσαι, 312 f.) verdeutlicht das Vertrauen, das Ödipus dem Seher entgegenbringt. Teiresias kennt den Ernst der Lage (δεινόν, 316), doch durchkreuzt er die Erwartung, indem er die Bereitschaft zur Auskunft verweigert; Allwissenheit und Unwissenheit treffen unvermittelt aufeinander. Lakonisch hält der Seher fest, Wissen helfe dem Wissenden hier nur wenig. Die Abweisung erfolgt unerwartet. Ödipus fragt erstaunt nach (319), doch Teiresias geht nicht auf die Nachfrage ein; er entzieht sich ein zweites Mal der Antwort mit der Bitte: „Lass mich nach Hause“ (320). Auch ein letzter Versuch, den Seher zu gewinnen, misslingt. Teiresias lehnt jegliche Auskunft ab, da das Wissen nur Leid erzeugen würde (329) und von selbst an den Tag kommen werde (341). Ödipus reagiert mit berechtigtem¹⁸ Zorn: Der Seher missachte die von ihm verfügte Proklamation (mit dem Gebot der Aufklärung), er schade der Stadt und erweise sich als mitleidlos; er sei der „Schlechteste der Schlechten“ (334). Teiresias lenkt nicht ein, sondern erklärt unbeeindruckt: „Nichts weiter sage ich. So ist’s, und so wüte denn, wenn du willst, im wildesten Zorn“ (344). Derart provoziert, greift Ödipus auf seine Vermutung eines Komplotts zurück und konkretisiert sie: Teiresias selbst sei der Anstifter zum Mord an Laïos (346 – 349). Der Seher, der das Gespräch bislang abgeblockt hatte, reagiert nun mit Gegenvorwürfen. Ödipus sei der gesuchte ‚Beflecker‘ des Landes (353). Dieser kann den Vorwurf zuerst gar nicht fassen und bittet daher um die Wiederholung des Gesagten (361), Teiresias setzt nach: „Des Mannes Mörder, den du suchst, bist du“ (362). Die Eskalation verstärkt sich, indem Teiresias weitere Enthüllungen vorbringt. Der Seher deutet jetzt auch den Inzest des Königs an (366 f.; auch 414– 416; 422– 425). Ödipus reagiert darauf mit der Verhöhnung des blinden Sehers, der auch an Ohr und Geist blind sei (371). Sein stärkstes Argument hingegen liegt in der Frage, wo Teiresias denn gewesen sei, als die Stadt einen Retter von der Sphinx gebraucht habe. Der Seher habe versagt, als es um die Lösung des Rätsels ge-

 Zur Rechtslage vgl. Greifenhagen (1966) 160; allgemein zum juridischen Hintergrund siehe Knox (1957) 78 – 89; über Konzepte des Zorns vor und nach Sophokles informieren Braund u. Most (2003).

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gangen sei. Er selbst habe dagegen ohne Anspruch auf ein besonderes Wissen das Rätsel der Sphinx gelöst. An diesem Punkt greift der Chorführer ein und erklärt, beide Seiten sollten sich auf die Deutung des Seherspruchs konzentrieren (404– 407). Teiresias jedoch setzt, von dem Vorwurf der Blindheit schwer getroffen, sein provozierendes Fragen fort, indem er sich an den König wendet: „Weißt Du, von wem du stammst?“ (415) Damit ist diejenige Frage gestellt, die Ödipus nicht mehr loslassen wird; er sucht im Folgenden nicht mehr nur nach dem Mörder des Laïos, sondern zugleich nach der eigenen Herkunft und Identität. Der Seher rührt, wie Ödipus im Gespräch mit Iokaste erläutern wird, an eine alte Wunde (vgl. 786). Bereits in Korinth war Ödipus die Frage nach seiner Herkunft gestellt worden, jetzt aber verstärkt Teiresias die alte Ungewissheit, indem er die Frage neu stellt. Als Ödipus irritiert¹⁹ zur Gegenfrage ansetzt, wer ihn denn gezeugt habe (437), erhält er zunächst die kryptische Auskunft: „Dieser Tag wird dich hervorbringen und vernichten“ (438). Wenn ihm Teiresias schließlich die gesamte Zukunft (447– 462) offenbart, vermag Ödipus dies nicht mehr zu fassen. Dem Rätsellöser erscheint all das, was Teiresias gesagt hat, „rätselhaft und unklar“ (440). Anders als das Rätsel der Sphinx vermag er das neue Rätsel des Teiresias nicht zu lösen. Sophokles hat das Gespräch der Kontrahenten so eingerichtet, dass ihr Konflikt unvermeidbar und irreversibel wird. Das Gespräch erhält seine Dynamik durch wechselseitige Provokationen und Verunsicherungen: Ödipus versucht zunächst, den Seher für die Aufklärung der Mordsache Laïos zu gewinnen. Teiresias aber möchte sein Wissen für sich behalten, da es zum jetzigen Zeitpunkt nutzlos sei. Seine hartnäckige Antwortverweigerung führt zu Zweifeln, Hilflosigkeit und Zorn bei Ödipus. Er greift auf die plausible, aber keineswegs gesicherte These von der Verschwörung zurück, an der Teiresias zusammen mit Kreon (380 – 389) teilgehabt haben soll. Mit verletzenden Bemerkungen gelingt es Ödipus, den Gegner seinerseits aus der Reserve zu locken und ihn zu weitreichenden Äußerungen zu provozieren. Ödipus erfährt jetzt zwar die ‚Wahrheit‘ des Geschehens, doch kann er sie nicht fassen und mit sich vereinbaren: Er wertet die Enthüllungen des Teiresias daher als haltlose Beleidigungen. Das erste Stasimon (463 – 512) nimmt die Frage nach dem Mörder des Laïos auf und unterstreicht die Dringlichkeit der Untersuchung. Die gegen Ödipus erhobenen Vorwürfe erscheinen dem Chor als „furchtbar“ (δεινά, 483), lassen sie sich doch weder billigen noch verwerfen. Der Chor weiß nicht, was er sagen soll (ὅ τι λέξω δ’ ἀπορῶ, 485). In seiner Ungewissheit orientiert er sich am Sieg über die Sphinx. Mit ihm habe Ödipus bewiesen, dass er weise und der Stadt wohlgesonnen

 Vgl. hierzu Ugolini (1995) 191 f.

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sei. Der Chor hat seine Position weiter gefestigt; er konzentriert seine Überlegungen jetzt auf den möglichen Täter. Im zweiten Epeisodion (513 – 862) tritt Kreon dem Chor gegenüber, um sich zu rechtfertigen: Ödipus habe „furchtbare Worte“ (δείν’ ἔπη, 513) gebraucht und Kreons Ansehen größten Schaden zugefügt. Wie im vorangegangenen Chorlied (463 – 512) markiert auch hier das Adjektiv „furchtbar“ den Ernst der Situation. Ödipus hingegen lässt sich von der Verteidigung Kreons nicht beeindrucken; er bleibt fest davon überzeugt, dass dieser den Hochverrat begangen habe. Auf den Einwand des Chors, dass diejenigen, die schnell im Denken sind, „nicht sicher“ (οὐκ ἀσφαλεῖς, 617) seien, repliziert Ödipus (618 – 621): ὅταν ταχύς τις οὑπιβουλεύων λάθρᾳ χωρῇ, ταχὺν δεῖ κἀμὲ βουλεύειν πάλιν. εἰ δ’ ἡσυχάζων προσμενῶ, τὰ τοῦδε μὲν πεπραγμέν’ ἔσται, τἀμὰ δ’ ἡμαρτημένα. Wenn derjenige, der (mir) heimlich nachstellt, schnell vorgeht, muss ich schnell dagegen planen. Wenn ich aber ruhig zuwarte, werden dessen Pläne schon verwirklicht sein, die meinen gescheitert.

Ödipus räumt die Eile seiner Thesenbildung ein; sie steht in deutlichem Gegensatz zu seiner bisherigen Handlungsweise. Ödipus führt sie auf die neue, ihn irritierende Situation zurück. Der heftige Streit mit Kreon lässt sich erst durch die Intervention Iokastes beilegen: Sie bezeichnet ihn als „nichtig“ angesichts des schweren Leids der Stadt (634– 638). Kreon betont hingegen die ungeheuerlichen Konsequenzen der Anklage (δεινά, 639) und legt einen Eidesschwur auf seine Unschuld ab. Auch der Chor bittet Ödipus mit seiner Fürsprache (649 – 697) um den Verzicht auf die Strafe. Er bekräftigt seine Erwartung, dass Ödipus die schwankende Stadt wieder aufrichten werde (κατ’ ὀρθόν, 695): Da er sie schon einmal auf „rechten Kurs“ gebracht habe, möge er sich auch jetzt als ein „guter Lenker“ (695 f.) erweisen: Das Meeresbild vom Eingang (22– 24) wird hier aufgenommen und umakzentuiert. An die Stelle der Furcht vor den tödlichen Wogen ist die Zuversicht auf den Steuermann Ödipus getreten. Im Anschluss an Kreons Fortgang erkundigt sich Iokaste bei Ödipus nach dem Grund seines Zorns. Dieser zeigt sich überzeugt, dass Teiresias vorgeschickt worden sei, um zu behaupten, Ödipus sei der Mörder des Laïos. Zur Beruhigung ihres Gatten bringt Iokaste ein eigenes Beispiel für die Unzuverlässigkeit von Prophezeiungen. Sie erinnert an den Spruch, Laïos werde durch seinen Sohn sterben (713). Auch dieses Orakel habe sich als falsch erwiesen, da Laïos seinen Sohn ausgesetzt hatte und von Räubern an einem Dreiweg getötet worden sei. Das Detail von der Kreuzung dreier von Wagen befahrbarer Wege (716), an der der Mord stattgefunden hatte, verkehrt

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die beruhigende Absicht Iokastes für Ödipus ins Gegenteil. Angesichts des markanten Ortes verliert er seine Gewissheit, nichts mit dem Mord an Laïos zu tun zu haben. Er schöpft Verdacht gegen sich selbst und beschreibt die aufkommende Verunsicherung als „Verwirrung der Seele“ und als „Aufregung der Sinne“ (ψυχῆς πλάνημα κἀνακίνησις φρενῶν, 727). Auch Iokaste bemerkt seine „Sorge“ (μέριμνα, 728). Als er mit der genauen Lage des Orts und dem Zeitpunkt des Geschehens weitere Anhaltspunkte erfährt, die mit seiner möglichen Täterschaft gut vereinbar wären, wendet Ödipus sich an Zeus: „Was hast du an mir zu tun beschlossen?“ (738) Die offene, unmittelbar an den Gott gerichtete Frage erinnert an die Hilflosigkeit des Chors im Einzugslied (151– 215). Durch die Erkundung weiterer Details, die von Ausrufen, Stöhnen und Klagen (738; 744; 754) begleitet wird, gerät Ödipus zunehmend in Furcht: „Weh, ich Unseliger! Ich scheine eben mich selbst in schreckliche Flüche gestürzt zu haben, ohne es zu wissen!“ (744 f.) Die Möglichkeit, dass der Seher sehend war, stürzt Ödipus in eine furchtbare Ahnung (δεινῶς ἀθυμῶ, 748), die ihn beherrscht (754; 767). Der einzig überlebende Zeuge wird jetzt einbestellt. Auf Drängen Iokastes berichtet Ödipus, wie er zu dem Dreiweg kam. Er sei als Königssohn in Korinth aufgewachsen, wobei seine Jugend das Ende ihrer Unbeschwertheit (βαρυνθείς, 781) gefunden habe, als er von einem Betrunkenen hörte, dass er nicht der Sohn des korinthischen Königspaars Merope und Polybos sei. Seither lebte er in der Ungewissheit über seine Eltern, die sich als ein „beständiger Reiz“ (ἔκνιζέ μ’ ἀεί, 786) darstellte. Der junge Ödipus verlässt Korinth, um sich in Delphi nach den Eltern zu erkundigen; dort erfährt er mit dem Orakel vom Inzest und Vatermord wiederum „Furchtbares und Schauderhaftes“ (δεινὰ καὶ δύστηνα, 790), so dass er sich von Korinth fernhält und in die Auseinandersetzung an dem Dreiweg gerät. Die einzige Hoffnung, die ihm jetzt noch bleibt, liegt in der Mehrzahl der Räuber (834 f.), von denen Laïos und seine Begleiter ermordet worden sein sollen, wie der überlebende Begleiter festgestellt hatte. Hatte Ödipus in dem Streit mit Kreon an seinen (naheliegenden, aber unzutreffenden) Schuldzuweisungen festgehalten, so bemühen sich Iokaste und der Chorführer um eine Entspannung der Situation. Kreons Abgang markiert eine Wende in der Handlung. Im Gespräch mit Iokaste nehmen die Anzeichen für die eigene Täterschaft ein bedrohliches Ausmaß an. Ödipus lässt die Untersuchungen gegen Kreon und Teiresias ruhen. Je deutlicher er erkennt, dass er selbst für den Tod von Laïos verantwortlich sein könnte, desto stärker wächst seine Unruhe. Die Details vom Dreiweg und den Tatumständen nehmen ihm die Sicherheit seines Auftretens. Ungewissheit und Sorge schlagen sich in seinem Verhalten nieder; sie werden auch von Gesprächspartnern bemerkt. Ödipus fühlt sich zur Eile gedrängt und reagiert auf die Entdeckungen mit Stöhnen und Klagen. Zwar appelliert der Chor noch an den starken Herrscher, doch hat dieser längst seine Selbstgewissheit verloren.

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Im zweiten Stasimon (863 – 910) bittet der Chor Zeus um „Reinheit in allen Worten und Werken“ (864 f.) und versichert, an den erhabenen göttlichen Gesetzen festzuhalten. Die unmittelbare, existenzielle Erschütterung scheint gewichen, denn der Chor wendet seine Sorge um das Göttliche ins Allgemeine (ἔρρει δὲ τὰ θεῖα, 910).²⁰ Am Beginn des dritten Epeisodion (911– 1085) beschreibt Iokaste den Zustand von Ödipus folgendermaßen (914– 917): ὑψοῦ γὰρ αἴρει θυμὸν Οἰδίπους ἄγαν λύπαισι παντοίαισιν· οὐδ’ ὁποῖ’ ἀνὴρ ἔννους τὰ καινὰ τοῖς πάλαι τεκμαίρεται, ἀλλ’ ἐστὶ τοῦ λέγοντος, ἢν φόβους λέγῃ Denn allzu sehr erregt ist Ödipus durch mannigfachen Kummer. Und nicht, wie ein Mann, der bei Besinnung ist, beurteilt er das Neue nach dem Alten, sondern er lässt sich von jedem, der redet, beeinflussen, wenn der Schreckenerregendes verkündet.

Iokaste diagnostiziert einen Zustand fortgeschrittener Verunsicherung: Ödipus hat seine Autonomie verloren; er verlässt sich nicht mehr auf sein eigenes Denken, sondern folgt den Reden der Anderen. Der einstige Rätsellöser zeichnet sich jetzt durch seine Aufgeregtheit, sein sprunghaftes Denken sowie die Empfänglichkeit für Schreckensnachrichten aus. Iokaste hält ihn für krank und bittet Apoll als Schutzflehende um Hilfe. Sie greift das Bild vom Steuermann auf und gibt ihm eine neue Wendung (922 f.): ὡς νῦν ὀκνοῦμεν πάντες ἐκπεπληγμένον κεῖνον βλέποντες ὡς κυβερνήτην νεώς. Denn jetzt ängstigt es uns alle, jenen [d. h. Ödipus] verschreckt zu sehen, wie man verängstigt auf einen solchen Mann am Steuer eines Schiffes blickt.

Das Verhältnis des Königs zu den Bürgern hat sich entscheidend verändert: Hatte ihnen der König anfangs Halt geboten, so löst sein derzeitiger Anblick Entsetzen aus. Es steht zu befürchten, dass er die Stadt ins Verderben führt. Die überraschende Ankunft des Boten aus Korinth verursacht einen Stimmungswechsel. Die Nachricht vom Tod des Polybos (942) entlastet Ödipus von der Drohung des Vatermords. An der Furcht vor dem Inzest hält er jedoch fest. Als der Bote in der Absicht, Ödipus zu beruhigen, ihm erklärt, dass Merope und Polybos nicht seine

 Zur Interpretation des vielbesprochenen Lieds siehe Hölscher (1994) sowie Henrichs (1994/ 95).

