Interventionen im Gespräch: Neue Ansätze der Sprechwissenschaft [Reprint 2014 ed.] 9783110918618, 9783484304598

The study examines the influence of vocal and body-language features on the success of interventions in conversation. Th

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Interventionen im Gespräch: Neue Ansätze der Sprechwissenschaft [Reprint 2014 ed.]
 9783110918618, 9783484304598

Table of contents :
1. Einleitung
1.1. Problemstellung
1.2. Aufbau und Ziel der Arbeit
2. Zum Forschungsstand
2.1. Gesprächsforschung
2.1.1. Literaturdiskussion
2.2. Nonverbale Kommunikation
2.2.1. Literaturdiskussion
2.3. Gender Studies
2.3.1. Literaturdiskussion
3. Untersuchung zum Anteil para- und extralingualer Parameter am Gelingen von Interventionen in Gesprächen
3.1. Materialbasis
3.2. Untersuchungsdesign
3.2.1. Transkription der Daten
3.2.2. Auswahl der paralingualen Merkmale
3.2.3. Auswahl der extralingualen Merkmale
3.2.4. Markierung und Klassifizierung der Interventionen
3.2.5. Legende
3.2.6. Skalierung
3.2.7. Akustische Daten
3.3. Ergebnisse: Korpus „Tiere“
3.3.1. Gesprächsbeschreibung
3.3.2. Quantitative Datenanalyse
3.3.3. Merkmalsanalyse
3.3.4. Qualitative Analyse nach Skalierung der Daten (Merkmalsauswertung)
3.4. Ergebnisse: Korpus „Organe“
3.4.1. Gesprächsbeschreibung
3.4.2. Quantitative Datenanalyse
3.4.3. Qualitative Analyse nach Skalierung der Daten (Merkmalsauswertung)
3.4.4. Analyse der akustischen Daten
3.5. Ergebnisse: Korpus „Geschlecht“
3.5.1. Gesprächsbeschreibung
3.5.2. Quantitative Datenanalyse
3.5.3. Qualitative Analyse nach Skalierung der Daten (Merkmalsauswertung)
4. Ergebnisdiskussion
4.1. Gesprächsforschung
4.1.1. Transkriptionssystem
4.1.2. Gesprächsanalyse in der sprechwissenschaftlichen Forschung
4.2. Nonverbale Kommunikation
4.2.1. Reziprok-dialogischer Ansatz
4.2.2. Skalierung von Sprechausdrucksmerkmalen
4.2.3. Anteil der para- und extralingualen Sprechausdrucksmerkmale am Erfolg von Interventionen
4.3. Gender Studies
4.3.1. Organisation des Tum-Wechsels
4.3.2. Anteil der Sprechausdrucksmerkmale am Tum-Wechsel
5. Konsequenzen für die sprechwissenschaftliche Gesprächsforschung
Literaturverzeichnis
Sachregister

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Linguistische Arbeiten

459

Herausgegeben von Hans Altmann, Peter Blumenthal, Hans Jürgen Heringer, Ingo Plag, Heinz Vater und Richard Wiese

Christa M. Heilmann

Interventionen im Gespräch Neue Ansätze der Sprechwissenschaft

Max Niemeyer Verlag Tübingen 2002

Meinem Bruder

gewidmet

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Heilmann, Christa M.: Interventionen im Gespräch : neue Ansätze der Sprachwissenschaft / Christa M. Heilmann. - Tübingen : Niemeyer, 2002 (Linguistische Arbeiten ; 459) Zugl. Kurzfassung von: Jena, Univ., Habil.-Schr., 2000 u.d.T.: Heilmann, Christa M.: Neue Ansätze sprechwissenschaftlicher Gesprächsforschung ISBN 3-484-30459-6

ISSN 0344-6727

© Max Niemeyer Verlag G m b H , Tübingen 2002 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: Weihert-Druck G m b H , Darmstadt Einband: Industriebuchbinderei Nadele, Nehren

Vorwort

Die vorliegende Publikation ist eine überarbeitete und gekürzte Version meiner Habilitationsschrift mit dem Titel „Neue Ansätze sprechwissenschaftlicher Gesprächsforschung", die ich als Externe an der Philosophischen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena eingereicht habe. Mein besonderer Dank gilt daher der Habilitationskommission dieser Fakultät, daß sie mich als externe Habilitantin angenommen hat, und insbesondere Herrn Prof. Dr. Gottfried Meinhold, der mit seinem Interesse für die Thematik und seinen kritischen Anmerkungen den Fortgang der Arbeit wesentlich unterstützt und das Ergebnis begutachtet hat. Dank sagen möchte ich auch Frau Prof. Dr. Rosemarie Schwarz (Universität Jena) und Herrn Prof. Dr. Carl Ludwig Naumann (Universität Hannover), die bereit waren, sich der Mühe eines Gutachtens zu unterziehen. Bedanken möchte ich mich bei dem Institut für Germanistische Sprachwissenschaft der Philipps-Universität Marburg und seinem damaligen geschäftsführenden Direktor, Herrn Prof. Dr. Wolfgang Brandt, die das Entstehen dieser Arbeit freundlich gefordert haben, und bei Prof. Dr. Richard Wiese, der durch seine unterstützende Begutachtung den Verlag fur die Arbeit interessieren konnte. Ein Text wie der vorliegende, geschrieben über mehrere Jahre, kann nicht entstehen ohne den konkreten Beistand anderer Menschen. Ganz spezifische Hilfe wurde mir zuteil durch meine ehemaligen Studentinnen Annette Foshag und Katja Franz, welche als MitHörerinnen und Mit-Seherinnen durch ihre fachliche Kompetenz die Qualität der Transkripte ermöglichten. Meinem Bruder, Herrn Dr. Peter Böhme, danke ich besonders fur seine geduldige Hilfestellung in allen Fragen der statistischen Aufbereitung des Materials und Frau Dr. Raphaela Lauf für die Einführung in die Geheimnisse des Spektralanalyse-Computers. Frau Lydia Tschakert, Frau Wiebke Göbel und Frau Ursula Heilmann halfen mir bei der Fehlersuche, Frau Kerstin Pohl beim Erstellen des Sachregisters. Bei ihnen möchte ich mich ebenso bedanken wie beim Niemeyer-Verlag für die freundliche Aufnahme dieses Textes in sein Verlagsprogramm und Frau Carmen Luna, welche die Gestaltung der Arbeit beharrlich begleitete. Neben diesen konkret zu benennenden Unterstützungen haben viele Gespräche mit Fachkolleginnen und Fachkollegen, stellvertretend sei mein Vorgänger in der Abteilung Sprechwissenschaft der Marburger Universität, Herr Prof. Dr. Lothar Berger, erwähnt, die Geduld meines Mannes und meiner Kinder in kritischen Situationen und der ermutigende Zuspruch vieler Personen dazu beigetragen, daß dieses Projekt bis zum Abschluß geführt werden konnte. Ihnen allen gilt mein ausdrücklicher Dank.

Inhalt

1. Einleitung 1.1. Problemstellung 1.2. Aufbau und Ziel der Arbeit

1 1 2

2. Zum Forschungsstand

4

2.1. Gesprächsforschung 2.1.1. Literaturdiskussion 2.1.1.1. Sprechwissenschaftliche Gesprächsforschung und Gesprächsanalyse 2.1.1.2. Gesprächsorganisation 2.1.1.3. Transkriptionssysteme

10 12 14

2.2. Nonverbale Kommunikation 2.2.1. Literaturdiskussion 2.2.1.1. Paralinguale Merkmale 2.2.1.2. Extralinguale Merkmale 2.2.1.3. Notationsverfahren

15 15 18 22 24

2.3. Gender Studies 2.3.1. Literaturdiskussion 2.3.1.1. Zur Entwicklung des Forschungsgegenstandes 2.3.1.2. Para-und extralinguale Merkmale

30 30 30 35

3. Untersuchung zum Anteil para- und extralingualer Parameter am Gelingen von Interventionen in Gesprächen

4 4

39

3.1. Materialbasis

39

3.2. Untersuchungsdesign 3.2.1. Transkription der Daten 3.2.2. Auswahl der paralingualen Merkmale 3.2.3. Auswahl der extralingualen Merkmale 3.2.4. Markierung und Klassifizierung der Interventionen 3.2.5. Legende 3.2.6. Skalierung 3.2.7. Akustische Daten

41 41 41 42 43 45 48 49

3.3. Ergebnisse: Korpus „Tiere" 3.3.1. Gesprächsbeschreibung 3.3.1.1. Gesamtbetrachtung 3.3.1.2. Beschreibung der Gesprächsbeteiligten 3.3.2. Quantitative Datenanalyse 3.3.2.1. Überblick

51 51 51 51 53 53

Vili 3.3.2.2. Ausgangspunkt der Interventionen 3.3.2.3. Zielrichtung der Interventionen 3.3.2.4. Charakterisierung des Gesprächs anhand der Interventionstypen 3.3.2.5. Relationale Darstellung 3.3.2.6. Zusammenfassung der quantitativen Datenanalyse 3.3.3. Merkmalsanalyse 3.3.3.1 Interpretationsbeispiel „Männer intervenieren bei Männern" 3.3.3.2. Zusammenfassimg 3.3.4. Qualitative Analyse nach Skalierung der Daten (Merkmalsauswertung) 3.3.4.1. Interventionen von Männern bei Männern 3.3.4.2. Interventionen von Frauen bei Männern 3.3.4.3. Interventionen von Männern bei Frauen 3.3.4.4. Wiederholte Interventionen 3.3.4.5. Zusammenfassung der qualitativen Datenanalyse

56 60 65 69 71 71 71 72 73 74 79 83 85 86

3.4. Ergebnisse: Korpus „Organe" 3.4.1. Gesprächsbeschreibung 3.4.1.1. Gesamtbetrachtung 3.4.1.2. Beschreibung der Gesprächsbeteiligten 3.4.2. Quantitative Datenanalyse 3.4.2.1. Überblick 3.4.2.2. Ausgangspunkt der Interventionen 3.4.2.3. Zielrichtung der Interventionen 3.4.2.4. Charakterisierung des Gesprächs anhand der Interventionstypen 3.4.2.5. Zusammenfassung der quantitativen Datenanalyse 3.4.3. Qualitative Analyse nach Skalierung der Daten (Merkmalsauswertung) 3.4.3.1. Interventionen von Männern bei Männern 3.4.3.2. Interventionen von Frauen bei Männern 3.4.3.3. Interventionen von Männern bei Frauen 3.4.3.4. Interventionen von Frauen bei Frauen 3.4.3.5. Zusammenfassung der qualitativen Datenanalyse 3.4.4. Analyse der akustischen Daten 3.4.4.1. Akustische Profile der Sprechenden 3.4.4.2. Gemischtgeschlechtliche Interventionen 3.4.4.3. Gleichgeschlechtliche Interventionen 3.4.4.4. Zusammenfassung der akustischen Datenanalyse

90 90 90 91 92 92 96 99

104 105 110 113 115 117 119 119 121 126 130

3.5. Ergebnisse: Korpus „Geschlecht" 3.5.1. Gesprächsbeschreibung 3.5.1.1. Gesamtbetrachtung 3.5.1.2. Beschreibung der Gesprächsbeteiligten

131 131 131 131

102 104

IX 3.5.2. Quantitative Datenanalyse 3.5.2.1. Überblick 3.5.2.2. Ausgangspunkt der Interventionen 3.5.2.3. Zielrichtung der Interventionen 3.5.2.4. Vergleich zwischen Ausgangspunkt und Zielrichtung der Interventionen 3.5.2.5. Charakterisierung des Gesprächs anhand der Interventionstypen 3.5.2.6. Zusammenfassung der quantitativen Datenanalyse 3.5.3. Qualitative Analyse nach Skalierung der Daten (Merkmalsauswertung) 3.5.3.1. Interventionen von Frauen bei Männern 3.5.3.2. Interventionen von Frauen bei Frauen 3.5.3.3. Interventionen von Männern bei Frauen 3.5.3.4. Interventionen von Männern bei Männern 3.5.3.5. Kommunikationsachse F1-M2 3.5.3.6. Wiederholte Interventionen 3.5.3.7. Zusammenfassung der qualitativen Datenanalyse 4. Ergebnisdiskussion

132 132 134 137 140 142 144 145 145 151 152 155 156 159 160 161

4.1. Gesprächsforschung 4.1.1. Transkriptionssystem 4.1.2. Gesprächsanalyse in der sprechwissenschaftlichen Forschung

161 161 163

4.2. Nonverbale Kommunikation 4.2.1. Reziprok-dialogischer Ansatz 4.2.2. Skalierung von Sprechausdrucksmerkmalen 4.2.3. Anteil der para- und extralingualen Sprechausdrucksmerkmale am Erfolg von Interventionen 4.2.3.1. Paralinguale Sprechausdrucksmerkmale 4.2.3.2. Extralinguale Sprechausdrucksmerkmale 4.2.3.3. Zusammenhang von para- und extralingualen Sprechausdrucksmerkmalen

169 170 171

4.3. Gender Studies 4.3.1. Organisation des Turn-Wechsels 4.3.2. Anteil der Sprechausdrucksmerkmale am Turn-Wechsel

188 188 190

5. Konsequenzen für die sprechwissenschaftliche Gesprächsforschung

173 173 182 186

194

Literaturverzeichnis

197

Sachregister

209

1. Einleitung

1.1. Problemstellung

Die Beschäftigung mit natürlicher gesprochener Sprache in realen Gesprächszusammenhängen erlebte in den letzten Jahren und bis in die Gegenwart wirkend ein sehr hohes Maß an Forschungsinteresse seitens der Linguistik. Die Ausgangssituation, daß Gesprochenes als defizitäres Pendant zum Geschriebenen untersucht oder Einzelsätze zum Zwecke der Analyse künstlich produziert wurden, gehört längst der Vergangenheit an. Die Literatursituation scheint einen Prozeß widerzuspiegeln, der an der Sprechwissenschaft fast unbemerkt vorbeigelaufen ist: Linguistische Gesprächsforscher, gleichgültig welchen Konzeptualisierungen sie sich zurechnen, rekurrieren in ihren Untersuchungen neben den textualen Aspekten gleichfalls auf paralinguistische und extralinguistische Kriterien, und das nicht nur auf einzelne Sprechende bezogen, sondern durchaus unter interaktionalem Bezug, wie z.B. die Arbeit von Margret Selting (1995) zeigt. Psycholinguistische Forschung untersucht die Bedeutung suprasegmentaler und extrasegmentaler Merkmale des Sprechens für das Sprachverstehen und die Sprachverarbeitung. Das Rollenverhalten der Sprechenden und dessen epistemologische, ethische, religiöse, politische und ethnische Geprägtheit ist Gegenstand psychosozialer Arbeiten. Sprechwissenschaftliche Gesprächsforschung dagegen, deren genuiner Gegenstand das reale Miteinandersprechen von Personen in konkreten Situationen unter bestimmten soziokulturellen Bedingungen ist, nähert sich gesprächsanalytischen Aspekten, wie sie von der Linguistik ins Blickfeld gerückt wurden, nur zögerlich.1 Allen Proponenten interaktionaler Ansätze, sofern sie empirisch arbeiten, ist gemeinsam, daß sie die Produktionsaktivitäten der Sprechenden auf das Hörverstehen und dessen Interpretationsweisen beziehen, in der Grundannahme, daß interaktive Signale einer Seite erwartbare und konditioneil relevante Folgereaktionen der anderen Seite hervorrufen. Das reale zeitgleiche Miteinander der wechselseitig Sprechenden wird jedoch nicht untersucht. Die vorliegende Arbeit hat daher die wechselseitige Bezogenheit Gesprächsbeteiligter zum Gegenstand, untersucht an funktional kategorisierten Turn-Taking-Stellen.2 Untersuchungsmerkmale sind spezifisch ausgewählte Sprechausdrucksmittel sowohl auf paralingualer als auch extralingualer Ebene gleichzeitig. Die Analyse beschränkt sich weder auf eine quantitative Auszählung, noch auf eine qualitative Deskription, sondern stellt das System einer funktional markierten Skalierung supra- und extrasegmentaler Merkmale des Sprechens vor, als Weiterfuhrung qualitativer Deskription. Es geht um jenes physikalische Substrat als Trägerinformation, „[...] durch das in den Wahrnehmenden analoge semantische oder assoziative Vorgänge ausgelöst werden können. Weder akustisch noch optisch, also weder durch Sprechen-Hören noch durch Schreiben-Lesen, werden Inhalte „übertragen"; sie werden in den Apperzipierenden evoziert, sofern die Perzeption gelungen ist. Hörende/Lesende entscheiden in innerem „Probe"-Handeln darüber, ob das Sinnangebot eines Sprechenden/Schreibenden für sie Sinn macht. (Geißner 1998b: 124) 1 2

Vgl. besonders Lepschy, Annette ( 1995b) Vgl. Kotthoff, Helga (1993a)

2 Inwieweit das „physikalische Substrat, durch das in den Wahrnehmenden analoge semantische oder assoziative Vorgänge ausgelöst werden können", u.a. die in dieser Arbeit analysierten Kategorien, interaktional interpretative Relevanz hat, soll anhand von drei unterschiedlichen Korpora belegt werden. Indem komplexe Prozesse zunächst in relevante Parameter dekonstruiert werden, die nachfolgend zu konstitutiven Merkmalbündeln zusammengefaßt und ihre Relevanz für die komplexen Ausgangsprozesse interpretiert wird, ist ein empirischer Zugriff auf ansonsten nur hermeneutisch-holistisch faßbare Vorgänge möglich. Ein Transkript, das durch untersuchungsspezifische Ansätze unterschiedliche Differenzierungsgrade aufweist, ist unabdingbares Vehikel zur notwendigen Dekonstruktion der Ganzheit. Diese gesprächsanalytisch orientierte Arbeit zur sprechwissenschaftlichen Gesprächsforschung geht der Frage nach, inwieweit die analysierten Kategorien von sequentieller Bedeutung sind, von den Beteiligten wahrgenommen und interpretiert werden und zur Komposition des Turn-Takings funktionalisiert werden können. So gesehen scheint Geißners „Schelte" unangebracht: „Selbst in jüngerer Zeit, wenn Linguistik sich mit mündlichen Quellen konfrontierte, operierte sie mit Methoden, die am Geschriebenen gewonnen waren. Es scheint ihr methodisch unbedenklich, wenn Gesprochenes zum Zwecke der Analyse in Geschriebenes transformiert wird." (Geißner 1998b: 122) Die Dokumentation dekonstruierter Parameter bedarf zu Analysezwecken neben akustischer und optischer Belege der Verschriftlichung, ohne dabei die situative, kontextuelle und soziokulturelle Ganzheit des prozessualen Verlaufs der Gespräche zu negieren, in deren Komplexitätsverständnis die empirisch gewonnenen Daten wieder zurückgeführt werden müssen. Mit dieser Arbeit wird gezeigt werden, daß den einzelnen Parametern unterschiedliche Wichtungen fur die Gesprächsorganisation zukommen und Substitutionen aus einer Ebene (paralingual) in die andere (extralingual) vorkommen. Ausgehend von der Tatsache, daß es sich bei den Gesprächsbeteiligten immer um Frauen und Männer handelt, wird parallel untersucht, ob das Sprechverhalten der Betroffenen bezogen auf die analysierten Merkmale geschlechtsbezogene Spezifika aufweist. Die aktuelle Literaturdiskussion zum Themenbereich „gender studies"3, die bereits den Diskurs über die Geschlechterdifferenz in den Gesprächsstilen für affirmativ hält und fur ein Phänomen, das zur Konstruktion von Geschlecht erst beitrage, wurde in der Arbeit aufgenommen. Auch hier zeigte sich das empirische Vorgehen, den mehrschichtigen Prozeß auf interaktiv relevante Parameter zurückzuführen, aufschlußreich für die nachfolgende komplexere Analyse der interpretativen Zuschreibungen: Anhand der Merkmalsauswertungen ist die Relation der Relevanz von geschlechtsbezogenen Aspekten und Rollenzuschreibungsprozessen erneut zu diskutieren.

1.2. Aufbau und Ziel der Arbeit Ziel dieser gesprächsanalytisch orientierten sprechwissenschaftlichen Arbeit zur Gesprächsforschung ist es, das in der Sprechwissenschaft seit jeher 4 postulierte, anerkannte und vor3 4

Vgl. stellvertretend Pasero/Braun (1995) und Bardeleben/v.Plummer (1998) Vgl. Kap. 2

3 ausgesetzte Prinzip der Dialogizität, der wechselseitigen Bezogenheit der Beteiligten im Gespräch auch für die paralinguale und extralinguale Ebene anhand von drei unterschiedlichen Gesprächskorpora empirisch nachzuweisen und nach geschlechtsbezogenen Charakteristika zu differenzieren. Im einzelnen waren folgende Aufgaben zu lösen: (1) Zur Vergleichbarkeit der Daten wurden als interaktionales Bezugssystem, das die Diskussion um Grenzen von Äußerungseinheiten5 obsolet macht, Interventionsstellen ausgewählt. (2) Es galt ein System zu entwickeln, das die durch halbinterpretative Deskription (Steuble 1986) an den Interventionsstellen gewonnenen paralingualen Merkmale (Pausen, Sprechspannung, Stärkeabstufung, Tempo, Tonhöhenverlauf) und extralingualen Merkmale (Blickrichtung, Handbewegungen, Kopfhaltung, Körperhaltung) sowohl der Sprechenden als auch der Intervenierenden miteinander vergleichbar macht. Die so entstandene Notwendigkeit, ein Beschreibungssystem aus dem komplexen, kontinuierlichen visuell-auditiven Prozeß zu extrahieren, das weiteren Auswertungsstufen zugänglich ist und dessen Geltungsbereich sich gleichermaßen auf paralinguale wie auch extralinguale Merkmale bezog, erwies sich als das Schlüsselproblem dieses spezifischen gesprächsanalytischen Ansatzes. Mit dem Rückgriff auf die Dimension von Nähe und Distanz nach Ertel (1970) entstand ein Bezugsrahmen für alle untersuchten Merkmale gleichermaßen. (3) Zum Ausschluß von Zufälligkeiten war das aufbereitete Material statistischen Berechnungen zugänglich zu machen. Die Autorin entwickelte dafür in dieser Arbeit ein System funktional markierter Skalierungen, das den Schritt von der Deskription zum statistischen Verarbeiten ermöglicht. So konnte die Rolle der untersuchten Merkmale für das Gelingen oder Verhindern von Interventionen im synchronen interaktionalen Vergleich der Aktivitäten der Sprechenden und der Intervenierenden belegt werden. (4) Die zunächst durch Dekonstruktion gewonnenen und somit einer detaillierten Analyse zugänglich gemachten Merkmale waren in der Konsequenz einer strikt dialogischen Auffassung als konstitutive Merkmalsbündel in ihrer interaktiv-interpretativen Relevanz in den komplexen Gesprächsprozeß wieder zu rekonstruieren. Zusammenfassend läßt sich formulieren: Gegenstand der vorliegenden Arbeit ist die Beteiligung von paralingualen und extralingualen Merkmalen am Gelingensprozeß von Interventionen in Gesprächen unter konsequent wechselseitigem Bezug der Beteiligten und unter Berücksichtigung geschlechtsbezogener Spezifika. Nach einer Erörterung zur Forschungslage der Bereiche „Gesprächsanalyse", „nonverbale Kommunikation" und „gender studies", soweit sie das Thema dieser Arbeit berühren (Kap. 2), wird in Kapitel 3 die eigentliche Untersuchung in Aufbau, Zielstellung und Ergebnissen vorgestellt. Eine ausführliche Diskussion der Ergebnisse im Vergleich mit der Literaturlage (Kap.4) und Anmerkungen zu den Konsequenzen daraus für die sprechwissenschaftliche Gesprächsforschung (Kap.5) schließen die Arbeit ab.

5

Vgl. Selting ( 1995)

2. Zum Forschungsstand

2.1. Gesprächsforschung 2.1.1. Literaturdiskussion „Jeder aber richtet auch sein Sprechen nach dem Verstehen des andern, und abhängig zugleich vom Meynen und Verstehen ist die Sprache allemal nur das gemeinschaftliche Resultat beider Sprechenden." (Humboldt 1908: 597) Dieses bereits bei Humboldt beschriebene Paradigma der Prozeßhaftigkeit, des Aufeinanderbezogenseins, prägt von Anfang an wesensbestimmend sprechkundliche/ sprechwissenschaftliche Gegenstandsbestimmungen. So formuliert bereits Erich Drach in der 11. Aufl. seiner 1922 erstmals erschienenen fachwissenschaftlichen Gesamtdarstellung „Sprecherziehung": „Im Gegensatz zur sprachkundlichen Betrachtung, welche die Sprache als Entwicklungsergebnis und gegebenen Bestand bearbeitet, beobachtet die sprechkundliche Betrachtung das Sprechen als Vorgang und persönliche Leistung" (1949: 4), aber auch Christian Winkler: „Die Sprechkunde hat es vor allem mit der einmalig-besonderen Sprechleistung zu tun: wo einer zum andern, vielleicht auch zu sich selbst tatsächlich spricht. Sprecher wie Hörer tauchen dafür in ein gemeinsames Medium ein, für uns: in ihre deutsche Muttersprache, und verbinden sich hier durch Sprechen und Hören." (1969: 28) Damit konturiert sich ein weiterer gegenstandsmarkierender Aspekt: Die individuelle aktuelle Sprechleistung aufeinander bezogener Sprechender in konkreten Sprechhandlungen und Sprechsituationen sind für sprechwissenschaftliche Forschung erkenntnisleitend: Wenn die Germanistik aus den Sprechhandlungen der Wirklichkeit die Gebilde der deutschen Sprache herausdestilliert, so sucht die Sprechkunde das Sprechen des Menschen gerade im Rahmen der je besonderen Sprechhandlung zu verstehen. Sie muß dafür die sachlichen wie die persönlichen Umstände, aus denen das Wort kommt und auf die es sich bezieht, miterfassen. Sie lauscht nicht nur auf das Wort, das frei im Räume schwingt, sondern sie wendet sich auf den ganzen sprechenden Menschen, wie er, durch Sprache handelnd, im Leben steht." (Winkler 1969: 20)

So gründet sich bereits aus der Historie des Fachverständnisses heraus die Erkenntnis, daß Sprechwissenschaft „keine empirische Wissenschaft im .normativen Paradigma'" ist, sondern im ,„interpretativen Paradigma' eine selbstreflexive, sinninterpretative Sozialwissenschaft" (Geißner 1988b: 50), die in zweifacher Hinsicht in der Praxis sprechhandelnder Menschen verankert ist: „Sie analysiert konkrete Sprechsituationen, um plausible und begründete Handlungsanweisungen für die bessere Bewältigung dieser Situationen zu produzieren. Sie integriert so von ihrem Ansatz her Deskription und Präskription, analytische und synthetische Elemente." (Lepschy 1995b: 6) Für Levinson (1990) erscheint es unzweifelhaft, daß gerade am Gespräch nach pragmatischen Phänomenen zu suchen sei, denn das Gespräch ist für ihn der Prototyp des Sprachgebrauchs, die Matrix für den Sprachgebrauch schlechthin, die Form in der Menschen Sprache zuerst begegnen. Dem Gespräch „als Prototyp der Kommunikation", als „intentionale, wechselseitige Verständigungshandlung" (Geißner 1988b) galt deshalb von jeher in besonderem Maße die Aufmerksamkeit der Sprechwissenschaft.

5 Wie bei Drach und Winkler sprechkundliche Verstehensprozesse in Abgrenzung zur Germanistik bzw. Linguistik entwickelt wurden, versucht auch Geißner bereits 1957, den sprechkundlichen Weg zur Erfassung von Gesprächscharakteristika unter einem Ausschlußverfahren von isolierter Analyse der Sprache als System zu umreißen: Worin besteht nun die Besonderheit, mit der Sprechkunde das Gespräch zu erfassen sucht, bzw. worin gründet ihr Anspruch, sie könne dies in angemessener Weise vollbringen? Offensichtlich muß sie versuchen, weder nur die sprechenden Partner, ihr Verhältnis zueinander und ihr seelisches Verhalten, noch ausschließlich die sprachlichen Formen und Gehalte, noch davon gesondert die denkerischen Inhalte zu betrachten, sondern die Verschränkung all dieser Momente im konkreten Sprechereignis, das sich darin jedoch nicht erschöpft. Vielmehr gilt es, die gerade im Gespräch allererst gestifteten Sinn- und Seinsbezüge aufzunehmen; worin sich einmal mehr zeigt, daß Sprechen mehr und anderes ist als bloße „Sprachverwendung". (1957: 31)

Dieser problemorientierte Ansatz einer komplexen Gegenstandsbestimmung erfordert auch einen Zugriff auf Erkenntnisse und Methoden anderer Wissenschaftsgebiete, deren Gegenstandsbereiche ebenfalls im Gespräch zu suchen sind. Neben linguistischen, psychologischen, sozialpsychologischen, soziologischen, phonetischen und anderen grenzwissenschaftlichen Disziplinen entsteht, ausgehend von der sprechwissenschaftlichen Gegenstandsbestimmung, eine inhaltliche Nähe zu einer von Becker-Mrotzek (1992) als „Diskursforschung" bezeichneten jungen Wissenschaftsdisziplin, deren Gegenstand „mündliche Äußerungen (sind), die als Gesprochene Sprache, Gespräch, Dialog, Sprechakt oder Diskurs bezeichnet werden." Es kann im hier darzustellenden Themenzusammenhang nicht Aufgabe sein, die unterschiedlichen linguistisch-gesprächsanalytischen Ansätze, Methoden und Zielsetzungen diskursiv zu erörtern. Zur Positionierung einer sprechwissenschaftlich orientierten Gesprächsanalyse erscheint es jedoch unerläßlich, zusammenfassend die grundsätzlichen Ansätze gesprächsanalytisch orientierter linguistischer Gesprächsforschung zu referieren. „Diskursforschung" wird von Becker-Mrotzek (1992) als Oberbegriff fur unterschiedliche Richtungen und Ansätze innerhalb dieser Disziplin verwendet, so für „Pragmatik, Konversations- und Gesprächsanalyse, Dialoganalyse oder Diskursanalyse". Die Präferierung des Terminus „Diskurs" folgt für ihn aus Gründen vorhandener englischer und französischer Entsprechungen, sei aber auch in seiner umfassenden kontextuellen Weite zu suchen. Becker-Mrotzek (1992) definiert die Diskursforschung (DF) in Opposition zur strukturellen Linguistik, die sich auch in der Analyse des Mündlichen nur auf einzelne schriftliche Sätze bezieht, als Disziplin, die umfassende mündliche Äußerungssequenzen mehrerer Sprecher authentischer Diskurse in den Blick nimmt, unter Berücksichtigung situativer Bedingungen der Wahrnehmung der Beteiligten und pragmatischer Aspekte. Ziel der Diskursforschung sei die Beschreibung und Erklärung komplexer sprachlicher Handlungsformen, um ihre zugrundeliegenden Prinzipien zu rekonstruieren und in Form eines Diskurswissens über sprachliche Muster oder Schemata zu beschreiben. Becker-Mrotzek schreibt weiter: Zusammenfassend kann man festhalten, daß die DF authentische Diskurse mit dem Ziel untersucht, den Zusammenhang von sprachlichen Formen und kommunikativen Zwecken zu erklären. Es gehört zu den zentralen Aufgaben, die Mittel zu beschreiben, die das Sprachsystem fur die Kommunikation bereitstellt, und zu zeigen, wie sich die Menschen dieser Mittel für ihre kommunikativen Bedürfnisse bedienen. Das geschieht in einem ständigen Wechselprozeß von empirischer Analyse und systematischer Beschreibung. (1992: 2)

6 Das macht deutlich, daß die Diskursforschung auf ihrem heutigen Stand angewandte Gesprächsforschung mit einschließt (vgl. Becker-Mrotzek 1994, Fiehler/Sucharowski 1992). Dieses Wissenschaftsverständnis korrespondiert deutlich mit sprechwissenschaftlichen Ansätzen, wie sie von Geißner (1988b) formuliert werden, indem als handlungsleitendes Interesse der Sprechwissenschaft die Veränderung der Praxis der Miteinandersprechenden zu verstehen sei. Ein Blick in die Entwicklungsgeschichte der Diskursforschung zeigt jedoch, daß beide Disziplinen wissenschaftstheoretisch sehr divergente Wurzeln aufweisen: Während die neuere Sprechwissenschaft, ausgehend von ihrer antiken Basis in der Rederhetorik für die Öffentlichkeit und der Stimmbildung fur Redner,1 sich zumindest schon seit ihren Wurzeln bei Erich Drach (1922) theoretisch mit realen, in konkreten Situationen stattfindenen Gesprächen auseinandersetzt und von Anfang an suprasegmentale Merkmale mit einbezieht, geht die Diskursforschung zunächst von Einzelsätzen aus, konstruierten Dialogen und der Suche nach dem Unterschied der gesprochenen im Rekurs auf die geschriebene Sprache. Zumindest vier Quellen lassen sich zurückverfolgen: Als erstes zu erwähnen sind die Arbeiten zur Gesprochenen aus der Forschungsstelle „Gesprochene Sprache (GS)" in Freiburg unter Leitung von H. Steger, deren Zielstellung zunächst in der Erforschung der syntaktischen Besonderheiten der gesprochenen Sprache im Unterschied zur geschriebenen Sprache bestand. Erst mit der sog. „pragmatischen Wende in der Linguistik zu Beginn der 70er Jahre" (Brinker/Sager 1989: 15) gewinnen kommunikativ-funktionale Aspekte an Bedeutung. Als zweite Quelle2 ist die amerikanische „conversational analysis" anzusehen: Die „conversational analysis" (H.Sacks, E.A. Schegloff, G. Jefferson u.a.) gilt als „bislang fruchtbarster Zweig" der Ethnomethodologie, einer phänomenologisch orientierten soziologischen Forschungsrichtung. [...] Die alltäglich ablaufenden Interaktionsprozesse, insbesondere die Alltagsgespräche, werden im Hinblick auf die Regeln und Verfahren hin untersucht, die die Kommunikationspartner zumeist routinemäßig anwenden, um in aufeinander bezogenem sprachlichen und nichtsprachlichen Handeln für- und miteinander kommunikativen „Sinn" herzustellen." (Brinker/Sager 1989: 16)

Im Vordergrund stehen somit nicht die sprachlichen Einheiten und ihre Strukturen, sondern Bedeutungszuschreibungen und Interaktionsbedingungen. Die conversational analysis vermittelt grundlegende Einsichten in die Probleme der Gesprächsorganisation und der Bedeutungskonstitution. Damit wird erstmals eine prozedurale Perspektive in der linguistischen Gesprächsanalyse eingenommen. Als dritten Strang der Diskursforschung sieht Bekker-Mrotzek die angelsächsische Sprechakttheorie: Ihr Ansatz ist nicht originär dialogisch, geht doch die Sprechaktklassifikation von der kommunikativen Absicht der Sprechenden aus. Für die Diskursforschung gewinnt sie in ihrer weiterfuhrenden Ausprägung jedoch an Bedeutung, sobald nicht mehr nur der einzelne Sprechakt, sondern die sequentielle Abfolge mehrerer Sprechakte in bestimmten Sequenzmustern untersucht werden (vgl. Brinker/Sager 1989). Die vierte Quelle, das Tätigkeitskonzept, wird von Heinemann und Mackeldey, ausgehend von der sowjetischen Psychologie und Psycholinguistik mit Vygotskij, A.N. Leont'ev und A.A. Leont'ev u.a., mit dem zentralen Postulat „von der Gesellschaftlichkeit der Aktivitäten von Individuen, Kommunikation eingeschlossen" (1994) charakterisiert. Härtung, einer der wichtigsten Vertreter der tätigkeitsorientierten Kommunikationslingui1

Vgl. u.a. Aristoteles (1980), Krumbacher (1920)

2

Vgl. Becker-Mrotzek ( 1992 u. 1994), Sager/Brinker (1989)

7 stik der ehem. DDR, widmet der interaktionalen Ebene als einer von drei fundamentalen Ebenen (neben der thematisch-propositionalen und der grammatischen) besondere Aufmerksamkeit (1983), wenn er „interaktional" sowohl themenbezogen in bezug auf Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung der Beteiligten in Hinsicht auf geäußerte Meinungen und Wertungen als auch interaktionsstrategisch als auch statusbezogen definiert. Auf diesem Hintergrund entstand 1984 eine richtungsweisende Arbeit von Bärbel Techtmeier, die sich speziell mit dem Phänomen Gespräch auseinandersetzt: Entscheidend für eine dieser konzeptionellen Basis gerecht werdende linguistische Kommunikationsforschung (Gesprächsforschung) ist die Ableitung des kommunikativen Geschehens aus den objektiven Erfordernissen der Tätigkeit des Menschen, in deren Vollzug (auch) kommuniziert wird. Tätigkeit soll hier verstanden werden als Form der gesellschaftlichen Arbeit, als Prozeß, der ein bestimmtes Verhältnis des Menschen zur Umwelt, zu anderen Menschen und zu bestimmten Aufgaben, die das Leben stellt, verwirklicht, als Modus der Realisierung der Subjekt-ObjektBeziehungen und der Subjekt-Subjekt-Beziehungen. In diesem Sinne ist sprachlich-kommunikative Tätigkeit primär funktional zu fassen. Ein solches funktionales Herangehen ermöglicht die Einbeziehung der jeweils konkreten historischen Verhältnisse, unter denen die Kommunikation abläuft, und die kausale Erklärung der kommunikativen Phänomene. (1984: 43)

In diesem Sinne definiert Techtmeier dann auch Gespräch als das grundlegende Kommunikationsereignis der direkten Kommunikation, durch das die Partner verbal bestimmte Tätigkeitsziele realisieren, mit Hilfe des Sprecherrollenwechsels und unter konkreten sozialhistorischen Bedingungen. Von diesen differenten Forschungsansätzen ausgehend, finden sich auch in der derzeitigen Literatur zur Diskursforschung unterschiedliche Theorieansätze, die jedoch in bezug auf die gesprächsanalytische Anwendung die Schärfe ihrer Abgrenzung gegeneinander verlieren: Die aus der amerikanischen conversation analysis entwickelte europäische Konversationsanalyse ist ethnomethodologisch orientiert, d.h. sie sucht den Zugang zum Dialog, zum Gespräch über die Frage nach erkennbaren Verfahren, mit deren Hilfe Sprechende gemeinsam Wirklichkeit konstituieren: „Konversationsanalyse ist die wissenschaftliche Analyse natürlicher Gespräche mit dem Ziel, allgemeine Aussagen über die Gesprächsorganisation und die Interpretation gesprächsrelevanter Handlungen durch die Beteiligten zu gewinnen" (Dittmann 1979a), wobei diese unter dem Gesichtspunkt der Strukturen des Kommunikationsablaufs, der Aktivitäten der beteiligten Interaktionspartner und der jeweiligen Bedeutungsvoraussetzungen und -zuschreibungen transkribiert und analysiert werden. Der eher sozialwissenschaftlich und ethnomethodologisch orientierten Konversationsanalyse, die Aspekte der Gesprächsorganisation und Bedeutungskonstitution, elementare Ordnungsstrukturen im Zentrum ihrer Betrachtung sieht, „soweit diese in faktischen sozialen Interaktionssituationen" (Kallmeyer/Schütze 1976: 4) entstanden sind, steht die Dialoganalyse gegenüber. Zunächst aus der anfanglich adialogisch konstituierten Sprechakttheorie hervorgegangen (Brinker/Sager 1989), zentriert sich ihre Orientierung an der sequenziellen Abfolge von Akten, „die vom Hörer eine sprachliche Handlung innerhalb der zeitlichen und räumlichen Grenzen der Dialogsituation fordern, und schließlich Akte(n), mit denen der Angesprochene auf diese Forderungen reagiert." (Schwitalla 1979: 25) Untersucht wird die Relevanz bestimmter redesteuernder Mittel, Steuerungsakte, für die Stabilität von Dialogsituationen. Die Diskursanalyse versteht Äußerungen als soziale Handlungen. Indem bestimmte definierte Sprechhandlungen als kommunikative Vereinbarungen angenommen und Diskurse

8 als Elemente sozialer Handlungserfordernisse dargestellt werden, referiert die Diskursanalyse sowohl auf die Sprechakttheorie als auch auf soziale Handlungstheorien (Rehbein 1977). Nach Becker-Mrotzek (1992: 4) ist es „ein zentrales Ziel der Diskursanalyse, die Form des sprachlichen Handelns aus den zugrunde liegenden Zwecken zu erklären. Das erfolgt insbesondere in der Form von Rekonstruktionen sprachlicher Handlungsmuster. Da der Zusammenhang von Zwecken und sprachlichen Formen besonders gut in Institutionen bestimmbar ist, hat sich die Diskursanalyse schon früh der institutionellen Kommunikation zugewandt." Levinson stellt die Ansätze der zentralen Forschungsrichtungen, Diskursanalyse und Konversationsanalyse, die beide zur Klärung beitragen möchten, wie Kohärenz und sequentielle Anordnung im Diskurs hergestellt und interpretiert werden können, gegenüber: Die Diskursanalyse (oder DA) benützt sowohl die für Linguisten typische Methodologie als auch deren theoretische Prinzipien und grundlegende Konzepte (z.B. Regel, Wohlgeformtheit). Sie ist im Grunde eine Serie von Versuchen, die in der Linguistik so erfolgreichen Techniken über die Satzgrenze hinweg auszudehnen. [...] Im Gegensatz dazu verfährt die Konversationsanalyse (oder CA für conversation analysis) [...] streng empirisch und vermeidet voreilige Theoriebildung [...] Die Methoden der CA sind hauptsächlich induktiv. Man sucht viele Aufzeichnungen natürlicher Konversation nach wiederkehrenden Mustern ab und vermeidet die sofortige Kategorisierung (zumeist) beschränkter Daten, die den typischen ersten Schritt in der DA bildet. [...] Die Hauptstärke der DA-Methode ist, daß sie verspricht, linguistische Erkenntnisse über den Aufbau innerhalb des Satzes in die Diskursstruktur zu integrieren. Die Stärke der CA-Position hingegen besteht darin, daß die von ihr angewandten Methoden bereits bewiesen haben, daß sie die bisher bei weitem wesentlichsten Erkenntnisse über die Gesprächsorganisation zu vermitteln vermögen. (1990: 285-286)

Das Bild der heutigen Forschungslage ist geprägt durch eine auffallige Verflechtung der einzelnen Richtungen, deutlich strukturale Verfahren sind verbunden mit hermeneutischen Ansätzen und die Grenzen zwischen satzübergreifender Textlinguistik, Sprechakttheorie und situational bezogener Dialogforschung auf Makroebene werden zunehmend unschärfer. Es kann, wie schon dargelegt, im Zusammenhang dieser Arbeit nicht Aufgabe sein, die jeweils theoretischen Implikationen, Ziele und Methoden, die mit den einzelnen Positionen der Diskursforschung verbunden sind, darzustellen. Es dürfte außerdem deutlich geworden sein, daß es inhaltlich und damit verbunden auch terminologisch sehr divergierende Standpunkte gibt, wie u.a. bei Hundsnurscher/Weigand herausgearbeitet: Während die einen die Dialoghaftigkeit als konstitutives Prinzip von Sprache überhaupt anerkennen und damit im Grunde ein neues Paradigma der Linguistik, Sprache als Dialog, begründen wollen, bedeutet für die anderen die Berücksichtigung des Dialogischen einen methodischen Aspekt der Beschreibung neben anderen, vorwiegend als Ergänzung eines Syntaxkonzepts. (1986: VII)

In Referenz auf die oben dargestellte sprechwissenschaftliche Gegenstandsbestimmung kann es nach Auffassung der Autorin keinen Zweifel geben, daß sprechwissenschaftliche Forschung Dialoghaftigkeit als konstitutives Prinzip, als genuinen Gegenstand, als Grundparadigma voraussetzt: „Dem Gesprächsparadigma der sprechwissenschaftlichen Gegenstandstheorie entspricht das Globallehrlernziel .Gesprächsfähigkeit' der sprecherzieherischen Pädagogik", schreibt Gutenberg (1994). Das „neue Paradigma der Linguistik, Sprache als Dialog", ist somit das immanente Paradigma der Sprechwissenschaft von Anbeginn an. Eine reduktionistische Auffassung von gesprochener Sprache, wie Schank/Schoenthal

9 (1983) implizieren, hat es aus dem Blickwinkel des Gesamtfaches zeitgleich bei den namhaften Vertretern der Sprechwissenschaft nicht gegeben, wie der oben dargestellte kurze historische Blick auf die Fachliteratur belegt. Im „Handbuch der Dialoganalyse" erörtert Bergmann eine weitere terminologische Unscharfe bezüglich der begrifflichen Ebenen: Konversationsanalyse (=KA) bezeichnet einen Untersuchungsansatz, dessen Ziel es ist, durch eine strikt empirische Analyse 'natürlicher' Interaktion die formalen Prinzipien und Mechanismen zu bestimmen, mittels derer die Teilnehmer an einem sozialen Geschehen ihr eigenes Handeln, das Handeln anderer und die aktuelle Handlungssituation in ihrem Tun sinnhaft strukturieren, koordinieren und ordnen. Der KA geht es um die formalen Verfahren, um die 'Ethno-Methoden', welche die Interagierenden lokal einsetzen, um den für ihr Handeln relevanten Kontext zu analysieren, die Äußerungen ihrer Handlungspartner zu interpretieren und die Verständlichkeit, Angemessenheit und Wirksamkeit ihrer eigenen Äußerungen zu produzieren. Die KA beschäftigt sich, kurz gesagt, mit den kommunikativen Prinzipien der (Re-)Produktion von sozialer Ordnung in der situierten sprachlichen und nichtsprachlichen Interaktion. [...] Zum andern dient der Begriff der KA in der deutschsprachigen Literatur zuweilen als allgemeine Bezeichnung für die verschiedenen Untersuchungsansätze, die sich mit der empirischen Analyse von 'natürlichen' sprachlichen Texten befassen (Kallmeyer/Schütze 1976). Damit drohen jedoch theoretische und methodologische Eigenarten, die für das Verständnis der KA wesentlich sind, aus dem Blick zu geraten oder mißverstanden zu werden. (Fritz/Hundsnurscher 1994: 3-4)

Gehen wir zurück zu unserer Ausgangsfeststellung, daß Becker-Mrotzek in seiner „Studienbibliographie Diskursforschung und Kommunikation in Institutionen" (1992) vorschlägt, den Terminus „Diskursforschung" als Oberbegriff fur die unterschiedlichen Richtungen und Forschungsansätze, die sich mit der Analyse authentischer Diskurse und ihrer Bedingungen auseinandersetzen, zu verwenden, so erscheint diese Entscheidung unter den Aspekten der vorgenannten Darlegungen nicht schlüssig: Einerseits wäre eine allgemeine Bezugnahme auf den „Diskurs"-Begriff doch durch seine Nähe zur „Diskursanalyse" zu einseitig und zu schwach abgrenzbar, andererseits verwischt er die Trennung von Forschungsziel und Forschungsmethoden. Die Autorin verwendet daher als übergreifenden Terminus „Gesprächsanalytische Gesprächsforschung",3 wobei sowohl linguistische als auch sprechwissenschaftliche, sozialwissenschaftliche, psychologische u.a. Forschungsansätze subsummiert werden, ebenso wie die jeweiligen Forschungsmethoden. „Gesprächsanalytisch" bezieht sich dann konsequenterweise auf das spezielle empirische Analysieren „natürlicher Gespräche" in konkreten Situationen, um Erkenntnisse über die Gesprächsorganisation, Verständnissicherung, Sprecherwechsel u.a. zu erlangen, als eine spezifische Methode der Gesprächsforschung. Ziel dieses Zugriffs ist es, die sequentielle Natur von Gesprächen transparent zu machen und deren Verflochtenheiten und inhaltlichen Konsequenzen aufzuzeigen. Zur Durchfuhrung solcher empirischer Analysen bedarf es der Verschriftlichung (Transkription) und möglicherweise auditiv-visuellen Dokumentation (Tonkassette, Video) als Verfahrensgrundlage. Die Autorin befindet sich damit in gewolltem terminologischen Widerspruch u.a. zu Ungeheuer, der schreibt: „.Gesprächsanalyse' wird also synonym gesetzt mit .Dialog'- und .Konversationsanalyse'" (1977: 27) und bei Grewendorf (1988: 379) in der Schelte gipfelt, daß es sich um „aufgeklärtes Paraphrasieren" handele. Mit dem Impuls der conversational analysis, sequentielle Aspekte des Gesprächs, Fragen des Turnwechsels und spezifischer Interaktionsprozeduren zum Gegenstand lingui3

Vgl. auch Brock/Hartung (1998), Sucharowski (1985a), Fiehler/Sucharowski (1992)

10 stischer Forschung zu erheben, gewann zeitgleich das Instrumentarium des Transkribierens natürlicher Dialoge an Bedeutung. So konnte zunächst der Eindruck von Identität von Forschungsansatz und -methode entstehen, der über den unreflektierten Gebrauch in der Literatur verfestigt wurde. Die oben dargestellte differenzierte Betrachtung nach Forschungsansätzen und Forschungsmethoden zieht einen ebenfalls differenzierten Terminologiegebrauch nach sich. So bestimmt z.B. Löffler (1994) drei Ebenen einer soziolinguistischen Kommunikationsforschung: Die Analyse soziolinguistischer Parameter bei der Konstitution von Gesprächen, Aspekte von Kommunikationsmöglichkeiten und -Störungen zwischen Gruppen und als drittes die „Gesprächsanalyse als Datenbasis für soziologische Untersuchungen." (Löffler 1994: 38) Analog dazu kann die Gesprächsanalyse auch als Methode fur die Untersuchung ausgewählter Aspekte sprechwissenschaftlich orientierter Gesprächsforschung dienen.

2.1.1.1. Sprechwissenschaftliche Gesprächsforschung und Gesprächsanalyse Interpretative soziologische Ansätze wie der Symbolische Interaktion i smus (Mead 1934/1978), die phänomenologische Wissenssoziologie (Berger/Luckmann 1966/1980; Schütz/Luckmann 1975/1979) und die ethnomethodologische Konversationsanalyse (zusammenfassend Bergmann 1981) setzen sich zum Ziel, das objektivierte und internalisierte Wissen zu analysieren, „welches das Verhalten in der Alltagswelt reguliert" (Berger/Luckmann 1966/1980:21). Instrumentelle Aspekte der Kommunikation (von „formalen" Verfahren wie die Organisation des Sprecherwechsels bis hin zu komplexen Gattungsmustern) sind insbesondere Gegenstand der ethnomethodologischen Konversationsanalyse (vgl. Bergmann 1981: 25-32). (Habscheid 1998)

Aspekte der Gesprächsorganisation, wie sie speziell die Konversationsanalyse in die Gesprächsforschung eingeführt hat, sind nicht nur für soziologische oder linguistische Ansätze von Interesse, sondern können auch sprechwissenschaftlichen Gesprächsuntersuchungen neue Impulse geben, wobei z.B. Fragen der Ermöglichung des Sprecherwechsels zwar instrumentelle Aspekte implizieren, durchaus aber von inhaltlicher Relevanz sind. Mit Techtmeier erwarten wir von einer gesprächsanalytischen Untersuchung (im oben dargestellten Verständnis) im Rahmen sprechwissenschaftlicher Gesprächsforschung im allgemeinen [...] erstens detailliertere theoretische Einsichten auf dem Gebiet der Kommunikationstheorie: Die Komplexität der Kooperations- und Interaktionsbedingungen, die das Gespräch prägen, die Bedeutung, die der jeweiligen Partnerkonstellation dabei zukommt, die Dynamik, die sich besonders aus den Mechanismen des Redewechsels ergibt, all dies macht das Gespräch zu einem Erkenntnisobjekt, das geeignet ist, die Differenziertheit und Vielschichtigkeit sprachlich- kommunikativen Handelns deutlicher hervortreten zu lassen. [...] zweitens weitere Einsichten in Grundfragen der [...] (gelegentlich auch widersprüchlichefn]) inhaltlich-funktionale[n] Verzahnung von Äußerungen innerhalb von Äußerungsbündeln und Repliken sowie zwischen einzelnen Repliken innerhalb von Sequenzen und Phasen [...] und drittens erhebliche Fortschritte bei der notwendigen Analyse der Funktionen von Äußerungen und Äußerungsbestandteilen, vor allem hinsichtlich der Mehrschichtigkeit auf diesem Gebiet. [...] Und schließlich verspricht die genauere Erkundung der inneren Gesprächsmechanismen spezifizierende Einsichten in das Phänomen „mündlicher Sprachgebrauch". (1982: 677-678)

Wenn Sucharowski in Auseinandersetzung mit diesen Erwartungen von Techtmeier, die er sowohl zu allgemein gefaßt als auch andererseits fur zu reduktionistisch hält, formuliert:

11 ,JDie Frage lautet also weniger, was bedeutet Gesprächsanalyse für die Linguistik als vielmehr, was findet die Linguistik Neues aufgrund der Gespächsanalyse" (1985a: 23-24), so kann diese Fragestellung im direkten Transfer auf die Sprechwissenschaft übertragen werden: Was kann sprechwissenschaftliche Gesprächsforschung Neues aufgrund oder mit Hilfe der Gesprächsanalyse finden? In Anlehnung an Sucharowski ist im Bezug auf den Aspekt, etwas Neues zu entdecken, zu unterscheiden, ob etwas Neues aufgedeckt wird, oder ob etwas neu bedacht werden muß, das an sich bekannt ist, aber durch die andere Perspektive eine neue Bewertung erhält. „Die Integration dieser Perspektive bereitet grundsätzlich die wenigsten Schwierigkeiten, weil hierbei der Zusammenhang zur bisherigen Forschung gewahrt bleibt." (Sucharowski 1985a: 24) Da Sprechwissenschaft Gesprächsforschung unter dem Fokus der selbstreflektierenden Sozialwissenschaft versteht, ist Sucharowskis „Kontroverse zwischen Linguistik und Vertretern der Conversation Analysis [...], daß das Beschreiben von Sprache als Sprachsystem und ein Beschreiben von Sprache als soziales Ereignis nicht gleichgesetzt werden dürfen" (1985a: 24-25) in diesem Zusammenhang ohne Relevanz. Auch der Paradigmenwechsel linguistischer Gesprächsanalyse, daß „der Forscher sich nicht mehr seine Daten aus seiner Kompetenz in konstruierten Einzelbelegen [schafft], sondern bestrebt [ist], auf der Grundlage seines Sinn- und Handlungsverstehens Daten in einem interpretativen Prozeß aus empirischem Material zu gewinnen" (Schank/Schwitalla 1980: 313), sollte in gleichem Maße Grundkonsens sprechwissenschaftlicher Forschung sein.4 Moderne Gesprächsforschung bezieht sich einerseits auf das Sprech- und hörhandelnde Individuum, berücksichtigt andererseits die Interaktion zwischen Sprechenden und Hörenden und stellt über beide Ebenen den sozialen Bezug zum gesamtgesellschaftlichen Kommunikationsprozeß her. Daraus ableitend läßt sich die Frage nach dem Neuen, das ein gesprächsanalytischer Ansatz für die sprechwissenschaftliche Gesprächsforschung erbringen kann, mit einer spezifizierten Fokussierung des intersubjektiven Bezuges der sprechenden Menschen mit den hörenden und den daraus resultierenden sozialen Auswirkungen beantworten. „In der personalen Ebene ist hier die stellvertretende Rollenübernahme wenigstens insofern nötig, als jeder Partner 'Sprechgelegenheit' für den anderen mit verantworten muß, ebenso dessen Chance, die kooperierende Rezeptionsarbeit des jeweiligen Hörers regelmäßig signalisiert zu bekommen." (Bartsch 1990: 44) Zu klären ist die Frage, welche paraverbalen und extraverbalen Mittel auf welche Weise dazu beitragen, das genuin Besondere von Gespräch, den Rollenwechsel von Sprechenden und Hörenden, zu unterstützen, wie die sprecherischen Mittel an der Gesprächsorganisation beteiligt sind und auf welche Weise sie übergangsrelevante Stellen markieren und wodurch sprecherisch Gesprächsmitverantwortung transparent werden kann. Im Verständnis der Autorin gilt es also, Neues zu entdecken, Bekanntem neue Sichtweisen und daraus folgend neue Erkenntnisse hinzuzufügen. Eingeschlossen in den Gesamtkontext von sprechwissenschaftlicher Gesprächsforschung bleibt die Erkenntnis: Das Dialogische ist nicht zu reduzieren auf gesprochene Sprache, auf „Vertextbares": auf wechselseitig und gleichzeitig getauschte verbale Symbole, die paraverbalen und extraverbalen Sinnkonstitutiva, vielmehr gewinnen die situativen Beziehungen der Person, ihr Hintergrundwissen, ihre Erwartungserwartungen, ihre auf der jeweiligen Formstufe mögliche Distanz oder Nähe, ihr wechselseitiges Prozeßfeedback eine Komplexität, die das Geschriebene nicht erreicht." (Geißner 1998b: 122-123) 4

Vgl. u.a. Heike (1969), Winkler (1979), Krech/Richter/Stock/Suttner (1991), Barthel (1998)

12 Es bleibt unbestritten, daß sich Gesprächsforschung „nicht nur wie die content analysis mit Inhalten zu beschäftigen [hat], auch nicht nur wie die Konversationsanalyse mit den Abfolgen des turn-taking, den opening- und closing-Signalen usw., sondern auch mit den gnippen- und/oder kulturspezifischen Verständigungsmöglichkeiten und ebenso mit den entsprechenden Verständigungshindernissen." (Geißner 1996: 962) Eine empirische Untersuchung, deren methodische Grundlage die Gesprächsanalyse ist, kann im sprechwissenschaftlichen Paradigma z.B. spezifische Einsichten über Tum-takingKonstituenten ermöglichen und damit einer problemorientierten, prozessual ausgerichteten Forschung von Verständigungsmöglichkeiten in Gesprächen soziokulturelle Dimensionen eröffnen, die in ihren Auswirkungen auf die Kommunikationsfahigkeit der Gesprächsbeteiligten zielen. 2.1.1.2. Gesprächsorganisation Spätestens seit dem mittlerweile klassisch zu nennenden Aufsatz von Sacks, Schegloff und Jefferson (1974) gehört die Untersuchung von Turn-Zuweisung (turn allocation) und TurnKonstruktion (turn construction) zu den Basisinteressen linguistisch orientierter Gesprächsanalyse, einerseits zur Klärung der Frage, was im Gespräch als eine Einheit gelten kann, andererseits zur Erhellung der Bedeutung übergangsrelevanter Stellen und der Abfolge sprecherischer Sequenzen. Die Autoren sehen die Organisation der Tum-Abfolge (turn taking) unter unterschiedlichen Gesichtspunkten: Sie kann einerseits durch die gesprächsfiihrenden Parteien abgesprochen (party-administered) oder andererseits interaktioneil kontrolliert (interactionally controlled) werden und lokal organisiert (locally managed) sein bzw. hörerorientiert (sensitive to recipient design) gestaltet werden. In jedem Falle ist das turn-taking-System gleichzeitig sowohl lokal als auch interaktionell bestimmt. Eine Sequenz kann aus unterschiedlich vielen und langen Beiträgen einzelner Sprecher bestehen, für deren Wechsel Sacks & Jefferson & Schegloff [...] ein Beschreibungsmodell aufstellen mit den Redeabgabe- bzw. -aufhahmekriterien transition-relevance-place, womit vage syntaktische und intonatorische Faktoren angesprochen sind, und tum-allocation durch Auswahl des folgenden Sprechers durch den augenblicklichen oder durch Selbstwahl. (Betten 1975)

Damit sind die Eckpunkte linguistischer Gesprächsanalyse umrissen. Zeitgleich wurde mit dem „Gesprächsverlaufssoziogramm" (GVS) von Ursula Geißner (1975) ein sprechwissenschaftlicher Entwurf von turn-taking-Organisation vorgelegt, der, inspiriert von gruppendynamisch orientierten Arbeiten,5 bereits formal-strukturelle Aspekte mit inhaltlich-strukturellen des Gesprächsverlaufs in Beziehung brachte. U. Geißner bezog dabei sowohl interaktionelle wie auch sprechbezogene und gesprächsthemenentwickelnde Fragestellungen ein: Die Beobachtungsbögen für die Gesprächsverlaufssoziogramme enthielten Notizen zum nonvokal-nonverbalen (extraverbalen) Verhalten der Sprechenden, mit spezieller Orientierung auf den Blickkontakt, zu Unterbrechungsaktivitäten, Turn-WechselVerläufen in einer Zeitachse, zu vokal-nonverbalen (paraverbalen) Aspekten, sprachbezogenen Strukturen, zu Aktivitäten, die die Gesprächsstruktur beeinflussen, und zu themenbezogenen Einbringungen. 5

U. Geißner bezieht sich im besonderen in den Anmerkungen 4, 6, 7, 9, 11, 12, 13 (1975: 81-82) auf Antons, Argelander, Bales und Spangenberg

13 Das Notationsystem, von U. Geißner als „Gesprächsverlaufssoziogramm" bezeichnet und als solches auch dargestellt, unterscheidet sich in zweierlei Hinsicht von den Anfängen linguistischer gesprächsanalytischer Notierungen: Ausgehend von der Zielsetzung, Erkenntnisse über die Verteilung der Gesprächsaktivitäten und den Gesprächsverlauf gewinnen zu wollen, stand bei Geißner nicht die Textnotation im Vordergrund, sondern die Verteilung der Redebeiträge auf die Gesprächsteilnehmenden mit jeweiligen inhaltlichen Anknüpfimgen, das Verhältnis der Sprechenden zueinander (Rangordnung, Bekanntheitsgrad) und die Beziehungsherstellung der Betroffenen über nonverbale Kommunikationsmittel. So bezieht das Gesprächsverlaufssoziogramm von Anfang an Aspekte ein, die in der linguistischen Gesprächsanalyse erst wesentlich später Eingang finden,6 läßt die textliche Seite des Gesprächs aber weitgehend unberücksichtigt. Einer Darlegung Grubers folgend, daß [,..]die erste Gemeinsamkeit aller erwähnten Richtungen [Diskurs-, Gesprächs- u. Konversationsanalyse - C.M.H.] ist, daß sie authentische (meist sprachliche) Interaktion untersuchen, die mittels technischer Hilfsmittel (Tonband-, bzw. Videogerät) aufgezeichnet und anschließend nach bestimmten, festgelegten Regeln transkribiert werden [... und] daß alle Formen teilnehmender Beobachtung, wie sie in der qualitativen Sozialwissenschaft entwickelt und angewandt werden (vgl. Taylor/Bogdan, 1984), solange sie sich nur auf das Erstellen und Analysieren von Feldnotizen und Forschungstagebüchern beschränken, lediglich als Vorstudie oder Begleitung der eigentlichen Untersuchung angewandt werden können (1996: 37),

ist das Gesprächsverlaufssoziogramm für gesprächsanalytische Untersuchungen, die sich sprechwissenschaftlichen Fragestellungen nähern, als relevante Vorstufe zu betrachten. Es hat die Horizontbreite verbaler, paraverbaler, extraverbaler und gesprächsstruktureller Fokussierung bereits eröffnet, wobei der verbale Aspekt unterrepräsentiert bleibt. Henne (1977) gliedert u.a. unter Berufung auf Sacks/Schegloff/Jefferson (1974) die Organisationsstruktur von Gespräch als kommunikative Einheit in makrostrukturelle Elemente (Gesprächseröffnung, Gesprächsbeendigung etc.), mediostrukturelle Elemente (Gesprächsschritt, Sprecherwechsel, Gesprächssequenz u.a.) und mikrostrukturelle Elemente wie z.B. lexikalische und prosodische Struktur. Diese Gliederung eines Gesprächs in bestimmte Einheiten, das Erkennen von Grenzsignalen an Einheitengrenzen, die Analyse der Abfolge unterschiedlicher Einheiten und die Untersuchung der interaktiven Beteiligungsrollen, sind Aufgaben der Gesprächsanalyse, denn „[...] das Ziel der Analyse einer Kommunikation ist einzig und allein, sie besser zu verstehen. [...] Eine kommunikative Handlung verstehen heißt die Regeln kennen, nach denen eine Handlung gemacht wurde." (Heringer 1977: 9495) Die Prinzipien und Regeln der Ablauforganisation eines Gesprächs betreffen dessen Grundcharakter, der im Wechsel der Rollen von Sprechenden und Hörenden besteht: Das elementare System des Gesprächstyps Unterhaltung, nämlich das Turn-taking, bildet die methodische Lösung des Problems (das nach jedem Beitrag aufs neue zu lösen ist), wie gesichert werden kann, daß die Gesprächsteilnehmer nicht durcheinanderreden, sondern sich abwechseln, und zwischen ihren Beiträgen keine oder nur eine kleine Lücke bleibt. [...] Die Turnübergabe geschieht nicht an im voraus bestimmten Stellen, sondern rekursiv, von Äußerung zu Äußerung, turn by tum verschieden, an übergaberelevanten Stellen. Die Reihenfolge der Äußerungen, ihr Inhalt und ihre Länge sind nicht festgelegt."(Iványi 1998: 25) 6

So schreibt z.B. Henne in einem Aufsatz von 1977 (80): „Jede gesprächsanalytische Konzeption greift zu kurz, die nicht prosodische und parasprachliche Mittel (verstanden als Gestik, Mimik, Blickkontakt usw.) in ihre Untersuchungen miteinbezieht (vgl. Argyle 1972, S. I04ff.)" und dezidiert entwickelten Ehlich und Rehbein (1978) ein System zur Notation nonverbaler Merkmale.

14 Diesem Turn-taking gilt von Anbeginn an das Interesse gesprächsanalytisch arbeitender Gesprächsforscher7 mit je besonderen Schwerpunkten auf unterschiedlichen Phänomenen. Erste zaghafte Ansätze einer sprechwissenschaftlich orientierten Gesprächsforschung, sofern sie gesprächsanalytisch arbeitet, beziehen sich sowohl auf die Analyse sprecherischer Ausdrucksmittel an übergangsrelevanten Stellen8 als auch auf den Aspekt der Beteiligungsrollen9 in Gesprächen. Einen anwendungsbezogenen gesprächsanalytischen Ansatz für sprechwissenschaftliche Fragestellungen stellt erstmals Lepschy (1995) vor.

2.1.1.3. Transkriptionssysteme Die systematische Erfassung von gesprochenen Texten erforderte in der Zeit, bevor es technische Tonträger gab (Schallplatte, Tonband usw.), ein möglichst genaues System der Transkription. Aber auch nach der Entwicklung der technischen Mittel zur Reproduktion von sprachlichen Lauten sind Formen der Verschriftlichung unumgänglich, um wissenschaftliche Analysen der Daten gesprochener Sprache zu machen, die ja immer die Kommunikationsmöglichkeiten der Wissenschaftler über ihre Objekte und somit deren eindeutige Identifikation voraussetzen. (Ehlich/Switalla 1976: 79)

Diese bereits 1976 formulierte Feststellung hat bis heute nichts von ihrer Gültigkeit verloren: Soll gesprochene Sprache im Rahmen einer empirischen Untersuchung mit gesprächsanalytischen Methoden untersucht werden, bedarf es eines möglichst genauen Transkripts, einer Form der Verschriftlichung, um verifizierbare Aussagen treffen zu können. Mit der Entwicklung gesprächsanalytischer Verfahren ist auch eine Veränderung unterschiedlichster Transkriptionssysteme einhergegangen. In der exemplarischen Übersicht, die Ehlich/ Switalla in ihrem Aufsatz vorstellen, unterscheiden sie zwischen phonetisch/phonologisch orientierten Transkriptionen gesprochener Sprache und aus diskursanalytischen Zusammenhängen entwickelten.10 Aus der Gemeinsamkeit aller gesprächsanalytischen Verfahren, in verlaufender Zeit mehrere synchron wahrzunehmende Ebenen aufzuzeichnen, ergeben sich nach Ehlich/Switalla prinzipielle Anforderungen an ein Transkript: Die Aufnahme der akustischen und visuellen Daten muß möglichst genau und ausführlich erfolgen, um spätere Ausweitungen des Transkripts über die ursprüngliche Zielstellung hinaus möglich zu machen, da sich im Verlaufe des Analyseprozesses erweiterte Fragestellungen ergeben können. Der gleiche Anspruch der Ausbaufahigkeit ist an das Transkriptionsverfahren zu richten. Durch eine Sukzession der Arbeitsschritte entsteht ein wachsender, transparenter, korrigierbarer Aufbau, der in weiteren Arbeitsstufen oder unter später hinzukommenden Aspekten ausbaufähig ist. 7 8 9

10

Vgl. hierzu die Einführungen von Henne/Rehbock (1995) und Brinker/Sager (1989) Geißner, U. (1975) und Gutenberg (1984a) Schwitalla (1992) erläutert nach Bublitz (1988) den Terminus, der sich auf die Rolle des primären Sprechers (der den eigentlichen Redebeitrag leistet), des sekundären Sprechers (der den Primärbeitrag begleitend kommentiert) und die Rolle des Hörers bezieht, und erweitert dieses klassische gesprächsanalytische Modell um Geltungsbedingungen, wie z.B.: „Mehrere Beteiligte können zeitweise konkurrierend um das Rederecht kämpfen. Ob überhaupt, wie lange und mit welchen Mitteln jemand simultan sprechend sich das Rederecht erkämpfen darf, ist kulturell und selbst innerhalb einer Gesellschaft wie der unseren unterschiedlich geregelt." (71-72) Die Konzepte der unterschiedlichen Transkriptionssysteme sollen hier nicht im einzelnen diskutiert werden. Vgl. dazu Ehlich/Switalla (1976).

15 Von Wichtigkeit ist in diesem Zusammenhang, daß es den Transkribierenden gelingt, „die wesentlichen Kennzeichen analysierter Wirklichkeitsausschnitte herauszuarbeiten. Dies geschieht in der Form der Rekonstruktion des Konkreten, der die Identifikation seiner charakteristischen Bestandteile analytisch vorausgeht. Die Rekonstruktion zeigt deren Zusammenhang und Strukturen im einzelnen auf. Die qualitativen Differenzen werden so theoretisch repräsentiert. Das theoretische und analytische Instrumentarium ist so zu wählen, daß es diesem erkenntnistheoretischen Ziel angemessen ist und daß es die gesellschaftlichen Prozesse, zu deren Repräsentation es dient, nicht theoretisch und/oder notationeil zerschlägt. Die wissenschaftliche Analyse geht von den alltäglichen Erfahrungszusammenhängen der vergesellschaftet Handelnden aus - gleichgültig, ob sie sich das eingesteht oder nicht. Eine selbstreflektierte Verfahrensweise, die unumgänglich ist - soll die gesellschaftliche Wirklichkeit tatsächlich rekonstruiert werden-, legt diesen Zusammenhang offen und hat darin zugleich die Möglichkeit, die alltäglichen Erfahrungen zu bewerten und zu kritisieren. (Ehlich/Rehbein 1978: 53-54)

Die einzelnen Notationsverfahren werden in Kap. 2.2.1.3. dargestellt.