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wahren Eltern seien, fragt Ödipus sofort nach seiner Herkunft und veranlasst die Suche nach dem Hirten, der ihn übergeben hatte. Es stellt sich heraus, dass es derselbe Mann ist, der den Mord an Laïos bezeugen soll. Iokaste hingegen erkennt anhand der erwähnten Details (1026; 1032), mit wem sie verheiratet ist (1056 – 1072). Nach ihrer von einem Schrei des Entsetzens begleiteten Entdeckung stürzt sie ins Haus. Ödipus hingegen zeigt sich erleichtert über die Nachricht aus Korinth. Auf die Frage des Chors nach Iokastes Verhalten reagiert er schlagfertig, aber wiederum unzutreffend mit der Hypothese vom niederen Stand, dem er selbst möglicherweise angehöre. Sich selbst nennt er einen „Sohn des Glücks“ (1080) und erreicht so den Höhepunkt seiner tragischen Selbstverkennung. In diesem Epeisodion arbeitet Sophokles mit starken emotionalen Umschwüngen. Den Ausgangspunkt bildet Iokastes entschlossener Gang zum Altar des Apollon: Ödipus hat seine Selbstgewissheit vollkommen verloren und schwankt zwischen Sorgen und Fragen, die ihn nicht ruhen lassen. Das Bild wendet sich jedoch mit dem Boten aus Korinth. Ödipus, der trotz der Zweifel, die der Betrunkene verursacht hatte, Polybos weiterhin für seinen leiblichen Vater gehalten hatte (vgl. 827), nimmt die erfreuliche Seite der Nachricht hin, denn er meint, jetzt des drohenden Vatermords enthoben zu sein, doch behält er die Furcht vor dem Inzest mit Merope, die noch lebt und die er für seine leibliche Mutter (vgl. 984– 986) hält. Iokaste hingegen dringt aufgrund der ihr zur Verfügung stehenden Kenntnisse (von der Aussetzung des Kinds) zur tragischen Gewissheit vor. Ödipus wiederum reagiert auf denselben Bericht mit euphorischer Hochstimmung. Auch der Chor erlaubt sich im dritten Stasimon (1086 – 1109) Spekulationen über die Herkunft des Königs: Vielleicht entstammt er einer Verbindung von Gott und Nymphe? Wie bei Ödipus ist auch bei dem Chor ein hoher Grad an Zuversicht zu bemerken, der die Folie für den folgenden Absturz bietet. Das vierte Epeisodion (1110 – 1185) erbringt die entscheidende Information, die Ödipus braucht, um seine wahre Identität zu erkennen. Hatte er bis zum Bericht des Boten aus Korinth gedacht, Merope sei seine leibliche Mutter, muss er durch den Diener des Laïos erfahren, dass er der Sohn von Laïos und Iokaste ist. Auch den Mord an Laïos muss er sich zurechnen. Mit einem Schrei des Entsetzens verlässt er die Bühne. Das anschließende Chorlied (1186 – 1222) wertet den Fall des Ödipus als Paradigma für die Scheinhaftigkeit des menschlichen Lebens. Der Chor hält zwar dankbar an den Verdiensten des Ödipus fest, doch distanziert er sich auch, da von Ödipus die Verunreinigung und ‚Befleckung‘ der Stadt ausgegangen war.

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Aufklärung und Verunsicherung Sophokles führt die Aufklärungshandlung in einer raschen Schrittfolge durch: Der vorangestellte Prolog verdeutlicht das Ausmaß der Seuche und gibt der Untersuchung die Richtung vor. Im ersten Auftritt offenbart Teiresias sein überlegenes Wissen. Die wichtigsten Informationen zum Leben von Laïos werden im zweiten Epeisodion zusammengetragen, dann wird das Verhältnis zum Ziehvater Polybos näher bestimmt, bis schließlich das letzte Gespräch Klarheit über die Mutter erbringt. Jeder der fünf Aufklärungsschritte bringt spezifische Irritationen mit sich. Das delphische Orakel impliziert die Möglichkeit einer Intrige. Zu einer bedrohlichen Konfrontation hingegen entwickelt sich der Streit mit Teiresias. Er nimmt den Verlauf einer Eskalation, die von der respektvollen Eröffnung zu Unmut und Zorn führt, die sich in wechselseitigen Beleidigungen niederschlagen. Durch die gegenseitige Irritation entwickelt sich eine Konfrontation, die von Zorn und Spott, Hohn und Verachtung erfüllt ist. Der Chor, der zwischen die Fronten von Seher und König gestellt ist, gesteht seine fundamentale Verunsicherung, die er als „Aporie“ (485) fasst. Sein Versuch, deeskalierend einzugreifen und zwischen beiden Seiten zu vermitteln, erweist sich als erfolglos. Als sich Seher und König trennen, ist ihr Verhältnis zerrüttet. An seinem Zorn hält Ödipus auch in der folgenden Auseinandersetzung mit Kreon fest. Erst die Unterhaltung mit Iokaste ermöglicht die Weiterführung der Untersuchung. Durch die Erwähnung des Dreiwegs jedoch sieht sich Ödipus von Neuem erschüttert. Die Beschreibung des Orts lässt ihn an seiner Unschuld zweifeln, meinte er doch, Laïos „nie gesehen“ (105) zu haben. Der Versuch, den Verdacht abzuwenden, führt Ödipus zu weiteren Entdeckungen, welche ihrerseits Selbstzweifel, Furcht und Ratlosigkeit evozieren. Die Stimmungswechsel erfolgen so rasch, dass Ödipus für krank gehalten wird. Zwar sorgt der Bericht des Boten aus Korinth für eine kurzzeitige Entlastung, doch lässt sich die Identifizierung der Eltern nicht mehr verhindern. Der hier vorgestellte Ansatz fragt nicht nach der Schuld des Ödipus noch nach seinem Schicksal; auch die moralischen oder intellektuellen ‚Fehler‘, die der Held im Prozess der Aufklärung begeht oder vor langer Zeit begangen hat, stehen nicht im Zentrum der Untersuchung. Diese konzentriert sich vielmehr auf die ‚andere Seite‘ der Aufklärungshandlung, auf den Verunsicherungsprozess, der mit ihr verbunden ist. Sophokles entwickelt in dem Stück eine frappante Dialektik von Aufklärung und Verunsicherung. Diese Dialektik ist konstitutiv für die gesamte Aufklärungshandlung und als solche von der Forschung bislang nicht hinreichend beachtet worden. Die Symptome der Verunsicherung, die sich im Zuge der Ermittlungen einstellen, werden von Sophokles minutiös verzeichnet. Stellte man sie zusammen, so ergäbe sich eine Skala von der Irritation in Korinth bis zum

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Schrei des Entsetzens, in dem Peripetie und Anagnorisis zusammentreffen.²¹ In der Mitte zwischen den beiden Extremen fänden sich die Beunruhigung, das plötzliche Aufmerken, die Nachfrage, der Verdacht, der Argwohn und der Zweifel ebenso wie Wut, Zorn, Beleidigungen, Hohn und Spott, Gereiztheit, Empörung und Neugier wie aber auch Erschrecken, Furcht und Angst, Niedergeschlagenheit, Sorge und Hilflosigkeit, Hoffnung und Euphorie. Sophokles operiert zurückhaltend mit dieser Fülle von starken Emotionen; er versteht es, sie graduell zu unterscheiden, Gegensätze zu balancieren und einen lebhaften Wechsel von Emphase und Nüchternheit herzustellen. Seine Darstellung ist sachorientiert, sie konzentriert sich auf die Fortschritte im Aufklärungsprozess; Irritation und Verunsicherung begleiten diesen Prozess, sie drängen sich aber nicht in den Vordergrund. Die Analyse der Bühnenhandlung zeigt, dass Sophokles die Informationen, von denen die Akteure ausgehen, präzise verteilt, so dass erkennbar wird, über welches Wissen Ödipus wann verfügt, was er aus den Gesprächen an neuen Informationen gewinnt und welche seiner alten Überzeugungen dadurch obsolet werden. Seine Fragen führen schließlich bis zur tragischen Einsicht: Ödipus erkennt, wer er ist. Für ihn bedeutet diese Erkenntnis einen entscheidenden Positionswechsel. Er muss die Gewissheit, aus Korinth zu stammen und Sohn des Königs Polybos und der Merope zu sein, ablegen und die neue Identität anerkennen. In rhetorischer Hinsicht bezeichnet Joachim Knape einen solchen Positionswechsel als Übergang von einer fest verankerten Meinung zu einer neu gewonnenen, besser begründeten Meinung: Der Übergang führt von einem alten ‚Zertum‘ (Z1) zu einem neuen ‚Zertum‘ (Z2).²² Einen derartigen Positionswechsel lässt Sophokles seinen Helden auf der Bühne vollziehen. Infrage gestellt wird durch die Aufklärungshandlung die Selbstgewissheit des Protagonisten. Ödipus ist zu einem Identitätswechsel gezwungen. Das Publikum kann genau verfolgen, wo, wann, von wem und mit welchen Konsequenzen die Selbstgewissheit von Ödipus angegriffen wird. Die Spannung der Zuschauer entsteht somit nicht allein durch die „Enthüllung“ ²³ neuer, positiver Fakten. Sie resultiert vor allem aus dem ‚furchtbaren‘ Verunsicherungsvorgang, den Sophokles seinem Publikum vorführt. Durch den Informationszuwachs, den sich Ödipus in den Gesprächen verschafft, geraten seine alten Überzeugungen ins Wanken und werden schließlich unhaltbar. Sophokles inszeniert mit seinem Stück, rhetorisch gesehen, eine „inversive

 Vgl. Arist. Poet. 1452a24– 26 und a32 f.  Den Begriff des ‚Zertums‘ entwickelt Knape (2012) 76 f.; 80 f.; vgl. auch seinen Beitrag in diesem Band.  Schadewaldt (1975) 91 f. bezeichnete sie als „Ereignis der Wahrheit“.

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Persuasion“:²⁴ Die auf der Bühne dargestellten Gesprächshandlungen²⁵ lassen transparent werden, durch welche Prozesse Ödipus von seinen ‚Zerta‘, die jeweils die Grundlage seines Handelns und Reagierens gebildet hatten, abgebracht wird. Für das Publikum, das wissend auf die Entwicklung der Katastrophe schaut, sind diese ‚Zerta‘ zwar immer bereits ‚Pseudo-Zerta‘. Dank der präzisen Darstellung und Motivation aber ist es in der Lage, die Schritte der Handlung genau zu verfolgen, mit denen Ödipus seine Selbstgewissheit verliert. Diese Selbstgewissheit setzt sich, wie oben gezeigt wurde, aus verschiedenen Überzeugungen (z. B. ein guter König zu sein, Apollon zu dienen, nicht aus Theben zu stammen, Laïos nie gesehen zu haben usw.) zusammen. Die alten ‚Zerta‘ werden in ihrer Gesamtheit in Frage gestellt und müssen schließlich aufgegeben werden. Sophokles wählt für sein Stück einen besonderen Helden. Er exemplifiziert den Verunsicherungsvorgang an einem höchst unrealistischen Fall, der viel Schreckliches in sich birgt. Der Fall des Ödipus verbindet Vater- und Königsmord mit einem Inzest und den aus dem Inzest hervorgegangenen Kindern. Zu diesen Ereignissen, die als Tabubrüche besonders markant sind, kommen weitere Details hinzu: die Kindesaussetzung, die durchbohrten Füße, die monströse Sphinx und die verheerende Seuche. Sophokles findet in dem Stoff offenbar das erwünschte Konzentrat von ‚furchtbaren‘ Handlungen (δεινά), die er kunstvoll, luzide und auf eine höchst plausible Weise miteinander verbindet. Ödipus führt die ihm aufgetragene Ermittlung konsequent durch; er fügt die Spuren sorgfältig zu einem Ganzen zusammen, um darin schließlich die eigene Lebensgeschichte zu entdecken. Er erfährt eine tragische Form der Verunsicherung, insofern er, veranlasst durch das Orakel Apollons, das Furchtbare, das er erleidet, mit seinem unermüdlichen Fragen selbst hervorbringt.²⁶ Die von der neueren Forschung monierten ‚Fehler‘ des Ödipus können nicht seinem Charakter zugeschrieben werden, sie resultieren vielmehr aus der spezifischen Situation, in die er gestellt ist. Blindheit (im Sinne von Fehleinschätzungen), Zorn und Selbstüberschätzung verweisen nur auf den Druck der zutiefst  Joachim Knape entfaltet das Konzept der „inversiven Persuasion“ in seinem Beitrag zu diesem Band.  Vgl. hierzu Kraus (1994).  Mit seinem heroischen Fragen, das zur Selbsterkenntnis führt, wird Ödipus zu einer tragischen Praefiguration des platonischen Sokrates, der sich, ebenfalls durch das Orakel Apollons veranlasst, zur Wahrheitsfindung durch die Befragung seiner Mitbürger aufgefordert sieht. Auch Sokrates zeichnet sich durch sein unermüdliches Fragen aus, mit dem er die ungeprüften Meinungen (‚Zerta‘) seiner Zeitgenossen in Frage stellt. Die entscheidende Differenz zu Ödipus liegt im Ausgangswissen: Sokrates hat bereits seine naive Unwissenheit verloren, bevor er sich an die Befragung macht, Ödipus hingegen verliert sein naives Selbstvertrauen erst durch die auf der Bühne dargestellte Befragung (vgl. Vöhler 2013).

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irritierenden Situation. Im Zuge seiner Ermittlungen wächst die Verunsicherung des Helden. Zwar erscheint sein Handeln, von seinem Wissensstand aus betrachtet, stets auch als plausibel²⁷ und plausibilisierbar. Doch stellt Ödipus selbst fest, dass er sich in der bedrohlichen Situation zur Übereilung gezwungen sieht (vgl. 618 – 621). Die gewohnte Sicherheit (vgl. 51) verlässt ihn. War er den Thebanern zu Beginn der Handlung als ein Retter erschienen, so verliert er zunehmend die Selbstkontrolle. Sophokles illustriert dies in der Bildsequenz von den Meereswogen (vgl. 22– 24; 695 f.; 922 f.). Dem Helden unterlaufen erst seit der Aufnahme des Ermittlungsverfahrens deutliche ‚Fehler‘ in seinem Handeln. Der Rückschluss von der Bühnenhandlung auf die Vergangenheit des Königs²⁸ erscheint demnach wenig plausibel. Das Bühnengeschehen löst aber nicht nur im Protagonisten Verunsicherung aus, auch die übrigen Figuren finden sich, zumindest punktuell, irritiert. Dies zeigt sich in den Reaktionen von Teiresias und Kreon auf den Vorwurf der Intrige und bei Iokaste, als sie entdeckt, dass ihr tot geglaubter Sohn lebt. Der Chor der Thebaner hingegen durchläuft eine ebenso ausgedehnte Kette von Irritationen wie der König. Dabei ordnet Sophokles die Irritationserfahrung von Ödipus und Chor gegenläufig an. Der Chor gewinnt im Laufe des Stücks seine Sicherheit in dem Maße zurück, wie Ödipus die eigene verliert. Ödipus, der dem Volk von Theben als schützender „Turm“²⁹ (1200) erschienen war, gerät ins Wanken. Die von Sophokles eingesetzte Bildsequenz vom Meeressturm bringt die gegenläufige Entwicklung der tragischen Verunsicherung prägnant in den Blick: Am Beginn fühlen sich die Bürger von den tödlichen Wellen bedroht. Sie vertrauen sich Ödipus an, bis Iokaste entdeckt, dass dieser als Steuermann an dem Sturm, dem er ausgesetzt ist, irre geworden ist und seinerseits die Passagiere gefährdet. Sophokles entfaltet in seinem Stück eine „Poetik der tragischen Verunsicherung“:³⁰ Er bindet nicht nur den Protagonisten und das übrige Personal, sondern auch die Zuschauer in das tragische Geschehen ein. Über die Erfahrung

 Entsprechend betont Kremer (1963) 87 auch die Folgerichtigkeit, mit der Ödipus die Indizien kombiniert. Unterschiede zu Senecas Handlungsführung verdeutlicht Cordes (2009) mit einer „personenbezogenen Analyse“, die die Perspektiven der Protagonisten, ausgehend von ihrem jeweiligen Wissensstand, präzise bestimmt und so das Zusammenspiel der Akteure transparent macht.  Vgl. Schmitt (1988) 28: „Die hohe Qualität des ‚König Ödipus‘ kommt wohl gerade dadurch zum Ausdruck, daß allein die Art, wie Ödipus seine Herkunft aufdeckt, hinreicht, um völlig begreiflich zu machen, daß ihn sein Schicksal nicht zufällig und von außen trifft.“  Das Bild vom Turm ist dem athenischen Publikum vertraut als homerischer Ehrentitel, insbesondere für den standhaften Aias (vgl. Od. 11,556).  Vgl. den Beitrag von Martin Hose, der in diesem Band den Begriff der „Poetik der Verunsicherung“ einführt und diskutiert.