2.2. Nonverbale Kommunikation 2.2.1. Literaturdiskussion Nonverbale Kommunikation bzw. nonverbales Verhalten berühren das Forschungsinteresse unterschiedlichster Disziplinen." Dergestalt vielfaltig, sich überlappend, teilweise widersprüchlich und in unklarer Abgrenzung gegeneinander stellt sich die Terminologie dar, welche die jeweiligen Blickwinkel und inhaltlichen Bezüge der einzelnen Fachrichtungen abbildet. In bezug auf gesprochene Sprache bzw. das Miteinandersprechen von Personen gehört Nonverbales auch zum Gegenstand von Sprechwissenschaft und Linguistik. Das nachfolgende Kapitel stellt den Versuch dar, inhaltliche Linien zu klären, Schnittmengen herauszuarbeiten und Terminologisches diskursiv zu erörtern. In einem schematischen Überblick zeigen Helfrich/Wallbott (1980) die zum nonverbalen Verhalten subsummierten Merkmale: Sie differenzieren zwischen vokalen und nonvokalen Aspekten, den von den Stimm- und Sprechwerkzeugen hervorgebrachten bzw. abhängigen und den von den Stimm- und Sprechwerkzeugen unabhängigen. Zu dem nonverbal-vokalen Verhalten gehören zeitabhängige, stimmabhängige und kontinuitätsabhängige Aspekte, zu dem nonverbal-nonvokalen Verhalten motorische, physio-chemische und ökologische Kanäle. Für dieses weite Verständnis von Nonverbalem, das Schmuck, Parfum, Kleidung, Territorialverhalten und andere externe Faktoren mit einbezieht, erscheinen die Bedenken, welche die Autoren in dem Zusammenhang gegenüber der Verwendung des Terminus „Nonverbale Kommunikation" äußern, folgerichtig: Dies verlangt einen von Sender und Empfanger zumindest partiell geteilten „Kode", also festgelegte Regeln über Zuordnungen von bestimmten Zeichen zu bestimmten Bedeutungen. [...] Da diese Forderungen bei nonverbalen Äußerungsformen offensichtlich nicht immer erfüllt sind, wurden verschiedene Erweiterungen und Differenzierungen vorgeschlagen, die letztlich beinhalten, daß nonverbales Verhalten nicht mit nonverbaler Kommunikation gleichgesetzt werden kann [...] (Helfrich/Wallbott 1980: 268) " Vgl. hierzu eine Zusammenstellung grundlegender Arbeiten in Scherer/Wallbott (1979) und einen kurzen historischen Abriß in Ellgring (1995)

16 Schoenthal (1993) schlägt daher eine Begriffsbestimmung i.e.S. für die vokalen und motorischen Aspekte vor und eine i.w.S., die alle weiteren Merkmale mit umschließt. Ekman/Friesen differenzieren zwischen kommunikativem, interaktivem, informativem und idiosynkratischem Verhalten. Die Zusammenhänge beschreiben sie folgendermaßen: Communicative nonverbal behavior encompasses those acts which are clearly and consciously intended by the sender to transmit a specifiable message to the receiver. We are excluding thereby much informative behavior. That is, many acts which convey shared decoded meaning are not, by our definition, communicative; these would be acts which while informative were not intended consciously by the sender to transmit a message. [...] Interactive nonverbal behavior [...] they are acts by one person in an interaction which clearly modify or influence the interactive behavior of the other person(s). (1969: 55-56)

Nach diesem Verständnis könnte nonverbale Kommunikation i.e.S. eine Subkategorie von kommunikativem und interaktivem Verhalten sein, wobei Ekman/Friesen jedoch paraverbale Aspekte vernachlässigen. Scherer12 weist nachdrücklich daraufhin, daß auch die nonverbale Kommunikation als symbolischer Code angesehen werden kann, jedoch mit einer probabilistischen Beziehung zwischen Zeichen und bezeichnetem Objekt und einer kontinuierlichen Darstellungsfunktion (1976: 278), was ebenfalls die Notwendigkeit der Differenzierung zwischen „nonverbaler Kommunikation" und „nonverbalem Verhalten" unterstreicht. Die probabilistische Kodierung vieler nonverbaler Zeichen bedeutet gleichzeitig, daß von einer beobachteten nonverbalen Verhaltensweise nicht ohne weiteres auf eine eindeutige Bedeutung geschlossen werden kann, da diese nur eine Interpretationsmöglichkeit von vielen ist. Demnach ist es unzulässig, den Gesamtbereich als „nonverbale Kommunikation" zu bezeichnen, da zwar viele nonverbale Phänomene interaktiv relevant sind, kommunikativ aufgeladen werden können oder informativ für einen Beobachter sind, indem er Schlüsse und Attributionen aus solchen Verhaltensweisen zieht, sich aber nicht als kommunikativ im strengen Sinne darstellen. Die Literatur spricht bei der vokalen nonverbalen Kommunikation auch „[...] von .paralingualen', ,paralinguistischen' oder .extralinguistischen' Funktionen der Sprache und des Sprechens. Dies bedeutet, daß ein nicht sprachlich-inhaltlicher Aspekt der Mitteilung angesprochen ist, der jedoch über Sprache oder Sprechen vermittelt wird (Bergmann 1988: 1216) im Unterschied zu „[...] nonverbalem, nonvokalem Ausdrucksverhalten, das alle nichtsprachbezogenen Aspekte der Motorik der übrigen Körpermuskulatur umfaßt und sich dem Empfänger visuell vermittelt." (Wallbott 1988: 1227) Das Einbeziehen von „extralinguistisch" durch Bergmann in die durch Sprache und Sprechen vermittelten Aspekte ist ungewöhnlich, wird doch bereits begrifflich auf die Ablösung vom Textbezug verwiesen.13 So erscheint eine Differenzierung der sprechsprachlichen Kommunikation in verbale (linguale), paraverbale (paralinguale) und extraverbale (extralinguale) Aspekte als konsequenteste Darstellung der unterschiedlichen, am Sprechprozeß beteiligten Ebenen, unter Einschluß der Erkenntnis, daß Kommunikationsprozesse nur in ihrer multidimensionalen Komplexität erfaßbar sind. Die para- und extralingualen Merkmale, zusammengefaßt als nonverbale, können im Sprechprozeß unterschiedliche Funktionen übernehmen. Scherer (1976) verweist auf die Dimensionen sprachlicher Zei12

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Scherer verwendet als Oberbegriff „nonverbale Kommunikation", mit den Unterbegriffen „paralinguistische" und „nonverbale Kommunikation" Vgl. auch Wenzel (1980) und Glück (1993)

17 chen nach Morris und klassifiziert analog dazu in parasemantische, parasyntaktische und parapragmatische Dimensionen nonverbaler Verhaltensweisen im Gespräch. Gleichzeitig erweitert er dieses Gefiige um eine vierte Dimension, die mit der Entwicklung der gesprächsanalytisch orientierten Gesprächsforschung, besonders unter dem Aspekt des TurnWechsels, zentrales Interesse erlangt hat: die dialogischen Funktion. Im Rahmen der parasemantischen Funktionen unterscheidet Scherer zwischen Amplifikation des semantischen Anteils durch die nonverbale Verhaltensweise, Kontradiktion und Modifikation, und als Sonderfall die Substitution. Diese Funktion unterscheidet sich von den anderen dadurch, daß der Bedeutungsinhalt durch ein nonverbales Zeichen direkt übermittelt wird, losgelöst von der Verbaläußerung, also im eigentlichen Sinne nicht mehr para-semantisch wirkt. Die parasyntaktischen Funktionen der nonverbalen Anteile gliedert Scherer in die Segmentation des Sprachflusses und die Synchronisation verschiedener Verhaltensweisen in verschiedenen Kommunikationskanälen. Bei den parapragmatischen Funktionen differenziert der Autor zwischen der Ausdrucksfunktion (Expression) als längeranhaltender Persönlichkeitsdisposition, Affektbezogenheit und Intentionalität, im Gegensatz zur Reaktionsfunktion als kurzfristiger konkreter Reaktion auf eine Äußerung, mit den Signalen von .Aufmerksamkeit", „Verstehen" und „Bewertung". (1976: 286) Die neu eingeführte Dimension, die dialogische, charakterisiert Scherer folgendermaßen: Es handelt sich hier darum, daß eine Reihe von interaktiven Kommunikationsphänomenen nicht auf die Beziehungen zwischen Zeichen und Zeichen oder zwischen Zeichen und Sprecher bezogen ist, sondern auf die Beziehungen zwischen Zeichen und dem dyadischen System der beiden Interaktionspartner.14 Der zentrale Aspekt dieser vierten Dimension liegt also darin, daß hier ein Zusammenwirken von Verhaltensweisen beider Dialogpartner in der dyadischen Interaktion erforderlich ist, um eine bestimmte Funktion zu unterscheiden: zum einen die Regulation, zum andern die Relation. (1976: 287)

Für gesprächsanalytische Untersuchungen haben diese beiden Aspekte besondere Bedeutung: Die Klärung der Fragen, wie u.a. über nonverbale Verhaltensweisen Turn-Wechsel organisiert (Regulationsfunktion) und wie Symmetrie und Asymmetrie der Statusverhältnisse (Relationsfixnktion) konstruiert werden, sind zentrale Themen bereits früher gesprächsanalytischer Arbeiten.15 Diese vier Dimensionen betreffen sowohl paralinguale als auch extralinguale Merkmale. Aspekte dieser funktionalen Klassifikation entsprechen der bereits 1969 vorgestellten Kategorienbildung von Ekman/Friesen in Illustrators (das Verbale wird unterstützt, verstärkt), Emblems (Nonverbales, das allen Mitgliedern einer Kultur bekannt ist, anstelle von Verbalem), Affect Displays (primärer Ausdruck von Affekt bzw. Emotionen), Regulators (Regulation und Synchronisation von Interaktionen, besonders dem Tum-Taking) und schließlich den Adaptors (unbewußte Manipulationen, die keine konkrete Mitteilung intendieren). Die Differenzierung Scherers in Dimensionen nonverbaler Verhaltensweisen und ihre unterschiedlichen Funktionen innerhalb dieser Dimensionen fuhrt den Ansatz von Ekman/Friesen in transparentere Konsequenz der Bezugsebenen. Die vorliegende Arbeit versteht sich in ihrem zenztralen Gegenstand als para- und extralinguistische Analyse auf der von Scherer als „dialogische Dimension" bezeichneten Ebene. 14

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Da es sich um eine gesprächsregulierende Funktion handelt, sollte sie möglicherweise günstiger „interaktional" gewählt werden, im Unterschied zur inhaltlich-kategorialen Dimension „Dialog". Vgl. hierzu Sacks/Schegloff/Jefferson (1974), Duncan (1974) und Goodwin (1979)

18 2.2.1.1. Paralinguale Merkmale Es wurde oben gezeigt, daß es sowohl bezüglich der terminologischen Differenzierung als auch der klassifizierenden Zuordnung von paralingual, paralinguistisch, suprasegmental, prosodisch, nonverbal-vokal in der Literatur Unklarheiten, Überschneidungen und divergente Positionen gibt. In diesem Kapitel soll ein Klärungsversuch dazu fuhren, den kategorialen Rahmen für die vorliegende Arbeit zu schaffen. Eine erste Orientierung können wir bei Selting finden, sie umreißt „Prosodie" ausfuhrlich: Prosodie wird verstanden als Oberbegriff für diejenigen suprasegmentalen Aspekte der Rede, die sich aus dem Zusammenspiel der akustischen Parameter Grundfrequenz (FO), Intensität und Dauer in silbengroßen oder größeren Domänen ergeben. (1995: 1) [...] Hierzu gehören Tonhöhenverlauf („tone", „pitch direction"), Bandbreite („pitch range"), Pausen („pause"), Lautstärke („laudness"), Sprechgeschwindigkeit/Tempo („tempo"), Rhythmus („rhythmicality"), Artikulationsspannung („tension"), und die paralinguistischen Parameter Stimmqualität („voice qualifiers") und Charakterisierungen paralinguistischer Aktivitäten („voice qualifications'). [...] Prosodie wird dabei also als der umfassendere Begriff angesehen, der den Gegenstandsbereich der Intonation mit umfaßt. [...] Prosodie und Intonation werden verwendet zur Konstruktion „prosodisch kohäsiver Einheiten". Diese fallen oft, jedoch nicht immer, mit Turnkonstruktionseinheiten zusammen [...]. Für die Signalisierung prosodisch kohäsiver Einheiten spielt die Intonationskontur eine herausragende Rolle gegenüber anderen prosodischen Parametern. (1995: 38)

Heike (1969) differenziert zwischen diskreten und kontinuierlichen suprasegmentalen Merkmalen: Während die einen auf lexikalischer Ebene zur Distinktion von Silben und/oder Morphemen beitragen und auf syntaktischer Ebene zur Markierung syntaktischer Einheiten (Prosodeme), spricht er den kontinuierlichen (Kontureme) mit Konventionalisierung eine kommunikative Funktion zu (Expresseme). Obwohl Heike sich in dieser Untersuchung auf eine Parameteranalyse von Vokalen in kleineren syntaktischen Einheiten bezieht (Interjektionen und Fluchwörter), verweist er ausdrücklich auf die kommunikative Gliederungsfunktion suprasegmentaler Merkmale: „Zahlreiche Untersuchungen weisen jedoch daraufhin, daß Äußerungen als suprasegmental gebundene Komplexe kleinerer Einheiten nicht mit den in Grammatiken und syntaktischen Beschreibungen festgelegten Gebilden, wie z.B. ,Satz', .Satzglied' usw., übereinzustimmen brauchen." (1969: 2) Für seine suprasegmentale Analyse bezieht sich Heike auf die Parameter Dauer, Intensität, Tonhöhenkontur, Betonungsstelle, Spannung und setzt diese in unterschiedliche Relationen zueinander. Für die Relation zwischen objektiv meßbaren und auditiv wahrnehmbaren suprasegmentalen Erscheinungen formuliert Heike eine wichtige Erkenntnis: Grundsätzlich gilt jedoch die bekannte, allerdings immer noch oft übersehene Tatsache, daß auditive Feststellungen und gemessene Substanzmerkmale in keinem einfachen Verhältnis zueinander stehen. Aus unseren Versuchen wird folgendes deutlich: Jedem auditiven Merkmal kann ein Bündel oder ein Komplex aller meßbarer Substanzmerkmale gegenüberstehen." (1969: 121-122)

Schönherr (1997) trennt zwischen prosodischen und über diese hinausgehenden paralinguistischen Informationen, wobei sie Änderungen von Tonhöhe, Lautstärke und Sprechgeschwindigkeit als die eigentlichen prosodischen Parameter, Pausen, Dehnungen, hörbares Einatmen als weitere prosodische Parameter nennt. French und Local (1983) beschreiben in ihrem Aufsatz, der sich mit kompetetiven Interventionsmöglichkeiten in Gesprächen befaßt, prosodische Aspekte des Unterbrechens. Sie verstehen darunter Tonhöhe-, Tempo- und Lautstärkevariationen, in Anlehnung an Crystal

19 nicht-segmental: „These features (e.g. pitch height and tempo variations) having to do with non-segmental characteristics of speech have been termed .prosodie'." (1983: 18) Weinrich erörtert das Verhältnis von Verbalem und Nonverbalem und kommt zu dem Schluß: Die Bezeichnung „nonverbale Äußerung" (nonverbal utterance) soll hier zum Ausdruck bringen, daß es sich im nonverbalen Bereich in ähnlicher Weise wie in der Sprechphase um Zeichen handelt, die eine „innere" Bedeutung nach „außen" wenden und auf diese Weise Kommunikation bewirken. Die nonverbalen Äußerungen werden daher grundsätzlich nicht als Begleitphänomene des gesprochenen Dialogs angesehen, sondern als Kommunikationselemente, die mit den sprachlichen Kommunikationselementen im engeren Sinne zusammenwirken und mit ihnen gemeinsam das Gesamtereignis Dialog hervorbringen." (1992: 95)

Die sich anschließende Beschreibung nonverbaler Kommunikation bezieht sich dann allerdings lediglich auf „kommunikationsrelevante Positionen des Körpers" (1992: 103) Scherer (1973) verweist auf den in den USA an Bedeutung gewinnenden Forschungsansatz der non-verbal communication, wobei unter nonverbal von den meisten Autoren auch paralinguistische Phänomene wie beispielsweise Intonation, Sprachtempo etc. subsumiert werden. Er benennt im folgenden zwei Phänomengruppen, die der systematischen Beobachtung des auditiven Kanals zugänglich sind: Stimmqualität und Sprechweise. Unter Stimmqualität versteht er stabile Stimmcharakteristika eines Sprechers, die durch Geschlecht, Alter und Konstitution festgelegt und somit relativ invariant sind, sowie transitorische Stimmvariationen. Unter Sprechweise versteht Scherer stimmabhängige Variationen wie Aussprache, Intonation, Lautstärkeveränderungen und zeitabhängige Variationen wie Sprechgeschwindigkeit, Kontinuität, Dauer. Allen Merkmalen gemeinsam ist, daß sie dem auditiven Kanal zugeordnet werden können, als einem von mehreren Kommunikationskanälen. In einem knappen Literaturüberblick zeigt Bernd Möbius den differenten terminologischen Gebrauch der Begrifflichkeiten in der „sprachwissenschaftlichen Teildisziplin 'Prosodie'" und resümiert: „Die in der Literatur häufig anzutreffende Synonymsetzung der drei Begriffe Prosodie, Suprasegmentalia und Intonation (z.B. Bußmann, 1990, S. 352) oder zumindest der beiden erstgenannten (vor allem in der englischsprachigen Literatur) ist nicht hilfreich, um die .babylonische Sprachverwirrung' auf diesem Forschungszweig zu beheben." (1993: 7) Er schlägt daher vor, Prosodie als Oberbegriff zu verwenden, dem sich einerseits die Suprasegmentalia als Merkmalssysteme mit linguistischer Funktion (Intonation, Lautheit, Quantität) und andererseits „weitere Merkmale", die er unbezeichnet läßt, deren linguistischer Status zumindest umstritten ist (Sprechtempo, Rhythmus, Stimmqualität, Pausen u.a.), unterordnen. Er präferiert diese Aufteilung unter dem Hinweis, daß die Merkmalssysteme mit linguistischer Funktion sich von den anderen dadurch unterscheiden, daß sie sowohl segmentinhärent als auch suprasegmental mit den gleichen phonetischen Mitteln wirksam werden, und nicht nur suprasegmental Bedeutung erlangen. (1993: 8) Stock (1996) verweist darauf, daß die Intonation als ein in gesprochenen Äußerungen enthaltenes Komplexsignal von den Hörenden als relativ selbständige rhythmischmelodische Klangfigur erlebt wird, das Komplexsignal sich jedoch aus mehreren artikulatorisch erzeugten suprasegmentalen Merkmalen konstituiert. Er nennt insbesondere die Modifikation der Signalfrequenz, der Schallintensität, der Sprechgeschwindigkeit und die Unterbrechung des Sprechflusses durch akustische Nullphasen. Hier werden demnach die als

20 suprasegmentale Merkmale bezeichneten Konstituenten Signalfrequenz, Schallintensität, Sprechgeschwindigkeit und Pausen der Intonation als rhythmisch-melodischem Komplexsignal untergeordnet. Die Darstellung ließe sich anhand der Literatursituation nahezu beliebig fortsetzen, ohne daß man wesentliche Erkenntnisse hinzugewönne. Das oben Beschriebene zusammenfassend, zeigt sich die Tendenz in der phonetischen Literatur, Prosodie als Oberbegriff fur die suprasegmentalen Aspekte des Sprechens zu verwenden. Dabei wird differenziert zwischen den akustischen Parametern, die meßtechnisch aus dem Sprachsignal extrahierbar sind, der Grundfrequenz, der Intensität und der Dauer bzw. ihren auditiven Äquivalenten mit Intonation, Lautheit und Quantität einerseits und den „weitere Merkmale", „paralinguistische Parameter" oder „Begleitphänomene" bezeichneten Merkmalen wie Sprechtempo, Rhythmus, Artikulations- oder Sprechspannung, Stimmqualität und Pausen andererseits, die im Unterschied zu den Schallmerkmalen auch als Artikulationsmerkmale (Meinhold/Stock 1980: 222) bezeichnet werden. Die am Sprachsignal meßbaren Daten können sowohl segmentinhärent als auch suprasegmental wirksam werden, somit auch linguistischen Status erfüllen, die übrigen Parameter haben ausschließlich suprasegmentalen Charakter: „Von den kleinsten diskreten Segmenten einer sprachlichen Signalkette, den segmentalen Einheiten, lassen sich übergeordnete kontinuierliche Einheiten von unterschiedlicher Länge abheben, die Segmente zu größeren Struktureinheiten zusammenfassen und suprasegmentale Merkmale aufweisen. Die suprasegmentalen Merkmale sind an die segmentalen Einheiten gebunden, sie konstituieren sich akustisch aus derselben physikalischen Substanz wie die Phonemgruppierungen, können aber auf der Ebene der Funktionsbeschreibung als Mittel der Satzphonetik von ihnen getrennt werden."(Rabe 1979: 42) Deshalb schlußfolgert Geißner: „Was unter beschreibender Hinsicht (phonetisch) als suprasegmentale Merkmale beschrieben wird, wird in interpretierender Absicht (hermeneutisch) auch als prosodische Merkmale gekennzeichnet." (1986a: 83) Scherers (1973) Darstellung des auditiven Kanals, die sich an der Wahrnehmung orientiert und zu einer Differenzierung zwischen Stimmqualität (Stimmeigenschaften der Sprechenden) und Sprechweise (stimmabhängige und zeitabhängige Variationen des Sprechens) fuhrt, eröffnet die Sichtweise auf eine Reihe von nicht-phonetischen Publikationen mit vergleichbarem Ansatz aus Psychologie und Sprechwissenschaft. Er folgt im wesentlichen den Vorstellungen von Fährmann (1960), der zwischen drei Klassen von Sprechausdrucksphänomenen differenziert: den habituellen Stimmqualitäten (Stimme), den individuellen Verlaufsqualitäten (Sprechweise) und formalen (akzessorischen) Qualitäten. Zur Abrundung der Sprechanalyse aus direkter Situation empfiehlt er das Hinzuziehen mimischer und pantomimischer Beobachtungen. Den habituellen Stimmqualitäten rechnet er Tonhöhe (Stimmlage), Lautstärke, Stimmfülle (Volumen) und Klangfarbe (Timbre) zu, den individuellen Verlaufsqualitäten das Sprechtempo, den rhythmischen Ablauf, die Akzentuierung, die Artikulation, den Sprechstil und die Sinnform (Satzbau, Wortwahl, Textüberschau), und kommt so zu zehn Kategorien von Sprechmerkmalen. Sowohl über die Kategorienbildung als auch anhand der Terminologie wird deutlich, daß die Merkmale am Prozessualen des Sprechens orientiert sind, die Äußerung charakterisieren, die sprechenden Personen identifizieren, segmenteile Aspekte dagegen in den Hintergrund treten. Hier zeigt sich die Konsequenz eines Ansatzes, der die Beteiligten als sprechende Individuen einbezieht. So rücken terminologisch die personenbezogenen Merkmale des Sprechens in den Vordergrund („Stimme", „Sprechweise", „Sprechmerkmale") und nicht phonetische Aspekte der Seg-

21 mentienmg („segmentinhärent", „suprasegmental"), wodurch Kategorien wie „Sprechwirkung", „Dialogizität" oder „Sprechausdrucksgestaltung" an Bedeutung gewinnen. Slembek (1983) verweist ausdrücklich auf den Terminus „Sprechausdrucksmerkmale", trotz seiner Äquivokationen, weil er gegenüber der in der Linguistik gebräuchlichen Bezeichnung „Suprasegmentalia" neben linguistisch relevanten Kriterien weitere „lediglich" kommunikativ relevante, wie z.B. Stimmqualität oder Grundtonhöhe, mit einschließt. Sie folgt damit Möbius' Klassifizierung in Suprasegmentalia als linguistisch relevante und andere, linguistisch nicht relevante Merkmale. Den von Möbius fur die Gesamtheit beider vorgeschlagenen Oberbegriff „Prosodie" ersetzt sie durch den Terminus „Sprechausdrucksmerkmale". Schlußfolgernd referiert sie den „Kleinen Katalog sprecherischer Ausdrucksmittel", wie ihn Geißner (1986b: 102) zusammengestellt hat, der nach melodischen, dynamischen, temporalen und artikulatorischen Ausdrucksmitteln differenziert16 und in einer späteren Publikation von ihm um rhythmische und melodische Komplexqualitäten und die der Intension erweitert wurde (1989). Indem z.B. den melodischen Ausdrucksmitteln sowohl die Klangfülle (linguistisch nicht relevant) als auch die Satzmelodie (linguistisch relevant) zugeordnet werden (das läßt sich auch auf die anderen Klassen von Ausdrucksmitteln übertragen), ist der linguistische Fokus aufgehoben und durch einen stringent sprechwissenschaftlichen ersetzt. Diesem folgt auch die vorliegende Arbeit mit der Analyse der Parameter „Stärkeabstufiing" (dynamisch), „Tonhöhenverlauf' (melodisch), „Sprechtempo und Pausen" (temporal), „Sprechspannung" (artikulatorisch). Der sprechwissenschaftliche Aspekt wird auch deutlich in der Zuordnung der Parameter zu den sog. „leibhaften Faktoren" (1986a: 84) des Sprechens. Den vier Merkmalsparametern melodisch, dynamisch, temporal und artikulatorisch ordnet Geißner in einer von ihm entwickelten Matrix (1981: 38) linguistische, soziale und diagnostische17 Dimensionen zu.18 Indem Slembek betont, „[...] daß im Wie des Sprechens wichtige diagnostische und sozialexpressive Funktionen zu Tage treten" (1983: 218), wird auch deutlich, daß diese durch und in sprechsprachlichen Äußerungen auftreten, also nicht „nonverbal" sein können. So erscheint „Sprechausdrucksmerkmale" als geeigneter Terminus, um die kommunikative Funktion der jeweiligen Parameter zu kennzeichnen, „paraverbal" oder „paralingual", um die Relation zum Sprachbezug herzustellen. Konnotationen wie „nur auf das Verb bezogen" sind mit „paralinguale Parameter" bzw. „paralinguistische Analyse" vermeidbar. Beide Aspekte, der des kommunikativen Bezuges und der des Sprachbezuges sind sprachlich auch vereinbar: paralinguale Sprechausdrucksmerkmale. Das setzt allerdings die Annahme voraus, es gäbe auch andere Sprechausdrucksmerkmale. Wenn wir Geißner folgen können, daß „[...] alle leibhaften Ausdrucksformen im Bereich des Gesichts (Mimik), der oberen Extremitäten (Gestik) und Gesamtmotorik (Kinesik) im Raum (Proxemik) [...] eingebettet [sind] in Prozesse mündlicher Kommunikation [...]"(1986a: 84), dann sind sie nicht nur sprachbegleitend, sondern auch sprachbezogen. Als Ausnahme dieser Feststellung hätte lediglich die Substitutionsfunktion der o.g. Parameter zu gelten als tatsächliche extra-linguale Setzung. So scheint es konsequent, von extralingualen Sprechausdrucksmerkmalen zu sprechen. 16

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Eine leicht revidierte Fassung von H. Geißners „kleinem Ausdruckskatalog" findet sich bei U. Geißner (1985: 130) Bei Meyer-Eppler (1959: 228) heißen diese Dimensionen „diagnostische, semantische und expressive Sphären" Merkwürdigerweise bezieht er die von Scherer (1976) vorgestellte dialogische Dimension in seine Matrix nicht mit ein.

22 Terminologisch kann somit unter der Geltensbedingung, daß die sog. körpersprachlichen Signale die sprechsprachliche Äußerung begleiten, gemäß den von Scherer (1976) dargestellten Funktionskategorien, die double-bind-Situation abgebildet werden, daß es sich einerseits um eine außerhalb des Sprachlich-Sprecherischen befindliche Ebene handelt, anderseits im dargestellten Sinne an die sprechsprachliche Äußerung gebunden ist.

2.2.1.2. Extralinguale Merkmale Zunächst wollen wir uns in diesem Kapitel damit beschäftigen, zu skizzieren, wie diese nonverbalen Signale [Handbewegungen, Kopfnicken, Blickwechsel, Mimik - C.M.H.] sich auf das Sprechen beziehen. Wir werden feststellen, daß sie in verschiedener Weise mit den fortschreitenden verbalen Botschaften verbunden sind und daß alle diese Verbindungen fur die verbale Kommunikation wichtig sind. [...] Das ist allerdings kein gewöhnlicher Standpunkt; viele Linguisten bejahen wohl, daß nonverbale Signale über den vokal-auditiven Kanal zur Sprache gehören, jedoch nicht solche über den kinetischen Kanal [...]." (Argyle 1987: 147-148)

Mit diesen einfuhrenden Bemerkungen eröffnet Argyle in seinem Buch das Kapitel „Nonverbale Kommunikation beim Reden" und definiert damit bereits das zentrale Problem: Inwieweit ist die sog. „Körpersprache" Bestandteil sprechsprachlicher Kommunikation oder außerhalb der gesprochenen Sprache Existierendes. Ehlich und Rehbein (1982) verweisen auf den prinzipiellen Anteil aller einzelnen menschlichen Sinne an der Kommunikation, beschreiben, daß die auditive Wahrnehmungsfähigkeit sich am deutlichsten geltend macht, im Gegensatz dazu die gustatorischen, olfaktorischen und taktilen Fähigkeiten als von eher eingeschränkter Bedeutung seien. „Anders ist die Situation beim Sehen, bei der visuellen Dimension. Sie umfaßt eine Vielzahl eigener kommunikativer Möglichkeiten, die reich ausgebildet sind." (1982: 3) Eine nachfolgend entwickelte Systematik differenziert zunächst zwischen „komitativer" und „selbständiger" nonverbaler Kommunikation,19 wobei „komitativ" das Begleiten der verbalen Kommunikation durch die nonverbale ausdrücken soll, im Kontrast zu der „selbständigen", die anstelle von verbaler Kommunikation gesetzt wird. Ehlich und Rehbein differenzieren diese in einen „präsentativen" und einen „ostentativen" Typ, was heißen soll, in das einfach Ersetzende (zeigen anstelle von verbaler Ortsangabe) bzw. überzogen Ersetzende (Türzuschlagen anstelle einer verbalen Antwort). Der komitative Typ unterteilt sich in „neutrale nonverbale Kommunikation", die „[...] standardmäßig innerhalb einer Kommunikationsgruppe mit einer kommunikativ valenten Sprache die verbale Kommunikation begleitet" und deren Anwesenheit „keinen eigenen kommunikativen Wert" hat, und in die „eigenlinige nonverbale Kommunikation". (1982: 9) Diese zeichnet sich dadurch aus, daß ihr eigenständige kommunikative Werte zukommen, die Kommunikation Vieldimensionalität durch das Miteinander von verbaler und nonverbaler Kommunikation erhält (z.B. das Kopfschütteln beim Sprechen von „nein"). Die eigenlinige nonverbale Kommunikation und die selbständige können sowohl konkordant (verbale und nonverbale Anteile haben gleiche Intention) als auch diskordant (widersprüchlich, z.B. Ironie) wirken. "

Merkwürdigerweise beziehen sich Ehlich und Rehbein in der gesamten weiteren Darstellung des Buches nur auf die visuelle Dimension, wenn sie von nonverbaler Kommunikation sprechen, obwohl sie eingangs die Mehrdimensionalität besonders betont haben. Die über den Titel („Augenkommunikation") gegebene Fokussierung erfolgt nicht explizit.

23 Der Versuch, diese Klassifizierung von Ehlich und Rehbein mit der o.g. Einteilung bei Scherer (1976) in Beziehung zu setzen, ergibt für die komitativ-neutrale und komitativeigenlinig-konkordante Funktion die Amplifikation, fur die komitativ-eigenlinig-diskordante die Modifikation und die Kontradiktion, und fur die Funktion der selbständigen nonverbalen Funktion die Substitution. Ergänzt man diese Überlegungen noch um die Dimensionen von Ekman/Friesen (1969), entspricht die komitativ-neutrale Funktion den Adaptors, die komitativ-eigenlinig-konkordante den Illustrators, die selbständige Funktion den Emblems. Die Affect Displays und Regulators nach Ekman/Friesen bleiben unbesetzt, für die komitativ-eigenlinig-diskordante Funktion findet sich keine Entsprechung. Dieser Versuch der Zusammenfuhrung der unterschiedlichen Dimensionen zeigt, daß die jeweiligen Autoren von differenten Voraussetzungen ausgegangen sind: Während bei Scherer die semantische Funktion der gesprochenen Sprache Ausgangspunkt war und demzufolge die parasemantische der nonverbalen Kommunikation, sind Ekman/Friesen von der kommunikativen Funktion des Nonverbalen ausgegangen, was sie eine Kategorie wie die Regulators hat aufnehmen lassen, die Scherer der parasyntaktischen Funktion zuordnet. Dagegen nennt er unter der parapragmatischen Funktion die Affect Displays. Unter Hinzufiigung der gesprächsorganisierenden „dialogischen Funktion", die, wie schon erläutert, sinnvollerweise besser interaktionale Funktion heißen sollte, erscheint die Bezugnahme auf die Zeichenfiinktionen als Gliederungsprinzip am konsequentesten, um die verschiedenartige Mehrdimensionalität des extralinguistischen Systems darstellen zu können, ohne disparate Ebenen zu vergleichen.20 Die Kommunikativität extralingualer Merkmale resultiert aus dem Verhältnis zwischen dem Bewegungspotential von Körperteilen und dem jeweiligen Ausdrucksrepertoire. Ehlich und Rehbein beschreiben diese Relation folgendermaßen: Ausdruck ist an Veränderung gebunden, diese impliziert Bewegung, mit dem Grenzfall des Innehaltens bzw. der Fixierung, den Stellungen. Die einzelnen Körperteile können in einer für sie spezifischen Weise bewegt werden, sie haben ein Bewegungspotential. [...] Dabei werden aus den Bewegungspotentialen spezifische Ausdrucksformen abgeleitet, die unter Verwendung der Bewegungsmöglichkeiten zu einem Repertoire zusammengeschlossen sind: dem Ausdrucksrepertoire." (1982: 15-16)

Das Ausdrucksrepertoire des Körpers ist demnach, vergleichbar der Artikulation und Stimmerzeugung, als sekundäre Funktion von primär basisorientierter Funktionalität zu betrachten. Unter Einschluß der Erkenntnis, daß das Verständnis dieses Ausdrucksrepertoires von ethnischen, sozialen, situativen und individuellen Prägungen abhängt, besteht eine hohe Verstehensambivalenz: Nur wenn einerseits den Ausdrucksqualitäten ein so hoher Verallgemeinerungsgrad zuzuschreiben ist, daß eine überindividuelle Verstehensleistung möglich ist, erlangen diese Bewegungen kommunikative Funktion. Andererseits bleibt eine relational fixierte Zuschreibung eines bestimmten Bewegungsmusters zu einer einzigen spezifischen Ausdrucksqualität eine unzulässige verkürzte Interpretation, welche die interindividuellen, kulturellen und situationalen Mehrdimensionalitäten vernachlässigt und mögliche Zufälligkeiten kommunikativ auflädt. 20

Zu ähnlichen Ergebnissen kommen Scherer/Wallbott/Scherer in ihrer Analyse der Handbewegungskategorien nach Ekman/Friesen, indem sie darauf verweisen, „[...] daß Handbewegungen mit sehr unterschiedlichen Ursachen und Funktionen in den gleichen Kategorien zusammengefaßt sind." (1979: 188)

24 [...] als kommunikativ im diskurssteuernden Sinne können nur solche Phänomene aufgefaßt werden, die keine statischen Größen darstellen wie es z.B. bei Kleidung, Frisur, Körpergeruch, extern bedingten Reaktionen [...] oder manifesten nonvokalen Erscheinungen wie pathogenem Stammeln der Fall ist".(Eckhardt 1981: 11-12)

Dieser Feststellung von Eckhardt folgend, entsteht ein funktionales Kriterium zur Differenzierung der oben dargestellten weiteren bzw. engeren Auffassung von extralingualen Merkmalen als nonverbaler Kommunikation: Wenngleich Aspekte wie Kleidung, Schmuck, Geruch, Personelles und Situatives u.a. extralinguale Größen darstellen und sowohl die kommunikative Situation allgemein als auch den konkreten interaktionalen Prozeß beeinflussen, lassen sie sich doch abgrenzen gegenüber denjenigen Phänomenen, die „als kommunikativ im diskurssteuernden Sinne" gelten können, d.h. in der prozessualen Wechselseitigkeit des Gesprächs beeinflußbar und veränderbar sind. Da in der vorliegenden Arbeit paralinguale und extralinguale Konstituenten untersucht werden, die am Gelingensprozeß von Interventionen beteiligt sind, also diskurssteuernd im engeren Sinne wirken, bezieht sich die Auswahl der Parameter auf Bewegungen der Arme und Hände (Gestik), Bewegungen des Kopfes und die Blickrichtung (Mimik) und (da es sich ausschließlich um sitzende Personen handelt) Bewegungen des Oberkörpers (Kinesik/Proxemik).

2.2.1.3. Notations verfahren Bei der wissenschaftlichen Erforschung des Miteinandersprechens sind ebenfalls Tonaufnahmen, mehr noch Videomitschnitte, Ausgangsmaterial der Analyse; dabei darf man nicht vergessen, daß nicht die Ton/Bild-Dokumente das eigentliche Objekt der Untersuchung sind, sondern die Gespräche oder Reden selber, von denen sie Dokumente sind. Sie sind Dokumente transitorischer Sprechhandlungen [...], die es gestatten, in wiederholter Betrachtung das Dokument zu beschreiben und über die Beschreibung die vergangene Sprechhandlung bzw. die sie steuernden Muster zu rekonstruieren." (Gutenberg 1984b: 167-168)

Die Rekonstruktion vergangener, weil in der konkreten Sprechzeit abgelaufener Sprechhandlungen bedarf zunächst, wie von Gutenberg dargestellt, der Ton-/Bilddokumentation als erster Stufe. Um Wahrnehmungen am Ton-/Bild-Dokument wissenschaftlicher Forschung reproduzierbar zugänglich machen zu können, erweist sich jedoch eine zweite Stufe als unumgänglich: die synoptische Verfügbarkeit, mit anderen Worten eine Notationsform. „Die Notation ist der Schritt, der die Stufe des Beurteilens von Gehörtem als Entsprechung einer Wahrnehmungskategorie darstellt." (1984b: 172) So verstanden impliziert Notation ein aus der spezifischen Gegenstandstheorie gewonnenes Kategoriensystem und ist als „methodisches Hörverstehen" (1984b: 175) ein Prozeß empirischer Hermeneutik.21 Den damit gleichzeitig verbundenen Gefahren von Interpretationssubjektivität und Zirkelschlüssen kann insoweit begegnet werden, als alle beobachtbaren Verhaltensphänomene prinzipiell im Kontext und nicht isoliert notiert werden in dem für das jeweilige Untersuchungsziel größtmöglichen Feinheitsgrad und durch mehrere Transkribierende. Zu beachten bleibt allerdings, worauf Annette Steuble verweist, „...daß jede Transkription 1. eine Abstraktion darstellt und 2. wesentliche methodologische Vorentscheidungen wie interpretative Vorleistungen des Transkribenten enthält, die in Hinblick auf die Analyseziele zu reflektieren sind." (1986: 27) 21

Aus eben diesem Grunde nennen Ehlich und Rehbein (1976 und 1978) ihr Notationssystem „Halbinterpretatives Arbeitstranskript (HIAT)".