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der tragischen Affekte haben sie Teil an dem Verunsicherungsprozess, der schonungslos vorgestellt wird. Die Irritation greift von dem Helden auf das Publikum über: Es sieht sich durch die Bühnenhandlung mit beunruhigenden Fragen konfrontiert. Diese zielen auf das Verhältnis von Gott und Mensch, auf die Grenzen des menschlichen Wissens, auf den Gegensatz von Schein und Sein, Schuld und Unschuld, Wunsch und Realität oder schließlich auch auf den tragischen Charakter und seine möglichen ‚Fehler‘.

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Unsicherheiten einer poetisch-erotischen Welt Anreden und Konstellationen von Personen bei Sappho Abstract Addresses are a conspicuous feature in Sappho’s extant poetry. Apart from divinities, especially Aphrodite, the I of the poetic persona mainly addresses human females. This occurs in different constellations. The essay investigates the way in which such addresses are used by Sappho to display or even to create uncertainty. Fragment 94 is taken as a case in point. This is the only extant poem of Sappho in which the name of the poetess is mentioned in the context of an address by a female who is not Aphrodite. Reciprocal addresses between this (unnamed) female and “Sappho” are here included in the dramatized narrative of a farewell which confronts two opposite views of a common past connected to an indeterminate group. However, the poetic strategy does not consist in disavowing the negative view of the departing female, but in supplying it with a detailed positive view intended for future memory. This view focuses on exciting past activities of this female, along with other persons, not necessarily only females. Still, uncertainty remains on whether reciprocal love was at stake. The poem rather presents competing rhetorics of asseveration as forms of erotic speech, emphasizing the asymmetry of the partners in the dialogue as well as in the remembered practices. It circumscribes an aphrodisiac world which is, by definition, insecure. Über Sapphos Dichtung nachzudenken heißt, sich auf ein höchst unsicheres Terrain zu begeben. Dies liegt nicht allein am fragmentarischen Zustand der überlieferten Texte oder an den divergierenden Deutungsmodellen, die seit der Antike auf sie angewendet wurden und werden. Die Unsicherheit der Lektüre hat nicht zuletzt auch damit zu tun, dass den Texten selbst Verunsicherungen eingeschrieben sind. Besonders deutlich zeigt sich dies dort, wo die Gedichte mit dem Mittel des Sprecherwechsels operieren und durch Responsionen eine dramatisch aufgeladene Multiperspektivität herstellen. Dabei bedient sich Sappho vor allem einer Redeform, die par excellence der Rhetorik zukommt, jedoch zugleich besonders deutlich auf deren Beziehung zur dichterischen Tradition¹ verweist: der

 Vgl. dazu allgemein Walker (2000) 168: „From the point of view of rhetorical poetics, ‘lyric’ as the song/verse equivalent of (and archaic prototype for) an epideictic ‘speech’ can be under-

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direkten Anrede.² Im Folgenden wird zu fragen sein, ob oder inwiefern und in welcher Weise die rhetorische Form der Anrede in Sapphos Werk als ein poetisches Mittel gebraucht wird, um Verunsicherung darzustellen oder gar zu erzeugen. Wie kann man aber heute vom ‚Werk‘ der Sappho sprechen? Zweifellos werden wir niemals in der Lage sein, uns eine Vorstellung von der Gesamtheit ihrer poetischen Kompositionen zu verschaffen. Eine annähernde Gewissheit existiert nur über deren quantitativen Umfang, denn wir wissen, dass die alexandrinischen Philologen eine aus acht oder neun Büchern bestehende Ausgabe erstellt haben, die bis zur byzantinischen Zeit in Gebrauch war und deren erstes Buch 1320 Verse enthielt. Die hellenistische Sappho-Ausgabe umfasste also wohl mindestens 8000 Verse, was zwei Dritteln von Homers Odyssee entspricht. Was uns jedoch durch Zitate antiker Gelehrter und, in jüngerer Zeit, durch seit dem Ende des 19. Jhs. aufgefundene Papyri überliefert ist, bildet eine Gesamtheit von ca. 800 ganz oder teilweise erhaltenen Versen, also von nicht mehr als einem Zehntel ihres Werkes. Dies entspricht ungefähr dem Gesamtumfang der Werke und Tage des Hesiod und der Hälfte von Sophokles’ Tragödie Ödipus auf Kolonos. Allerdings sind kaum 300 Sappho-Verse vollständig überliefert, d. h. optimistisch geschätzt ca. 4 % ihres Werkes, anders gesagt, eine auf viele Gedichte verteilte Anzahl von Versen, die eine einzige Pindar-Ode (z. B. Pyth. 4) für sich allein genommen enthält. Ist diese zufällige Auswahl der Überlieferung repräsentativ? Sicherlich kann alles, was sich über Sapphos Werk sagen lässt, nur unter Vorbehalt gesagt werden. Was freilich auffällt, ist, dass in diesen wenigen hunderten Versen viele der großen Themen lyrischer Dichtung aller Zeiten, aller Sprachen, aller Kulturen zu finden sind: die Liebe vor allem – vielleicht die unsicherste und am meisten verunsichernde aller menschlichen Erfahrungen –, die mit mannigfaltigen Exaltationen verbundene Liebe, mit ihren Wechselfällen, ihren magischen Momenten, die der Reflexion ausgesetzte Liebe, bezogen auf ihre Wiederholungen, ihre Missgeschicke, ihre Erinnerungen, ihre vielfältigen Objekte, ihre Relationen zum Tod und zum Ablauf des Lebens, von der Jugend bis zum Alter. Vor diesem Hintergrund ist es umso bemerkenswerter, dass die literarische Form der direkten Anrede in der Gesamtheit der uns von Sappho überlieferten Verse und Gedichte sehr häufig vorkommt. Bei allen Dichtern, und so auch bei Sappho, ist die poetische Form der von einem ‚Ich‘ ausgesprochenen Anrede besonders gut geeignet für die Schaffung einer partikularen poetischen Welt, auf die sich alle oder wenigstens die meisten

stood, on one hand, as the most protean of all poetic modes and, on the other hand, as the closest link between the poetic and oratorical traditions in antiquity.“  Zur Poetizität von „addresses“ und zu ihrem auktorial spezifischen Gebrauch vgl. Dickey (1996); zur Evokationsmacht der invokativen „apostrophe“ Culler (1981) 149 – 171; zur magischen Potenz poetischer Anreden Schlaffer (2012).

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unterschiedlichen Teile eines Werkes beziehen können. Nun ist es keineswegs gewiss, dass diese Welt irgendwo unabhängig von der Dichtung existiert. Das poetische ‚Ich‘ ist emphatisch, doch es zielt nicht direkt auf die Biographie des Autors.³ Was die Dichtung dominiert, ist ein geschaffenes Ich, ein Ich, das sich die Freiheit nimmt, alle ihm passenden Rollen einzunehmen. Es ist ein vielförmiges Ich, das zu kommunizieren sucht, und zwar mit einem ebenso multiplen ‚Du‘ oder ‚Ihr‘, und das dazu tendiert, sich entweder in ein ‚Wir‘ zu integrieren oder im Gegenteil sich davon zu unterscheiden. Auch dieses ‚Du‘, dieses ‚Ihr‘, dieses ‚Wir‘ sind etwas Geschaffenes, nämlich als Partner des ‚Ich‘ in Dialogen, die sich außerdem anderen Adressaten jenseits der Grenzen von Zeit und Raum aussetzen. Letztlich ist jedes Gedicht also zumindest implizit eine Anrede mehrerer Adressaten, zeitgenössischer und späterer, realer und fiktiver, einschließlich des poetischen Ichs selbst. Man darf sich nicht täuschen: Das ‚Du‘ wird in der poetischen Anrede nicht bloß angerufen, als ob es auf unabhängige Weise außerhalb des poetischen Gestus existiert. Wenn ein ‚Du‘ angerufen oder herbeigerufen wird, ist es bereits durch die Magie der Anrede evoziert, ist es bereits in der Dichtung da und nimmt dort einen speziellen Platz ein. Und dies wird durch die in der Antike vorauszusetzende Tatsache vielfältiger performativer Gelegenheiten, bei denen Gedichte (gewöhnlich als Lieder mit Saiteninstrument-Begleitung) aufgeführt wurden, in keiner Weise eingeschränkt.⁴ Was alle antiken und modernen Versuche betrifft, Sappho und ihre Dichtung in einer realen biographischen Situation, besonders einer kultischen und pädagogischen, zu fixieren, so möchte ich unterstreichen, dass Sappho in ihrem poetischen Gebrauch der Personalpronomina der ersten und der zweiten Person Singular und Plural nicht von den generellen autoreferentiellen Verfahren der Dichtung abweicht. An wen richten sich nun die in ihrer Dichtung vorkommenden poetischen Anreden? Zu unterscheiden sind zum einen Anreden von Gottheiten⁵

 Zum ,lyrischen Ich‘ vgl. begriffs- und theoriegeschichtlich Martínez (2002). Er betont (ebd. 389) zu Recht seine Besonderheit als „Form literarischer Rede“ und „Typus eines Sprechers“, definiert es jedoch ohne überzeugende Argumente als grundsätzlich „monologisch und situationsenthoben“ und daher auf dialogische Gedichte nicht anwendbar. Zum (meist kommunikativen) Ich in der archaischen Lyrik siehe Budelmann (2009) 16 f. Vgl. auch Slings (1990); Schlesier (2014) 78 – 80.  Vgl. D’Alessio (2009) 120: „Lyric poems meant for oral performances are not necessarily deictically centred on the performance circumstances. To some degree, they share with ‘modern’ lyric (and ‘canonical’ communicative interaction) the linguistic capacity to operate free from contextual boundaries.“  Siehe dazu und zum Folgenden Schlesier (2011b) 16 f.

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und zum anderen Anreden von menschlichen Personen.⁶ Unter den Gottheiten wird vor allem Aphrodite angerufen oder herbeigerufen (mindestens zehn Mal). Die Chariten werden einmal allein angerufen, wie auch die Musen, und diese beiden Gruppen von Göttinnen werden zweimal gemeinsam angeredet. Andere Gottheiten – Hera, Hermes, Kalliope, die Nereiden – finden sich ebenfalls im Kontext einer Anrede, jede von ihnen einmal. Die Anreden menschlicher Personen sind indessen viel häufiger als die Anrufungen von Gottheiten und sind außerordentlich vielfältig. Die DichterinPersona redet meistens individuelle Personen an, seltener Kollektive. Die adressierten individuellen Personen werden entweder durch ihre Eigennamen identifiziert (ohne Ausnahme weibliche: Atthis, Dika, Eirana, Kleis, Mika – semantisch transparente Namen, die deutlich durch die Konventionen der griechischen Onomastik bestimmt sind)⁷, oder bleiben, in unserer Überlieferung jedenfalls, anonym. Im letzteren Fall erlaubt die Mehrheit der Fälle die angeredete Person als Frau zu erkennen (eine verführerische Frau: fr. 23; 31; 46; 49; 94; 108; eine verunglimpfte Frau: fr. 55; 155; die „süße Mutter“: fr. 102; νύμφα, „Braut“: fr. 116; 117). Mehrmals ist die angeredete Person ein Mann (vor allem der Bräutigam: fr. 30; γάμβρος: fr. 112; 113; 115; 116; 117; vgl. aber auch φίλος, „Freund“: fr. 121; 138). Allerdings gibt es in vielen Fällen kein Indiz, das erlaubt, das Geschlecht des adressierten ‚Du‘ zu identifizieren (fr. 3; 26; 48; 60; 126; 129a/b; 137). Was die anonym adressierten Kollektive betrifft, so erlaubt ihre Bezeichnung manchmal, in ihnen entweder Männer (fr. 111: τέκτονες, „Zimmerleute“; fr. 161: γάμβροι) oder Frauen zu erkennen. Der einzige von der poetischen Persona gebrauchte Vokativ im Femininum Plural ist φίλαι, „Freundinnen“ (fr. 43; vgl. κόραι, „junge Frauen“, als Anrede gebraucht durch die Göttin Aphrodite, fr. 140). Außerdem werden Adressatinnen manchmal, jedoch ohne direkte Anrede, als κάλαι, „schöne Frauen“ (fr. 41) oder als ἔταιραι, „Gefährtinnen“ (fr. 160) identifiziert. In einigen Fällen ist allerdings das Geschlecht des adressierten ‚Ihr‘ nicht identifizierbar (fr. 24a; 45; 62), was derselben bereits erwähnten und viel häufigeren Ungewissheit beim Gebrauch des ‚Du‘ entspricht. Noch eine andere Beobachtung hinsichtlich des Gebrauchs des ‚Du‘ oder des ‚Ihr‘ bei Sappho wäre hinzuzufügen: Diese An-

 Andere Anreden, die ich hier beiseite lasse, finden sich ebenfalls, wie die der Lyra (fr. 118), des Traumes (fr. 63) oder des Abendsterns (fr. 104a). Hier und im Folgenden entsprechen die Nummerierungen der Sappho-Fragmente den Editionen von Lobel u. Page (1955) und Voigt (1971). Die Textfassung von fr. 94 (siehe unten) ist reproduziert nach Thesaurus Linguae Graecae online. Die Übersetzungen stammen von der Verfasserin.  Die wörtlichen Bedeutungen der Namen in Personen-Anreden sind: Atthis = „die Frau aus Attika“, Dika = „Gerechtigkeit“, Eirana = „Frieden“, Kleis = „Schlüssel“, Mika = „die Kleine“. Siehe dazu und zu anderen weiblichen Eigennamen bei Sappho Schlesier (2013a).

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reden erscheinen auf zwei unterschiedliche Weisen, entweder stark betont, oder im Gegenteil sehr diskret, in Abhängigkeit von einem ‚Ich‘, das fast alle Aufmerksamkeit an sich zieht und ein subjekthaftes ‚Du‘ oder ‚Ihr‘ auf ein objektiviertes Element reduziert, das nicht am Anfang eines Gedichtes genannt wird, sondern erst nach anderen Objektivierungen, die es im Vorgriff kontextualisieren. Die ephemere Qualität des ‚Du‘ wird oft dadurch unterstrichen, dass es dazu tendiert zu verschwinden, zugunsten eines ‚Ich‘, das sich als allmächtig erweist, sogar auf dem Höhepunkt eines zum Ausdruck gebrachten Schwächezustands (wofür das fr. 31 das eindrucksvollste Beispiel ist). Insgesamt implizieren die Personenanreden bei Sappho immer die Ausübung einer Autorität des dichterischen Ichs über die angeredeten Individuen oder Kollektive. Diese Autorität beruft sich auf die Beherrschung des gesungenen Wortes und benutzt häufig den Gestus einer Lobpreisung oder einer Einladung zu einer Handlung, wie manchmal den Aufruf zum Gesang (vgl. fr. 21; 22; 27), verwendet aber auch ziemlich oft, besonders im Falle individueller Anreden, einen ironischen oder sarkastischen Gestus bis hin zur Schmähung und zum Vorwurf. In vielen Fällen teilt die Dichterin-Persona ihre Reflexionen über die problematische Seite der Emotionen mit, die sie von den angeredeten Personen unterscheiden oder sie mit ihnen verbinden. Und diese Problematik findet sich vor allem dann ausgedrückt, wenn es sich um das Thema der Erinnerung einer Gruppe von Personen handelt (vgl. fr. 24a), die das poetische Ich in ein ‚Wir‘ einschließt. Bemerkenswerterweise existiert bei Sappho außerdem eine andere, besonders autoreferentielle Anredeform, die sich in der vorausgehenden poetischen Tradition nicht findet und die die spätere Tradition eher vermieden hat: die Anrede der Dichterin selbst mit ihrem Namen (immer in der Form Ψάπφω), die in vier Gedichten bezeugt ist. Dreimal lässt Sappho sich so von Aphrodite persönlich anreden (fr. 1; 65; 133b) und vertraut also ihre Signatur, ihre poetische sphragis, dieser Göttin an, deren herausragende Bedeutung für ihre Dichtung besonders evident ist, selbst vor dem Hintergrund der so verstümmelten Überlieferung ihres Werkes. Ohne Zweifel ist es Aphrodite und nicht die traditionelle Muse, die als ihre persönliche Muse präsentiert wird, oder gar als das sie auszeichnende alter ego.

Zu Sappho, fr. 94 Lobel u. Page und Voigt Ein einziges Mal findet sich diese Anrede Sapphos mit ihrem eigenen Namen von einer weiblichen Person verwendet, die nicht Aphrodite ist, und zwar im Fragment 94, handschriftlich überliefert auf einem Pergament des 6. Jhs. n. Chr., das zu Beginn des 20. Jhs. gefunden wurde und in Berlin aufbewahrt wird. Der übrige Teil meines Beitrags wird sich nun diesem Fragment widmen, denn in ihm ist eine

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Vielzahl von Aspekten des Gebrauchs der Personenanrede bei Sappho versammelt, was erlaubt, sie in ihren Beziehungen zueinander und mit anderen Aspekten zu untersuchen, die für Sapphos Dichtung repräsentativ zu sein scheinen. Im fr. 94 findet man einerseits den Gebrauch von Sapphos Namen durch eine die DichterinPersona damit anredende, in diesem Fragment anonym bleibende weibliche Person, und andererseits wird diese Person ihrerseits angeredet durch „Sappho“ selbst (vgl. fr. 1).⁸ Doch die Personenkonstellation dieses Gedichts beschränkt sich nicht auf diese beiden in einen Dialog eintretenden weiblichen Personen. Die Dramaturgie des Gedichts assoziiert sie mit einem größeren Kollektiv, einem ‚Wir‘, dem gegenüber sowohl „Sappho“ als vorherrschendes grammatisches Subjekt ebenso wie die angeredete namenlose Frau beide die Rolle von Protagonistinnen spielen, und zwar auf bemerkenswert unterschiedliche Weise. In diesem Gedicht experimentiert Sappho vor allem mit einer spezifischen Qualität der Anrede als poetischer Form, nämlich ihrer Eigenschaft, eine dramatische Situation zu schaffen oder zu verstärken.⁹ Der gewählte Anlass, ein Abschied, ist für eine Dramatisierung besonders geeignet. Diese wird hier durch die wechselseitigen Anreden der beiden Dialogpartnerinnen hergestellt, von denen jede nicht allein durch ein ‚Ich‘, sondern auch durch ein ‚Du‘ und ein ‚Wir‘ gekennzeichnet wird. Diese Wechselseitigkeit bleibt jedoch rein formal und entspricht keiner Symmetrie. Im Gegenteil. Die Asymmetrie dieser beiden Partnerinnen zeigt sich einerseits darin, dass nur eine der beiden, „Sappho“, mit ihrem Namen bezeichnet wird (jedenfalls im überlieferten Wortlaut des Gedichts). Andererseits verwendet jede von ihnen das ,Wir‘ zwar inklusiv, wenn auch auf unterschiedliche Weise, doch nur „Sappho“ schließt die angeredete Frau auch einmal aus einem ,Wir‘ aus und betont deren privilegierte Stellung gegenüber diesem ,Wir‘. Vor allem aber legt das ‚Ich‘ der „Sappho“, das für seine eigene Rede den größten Teil des Gedichts reserviert, den Akzent weniger auf dieses ‚Ich‘ als auf das ‚Du‘ der angeredeten Frau. Die dramatische Eigentümlichkeit dieses Gedichts beschränkt sich nicht auf diese diskursive Asymmetrie. Schon im ersten Vers – der sicherlich nicht der erste des Gedichts war, aber der zweite gewesen sein könnte – ist vom Tod die Rede, bevor die Liebe in den Vordergrund tritt, ohne dass allerdings direkt terminologisch auf sie verwiesen wird. Sexuelle Befriedigung wird hingegen explizit erwähnt. Das Gedicht beginnt zwar mit einem Todeswunsch, doch darauf folgt dann bald die Evokation eines kollektiven erotischen Ambientes. Bei der Konfrontation  Zur spezifischen Reziprozität der Anreden von Aphrodite und „Sappho“ in fr. 1 siehe Schlesier (2011a); vgl. auch Schlesier (2011b) 21– 24.  Zu Sapphos poetischer Pionierrolle für die spätere Gattung des Dramas siehe Herington (1985) 57 und 211.

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der Anreden der beiden Partnerinnen kommen zwei gänzlich gegensätzliche Ansichten über eine gemeinsame Vergangenheit ins Spiel, eine negative und eine positive. Doch die positiven Erinnerungen sind die einzigen, die detailliert ausgeführt werden und über das Ergebnis der Debatte zu entscheiden scheinen. Nun situiert das Gedicht dieses rhetorische Drama nicht in der Gegenwart, sondern in der Vergangenheit. Die Dramatik des Gedichts ist Teil einer Erzählung, also einer epischen Redeform, in die die Anreden als Zitate integriert sind. Der spannungsvolle Abschied, die Debatte zwischen den beiden Partnerinnen bei dieser Gelegenheit haben bereits stattgefunden. Was diesen Abschied, diese Debatte betrifft, so handelt es sich um die Erinnerung an ein sprachliches Ereignis, das sich in der Vergangenheit vollzogen hat und als spezielle Form eines ‚acting with words‘¹⁰ verstanden werden muss. Doch der größte Teil des Berichts von diesem Ereignis besteht (in der poetischen Form einer mise en abyme) in einer anderen Reminiszenz, die sich auf eine noch weiter zurückliegende Vergangenheit und in ihr lokalisierte, ständig wiederholte Situationen bezieht.¹¹ Und diese Reminiszenz ist es, die die letzten acht der zehn Strophen des Gedichts beherrscht. Mittels evokativer Formulierungen wird dabei eine Reihe von Handlungen und Gegenständen in Erinnerung gerufen, die ein Ganzes bildet und nicht allein die beiden Partnerinnen impliziert, die in einer rezenteren Vergangenheit aneinander Abschiedsworte gerichtet haben, sondern auch andere Personen, nämlich ein ‚Wir‘. Man muss betonen, dass dieses ‚Wir‘ eine Pluralität von Personen bezeichnet, zu der die beiden Dialogpartnerinnen dieses Gedichts – einmal (V. 8) allerdings allein „Sappho“ – gehören, doch die viermal verwendete grammatische Form, die erste Person Plural der Verben πάσχειν, „erfahren“, „erleben“ (in zwei Versen, 4 und 11, die responsiv aufeinander bezogen sind), μεθέπειν, „gemeinsam verfolgen“, „nachlaufen“, „hinter jemandem her sein“ (V. 8), und ἀπεῖναι, „abwesend sein“ (V. 26), erlaubt nicht zu behaupten, dass die Gesamtheit dieser Personen ausschließlich dem weiblichen Geschlecht angehört.¹²

 Zum ‚acting with words‘ in der lateinischen Literatur siehe Fuhrer u. Nelis (2010); zur rhetorischen Qualität von Erinnerung bei Sappho vgl. Jarratt (2002).  Eine vergleichbare mise en abyme findet sich in Sapphos fr. 1; siehe dazu Schlesier (2011a). Zur poetischen bzw. historiographischen Kombination verschiedener Zeitformen der Vergangenheit und zu den semantischen Implikationen eines solchen Procedere, u. a. in Sapphos fr. 94, vgl. Boedeker (2012).  Erstaunlicherweise gehen aber die bisherigen Kommentatoren des Gedichts – aufgrund von generellen Hypothesen über Sapphos ‚Kreis‘ – einhellig davon aus, dass die Pluralformen sich hier nur auf Frauen bzw. Mädchen beziehen können. Mir scheint es dagegen signifikant zu sein, dass im Gedicht (jedenfalls in seinen erhaltenen Teilen) die Pluralformen nirgends grammatisch (als fem. oder masc.) spezifiziert sind.

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Die formale Struktur des Gedichts ist ziemlich klar: Überliefert sind zehn Strophen, die jede aus drei zum Teil vollständigen, oft jedoch mehr oder weniger verstümmelten Versen bestehen, insgesamt 29 Verse, denn der erste Vers der ersten Strophe fehlt ganz.Wir wissen nicht, ob außerdem eine oder mehrere Strophen am Anfang und eine oder mehrere Strophen am Ende verloren sind. Was die Metrik betrifft, so werden nur Glykoneen verwendet, ein für die äolischen Dichter, also Sappho und Alkaios, typisches Versmaß. Die beiden ersten Verse jeder Strophe enthalten acht Silben (xx – ᴗᴗ – ᴗ –), und der letzte Vers besteht aus elf Silben (xx – ᴗᴗ – ᴗᴗ – ᴗ x). Die ersten beiden Strophen (also die ersten fünf Verse) unterscheiden sich stark vom Rest des Gedichts, und zwar durch die Negativität ihrer Aussage und durch die Tatsache, dass die Rolle des aktiven Sprechers nur hier der Frau zugeordnet ist, die ihren Abschied nimmt (V. 1−5): τεθνάκην δ’ ἀδόλως θέλω ἄ με ψισδομένα κατελίμπανεν

1

πόλλα καὶ τόδ’ ἔειπ.[ ὤιμ’ ὠς δεῖνα πεπ[όνθ]αμεν, Ψάπφ’, ἦ μάν σ’ ἀέκοισ’ ἀπυλιμπάνω.

5

Gestorben sein aber, ohne Arglist, will ich. Sie mich schluchzend verließ, vieles und auch das sagte sie (mir): O weh mir, wie Schreckliches haben wir erfahren, Sappho, wirklich, dich lasse ich unfreiwillig zurück.

5

Die Frau hat also geweint, als sie sich von Sappho verabschiedete, und sie hat dieser ihre (negative) Analyse der gemeinsamen Vergangenheit vermittelt sowie den (beklagenswerten) Zustand, in dem sie Sappho verließ (V. 2– 5). Doch wer spricht den ersten überlieferten Vers? Ein Teil der Interpreten glaubt, dass es Sappho selbst ist, die, wie psychologisierend unterstellt wird, nach dem Weggang der Frau, die von ihr getröstet wurde, selbst untröstlich ist und sich den Tod wünscht.¹³ Ein anderer Teil der Interpreten, seit Schubart, der das Pergament 1902

 Dass Sappho selbst sich hier den Tod wünscht, wurde zuerst von Reinach (1902) postuliert. Zu den weiteren Interpreten, die sich dem angeschlossen haben, gehören Wilamowitz (1913) 50; Schadewaldt (1936) und (1950) 116; Page (1955); McEvilley (1971) 4 f.; 8; Treu (61979); Robbins (1990) sowie neuerdings Bagordo (2009); Ferrari (2010) 138.

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veröffentlicht hat,¹⁴ schreibt diese Worte jedoch der weggehenden Frau zu. Ist eine Entscheidung über diese gegensätzlichen Interpretationen möglich? Der Vers 5 ist dafür besonders aufschlussreich: Er enthält nur Beteuerungen. Diese rhetorische Qualität des Verses wurde bisher selten ernst genommen. Die verwendeten Formeln (ἦ μάν, „ganz bestimmt“, „wirklich“, und ἀέκοισα, „unfreiwillig“, „gegen meinen Willen“) erwecken aber deutlich genug den Eindruck, dass sich die sprechende Frau gegen einen (tatsächlich geäußerten oder nur möglichen) Vorwurf verteidigt, der die Notwendigkeit ihres Weggangs in Frage gestellt hat oder stellen könnte. Sie rechtfertigt also ihren Weggang als eine Nötigung, als etwas, das nicht ihrem eigenen Willen entspricht. Diese Rechtfertigung wird jedoch durch die Emphase des „ganz bestimmt“ unterminiert, eine Beteuerung, die, während sie die Wahrheit ihrer Worte betont, in keiner Weise die Möglichkeit oder gar die Wahrscheinlichkeit ausschließt, dass diese Worte lügnerisch sind. Doch dies gilt auch und bereits für das Adverb ἀδόλως („ohne List“, „untrüglich“) im ersten Vers. Es gäbe also tatsächlich die Möglichkeit eines Betrugs, einer List (δόλος), und gerade die Tatsache, dass diese Eventualität ausdrücklich negiert wird, macht die Wahrheit dieser Negation umso zweifelhafter.¹⁵ Unter diesem Gesichtspunkt entsprechen die beiden Beteuerungen, im Vers 1 und im Vers 5, derselben rhetorischen Logik und müssten also, so meine ich, von derselben Person ausgesprochen worden sein, d. h. der fortgehenden Frau. Da beide Versicherungen aber als solche keine klare Aussage formulieren, enthalten sie das Potenzial, die angeredete „Sappho“ zu verunsichern. Es ist, als ob die Geliebte im Augenblick des Weggangs, den sie als endgültig betrachtet und der – trotz oder vielleicht gerade wegen ihrer Beteuerungen – nicht unbedingt gegen ihren Willen geschieht, nicht auf die Gewohnheit der Koketterie mittels zweideutiger sprachlicher Finessen verzichten könnte, die dazu bestimmt sind, die sie liebende Person zu verführen oder zumindest zu beruhigen und zu besänftigen. Mit diesem ambivalenten Gestus korrespondiert durchaus, dass sie sich zuvor unter Tränen von aphrodisischer Taktik distanziert und ihre Menschennatur akzentuiert: Sie will bereits gestorben sein, aber mit List und Betrug – also einer

 Todeswunsch der fortgehenden Frau: Schubart (1902). Dies wurde in der Folge vertreten u. a. von Burnett (1979) und (1983) 294 f.; Greene (1994) 47; Williamson (1995) 144; Jarratt (2002) 19; Boedeker (2012) 25.  Fast immer wird jedoch die markierte Negation der List (wofür die Dichterin-Persona in der Tat keinen Anlass hätte) durch eine positivierende Übersetzung von ἀδόλως zum Verschwinden gebracht: Wilamowitz (1913) 49 und Schadewaldt (1950) 114: „ehrlich“; Page (1955) und Campbell (1982): „honestly“; Treu (61979): „ganz im Ernst“; Burnett (1983) 291: „candidly“; Ferrari (1987): „sinceramente“; Williamson (1995) 143: „frankly“; Tzamali (1996): „aufrichtig“; Carson (2002): „simply“; Bagordo (2009): „fürwahr“; Ferrari (2010) 136: „truly“.

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traditionellen Domäne der Aphrodite¹⁶ – habe ihr Todeswunsch nichts zu tun. Dieser sei ehrlich (und damit, in allusiver Weise, unaphrodisisch) gemeint. Sie geht fort, und um die Erwähnung ihrer eigenen Liebe zu vermeiden, die allein sie eventuell zurückhalten könnte, beruft sie sich auf äußere Zwänge, deren Realitätsgehalt indessen bereits durch die Form ihrer Beteuerungen abgeschwächt wird. Warum aber betont sie: „wir haben schreckliche Dinge erfahren“ (δεῖνα πεπόνθαμεν, V. 4),¹⁷ wodurch sie ihrer sonstigen, nur auf sich selbst bezogenen Sicht eine auch andere Personen einbeziehende Perspektive hinzufügt? Man muss zunächst festhalten, dass das ‚Wir‘, von dem hier die Rede ist, sich auf den ersten Blick ausschließlich auf die beiden in einem Dialog befindlichen Frauen bezieht, die Fortgehende und „Sappho“. Doch man muss vor allem festhalten, dass diese Aussage im Kontext dessen, was bisher gesagt wurde – nach „ohne Arglist“ (V. 1) sowie vor „ganz bestimmt“ und „gegen meinen Willen“ (V. 5) –, wie eine zusätzliche Rechtfertigung des Weggangs und zugleich wie eine zusätzliche Verunsicherung wirkt, die mit Autoritätsanspruch vorgetragen werden. Die Interpreten haben gewöhnlich die Tatsache unbeachtet gelassen, dass es sich hier um ein grammatisches Perfekt handelt, und nicht um ein Präsens.¹⁸ Es ist jedoch  Burnett (1983) 295 kommt das Verdienst zu, auf die wörtliche Bedeutung von ἀδόλως („without trickery“) sowie die intrikate Beziehung von δόλος auf Aphrodite verwiesen zu haben und bei ihrer Interpretation von fr. 94 zu betonen: „The speech of love is full of snares of exaggeration or placation […] and because it is tricky, love’s speech is likewise full of protestations of sincerity.“ Zu Recht leitet sie daraus die Zuordnung von Vers 1 zur fortgehenden Frau ab und unterstreicht: „the girl’s despair is superficial, almost flirtatious“. Dagegen versteht Robbins (1990) 120 Anm. 30 ἀδόλως sentimentalisch als Indiz für „an earnest and passionate Sappho“. Vgl. aber Theokrit, Id. 29,32 und Athenaios 13,571c (über Hetären, die paradoxerweise zu φιλία ἄδολος fähig seien).  Dies ist übrigens eine besonders starke Formulierung, von der man eine Variante im Vers 1377 von Euripides’ Bakchen findet: καὶ γὰρ ἔπασχον δεινὰ πρὸς ὑμῶν, „denn ich erfuhr schreckliche Dinge durch euch“ – dies wirft Dionysos am Ende dieser Tragödie den Überlebenden vor, die ihn nicht als Gott anerkannt hatten.  Die Perfektform wird meist als Präsens wiedergegeben, seit Wilamowitz (1913) 49: „wie schwer haben wir es“. Dies entspricht zwar durchaus den Regeln griechischer Grammatik, basiert jedoch auf der als selbstverständlich erachteten Hypothese, dass mit den „schrecklichen Dingen“ nichts anderes als der sich gerade vollziehende Abschied – und kein weiterwirkender Vergangenheitsbezug (der zum griechischen Perfekt gehört) – gemeint sein kann; vgl. Schadewaldt (1936) 368: „Das Mädchen meinte mit ihrem πεπόνθαμεν natürlich nur das gegenwärtige Schicksal, die Trennung.“ Er fügt allerdings hinzu: „Aber das Perfekt umfasst doppeldeutig die Vergangenheit mit“, um dann psychologisierend zu unterstellen: „Sappho ‚mißversteht‘ das Mädchen, als hätte es über dem Trennungsschmerz des Augenblicks wirklich alles vergessen“. Zu den wenigen, die die Perfektform ernst nehmen, gehört McEvilley (1971) 9: „Has the girl not said of their past, δεῖνα πεπόνθαμεν?“