25 Die sprechwissenschaftliche Zielstellung von Notationen gesprochener Sprache läßt sich wie folgt zusammenfassen: Mit der korpusgestützten Präsentation der Sprechwirklichkeit soll gezeigt werden, mit welchen sprachlichen, paralingualen und nonvokalen Mitteln sich diese Handlungsart vollzieht, wobei mit Auer der gesprochene Text nicht als materiell gegeben, sondern als interaktional produziert angesehen wird [...] Der gesprochene Text, genauer: das Medium mündlichen Handelns, wird als integrative Okkurenz sprachlicher, paralingualer und nonvokaler Bauelemente verstanden, die strukturell-funktional einander zugeordnet sind, dergestalt die mündliche Kontextualisierung bedingen und die pragmatische Sinngebung auslösen." (Richter/Skorubski 1991: 331)

Diese Darstellung enthält wesentliche Implikationen für ein adäquates Notationsverfahren: Interaktionale Sprechhandlungsprozesse mehrerer Beteiligter müssen in ihrer sprachlichen Verknüpfung erkennbar sein, paralinguale und extralinguale (hier: nonvokale) Merkmale sind in ihrer integrativen Okkurenz zu den sprachlichen Mitteln aufzuzeichnen, und ebenso sind die zeitlichen Zusammenhänge und strukturell-funktionalen Beziehungen transparent zu machen. Unter dieser Matrix wurden die unterschiedlichen in der Literatur beschriebenen Notationssysteme geprüft und für die konkrete Zielstellung dieser Arbeit bewertet.22 Wissenschaftsmethodisch konsequent zeigen sich in den Anfangen der Gesprächstranskription gegenstandsspezifische Fokussierungen: Während sich sprechwissenschaftliche Notationsversuche auf para- und extralinguale Sprechausdrucksmittel konzentrieren, unter Vernachlässigung des Textes, reduzieren sich linguistische Gesprächsaufzeichnungen auf die Verschriftlichung der textlichen Äußerungsanteile. Die Notation in einem der frühen wegweisenden Aufsätze zum Thema des Turn-takings von Sacks/Schegloff/Jefferson (1974) nimmt weder para- noch extralinguale Merkmale auf. Lediglich das Nichtreagieren eines Gesprächsbeteiligten wird vermerkt („Pause") und kontrastive Hervorhebungen bei der Turn-Übemahme (A: „Mein Argument lautet...", B: „Mein Argument aber.."). Erstes sprechwissenschaftliches Befassen mit Notation ist in einem Aufsatz von Ursula Geißner von 1975 dokumentiert, in welchem sie das über mehrere Semester bei Hellmut Geißner in Seminaren entwickelte und nach einem Kolloquium im Sommersemester 1969 an der Universität des Saarlandes in seiner endgültigen Form standardisierte „Gesprächsverlaufssoziogramm" (GVS) vorstellt.23 Es versteht sich als graphische Darstellung von Turn-Taking, seiner frequentiellen Häufigkeit und seiner Verteilung auf die Gesprächsbeteiligten als einen in der Zeit ablaufenden Prozeß. In der entwickelten Fassung des GVS werden Sitzordnung und Blickkontaktmöglichkeiten mit eingefügt, ebenso Textbruchstücke an übergangsrelevanten Stellen. Christian Winkler markiert in seiner Untersuchung zur Kadenzbildung (1979) am verschriftlichten Text funfstufige „Schwereabstufungen" (Akzente, wobei nicht nur Lautheitsprägungen gemeint sind), „Kadenzen" (Tonhöhenbewegungen vor Gliederungseinschnitten in vier Schritten) und „Gliederungen" (Pausen und andere Gliederungselemente, wie z.B. Ritardando, als vierstufiges System). Während es sich bei dem Gesprächsverlaufssoziogramm um ein graphisches Abbild eines in der Zeit verlaufenden Prozesses der Gesprächsstrukturierung auch mit para- und 22

23

Eine ausfuhrliche Darstellung der verschiedenen Notationssysteme findet sich bei Ehlich/Switalla (1976), P. Winkler (1981) und Richter/Skorubski (1991). Eine erweiterte Form stellt die „Rhetorische Analytik" nach Hellmut Geißner dar, die Wolf-Dieter Kirst im gleichen Band (1975: 83-129) vorstellt.

26 extralingualen Mitteln handelt, steht bei Winkler die Verknüpfung von syntaktischer und paralinguistischer Fragestellung im Vordergrund. Die Arbeit zu „Segmentierung und Hervorhebung in gesprochener deutscher Standardsprache" von Hans-Walter Royé (1983) markiert am verschriftlichten Äußerungstext die paralingualen Merkmale (Royé spricht nach Glinz von „phonodischen Mitteln") „Tonhöhenverlauf', „Pausen" und „Hervorhebungen", also die gleichen Charakteristika wie Winkler, in Unterscheidung zu diesem jedoch über die Satzgrenze hinweg. Während Royé apparative Messungen vornimmt, liegt Winklers Konzentration bei den auditiv registrierten Phänomenen. Die von ihm beschriebenen Wahrnehmungsstufen und -Charakteristika zeigen deutlich, daß es sich bei dieser Notierungsweise um Beurteilungen von Schalleigenschaften für die Sinnkonstitution handelt und keine nur objektive Notierung subjektiv wahrgenommener Schalleigenschaften. Die Notationsform, eingefugte Markierungssymbole im Verlaufe des verschriftlichten Äußerungstextes, ist bei beiden Autoren identisch. Peter Winkler (1981) dagegen löst sich von dieser Transkriptionsform und geht zur Notation innerhalb einer Fläche über: Die einzelnen zu notierenden Sprechausdrucksklassen erhalten eine je eigene, parallel zum Text verlaufende Zeile. Dieses Flächentranskript, das aus der Diskussion des Polaritätsprofils fur Sprechausdruck von Fährmann (1960) und den Notationsvorschlägen von Trojan (1975) entstanden ist, verbindet symbolhafte und verschlüsselte verbale Beschreibungen, die in einer Legende erläutert werden. Auf diese Weise entsteht eine relativ gute, synchronoptische Lesbarkeit von phonetischer Umschrift, Lautquantität, Tempo, Pausen, Satzmelodie und Lautstärke, die symbolhaft dargestellt werden. Eingeschränkt wird die Lesbarkeit durch die Ziffernverschlüsselung der sprechphysiologischen und artikulatorischen Eigenschaften des Sprechers, den Ausdruckszuschreibungen und der Gesamtbeurteilung. Diese Vielzahl weiterer Kriterien (19) allerdings in zusätzlichen Zeilen unterzubringen, hieße die Lesbarkeit wieder aufzuheben.24 Ein weiteres Notationsverfahren entwickelte Gutenberg (1984a), aufbauend auf U. Geißner und C. Winkler, mit seiner „hermeneutisch-analytischen Notation" (HAN). Indem Gutenberg einerseits den Katalog der Sprechausdrucksmerkmale nach H. Geißner (1985; 1989), andererseits das Gesprächsverlaufssoziogramm nach U. Geißner und drittens die jeweiligen Differenzierungsstufen nach C. Winkler kombiniert, verbunden mit einer phonetischen Transkription des gesprochenen Textes, erhält er ein hochgradig differenziertes Notationssystem für Sprechausdrucksmerkmale (jeder gesprochene Laut erhält gestufte Eintragungen für alle Sprechausdrucksmerkmale) in der verlaufenden Zeit für alle Sprechenden. Der Terminus „hermeneutisch-analytische Notation" zeigt bereits an, daß aus dem Kontinuum des Sprechens analytisch die jeweiligen Sprechausdrucksmerkmale herausgelöst und in ihrer Ausprägung hermeneutisch differenziert und zugeordnet werden. Die Fülle der Daten wird synchron sowohl tabellarisch als auch graphisch als Verlaufssoziogramm dargestellt. Somit entsteht eine Vernetzung zwischen einer textuellen und einer phonetischphysiologischen Ebene mit der Wahrnehmung des Sprechausdrucks und der des strukturellen Ablaufs des Gesprächs zwischen den Beteiligten über die Zeit, soziometrischen und soziographischen Aspekten. Die Komplexität dieses Ansatzes birgt gleichzeitig ihre Problematik: Die Frage nach der Lesbarkeit dieser Notation bleibt ungeklärt. HAN ist der weitestgehende sprechwissenschaftliche Entwurf eines Notationssystems für Sprechaus24

Nicht grundlos beschränken sich die Flächentranskripte des in der gleichen Publikation vorgestellten HIAT von Ehlich und Rehbein auf wenige Zeilen innerhalb einer Fläche.

27 dnicksmerkmale. Steigen die Zeilen bei Winkler von der Mikroebene (Lautquantität) zur Makroebene (Gesamtbeurteilung) auf, folgen sie bei Gutenberg gleichen Diskriminierungskriterien. Die Einsetzbarkeit ist abhängig vom jeweiligen Untersuchungsziel. Ein sprechwissenschaftliches Konzept zur Einbeziehung auch der extralingualen Merkmale in ein Notationssystem liegt in der Literatur nicht vor. Gegensätzlich dazu haben die Entwicklungsjahrzehnte der linguistischen Gesprächsanalyse zu einer kaum noch überschaubaren Flut an Publikationen einerseits und verbunden damit zu einer forschungsinteressegeleiteten Vielzahl von unterschiedlichen Notationen geführt, auch bezogen auf die para- und extralingualen Merkmale. Eine Konsequenz dieser Entwicklung besteht in der fehlenden Vergleichbarkeit und somit auch eingeschränkter interdisziplinärer Rezeption der Forschungsergebnisse. Grundsätzliche Übereinstimmung scheint lediglich bezüglich der Anforderungen zu bestehen, die an ein Transkript zu stellen sind und mit Richter/Skorubski wie folgt zusammengefaßt werden können: An generellen Voraussetzungen und Anforderungen - in der jüngeren Forschungsgeschichte mehrfach ausgewiesen - sind summarisch anzuführen: Originaladäquatheit im Sinne rationaler und praktischer Akzeptabilität, relative Objektivität durch weitgehenden Ausschluß von Interpretationssubjektivität, Zweckorientiertheit, relativ mühelose Erweiterungsfáhigkeit, Einfachheit, unkomplizierte Handhabbarkeit (Schreib- und Lesbarkeit) und rasche Aneignungsmöglichkeit." (1991:342-343)

Aus der Transkriptionspluralität lassen sich für Verschriftlichungen, die auch para-und extralinguale Aspekte berücksichtigen, vier Grundmuster extrahieren: Ikonische Notation, integrierte Zeilenschreibung, Partiturschreibimg und Zeitreihen-Notation. Ikonische Notation, wie u.a. von Kendon (1968) vorgestellt, verwendet ein Zeichen für bestimmte Positionen (z.B. „_L" für: Kopf nach vorn geneigt). Diese Schreibweise ermöglicht eine platzsparende, übersichtliche Notierung, löst jedoch aus einem Bewegungskontinuum einzelne statische Positionen heraus, die in der späteren Analyse interpretativ wieder zu einer Bewegung gefügt werden müssen. Auch der Aspekt der guten Lesbarkeit ist trotz der Einfachheit der Zeichen insofern eingeschränkt, als das Lesen des Transkripts die Kenntnis des Ikonensystems voraussetzt, das je nach differenzierterer Beschreibung immer vielfältiger werden muß. Unerklärt bleibt, warum die paralinguale Ebene keine Berücksichtigung findet, die in gleicher Weise ikonisch darstellbar wäre. Die „integrierte Zeilenschreibung", ein von der Verfasserin eingeführter Terminus, da die Literatur diese Notationsform nicht benennt, hat sich aus dem Defizit der rein textlichen Verschriftlichung, dem Fehlen sämtlicher für das Sprechen relevanter paralingualer und extralingualer Merkmale, entwickelt. Zunächst wurde der linguale Anteil der Äußerung notiert, je nach Forschungsansatz in standardsprachlicher Umschrift, nach satzgrammatischen Kriterien, in „literarischer Umschrift" 25 (orientiert sich am Alphabet der Standardsprache, variiert durch abweichende sprechsprachliche Realisierungen) oder mit der IPA (bei phonetisch/phonologischen Fragestellungen).26 Das auf diese Weise entstandene Textband erhält Ergänzungen auf paralinguistischer Ebene, integriert in die fortlaufende Notation durch Hervorhebungen (Unterstreichungen, Großbuchstaben) oder zusätzliche Zeichen, oftmals dem konventionell-orthographischen System entnommen (Punkte, Klammern, Buchstabenverdoppelungen), paralinguale Sprechmerkmale. Auf diese Weise entsteht ein 25 26

Den Terminus verwenden Ehlich/Switalla (1976: 80), in Anlehnung an Zwimer/Bethge (1958). Eine ausfuhrliche Darstellung der Transkriptionssysteme findet sich bei Ehlich/Switalla (1976).

28 fortlaufendes, den traditionellen Lesegewohnheiten angepaßtes Notationssystem. Je mehr Zusatzzeichen jedoch eingefügt werden, desto stockender wird der Lesefluß. Der Vorteil, einer Einzeltextzeile mit integrierten Zusatzinformationen folgen zu können, ist vom Nachteil der kompakten, schwer erfaßbaren paralingualen Codierung begleitet. Linguistische Untersuchungen, deren zentrales Forschungsinteresse auf der textuellen Ebene liegt, stützen sich auf diese Form der Transkription. Die Erkenntnis, daß trotz grundsätzlich gleichen Transkriptionssystems die unterschiedlichen Gesprächsforschungsrichtungen (vgl. Kap. 2.1.) verschiedenartige Notationskonventionen präferieren, hat 1998 eine Autorengruppe bewogen, einen Transkriptionsstandard vorzuschlagen, die „Gesprächsanalytische Transkription (GAT)". Es handelt sich um ,,[...]einen Vorschlag für ein einheitliches gesprächsanalytisches Transkriptionssystem [...], das keine stark theoriegebundenen Vorannahmen macht und daher von Linguistinnen und Linguisten unterschiedlicher theoretischer Zugehörigkeit verwendet werden kann." (1998: 92) Die wesentlichsten Basiskriterien, nach denen GAT entwickelt wurde, gelten in gleicher Weise für alle anderen Notationssysteme: Ausbaubarkeit, Verfeinerbarkeit, Lesbarkeit, Ökonomie und Eindeutigkeit, Robustheit und Relevanz. Lediglich die Prinzipien Ikonizität und Formbezogene Parametrisierung haben differenzierte Geltungsbereiche. Das abschließende Kriterium der Kompatibilität mit anderen üblichen Transkriptionssystemen gilt für GAT ebenso wie für andere Systeme immer nur innerhalb der jeweiligen Grundmuster-Gruppe. Es handelt sich bei GAT um eine integrierte Zeilenschreibung, folglich kann der Standardisierungsversuch auch nur innerhalb dieser Gruppe gelten. Da sich bereits die Ansätze der verschiedenen Transkriptionssysteme voneinander unterscheiden, ist es im Interesse wissenschaftlicher Vergleichbarkeit wünschenswert, Disparitäten innerhalb der jeweiligen Gruppen auszugleichen und zufällige Verschiedenheiten zu eliminieren. GAT könnte für die integrierte Zeilenschreibung einen Versuch der Vergleichbarkeit darstellen. Ein weiteres Grundmuster an Notationsmöglichkeiten stellt die Partiturschreibung dar. Im Unterschied zur integrierten Zeilenschreibung erhalten paralinguale und extralinguale Sprechausdrucksmerkmale separate Zeilen, die synchron zur eigentlichen Textzeile parallel verlaufen. Alle in einem definierten Zeitabschnitt am Gespräch Beteiligten werden in einer ebenfalls parallel verlaufenden Fläche zusammengefaßt, der „Partitur". Ehlich und Rehbein haben dieses Transkriptionssystem 1976 und 1979 vorgestellt und eine auf DOS-Ebene basierende Software dazu entwickelt. Der Schwerpunkt dieser „halbinterpretativen Arbeitstranskription" liegt auf der Notierung paralingualer und extralingualer Prozesse, die in jeweils eigenen Zeilen textsynchron dargestellt werden können. Somit folgen sie dem Fluß des Textes und bilden die Komplexität der Äußerung in der Zeit ab. Im Vergleich zur integrierten Zeilenschreibung ist eine ausfuhrlichere Darstellung der nicht-verbalen Anteile des Sprechens möglich. Das optisch-synchrone Erfassen und Interpretieren mehrerer Zeilen gleichzeitig ist einerseits gewöhnungsbedürftig, andererseits informationsintensiv. Die Gleichzeitigkeit des Geschehens in der realen Sprechsituation wird hier nicht in eine Nebeneinander- oder Nacheinanderrangigkeit aufgelöst.27 Wenngleich die für das HIAT vorgeschlagene Transkriptionsweise, wie Selting (1995: 30-31) überzeugend darlegt, unter konkreten Fokussierungen in der publizierten Form für bestimmte Analyseziele nicht optimal ist, so bietet es doch ausreichenden Anwendungsspielraum zur Anpassung an jeweils spezifische Fokussierungen. 27

Eine Auseinandersetzung mit dieser Notationsform und gleichzeitig einen überzeugenden Beweis ihrer Anwendungsmöglichkeit stellt die Dissertation von Steuble (1984) dar.

29 Die Zeitreihen-Notation, entwickelt als Verfahren zur Analyse visueller Kommunikationskomponenten in der Fernsehberichterstattung, [...] gründet die Beschreibung gestischen und mimischen Verhaltens auf ein methodisches Prinzip, dem auch die alphabetische Sprachnotation ihre besondere Leistungsfähigkeit verdankt [...] Im wesentlichen beruht die Logik der Zeitreihen-Notation auf der Idee einer bivarianten Kodierung kontinuierlicher Verhaltensprozesse, d.h. auf einer Trennung der dimensionalen und der zeitstrukturellen Aspekte des Kommunikationsgeschehens [...] Ebenso wie sich die Sprache als Folge von Lautsymbolen abbilden läßt, kann nun das menschliche Bewegungsverhalten als Folge von Positionszuständen der einzelnen Körperteile transkribiert werden [...] Konsequenterweise wurde das Berner System quasi als multidimensionales Alphabet konzipiert, in dem ebenso viele unabhängige Notationsdimensionen Berücksichtigung finden wie es unabhängige Varianzquellen im Bewegungsverhalten gibt [...] Die (standardisierte) Zeitreferenz [erschließt] nahezu unlimitierte Möglichkeiten zur Verlaufsanalyse und Parametrisierung der dynamischen Aspekte des Kommunikationsgeschehens." Bente 1990: 34-35)

Diese Notationsform ist auf extralinguale Merkmale - Körperbewegungen - reduziert und ermöglicht eine computergestützte, detaillierte Auswertung großer Datenmengen.28 Paralinguale Aspekte bleiben unberücksichtigt, ebenso die funktionale Verflechtung aller drei Ebenen im Gespräch und auch die interaktionale Bedeutung der Bewegungen fur den Wirkungszusammenhang. Sprechende, Inhaltsstruktur (gleiches oder neues Thema) und Kameraeinstellung werden mitverschlüsselt. Die Zielstellung dieses Notationssystems besteht in der computergestützten Datenerhebung zur Analyse des Bildeinsatzes in der Fernsehberichterstattung. „Durch die Anwendung des Prinzips der Zeitreihen-Notation wird nun aber die differenzierte Beschreibung der sprachbegleitenden Bewegungsaktivität möglich.", formulieren Frey/Hirsbrunner/Pool/Daw (1981) in einer der frühen Publikationen zu diesem „Berner System". Sie sehen damit die prinzipiellen Einschränkungen des Generic Codings (die Vielfalt unterschiedlicher Bewegungsverläufe wird in globale Gattungskategorien eingeordnet), Restrictive Codings (nur phänomenal prägnante Verhaltensweisen werden erfaßt) und der Direct Evaluation (auf das deskriptive Erfassen des Bewegungsgeschehens wird verzichtet, psychologische Dimensionen werden notiert) überwunden. (1981: 213) Die Monographie , Augenkommunikation. Methodenreflexion und Beispielanalyse" von Ehlich und Rehbein (1982) verweist auf eine Transkriptionsmethode, die Partiturschreibung und eine besondere Form der Zeitreihen-Notation verbindet: Das fortlaufend Gesprochene wird als verschriftlichter Text aller Beteiligten notiert (lingual), eine Intonationszeile (paralingual) und eine Zeile für nonverbale Kommunikation (extra-lingual) werden in Partiturschreibung hinzugefügt. Gleichzeitig wurden fur das Blickverhalten „deliberatives Wegblicken" alle denkbaren Augenstellungen als Positionen beschrieben und Ziffern zugeordnet. Diese Ziffern gelangten als spezifizierte Zusatzinformation in das Partitur-Transkript. Den Betrachtenden erschließt sich durch diese Zahlenverschlüsselung die Notation nicht mehr einfach beim Lesen. Andererseits eröffnet sich die Möglichkeit einer datengestützten Auswertung. Ein ähnlicher methodischer Ansatz liegt der vorliegenden Arbeit zugrunde, konsequent auf alle para- und extralingualen Merkmale bezogen, nicht nur auf die Augenkommunikation, und erweitert um den funktionalen Aspekt der wechselseitigen Dialogizität. Einerseits 28

Für jeden beweglichen Körperteil bestehen Ziffemzuordnungen für die jeweiligen Dimensionen, so z.B. beim Kopf für die Auf- und Abbewegung, die Rechts-Links-Drehung und die RechtsLinks-Kippung, jeweils in Halbsekunden-Intervallen.

30 wird über eine Partiturschreibung der gesamte Sprechprozeß deskriptiv festgehalten, andererseits erhalten die Sprechausdrucksmerkmale eine funktional determinierte Skalierungszuordnung einer Zeitreihen-Notation entsprechend. Auf diese Weise entsteht eine Matrix, die statistischer Berechnung zugänglich ist. In der Symbiose von Partitur- und ZeitreihenNotation und unter Hinzufiigung eines dialogisch-funktionalen Skalierungskriteriums liegt ein neuer Transkriptionstypus vor.

2.3. Gender Studies

2.3.1. Literaturdiskussion 2.3.1.1. Zur Entwicklung des Forschungsgegenstandes Nur was zuvor unterschieden wurde, läßt sich auch in ein hierarchisches Verhältnis setzen. So gesehen ist die Geschlechterdifferenz eine unabdingbare Voraussetzung fur die Herstellung der Hierarchie zwischen den Geschlechtern. Und aus eben diesem Grund scheint mir das Insistieren auf der Differenz, die Konstruktion der Differenz in der Frauenforschung selbst und erst recht die Ontologisierung der Differenz schon im Ansatz kontraproduktiv zu sein: Sie bestätigt gewissermaßen die Bedingung der Existenz dessen, was sie eigentlich abgeschafft sehen möchte. (Wetterer 1992: 206)

In einer gesprächsanalytisch angelegten sprechwissenschaftlichen Arbeit nach geschlechtsbezogenem Gesprächsverhalten zu fragen, muß durchaus nicht heißen, etwas zu trennen, um es anschließend in ein hierarchisches Verhältnis zu setzen. Zunächst bedeutet es lediglich, die Gesprächsbeteiligten als sprechende Frauen und Männer sichtbar werden zu lassen. „Wenn Differenzen zwischen den Geschlechtem feststellbar sind, dann kann eine Veränderung bedeuten, diese Differenzen zugunsten von Gleichheit abzubauen. Sie kann aber auch das Gegenteil beinhalten, nämlich die Differenzen zu erhalten und anders mit ihnen umzugehen. (Faulstich-Wieland 1998: 5) Diese Erkenntnis ist das Ergebnis eines langen und widersprüchlichen Prozesses, der sich zunächst unter der Bezeichnung „Frauenforschung" entwickelte: Sprech- und Gesprächsprozesse wurden bis zu diesem Zeitpunkt als kommunikative Prozesse „an sich", ohne Berücksichtigung des Geschlechts der Beteiligten, untersucht. Allenfalls rückten über die Besonderheiten des Stimmorgans geschlechtsbezogene Spezifika des Stimmklangs oder der Tonhöhe in den Mittelpunkt des Interesses, bzw. es wurde der Frage nach unterschiedlichen Dialekten von Frauen und Männern in einzelnen Eingeborenensprachen gestellt (vgl. u.a. Haas 1944, Jespersen 1925). Sprechende Frauen in Forschungsprozessen wahrnehmbar zu machen, heißt zunächst, nach möglichen Besonderheiten ihres Sprechens zu fragen. So nimmt es nicht wunder, daß mit der Fokussierung auf gesprächsbeteiligte Frauen vorliegende Untersuchungen zum Vergleich herangezogen wurden. Als Resultat solchen Vorgehens entstanden Listen „frauentypischer Sprache" bzw. „frauentypischen Sprechens", deren in der Literatur bekannteste die von Lakoff (1973) 29 sein dürfte. Samel (1995) hat die häufigsten zusammengestellt: „Frauen werden nicht wahrgenommen" („The marginality and powerlessness of women is reflected in both the ways women are expected to speak, and 29

Alle eingefugten englischen Beispiele entstammen diesem Aufsatz (1973: 4 5 , 4 9 , 50, 53).

31 the ways in which women are spoken o f ) , Frauen sprechen mit leiserer Stimme" (We find Differences in the choice and frequency of lexical items; in the situations in which certain syntactic rules are performed; in intonational and other supersegmental patterns"), „Frauen individualisieren ihre Aussagen durch häufigeren Gebrauch bestimmter bedeutungsleerer Wörter" („...we find differences between the speech of women and that of men in the use of particles that grammarians often describe as „meaningless'), „Frauen stellen mehr Rückversicherungsfragen" als Männer („...there is no syntactic rule in English that only woman may use. But there is at least one rule that a women will use in more conversational situations than man. ... This is the rule of tag-question formation.") Allen Beispielen ist gemeinsam, daß es sich um eine „Mängelliste" handelt, welche die Defizite weiblichen Sprechens im Vergleich mit „der" (männlichen) Norm aufzeigt. (Was in der Folge zu heftiger Kritik an der Form der negativen Darstellung führte.) Die beobachtbaren und beschreibbaren Unterschiede im männlichen und weiblichen Gesprächsverhalten werden somit als Unzulänglichkeit der Sprecherinnen dargestellt und fuhren zur ,.Defizithypothese". Das biologische Geschlecht wird damit erstmalig zum Analysekriterium sprachlicher Prozesse, die „Konstruktion von Geschlecht" erhält einen zentralen Rahmen. Eine Studie von Andrews (1987) belegt, daß Frauen, obwohl von Kommunikationsbeobachtenden gleichermaßen gut beurteilt, geringeres Zutrauen in ihre Argumentationsfähigkeiten zeigten als die an der Kommunikation beteiligten Männer. Duran und Carveth (1990) fragten nach dem Zusammenhang von Rollenerwartung und kommunikativer Kompetenz und erhielten als Ergebnis, daß der männliche Stil, als selbstsicher, aggressiv und beherrschend beschrieben, als kompetenter eingeschätzt wurde als der weibliche Stil, der zurückhaltend, emotional expressiv und um andere besorgt charakterisiert wurde. Eine Studie von Susan J. Frances (1979) zu geschlechtsspezifischen Unterschieden im nonverbalen Verhalten erbrachte als Ergebnis u.a., daß Frauen mehr lächeln und Männer in gemischtgeschlechtlichen Gesprächsgruppen mehr nonverbale Aktivitäten zeigen als in gleichgeschlechtlichen. Eine wichtige Arbeit von Cheris Kramer, „Perception of Female and Male Speech", offenbart, wie die o.g. Arbeiten auch, das Dilemma der Defizithypothese: Indem zunächst Merkmale der angenommenen unterschiedlichen Sprechstile zusammengetragen werden, nach denen in einem anschließenden Analyseschritt anhand konkreter Gesprächssituationen geforscht wird, entsteht ein Zirkelschluß, der zu manifesten Stereotypen fuhrt: „Female speech, then, is not only perceived as different from men's speech, but it is perceived as a sort of .counter-language' to men's." (1977: 159) Die Reihe der Darstellungen ließe sich beliebig fortsetzen,30 es fügten sich weitere Details in das Gesamtbild, die Grundpositionen jedoch blieben unverändert. Obwohl einerseits die Fokussierung weiblichen Sprechverhaltens einen Paradigmenwechsel in der Gesprächsforschung einleitete, führte sie andererseits gleichzeitig zur Ontologisierung der Differenz. Dieser Weg läßt jedoch aus dem Blick verlieren, daß die Diffe30

Ausfuhrliche Zusammenstellungen und Bewertungen der wichtigsten Literatur aus dieser Zeit finden sich bei Kramer (1974), Key (1975) und Haas (1979). Eine Kurzübersicht über die Entwicklung des Forschungsgegenstandes und eine bibliographische Zusammenstellung nach Themenbereichen geordnet bieten der Bd. 15 in der Reihe der „Studienbibliographien Sprachwissenschaft", hrsg. v. Peyer/Groth (1996), Sprache und Geschlecht sowie das „Studienbuch Linguistik", hrsg..v. Linke/Nussbaumer/Portmann (1994). Eine Zusammenstellung deutschsprachiger Frauenliteratur, ein Kapitel „Gender Studies" einschließend, veröffentlichten Kroll/Wehmer mit der „Bibliographie der deutschsprachigen Frauenliteratur" (1995).

32 renzen innerhalb der Gruppe der Frauen oft größer sind als die zwischen Frauen und Männern und daß umgekehrt Ähnlichkeiten zwischen Frauen und Männern manchmal größer sind als solche zwischen Frauen, wie Faulstich-Wieland (1998) betont. Die verkürzte Annahme, daß Frauensprechen eine defizitäre Variante des Männersprechens sei, galt es daher erneut zu hinterfragen: Statt Frauen als mißratene oder minderwertige Varianten des „eigentlichen Menschen", des Mannes nämlich, zu beschreiben, hat die Frauenforschung gegen diesen Standard des Mannes als Muster opponiert. Bei ihrer Beschreibung des weiblichen Wesens standen die Orientierung der Frauen auf zwischenmenschliche Beziehungen und ihr Suchen nach Nähe, ihre „Fürsorgerationalität" und ihre „Verantwortungslogik" im Zentrum. In diesem Lichte wurden Handlungen und Denkweisen von Frauen, die vorher als „unlogisch" abgetan wurden, da sie nach männlichen Prämissen bewertet wurden, verständlich und logisch. (Ericsson 1996: 106)

Damit ist für Frauen eine selbständige Kategorie eröffnet, nicht mehr nur eine relationale im Bezug auf den Mann. Erst über diese Differenzhypothese vollzieht sich die eigentliche Konstruktion von Geschlecht: Der Einfluß des Merkmals Geschlecht kann zum Untersuchungsgegenstand werden. Es „[...] wurde ein zweidimensionales Modell postuliert, wonach psychologische Maskulinität und Feminität nicht als Endpunkte auf einem Kontinuum, sondern vielmehr als zwei voneinander unabhängige Dimensionen anzusehen sind", so die Darstellung von Sieverding und Alfermann (1992: 7). Das unterstützen auch von Camden und Witt diskutierte Untersuchungsergebnisse, die besagen, daß „[...] it is highly possible that sex per se is not an effective variable in understanding sex-role behavior. Many researchers have argued that true insight into sex-role behavior requires a use of psychological sex rather than biological sex as an independent variable. (1983: 265) Folgerichtig fuhrt diese Annahme, daß die Unterschiede im Kommunikationsverhalten nicht im biologischen sondern im psychologischen Geschlecht zu suchen seien, zu der sehr früh (bereits 1976) von Crosby und Nyquist vorgeschlagenen Differenzierung in „female register" und „male register", einem Versuch, Verhaltensmuster und biologisches Geschlecht zu trennen Das Ersetzen von „Sprache/Sprechen der Frauen" und „Sprache/Sprechen der Männer" durch „weiblichen Stil (female register)" und „männlichen Stil (male register)" ist sinnvoll, um deutlich zu machen, daß es sich lediglich um ein Repertoire möglicher Verhaltensweisen handelt, das zwar dominant von nur einer Gruppe verwendet wird, diese Dominanz aber auch von anderen Merkmalen außer dem biologischen Geschlecht, wie Sprechsituation, Rollenverhalten und Sozialstrukturen, abhängig ist. Die Registerhypothese entkräftet sowohl die Annahme, daß es sich beim weiblichen Sprechen um eine defizitäre Variante des männlichen Sprechens handeln könnte (Defizithypothese), als auch die Fixierung auf das Sprechverhalten von Frauen und das Sprechverhalten von Männern (Differenzhypothese), indem deutlich gemacht wird, daß es sich nicht um Normen der Sprache und des Sprechens handelt, an die Männer und Frauen gebunden sind, sondern daß es sich um ein Repertoire von Möglichkeiten handelt, das beiden Geschlechtern zugänglich ist. In diesem Zusammenhang sei auf eine Differenzierung verwiesen, die Degenhardt (1979: 13) vornimmt: Sie unterscheidet zwischen geschlechtstypischen Verhaltensweisen, welche die Gruppen (Männer bzw. Frauen) charakterisieren, Unterschieden, die zwischen den Geschlechtern deutlicher stärker ausgeprägt sind als innerhalb der jeweiligen Geschlechter, und geschlechtsspezifischen Merkmalen, die unabänderlich an das jeweilige

33 Geschlecht gebunden sind. Geschlechtsspezifisch sei ein Merkmal nur dann, wenn es ausschließlich bei einem Geschlecht vorkommt. Die Registerhypothese eröffnet mit dem Einbezug des Rollenbegriffs und der Trennung zwischen geschlechtsbezogenen und geschlechtsgebundenen Merkmalen die Möglichkeit der Trennung von biologischem (sex) und kulturellem (gender) Geschlecht. Somit spiegelt die wissenschaftliche Entwicklung wider, was in der Sprechrealität permanent vorhanden ist: Die den Kommunikationsverlauf Tragenden sind männlichen und weiblichen Geschlechts und bringen sich mit ihrer jeweiligen Personen- und Sozial-/Kultur-Spezifik in den Prozeß ein. Ungeklärt bleibt zunächst noch, unter welchen Aspekten die Zuordnung zu den einzelnen Registern erfolgt, d.h. nach welchen Kriterien bestimmte Merkmale als dem „female register" bzw. dem „male register" zugehörig markiert werden, und offen bleibt ferner, welche Rahmenbedingungen es den Sprechenden erlauben, sich der vorhandenen Register souverän zu bedienen. Die mit der Registerhypothese verknüpfte Code-switching-Hypothese bietet einen Ansatz zur Klärung ebendieser Fragen: Im Verlauf der Forschungen wurde eine dritte Hypothese aufgestellt, die weder von einem Mangel an Ausdrucksfähigkeit von Frauen noch von der einfachen Andersartigkeit ihres Sprachverhaltens ausgeht. Die Code-switching-Hypothese betont, daß Frauen je nach Situation von einer Sprachvarietät (code) in die andere - von der Männer- in die Frauensprache oder umgekehrt - wechseln. Sie passen sich damit den sozialen Erwartungen über ihr Sprachverhalten an und entwickeln eine eigene kommunikative Kompetenz. (Samel 1995: 35)

Das steht im Zusammenhang mit dem Begriff der Geschlechtsrolle, der die für das phänotypisch männliche bzw. weibliche Geschlecht als angemessen betrachteten, kulturell erwarteten oder vorgeschriebenen Verhaltensmerkmale (Einstellungen, Interessen, Fähigkeiten, Motive, Verhaltensweisen) bezeichnet, wie Degenhardt (1979) beschreibt. Codeswitching erweist sich als notwendig, um den sozialen Erwartungen an das Gesprächsverhalten zu entsprechen. Daraus folgt - wenn dieser Wechsel möglich ist - einerseits, daß keine Merkmalsfixierung an ein bestimmtes Geschlecht besteht, andererseits wird aber von bestimmten Codes ausgegangen, die dann zu definieren wären. Die Fähigkeit des Switchings wird den Frauen abverlangt. Eine negative Bewertung ihres Sprechens findet nur dann statt, wenn es nicht situationsangemessen eingesetzt wurde (vgl. Eakins/Eakins 1978: 32). Offen bleibt, welcher/wessen Maßstab über die Situationsangemessenheit entscheidet. Dieser Gedanke impliziert, daß es différentes Verhalten in unterschiedlichen kontextuellen Zusammenhängen geben kann, die Kategorie Sprechsituation erhält damit eine zentrale Position. Erweitert wird diese Annahme von Brown (1992), daß zwischen Sprach- und Sprechverhaltensweisen und den soziologischen Fakten der Positionen der Sprechenden in der Gesellschaft Bezüge bestehen. Außerdem seien die Kriterien des weiblichen und männlichen Sprachverhaltens keine Sammlung einzelner Merkmale, sondern ein kohärentes Gefiige. Somit rückt der Betrachtungsfokus stärker auf die Komplexität des gesamten Situationellen und kontextuellen Sozialgefüges und verliert die Zentrierung auf die Kategorie Geschlecht. Die Prägungen der Situation werden interaktionell ausgehandelt, neben anderen Aspekten wird auch das Merkmal „Geschlecht", im Sinne einer sozialen Setzung, im Sprechvollzug jeweils neu erzeugt: „Die kulturelle Konstruktion von Geschlecht umfasst aber noch eine andere Seite [neben der Wahrnehmung - C.M.H.] die Darstellung der Geschlechtszugehörigkeit. Geschlecht ist nicht etwas, das man hat,

34 sondern etwas, das man tut: 'Doing gender', wie Candace West und Don H. Zimmerman die Verhaltensseite der Geschlechterdifferenzierung nennen (West/Zimmerman 1991). Die Konstruktion von Geschlecht ist das Ergebnis von zwei Leistungen - von Attribution und Darstellung, und beides vollzieht sich in einem komplementären Wechselspiel im Rahmen von sozialen Interaktionen. (Heintz 1993: 32) Dieses „doing gender" bedeutet die Konstituierung von Geschlecht als sozialem Geschlecht in konkreten Einzelprozessen in Abhängigkeit von epistemologischen, moralischen und sozialen Wertvorstellungen, Einstellungen, sozialen Normen und Erwartungen einer Kommunikationsgemeinschaft und in Abhängigkeit von individuellen Kommunikationserfahrungen. Die Erkenntnis, daß die Merkmalsbindung an das Frauensprechen und das Männersprechen nicht gelingt, wie von Schoenthal dargelegt, fuhrt zur Notwendigkeit der Dekonstruktion von Geschlecht als zentraler Kategorie. Gleichbleibende Geschlechtsunterschiede sind bisher weder im Umfang des Wortschatzes noch bei der Auswahl von Adjektiven und Adverbien gefunden worden, was nicht ausschließt, daß in verschiedenen sozialen Gruppen die Geschlechter einen unterschiedlichen Wortschatz benutzen können. Auch im Bereich syntaktischer Formen sind keine gleichbleibenden Unterschiede gefunden worden, etwa hinsichtlich der Verwendung bestimmter Fragemuster. Begriffe wie Frauensprache und Männersprache suggerieren mehr gleichgeschlechtliche Unterschiede, als tatsächlich existieren. (Schoenthal 1992: 99)

Die unterschiedlichen interaktiven Muster können eher dahingehend interpretiert werden, daß sie sowohl die verschiedenen sozialen Orientierungen der Sprechenden als auch die unterschiedlichen Grade von interaktiver Reife reflektieren. (Holmes 1996: 80) Damit ist auch verbunden, daß Geschlecht nicht mehr als ein Komplex feststehender Kategorien begriffen wird, sondern danach zu fragen ist, unter welchen Bedingungen Parameter relevant werden. Die Geschlechtszugehörigkeit ist nicht als ein gleichbleibend relevantes Merkmal zu sehen, sondern kann situationsspezifisch individuell zum Ausdruck gebracht werden. Eine tatsächliche Trennung von Sex und Gender,31 so die gegenwärtige kontroverse Diskussion, die zunächst den unmittelbaren kausalen Zusammenhang zwischen biologischem und kulturellem Geschlecht in Frage stellte, fuhrt andererseits zu der Konsequenz, daß „[...] gerade die auf den ersten Blick so einleuchtende Vorstellung von gender als ,soziokultureller Konstruktion von Sexualität' davon auszugehen (scheint), daß es so etwas gibt wie ,den' Körper oder ,die' Sexualität, d.h. etwas, das vor der Konstruktion existiert - der Körper sozusagen als tabula rasa, auf dem dann kulturelle Einschreibungen vorgenommen werden. (Hof 1995: 23) Hier wird deutlich, daß sowohl die strikte Koppelung von biologischem und sozialem Geschlecht, wie auch die latente Trennung von Sex und Gender in die Sackgasse fuhren. Diese schärfer konturierten Positionen sind als Teil einer sich wandelnden Auffassung von moderner Kultur und Kulturkritik zu sehen. Die Dekonstruktion von Geschlechterdifferenz beim Sprechen generell wäre ein Schritt in die falsche Richtung: 31

Nach Christina von Braun (1999) waren bereits mit der Abkoppelung des Sexualtriebs von der Biologie, der Kenntnis des Zeugungsvorganges, Anfang des 19. Jahrhunderts, die Voraussetzungen dafür geschaffen, daß aus den biologischen Kategorien Sexualität und Geschlecht kulturelle werden konnten.