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durchaus möglich, dass „die schrecklichen Dinge“ gerade nicht das Fortgehen selbst bezeichnen, dessen Vollzug im Präsens artikuliert wird. Was waren nun diese schrecklichen Dinge, die in der Vergangenheit passiert sind, aber in der Gegenwart weiterwirken? Das Gedicht macht dazu keine detaillierten Angaben, ungewiss bleibt bis zum Schluss, was genau damit gemeint ist. Es scheint allerdings, als ob das, was folgt, erlaubt, wenigstens die allgemeine Bedeutung dieser Aussage zu erhellen, denn in den Strophen 3 und 4 reagiert die poetische Persona direkt auf die Worte der fortgehenden Frau, indem sie sie – wie in einem rhetorischen Spiel oder Wettkampf, bei dem eine Verunsicherung durch eine andere beantwortet wird – variierend wieder aufnimmt und ihnen pointiert eine zusätzliche, wenn nicht eine unterschiedliche, mit eigenem, höheren Autoritätsanspruch vorgetragene Sicht der gemeinschaftlich erlebten Dinge entgegensetzt, und dies, im weiteren Verlauf, auf sehr detaillierte Weise. τὰν δ’ ἔγω τάδ’ ἀμειβόμαν· χαίροισ’ ἔρχεο κἄμεθεν μέμναισ’, οἶσθα γὰρ ὤς σε πεδήπομεν· αἰ δὲ μή, ἀλλά σ’ ἔγω θέλω ὄμναισαι[…(.)].[..(.)]..αι ..[ ] καὶ κάλ’ ἐπάσχομεν·

10

Ihr aber ich dies entgegnete: Freudig gehe fort und an mich erinnere dich, denn du weißt, wie wir hinter dir her waren. Wenn aber nicht, dann will ich dich doch daran erinnern [ ] auch Schönes erfuhren wir.

10

„Sappho“ akzeptiert also nicht allein den Weggang, sondern tut so, als ob sie es ist, die ihn anordnet (ἔρχεο, „gehe fort“,V. 7). Der begleitenden Anordnung, an die Stelle der Tränen Freude zu setzen (χαίροισα, als „eine sich Freuende“, V. 7, wenn das Partizip hier im wörtlichen Sinne zu verstehen ist und nicht nur als eine konventionelle Abschiedsformel¹⁹), fügt sie außerdem die gebieterische Ermahnung hinzu, sich an sie, „Sappho“, zu „erinnern“ (V. 7– 8; vgl. V. 10).²⁰ Dieser

 Vgl. aber Tzamali (1996) 317, die ebenfalls hier keine konventionelle Abschiedsformel erkennt, jedoch zu bedenken gibt, dass damit vielleicht nicht so sehr „ein seelisches Freudegefühl bezeichnet“ ist, sondern „primär körperliches Wohlbefinden“; sie übersetzt daher χαίροισα mit „wohlbehalten“.  Während die Wiederholung des Verbs „erinnern“ dazu dient, dessen Objekt zu erweitern (zuerst „Sappho“, V. 7, dann ein inklusives ,Wir‘, V. 11), ist diejenige von θέλω kontrastiv und hat

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Kontext ist es, in dem ein ‚Wir‘ zum zweiten Mal erscheint, doch diesmal ist ausgeschlossen, dass es sich allein auf Sappho und die fortgehende Frau bezieht. Letztere kann vielmehr in dieses ‚Wir‘ unmöglich einbezogen sein. Sie wird im Gegenteil von einer Pluralität von Personen klar unterschieden, zu denen „Sappho“ gehört und die alle in der Vergangenheit die nun fortgehende Frau kontinuierlich als ein besonders attraktives Objekt behandelt haben, so dass sie sie durch Annäherungsversuche verfolgt haben (σε πεδήπομεν, „wir waren hinter dir her“, V. 8²¹). Die fortgehende Frau wurde also von dieser Pluralität von Personen sehr begehrt und nahm in einer Gruppe von Bewunderern die Rolle eines Stars ein.²² „Sappho“ unterstreicht, dass die Frau diese Tatsache nicht hat ignorieren können (οἶσθα, „du weißt es“, V. 8). Und diese privilegierte Position, woran „Sappho“ sie erinnert, wird von ihr jetzt ebenso verlassen, wie sie „Sappho“ verlässt. Man versteht nicht, wie die fortgehende Frau diese Vorzugsposition vergessen könnte, wenn ihr nicht nach ihrem Fortgang eine noch ausgezeichnetere Position anderswo reserviert wäre. Die Sprecherin „Sappho“ scheint also vorauszusetzen, dass die neue herausragende Position, die auf die Frau wartet, jede positive Erinnerung an ihre frühere Position inmitten des von ihr jetzt verlassenen ‚Wir‘ auslöschen könnte. Doch diese frühere Position enthielt, nach der Aussage der Frau selbst, auch die Erfahrung schrecklicher Dinge, und die für sie nicht leicht zu vergessende, in der Gegenwart weiterwirkende Erinnerung daran ist es, was sie bekümmert.Wenn „Sappho“ ihr daraufhin positive Erinnerungen nahelegt, so leugnet sie keineswegs das Faktum negativer Erfahrungsdimensionen einer gemeinsamen Vergangen-

einen Verunsicherungseffekt: Die Fortgehende „will“ (V. 1) tot sein, „Sappho“ jedoch „will“ (V. 9) sie lebensbejahend erinnern (an „Schönes“). Zur Rhetorik von Imperativen, die Erinnerung einklagen, in der homerischen Tradition siehe Minchin (2007).  Zu dieser traditionellen Bedeutung von μεθέπω (bei Homer auch für das Lenken von Pferden gebraucht) vgl. Tzamali (1996) 319. In den Übersetzungen von fr. 94,8 herrschen jedoch meist vage Romantisierungen vor: Schadewaldt (1950) 114: „wie sehr wir dich gehegt“; Page (1955) und Campbell (1982): „how we cared for you“; Treu (61979): „wie umsorgt du warst“; Burnett (1983) 291: „how we have loved you here“; Ferrari (1987): „quanto ti volevamo bene“; Winkler (1990) 185: „how we have stood by you“; Carson (2002): „how we cherished you“; Bagardo (2009): „wie gern wir dich hatten“; vgl. auch die Banalisierung bei Wilamowitz (1913) 49, die den Objektstatus der Frau ganz außer Acht lässt: „wie leicht und lustig wirs gehabt haben“. Manchmal wird auch der Plural durch einen Singular wiedergegeben und so ausschließlich der Sappho zugeordnet: bereits von Reinach (1902) 64: „combien je t’ai chérie“; vgl., pädagogisch, Tzamali (1996): „wie ich dich hegte“; siehe auch, präsentisch übersetzt, Pigeaud (2004): „comment je me soucie de toi“.  Schon aus diesem Grund ist die rührend romantische Meinung von Greene (1994), in diesem Gedicht werde eine hierarchielose, idealtypische Reziprozität lesbischer Liebe vorgeführt, nicht zu halten.

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heit, das die Frau im Augenblick ihres Weggangs in Erinnerung ruft. „Sappho“ antwortet in der Tat direkt darauf, indem sie dasselbe Verbum verwendet (πάσχειν, „erfahren“), diesmal jedoch im Imperfekt (V. 11), nicht aber, wie zuvor (V. 4) durch die Frau, im Perfekt (δεῖνα πεπόνθαμεν, „Schreckliches haben wir erfahren“), und indem sie das von dieser gebrauchte substantivierte Adjektiv „Schreckliches“ durch das auf dieselbe Weise generalisierte Nomen „Schönes“ ersetzt. Indem sie aber betont: „wir erfuhren auch Schönes“ (καὶ κάλ’ ἐπάσχομεν), ersetzt sie nicht die schrecklichen Dinge durch schöne, sondern fügt eher den schrecklichen Dingen andere hinzu, nämlich schöne. Worin bestanden diese nun? Tatsächlich folgt deren Beschreibung unmittelbar und nimmt die Strophen 5 bis 10 ein, die restlichen von diesem Gedicht überlieferten (V. 12−29): πο̣[

]οις ἴων

καὶ βρ[ κα..[

]κ̣ίων τ’ ὔμοι ] πὰρ ἔμοι περεθήκαο

καὶ πό̣[λλαις ὐπα]θύμιδας

15

πλέκ[ταις ἀμφ’ ἀ]πάλαι δέραι ἀνθέων .[

] πεποημμέναις

καὶ π.....[

]. μύρωι

βρενθείωι ̣.[

]ρυ[..]ν ̣ ἐξαλείψαο κα̣[ὶ βασ]ι ̣ληίωι

20

καὶ στρώμν[αν ἐ]πὶ μολθάκαν ἀπάλαν πα.[

]...ων

ἐξίης πόθο̣[

].νίδων

κωὔτε τισ[

]..τι

ἶρον οὐδυ[

]

25

ἔπλετ’ ὄππ̣[οθεν ἄμ]μες ἀπέσκομεν, οὐκ ἄλσος .[

].ρος

[

]ψοφος

[

]...οιδιαι

(Viele Kränze) von Veilchen, auch von Rosen und Krokussen zugleich ] bei mir hast du dir umgelegt, auch viele Duftgirlanden, geflochtene, rings um den zarten Hals, von Blumen [ ] gemachte, auch (viel) [ ] mit Myrrhenöl, kostbarem, [ hast du dich völlig eingesalbt, auch königlichem,

15

20

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auch auf Bettdecken, weichen, zarten [ hast du völlig gestillt das Verlangen von [ und nicht einer [ ] (und nicht) etwas Heiliges und nicht [ gab es, von wo wir abwesend waren,

25

nicht ein Hain [ ] Klang ] (Lieder)

Diese sechs Strophen beschreiben auf ebenso präzise wie andeutungsreiche Weise die Handlungen, die wiederholt von der Frau ausgeführt worden waren, die jetzt ihren Abschied von dem Milieu nimmt, in dem sich diese Handlungen vorher abgespielt haben. Die Strophen 5 bis 8 evozieren eine sehr intime – und nicht notwendigerweise nur auf zwei Personen beschränkte – Situation im privaten Bereich von Sapphos Haus (V. 14: πὰρ ἔμοι, „bei mir“, und nicht „neben mir“),²³ während die noch stärker verstümmelten Strophen 9 und 10 eher gemeinsame öffentliche Erfahrungen zu evozieren scheinen, die außerhalb des Hauses stattfanden und sich übergangslos an die exklusiven Aktionen im Innenraum-Ambiente anschlossen.²⁴ Was in den beiden Schlussstrophen betont wird, ist die ebenfalls repetitive und zeitlos wirkende Präsenz einer unspezifischen Gruppe (nun aber ohne Protagonistin), die sich überall, ohne Ausnahme, ausbreitet und hinbewegt – ‚wir waren abwesend (ἀπέσκομεν, V. 26) von nichts, von keinem heiligem Raum und von keiner musikalischen Aktivität‘. Die mehrfachen Negationen, die letztlich eine positive Aussage bilden, und die neue Nennung eines ‚Wir‘ in diesem Kontext am Ende des Gedichts vermitteln dieser Beschreibung von Praktiken in einem Außenraum eine etwas distanzierte oder gar sublimierte Emphase, und dies gilt auch für die Einheit der Akteure, unter denen sich nun keiner durch einen partikularen Status von den anderen unterscheidet. Im Gegensatz dazu ist die vorausgehende Evokation der von der Frau im Innenraum ausgeführten Handlungen ausschließlich erotisch und ganz und gar auf die Frau konzentriert, die zuvor als außerordentlich begehrt charakterisiert worden war. Der sinnliche Luxus und der elegante Schmuck, die ins Werk gesetzt  So schon Reinach (1902) 64: „chez moi“ und Wilamowitz (1913) 49; vgl. auch Hutchinson (2001) 144. Ferrari (2010) 138 verweist zwar darauf, dass πὰρ ἔμοι ein Analogon zu „chez moi“ ist, gibt es aber trotzdem mit „next to me“ (ebd. 137) wieder, genauso wie die große Mehrheit der sonstigen Übersetzer.  Vgl. Greene (1994) 50. Der Unterschied der beiden Räume wird auch rhetorisch durch die Verwendung der Stilfiguren markiert: In den Strophen 5 – 8 dominiert die Anapher, in den Strophen 9 – 10 die Litotes.

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werden, sind gänzlich für einen repetitiven aphrodisischen Dienst reserviert und allein für die Vorbereitung und die Ausübung lustvoller Sexualität bestimmt. Die Worte der poetischen Stimme zeichnen räumlich und zeitlich ohne Umweg die physischen Konturen des Körpers von oben an nach:²⁵ angefangen vom Kopf, der mit Blumenkränzen bedeckt wird, über den von Girlanden – auch diese aus Blumen bestehend und außerdem von Düften geräuchert – umwundenen Hals, um schließlich beim ganzen Körper anzugelangen, der vollständig mit parfümiertem Öl von königlicher Kostbarkeit eingesalbt wird, einem Körper, der am Ende dieser verführerischen Vorbereitungen zur sexuellen Befriedigung auf weichen Betten bestimmt ist, mit Partnern vereint, deren Zahl und Geschlecht unspezifiziert bleiben.²⁶ Die Botschaft der Sappho dieses Gedichts für die fortgehende Frau suggeriert also, dass die Erinnerung an diese ihre permanent wiederholten wonnevollen Aktivitäten die Oberhand behalten müsste: Wenn es auch während einer gemeinsam verbrachten Vergangenheit schreckliche Dinge gab, die man nicht ignorieren kann, so werden diese doch bis zum Ende des Gedichts nicht spezifiziert, ja nicht einmal wieder erwähnt. Das daher abstrakt bleibende „Schreckliche“ wird durch konkret „Schönes“, die ausgemalten Verführungspraktiken und den Genuss, der alle Sinne in Anspruch nimmt, triumphal beiseite geschoben und so in Vergessenheit gebracht. Die quantitative Asymmetrie zwischen dem nur knapp erwähnten „Schrecklichen“ und dem so ausführlich illus-

 Vgl. Winkler (1990) 186: „a loving progression of intimacy, moving in space – down along the body – and in time – to increasing sexual closeness“.  So jedenfalls in der verstümmelten Überlieferung von V. 23. Ist ἐξίης πόθον eine Anspielung auf ἀφῆκα μένος bei Archilochos (fr. 196a,52), zumal V. 9 (τὴν δ’ ἐγὼ ἀνταμειβόμην) wörtlich Sapphos V. 6 entspricht? Dass ἐξίης πόθον vor dem Hintergrund entsprechender homerischer Formulierungen (vgl. Schubart 1948, 315) sich am ehesten auf sexuelle Befriedigung beziehen lässt, wird mittlerweile meist anerkannt. Wilamowitz (1913) 50 hatte dagegen noch verharmlosend übersetzt: „hast du das Bedürfnis (der Ruhe) gestillt“. Zur Debatte siehe Burnett (1983) 298 Anm. 56; vgl. dort auch zum erhaltenen Schluss von V. 23 (.νίδων), dessen Ergänzung als νεανίδων – im Sinne von ‚(das Verlangen) von jungen Mädchen‘ – oft Anhänger gefunden hat, um die ,lesbische‘ Qualität des Eros bei Sappho zu untermauern; die Lesart α vor νι- scheint allerdings ausgeschlossen (vgl. Page 1955, 80). Falls hier ein Gen. plur. stand, ist jedoch nicht zwingend, dass dies ein Femininum war (αδω]νιδων wäre möglich; zur Pluralform von ,Adonis‘ vgl. Lukian, Merc. Cond. 35). Heute wiegt eine das Problem umgehende Deutung im Sinne von ,Selbstbefriedigung‘ vor, z. B. Page (1955): „you would satisfy your longing“; Bagordo (2009): „hast du befriedigt deine Wollust“. Ferrari (2010) 140 f. meint zwar, dass Sappho eventuell „refers to erotic experiences of the girl in which she was herself in some way involved“, schließt aber, mit Hinweis auf „the as-yet undefined and aimless sexuality of adolescence“ sexuellen Kontakt erstaunlicherweise rigoros aus, da sich Sappho nur mit halbwüchsigen Mädchen habe umgeben können.

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trierten „Schönen“ unterstreicht jedoch zugleich, dass das „Schreckliche“ sein Verunsicherungspotenzial dabei keineswegs einbüßt. Durch die Art und Weise, wie die fortgehende Frau in diesem Gedicht bei der quasi ritualisierten Ausübung ihrer erotischen Funktionen präsentiert wird, scheint sie die Rolle der Liebesgöttin selbst gespielt zu haben. Dies erklärt vielleicht, warum die poetische Persona sie hier ausnahmsweise autorisiert, sie mit ihrem Namen, Psappho, anzureden, ein Privileg, das in ihrem überlieferten Werk ansonsten nur Aphrodite persönlich verliehen ist. Doch diese Frau scheint nunmehr, da sie von ihrer bisherigen exquisiten Rolle demissioniert, auf die Weiterverfolgung dieses göttlichen Modells²⁷ zu verzichten. Wenn sie tot sein will, so drückt sie in der Tat einen Wunsch aus, der die Sterblichkeit, das wichtigste Unterscheidungskriterium der Menschen von den Göttern, akzentuiert. Wenn sie ihre Ablehnung von List und Betrug (ἀδόλως, V. 1) proklamiert, so grenzt sie sich buchstäblich von derjenigen Göttin ab, deren privilegierter Bereich traditionell eben gerade die List (δόλος)²⁸ im Dienst der physischen Liebe, der körperlichen μίξις ist, also des Sexualaktes vor allem zwischen einem Mann und einer Frau, den die Griechen aphrodisia (ἀφροδίσια) genannt haben. Vor dem Hintergrund der Ergebnisse dieser Lektüre ist es erstaunlich, dass die große Mehrheit der Kommentatoren sich dieses Gedichts bedient hat, um einen anderen, ,pragmatischen‘ Anlass zu konstruieren, der angeblich Sapphos biographische und soziale Erfahrung in typischer Weise charakterisiert. Nach der gegenwärtig kanonischen Meinung war Sappho die Erzieherin junger Mädchen, die einen initiatorischen und pädagogischen ‚Kreis‘ um sie bildeten, den sie normalerweise verließen, um zu heiraten²⁹ und manchmal, um sich einem analogen, ebenfalls ausschließlich weiblichen Kreis anzuschließen, der von einer anderen Lehrerin oder Chorführerin geleitet wurde. Umstritten ist bis heute oft nur die Frage, ob oder in welchem Maße und zu welchem Zweck diese Erziehung auch homoerotische Beziehungen zwischen diesen pubertierenden Mädchen und mit Sappho selbst einschloss.³⁰  Vgl. Williamson (1995) 145 über die in den Strophen 5 – 8 beschriebenen Handlungen: „she imitates Aphrodite“. Z.B. zitiert Sappho in V. 16 direkt aus Hom. hymn. 5,88: Dort ist die Rede vom Schmuck der Aphrodite „rings um den zarten Hals“ (ἀμφ’ ἁπαλῇ δειρῇ) bei ihrer (betrügerischen) Verführung des Anchises.  Nicht zuletzt bei Sappho: vgl. δολόπλοκος, „listenflechtend“, als Charakteristikum der Aphrodite, fr. 1,2. Siehe auch oben Anm. 16.  So die von Wilamowitz (1913) kanonisierte, von Merkelbach (1957) ritualistisch zugespitzte und danach von anderen weiter ausgestaltete, bis heute vorherrschende Forschungsposition.  Vgl. dazu z. B. Rösler (1992); Calame (1996); Lardinois (2010). Dabei wird gewöhnlich vorausgesetzt, dass das ,Ich‘ bei Sappho in der Regel chorisch und nicht monodisch verstanden werden müsse.

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Im Unterschied dazu wurde zuweilen bereits vorgeschlagen, auf eine biographische und initiatorische Lesart zu verzichten.³¹ Ich meine aber, dass man noch genauer über die Partikularität der Welt nachdenken sollte, die Sappho in ihrer Dichtung evoziert, und über die poetischen Mittel, die sie dabei verwendet. Die Kommentatoren haben oft unterstrichen, dass sich diese Mittel im Prinzip nicht von denjenigen unterscheiden, die die ihr vorausgehenden Lyriker gebraucht haben (wie es vor allem aus den Monodien von Archilochos und Alkman hervorgeht), die aber auch nicht verschieden sind von denjenigen ihrer Zeitgenossen und unmittelbaren Nachfolger. Es ist bezeichnend, dass moderne Gelehrte viel Mühe hatten, und weiterhin haben, zu entscheiden, ob manche anonym tradierte Verse eher ihr zugeschrieben werden müssen oder ihrem Landsmann und Zeitgenossen Alkaios. Es ist ebenfalls bezeichnend, dass man bei anderen Dichtern des 6. Jhs., die jünger als Sappho sind, vor allem Anakreon, Theognis und Ibykos,Variationen einer Fülle von literarischen Verfahren und Formeln findet, die von ihren Vorgängern – vor allem von Sappho – gebraucht wurden. Die Kommentatoren sind sich jedenfalls darüber einig, dass es sich bei dem für die monodische Poesie günstigen und in den Gedichten der männlichen Lyriker umspielten sozialen Milieu generell um die poetisch imaginierte Welt des Symposions³² handelt. Warum wurden Sappho und ihre Dichtung nun von modernen Gelehrten ganz entschieden aus dieser Welt ausgeschlossen? Das Faktum, dass die Diktion, die Vorrangstellung der Thematik sich ständig erneuernder Liebesbeziehungen und die Art, wie die epische und lyrische Tradition wieder aufgenommen und transformiert ist, von dieser Dichterin in einer für die archaische Poesie insgesamt charakteristischen Weise ins Werk gesetzt wurden, hat man nicht ignorieren können. Nichtsdestotrotz besteht der Ausschluss Sapphos aus der Welt des Symposions fort und wird vehement verteidigt. Den Grund dafür hat Gregory Nagy 2007 ohne Umschweife benannt: „[O]nly women of questionable character could be imagined as attending [a symposium]. So a sympotic role for Sappho could not have been performed by Sappho even in the time of Sappho.“³³ Das Vorurteil, das den Ausschluss Sapphos aus dem vorherrschenden und ge Siehe z. B. Parker (1993). Vgl., unter Berufung auf Parker, Greene (1994) 43 Anm. 2: „There is no evidence of a ritual or cultic function for Sappho’s poems or that Sappho’s social role was anything other than that of a poet.“ Allerdings bleiben auch bei diesen und anderen Autoren, die eine kultische Deutung Sapphos oder ihres Werkes ablehnen, biographische Hypothesen in Gestalt von ‚pragmatischen‘ Postulaten (die Dichterin Sappho als Zentrum eines Mädchenkreises oder ausschließlich weiblichen Freundeskreises) meist weiterhin bestimmend.  Zu deren Spezifika vgl. z. B. Murray (2009).  Nagy (2007) 225. Dagegen betont Hutchinson (2001) 146 die Verweise auf „banquets“ (von Frauen) bei Sappho. Vgl. zur Assoziation ihrer Dichtung mit Hetären Schlesier (2013a); (2014) 94– 102.

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meinsamen Kontext der archaischen Dichtung begründet, könnte nicht klarer ausgedrückt werden: Wenn das Werk der Dichterin zum Symposion gehörte, dann müsste ihre poetische Persona nicht eine ‚respektable‘ Frau repräsentieren, sondern eine Hetäre, was Nagy – im Einklang mit der Gesamtheit der heutigen Interpreten – für vollkommen unwahrscheinlich hält, im Unterschied zu nicht wenigen ihrer antiken (und im Übrigen auch vielen ihrer neuzeitlichen) Leser.³⁴ Wenn man sich indessen von einem biographischen Zugang gänzlich distanziert, könnte man Sapphos Gedichte ohne moralisierendes Vorurteil lesen und aufs Neue auf die Suche nach den Besonderheiten der Welt gehen, die in ihnen dargestellt, vorgestellt und reflektiert wird. Nimmt man das fr. 94 als Beispiel, so drängt sich folgende Frage auf: Worin besteht die Eigentümlichkeit der von Sappho in diesem Gedicht geschaffenen Welt?³⁵ Nach allgemeiner Auffassung ist dies eine exklusive „Frauenwelt“.³⁶ Doch hier führt die Dichterin nicht allein einen weiblichen Star, der fortgeht, mit der Sprecherin „Sappho“ zusammen, wobei beide sich gegenseitig anreden, sondern bringt auch eine vielfältige erotische Atmosphäre ins Spiel, die ein ‚Wir‘ umfasst, das hinsichtlich seiner Zugehörigkeit zum weiblichen und männlichen Geschlecht nicht differenziert ist. Die intime Situation, die in ausführlicher Weise das Zentrum des Gedichtes bildet, enthält Bestandteile, die die gesamte antike Tradition als zum Symposion gehörig erachtete:³⁷ Kränze, parfümierte Salben, den sexuellen Genuss in Gemeinschaft. Wenn man diese Situation mit der des oft von den männlichen Lyrikern evozierten Symposions vergleicht, so fehlen nur der Wein und die Knabenliebe. Allerdings finden sich diese beiden Elemente oft ebenso wenig bei Sapphos männlichen Kollegen und werden bei ihnen zuweilen durch eine Situation ersetzt, in der sich das männliche Ich einer selbstbewussten und dieses Ich verunsichernden Hetäre gegenübersieht, oder einer verachteten und dennoch begehrten Prostituierten. Ist es möglich, dass die in Sapphos fr. 94 im Mittelpunkt stehende Frau ebenfalls als eine Hetäre konfiguriert ist? Tatsächlich wird diese Frau durch Aspekte gekenn-

 Zur Deutungsgeschichte der Dichterin Sappho zwischen Antike und Gegenwart siehe Schlesier (2013b). Vgl. auch die These von Peponi (2012) 135 passim, dass Platons Analogisierung von Mimesis und Dichtung mit einer ἑταίρα im 10. Buch der Politeia auf Sappho anspielen könnte.  Zum imaginativen Charakter dieser Welt vgl. z. B. MacLachlan (1997) 179 f.  So Schadewaldt (1936) 369. Sapphos poetische Welt wird generell, und zwar gerade mit Hinweis auf fr. 94, als „female world“ charakterisiert (vgl. z. B. Williamson 1995, 144).  Vgl. Burnett (1983) 297 f. Athenaios (15,674d und 690e) belegt Symposionspraktiken mit fr. 94,15 – 16 und 19 – 20, siehe Schlesier (im Druck). Zur Akzentuierung sympotischer Aspekte in fr. 94 vgl. auch Yatromanolakis (2007) 282: „[T]he song reenacts a ritualized sequence of male symposiastic discursive modalities.“ Dennoch meint er (ohne textlichen Beleg), dass hier ausschließlich „snapshots from a female gathering are envisaged.“

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zeichnet, die für eine Hetäre charakteristisch sind: Sie wird von einer Vielzahl von Personen sehr begehrt, sie schmückt sich auf exquisite Weise, um noch verführerischer zu sein, und sie verschafft Personen, die sie lebhaft begehren und deren Anzahl und Geschlecht unbestimmt bleiben, sexuelle Befriedigung. Ihre koketten zweideutigen Worte verraten ihre aphrodisische sprachliche Meisterschaft, die zwischen dem Wahren oder dem Wahrscheinlichen und der listigen Lüge oder dem Betrug changiert. Dies macht geradezu demonstrativ deutlich, welches Potenzial zur Verunsicherung erotisch-verführerischen sprachlichen Techniken innewohnt. Warum also geht sie fort? Kein Indiz, es sei denn eine vorgefasste Erwartung, lässt vermuten, dass eine schickliche Ehe der Grund dafür ist.³⁸ Eher drängen sich andere Gründe auf: Ist sie eine Sklavin, die gezwungen ist, ihrem Besitzer zu folgen,³⁹ oder ist sie eine unabhängigere Hetäre, die nur vorgibt, gezwungen zu sein, einen Ort zu verlassen, aber sich frei dafür entschieden hat, sich anderswo niederzulassen, wo sie auf vorteilhaftere Weise auf ihre Rechnung zu kommen hofft? Dies bleibt offen. Jedenfalls hatte ihr die Sappho dieses Gedichts in ihrem eigenen Haus eine Umgebung geboten, die der Ausübung ihrer herausragenden erotischen Macht günstig war. Und hatte die sich hier selbst exponierende Dichterin-Persona davon profitieren können, ebenso wie ein unbestimmtes ‚Wir‘, dann würde dies eine erotische Lizenz implizieren, die ganz und gar derjenigen ähnelt, die von den männlichen Dichtern dargestellt wird, die sich poetisch um schöne Knaben bemühen, aber auch um schöne freizügige Frauen, die ebenfalls als umworbene Objekte ständig wechselnder Liebesverhältnisse angeredet werden. Für eine solche erotische Praxis ist in der Tat nichts günstiger als das Symposion und der komos (κῶμος) außerhalb des Hauses, der sich daran anschließt – dies ist jedenfalls das, was die frühgriechischen Dichter einmütig suggeriert haben, und mit ihnen eine lange Reihe künstlerischer und vor allem lyrischer Nachfolger.⁴⁰ Die von Sappho im fr. 94 evozierte Welt scheint also unter den Auspizien von Aphrodite Hetaira zu stehen, der notorischen Beschützerin der Hetären, der Göttin, die (nach Athenaios, 13,571c) ἑταῖροι mit ἑταῖραι (als φίλαι) in einem

 Die vorgefasste dominante Forschungsmeinung, dass der Grund dafür, warum Frauen Sappho ,verlassen‘, generell die Heirat ist, wird manchmal sogar damit gerechtfertigt, dass dies in den Gedichten zwar niemals explizit gesagt wird, aber auch kein anderer Grund dafür angegeben ist (so z. B. Hutchinson 2001, 145).  Signifikanterweise ist fr. 94,5 eine (auf eine subjektive und präsentische Perspektive übertragene) Variation der narrativen Aussage über die (aus Lesbos stammende?) Beutefrau Briseis bei Hom. Il. 1,348: ἣ δ’ ἀέκουσ’ ἅμα τοῖσι γυνὴ κίεν („und widerwillig ging die Frau mit ihnen“, Übers. W. Schadewaldt).  Vgl. dazu und zum Vorhergehenden Schlesier (2014).