35 Auf den ersten Blick scheinen die Differenzen zwischen Frauen und Männern eher geringfügiger Art zu sein. Bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch, daß es sich dabei teilweise um ganz grundsätzliche epistemologische, psychische, moralische, rechtliche, politische oder lebensweltliche Differenzen handelt, die sich (derzeit jedenfalls) unter Umständen nicht einmal sprachlich vermitteln, sich allemal jedoch in ihrer jeweiligen .Wahrheit' gerade nicht aufeinander reduzieren lassen. (Maihofer 1995: 171)

Die Dekonstruktion rigider Gender-Identitäten jedoch kann neue Zugänge öffnen: Wenn (soziale/kulturelle) Geschlechtszugehörigkeit situationsspezifisch zum Ausdruck gebracht und auch interaktioneil ausgehandelt werden kann, erweitert sich die Handlungsfreiheit Gesprächsbeteiligter, zwischen verschiedenen Verhaltensweisen zu wählen. 2.3.1.2. Para- und extralinguale Merkmale Ältere wie jüngere Arbeiten zur Gesprächsforschung und zur Geschlechterforschung beziehen sowohl paralinguale als auch extralinguale Aspekte in ihre Untersuchungen mit ein. In diesem Zusammenhang spielt die kontrovers verlaufende Diskussion über das Verhältnis von biologischem Determinismus und sozialem Konstruktivismus eine wesentliche Rolle, sobald die Ergebnissicherang über eine Dokumentation vorzufindender Muster hinausgeht und Interpretation, kritische Hermeneutik und Ursachenforschung einbezogen werden. Während psychologische Forschungsansätze vielfach experimentelle Untersuchungen durchfuhren, Befragungen, Tests und projektive Verfahren einsetzen, um Erkenntnisse über geschlechtsbezogenes Verhalten zu gewinnen (Trautner 1979), basieren gesprächsanalytische Ansätze überwiegend auf Beobachtungen und deren verschriftlichter Version (vgl. Schlobinski 1996). Nach Trautner (1979: 183) kann geschlechtstypisches Verhalten auf verschiedenen Ebenen beobachtet werden: nach der Häufigkeit des Auftretens, nach Art und Stärke der Ausprägung, dem zeitlichen Verlauf und dem situativen Kontext des Auftretens. Bezogen auf para- und extralinguale Merkmale des Sprechens beschreibt die Literatur die einzelnen Merkmale in diesen Kategorien. Bezogen auf die Häufigkeit des Auftretens weist die Literatur quantitative Zusammenstellungen zur Zahl von Unterbrechungen in Gesprächen aus, Länge von Redeanteilen, Dauer von einzelnen Turns und Anzahl der Wortergreifung. Weiterhin existieren Dokumentationen über die Häufigkeit des Auftretens bestimmter nonverbaler Merkmale. So belegt eine Studie von Raines, Hechtmann und Rosenthal von 1990, welche die Attraktivität von Personen über die Kanäle „Stimme", „Körper", „Gesicht" untersuchte, daß die Stimme keinen Einfluß habe, für die Einschätzung der Attraktivität von Frauen Körper und Gesicht, von Männern nur der Körper ausschlaggebend sei. Henley (1977) beschreibt, daß Frauen weniger Raum einnähmen, länger Blickkontakt hielten als Männer und häufiger und unabhängig von der Botschaft lächelten. Trömel-Plötz wertete Fernsehgespräche bezüglich der Häufigkeit des Redebeginns und der Sprechdauer aus und kam zu dem Ergebnis, daß Männer öfter das Wort ergreifen als Frauen und Männer länger reden als Frauen. (1984: 58) Vergleichbar auch die Zusammenfassung von Klann: „Insgesamt reden die Studenten wesentlich häufiger als die Studentinnen [... und] machen häufiger kurze Zwischenbemerkungen." (1978: 34) Bezüglich der Quantität von Unterbrechungen in der Verteilung auf Männer und Frauen schreiben Zimmerman und West: „The pattern displayed by Table 2 is dramatic: virtually all the interruptions and overlaps are by the male speakers [...] The cross-sex conversational

36 segments we examined are thus clearly asymmetrical with regard to the occurrence o f violations and speaker errors." (1973: 15) Die Reihe der Aufzählungen ließe sich nahezu beliebig fortsetzen. Eine zusammenfassende Darstellung einer Vielzahl amerikanischer und deutscher Untersuchungen zum Thema „Gesprächsverhalten von Frauen und Männern" bzw." Sprache und Geschlecht" findet sich in den Arbeiten von Hellinger (1981)und Werner (1983). Gemeinsam ist diesen Analysen, daß sie die Häufigkeit des Auftretens bestimmter Merkmale als zentrale Kategorie betrachten, ohne weitere Aspekte mit einzubeziehen: Die Wissenschaftler, die zu dem Ergebnis gekommen sind, daß Männer Frauen nicht ausreden lassen, haben Gespräche aufgezeichnet und die Unterbrechungen gezählt. Bei dieser Auswertung haben sie die Gesprächssubstanz, d.h. Gesprächsthema, Absichten des Sprechers, Reaktionen der Gesprächsteilnehmer aufeinander und Auswirkungen der .Unterbrechung* auf die Unterhaltung nicht berücksichtigt. (Tannen 1991: 2 0 7 )

Konsequent folgert Kotthoff: „Es besteht kein Zweifel, daß die in den 70er Jahren aktuelle These, Frauen und Männer sprächen kontextübergreifend anders und dies sei einer unterschiedlichen Sozialisation anzulasten, heute in dieser Schlichtheit nicht mehr vertreten werden kann." (1996: 9) Ein zweites Kriterium, bezogen auf die von Trautner (1979) aufgeführten Untersuchungsebenen der Beobachtung und des Experiments, besteht im Einbeziehen des situativen Kontextes, was im Zusammenhang mit gesprächsanalytischen Prozessen gekoppelt ist mit der Ebene „Art der Ausprägung": Die Forschungen der letzten Jahre haben gezeigt, daß [...] Unterschiede im Sprachgebrauch und in der kommunikativen Orientierung der Geschlechter nicht meßbar (sind) in Kategorien der quantitativen Analyse, wie z.B. der Länge der Beiträge, der Zahl der Unterbrechungen, der Minimalbestätigungen oder der Abschwächungspartikeln. Zum einen, weil bisher flir kein einziges sprachliches Mittel konsistent nachgewiesen werden konnte, daß es tatsächlich kontextunabhängig häufiger von Frauen als von Männern gebraucht wird [...] Zum anderen, weil ein und dasselbe Sprachmittel höchst unterschiedliche kommunikativ-pragmatische Funktionen erfüllen kann, so daß sein häufiger bzw. seltener Gebrauch zwar Hypothesen, aber keine verläßlichen Aussagen über die kommunikative Orientierung einer Person erlaubt [...] (Frank 1 9 9 5 : 167)

Der Einfluß des situativen Kontextes auf die Art der Ausprägung Sprechverhalten prägender Merkmale scheint außer Zweifel. So stellen Cowan, Wilcox und Nycodym eine vergleichende Studie vor (1990), die einerseits aussagt, daß sich die Kommunikationsstile in Organisationen zwischen Frauen und Männern unterscheiden, Frauen sich zögerlicher und stärker sozial orientiert und kooperativer als Männer zeigten, andererseits aber sich die Kommunikationsstile in gleichen organisatorischen Umgebungen (gleiche Aufgabenfelder) größtenteils auch in vergleichbarer Weise darstellten. Aries (1976) beschreibt die Veränderung des Gesprächsverhaltens von Frauen und Männern in Abhängigkeit von der Gruppenzusammensetzung, was ebenfalls darauf hinweist, daß in unterschiedlichen situativen Kontexten différentes Verhalten (Initiierung von Gesprächsbeiträgen, Unterbrechungen, Orientierung auf die Gesprächsteilnehmenden) deutlich wird. Zu gleichen Ergebnissen kommt Claudia Schmidt (1988). Anhand von Kaufgesprächen am Fahrkartenschalter des Amsterdamer Hauptbahnhofs belegen Brouwer, Gerritsen und de Haan (1979), daß sich das Gesprächsverhalten und das Sprachverhalten der Versuchspersonen mit dem Geschlecht der Angesprochenen veränderte (je nachdem ob die Verkaufenden Männer oder Frauen waren). Beattie beschreibt in einer ausführlichen Auswertung der Literatur den Forschungsstand

37

zum Thema „Unterbrechungen" und kommt anschließend anhand einer eigenen Studie zu dem Ergebnis, daß „The study found no sex differences in either the frequency or type of interruption used, contrary to the findings of some previous research. Status appeared, however, to have a significant effect." (1981: 15) Antje Schmidt bezeichnet die in ihrer Untersuchung gefundenen Ausprägungen, daß über 50% der in universitären Seminaren in ihrem Gesprächsverhalten beobachteten Studentinnen nur als schweigende Teilnehmerinnen in der Lehrveranstaltung saßen, als alarmierend: Bei allen Vorteilen, die ein zurückhaltender, Konkurrenz meidender Kommunikationsstil mit sich bringt, bei aller Notwendigkeit aufmerksamer und disziplinierter Zuhörerinnen und Zuhörer müssen die in den untersuchten Seminaren deutlich werdenden Kommunikationsverhältnisse als alarmierend gewertet werden: Wo die Masse der Studentinnen schweigt, wird ihre Fachkompetenz, ihre Intelligenz, ihr Fleiß in der Vorbereitung von Seminaren und ihr Kommunikationsvermögen unsichtbar. [...] Die Studentinnen verlieren gleichzeitig Chancen, kommunikative und kognitive Fähigkeiten zu erwerben und zu entwickeln. (1998: 154-155)

Wenn sich die Ergebnisse der Studie von Natale, Entin und Jaffe (1979) bestätigen lassen, daß versuchte Unterbrechungen in Gesprächen in umgekehrtem Verhältnis zu Sprechangst und in direktem Verhältnis zum eigenen Selbstvertrauen als sprechende Person stehen und daß Sprechenden mit großer Redeangst wenig erfolgreiche Unterbrechungen gelingen, dann gewinnt die Forderung von Sieverding und Alfermann größte Bedeutung: Für die zukünftige Forschung erscheint eine stärkere Einbeziehung der Makro-Ebene, d.h. des gesellschaftlichen Kontextes, der sich möglicherweise als äußere Barriere für die Umsetzung eines androgynen oder geschlechtsuntypischen Selbstkonzeptes in konkretes Verhalten erweist, unverzichtbar. Bisher fehlen auch Längsschnittstudien, um die Stabilität des instrumentellen/expressiven Selbstkonzeptes und den Einfluß situativer Erfordernisse festzustellen. (1992: 13)

Die letzten beiden Ebenen, die Trautner (1979) benennt, die Stärke der Ausprägung und der zeitliche Verlauf der Merkmale, lassen sich, sollen nicht erneut vordergründig der rollenspezifische und situationell-kontextuelle Aspekt mit einbezogen werden, an akustischstimmlichen und körpersprachlichen Kriterien verdeutlichen. So konnte Lass (1976) belegen, daß zur Identifikation weiblicher und männlicher Stimmen die Grundfrequenz wichtiger ist als Resonanzcharakteristika (zu gleichen Aussagen kam Coleman (1976)) und daß die Treffsicherheit der Hörenden sich mit steigender Komplexität der Beispiele verbesserte. Key (1975) machte darauf aufmerksam, daß für Untersuchungen zur Paralinguistik und Kinesik in bezug auf Geschlechtsspezifika epochale und kulturelle Verschiedenheiten zu berücksichtigen seien. Auf den Einfluß von Klischees und Modeerscheinungen in diesem Bereich verweist auch Slembek (1993) ausdrücklich. McConnell-Ginet belegt für die Intonation, daß ein Zusammenhang zwischen gesellschaftlicher Erwartung und Sozialisation der Sprechenden besteht. Solange stärkere Melodiebewegung mit Emotionalität und diese mit geringerer Autorität gleichgesetzt würden, bemühten sich Männer um eingeebnetere Melodie (1978). Daß auch Intonationswahrnehmung mit Rollenzuweisimg gekoppelt ist, ergab sich aus einer Studie von Edelsky, in welcher 154 Männer und 165 Frauen durch weibliche und männliche Interviewer um Antworten gebeten und Zuhörende den Eindruck von Endphasenmelodisierungen in den Antworten zu attribuieren gebeten wurden: The falling contour elicited the most stereotypically masculine association an each attribute. The simple rise was perceived as most stereotypically feminine (more submissive, warmer, less aggressive, etc.). Rise - fall - rise was rated less feminine than simple rise, but not as masculine as the falling contour. (1979: 25)

38 Bezogen auf den akustischen und den visuellen Kanal boten Keeley-Dyreson, Burgoon und Bailey (1991) Testpersonen emotional gefärbte Äußerungen an, sowohl im Einklang von akustischer und visueller Darstellung als auch als Widerstreit beider Ebenen. Die beschriebenen Testergebnisse besagen, daß sich die Adressaten im Falle divergenter Botschaften am visuellen Kanal orientierten, wobei Frauen diesen geschickter einsetzen könnten als Männer. Die Ergebnisse der aus einer unendlichen Vielzahl von Untersuchungen ausgewählten Arbeiten belegen, daß nicht nur in bezug auf das Gesprächsverhalten wie Rollenwahrnehmung und Gesprächsstrukturierung eine einfache duale Zuweisung zu kurz greift, sondern daß auch auf der Ebene der paralingualen und extralingualen Merkmale bezüglich ihres Einsatzes und ihrer Wirkung in Gesprächen eine mehrschichtige Betrachtungsweise unabdingbar ist. Frank schreibt dazu: Die Identitätskategorie „Geschlecht" wird niemals „pur" inszeniert, sondern immer nur in Interaktion mit anderen Kategorien. Dazu gehören u.a. der sozioökonomische Hintergrund, der professionelle Status, die ethnische Zugehörigkeit, das Alter und nicht zuletzt auch die individuelle Biographie. Obwohl „doing gender" unvermeidlich ist, spielt die Identitätskategorie „Geschlecht" ihre Rolle verwoben mit anderen Kategorien; sie ist keineswegs immer der zentrale Identitätsfaktor. [...] Deshalb können in bestimmten Situationen auch andere Kategorien relevanter gemacht werden als die Inszenierung von Geschlecht. (1995: 169)

Kotthoff bezeichnet diesen Vorgang als „Relevanzgraduierung" (1996: 13). In gleicher Weise resümiert Marijke Schnyder im Ausblick ihrer Dissertation: Die Variable Geschlecht erhielt in der vorliegenden Analyse ein Gewicht, das ihr nicht immer zukommt und auch nicht immer zukommen kann. Ich gehe davon aus, dass deutlich wahrnehmbare unterschiedliche ethnische und sozioökonomische Hintergründe der Gesprächsteilnehmer und Gesprächsteilnehmerinnen sich in den Resultaten wohl auch in einer Form gezeigt hätten. [...] Ich vermute, dass Personen mit niederem Status tendenziell eher einem weiblichen Gesprächsmuster und Personen mit höherem Status eher einem männlichen Gesprächsmuster folgen: Dabei können statusniedere Männer „weibliches" Gesprächsverhalten und statushöhere Frauen „männliches" Gesprächsverhalten zeigen. Doch welches Verhalten garantiert nun den Erfolg, um den es letztlich auch in Gesprächen immer geht? Wieviel überhaupt am sogenannt weiblichen bzw. männlichen Gesprächsverhalten liegt, wo doch diese beiden eine Menge von Ähnlichkeiten (über die bis heute kaum öffentlich nachgedacht wurde) und letztlich nur geringfügige Unterschiede (die erforscht und beschrieben wurden) aufweisen, kann aus linguistischer Sicht nicht erkannt werden. (1997: 172-173)

Die vorliegende Arbeit thematisiert die Variable „Geschlecht" im kontextualen Zusammenhang mit dem Gelingen und Mißlingen von Interventionskategorien anhand von para- und extralingualen Merkmalen. Indem die kommunikative Situation, die Sprechrolleninszenierung der Gesprächsbeteiligten und die Funktionalität der untersuchten Merkmale als komplexes Gefuge mit wechselnder Fokussierung in den Analyseprozeß eingeflossen sind, wurde eine Relevanzgraduierung im Sinne Kotthoffs hergestellt. So werden auch Antworten auf Fragen zu dem Verhältnis zwischen biologischem Determinismus und sozialer Konstruktion gegeben werden können.

3. Untersuchung zum Anteil para- und extralingualer Parameter am Gelingen von Interventionen in Gesprächen

3.1. Materialbasis Die einfachste Form der Datengewinnung besteht in einem Mitschnitt medienpräsentierter Gespräche. In unterschiedlichster Zusammensetzung der Gesprächsbeteiligten laufen täglich Talks sehr verschiedenartigen Niveaus über den Bildschirm. Ihnen ist gemeinsam, daß Ton- und Bildqualität relativ gut sind, die Öffentlichkeit mit Einverständnis der Mitwirkenden beteiligt ist, akustische und visuelle Anteile synchron verlaufen und alle Teilnehmenden an Äußerungsanteilen interessiert sind. Die bekannten Nachteile dieser Aufzeichnungen beruhen auf der Annahme, daß die Agierenden ihren Bezug nicht untereinander suchen sondern im Reflex auf die Zuschauenden. Dieckmann formuliert diesen Tatbestand folgendermaßen: Die auf den zuhörenden Dritten gerichtete Kommunikationsintention, wenn sie denn mit Recht angenommen werden darf, drückt sich im kommunikativen Verhalten der Interaktanten der Binnenkommunikation nur höchst widersprüchlich aus. Das kommunikative Geschehen auf dem Fernsehschirm ist meist so angelegt, als redeten die im Studio Anwesenden miteinander, weil sie sich und nicht weil sie dem Zuschauer etwas zu sagen hätten. (1985: 56)

Die Unwägbarkeiten dieser Mehrebenenannahme läßt es geboten erscheinen, Untersuchungen zumindest nicht ausschließlich auf Fernsehmitschnitte zu stützen. Die Autorin ist daher bei der Auswahl der Gespräche folgenden Kriterien gefolgt: (1)Es sollte sich um sog. „natürliche Gespräche" handeln, d.h. solche, die nicht zum Zwecke der Untersuchung initiiert wurden. (2) Um auszuschließen, daß das Gesprächsverhalten medienabhängig bestimmt wird, wurden sowohl Gespräche unter öffentlichkeitsgewohnten als auch nicht öffentlichkeitsgewohnten Gesprächsbeteiligten einbezogen. (3) Weiterhin erschien die Analyse von Gesprächen mit Gesprächsleitung und auch ohne Gesprächsleitung aussageintendiert. (4) Die Sprechenden sollten unterschiedlichen Bildungsgraden angehören. (5) Wegen des geschlechtsbezogenen Untersuchungsansatzes mußten sowohl Frauen als auch Männer am Gespräch teilnehmen. In der Konsequenz dieses Kriterienkatalogs wählte die Autorin drei Gespräche sehr unterschiedlichen Charakters und sehr verschiedener Zusammensetzung aus, die nach dem Kernwort des Gesprächsthemas benannt wurden: Bei Gesprächskorpus I handelt es sich um eine Fernsehdiskussion mit Gesprächsleiterin (Gespräch „Tiere") und sowohl männlichen als auch weiblichen Gesprächsbeteiligten, ausnahmslos mediengewohnten Personen, aufgenommen auf VHS-Videoband. Als zweites Korpus diente ein Gespräch zwischen drei Krankenschwestern und drei Krankenpflegern zur Verständigung über das Thema „Organspende" (Gespräch „Organe") als Brainstorming für die Vorbereitung eines Kolloqiums zum gleichen Thema. Die Gesprächsbeteiligten hatten jeweils eigene Mikrophone (Sennheiser MD 440), das Gesprochene wurde über ein Fostex-Mischpult auf DAT-Recorder der Marke Sony DTC 670 aufgenommen, um es spä-

40 ter auch einer akustischen Computer-Analyse zugänglich machen zu können. Die dritte Aufzeichnung fand im Rahmen eines Bildungsurlaubes an der VHS statt. Eingesetzt wurden eine Videokamera Panasonic M50 und ein Sennheiser Mikrophon MD 440. Im laufenden Kurs waren unterschiedliche Kommunikationsaufgaben zu bewältigen, u. a. ein Gespräch über Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen (Gespräch „Geschlecht"). Die Teilnehmenden (drei weibliche und drei männliche Personen) hatten unterschiedliches Bildungsniveau, völlig verschiedene Kommunikationsbiographien und Erwartungshaltungen. Somit wird deutlich, daß sich die Gespräche sowohl in bezug auf die Mediengewohntheit der Beteiligten, als auch auf die Alterszusammensetzung und die Berufszugehörigkeiten deutlich unterscheiden. Zusätzlich entsteht durch die Gesprächsleitung des Mediengesprächs im Unterschied zu den ungeleiteten übrigen Gesprächen ein Differenzierungskriterium. Mit der Auswertung dieser Gespräche kann die Autorin daher von der Annahme ausgehen, der beschriebenen Problematik von Fernsehgesprächen, der häufig anzutreffenden Reduzierung auf akademisches Milieu (Untersuchungen mit Studierenden) und auf eine bestimmte Altersgruppe entgegenzuwirken. Die nachfolgende Übersicht faßt die Grundcharakteristika der Gespräche zusammen:

Tab. 1 : Gesprächscharakteristik

Gespräch „Tiere"

Gespräch „Organe"

Gespräch „Geschlecht"

TN weiblich u. männlich

TN weiblich u. männlich

TN weiblich u. männlich

mediengewohnte Personen mit Gesprächsleitung

nicht mediengewohnte Personen ohne Gesprächsleitung

nicht mediengewohnte Personen ohne Gesprächsleitung

TN hatten Kenntnis von der TN hatten Kenntnis von der Videoaufnahme des GeVideoaufnahme des Gesprächs sprächs vorbereitete Fernsehdiskus- Positionsklärung zum Thesion zum Thema „Tierma „Organspende" in Vorschutz" bereitung eines Kolloquiums TN in verantwortungsvollen TN Krankenschwestern und beruflichen Positionen Pfleger im Rahmen einer Weiterbildungsmaßnahme verschiedene gleiche Altersgruppe Altersgruppen

TN hatten Kenntnis von der Videoaufnahme des Gesprächs Gesprächsübung zum Thema „Gleichberechtigung" im Rahmen eines VHS-Kurses TN gemischte Gruppe im Rahmen eines RhetorikKurses an einer VHS verschiedene Altersgruppen

Auf die Bedeutung der empirischen Datenerhebung, der Authentizität von Gesprächen und der Interpretationsmethodik fur die Qualität der Analyse und die Aussagefähigkeit der Ergebnisse weisen Brünner, Fiehler und Kindt in ihrer jüngsten Publikation zur angewandten Diskursforschung (1999) erneut explizit hin.

41 3.2. Untersuchungsdesign 3.2.1. Transkription der Daten Von allen Gesprächen wurde zunächst ein Rohtranskript1 hergestellt, das von der Autorin gegengelesen wurde. An unklar bleibenden Textstellen wurde eine dritte Person hinzugezogen. Es handelte sich bei allen Transkribierenden um hörerfahrene Personen, die ein sprechwissenschaftliches (Zusatz-)Studium absolviert haben. Auf der Grundlage dieser Rohtranskripte markierte die Autorin alle Interventionsstellen, für welche nachfolgend ein Feintranskript erarbeitet wurde. Für das jeweilige Feintranskript gab es wiederum zwei Gegenlesephasen. Von Beginn an wurden alle Daten in HIAT 22 aufgenommen, das sich, wie oben beschrieben, für die vorliegende Untersuchung als günstig erwiesen hat. Die von Stock (1993: 80) zu Recht formulierten Einschränkungen, daß das HIAT nur einige und leicht erfaßbare Merkmale aufnimmt, keinen zweiten Beobachter einbezieht und sich am Sprachsystem und nicht an kommunikativen Strukturen orientiert, ließen sich problemlos ausgleichen. Die Anzahl der Transkribierenden und die Entscheidung für ein Bezugssystem wird vom Analyseziel und nicht vom Transkriptionssystem bestimmt. Wie die vorliegende Arbeit zeigt, ließ sich eine Vielzahl von Merkmalen aufnehmen, die in der Originalversion nicht angedacht waren. Weil das HIAT-System aber flexibel veränderbar ist und dem konkreten Untersuchungsziel angepaßt werden kann, erscheint es der Autorin besonders geeignet. Auch der Einwand von Selting (1995), daß die Intonationsbewegungen innerhalb der betonten Silbe auf der Mikroebene ungenau sind, hat für den Ansatz dieser Untersuchungen keine Relevanz, weil der Melodieverlauf auf Mesoebene notiert wurde. Weiterhin erwies es sich als notwendig, die Notationszeichen für die konkreten Transkripte zu spezifizieren, was die prinzipielle gute Handhabbarkeit dieses Systems nicht in Frage stellte. Die eigentliche Problematik von Transkripten, die auch para- und extralinguistische Aspekte mit berücksichtigen, ist in der Tatsache zu sehen, daß in der Zeit ablaufende und segmentüberschreitende relationale Phänomene kategorisiert und einer bestimmten Matrix zugeordnet werden müssen. (Selting 1995: 35) Diesen Prozeß zu einem möglichst späten Zeitpunkt zu vollziehen, handelte es sich in der ersten Stufe der Feintranskriptherstellung zunächst um ein deskriptives Erfassen aller gehörten und gesehenen Phänomene, die überhaupt aufgenommen werden sollten. Die kategoriale Zuordnung erfolgte erst in einer späteren Phase, um den methodologischen Zirkelschluß, daß die Kategorien gehört werden, die als Matrix zugrundeliegen, zu verhindern. 3.2.2. Auswahl der paralingualen Merkmale Die nachfolgenden Arbeitsschritte bestanden in der Entscheidung für bestimmte Beschreibungskategorien und der Bestimmung des kommunikativ relevanten Bezugssystems. Zentrale sprechwissenschaftliche Beschreibungskategorien sprecherischer Ausdrucksmittel auf paralinguistischer Ebene sind melodische, dynamische, temporale und artikulatorische 1

Für die Herstellung der Erstfassung der Rohtranskripte danke ich Katja Franz und Annette Foshag. Beide Frauen haben ebenfalls je eine Feintranskriptversion erstellt.

42 Grundqualitäten (vgl. Kap. 2.2.1.). Ausdruckswert erhalten diese phonetischen Komplexqualitäten erst durch Niveauveränderungen im prozessualen Gefüge in bezug auf das zeitlich Vorangegangene im kontextualen Zusammenhang. Als relevante paralinguistische Parameter für Interventionen in Gesprächen manifestieren sich daher die „[...] wahrnehmbaren Einzelmerkmale der lautlichen Qualität des Gesprochenen, also Tonhöhenmodifikationen, Lautheitsmodifikationen, Tempomodifikationen [...] immer syntaktisch [...] sowie situationsspezifisch und individuumspezifisch" (Stock 1993: 78) im Turn-taking auch interaktional. In der bisherigen Intonationsforschung blieb weitgehend unbeachtet, in welchem Maße die hier als Summe oder Hierarchie phonetischer Elemente aufgefaßte Intonation durch weitere Merkmale des Sprechens, etwa text- oder situationsbezogene Modifikation des Stimmklangs und vor allem der Sprechspannung involviert ist. (Stock 1996: 216)

In Konsequenz dieser Überlegungen fanden der Tonhöhenverlauf (Tonhöhenmodifikation), die Stärkeabstufung (Lautheitsmodifikation), Tempo und Pausen (Tempomodifikation) und die Sprechspannung sowohl seitens der Sprechenden als auch der Intervenierenden als paralinguale Sprechausdrucksmerkmale an Interventionsstellen Aufnahme in das Transkript. Die Autorin folgte mit dieser Auswahl der Überlegung, daß interaktional relevante Merkmale zu untersuchen seien, d.h. paralinguale Parameter, die im Gespräch aktuell beeinflußbar, veränderbar und situativ gestaltbar sind, von denen daher angenommen werden darf, daß die Gesprächsbeteiligten sie für Interventionsabsichten bzw. deren Verhinderung zielorientiert einsetzen (können). Da Pausen und Sprechspannung ausschließlich im Kontrast zu vorangegangenen Äußerungsanteilen Relevanz besitzen, wurden sie nur sprecherseitig notiert, weil es sich bei den Redeanteilen der Intervenierenden in jedem Falle um einen Neueinsatz handelt, Pausen an der Interventionsstelle nicht vorhanden sein können und Sprechspannung in jedem Falle neu aufgebaut werden muß. In Kap. 4.2.3. werden die einzelnen Parameter ausführlich diskutiert.

3.2.3. Auswahl der extralingualen Merkmale Die kommunikative Situation der aufgezeichneten Gespräche ähnelt sich in bezug auf das Setting: In allen Fällen sitzen die Beteiligten in einem mehr oder weniger offenen Halbkreis. Die Körperhaltung, die Armbewegungen, die Haltung des Kopfes und die Blickrichtung sind in den meisten Fällen gut erkennbar. Die sitzende Position schließt eine räumliche Bewegung aus. Ebenso läßt die Kameraentfernung eine differenzierte Beschreibung mimischer Aktivitäten (Augenbewegungen, Hochziehen der Augenbrauen, Bewegungen der Mundwinkel etc.) nicht zu. Für die Fragestellungen dieser Arbeit (welche die Auswahl der Korpora determiniert haben) zu untersuchen, in welcher Weise para- und extralinguale Merkmale am Gelingensprozeß von Interventionen beteiligt sind, erschienen aus der Sitzposition heraus Bewegungen des Oberkörpers, Gestik, Kopfhaltung und Blickrichtung interessant, extralinguale Größen, die dialogisch relevant und als kommunikative leibhafte Ausdrucksformen sprachbezogen und sprechbegleitend sein können (vgl. Kap. 2.2.1.). Stock (1993: 79) verweist darauf, daß

43 [...] die nonverbalen, nonvokalen Verhaltensweisen (z.B. Mimik, Gestik, Körperzuwendung, Blickkontakt usw.) [...] ebenfalls kommunikativ und Quelle signifikanter Hinweisereize sein können, [...] und daß der Hörer von seiner Situationsbestimmung her, also interpretierend, aus der Reizflut kommunikativ Relevantes selektiert, wenn er versucht, das Verhalten des Sprechers sowie dessen bewußte und nichtbewußte Motive zu erfassen und den Interaktionsverlauf zu antizipieren.