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erotisch promisken Kollektiv vereint.Wenn dies so ist, dann wusste Ovid, wovon er sprach, wenn er in seiner Ars amatoria (3,331) die folgende, auf Sappho bezogene rhetorische Frage stellt: quid enim lascivius illa? Doch diese erotisch permissive Welt bietet keine Sicherheit. Sie ist nichts Stabiles, Dauerhaftes,Verlässliches. Die Erfahrungen, die in ihr vermittelt werden, bestehen nicht allein aus Schönem, sondern auch aus Schrecklichem. Leiden, (Ent‐)Täuschungen sind dabei ebenso unvermeidlich wie Veränderungen von Emotionen und Abschiede. Welche Verunsicherungen dabei entstehen und erzeugt werden können, exemplifiziert Sappho in diesem Gedicht durch die Art und Weise der gegenseitigen Anrede: Die Worte der fortgehenden Frau lassen keine Sicherheit darüber zu, ob der Weggang gezwungenermaßen oder aus freien Stücken geschieht und welche Gefühle sie vor der Trennung dominiert hatten. Auch die Tränen verraten darüber nichts Genaues. Ja, es ist nicht einmal sicher, ob sie ihren Weggang selbst bedauert oder nur, dass sie die von ihr angeredete Sappho ‚zurücklässt‘. Sicher ist allein, dass ihre Worte nicht zu erkennen geben, ob sie sich überhaupt noch an ihre Adressatin, „Sappho“, und an die sinnlichen Freuden erinnert, die sie sich und anderen Personen in der gemeinsamen Vergangenheit verschafft hat. Anders ausgedrückt: Sie redet zwar Sappho mit Namen an, aber es ist so, als habe sie sie bereits vergessen, als sei sie schon fort, als sei bei ihr von dem, was war, nur noch die Erinnerung an „schreckliche Dinge“ übrig geblieben. Wäre dies anders, so bräuchte die von ihr angeredete Sappho sie nicht auffordern, sich an sie und an die – gemeinsam mit ihr und anderen – erfahrenen „schönen Dinge“ zu erinnern. Indem Sappho dies aber tut, verunsichert sie die weggehende Frau: Der Zustand des Vergessens und nur noch selektiven Erinnerns, die antizipierte räumliche und zeitliche Ferne, die diese bereits für sich hergestellt hatte, wird der Unsicherheit und Unvollständigkeit überführt, ja, verbal und imaginär aufgehoben. Die Tränen fließen ins Leere. Was Sappho detailreich dagegen setzt, ist die Evokation einer zwar ebenso unvollständigen, aber ebenfalls stattgefundenen, privilegierten Erfahrungsposition. Damit kann zugleich eine von der fortgehenden Frau als notwendig und unlöslich postulierte Verbindung aufgebrochen werden: diejenige zwischen der kommenden räumlichen Entferntheit und einer zwar präsenten, aber nur auf das Schlechte bezogenen Erinnerung an das zeitlich Zurückliegende. Die durch „Sappho“ vervollständigte Erinnerung vermag dann die räumliche wie die zeitliche Ferne zu überbrücken. Und diese Erinnerung trennt die beiden Gesprächspartnerinnen nicht, sondern vereint sie, denn sie betrifft beide als etwas ihnen Gemeinsames: In der auf diese Weise positivierten Erinnerung ist niemand ,zurückgelassen‘, niemand ausgeschlossen und imaginär niemand vom anderen getrennt.

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Die von beiden Dialogpartnerinnen rhetorisch ins Werk gesetzten Verunsicherungsstrategien kulminieren nun zwar in einem Plädoyer für eine Konzentration auf eine das vergangene „Schöne“ wie einen Schatz festhaltende Erinnerung, bei dem „Sappho“ das letzte Wort behält und nicht die von ihr angeredete Frau. Diese bleibt am Ende stumm, eine Replik von ihr ist nicht überliefert. Der verbal ausgetragene Streit um die ‚richtige‘ oder zumindest umfassendere Interpretation der zu erinnernden Erfahrungen scheint durch die Autorität der dichterischen Stimme entschieden. Sicherheit über die spezifische Qualität der bei den evozierten vergangenen Erfahrungen jeweils ins Spiel gebrachten Emotionen wird dadurch jedoch nicht erzielt. Ungewiss bleibt nicht nur, in welcher Weise und in welchen Konstellationen Sexualität daran beteiligt war, sondern auch und nicht zuletzt, ob es dabei um Liebe, gar eine reziproke, ging. Oder hat das Gedicht vielleicht in seiner heute verlorenen, vollständigen Form diese Ungewissheiten und Unsicherheiten ausgeräumt? Angesichts der raffinierten (und bisher meist übersehenen) rhetorischen Strategien, die das Gedicht in seinem erhaltenen Zustand charakterisieren, spricht wenig dafür. Es sieht vielmehr so aus, als habe Sappho anhand der hier vorgeführten Zwiesprache demonstriert, welches poetische Potenzial sprachlichen Formen aphrodisischer List und der gerade dadurch erzeugten Verführungen und Verunsicherungen innewohnen kann. Das Szenario, das sie dafür wählt, ist die dramatische Peripetie eines Abschieds. Eben diesen Moment aber inszeniert sie als einen rhetorischen Wettkampf, aus dem die Dichterin-Persona als unanfechtbare Meisterin hervorgeht: Es gelingt Sappho nicht allein, den Verunsicherungsversuch der fortgehenden Frau als einen eminent kunstvollen darzustellen, sondern auch zu zeigen, dass die Dichterin-Persona diesen Versuch trotz aller dabei eingesetzten rhetorischen Raffinesse durchschaut und ihm eine noch größere sprachliche Kraft entgegensetzen kann. Sie schlägt die Kontrahentin mit ihren eigenen Waffen und entzieht dem von jener sprachlich erzeugten Verunsicherungseffekt den Boden, indem sie diesen Effekt selbst gewissermaßen verunsichert. Doch die Kontrahentin ist zugleich die weiterhin Umworbene. So entfaltet die Dichterin-Persona die Möglichkeit einer positiven Sicherheit – doch diese ist allein auf die sprachlich konfigurierte Erinnerung an etwas nun Abgeschlossenes, aber konkret „Schönes“ beschränkt, während das abstrakte „Schreckliche“ weiterwirken kann. Eben dadurch aber wird deutlich: Über die Liebe selbst gab es und gibt es keine positive Sicherheit und wird es keine geben können, jedenfalls keine eindeutige, dauerhafte, verlässliche – vielleicht besteht darin die Quintessenz dieses Gedichts, die auch in vielen anderen poetischen Kompositionen der Sappho zum Ausdruck zu kommen scheint. Die Verwendung der Anreden in diesem Gedicht eröffnet jedoch noch eine weitere Perspektive. Es ist bemerkenswert, dass hier (jedenfalls im erhaltenen

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Text) keine einzige Gottheit erwähnt wird. Auch fehlt jedes Indiz dafür, dass ein mythisches Exempel oder eine Gnome in dieses Gedicht integriert war. Das ist umso auffälliger, als Sappho sonst häufig auf epische Exempel zurückgreift, Allgemeingültigkeit beanspruchende Aussagen einfügt und Gottheiten anredet, zitiert oder ihre Wirkung beschreibt. Dazu kommt: Wenn in Sapphos Gedichten eine dialogische Situation entworfen wird, an der sowohl die anredende als auch die adressierte Person beteiligt sind, so sind sonst fast nie (eine weitere Ausnahme ist nur fr. 137) beide Dialogpartner sterbliche Menschen. In solchen dialogischen Gedichten ist gewöhnlich eine der beiden Personen, wie hier in fr. 94, die Dichterin-Persona, die angeredet und als Anredende präsentiert wird.⁴¹ Die andere am Dialog aktiv beteiligte Person ist jedoch in Sapphos überliefertem Werk sonst in der Regel eine Göttin, und zwar Aphrodite. Dass dies in fr. 94 anders ist, signalisiert, dass die (hier ausnahmsweise menschliche) Dialogpartnerin der „Sappho“ im Augenblick ihres Abschieds eine – rhetorische – Stellung einnimmt, die in Sapphos Gedichten sonst eher Aphrodite zukommt. Aphrodite muss also in diesem Gedicht nicht genannt werden, denn sie wird durch eine Menschenfrau vertreten. Dies wird hier noch dadurch unterstrichen, dass die Dialogpartnerin in der Vergangenheit auch andere – nicht rhetorische – Funktionen übernommen hat, die am erotischen Modell der Aphrodite orientiert sind. Und in der plastischen Darstellung eben dieser Funktionen besteht das Erinnerungsprogramm, das „Sappho“ für die fortgehende Frau entwirft. Die Frau soll sich an die aphrodisische Rolle erinnern, die sie in der Vergangenheit für ihre Partner gespielt hat. Zentraler Gegenstand der Erinnerung ist ein erotisches, kommunikatives Ambiente, in dem Göttliches und Menschliches ununterscheidbar werden. Auf diese Weise tritt die programmatische Erinnerung an die Stelle eines mythischen Exempels. Während die Kontrolle über das verbindlich zu Erinnernde jedoch traditionell der Muse zukommt, wird deren Rolle hier von der Dichterin-Persona übernommen. So kann, ja muss die Nennung der Muse fehlen. Damit aber ist die Möglichkeit einer klaren Trennung zwischen der Muse und der Dichterin-Persona ebenso unsicher geworden wie die zwischen der Liebesgöttin und einer ihrem Beispiel folgenden Menschenfrau. Die neue Sicherheit, die dadurch erreicht wird, ist nun eine exklusiv poetische: Allein die Autorität des Ichs der Dichterin-Persona verbürgt die Gültigkeit der besonderen Erinnerung wie die der Möglichkeit, dass sterbliche Frauen Göttinnen gleichen.⁴² Und dies ist nichts

 Siehe vor allem fr. 1, wo die poetische Persona ebenfalls, wie in fr. 94, als „Sappho“ adressiert wird.  Vgl. aber fr. 96,21– 23, wo dies explizit – und zwar in gnomischer Form – problematisierend reflektiert wird.

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Allgemeingültiges, sondern etwas ganz Spezifisches: Es betrifft nur „Sappho“ und – vermittelt durch sie – andere privilegierte Menschenfrauen.⁴³

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 Eine kürzere und frühere, französische Version dieses Aufsatzes wurde im November 2012 auf der Tagung „Faire œuvre“ zu Ehren von Philippe Rousseau an der Université de Lille III vorgetragen. Besonders dankbar bin ich dafür, dass ich seit März 2012 mit Jean Bollack, der Anfang Dezember 2012 starb, über viele Aspekte von Sapphos poetischem Werk und speziell auch über das fr. 94 intensiv diskutieren konnte. Von den Diskussionen der Langversion des Aufsatzes am Institut für Klassische Philologie der LMU München (April 2014) und einer Kurzversion bei der Tagung „Sappho in the Third Millenium“ in Augst/Basel (Juni 2014) habe ich ebenfalls profitieren können. Therese Fuhrer und Martin Vöhler möchte ich herzlich dafür danken, dass sie mir ermöglicht haben, zur Analyse rhetorischer Verunsicherungsstrategien mit diesem Aufsatz über Sappho beizutragen.

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Index nominum et rerum admiratio 110, 116 – 118, 120 Adorno, Theodor W. 52 Adressat 1, 11, 15 – 18, 46, 50, 65 – 67, 74, 75, 87, 89, 89 Anm. 9, 90, 90 Anm. 11, 91 – 94, 97 – 99, 104 – 106, 112, 113, 194, 240 – 249, 254 – 256, 274, 299, 300, 316 – Adressatenposition 90 – 97, 105, 106, 240 Affekt (s. auch Emotion, Pathos-Komplex) 65, 70, 211, 221, 254, 262, 263 – Affekterregung 19, 64, 65, 189, 252 – affektive Beeinflussung 128, 129, 138, 144 – affektive Bindung 127 – 129, 138 – Affektstrategien 188 – Affektübertragung 234 – negative Affekte 188 – 190, 202, 203, 252 – positive Affekte 188, 190 Affirmation 1, 87, 106, 113, 129 Aggressivität 243, 249, 254, 256 Agnoli, Johannes 16 Agon (s. auch Wettkampf) 50, 92, 263 – 267, 271 – 274 AIDA-Formel 223 Anm. 35 Alexander-Rhetorik 261, 262, 265, 271 Ambiguitätsintoleranz 13 Ambrosius 69, 70 Amphibolie 50 Anm. 183, 235 Anm. 67 amplificatio 127 – 133, 137, 140, 144, 234 Angriff 15, 191, 199, 202, 245, 248 Angst 61 – 83 – Angst-Rhetorik 75 Anrede 298 – 303, 314, 316 – 318 Antinomie 152, 164, 180 – Machtantinomie 152, 154, 157, 182 – Praxisantinomie 152, 153, 156, 157, 170, 181, 182 – Ungewissheitsantinomie 153, 156, 157, 161, 164, 182 Anxiety 61 – 66 Aphrodite 300 – 306, 312, 315, 318 Aporie 29, 68, 114, 119, 120, 181, 290 Äquilibrationstendenz 1, 189 Arendt, Hannah 24, 26 Aristophanes 259, 274

Asymmetrie 50, 74, 133, 141, 144, 147, 158, 162, 174, 177, 302, 311 Auctor ad Herennium 50, 213 Aufklärung 279, 284, 285, 290, 291 – Aufklärungshandlung 277, 279, 290, 291 Augustin 63 – 70 Autoreferentialität 299, 301 Autorität 301, 306, 307, 317, 318 Baudrillard, Jean 46 Beunruhigung 279, 291 Bewunderung 117 – 120 Biographie 299 Blindheit 278, 285, 292 Chaos 7, 9, 11, 50 Cicero 24, 26, 50 concessio 251 congeries (s. auch Häufung) 129, 130, 234 Dekonstruktion 6, 18, 30, 33 – 35, 38, 41, 43, 46, 48 Derrida, Jacques 30 – 34, 38, 43 – 48, 51 Descartes, René 20 Desiderium 12, 14 Desillusionierung 18, 110, 120 Desorientierung 110 – 113, 118 Destabilisierung 21, 68, 154, 241, 255 Destruktion/destruktive Strategien 34, 87, 95, 105, 126, 133, 190 – 192, 202, 241, 244 Dezision 41, 42, 51, 53 – Dezisionssetting 25, 240, 256 Dialektik 142, 143 Dialog 92, 104, 181, 299, 302, 306, 317, 318 – fiktiver Dialog 80 – sokratischer Dialog 147 – 161, 167, 168, 174 – 177, 180 – 182 Dilemma 228, 229 Dissonanz, kognitive 12, 51 Dodds, Eric R. 61 – 63 – Dodds hypothesis 62 Dogma 12 – 14, 17, 19, 27, 28, 50, 51

324

Index nominum et rerum

Donat 213 Doxa 94, 95, 104 Dramatik 303 Drohung 74, 112, 245, 249 Dubium (s. auch Zweifel) 11, 67, 90, 90 Anm. 11, 240, 248, 255 Elision (affektiver Charakter d. E.) 221, 221 Anm. 30 Emotion (s. auch Affekt, Pathos-Komplex) 63 Anm. 9, 64, 114, 116, 255, 291, 301, 316 – Emotionalisierung 114 – 116, 120, 190 Anm. 17, 203 – Emotionalität 17 Anm. 52, 207 Anm. 1, 210 Anm. 10 – Emotionspotenzial 190, 190 Anm. 17, 191, 198 – 203, 241 – 244 – negative Emotionen 63, 74, 189, 198, 247 – positive Emotionen 198, 201 – 203 Empörung 247 Entscheidung (s. auch Dezision) 24, 28, 47, 49, 52, 53, 63 Anm. 9, 265 – Entscheidungssituation 65, 90 Entsetzen 277, 279, 288 – 291 Epitrope (s. auch permissio) 245 Erfahrung 298, 308, 310, 312, 316, 317 Erinnerung 298, 301, 303, 308, 309, 311, 316 – 318 Erkenntnis 291 Erotik 310 – 318 Erschütterung 279, 288 Erwartungshaltung 95 Anm. 29, 133, 208, 221 Euripides 263 evidentia 252, 252 Anm. 47 Exklusivität 310, 314, 318 Feindbild 252, 253 Festinger, Leon 12 Furcht 63 – 65, 68, 72, 75 – 80, 96, 103, 242 – 244, 252, 255, 279, 282, 286 – 292 – Furchtappell 74, 75, 234, 243, 255 Gadamer, Hans-Georg 26, 37, 165, 173 Generalrhetorizität 6 Gerücht 21 – 23

Gespräch 165, 166, 182 – Gesprächsführungskompetenz 148 – 151, 154, 176, 182 – Lehrgespräch 79, 147, 148, 154, 157 – 159, 164, 167, 176 – 183 – Lehr-Lerngespräch 150 – 152, 159 – 166, 176, 177, 181 – Unterrichtsgespräch 147 – 183 Gewinn (kerdos) 262 – 268 Gewissheit (s. auch Sicherheit, Zertum) 1, 11 – 17, 29, 37, 46, 51, 67, 80, 90, 94, 96, 98, 99, 106, 153, 240, 248, 287, 289, 291 Gewohnheit 262 Goffman, Erving 8 Grice, Herbert P. 12, 13, 21, 38 Habermas, Jürgen 26, 37, 47, 48, 51, 163 Handeln 277, 278, 281, 283, 292, 293 Handlungsmotivation 278 Häufung (s. auch congeries) 127 – 130, 134, 137 – 144 Hetäre 313 – 315 Hilflosigkeit 283, 285, 287, 291 Hoffnung 63 Anm. 9, 64, 67, 72, 74, 245, 247, 248, 251, 291 Homöostase 12, 28, 189 Identität 214, 233, 285, 289, 291 indignatio 247, 252, 255 Infestation 15 – 17, 43, 46, 51, 52 Informationsvergabe 224, 226, 234 Inklusivität 302, 307 Anm. 20 Intensivierung 128 Interlokutor 78, 80, 81, 92 Intrige 209 – 211, 215 – 217, 223, 224, 227, 233 – 235 Invektive 247 Inversion 13 – 21, 66, 96 Inzertum 67, 80 Ironie 18, 158, 190 – tragische Ironie 281, 283 Irritation 16, 18, 81, 110, 114 – 120, 140, 144, 154, 158, 189, 189 Anm. 14, 190, 211, 271 Johnstone, Henry W. Jr. 38 – 42, 47, 51

Index nominum et rerum

Kalkül 25, 48 – Produktionskalkül 48, 52 – rhetorisches Kalkül 25, 48, 112, 254 Kierkegaard, Søren 2 Kompetenz 131, 234 Konstantin 61, 62 Konstruktion, konstruktive Strategien 87, 106, 126, 160 Konvergenz 90, 90 Anm. 10, 92 Kooperationsprinzip 20, 21, 235 Lacan, Jacques 46 Lehre 165, 166, 182 – Lehrer-Schüler-Beziehung 92, 105, 147, 176, 177 – Lehrgespräch s. Gespräch Leo, Friedrich 239 Liebe 298, 302, 305, 306, 308 Anm. 22, 312 – 318 List 209, 305, 305 Anm. 15, 306, 312, 315, 317 Lucilius 89 Luhmann, Niklas 7, 9 Lyrik 313 Mahnung 65, 245 – Mahnrede 65, 67, 73, 75, 81 de Man, Paul 43 Manipulation 20, 22, 189 Anm. 13, 209, 213, 233, 234 Marc Aurel 61, 62 Mehrfachadressierung 158, 193, 194, 202 Metabolie/Metabole (s. auch Wechsel) 14, 73, 240, 244 Muse 300, 301, 318 Namen 300, 300 Anm. 7, 301, 302, 312, 316 Negentropie 10 – 13, 50 Nietzsche, Friedrich 6, 31 Objektivierung 301 Orator 15 – 17, 24, 50, 64, 65, 74, 80 – 93, 97, 105, 240, 241, 245, 248, 250, 254 – 256 – Oratorposition 90, 92, 97, 104, 106, 240 Ordnung 8 – 16, 50 Ovid 316

325

Pädagogik 100, 121, 153, 159, 161 Paradoxie/Paradoxalität 94, 152, 220, 253 – Interaktionsparadoxie 148, 152 – 157, 161 – 165, 168, 176, 180 – 183 Paradoxon 67, 88, 94 – 106, 247, 253 Paränese 81, 87, 88, 105, 106 Parodie 260, 264 Pathos-Komplex (s. auch Affekt, Emotion) 65, 66, 68 Performanz 29 Anm. 99, 40, 41 permissio (s. auch epitrope) 245 Persuasion 1, 15, 41, 82, 89, 90 Anm. 10/11, 93, 105, 187, 242 – 244, 249 – Persuasionspotenzial 94, 191 – Persuasionsprozess 15, 65, 66, 69, 74, 87, 88, 90, 106, 240 Platon 8, 27, 39, 50, 109 – 111, 114, 118 – 121, 125, 144, 157 – 161, 176 – 183 Plausibilität (eikos) 52, 260 – 265, 271, 273, 293 Plautus 211 – 214 Poetik 260, 273, 298 – 303, 311 – 318 – poetisches Du 299 – 302 – poetisches Ich 298 – 302, 312 Anm. 30, 314, 318 poetische Persona 300 – 302, 305 Anm. 15, 307, 312 – 318 praeparatio 120, 121 Provokation 110, 112, 119, 285 Psychagogie 8 Publikum 50, 65 – 69, 74, 81, 91, 208, 209, 260 – 267, 273, 274 Pyrrhon 27 Quintilian 50, 128, 129 Raum 299, 310 (An‐)Redeform 297, 301, 303 repetitio (s. auch Wiederholung) 129, 234 Responsion 297 rhetoric 30, 35 – 44, 48, 50 rhetorische Frage 201, 202, 247, 251 rhetorischer Trick 272 rhetorisches Ziel 81 Rorty, Richard 35, 36, 39, 42, 47, 51 Sappho 297 – 319

326

Index nominum et rerum

Scheinwelt 209, 210, 223, 227 Schwanken 280, 281, 286 Selbstbewusstsein 131, 134, 135, 252 Selbstbild 126, 131, 278 Selbstgewissheit 279, 287 – 292 Selbstsicherheit 231, 244 Selbstüberschätzung 278, 292 Selbstvertrauen 231 Seneca 87 – 92, 239 Setting – Dezisionssetting s. Dezision – epistolographisches Setting 89, 94 – homiletisches Setting 64 – 70, 83 – kommunikatives Setting 38, 42, 49 – philosophisches Setting 27, 38, 42, 49 – rhetorisches Setting 51 Anm. 187, 52, 70, 90, 91, 241, 254 Sextus Empiricus 12, 17, 27 – 29 Sexualität 311, 317 Sicherheit (s. auch Gewissheit, Zertum) 5, 12 – 16, 20, 50, 66, 210, 233, 281, 282, 287, 293, 316 – 318 Skepsis 27 – 29, 34, 38 Anm. 133 Sokratische Methode 158, 159, 164, 179 Sophokles 277 – 293 Spott 290 Sprachlosigkeit 113, 113 Anm. 21 Sprecherwechsel 297 Stabilität 91 Staunen 115 – 120, 126 Subjekt, grammatisches 302 Subversion 16, 19 Symposion 313 – 315 Taktik 210, 215, 217, 223, 226, 248, 249 Terenz 211 – 213 Themenverschiebung 198 Themenwechsel 221, 226 Thukydides 263 Tod 302 – 306 Trialogizität 157, 158, 180, 193 Überzeugung 291, 292 Ungewissheit (s. auch Unsicherheit) 13, 28, 181, 285, 287, 300, 317 Unordnung 8 – 13, 18

Unsicherheit (s. auch Ungewissheit) 5, 13, 28, 214, 250, 281, 297, 316, 317 Unwissenheit 284, 292 Anm. 26 Verführung 311, 312 Anm. 27, 317 Vergessen 308, 311, 316 Vergewisserung 279 Verlässlichkeit 316, 317 Versicherung 15, 51, 88 Vertrauen 7, 46, 51, 133, 233, 246, 247, 255 Verweigerung 160, 181, 190 Wahrheit 305 Wahrnehmung 215, 230 – 234, 279 Wahrscheinlichkeit 52, 260, 262, 265, 305 Wechsel (s. auch Metabolie) 1, 14 – 17, 50, 51, 66, 67, 89 – 92, 240, 242, 251, 256, 291 – mentaler Wechsel/Meinungswechsel 15, 17, 51, 89, 90, 242, 251, 256 – Positionswechsel 1, 66, 67, 90, 92, 240, 291 – Wechselerzeugung 14 – 16, 50, 51 Wechselseitigkeit 302 Wertesystem 67, 93, 102, 266 Wettkampf (s. auch Agon) 307, 317 Widerspruch 98, 104, 234, 273 Widerstand 1, 14, 93, 105, 143, 248, 249 – situativer Widerstand 242, 242 Anm. 13, 249 Wiederholung (s. auch repetitio) 127 – 144, 220, 221, 225 Wirklichkeit 215, 233, 259, 260 Wissen 126, 189, 233 – Wissensanspruch 119, 131 Xenophon 264 Zeit 299 Zertum (s. auch Gewissheit, Sicherheit) 11 – 17, 46, 66 – 68, 74, 79, 80, 90, 96, 240, 244, 247 – 250, 255, 291, 292 Zorn 278, 284 – 286, 290 – 292 Zweideutigkeit 305, 315 Zweifel (s. auch Dubium) 1, 11 – 20, 28 – 30, 34, 46, 47, 51, 66, 90, 92, 99, 126, 131, 189, 210, 240, 248, 250, 285, 289, 290, 291

Index locorum Bibelstellen Ps 19 [18 LXX],10 Sir [Ecli] 5,8 Mt 10,28 Röm 8,15 1 Kor 1,23 6,15 Eph 4,22 4,24 5,23 1 Joh 4,18

75 72 79 75 67 76 63 63 76 75

Aischylos Ag. 1040 f.

246

Apollodoros 2,4,10 2,6,3 2,7,7 2,7,8

248 246 248 246

259 518 – 526 889 – 1108 1115 f. Vesp. 1046 – 1048 Aristoteles metaph. A,2,982b12 ff. poet. 1450b,8 – 10 1452a24 – 26 1452a32 f. rhet. 1,3 1357a7 – 22 1368a10 – 15 1378a15 f. 1395b20 ff. 1403a16 – 1403b3 1413b21 – 1414a7 Soph. el. 166a

Apuleius met. 5,13 11,16

212 212

Archilochos fr. 74 fr. 196a,52

117 311

Aristophanes Acharn. 703 – 709 Av. 44

Equ. 758 f. Nub.

270 f. 270

Athenaios 13,571c 15,674d 15,690e Augustinus civ. 19,16 21,24 conf. 6,18 8,28

270 259 – 274 268 263 265 – 273 268 270 263

118 24 291 291 50 138 128 255 138 128 129 235 50

306, 315 314 314

80 76 72 72

328

Index locorum

div. qu. 53,2 33 doctr. chr. 2,54 4 4,3 en. Ps. 102,16 ep. 140,53 140,58 265,7 ep. Io. tr.

80 76 66 82 66 78 72 76 76 72 78

Io ev. tr.

5,78 – 80 5,84 5,90 f. inv. 1,8 parad. 4 42 – 52 Tusc. 4,66

93 97 93 24, 49, 50 94 97 210

Diodorus Siculus 4,31

246

Diogenes Laertios 6,20 9,63

121 39

78 lib. arb. 1,14 f. s. 20,4 f. 82,14 87,11 161 224 232 232,8 302 339 349,7 s. Frangip. 2,9 vera rel. 58 Cicero de orat. 1,138 – 141 2,178 2,209 2,292 3,205 fin. 2,1 4,20 – 23 4,72 f.

80 72 72 72 75 – 81 72 70 70 – 75 80 72, 82 f. 77 82 80

25 63 242 234 244 134 93 93

Donat ad Ter. Ad. 239 ad Ter. Hec. 108

213 214

Euripides Bacch. 118, 306 Tro. 948 – 950

273

Gorgias Über das Nichtseiende 260 Herodoros FGrH 31 F20

248

Herodot 1,29 ff. 7,176,3

117 272

Hesiod erg. 289 theog. 109 – 201

298 265 267

Index locorum

834 Hesychius β 749 Homer hymn. 5,88 Il. 1,348 5,601 24,629 – 633 Od. 11,556 19,229 – 231 Ibykos fr. 300 PMG

117

Pacuvius trag. 150

212

Pindar Pyth. 4 10

298 117

272

312 134 315 117 117 281, 298 293 117

Platon apol.

17b – 18a 20d – 24b 28a – 34d 36b – 37a 39c – d Charm.

272 162d – 173d Euthyd.

Isokrates or. 5,69

133

Lukian Merc. Cond. 35

284e 291b – c Euthyphr.

311

Menander Dysk. 459 – 465

220

2c6 – 9d2 – 3 10e9 – 11b4 11b 11b2 – d2 14a 16a2 Gorg.

Nemesios von Emesa De natura hominis 210 Ovid ars 3, 331 epist. 9 fast. 2,319 – 326 her. 9,11 ff.

329

316 246 246

454 d – e 462b – 465a 473a 480c 482e 485e – 527d Hipp. mai. 281c – 292e Hipp. min.

246 363a – 365c

109, 110, 111, 113, 121, 125, 127, 139 112 111 – 114 111 – 114 111 110, 112 125 114 66, 125 110 114 114, 125, 140 – 144 141 142 113 143 111, 114 141 109, 113, 125, 127 128 113 – 114 109 109 115 110 – 114 135 125, 126, 134 – 140, 144 134 – 135

330

Index locorum

365d – 369c 373 b3 – 4 Ion

530b – 532b 533e – 536b Krat.

134 – 140 188 125, 131 – 133, 135, 142, 144 131 f. 115 162

Krit. 125 Lach. 187e – 188c 194a7 – b4 194a – b 194b – 199a 195a Lys. 210e 216c Men.

75c–80b 79e – 84c 80b Mx. 242a Phaid. 70c4 – 72d10 89d – e 118a Phaidr. 230c 250e 261b, d – e 271c 272d – 273a 274b 275c5 – 277a6 Phil. 21d 36e

125 116 126 113 143 – 144 109 125, 179 114 110 2, 66, 125, 126, 159, 178, 180 180 110 115 133 110, 117, 125 139 116 110, 116 8 109 119 26 50 261 111 157 f. 113 118

Prot. 311c1 – 312a – e 321c 361a rep. 1,337a 1,337a2 – 338a3 1,337a4 ff. 1,347a7 – 348b7 1,348a7–b4 3,391e 4,424b – 425b 7,514 – 523d 7,539c – d 10 symp. 173b 201d – 206b 212d – 221d. Tht. 146a 148d4 – 150b4 149a 150b5 – 151d3 151a5 ff. 155d 162c – d 167e6 – 168a6 172d 200a11 – c4

125 144 110 109 120 f., 162 110, 114 160 159 158 179 273 266 109 – 119 121 314 117 116 120 109 – 119 159, 161, 166, 178 113 178 109 159 161 118 118 115 112 143

Plautus Amph. 458 Asin. 493 – 495 Epid. 544 f. Men.

216 232 216 232 f. 212 214

Index locorum

Merc. 130 – 133 341 – 349 403 – 405 Mil.

290 – 301 305 – 312 331 – 343 375 – 379 407 514 – 520 Most.

7 427 f. 450 – 528

7,4 – 6 214 220 211 f. 213 207, 211, 215, 226 – 236 227 – 229 229 f. 230 f. 231 f. 232 232 207, 211, 215, 217 – 226, 234 221 225 217 – 226

Plinius maior nat. 20,252

272

Properz 3,11,17 4,9,45

246 246

Quintilian inst. 2,14,5 2,17,37 3,4,8 3,5,5 – 16 3,7,3 4,1,41 6,2,24 8,3,88 8,4,3 8,4,26 9,2,22 – 24 9,3,28

1 1 11 24 11 95 129 129 128 129 95 129

Rhetorica ad Alexandrum 262, 263, 265, 271, 274

259, 261 – 265

Rhetorica ad Herennium 1,5 95 2,31 213 f. 4,28 129 Sappho fr. 1 1,2 3 21 – 24a 26 27 30 31 41 43 45 f. 48 f. 55 60 62 f. 65 94 96,21 – 23 102 104a 108 111 – 113 115 – 118 121 126 129a/b 133b 137 138 140 155 160 f.

302, 318 312 300 300 – 301 300 301 300 300 f. 300 300 300 300 300 300 300 301 297, 300 – 319 318 300 300 300 300 300 300 300 300 301 300, 318 300 300 300 300

Seneca Ag. 108 – 309 586 – 588

241, 249 – 255 249 – 256 253

331

332

Index locorum

dial. 7,17 f. epist. 1 1,2 1,4 f. 2 2,3 2,4 – 6 4 4,1 4,4 4,10 f. 5 5,1 5,2 – 6 8,1 8,5 12,6 13,8 14,17 f. 16,7 17 18,6 – 13 20,7 – 13 21,7 25,4 27,9 80,5 Herc.f. 298 313 – 327 344 f. 359 – 515 Phaedr. 129 – 273 Tro. 301 – 352 533 – 704 Sextus Empiricus 1,1,1 – 1,4,10 1,6,12 1,7,13 1,11,23 f.

1,12,26 f. 104 f. 87 – 106 87 92 88, 96, 98 87 101 88, 93, 96 f., 100 f. 87 92 93 88, 97, 101, 104 104 92 88 93 88 93 93 88 88 87 f., 93, 100 – 104 88 88 88 88 88 96 239 – 249, 254 f. 248 248 241 241 – 249 241, 256 241 241, 256 29 28 28 30

28

Sophokles Oid. K. 298 Oid. T. 1 – 150 22 – 30 31 – 51 48 51 86 97 105 118 – 135 151 – 215 216 – 483 485 513 – 862 618 – 621 695 f. 786 827 863 – 910 864 f. 911 – 1085 922 f. 1086 – 1222 1200 Trach. 248 – 257 281 f.

280 – 283 280, 286, 293 281 284 293 282 282 290 282 f. 283, 287 283 – 286 285, 290 286 f. 293 293 285 289 288 288 288 f. 293 289 293 246 248

Statius Theb. 281 Terenz Ad. 239 – 242 Hec. 108

213 214

Theokrit Id. 29,32

306

Thukydides 1,70

270

Index locorum

2,40,2 2,63,3 5,87 7,77,7 Xenophanes DK 21 B 11

270 271 270 114

273

Xenophon apol. 1 Mem. 2,1,21 – 34

111 264 f.

333