Diesen Prozeß muß die Transkriptherstellung nachempfinden. Die nach Wallbott (1988: 1229) interaktiv relevanten nonverbalen Phänomene, die aber nicht als kommunikativ im strengen Sinne bezeichnet werden können (vgl. Kap. 2.2.1.), wie Schmuck, Kleidung, Frisur u.a., also eher statische Größen, fanden keine Aufnahme ins Transkript, weil sie im Verlaufe eines (halb-)öffentlichen Gesprächsprozesses nicht veränderbar sind und somit zwar kommunikativ aufgeladen sein können, nicht aber interaktiv relevant sind. Zusammengefaßt ergeben sich fünf paralinguale Parameter für die Sprechenden und drei für die Intervenierenden. Hinzu kommen jeweils vier extralinguale Parameter. Diese Merkmale wurden an allen Interventionsstellen der Gespräche notiert, verbunden mit der jeweiligen Person und deren Geschlechtszugehörigkeit. Daraus entstand ein für alle auditiven und visuellen Datenerhebungen gültiger Tabellenkopf: Tab. 2: Tabellenkopf aller Tabellen Sprechende (s)

Intervenierende (i)

Sp(s)

I 0)

Nonverbale Merkmale extralingual

paralingual

extralingual

Körper

Blick

Hände

Tempo

Stärkeabstufung

Tonhöhenverlauf

Erfolg

N-Differenzierung

Intervention

Geschlecht (i)

b fr o i¿

Intervenierende

Kopf

Blick

Haltung

Hände

Pausen

Tempo

Sprechspannung

Stärkeabstufung

Tonhöhen verlauf

Geschlecht (s)

Sprechende

u ζ

Ereignis

Kopf

Haltung

paralingual

Nonverbale Merkmale

3.2.4. Markierung und Klassifizierung der Interventionen Untersuchungen zur Prosodie beziehen sich mehrheitlich auf die Rolle einzelner Merkmale, z. B. der Intonation, in ihrer Funktion als Grenzsignale. Im Zusammenhang damit steht eine intensive Diskussion bezüglich Länge, Funktion und Merkmalen von Einheiten. „Die mit Hilfe von Intonationskonturen konfigurierten und voneinander abgegrenzten Einheiten sind keine mikroprosodischen Segmente, sondern kohäsive Einheiten auf der Ebene der Turnkonstruktion und der Gesprächsorganisation" beschreibt Selting (1995: 39) ihren interaktivprosodischen Ansatz und verweist damit auf ihr Verständnis von Intonation als von der Grammatik autonomes Signalisierungssystem. Dessen ungeachtet ist die Frage der Einheitenabgrenzung zu klären: „Eine Kontur ist eine holistische melodische Gestalt, mit allerdings variablen und deshalb erst retrospektiv analysierbaren Enden." (Selting 1995: 40) Einem anderen Ansatz folgt die vorliegende Arbeit: Abgesehen von der Tatsache, daß wesentlich mehr Sprechausdrucksmerkmale einbezogen wurden als nur die Melodiefüh-

44 rung, stellt sich die Diskussion um eine Einheitenbestimmung nicht, da die Intervention als interaktiv-dialogischer Marker als Ausgangspunkt diente: Die Analyse setzte retrospektiv mit der Hypothese an, daß para- und extralinguale Merkmale bei Turn-Wechsel-Versuchen den Erfolg mitbestimmen. In ihrem schon fast als klassisch zu bezeichnenden Aufsatz über die Organisation des Turn-Takings machen Sacks/Schegloff/Jefferson bereits 1974 auf die interaktionale Bedeutung der Sprecherwechsel-Versuche aufmerksam: In the present section, try to characterize what that 'sort' is, by citing a few of its most important features we with some elaborations. Those features are that it is a Local Management System, and that it is an Interactionally Managed System. (1974: 725) Die Intervention, den Versuch, Rederecht zu erlangen, während eine redende Person noch fortfuhren möchte, markiert Kotthoff folgendermaßen: „Zunächst definieren wir Unterbrechung als Eindringen in den Turn einer anderen sprechenden Person, wenn deren Beendigungsabsicht intonatorisch und syntaktisch noch nicht registrierbar geworden ist [...]" (1991: 136) Diese einfache Feststellung hat Kotthoff in einen kontextual-interaktiven Rahmen gestellt und erhält auf diese Weise funktionale Kategorien: „Als Interventionen unterscheide ich Überlappung, Unterbrechungsversuch, Unterbrechung, reaktive Unterbrechung, Expansionsverhinderung (welche ohne Simultansequenz sein kann), kompetitive Unterbrechung und Einwurf." (1993: 14) Diese Kategorisierung von Interventionen stützt den funktionalen Ansatz der vorliegenden Arbeit und wurde daher aus einer Vielzahl von Klassifizierungsvorschlägen in der Literatur ausgewählt und zunächst unverändert übernommen. Nach ersten Versuchen zeigte sich jedoch, daß es für die „Mehrpersonengespräche", gegenüber den Dialogen bei Kotthoff, einiger Veränderungen bedurfte: Die möglichen Interventionen wurden untergliedert in erfolgreiche (E), solche ohne Erfolg (O) und neutrale (N). Zum Unterbrechungsversuch von Kotthoff erschien eine Erweiterung wie bei der Unterbrechung in reaktiven und kompetitiven Unterbrechungsversuch sinnvoll. Der Einwurf (Nuv: neutrale Intervention, u.U. mit Nähe zum Unterbrechungsversuch) wurde ergänzt durch weitere neutrale Interventionen wie Simultanstart (Nr: neutrale Intervention mit Rezipienzsignalcharakter), Rezipienzsignale (Nr), emphatische Interjektionen (Nr) und Satzvervollständigungen (Nr). (Eine ausfuhrliche Diskussion der Berechtigung des Terminus „neutrale Intervention" findet sich in Kap. 4: Ergebnisse.) Weiterhin fanden Turn-Wechsel durch Fremdwahl (Ngl: neutrale Intervention mit glattem Übergang) und durch Fremdwahl mit verfrühter Übernahme (Ngl) wie auch die Selbstwahl (Nn: neutrale Intervention, neutrale Redeübernahme ohne Rederechtsbedrohung) nach registrierbarer Beendigungsabsicht Aufnahme. Sog. „neutrale" Interventionen als Unterbrechungsversuche in die Untersuchung einzubeziehen, erscheint zunächst in sich selbst unlogisch, weil das Neutralitätsprinzip Rederechtbedrohung ausschließt. Neben der Analyse unterbrechungsfördender oder -verhindernder Merkmale sollten jedoch auch bestimmte Aspekte geschlechtsbezogenen Gesprächsverhaltens Untersuchungsgegenstand sein. In diesem Zusammenhang konnte vermutet werden, daß z.B. die Relation zwischen der Anzahl erfolgreicher Interventionen und der Rezipienzsignale ergebnisrelevant sein könnte. Neutrale Interventionen im hier dargestellten Sinne als Rezipienzsignale, emphatische Interjektionen, Satzvervollständigungen und Simultanstarts begleiten das Rederecht anderer ohne es zu bedrohen. Insofern sind es Interventionen aber keine Unterbrechungsversuche. Dennoch zeigen die Gesprächsverläufe,

45 daß ein Intensivieren von Rezipienzsignalen ein Vorbereiten auf eine Rederechtübemahme bedeuten kann. Das Gleiche gilt fur Selbst- und Fremdwahlen an übergangsrelevanten Stellen, sie strukturieren den Turnwechsel und gestalten damit Themenarbeit. Ergänzend konstituieren sie Selbst- bzw. Fremdinszenierung von Expertentum. Selbstwahl erfolgt auch immer in der Auseinandersetzung mit anderen Redeinteressierten. Einwürfe verlieren ihre Neutralität dann, wenn sich aus dem einfachen Zuruf („Da kann ich nur zustimmen") ein Begründungsakt („Da kann ich nur zustimmen, weil...") entwikkelt. Außerdem war zu berücksichtigen, „[...] daß dem Rezipienzsignal und dem Einwurf in vielen Kontexten eine turn-beanspruchende Potenz innewohnen." (Kotthoff 1993: 169) Eine Gliederung der Unterbrechungen wie der Unterbrechungsversuche in „normale", „reaktive" und „kompetitive" und damit eine Erweiterung der von Kotthoff vorgelegten Klassifizierung erwies sich im Prozeß der Auswertung der Interventionen als nützlich. So konnten der verstärkte Einsatz von Sprechausdrucksmerkmalen einerseits und die Frage der Steigerung der Merkmalsintensität in einer Abfolge mehrerer Versuche im Gelingensfalle wie im Nichtgelingensfalle untersucht werden. Das erschien besonders auch im Hinblick auf die Tatsache, daß „Interventionen [...] für sich genommen keine Bedeutung (haben), sondern nur ein Bedeutungspotential, welches sich erst im Kontext mit anderen Faktoren herausbildet" (Kotthoff 1993: 181), wesentlich. Die folgende Darstellung zeigt das Beschriebene als Übersicht, wobei in Textabschnitten die Kürzel der Interventionen verwendet werden, in Tabellen die Nummern.

Tab. 3: Erfolgsbezogene Klassifizierung der Interventionen Typ 5.1. 5.2. 6 8 9

Intervention Unterbrechung mit Überlappung Unterbrechung ohne Überlappung reaktive Unterbrechung Expansionsverhinderung kompetitive Unterbrechung

Erfolg E E E E E

erfolgreich erfolgreich erfolgreich erfolgreich erfolgreich

4 7 10

Unterbrechungsversuch reaktiver Unterbrechungsversuch kompetitiver Unterbrechungsversuch

0 0 0

erfolglos erfolglos erfolglos

1.1. 1.1.1. 1.2. 2

Fremdwahl Fremdwahl mit verfrühter Übernahme Selbstwahl Einwurf (Simultanstart) Rezipienzsignale emphatische Interjektionen Satzvervollständigungen

Ν Ν Ν Ν Ν Ν Ν Ν

(3.1.) 3.2. 3.3. 3.4.

gì gl η UV

r r r r

neutral neutral neutral neutral neutral neutral neutral neutral

3.2.5. Legende Den Ausgangspunkt der Überlegungen zur Verwendung von Zeichen für das zunächst deskriptive halbinterpretative Arbeitstranskript stellte die Tatsache dar, daß alle Daten primär über das HIAT-Programm (DOS-Basis) in den Computer aufgenommen werden

46 sollten. So erschien es zweckmäßig, sich der auf der normalen Computer-Tastatur vorhandenen Zeichen zu bedienen. Bewegungen nach oben und unten erhielten die Zeichen i und !, mehr und weniger < bzw. >, schwebend -», ansonsten wurden Buchstaben verwendet: s(chnell), l(angsam), A(tem)P(ause), v(or), z(urück), li(nke) H(and) etc. Bewegungsrichtungen erhielten ihre Markierung über die Siglen der Sprechenden: Rechte Hand we'.st auf Sprecherin 3 ist notiert als „re H F3". Bestand keine Merkmalsänderung an der Interventionsstelle, vergab die Transkribierende eine 0. Es zeigte sich schnell, daß diese Legende, bezogen auf die konkreten Abläufe an den Interventionsstellen, wenig aussagekräftig war, weil sie sich sehr am vereinzelten Sprechverhalten orientierte und keine Grundmuster abbildete. Dennoch bleibt es wichtig, wie schon dargestellt, zunächst in dieser Individualisierung zu notieren, um nicht über eine vorausgesetzte Matrix bereits beim Notât zu filtern. Die erste Konsequenz auf dem Weg der Suche nach analysierbaren Grundmustern bestand, orientiert am Interventionsgeschehen, in der Zuordnung der Bewegungsrichtungen nicht mehr zu individuellen Teilnehmenden, sondern im Bezug der Bewegung auf ihre interaktionale Funktion. So wurde z. B. die Bewegungsrichtung der rechten Hand (re H) nicht mehr als gerichtet auf eine bestimmte Person (z.B. die dritte Frau - F 3) beschrieben, sondern im Bezug auf deren interaktionale Funktion, d.h. ob sie nachfolgende oder vorangegangene Intervenierende (auf vorausgegangene/folgende Interveniererin gerichtet vig/fig) bzw. auf folgende oder vorangegangene Sprechende gerichtet (fsg/vsg). Damit erhielt die rein deskriptive Notierung einen ersten funktionalen Ansatz. Gleichzeitig erwies sich diese funktionale Zuordnung jedoch als so differenziert, daß die Anzahl der Ereignisse in den einzelnen Kategorien keiner statistischen Bearbeitung mehr zugänglich wurden. Am Beispiel der Kopfhaltung sei dies exemplarisch dargestellt: Der Kopf des Sprechenden ist an der jeweiligen Interventionsstelle dem nachfolgenden Intervenierenden zugewendet (fig), er wird einfach gerade gehalten (g), er ist dem augenblicklichen Intervenierer zugewendet (ig), er ist auf den Intervenierer gerichtet, wendet sich dann in die gesamte Gesprächsrunde (ig/r), er ist der Moderatorin zugewendet (mg), der Sprechende nickt mit dem Kopf (ni), der Kopf ist zurückgelehnt (z), der Kopf ist nach unten gesenkt (nu), der Kopf bewegt sich ungezielt sprechbegleitend (sb). Alle Bewegungen können in gleicher Weise bei den Intervenierenden registriert werden. Da alle Bewegungsmöglichkeiten für die jeweils Sprechenden und Intervenierenden singulär aufgelistet werden, ist bereits an diesem einen Beispiel erkennbar, daß sich verallgemeinerbare Erkenntnisse daraus nicht ableiten lassen, Grundmuster, nicht abgelesen werden konnten. Das zog erneut die Notwendigkeit nach sich, Kriterien zu entwickeln, die eine Komprimierung mehrerer Einzelmerkmale zu einem Bündel zulassen könnten. Mit der These der „Relationalen Dynamik" von Suitbert Ertel (1970) erschien der Autorin ein Aspekt gefunden, der es möglich machte, einen funktionalen Ansatz der Gerichtetheit als Markierungsfilter zu verwenden: Neben anderen Dimensionen wie Stimmigkeit/Unstimmigkeit, Konstanz/Variabilität, Zusammenhang oder Dominanz u.a. gibt Ertel „Richtung" als notwendige Komponente von Relationsfiguren an: Eine Relationsfigur ist komponentenhaft unzureichend beschrieben, wenn die Richtungsverhältnisse nicht spezifiziert sind. Bei einer dyadischen Geschehensrelation A : Β etwa kann das Geschehen von A ausgehen (A = Ursprungsrelat) und auf Β hinzielen (B = Zielrelat) oder umgekehrt, von Β ausgehen und auf A gerichtet sein. In beiden Fällen liegt eine einsinnige Richtung des Geschehens vor. Wenn das Geschehen gleichzeitig mit einer Richtung und in Erscheinung tritt, ist von reziproken Richtungsverhältnissen zu reden. (1970: 29)

47 Über diesen Ansatz der Richtung, der interaktional im Sinne von „stärker auf den anderen zu bzw. stärker vom anderen weg" verstanden werden kann, sowohl einsinnig als auch reziprok, wurde eine Komprimierung der Daten möglich. So deuten z.B. für die Handbewegungen die komprimierten Symbole die jeweilige Richtung an: Von „Hände sind am Körper (ak)" über „sprechbegleitend (sb)" zu „vom Körper weg (vkw)" und „partnergerichtet (pg)" geht die Richtung immer stärker auf die anderen zu und mit „nimmt zurück (nz) kehrt die Bewegung zu ihrem Ausgangspunkt zurück. Aus der Differenzierung von „auf den vorangegangenen Intervenierer gerichtet", „auf den nachfolgenden Intervenierer gerichtet", „auf den jetzt Intervenierenden gerichtet", „auf die Moderatorin gerichtet", „auf den vorangegangenen Sprechenden gerichtet", „auf den jetzt Sprechenden gerichtet", „auf den nachfolgend Sprechenden gerichtet" entsteht im Komprimierungsstatus das Merkmal „partnergerichtet (pg)". Damit entsteht interaktional die Klarheit, ob die Parameter die Distanz zum Gegenüber verringern oder vergrößern; es entsteht ein funktionaler Zusammenhang: Das Verhältnis von Sprechausdrucksmerkmalen, deren Richtungsintensität und dem Erfolg von Interventionen kann in ein relationales Verhältnis gebracht werden. Die individuelle Einzelbewegung fließt als Relationsverstärker mit ein, bündelt sich jedoch zu einem überindividuellen Kriterium. Den fiir die Auswertung gültigen Komprimierungsstatus zeigt die folgende Übersicht:

sp

->

o

bew!

>

bew

»

i



pg g nib ni

g g nib nib

nz

nib nu

V

ss

sb

nu

r

vz

vkw r

zu

sb

E lg 0 O η !

Stärkeabstufung (i) 0

0

ak

pg

pg

pg


« r bewi «


bew-> « bewi «


Blick (s)




vz

bew

»

i

»>

sb nu vkw r sb

Legende der Kürzel: Tonhöhenverlauf: 0=unverändert, !=terminal, bew->= bewegt auf und ab, schließlich progredient, bewi=bewegt auf und ab, schließlich interrogativ, ->=progredient, bew!=bewegt auf und ab, schließlich terminal, bew=bewegt auf und ab, i=interrogativ; Stärkeabstufung: 0=unverändert, =leiser (Stufe 1), » = n o c h leiser (Stufe 2), » > = s e h r leise (Stufe 31:Sprechspannung: =verringert, ->gehalten; Tempo: 0=unverändert, l=langsam, p=Pause, s=schnell, ss=sehr schnell, vz=verzögert:Pausen : 0=keine Pause, ap=Atempause, sp=Staupause; Hände: ak=am Körper, pg=partnergerichtet, nib=nicht im Bild, nz=nimmt sie zurück, sb=sprechbegleitend, vkw=vom Körper weg; Kopfhaltung: pg=partnergerichtet, g=gerade, ni=nickt, nib=nicht im Bild, nu=nach unten, r=in die gesamte Runde, sb=sprechbegleitend;. Blickrichtung: pg=partnergerichtet, g=gerade, nib=nicht im Bild, nu=nach unten, r=in gesamte Runde, zu=Augen sind geschlossen; Körper: pg=partnergerichtet, g=gerade, nib=nicht im Bild, v=vorgebeugt, v/z=vor- und zurückbewegt, z=zurückgelehnt; Erfolg: E=erfolgreich, O=erfolglos, N=neutral; Differenzierung der neutralen Interventionen: gl=glatter Übergang, n=unzweifelhaft neutral, uv=Nähe zum Unterbrechungsversuch, r=Rezipienzsignal

48 Die entstandenen Gnindmuster eröffneten die Möglichkeiten eines statistischen Zugriffs, weil dadurch verwertbare Größenordnungen entstehen. Diese Komprimierungsstufe, die Zentrierung unterschiedlicher Bewegungen in Richtungsbündeln, ist deutlich als interpretativer Prozeß aufzufassen, denn es galt z.B. zu entscheiden, ob „sprechergerichtet (sg)", „moderatoringerichtet (mg)" oder „intervenierergerichtet (ig) zu „partnergerichtet (pg)" zusammengefaßt werden kann. Das hier eingeführte funktionale Raster der Richtung ermöglicht bei einer entsprechend großen Datenerhebung die Loslösung von der jeweils nur lokal gültigen Aussage und kann zu allgemein interaktional bzw. dialogisch relevanten Erkenntnissen fuhren

3.2.6. Skalierung Der Richtungsparameter ermöglichte außerdem einen Ansatz, der über eine deskriptive Darstellung des Interventionsprozesses hinausführt: Die Kriterien „gerichtet/nicht gerichtet", „mehr/weniger" und „gleichbleibend" bildeten die Entscheidungsbasis für ein Skalierungssystem: Auf einer gedachten Skala von - 3 bis +3 wurden die einzelnen Merkmale einer Skalierungsgröße zugeordnet, d.h. das jeweilige Merkmalsbündel wurde im System der Relationalen Dynamik mit dem Parameter „Richtung" verbunden. So ergibt sich für ein konkretes Merkmal, z.B. „Hände vom Körper weg", eine Stellvertretung durch eine konkrete Zahl auf einem Skalierungsstrahl (im angegebenen Beispiel +2). Dieses Prinzip der Skalierung, das von der Autorin fur die vorliegende Arbeit entwickelt wurde, stellt den entscheidenden Schritt dar, zunächst deskriptive Daten einer statistischen Bearbeitung zuzuführen. Ergebnisse der Gesprächsforschung, die ansonsten ausschließlich einer kritisch-hermeneutischen, holistischen Interpretation zugänglich sind, können nach ihrer statistischen Signifikanz geprüft werden, ohne daß gemessene Werte vorliegen. Das Instrumentarium der Statistik stellt hierfür den U-Test zur Verfugung, einen nichtparametrischen Signifikanztest zum Vergleich skalierter (nicht-gemessener) unabhängiger Datenreihen. Er ist sowohl ür Stichprobenumfänge von über als auch unter 20 Daten anwendbar.2 Den Merkmalsbündeln wurden gemäß der Dimension von Nähe und Distanz entsprechende Skalenwerte zugeordnet, die Tabelle 5 zu entnehmen sind. An den jeweiligen Interventionsstellen erfolgte im nächsten Arbeitsschritt der Austausch der deskriptiven Merkmalsbündel durch die zugeordnete Ziffer, jeweils fur Sprechende und Intervenierende. Diese zahlenmäßigen Gegenüberstellungen wurden auf ihre Signifikanzen überprüft (vgl. Kap. 3.3.: Ergebnisse). Der beschriebene methodische Weg erweitert die Methoden sprechwissenschaftlicher Gesprächsforschung über hermeneutische, textexegetische, inhaltsanalytische Verfahren hinaus und ermöglicht einen Brückenschlag zu naturwissenschaftlichen Positionen, führt zu reproduzierbaren Ergebnissen. Nichtsdestotrotz sind die Ausgangsdaten einem situativ und kontextuellen Prozeß des Miteinandersprechens vergesellschafteter Individuen entnommen, und folgerichtig müssen die Analyseergebnisse in diesen Gesamtprozeß zurückgeführt werden. 2

Auswahl und Anwendung der statistischen Verfahren folgten Willimczik ( 1 9 9 2 ) und Knieper ( 1 9 9 2 ) . Die Testverfahren selbst (U-Test und t-Test) wurden im Excel-Programm durchgeführt.

49 Tab. 5: Zuordnung von Skalierungswerten zu Richtungsparametern Nonverbale Merkmale paralingual

extralingual

-2 »

-2

bewi

-1 >

-1 > 00

i

o

0

00

Blick

bew!

Haltung

-3

Hände

-3 > »

Pausen

!

Tempo

Sprechspannung

Stärkeabstufung

Tonhöhenverlauf

Kopf

Ρ vz

"3 -2 ap

-2 nz

-2

-1 1

-1 sp

-1 ak

-1 nu

-1 nu

-1 ζ

-1

00

00

0 sb

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0 g r

og

0

1 ν/ζ

1

ν

2

Pg

3

zu

sb g bew-> ->

1 ->

1 s

1

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1 ni

1 pg

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4.59900


51 Für alle sechs Beteiligten entstand zusätzlich ein Sprecherprofil, indem aus dem gesamten Gesprächsverlauf an jeweils zwei unterschiedlichen Stellen für die Intensitätsmessungen je 50 Sprechsekunden entnommen wurden.3 Die Grundfrequenz wurde an etwa 125 Sekunden Sprechzeit untersucht, wiederum mit Ausnahme von F2 und M3. In Parallelität zu den skalierten Daten wurden die gemessenen Daten tabellarisch erfaßt (z.B. Intensität der Sprechenden im Vergleich zur Intensität der Intervenierenden an den konkreten Interventionsstellen) und als zwei vergleichbare Datenreihen metrischer Zahlen mit Hilfe des t-Tests nach ihrer statistischen Signifikanz überprüft, wobei (wie auch beim U-Test) als zugelassene Irrtumswahrscheinlichkeit ρ < 5% gewählt wurde.Eine Gegenüberstellung und Interpretation der gemessenen mit den skalierten Werten des Gesprächs „Organe" findet sich im Kapitel „Ergebnisse" (3.4.4.).

3.3. Ergebnisse: Korpus „Tiere" 3.3.1. Gesprächsbeschreibung 3.3.1.1. Gesamtbetrachtung Das erste Gespräch, das für die vorliegende Analyse ausgewertet wurde, ist eine vom ZDF zur Verfügung gestellte Kopie der Fernsehdiskussion „Mehr Rechte für Tiere" vom 09.09.93, gesendet von 22.15 - 23.30 Uhr. Ausgewählt wurde speziell dieses Gespräch, weil es sich um eine lebhafte Sachdiskussion handelte, weibliche wie männliche Personen am Gespräch teilnahmen, unter Leitung einer Moderatorin, und das Gesprächsziel in der Klärung eines Sachverhalts bestand, nicht in der Personendarstellung. Es waren 7 Personen beteiligt, 4 Männer und 3 Frauen, eine davon die Moderatorin. Das Gespräch fand aus gegebenem Anlaß der Thematik in einem Kuhstall statt, was sich im späteren Verlauf der Diskussion akustisch deutlich bemerkbar macht, weil die Fütterungszeit nahte und die Tiere unruhig wurden. Die Moderatorin bezieht sich verbal darauf. Die Beteiligten sitzen in einer Art Halbkreis, in ihrem Rücken die Tiere. Die aufnehmende Kamera zeigt das Gesamtbild als Totale von vorn oder Großaufnahmen der Betroffenen. Sind die Sprechenden nicht im Bild, wurde das unter den körpersprachlichen Merkmalen mit „nicht im Bild" (niB) gekennzeichnet. Der Halbkreis zeigt folgende Sitzverteilung von links nach rechts: M2 - M4 - F2 - Ml - F3 - M3 - Fl. Die Bezeichnung entstand in der Reihenfolge, in der die Beteiligten das Wort erstmalig ergriffen haben.

3.3.1.2. Beschreibung der Gesprächsbeteiligten Die Moderatorin der Fernsehdiskussion Gisela Marx (Fl) hinterläßt einen ruhigen Gesamteindruck. Sie hält während des Gesprächs einen Notizblock und einen Stift in den Händen, so daß sie beide Hände überwiegend im Schoß am Körper liegen hat. Sie sitzt angelehnt, 3

Ausnahmen stellen M3 und F3 dar, die eine wesentlich kürzere Redezeit insgesamt hatten: Von M3 wurden insgesamt 53 See. Sprechzeit untersucht, das entspricht 2/3 aller analysierten Stellen, für F3 44 See., das entspricht der Gesamtzeit der analysierten Redezeit überhaupt.

52 wirkt entspannt und hat die Beine übereinandergeschlagen. Sie folgt ihrer zugewiesenen Rolle und strukturiert den Gesprächsverlauf. Ihre Sprechweise ist eher gleichförmig, ohne besondere Merkmale. Sie kann sich, ihrer Rolle gemäß, stimmlich gut durchsetzen. Ihr Sprechanteil beträgt 2476,5 cm bei einer Sprechgeschwindigkeit von 5,4 Silben/sec. Die zweite Frau (F2) ist Renate Schmidt, bayerische SPD-Politikerin. Auch sie sitzt überwiegend angelehnt, wirkt entspannt, aber aufmerksam zuhörend. Ab und zu unterbricht sie bzw. kommentiert andere Sprechbeiträge. Sie ist gut verständlich, die Stimme wirkt jedoch etwas gepreßt und keuchend. Unterstützende Handbewegungen begleiten ihr Sprechen. Sie war mit 2629,5 cm (4,3 Silb./sec.) Sprechanteil am Gespräch beteiligt. Die Vorsitzende der Tierschutzhilfe Ursula Händel (F3) ist eine weitere Teilnehmerin. Sie sitzt während des gesamten Gesprächs sehr gerade. Sie ist klein und muß daher zu den anderen aufschauen. Durch einen Hut, den sie trägt, wird diese Haltung noch verstärkt. Sie hält Notizen in den Händen, mit denen sie manipuliert. Besonders in Gesprächsabschnitten, in denen sie selbst nicht spricht, hat sie relativ viele Körperbewegungen. Sie unterbricht andere kaum, wendet sich aber öfter an die Moderatorin, um Rederecht zu erhalten. Sie thematisiert die Redebeitragsverteilung („Ich habe mich die ganze Zeit so zurückgehalten") und moniert deutlich das unhöfliche bzw. unfaire Gesprächsverhalten von M3. Sie hat eine langsame (3,6 Silb./sec.) und bewußt betonte Sprechweise. Ihr Sprechanteil ist bedeutend geringer als der von Fl und F2 und beträgt mit 1507 cm nur etwas mehr als die Hälfte. Sprecher Ml, Meinolf Michels, ist Mitglied des Bundestages. Er spricht undeutlich und heiser, durchschnittlich schnell (4,8 Silb./sec.) und vermittelt einen eher unruhigen Gesamteindruck. Er hat intensiven Blickkontakt zu den anderen Gesprächsbeteiligten und weist gestisch auf die Angesprochenen, schaut andererseits aber auch viel nach unten und beugt sich nach vorn. Es entstehen beim Sprechen viele Körperbewegungen, die Hände legt er oft wie bittend mit den Handflächen aneinander. Sein Sprechanteil beträgt 1312 cm, noch weniger als der von F3, exakt die Hälfte von F2. Der zweite beteiligte Mann (M2) ist der Vizepräsident des Tierschutzbundes Wolfgang Apel. Wenn er das Wort hat, redet er kontinuierlich, jedoch nicht auffällig schnell (5,4 Silb./sec.), allerdings ohne Pausen zu setzen. Mitunter wird er sehr laut und fällt anderen gem ins Wort. Er hat viel Körperbewegungen und verändert häufig seine Sitzposition. Er wirkt mitunter angespannt. Mit 3051,7 cm ist sein Sprechanteil deutlich am größten. Dr. Michael Vogt ist Sprecher der Pharmaindustrie (M3) und versucht ständig, das Gespräch zu dominieren. Er sitzt meist angelehnt, aber sehr breit, offen und raumgreifend. Die Beine sind übereinandergeschlagen, er nutzt nur Handbewegungen. Er fallt anderen oft ins Wort und korrigiert sie, wodurch ein arroganter Eindruck entsteht, hervorgerufen auch durch häufig betont ruhiges Sprechen (4,5 Silb./sec.). Sprechpausen werden von ihm vermieden, er „redet bewußt über andere hinweg". Sein Sprechanteil beträgt 2528,5 cm. 4

Die Sprechgeschwindigkeit wurde als Silbenrate, d.h. real gesprochene Silben pro Sek. - einschließlich der Pausen - ermittelt. Die Menge der Redeanteile wurde anhand des Transkripts als Vergleichszahl in cm gemessen. Dieses Verfahren erwies sich insofern genauer als die bei Kotthoff (1993: 177) vorgeführte Zeilenzählung, weil die Einwürfe z.B. oft nur aus einem Wort bestehen. Ebenso ungenau ist das nachtägliche Messen der Redezeit, bei den Primäraufhahmen lief jedoch keine Zeitmessung mit. Um einen Vergleich zwischen den Redeanteilen der einzelnen Sprechenden herstellen zu können, wurde die Sprechgeschwindigkeit zur Textmenge in Relation gesetzt (relat. cm), d.h. alle Sprechenden auf eine gedachte durchschnittliche Silbenrate von 5,0 Silb./Sek. umgerechnet.

53 Schließlich ist noch M4 beteiligt, der ehemalige Leiter einer Tierversuchsanstalt, Dr. Franz P. Gruber. Dieser hinterläßt einen ruhigen, defensiven Gesamteindruck. Er spricht sehr langsam (3,9 Silb./sec.) und mit sehr undeutlicher Artikulation, fast „nuschelnd", und nur, wenn er aufgefordert wird. Er hält sich sehr zurück, auch körpersprachlich, und wird nur aktiver, sobald er angesprochen wird. Die Sprechweise zeigt wenig Dynamik, das ruft einen fast weinerlichen Eindruck hervor. Er hat einen sehr geringen Sprechanteil von 1399cm. Die nachfolgende Übersicht stellt eine Rangfolge der Sprechenden bezüglich ihrer Textmenge (in cm), ihrer Textmenge bezogen auf die Sprechgeschwindigkeit (relat. cm), der gezählten Anzahl ihrer Interventionen und der Interventionen, die von anderen auf ihre Sprechanteile gerichtet waren (erhaltene Interventionen) dar. Die Rangfolge-Aufstellung beginnt mit den höchsten Anteilen und nimmt nach unten ab. Um einen Überblick zu erhalten, ob die einzelnen Personen in allen Parametern vergleichbare Aktivitäten zeigten, wurden auch die Rangpositionen personell zugeordnet. Lediglich bei den Sprechern M2 und M4 korrespondiert ein hoher bzw. niedriger Sprechanteil in der ersten Spalte auch mit einer großen bzw. kleinen Anzahl von eigenen und auch erhaltenen Interventionen:

Tab. 6: Rangfolgen und Rangpositionen der Sprechenden Rangfolge der Sprechenden

Rangpositionen der Sprechenden

relat.

Inter-

erhalt.

Spre-

relat.

Inter-

erhalt.

cm

cm

vent.

Int.v.

cher

cm

cm

vent.

Int.v.

M2

F2

Fl

M2

Ml

7.

7.

3.

4.

F2

M2

M2

Fl

M2

1.

2.

2.

1.

M3

M3

Ml

M3

M3

3.

3.

4.

3.

Fl

Fl

M3

Ml

M4

6.

6.

7.

7.

F3

F3

F2

F2

Fl

4.

4.

1.

2.

M4

M4

F3

F3

F2

2.

1.

5.

5.

Ml

Ml

M4

M4

F3

5.

5.

6.

6.

Alle Beteiligten an dieser Fernsehdiskussion sind medien- und öffentlichkeitsgewohnt, so daß sie mit angenäherten Voraussetzungen teilnehmen können und relative Symmetrie erwartbar wäre. Lediglich für Dr. Gruber könnte aus seiner Position heraus eine geringere öffentliche Präsenz angenommen werden. Der Moderatorin ist eine exponierte Rolle zugewiesen. Ausgenommen die Tierschützerin (F3) und der Bundestagsabgeordnete (Ml), die etwas älter wirken, scheinen alle einer ähnlichen Altersgruppierung (zwischen 40 und 50 Jahren) anzugehören.

3.3.2. Quantitative Datenanalyse 3.3.2.1. Überblick In der Fernsehdiskussion „Tiere" fanden insgesamt 243 Interventionen statt, 111 gingen von Frauen aus, 131 von Männern, an einer Intervention waren außer dem Sprecher M3 alle anderen gleichzeitig beteiligt. Mehr als die Hälfte (66) der von Frauen initiierten Interven-

54 tionen waren für F l , die Moderatorin des Gesprächs, zu verzeichnen, nur 45 für F2 und F3 zusammen, den beiden anderen am Gespräch beteiligten Frauen. Teilt man die Menge dieser Interventionen durch zwei (22) und fügt die Zahl den 111 Frauen-Interventionen hinzu, entsteht die hypothetische Anzahl von 133 Interventionen bei hochgerechnet einer Moderatorin und drei weiteren Frauen. Auf diese Weise ließe sich das Ungleichgewicht in der Anzahl der Gesprächsbeteiligten (3:4) rechnerisch ausgleichen. Die Anzahl der Interventionen dieser 4 Frauen entspräche dann derjenigen der am Gespräch beteiligten 4 Männer. Da sich unter den Männern aber kein Moderator befindet, wäre mit 4 gleichberechtigten Frauen zu vergleichen, wodurch den 131 männlich initiierten Interventionen nur hypothetische 90 weiblich initiierte gegenüberstünden (vgl. Tab. 7), d.h. nahezu ein Drittel weniger.

Tab. 7: Geschlechtsdifferenzierte Gesamtzahl der Interventionen gesamt fl

66

gesamt f23

45

gesamt Frauen

111

gesamt Männer

131 1

gesamt Runde gesamt alle

243

Unter Vernachlässigung aller neutralen Interventionstypen (N) verschlechtert sich das Verhältnis sogar auf 48:24, Frauen beginnen demnach nur halb so viel echte Interventionen als Männer. Diese „hypothetischen Überlegungen" besitzen keinerlei Validität, ermöglichen jedoch die Aufmerksamkeitsfokussierung auf den Genderaspekt. Von den 111 durch Frauen hervorgerufenen Interventionen wurden 75 auf Sprecher und 36 auf Sprecherinnen gerichtet, wobei im Fall „Frauen bei Männern" (F bei M) 49 Aktionen von Fl ausgingen, also mehr als die Hälfte, und für die Situation „Frauen bei Frauen" (F bei F) auch knapp die Hälfte (17) von Fl (vgl. Tab.8).

Tab. 8: Vergleich der Interventionsrichtungen F bei M

M bei F

F bei F

Sprechende

f23

f23

fl

fl

f23

M/M

Π

£23

ges.

fl

f23

Í23

ges.

ges.

ges.

erfolgreich

E

20

2

22

3

0

1

4

1

4

5

15

erfolglos

O

11

9

20

0

0

0

0

5

5

10

18

Ν

Intervenierende

neutral

gesamt

18

15

33

14

2

16

32

31

18

49

34

N/gl

0

0

0

0

0

13

13

23

0

23

0

Ν/η

10

1

Π

6

0

0

6

1

4

5

1

N/uv

6

11

17

6

1

3

10

3

14

17

27

N/r

2

3

5

2

1

0

3

4

0

75

36

4

6

64

67

242

55 Die 131 Sprecher-Interventionen verteilen sich ziemlich ausgewogen: 64 M bei F, 67 M bei M (vgl. Tab. 8). Von den 131 durch Männer erbrachten Interventionen verliefen 20 erfolgreich (E), 28 blieben ohne Erfolg (O), 83 waren als neutral zu werten (N), wobei es sich dabei in 23 Fällen um Wortzuweisungen (Ngl) als Fremdwahl durch die Moderatorin und um 44 Einwürfe handelte (Nuv). Bei den Frauen finden sich unter den 111 Interventionen 26 erfolgreiche (allerdings allein 23 durch F 1), 20 erfolglose und 65 neutrale. Unter den neutralen Interventionen zeigen sich 13 Wortzuweisungen durch Fl und 27 Einwürfe. Interessant ist, daß Frauen achtmal und Männer zehnmal Rezipienzsignale (Nr) geben, verteilt auf die unterschiedliche Zahl der Betroffenen ein fast paritätisches Verhältnis (vgl. Tab. 8). In 23 Fällen des Gesprächs beenden Sprechende ihren Turn eindeutig (Nn) und geben somit von sich aus das Rederecht ab. In 17 dieser Ereignisse übernehmen Frauen, jedoch handelt es sich an 16 Stellen um die Moderatorin Fl. Die Zahlen sind so zu verstehen, daß nach einer Turn-Abgabe in 6 dieser Ereignisse Männer das Gespräch fortführen und nur ein einziges Mal eine der gleichberechtigt teilnehmenden Frauen (Verhältnis 1:5). Überwiegend nutzt die Moderatorin die Nn-Interventionen zur Gesprächsstrukturierung, sie wählt dafür diese übergangsrelevanten Stellen, also strukturierungsgeeignete Phasen der Gesprächsführung. Tabelle 9 ermöglicht einen Überblick über die Verteilung der Interventionen auf die verschiedenen gesprächsbeteiligten Personen:

Tab. 9: Differenzierung der Interventionen F

M

ges.

Sprechende fi

Intervenierende

f23

ges.

ges.

erfolgreich

E

23

3

26

20

erfolglos

O

11

9

20

28

48

neutral

Ν

32

33

65

83

148

gesamt

46

N/gl

0

13

13

23

36

Ν/η

16

1

17

6

23

N/uv

12

15

27

44

71

N/r

4

4

8

10

18

111

131

242

Zusammenfassend lassen sich anhand dieser Übersichten für die Fernsehdiskussion „Tiere" folgende Ergebnisse formulieren: • Die teilnehmenden Männer zeigen deutlich höhere Interventionsaktivität. • Bleibt die Moderatorin unberücksichtigt, gelingen in dem einstündigen Gespräch den übrigen Frauen kaum erfolgreiche Interventionen. • Das Verhältnis der Rezipienzsignale ist ausgewogen. • Die Moderatorin beansprucht für sich eine besondere Rolle. Von den Gesprächsteilnehmenden wird ihr dieser Sonderstatus auch eingeräumt, belegbar an der Tatsache, daß nur sie Worterteilungen vornimmt, von ihr an Gesprächszäsuren neu strukturiert werden kann und fast zwei Drittel aller von Frauen durchgeführten Interventionen von

56



ihr ausgehen. Auch das Ergebnis, daß von 26 erfolgreichen Frauen-Interventionen 23 durch Fl erfolgten, zeigt, daß sie einen Gesprächsleitungs-Anspruch oder DominanzAnspruch einfordert, dieser aber offensichtlich auch respektiert wird. Der Gesprächsleiterin steht situational eine besondere Rolle zu, sie wird in diesem Gespräch aber auch interaktional bestätigt. Die Redeanteile sind in ihrer Quantität - gestaffelt - zwischen M2, M3, Fl und F2 relativ ausgeglichen (3051,7 - 2476,5 cm), deutlich darunter - aber wiederum ausgewogen - liegen die Anteile von Ml, M4 und F3 (1507 - 1312). Mit Ausnahme des Anteils von Ml (geringster überhaupt) korrespondiert die Quantität des Gesprochenen mit der sonstigen Gesprächsaktivität.

3.3.2.2. Ausgangspunkt der Interventionen Große Bedeutung für die Analyse des Gesprächsverlaufs und die Charakterisierung der Beteiligten gewinnt die Fragestellung, von welchen Personen die Interventionen ausgehen und auf wen sie gerichtet sind. 3.3.2.2.1. Ergebnisse der Frauen Der Morderatorin Fl gelingen 23 erfolgreiche Interventionen, 3 davon bei Sprecherinnen, 20 bei Sprechern. Erfolglos bleibt sie bei Frauen nie, allerdings gibt es 6 Nuv, d.h. Einwürfe, bei denen unklar bleibt, ob es sich um eine Art Rezipienzsignal oder um einen verdeckten Unterbrechungsversuch handelt.

Tab. 10: Interventionen der Moderatorin Fl FI(s)

Fl (i)

F2(s)

F3(s)

Ml(s)

M2(s)

M3(s)

M4(s)

ges. 23

erfolgreich

E

*

1

2

4

6

6

4

erfolglos

0

*

0

0

0

3

6

2

11

neutral

Ν

*

7

7

2

8

4

4

32

N/gl

0

0

0

0

0

0

0

N/n

4

2

2

4

3

1

16

N/uv

1

5

0

3

1

2

12

N/r

2

0

0

1

0

1

4

8

9

6

17

16

10

66

gesamt

11 Unterbrechungsversuche bei Männern bleiben erfolglos, hinzu kommen noch 6 Einwürfe (Nuv). Sie erhält über Fremdwahl niemals das Rederecht (Ngl), sendet nur 4 Rezipienzsignale (Nr) und übernimmt die Gesprächsaktivität (Nn) an Zäsuren sechsmal nach Frauen und zehnmal nach Männern als vorausgegangenen Sprechern (vgl. Tab. 10). Unter quantitativem Aspekt deutet sich eine Tendenz an, daß das Verhalten von Fl eher dem der Männer als dem der vergleichbaren Frauen entspricht, wobei sie zusätzlich das Gespräch deutlich dominiert.

57 Sprecherin F2 (bayer. SPD-Politikerin) interveniert bei Frauen überhaupt weder erfolgreich noch erfolglos, begleitet männliches Sprechen mit 8, weibliches Sprechen mit 2 Einwürfen. Erfolglose Interventionen finden sich 4, ausschließlich bei M3, erfolgreiche je einmal bei Ml und M3. Sie gibt insgesamt nur 2 Rezipienzsignale, erteilt niemals das Wort und ergreift an Zäsuren nur einmal bei M4 die Gelegenheit (vgl. Tab. 11). Damit entsteht ein Interveniererin-Profil mit insgesamt geringer Interaktionsaktivität, diese jedoch mit starker Gerichtetheit auf die männlichen Gesprächsbeteiligten. Weiter unten wird noch zu zeigen sein, daß ihr schwach ausgeprägter Interventionswille mit ihrem Verhalten als Sprecherin korrespondiert, indem sie Beiträge deutlich abschließt und das Rederecht mit klaren Signalen selbstbestimmt abgibt.

T a b . 11 : I n t e r v e n t i o n e n v o n F 2 Fl(s)

F2(s)

F3(s)

Ml(s)

M2(s)

M3(s)

M4(s)

ges.

erfolgreich

F2(i) E

0

*

0

1

0

1

0

2

erfolglos

0

0

*

0

0

0

4

0

4

*

2

2

neutral

Ν

8

4

2

2

20

N/gl

7

0

0

0

0

0

7

N/n

0

0

0

0

0

1

1

N/uv

1

1

2

4

1

1

10

N/r

0

1

0

0

1

0

2

g

2

3

4

7

2

26

gesamt

Sprecherin F3 (Vorsitzende der Tierschutzhilfe) vollzieht 1 erfolgreiche Intervention bei der Moderatorin, sie hat neben 2 Einwürfen keine erfolglosen Interventionen bei Frauen, aber 5 bei Männern, zuzüglich 3 Einwürfen. Sie nimmt sich das Wort an Gesprächseinschnitten nie, gibt anderen nie das Wort und begleitet nur zweimal männliches Sprechen durch Rezipienzsignale (vgl. Tab. 12). Auch F3 ist in ihren Aktivitäten deutlicher auf die Sprecher bezogen, beeinflußt allerdings das Gespräch insgesamt nur sehr unmaßgeblich.

T a b . 12: I n t e r v e n t i o n e n v o n F 3 F3(i) erfolgreich

E

Fl(s)

F2(s)

F3(s)

Ml(s)

M2(s)

M3(s)

M4(s)

ges.

1

0

*

0

0

0

0

1

0

3

2

0

5

0

2

3

0

13

erfolglos

O

0

0

*

neutral

Ν

8

0

*

N/gl

6

0

0

0

0

0

6

Ν/η

0

0

0

0

0

0

0

N/uv

2

0

0

1

2

0

5

N/r

0

0

0

1

1

0

2

9

0

0

5

5

0

19

gesamt

58 Zusammenfassend läßt sich beschreiben, daß Männer eine deutlich intensivere Interventionsaktivität zeigen, selbst neben hypothetisch hochgerechneten 4 gleichberechtigten Frauen. Es gibt keine einzige erfolglose Intervention einer Frau bei einer anderen Frau und nur 4 erfolgreiche, davon drei von Fl. Das bedeutet, daß für das gesamte einstündige Gespräch nur eine einzige erfolgreiche Intervention einer Frau bei einer Frau zu verzeichnen ist, unter Ausschluß der Moderatorin. Für die erfolgreichen Interventionen bei Sprechern fallt das Ergebnis ähnlich aus: Bleiben die Aktivitäten von Fl (20) unberücksichtigt, existieren nur zwei erfolgreiche Interventionen. Ohne Betrachtung der Moderatorin gelingen demnach bei insgesamt 243 Interventionen den Frauen nur 3! Es zeigt sich auch auffallig, daß die Gesamtaktivitäten von Frauen auf Männer deutlich höher sind (75) als von Frauen auf Frauen (36). In diesem gemischtgeschlechtlich zusammengesetzen Kreis widmen die Interveniererinnen den Männern mehr Aufmerksamkeit als den Frauen. Unter Ausklammerung von Fl ergäben sich 26 Interventionen, diese hypothetisch hochgerechnet auf 4 Frauen führten zu 52 auf Männer gerichtete Aktionen. Immer noch eine deutlich höhere Zahl. Die Moderatorin dagegen erteilt das Wort durch Fremdwahl (Ngl) relativ gleichmäßig an alle Beteiligten (F2 - 7; F3 - 6; Ml - 5; M2 - 8; M3 - 4; M4 - 6). Diese Funktion wird im Gesamtgespräch ausschließlich von ihr wahrgenommen. Sie selbst erhält das Rederecht nie von jemand anderem, was auch ihre Sonderstellung verdeutlicht.

3.3.2.2.2. Ergebnisse der Männer Ml (Mitglied des Bundestages) gelingen 6 erfolgreiche Interventionen, davon eine einzige bei einer Frau. Erfolglose Versuche unternimmt er je 4 bei Frauen und Männern gleichermaßen, hinzu kommen 9 Einwürfe, 7 davon auf männliche Sprechanteile. Er übernimmt das Wort zweimal und gibt 4 Rezipienzsignale, 3 davon für Männer (vgl. Tab. 13). Tab. 13: Interventionen von M l

MI (i) erfolgreich erfolglos neutral

E 0 Ν N/gl N/n N/uv N/r

gesamt

Fl(s) 0 1 7 5 1 0 1 8

F2(s) 1 3 3 0 1 2 0 7

F3(s) 0 0 0 0 0 0 0 0

Ml(s) *

* *

M2(s) 4 3 6 0 0 3 3 13

M3(s) 1 1 3 0 0 3 0 5

M4(s) 0 0 1 0 0 1 0 1

ges. 6 8 20 5 2 9 4 34

Die bei den Frauen sichtbare Tendenz, daß Interventionsaktivitäten stärker auf Männer gerichtet sind, setzt sich hier fort: Von 34 Ereignissen gelten 19 männlichen Betroffenen. M2 (Präsident des Tierschutzbundes) ist in 7 Fällen bei Sprechern erfolgreich, bei Sprecherinnen nie. Erfolglose Versuche unternimmt er, neben 10 Einwürfen, 2 bei Frauen und 8 bei Männern, wobei dort noch 11 Einwürfe mitzudenken sind. Er übernimmt das Wort zweimal und gibt 5 Rezipienzsignale, beides auf Männer und Frauen verteilt (vgl. Tab. 14).

59 Tab. 14: Interventionen von M2

M2(i) erfolgreich erfolglos neutral

Fl« 0 1 12 8 0 2 2 13

E O Ν N/gl Ν/η N/uv N/r

gesamt

F2(s) 0 1 5 0 0 5 0 6

F3(s) 0 0 4 0 1 3 0 4

Ml(s) 6 3 8 0 0 5 3 17

M2(s) * * *

M3(s) 1 5 5 0 0 5 0 11

M4(s) 0 0 2 0 1 1 0 2

ges. 7 10 36 8 2 21 5 53

M3 (Sprecher der Pharmaindustrie) hat 4 erfolgreiche Interventionen bei Frauen und 2 bei Männern vorzuweisen, eine erfolglose Intervention bei F 3 und fünf bei M 2. Er äußert bei weiblichen Beiträgen 4 und bei männlichen Beiträgen 8 Einwürfe. Andere Sprechende erhalten von ihm keinerlei Rezipienzsignale (vgl. Tab 15). M3 übernimmt durch Fremdwahl viermal das Wort von Fl und nutzt zwei Zäsuren von F2, um das Rederecht für sich zu rekurrieren. Während die Tendenz bei M2 wie bei Ml und den Frauen stärker auf männliche Redeanteile verwies, beziehen sich die Aktivitäten von M3 auch deutlich auf Frauen. Tab. 15: Interventionen von M3

M3(i) erfolgreich erfolglos neutral

E O Ν N/gl Ν/η N/uv N/r

gesamt

Fl (s) 1 0 5 4 0 1 0 6

F2(s) 1 0 2 0 2 0 0 3

F3(s) 2 1 3 0 0 3 0 6

Ml(s) 0 0 0 0 0 0 0 0

M2(s) 2 5 6 0 0 6 0 13

M3(s) * * *

M4(s) 0 0 2 0 0 2 0 2

ges. 6 6 18 4 2 12 0 30

M 4 (ehem. Leiter einer Tierversuchsanstalt) ist deutlich inaktiver als alle anderen Sprechenden, auch als die Frauen. Er setzt nur eine einzige erfolgreiche Intervention bei M2, versucht es nur bei Fl dreimal erfolglos und einmal bei Ml, er formuliert nur zwei Einwürfe (F3, M2). An einer einzigen Stelle erhält Fl ein Rezipienzsignal, er übernimmt das Wort von sich aus nie (vgl. Tab. 16). Später wird sich noch zeigen, daß auch bei ihm keine Interventionsversuche unternommen werden. So wird deutlich, daß er weniger in das Gespräch eingreift, sich aber auch deutlich seltener auf ihn bezogen wird. Rein quantitativ betrachtet ist die Tendenz ablesbar, daß das Verhalten von M4 eher dem von F2 und F3 ähnelt als dem der vergleichbaren Männer. Gesprächsverhalten, das oft als „weiblich" attributiert ist, wird in diesem Gespräch relativ durchgängig von einem Mann eingesetzt.

60 Tab. 16: Interventionen von M4

M4(i) erfolgreich erfolglos neutral

Fl(s)

F2(s)

F3(s)

Ml(s)

M2(s)

M3(s)

E 0 Ν

0 3 7

0 0 0

0 0 1

0 1 0

1 0 1

N/gl N/n

6 0 0 1

0 0 0 0 0

0 0 1 0 1

0 0 0 0

0 0 1 0

1

2

0 0 0 0 0 0 0 0

N/uv N/r

gesamt

10

M4(s) *

* *

ges. 1 4 9 6 0 2 1 14

Zusammenfassend kann festgestellt werden, daß Männer bei Frauen zwar in ähnlich hoher Zahl (64) aktiv werden wie bei Männern (67), wobei allerdings sowohl die erfolgreichen (5:15) als auch die gescheiterten Interventionen (10:18) als auch die Einwürfe (17:27) bei Männern deutlich überwiegen. Verschoben wird dieses Bild durch die Fremdwahlen, die F 1 vornimmt. In 23 Fällen erhalten Männer von ihr das Rederecht, was sich in deren neutralen Interventionen unter Ngl niederschlägt (vgl. Tab. 8). Vernachlässigt man diese Zahl, ergibt sich auch bei den Männern eine deutlich intensivere Bezugnahme auf die männlichen Beteiligten als auf die Gesprächsteilnehmerinnen. Das Mißverhältnis wird noch deutlicher unter Beachtung der männlichen Aktivitäten auf F 2 und F 3 im Vergleich zu den Reaktionen von Männern auf Männer und wird lediglich im neutralen Bereich durch das rechnerische Vorhandensein von vier Frauen - die Zahlen in < > - (E = 4 : 15; O = 5 : 18; Ν = 18 : 34) gemildert.

3.3.2.2.3. Zusammenfassung • • • • •

Auf die Ausgangsfrage nach den Bezügen der Interventionen lassen sich fur diese Fernsehdiskussion erste Antworten formulieren: Männer beziehen sich mit ihren Interventionen mehr auf Männer als auf Frauen, selbst bei deren hypothetisch hochgerechnet gleicher Anzahl. Frauen intervenieren ebenfalls mehr bei Männern. Fl und M4 verhalten sich zu ihrer geschlechtsbezogenen Gruppe tendenziell gegenläufig· Gesprächsstrukturierende Interventionen (Fremdwahl) gehen ausschließlich von der Moderatorin aus.

3.3.2.3. Zielrichtung der Interventionen Eine ebenso tragende Bedeutung für die Gesprächsstruktur nimmt die Richtung der Interventionen ein, d.h. die Frage, bei wem interveniert werden kann, wessen Rederecht Gesprächsbeteiligte unter welchen Bedingungen eingeschränkt sehen möchten. Das ist aussagekräftig bezüglich der Beziehungen der Beteiligten untereinander, es läßt zugleich aber auch die hierarchische Struktur des Gesprächs transparenter werden.

61 3.3.2.3.1. Ergebnisse der Frauen Gegen die Moderatorin gelingen nur zwei Interventionen (von F3 und M3), aber es existieren auch nur 5 Versuche. Sie erhält 4 Rezipienzsignale, ausschließlich von Männern, es werden 6 Einwürfe (3 von F; 3 von M) formuliert, nur einmal signalisiert sie so deutlich eine Gesprächszäsur, daß ein anderer (Ml) neutral übernehmen kann. In 36 Situationen ermöglicht sie durch Fremdwahl die Fortsetzung des Gesprächs durch andere (13 F; 23 M). Das zeigt, wie oben schon erwähnt, daß die gessprächslenkenden und gesprächsstrukturierenden Aktivitäten von ihr ausgehen, Bezüge zu ihr jedoch relativ selten vorkommen (vgl. Tab. 17). Es existiert auch keine Situation, in der die gesamte Gesprächsrunde intervenierend (Ri) auf sie einredet, wie das bei M3 der Fall ist (vgl. Tab. 22).

Tab. 17: Interventionen bei der Moderatorin Fl

Fl(s) erfolgreich erfolglos neutral

Fl(i) E 0 Ν

* * *

N/gl N/n N/uv N/r

gesamt

F2(i) 0 0 8 7 0 1 0 8

F3(i) 1 0 8 6 0 2 0 9

Ml(i) 0 1 7 5 1 0 1 8

M2(i) 0 1 12 8 0 2 2 13

M3(i) 1 0 5 4 0 1 0 6

M4(i) 0 3 7 6 0 0 1 10

R(i) 0 0 0 0 0 0 0 0

ges. 2 5 47 36 1 6 4 54

Bei F2 (vgl. Tab. 18) kann dreimal erfolgreich interveniert werden (Fl; Ml; M3), und es gibt vier erfolglose Versuche von Männern. Hinzu kommen 8 Nuv (1 Fl; 7 M), ihr werden 2 Rezipienzsignale gegeben. An 7 Stellen des Gesprächs sind ihre Abgabesignale so klar, daß mit Nn ( 4 F l ; 3 M) übernommen wird. An diesen Zahlen ist erkennbar, daß F2 wenig (und wenn, dann ausschließlich von M) das Wort strittig gemacht wird, inhaltliche Bezugnahmen (Nuv) vornehmlich von Sprechern vorhanden sind, sie aber - wie oben schon erwähnt - durch erkennbare Signale die Redeaktivität von sich aus abgibt.

Tab. 18: Interventionen bei F2

F2(s) erfolgreich erfolglos neutral

E O Ν N/gl Ν/η N/uv N/r

gesamt

Fl (i) 1 0 7 0 4 1 2 8

F2(i) * *

F3(i) 0 0 0 0 0 0 0 0

Ml(i) 1 3 3 0 1 2 0 7

M2(i) 0 1 5 0 0 5 0 7

M3(i) 1 0 2 0 2 0 0 3

M4(i) 0 0 0 0 0 0 0 0

R(i) 0 0 0 0 0 0 0 0

ges. 3 4 17 0 7 8 2 24

62 Diese Selbstbestimmtheit scheinen die anderen, besonders die Frauen (0=0), zu respektieren, sonst müßte die Zahl der erfolglosen Unterbrechungsversuche (O) größer sein (vgl. Tab. 18). Auf Redeanteile von F3 gibt es 4 erfolgreiche Interventionen (2 Fl; 2 M3) und nur eine erfolglose (M3). Sie erhält 1 Rezipienzsignal (F2) und 13 Einwürfe (6 F; 7 M). Dreimal gibt sie das Wort ab (vgl. Tab. 19). Daran ist zu erkennen, daß mit Einwürfen sehr wohl auf sie reagiert wird, aber ansonsten die Bezüge zu ihren Äußerungen nicht sehr stark sind. Da ihr selbst auch nur eine einzige erfolgreiche Intervention gelingt (vgl. Tab. 12), wird deutlich, daß der Anteil von F3 am Gespräch nur sehr schwach ausgeprägt ist. Somit wird erneut deutlich, daß Gesprächsbeteiligung natürlich einerseits durch die Sprechenden selbst, durch ihre aktiven Redebeiträge hergestellt wird, andererseits aber auch im Reagieren oder Nichtreagieren auf diese Beiträge durch die anderen Personen erzeugt wird.

Tab. 19: Interventionen bei F3

F3(») erfolgreich erfolglos neutral

E O Ν N/gl Ν/η N/uv N/r

gesamt

FI (i) 2 0 7 0 2 5 0 9

F2(i) 0 0 2 0 0 1 1 2

F3(i) * * *

Ml(i) 0 0 0 0 0 0 0 0

M2(i) 0 0 4 0 1 3 0 4

M3(i) 2 1 3 0 0 3 0 6

M4(i) 0 0 1 0 0 1 0 1

R(i) 0 0 0 0 0 0 0 0

ges. 4 1 17 0 3 13 1 22

Zusammenfassend offenbart sich, wie oben schon angedeutet, daß die Reaktionen auf Äußerungen von Frauen relativ verhalten sind, sich vorwiegend im N-Bereich bewegen und Frauen auf Frauen wenig reagieren. Anders ausgedrückt könnte auch angenommen werdenfalls es sich nicht um ein sporadisches reaktionsloses „Ertragen" handelt - , daß ihre Redebeiträge - wenn vorhanden - respektiert werden, da auf sie auch weniger Unterbrechungen oder Unterbrechungsversuche unternommen werden. Vornehmlich bei F2 korrespondiert das mit einer relativ großen Bereitschaft, von sich aus abzugeben, bei Fl mit 36 von ihr ausgehenden Fremdwahlen. 3.3.2.3.2. Ergebnisse der Männer Bei Ml wird limai erfolgreich interveniert (5 F; 6 M), nur 4mal erfolglos (nur durch M). In zwei Fällen gibt er das Wort ab, er erhält 3 Rezipienzsignale und 7 Einwürfe, die, es sei erneut daran erinnert, sowohl inhaltliche Bezüge als auch verdeckte Unterbrechungsversuche sein können. Auf jeden Fall sind sie Einheiten der Aufmerksamkeit und des Sprecherbezugs. D.h. Ml ist aktiv, es wird auf ihn reagiert, er verliert dadurch aber auch Rederecht (vgl. Tab. 20). Die Ergebnisse dieses Sprechers verdeutlichen ebenfalls wieder den Zusammenhang zwischen hohen Redeanteilen und Interventionsaktivität.

63 Tab. 20: Interventionen bei M l

Ml (s) erfolgreich erfolglos neutral

Fl (i) 4 0 2 0 2 0 0 6

E O Ν N/gl Ν/η N/uv N/r

gesamt

F2(i) 1 0 2 0 0 2 0 3

F3(i) 0 0 0 0 0 0 0 0

Ml(i) *

« *

M2(i) 6 3 8 0 0 5 3 17

M3(i) 0 0 0 0 0 0 0 0

M4(i) 0 1 0 0 0 0 0 1

R(i) 0 0 0 0 0 0 0 0

ges. 11 4 12 0 2 7 3 27

M2 erreichen 13 erfolgreiche Interventionen (6 F; 7 M) und 14 erfolglose (6 F; 8 M), zuzüglich 18 Einwürfen. M2 gibt viermal sein Rederecht ab und empfängt 5 Rezipienzsignale. Das zeigt eine deutliche Gesprächsaktivität, er wird oft unterbrochen, kann aber andererseits auch oft sein Rederecht verteidigen (vgl. Tab. 21). Tab. 21 : Interventionen bei M2

M2(s) erfolgreich erfolglos neutral

E O Ν N/gl Ν/η N/uv N/r

gesamt

FICO 6 3 8 0 4 3 1 17

F2(i) 0 0 4 0 0 4 0 4

F3(i) 0 3 2 0 0 1 1 5

Ml(i) 4 3 6 0 0 3 3 13

M2(i) * * *

M3(i) 2 5 6 0 0 6 0 13

M4(i) 1 0 1 0 0 1 0 2

R(i) 0 0 0 0 0 0 0 0

ges. 13 14 27 0 4 18 5 54

Die Bilanz von M 3 sieht noch erfolgreicher aus: 9 erfolgreichen Interventionen (allein 6 von Fl) stehen 18 erfolglose gegenüber (12 F; 6 M). Dem fugen sich noch 12 Einwürfe hinzu. Er überläßt dreimal anderen das Wort und erhält auch dreimal Rezipienzsignale. Tab. 22: Interventionen bei M3

M3 (s) erfolgreich erfolglos neutral

E O Ν N/gl Ν/η N/uv N/r

gesamt

Fl (i) 6 6 4 0 3 1 0 16

F2(i) 1 4 2 0 0 1 1 7

F3(i) Ml(i) 0 1 2 1 3 3 0 0 0 0 2 3 1 0 5 5

M2(i) 1 5 5 0 0 5 0 11

M3(i) * *



M4(i) 0 0 0 0 0 0 0 0

R(i) 0 0 1 0 0 0 1 1

ges. 9 18 18 0 3 12 3 45

64 M 3 zeigt also ebenfalls eine prägnante Gesprächsaktivität, aber seine „Erfolgsbilanz" ist größer als die von M2 (vgl. Tab. 22). Unter einem interpretativen Betrachtungskriterium könnte auch die Tendenz angemerkt werden, daß er Gesprächsbeiträge anderer zu verhindern versucht. Eine Besonderheit gilt es bei M 3 noch hervorzuheben: Er erhält in einem Fall von allen anderen gleichzeitig ein Rezipienzsignal (R(i) - vgl. Tab. 23), d.h. alle anderen reagieren sich überlappend auf seine Äußerung. Eine derartige Situation wiederholt sich im Gespräch nicht noch einmal., obwohl oft sichtbar ist, daß dieser Sprecher (Vertreter der Pharmaindustrie) die Gesprächsrunde durch seine Beiträge und auch sein nonverbales Verhalten polarisiert.

Tab. 23: Interventionen bei M3 durch alle Gesprächsbeteiligten („Runde")

R(i) erfolgreich erfolglos neutral

Fl(s)

F2(s)

F3(s)

Ml(s)

M2(s)

E O Ν N/gl N/n N/uv N/r

gesamt

M3(s) 0 0 1 0 0 0 1 1

ges.

M4(s)

0 0 1 0 0 0 1 1

Im Gegensatz dazu steht M4: Es finden 4 erfolgreiche Interventionen statt (durch Fl) und nur 2 erfolglose (ebenfalls nur durch Fl), er erhält ein Rezipienzsignal (auch von Fl). Von sich aus gibt er das Rederecht dreimal ab, es werden 7 Einwürfe formuliert. D.h. M4 bleibt - außer durch Fl - im Gespräch nahezu unbeachtet, er erhält lediglich einige Kommentare (vgl Tab. 24).

Tab. 24: Interventionen bei M4

M4(s) erfolgreich erfolglos neutral

E O Ν N/gl Ν/η Nuv N/r

gesamt

Fl (i)

F2(i)

F3(i)

Ml (i)

M2(i)

4 2 4 0 1 2 1 10

0 0 2 0 1 1 0 2

0 0 0 0 0 0 0 0

0 0 1 0 0 1 0 1

0 0 2 0 1 1 0 2

M3(i) 0 0 2 0 0 2 0 2

M4(i) * * *

R(i) 0 0 0 0 0 0 0 0

ges. 4 2 11 0 3 7 1 17

Zusammengefaßt stellt sich auffällig dar, daß auf F2 (24), F3 (22), Ml (27) gerichtete Interventionsaktivitäten zahlenmäßig relativ ausgeglichen sind, M3 mit 45 und noch auffalli-

65 ger M2 mit 54 auf sie zielende Aktionen deutlich darüber liegen, was bei beiden auch durch eine große Zahl von Unterbrechungsversuchen und Einwürfen (z.T. kaschierten Unterbrechungsversuchen) hervorgerufen wird. In umgekehrter Richtung abweichend verhält sich M4 mit einer Gesamtzahl von 17. Anders Fl: Hier findet sich zwar ebenfalls eine sehr große Zahl von Interventionen (54), aber hervorgerufen durch ihre Fremdwahlaktivitäten (36). Unter Vernachlässigung dieses Typs entsteht ein M4 (18) vergleichbarer Level. Auf diese Weise wird erkennbar, daß die Moderatorin in ihrer Funktion eine große Rolle spielt, jedoch nicht als gleichberechtigte Gesprächspartnerin, M4 eigentlich keine wesentliche Bedeutung für das Gespräch hat, M2 und M3 mit ihren Aktivitäten das Gespräch dominieren, F2, F3 und Ml in gleicher Weise ihren Part behaupten.

3.3.2.3.3. Zusammenfassung Bezogen auf die Zielrichtung von Interventionen im untersuchten Gespräch zeigt sich eine Korrespondenz mit den Ergebnissen der Ausgangspunkte der Interventionen: • Ein geschlechtsbezogen homogenes Interventionsverhalten läßt sich nicht belegen. • Auf Personen, die sich als aktive Intervenierende erwiesen haben, wird auch mit einer größeren Zahl von Interventionen reagiert. • Gesprächsbeteiligte, die sich inaktiv zeigen, erfahren auch weniger Interventionen. • Der Moderatorin wird ein Sonderstatus eingeräumt. 3.3.2.4. Charakterisierung des Gesprächs anhand der Interventionstypen 3.3.2.4.1. Erfolgreiche Interventionen Die Interventionstypen erhielten für die tabellarische Erfassung Ziffernzuordnungen von 1 bis 10 mit Untergliederungen. Die neutralen Interventionen wurden den Ziffern 1-4 zugeordnet, wobei der Untertyp 3.1., der Simultanstart, in Klammer gesetzt wurde, weil er als einziger in den Gesprächen nicht belegt war. Für die nachfolgenden Zahlen alternieren Interventionsversuche mit den dazugehörigen Interventionen. Da im Folgenden immer eine differenzierte Analyse nach erfolgreichen, erfolglosen und neutralen Interventionen vorgenommen wird, schien es sinnvoll, diese Blockbildung bereits hier vorzunehmen und nicht nach einer aufsteigenden Zahlenreihe zu sortieren. Die Darstellung der neutralen Interventionen erfolgt immer sowohl in der Gesamtzahl als auch differenziert nach den einzelnen Untertypen, um zu erkennen, welchen relativen Anteil sie jeweils zu der Gesamtheit beitragen. Besondere Relevanz hat die Differenzierung zwischen Fremdwahlen, Selbstwahlen, Einwürfen und „sonstigen" Hörersignalen. Fünf Interventionstypen werden als erfolgreich charakterisiert (vgl. Tab. 25), alle lassen sich im analysierten Gespräch belegen. Die Auftretenshäufigkeit ist bei Unterbrechungen mit Überlappungen (5.1.) bei weitem am höchsten. 16 der insgesamt 22 wurden von Frauen angewendet, davon 14 von Frauen bei Männern (Fb[ei]M). Die männlich initiierten Interventionen dieses Typs galten in 4 Fällen Männern (MbM), nur zweimal Frauen (MbF). Zunächst deutet das Ergebnis auf eine höhere Unterbrechungswahrscheinlichkeit durch Frauen als durch Männer (vgl. Tab. 26).

66 Tab. 25: Interventionstypen Typ 5.1. 5.2. 6 8 9

Intervention Unterbrechung mit Überlappung Unterbrechung ohne Überlappung reaktive Unterbrechung Expansionsverhinderung kompetitive Unterbrechung

Erfolg E E E E E

erfolgreich erfolgreich erfolgreich erfolgreich erfolgreich

4 7 10

Unterbrechungsversuch reaktiver Unterbrechungsversuch kompetitiver Unterbrechungsversuch

O O O

erfolglos erfolglos erfolglos

1.1.

Fremd wähl Fremdwahl mit verfrühter Übernahme Selbstwahl Einwurf (Simultanstart) Rezipienzsignale emphatische Interjektionen Satzvervollständigungen

Ν Ν Ν Ν Ν Ν Ν Ν

1.1.1.

1.2. 2 (3.1.) 3.2. 3.3. 3.4.

gl gl η uv Γ

r Γ

r

neutral neutral neutral neutral neutral neutral neutral neutral

Zu berücksichtigen ist jedoch in diesem Zusammenhang die unterschiedliche Anzahl der am Gespräch beteiligten Frauen und Männer. Tab. 26: Verteilung der Interventionstypen auf die Intervenierenden Typ 5.1. 5.2. 6 8 9 gesamt E 4 7 10 gesamt 0

O O O

1.1. 1.1.1. 1.2. 2 3.2. 3.3. 3.4.

Ν Ν Ν Ν Ν Ν Ν

gesamt Ν gesamt alle

FbM 14 3 0 2 3 22

E E E E E

gl gl η UV r r r

Fb F M b F M b M 4 2 2 1 0 5 0 2 5 1 1 0 1 0 0 4 5 15

12 1 7 20

0 0 0 0

6 3 1 10

11 2 5 18

0 0 11 17 4 0 1 33

6 7 6 10 2 0 1 32

18 5 5 17 4 0 0 49

0 0 1 27 4 1 1 34

F 16 4 0 3 3 26

M 6 5 7 1 1 20

aile 22 9 7 4 4

12 1 7

17 5 6 28

29 6 13 48

20

18 5 6 44

83

46

67 Werden jedoch von den 16 weiblichen Interventionen die 13 von Fl abgezogen, bleiben noch 3 von statusgleichen Frauen übrig. Multipliziert man diese Zahl mit zwei, erhält so hypothetisch 4 statusgleiche Frauen im Vergleich mit 4 statusgleichen Männern, zeigt das Ergebnis, daß bei beiden Geschlechtern 6 Unterbrechungen mit Überlappungen auftreten. Unterbrechungen ohne Überlappungen (5.2.) gibt es insgesamt 9. Die 4 von Frauen verwendeten geschahen alle durch Fl (3 bei M, 1 bei F), Männer bezogen sie nicht auf Frauen (5 M bei M). Bei statusgleichen Beteiligten überwogen die männlichen Anteile. Reaktive Unterbrechungen (Typ 6) fanden sich im Gespräch nur 7, ausnahmslos von Männern eingesetzt. Der „Kampf1' um die „Rückeroberung" des Rederechts wurde demnach nur von Männern (2 bei F; 5 bei M) ausgetragen. Ein Versuch, ein allzugroßes Ausweiten des Rederechts eines anderen zu verhindern, fand nur an 4 Stellen statt: 3 durch F, davon 2 durch Fl; 1 von M. Expansionsverhinderung scheint also für dieses Gespräch kein wichtiges Regulierungsinstrument zu sein, wird sie überhaupt angewendet, dann eher von der Moderatorin (vgl. Tab. 26). Eine ähnliche Aussage läßt sich für Typ 10, kompetitiver Unterbrechungsversuch, treffen: 3 der belegbaren 4 Fälle sind Fl zuzuweisen, nur einmal versucht es M3 bei einer Frau. Daher liegt auch hier die Erklärung nahe, es handele sich dominant um ein gesprächssteuerndes Mittel der Ranghöheren (vgl. Tab. 26). 3.3.2.4.2. Erfolglose Interventionen Ohne positives Ergebnis, ohne Erfolg, bleiben die Interventionen 4 (primärer Unterbrechungsversuch), 7 (reaktiver Unterbrechungsversuch) und 10 (kompetitiver Unterbrechungsversuch) (vgl. Tab. 25). In 29 Fällen scheitern die Intervenierenden mit ihrem Versuch, 12mal Frauen bei Männern, 1 lmal Männer bei Männern und 6mal Männer bei Frauen. Es läßt sich kein Unterbrechungsversuch von Frauen bei Frauen nachweisen. So drängt sich die Vermutung auf, daß Frauen versuchen, Männer zu unterbrechen, um mit ihnen ranggleich zu werden, männliche Hierarchie abzubauen, Männer andere Männer, um eine Hierarchie aufzubauen (vgl. Tab. 26). Eine Aktivität, das Rederecht zurückzugewinnen, ist der reaktive Unterbrechungsversuch (Typ 7). Von den insgesamt nur 6 auftretenden Fällen werden 5 von Männern wahrgenommen (3 bei F; 2 bei M). Es zeigt sich deutlich, daß die intervenierenden Frauen auch diese wettkampfartige Situation meiden (vgl. Tab. 26), die Gründe dafür werden zu suchen sein. 13 kompetitive Unterbrechungsversuche wurden gezählt, 7 von Frauen, 6 von Männern. Das widerspricht den Erklärungsversuchen von oben. Jedoch stammen allein 5 der weiblichen Versuche von Fl und erhalten dadurch eher gesprächsstrukturierenden (Möglichkeiten der Wortzuweisung) als Konkurrenzcharakter. Bis auf eine Ausnahme richten sich alle kompetitiven Unterbrechungsversuche (siehe auch Typ 7) an Männer (vgl. Tab. 27). Die nachfolgende Übersicht stellt vergleichend nebeneinander, in welcher Anzahl Gesprächsbeteiligte bestimmte Typen von Interventionen unternommen haben und welche bei ihnen als Sprechende versucht wurden. Hinter den Sprechersiglen erscheinende Buchstaben verweisen auf die Person als Sprechende (s) oder Intervenierende (i). Diese Gegenüberstellung ist aussagekräftig in bezug auf die Gesprächsrolle: So ist die dominante Rolle von

68 Fl z.B. auch dadurch belegt, daß sie 23 erfolgreiche Interventionen unternimmt, aber lediglich 2 bei ihr gelingen.

Tab. 27: Gesamtbilanz der Interventionen Fl(i) Fl(s) erfolgreich

E

23

erfolglos neutral

F2(i) F2(s)

F3(i) F3(s)

2

2

3

0

11

5

4

4

5

1

Ν

32

47

20

17

13

17

N/gl

0

36

7

0

6

0

N/n

16

1

1

7

0

3

N/uv

12

6

10

8

5

13

N/r gesamt

1

4

4

4

2

2

2

1

66

54

26

24

19

22

Ml (i) Ml (s)

M2(i) M2(s)

M3(i) M3(s)

M4(i) M4(s)

erfolgreich

E

6

11

7

13

6

9

1

4

erfolglos

O

8

4

10

14

6

18

4

2

neutral

Ν

gesamt

20

12

36

27

18

18

9

11

N/gl

5

0

8

0

4

0

6

0

Ν/η

2

2

2

4

2

3

0

3

N/uv

9

7

21

18

12

12

2

7

N/r

4

3

5

5

0

3

1

1

53

54

30

45

14

17

34

27

3.3.2.4.3. Neutrale Interventionen Zunächst seien die Fälle beschrieben (Ngl), in denen eine sprechende Person (im vorliegenden Gespräch ausschließlich die Moderatorin Fl) von sich aus andere auffordert, das Wort zu übernehmen (Fremdwahl). Dabei kann es vorkommen, daß die Sprecherin noch nicht ganz abgeschlossen hat, wenn die Angesprochenen schon beginnen. Dieser glatte Wechsel mit verfrühter Übernahme ist ebenso wie der ohne Überlappungen im eigentlichen Sinne keine Intervention. In 13 Fällen erteilt die Moderatorin einer Frau, in 23 Fällen einem Mann das Wort. Unter Berücksichtigung, daß nur Fl das Rederecht weitergibt, aber selbst nie erhält, sind die Zahlen der Frauen zu verdoppeln. D.h. in hypothetischen 26 Fällen wird F2 und F3 das Wort zugewiesen, wobei 14 verfrühte Übernahmen (mehr als die Hälfte) auftreten. Von den 23 Fremdwahlen fur Männer beginnen nur 5 vorzeitig (vgl. Tab. 26). Die Frauen übernehmen also hastiger, ungeduldiger, obwohl ihnen das Rederecht sehr ausgeglichen zugebilligt wird. Eine Interpretationsmöglichkeit besteht in der Annahme, daß die Frauen, die ansonsten im Gesprächsverlauf deutlich seltener Wortanteile haben als die Männer, schnell „zugreifen", um einem möglichen Verlust vorzubeugen. Selbstwahl ohne eigentliche Intervention, ein neutrales Weiterführen des Gesprächs, nachdem die vorher Beteiligten erkennbar abgeschlossen hatten (Nn), fand an 23 Stellen

69 statt. Interessanterweise fuhren 17mal Frauen weiter, nur in 6 Situationen Männer. Jedoch geht in 16 Fällen die Aktivität von Fl aus, also der das Gespräch leitenden Moderatorin. Es bleibt von 2 Frauen also nur eine einzige neutrale Selbstwahl (F2 bei M l ) übrig, bei 6 von 4 Männern (selbst hochgerechnet die dreifache Anzahl). Während bereits die Aktivität der tatsächlichen Unterbrechungen (ohne Fl) deutlich zugunsten der Männer verläuft (20:3, hochgerechnet 20:6), ebenso die der Unterbrechungsversuche (28:9, hochgerechnet 28:18), zeigt sich nun auch bei den neutralen Übernahmen von Rederecht eine überwiegende Zahl von männlichen Aktionen, abstrahiert von Fl. Die Moderatorin leistet jedoch auch hier wieder, wie schon bei den ausschließlich von ihr ausgehenden Fremdwahlen, die sog. „Gesprächsarbeit", übernimmt die Verantwortung für Gesprächsfluß und Gesprächsstruktur (vgl. Tab. 8 und 26). Simultanstarts, „echte" Rezipienzsignale, emphatische Inteqektionen und Satzvervollständigungen wurden unter Nr (neutrale Interventionen mit Rezipienzcharakter) zusammengefaßt, wobei Simultanstarts in dem vorliegenden Gespräch nicht belegt wurden. Eine emphatische Inteijektion kam nur einmal vor, in lediglich 3 Fällen wurden Satzvervollständigungen ergänzt, so daß die tatsächlichen Rezipienzsignale (14) deutlich überwiegen. Bei 6 Rezipienzsignalen von Frauen und 8 von Männern läßt sich von einer Ausgeglichenheit sprechen unter Berücksichtigung, daß nur drei Frauen am Gespräch beteiligt waren. Gleiches kann fur die Verteilung der Gerichtetheit dieser Zuhörsignale ausgesagt werden (vgl. Tab. 26). Inwiefern Rezipienzsignale und die noch darzustellenden Einwürfe neutrale Interventionen (N) sind oder „verdeckte" Unterbrechungsversuche (deshalb Nuv) wird besonders an den Stellen zu diskutieren sein, an denen einer erfolgreichen Intervention derartige Aktionen (u.U. mehrfach) vorausgehen. Von insgesamt 71 Einwürfen (größte Menge eines Interventionstyps) wurden 27 von Frauen (17 bei M; 10 bei F) und 44 von Männern (17 bei F; 27 bei M) formuliert. Somit setzt sich bei diesem Interventionstyp der Trend fort, daß sowohl von Männern als auch von Frauen auf männliche Sprechanteile häufiger reagiert wird ( vgl. Tab. 26).

3.3.2.5. Relationale Darstellung Die Beschreibung und Analyse der bisherigen Daten zeigt eine klare Sonderposition der Moderatorin des Gesprächs. Insofern erscheint es als sinnvoll, die Ergebnisse der vier Männer und der zwei außer Fl am Gespräch beteiligten Frauen, also der Teilnehmenden mit gleichem Status, in Relation zueinander zu setzen. Das nachfolgende Diagramm (Abb. 2) zeigt die Verschiebung der Relationen, wenn jegliche Äußerungen von Fl unberücksichtigt bleiben. Ausgegangen wurde bei der Berechnung von der hypothetischen Annahme, bei den verbleibenden Interventionen handele es sich um jeweils 100%. Es wird deutlich sichtbar, daß sich das Verhältnis des prozentualen Anteils erfolgreicher Interventionen zwischen Männern und Frauen umkehrt und der Anteil neutraler Interventionen von Frauen stark zurückgeht. Die besondere Rolle von Fl, charakterisiert durch die institutionalisierte Gesprächsleitungsfunktion, wird an dieser Graphik erneut deutlich. Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß das Gesprächsverhalten der Moderatorin dem der aktiven und erfolgreichen männlichen Beteiligten entspricht, nicht dem der Sprecherinnen.

70 Abb. 2: Vergleich der Interventionsrelationen links mit und rechts ohne Moderatorin

Den Aspekt des geschlechtsabhängigen Interventionsverhaltens weiter zu verdeutlichen, wurden die Relationen von sprechenden Frauen und Männern rechnerisch ausgeglichen: Die tatsächlich durchgeführten Interventionen der zwei gleichberechtigten Sprecherinnen wurden verdoppelt, so daß hochgerechnet eine gleiche Zahl von Sprecherinnen und Sprechern verglichen werden kann: Die angegebenen Prozentzahlen beziehen sich nun auf die Gesamtzahl aller Interventionen der hypothetisch angenommenen 8 gleichberechtigten Geprächsbeteiligten, 4 Frauen und 4 Männer: Die Frauen hätten nur noch einen Anteil von 2,7% erfolgreichen Interventionen gegenüber 12,7% der Männer; 12,0% erfolglose Interventionen im Vergleich zu 15,3% und nur 22,7% neutrale gegenüber 34,7% der Männer. Diese Gegenüberstellung zeigt, daß der prozentuale Anteil der erfolgreichen Interventionen zurückgeht, deijenige der erfolglosen steigt und auch der Anteil der Rezipienzsignale abnimmt. Diese relationalen Verschiebungen belegen deutlich, daß eine reine quantitative Zusammenstellung der Anzahl der Interventionen in Gesprächen den tatsächlichen Gesprächsstrukturen und Dominanzen der Beteiligten nicht gerecht wird. Die Moderatorin hat mit ihrem Gesprächsverhalten demnach einen deutlichen Einfluß auf die Interventionscharakteristik des Gesprächs. Noch stärker verallgemeinernd kann interpretiert werden, daß eine institutionell gesetzte Führungsrolle das Gespräch dominant prägt. Gravierend wäre der Unterschied besonders bei den Einwürfen, bei denen Frauen einen Anteil von 16,0%, Männer dagegen von 27,3% haben. Besonders interessant stellte sich auch die Zahl der Selbstwahlen dar: Während Sprecherinnen sich nur in 1,35% der Interventionen das Rederecht an Gesprächszäsuren selbst nehmen, wird es von ihnen in 5,3% der Fälle genommen. Wie sich weiter oben auch schon deutlich zeigte, erhalten Männer deutlich mehr Rezipienzsignale (6,6%) als Frauen (1,3%). Eine letzte Änderung wurde in diesem Zusammenhang der Analyse vorgenommen, indem die Ergebnisse von F l , der Moderatorin, wieder mit einfließen, dennoch aber rechnerisch korrigiert auf 4 Frauen. Der Anteil der vorher 2,7% an erfolgreichen Interventionen der Sprecherinnen steigt auf 12,5%, deijenige der Sprecher sinkt von 12,7% auf 7,2%. Die

71 erfolglosen und neutralen Interventionen gleichen sich ziemlich aus, d.h. die männliche Dominanz wird aufgehoben. Die Selbstwahl der Frauen steigt von 1,3% auf 8,2%, die der Männer sinkt von 3,3% auf 2,2%. Dieser rechnerische Schritt zeigt noch einmal überdeutlich, wie die Ergebnisse des männlich-weiblichen Interventionsverhaltens durch den Einbezug oder die Ausklammerung der Moderatorin beeinflußt werden. Es stellt prägnant dar, daß diese Sprecherin ein rollenbezogenes und kein geschlechtsbezogenes Gesprächsverhalten aufweist.

3.3.2.6. Zusammenfassung der quantitativen Datenanalyse •

• • • •

Die Zusammenstellung der Interventionsereignisse der Fernsehdiskussion „Tiere" und deren Auswertung zeigte bei drei teilnehmenden Frauen, darunter die Moderatorin, und 4 Männern fiir alle Interventionstypen keine geschlechtsspezifische Verteilung. Während fiir F2, F3 und Ml vergleichbare Relationen entstanden, lagen M2 und M3 mit ihren Aktivitäten deutlich über dieser Gruppe, M4 erheblich darunter. Für die Moderatorin explizierte sich ein Sonderstatus. Die männlichen Gesprächsteilnehmer erbrachten sowohl mehr erfolgreiche als auch mehr erfolglose Interventionen als die Frauen, gleiches gilt für die neutralen Aktionen. Gesprächsstrukturierende Maßnahmen (besonders Fremdwahl) gingen von der Moderatorin aus. Männer und Frauen bezogen ihre Interventionen mehr auf Männer. Rezipienzsignale wurden ausgeglichen vergeben.

3.3.3. Merkmalsanalyse Die Betrachtung der Interventionsverteilungen erlaubt Aussagen über Gesprächsaktivitäten, Sprechanteile, Gesprächsstruktur und Gerichtetheit. Welche sprecherischen Verhaltensweisen über Erfolg oder Mißerfolg einer Intervention entscheiden, bleibt dabei im Ungewissen. Aufschluß über diesen Aspekt kann die Analyse der auditiv-visuell erhobenen Daten zu den paralingualen und extralingualen Anteilen des Sprechens ermöglichen. So wurde zunächst für die Gruppe „Männer intervenieren bei Männern" die Anzahl der Merkmalsregistrierungen zusammengestellt und für Sprecher und Intervenierer vergleichend gegenübergestellt in der Annahme, darüber Erkenntnisse über das Sprechverhalten zu gewinnen.

3.3.3.1. Interpretationsbeispiel „Männer intervenieren bei Männern" (MbM) Anhand des Interventionstypus „Männer intervenieren bei Männern", der sich zur Analyse als Fallbeispiel eignet, weil die Gruppe, wie sich oben gezeigt hat, relativ homogen reagiert, die Sprecher sich in gleichem Rollenstatus befinden und die größten auszuwertenden Zahlen vorliegen, soll versucht werden, Merkmalsbündelungen oder Charakterisierungen fur die Interventionstypen „erfolgreich" und „erfolglos" zu finden, d.h. der Frage nachzugehen, ob bestimmte para- und/oder extralinguale Merkmale einzeln oder in Kombination untereinander den Erfolg von Interventionen „garantieren" oder zumindest mit großer Wahrscheinlichkeit unterstützen.

72 3.3.3.1.1. Erfolgreiche Interventionen Die Intervenierer sind sowohl bei terminaler (6) als auch progredienter (7) Melodiefiihrung der Sprecher erfolgreich. Bezogen auf die Stärkeabstufung hatten die Intervenierer bei Zurücknahme (8) und bei Erhalt des bisherigen Niveaus (5) durch die Sprecher, bezogen auf die Sprechspannung der Sprecher bei deren Verringerung (6) und Erhalt (8), Erfolg. Gleichbleibendes Tempo (13) und Atem- (6) und Staupausen (7) ermöglichen die Intervention. Die Betrachtung der körpersprachlichen Signale der Sprecher fuhrt zu sprechbegleitenden (6), zurückgenommenen (2) und am Körper gehaltenen (2) Händen, aber auch zu wegweisenden Gesten, während die Kopfhaltung gerade (3) und partnergerichtet (10) gemeinsam mit dem in die Runde gerichteten (2) und partnergerichteten (11) Blick Interventionserfolge erleichtern. Der Körper kann sowohl vorgebeugt (7) als auch zurückgelehnt (6) sein. Das Verhalten der Intervenierer war bezüglich der Melodiebewegung durch nach oben weisende (3) und unauffällig sprechbegleitende (12) Verläufe charakterisiert. Die Stärkeabstufung reichte von fortgeführt (6) zu lauter (8), das Tempo variierte zwischen schneller (2) und beibehalten wie bisher (13). Für die Handbewegungen erscheinen sprechbegleitende Bewegungen (3) und vom Körper weg auf Partner gerichtete Aktivitäten der Intervenierer besonders erfolgreich. Die Kopfhaltung ist partnergerichtet (8), gerade (2) oder nickend (3). Ein partnergerichteter Blick (13) und ein vorgebeugter (10) Körper (bei 3 Zurücklehnungen) fuhren zum Erfolg.

3.3.3.1.2. Erfolglose Interventionen Interventionen bleiben erfolglos, behalten die Intervenierenden die Sprechmelodie bei (11) oder halten sie progredient (6) und treffen bei den Sprechenden auf beibehaltene (5) oder progrediente (8) Satzmelodie, bei vier terminalen Bewegungen. Bezogen auf die Stärkeabstufung erhöhen die Sprechenden die Lautstärke (16) bei gleichbleibender (12) oder verstärkter (5) Sprechspannung. Die Intervenierenden intensivieren die Lautstärke auch (12), allerdings senken vier sie sogar ab. Auf beiden Seiten bleibt das Sprechtempo im wesentlichen unverändert, bei 2 Atempausen, 10 Staupausen und 6 Fällen ohne Pausensignal. Die Bewegung der Hände ist bei den Sprechern aktiver (5 sb; 9 vkw; 4 pg ) als bei den Intervenierern (5 pg; 1 vkw; 1 sb; 2 ak). Auch Kopfhaltung und Blick sind bei den Sprechenden, bei denen interveniert werden soll, partnergerichtet (15; 17), allerdings ebenfalls bei den Intervenierenden (8; 9). Bleibt noch die Haltung der Körper zu betrachten: Die Sprecher lehnen sich zurück (4), beugen sich vor (10) und drehen sich partnergerichtet (4), die Intervenierer zeigen sowohl eine Bewegung nach vorn (4) als auch zurück (6).

3.3.3.2. Zusammenfassung Der Vergleich der verschiedenen Analysekriterien am Beispiel von sprechenden und intervenierenden Männern (M bei M) zwischen den erfolgreichen und den erfolglosen Interventionen ergibt keine eindeutige Erfolgsstrategie. Es lassen sich zwar Tendenzen ablesen, aber als summierte Gegenüberstellung (Sprecher beugen sich in 7 Fällen vor, Intervenierer in 4) sind die erhobenen Daten in der bisherigen Form nicht aussagekräftig.

73 Folgende Tendenzen lassen sich benennen: • Kopfhaltung und Blickrichtung sind bei Sprechenden und Intervenierenden überwiegend auf das Gegenüber gerichtet, also eher als Merkmal von Höflichkeit zu werten, was auch der Gesamtatmosphäre des Gesprächs entspricht. • Die anderen Kriterien scheinen unterschiedliche Bedeutung fur die Erfolgsaussicht zu haben: Tempo und Melodiebewegung erscheinen nachrangig, Handbewegungen und Stärkeabstufung deuten Dominanz an. Eine wichtige Rolle kommt der Sprechspannung und den Pausen der Sprechenden zu. • Die gemeinsame Betrachtung von Sprecher- und Intervenierer-Aktivitäten legt nahe, daß es keine Ausprägungen „an sich" gibt, sondern relationales Verhalten zwischen Sprechenden und Intervenierenden: Erfolglose Intervenierer stoßen auf gehaltene oder vergrößerte Sprechspannung, keine Atempausen, aktive, vom Körper gelöste Gesten, Lautheit. Eine erfolgreiche Intervention dagegen scheint zu gelingen, wenn die Sprechenden Lautstärke, Handbewegungen, Sprechspannung und Körper zurücknehmen und Stau- oder Atempausen machen. • Es wird deutlich, daß das Engagement der Sprechenden den Erfolg der Intervenierenden bestimmt: Es zeigte sich, daß nur in 5 Fällen von 15 erfolgreichen Interventionen M bei M in allen Merkmalen das Maximum genutzt wurde. Die Vermutung, die Intervenierenden setzten wahllos das Maximum an Möglichkeiten ein, um zum Erfolg zu kommen, bestätigt sich nicht. Diese Erkenntnis führte zu der Annahme, daß der Erfolg der Intervenierenden abhängig sein könnte von der Relation der eingesetzten Mittel zwischen Sprechenden und Intervenierenden. Daraus folgte die Konsequenz, das Verhalten horizontal zeilenweise in bezug auf die jeweiligen Merkmale der Sprechenden und Intervenierenden innerhalb eines Interventionsereignisses und vertikal als gemittelte Werte aller Sprechenden in Relation zu allen Intervenierenden einer Gruppe zu untersuchen. Dieser Analyseschritt erfordert ein Instrumentarium, das Vergleichbarkeit und (statistische) Auswertung ermöglicht, eine einfache Häufigkeitsauflistung erweist sich als untauglich. Aus diese Überlegung heraus entwickelte die Autorin die in Kap. 3.2. beschriebene Skalierung der auditiv-visuell erfaßten Merkmale.

3.3.4. Qualitative Analyse nach Skalierung der Daten (Merkmalsauswertung) Mit der Umwandlung der deskriptiven Symbolik nicht vergleichbarer Einheiten (Hände vom Körper weg „vkw" versus progrediente Kadenz „-»") in skaliertes Zahlenmaterial war der Schritt zu einer rechnerischen Auswertungsmöglichkeit vollzogen. Es galt lediglich noch, die notwendigen Rahmenbedingungen zu berücksichtigen: Um zu statistischer Verwertbarkeit der Daten zu gelangen, mußte die Zahl der vergleichbaren Ereignisse mindestens bei n=5 liegen, d.h. im analysierten Gespräch bedurfte es mindestens fünf Interventionen gleichen Typs. Daraus folgt, daß einige Konstellationen nicht ausgewertet werden konnten, in Tab. 28 sind diese Fälle in Klammern dargestellt. Die Konstellation „Männer intervenieren erfolgreich bei Frauen, die Moderatorin ausgenommen", wurde dennoch aufgenommen, um unterschiedliche Tendenzen im Vergleich mit der Moderatorin zeigen zu können, ohne daß diese Ergebnisse einer statistischen Bewertung zugänglich gemacht werden können. Da die Moderatorin in allen Bezügen durch ihre institutionalisiert zugewiesene Rolle eine Sonderposition einnimmt, erschien diese Betrachtungsweise notwenig.

74 Tab. 28: Ausgewertete Gesprächsgruppen erfolgreich

erfolglos

η = 15

η =18

(n=2)

η= 9

Männer bei Frauen (ohne F l )

η= 4

η= 5

nur Frauen (F2+F3, ohne F l )

(n=0)

(n=0)

erfolgreich

erfolglos

η = 20

η = 11

nur Männer (M1-M4) Frauen bei Männern (ohne F l )

Fl bei Männern Fl bei Frauen

(n=3)

Männer bei Fl

(n=l)

Frauen bei Fl

(n=l)

(n=0) η=

5

(n=0)

3.3.4.1. Interventionen von Männern bei Männern (MbM) 3.3.4.1.1. Erfolgreiche Interventionen Von 12 auswertbaren erfolgreichen Interventionen von Männern bei Männern weisen 10 sprecherseitig eine niedrigere Summe aller Kriterien aus. Da die Skalierung der Merkmale, wie in Kap.3.2.6. beschrieben, aufgebaut ist von -3 bei sehr zurückgenommenem bis +3 für sehr partnerorientiertes, extensives Verhalten, heißt das für den einzelnen Zeilenvergleich (wobei die stärker umrahmten Spalten Sprechspannung und Pausen zunächst unberücksichtigt bleiben, weil sie nur sprecherseits notiert sind), daß die Intervenierer im Vergleich zu den Sprechern, die sie erfolgreich unterbrechen, lauter, intensiver und nach außen gerichteter agieren (vgl. Tab.29). Das Summenmittel der Sprecher liegt bei 2,08, das der Intervenierer bei 5,92. Die Merkmale „Tempo" und „Sprechmelodie" weisen den geringsten Einfluß auf. Statistisch signifikant (berechnet nach dem U-Test fur Rangfolge-Zahlen, vgl. Kap 3.2.) sind die Unterschiede für die Merkmale „Stärkeabstufung" (p

s:

i Vi

υ 4> Ξ o(Λ O

Ol Έ υ > g •C

••o

•c c H

60 ,§ S V) •3

S

00 5

6

x¡ o

0 1

£

ä

Vi

£

V)

58.2 83 85 86 87 88 110 111 145 149 160 182 184.3 190

m2 ml m2 ml m2 ml ml m2 m3 m2 m3 m2 ml ml

m m m m m m m m m m m m m m

1 -3 1 1 1 -3 1 -3 -1 -1 -3 1 -3 -3

-1 -1

3 -2 1 -1 -1

-1 1 -1 -1

211

m2

m

1

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-0,87

-0,40

X . Q

0

0 0

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1 1 1 1 -1 -1

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1

-1 -1 -1 -1 -2 -2 -1 -2 -1 -1 -2 0 -2 -2

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0

0,27

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Haltung

(Λ Um

0

0

2 2 2 2 2

0

0

-1 1 -2 1

2 2 2

M

ι

υ m

s 1 1 1 1 1 1

0

-1 -1 2 2 2 2 -1 -1 2 -1 2 -1 2 0,62

-2

2 2

1 1 1 0 1 1

-0,15

1,54

0,85

0

0

i c/î 2 -3 6 6 6 1

0

9 -5 5 -2 0

2,081

Die Interventionen 86 und 87 sind verbunden: M2 unterbricht in Nr. 86 M l sehr kurz, dieser in Nr. 87 M2. Ml läßt die Unterbrechung zu, indem er sie mental wie einen Einwurf „behandelt": Er hält seine Sprechspannung aufrecht. So ermöglicht er einerseits den an der geringen Aufwandsaktivität nicht erklärbaren Erfolg von M2, gleichzeitig aber auch seinen eigenen in Nr. 87. In Ereignis 149 wird bei Sprecher M2 durch M3 interveniert. Beide Personen zeigen nahezu gleiche Sprecheraktivität (9:10), der Erfolg von M3 ist so nicht nachvollziehbar. Die Betrachtung des Videos legt nahe, daß M2 aus Höflichkeit die Unterbrechung zuläßt, sich sichtbar nicht auf eine kompetitive Situation einlassen will, während M3 rücksichtslos weiterredet. Nach anderem Muster als den Merkmalsintensitäten wird auch hier sprecherseitig über den Erfolg entschieden. Die oben stehende Tabelle 29 zeigt exemplarisch die Vorgehensweise: Aufgeführt sind die erfolgreichen Interventionen von Männern bei Männern im Gespräch „Tiere". Im ersten Teil stehen links die Nummern der Interventionen, daneben die jeweiligen Sprechersiglen. Dann folgen von links nach rechts die Spalten der para- und extralingualen Parameter, zugeordnet die Skalierungsziffern für die einzelnen Sprecher. Unterhalb dieser Spalten die jeweiligen Spaltendurchschnittsziffern (mit x,q(uer) gekennzeichnet), d.h. die

76 Summe aller z.B. „Hände-Skalierungsziffern" geteilt durch die Anzahl der Sprecher. Für die Parameter, bei denen keine Werte stehen, konnten keine Signifikaten Unterschiede zwischen Sprechern und den entsprechenden Werten der Intervenierer ermittelt werden. Die letzte Spalte am rechten Rand zeigt die Gesamtsumme der Skalierungswerte der jeweiligen Zeile, d.h. der para- und extralingualen Gesamtaktivitäten eines einzelnen Sprechers. Das kleine Feld rechts außen zeigt die durchschnittliche Gesamtsumme aller Merkmale dieses Tabellenteils. Zeilen, in denen keine Ziffern ausgefüllt sind, bedeuten, daß die Betroffenen nicht im Bild waren. Dann bleibt auch bei dem jeweiligen Gegenüber die Summenspalte leer, weil ein Vergleich an dieser Interventionsstelle nicht möglich ist. Der zweite Teil der Tabelle enthält die gleichen Informationen wie der erste, allerdings bezogen auf die Intervenierer. Erkennbar sind ebenfalls die Skalierungen für die para- und extraverbalen Merkmale, verringert um die Sprechspannung und die Pausen (die grau unterlegten Spalten bei den Sprechern), die nur sprecherseitig erhoben werden konnten. Ablesbar sind gleichermaßen die Spaltenmittelwerte (xq - vertikal) und die Zeilensummen (horizontal). Als letzte Ziffer rechts außen ist gleichfalls der Mittelwert aller Summen verzeichnet. Die Signifikanzen sind nur einmal - bei den Sprechenden - aufgeführt.

Tab. 29b: Skalierung von Sprechausdrucksmerkmalen erfolgreicher Intervenierer bei Sprechern Teil 2 Intervenierende Nonverbale Merkmale extralingual

paralingual

In (0

m4 m2 ml m2 ml m2 m2 ml m2 m3 ml ml m2 m2 m3 x. S •C o •e e β

-1 -1 0 0 0 0 0 0 0 -1 0 0 0 0 0 -0,20

e?

S 4> 1 eυ j= Ό

1 I 1 0 0 0 0 0 -1 3 2 2 2 0 1 0,80

0 0 0 0 0 0 0 0 0 1 0 0 0 1 0 0,13

I

υ •α χ

Haltung

Kopf

Μ

υ 3

0 1 2 2 2 1

0 0 2 1 1 1

1 1 1 1 1 1

1 1 2 1 2 -1 0 0 1,00

2 2 2 2 2 2 2 0 1,36

1 1 1 1 1 1 1 0 0,93

0) ε· 2 2 2 2 2 2 2

υ Ε ε3 t/3 3 4 8 6 6 5

2

-1 2 2 3 2 -1 -1 1,43

2 10 8 10 6 3 5,92

77

Der dritte Tabellenteil belegt die Differenzen der Skalierungswerte zwischen den Sprechern und Intervenierem, spaltenweise. Wenn z.B. in der Körperhaltung (vorletzte re. Spalte) der Sprecher mit - 1 und der Intervenierer mit +2 verzeichnet sind, ensteht eine Differenz vom Sprecher zum Intervenierer von +3. Diese Ziffer ist im dritten Tabellenteil unter „Körper" eingetragen. In der letzten Spalte sind erneut die Summendifferenzen abzulesen. Erscheint unter dem extralingualen Merkmal „Hände" im dritten Tabellenteil z.B. die Ziffer +2, so bedeutet diese Zahl, daß die intervenierende Person um zwei Skalierungspunkte mehr als die sprechende Person mit der Hand-/Arm-Gestik den Distanzraum zwischen beiden verringert hat. Ist keine Zeilensumme eingetragen, obwohl die einzelnen Spalten ausgefüllt sind, bedeutet es, daß die Werte bei den Sprechenden fehlen und somit kein Summenvergleich erhoben werden kann. Tab. 29c: Skalierung von Sprechausdrucksmerkmalen erfolgreicher Intervenierer bei Sprechern Teil 3 Summendifferenzen: Intervenierer erfolgreich 5

Nonverbale Merkmale paralingual extralingual 3 b

-2 2 -1 -1 -1 3

eo a M •S υ C/3 1 2 2 1 0 0 1

1 0 3 -1 3 3 0,75

-1 0 4 1 3 1 1,17

1o •e g

£

0 1

ν

•Ό

S

χ



0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0

-2 2 2 2 2 1

00 S *to £g-

£

0

-2

0 -1 -1 -1

2 0 1 0 3 0 1 2 -1 0 2 0 1,25 - 0,25

a

m

0 0 0 0 0 0

¡5 e· ¡2

ë ε C/3

3 3 0 0 0 0

1 7 2 0 0 4

0 0 0 0 0 3 1 1 0 3 0 -3 0 0,83

2 1 13 5 8 3 3,831

Liegen die jeweiligen Differenzen, speziell die Summendifferenzen (re. letzte Spalte) im positiven Bereich, so bedeutet es, daß die Intervenierenden um den entsprechenden Wert mehr nonverbale Aktivitäten aufgebracht haben als die Sprechenden. Bei negativen Vorzeichen liegt der Fall genau umgekehrt, die Intervenierenden haben weniger agiert als die Sprechenden. 5

Für die folgenden Darstellungen gelungener und erfolgloser Interventionskonstellationen werden nur die Differenztabellen aufgeführt, um die Lesbarkeit der Darstellung zu erhalten. Die Originaldaten sind in der ursprünglichen Habilitationsschrift belegt und können dort eingesehen werden.

78 3.3.4.1.2. Erfolglose Interventionen Im Summenvergleich der Merkmalzeilen müssen die Sprecher mindestens zwei Rangpunkte über den Aktivitäten der Intervenierer liegen, soll die Intervention erfolglos bleiben. Ausgeglichen werden kann die fehlende Differenz durch große Sprechspannung (Nr. 174) und/oder fehlende Pausen (Nr. 89, 203) auf Sprecherseite. Der erfolglose Intervenierer wendet relativ wenig Energie auf, um sich Gehör zu verschaffen (Summenmittel um 0,59 Punkte geringer als im Erfolgsfall). Er behält die bisher eingesetzte Merkmalsintensität bei oder reduziert sie sogar noch. Aber er stößt auf Sprecher, die Hände und Körper aktiv einsetzen und eine hohe Sprechspannung beim Interventionsversuch beibehalten und damit den Versuch abweisen (Summenmittel um 4,81 Punkte höher als vorher). D.h. wie im Abschnitt 3.1.1. für die erfolgreichen Interventionen schon dargestellt, ist der Erfolg abhängig von den Sprecheraufwendungen, nicht von den Interveniererleistungen (vgl. Tab 30).

Tab. 30: Skalierung von Sprechausdrucksmerkmalen erfolgloser Intervenierer bei Sprechern Summendifferenzen: Intervenierer erfolglos Nonverbale Merkmale

-2

0

0

0

0

1

1

0

10

0

0

m2

4

-1

-2

m2

10

4

40.2

m3

ml

4

40.3

m3

m2

4

43

m3

m2

4

72.3

m2

m3

73

m2

m3

89

m2

ml

7

93

m2

m3

4

95

m2

ml

4

96

m2

m3

4

99

ml

m2

7

147

m2

m3

157

m3

159

m3

Summe

-1

m4

Körper

4 10

m2

ml

Blick

Tempo 3

ml

36

Kopfhaltung

Stärkeabstufung -1

32.2

Hände

Tonhöhenverlauf 3

Intervenierende

4

Sprechende

Ereignis

extralingual

Interventionstyp

paralingual

2

-1

0

0

6

1

2

0

-3

-3

0

0

0

-3

-3

0

0

0

0

2

0

-2

0

0

-3

-5

0

-2

0

0

-3

-8

161

ml

m2

10

-1

0

0

-2

0

0

-1

-4

174

m3

m2

10

-1

1

0

0

0

0

0

0

203

m2

ml

4

3

1

0

1

0

0

-4

0,33 -0,22

0,11

0,33 -0,22

0 -1,88

1 -1,55

79 Im Ereignis 32.2 zeigt Sprecher Ml Abgabesignale wie Atempause (ap) und terminale Kadenz , der Intervenierer liegt 6 Rangpunkte über dem Sprecher. Zwischen dem Sprecher Ml und dem Intervenierer M2 besteht Blickkontakt. In dem Augenblick, da M2 folgerichtig auf die Sprechersignale intervenierend reagiert, wendet sich Ml der Moderatorin zu, von M2 weg, und spricht nach kurzem Augenblick bereits wieder mit großer Sprechspannung. Sprecher M l revidiert sozusagen seine Abgabesignale und läßt die Unterbrechung nicht zu. Intervention 89 betrifft die gleichen Männer, Ml jedoch als Intervenierer. Beide reden schnell und laut, Hände, Kopf und Körper sind partnergerichtet, fur Ml sind 2 Rangpunkte mehr verzeichnet als fur M2, trotzdem bleibt er erfolglos, verursacht durch den Sprecher. Dieser „schnattert" ohne eine Form von Pause über den Unterbrechungsversuch hinweg. M3 (Sprecher) und M2 (Intervenierer) verzeichnen für Ereignis 174 gleiche Rangwertigkeit (8). Weder Erfolg noch Mißerfolg sind erkennbar vorgegeben. Im Video ist erkennbar, daß die Moderatorin durch Nicken M3 zum Weitersprechen ermuntert und somit gesprächsstrukturierend eingreift. Sprecher M2 hat in Ereignis 203 eine rhetorische Frage gestellt, die Ml als antwortverlangende Initiierung behandelt. M2 quittiert den Versuch mit einem kurzen o.k. und Blickwendung von Ml weg zur Moderatorin, Redebestätigung über Blickkontakt einholend. Erneut bestätigt sich die fortwährende Anmahnung, gesprächsstrukturierende Aspekte immer wieder aus Einzelbetrachtungen in den komplexen Gesamtprozeß des Gesprächs zurückzuführen. 3.3.4.2. Interventionen von Frauen bei Männern (FbM) 3.3.4.2.1. Erfolgreiche Interventionen Von 22 erfolgreichen Interventionen von Frauen bei Männern gelangen 20 der Moderatorin Fl, nur zwei den anderen beiden Frauen. Die Auswertung konzentriert sich daher auf Fl (vgl. Tab. 31). Der Zeilenvergleich ergibt ein sehr indifferentes Bild: Obwohl der Summenmittelwert aller Merkmale bei den Sprechern niedriger liegt als bei der Interveniererin, zeigen sich bei 6 von 15 Ereignissen niedrigere Werte bei Fl. Dieser geringe Aufwand der Moderatorin trifft allerdings auch in allen Fällen (Nr. 24, 37, 50, 55, 74, 177) mit niedriger Sprechspannung und vorhandenen Pausen sprecherseitig zusammen. Die Gegenüberstellung der Merkmalspalten ergibt ähnliches: Die Merkmale „Melodieverlauf„Tempo", Kopfhaltung" und „Körperhaltung" weisen bei der erfolgreichen Moderatorin geringere Werte auf als bei den Personen, die sie unterbrechen möchte. Signifikant höhere Werte (p