Internationale Personalauswahl: Wie wir die Richtigen erkennen, auch wenn sie anders sind als wir 9783666491559, 9783647491554, 9783525491553

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Internationale Personalauswahl: Wie wir die Richtigen erkennen, auch wenn sie anders sind als wir
 9783666491559, 9783647491554, 9783525491553

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Tim Riedel

Internationale Personalauswahl Wie wir die Richtigen erkennen, auch wenn sie anders sind als wir

Vandenhoeck & Ruprecht

Mit 29 Abbildungen und 8 Tabellen Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ­http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-647-49155-4 Umschlagabbildung: © JLV Image Works/Fotolia Deutschland Abbildungen 3–6, 8, 9, 11, 13, 15, 17, 19–22, 24, 27, Tabelle 6: Kristina Pinkert, www.goldtome.de © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, 37073 Göttingen /  Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Produced in Germany. Satz: SchwabScantechnik, Göttingen

Inhalt

Geleitwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Einleitung: Warum wir eine neue Personalauswahl brauchen, nicht nur im internationalen Umfeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Teil 1: Herausforderungen der internationalen Personalauswahl . . . . . . . 1.1 Es gibt keine Objektivität – warum die klassische Eignungsdiagnostik zu kurz greift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Es gibt keine Reliabilität – wie die Auswahlentscheidung von der Situation und den Auswählenden abhängt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Es gibt keine Rationalität – keine Auswahl ohne Bauchgefühl . . . . . . . 1.4 Interkulturelle Eignungsdiagnostik – Plädoyer für eine ganzheitliche Personalauswahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Teil 2: Wie unser Urteil entsteht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 2.1 Fragen machen Antworten – über die Beeinflussung der Antwort durch die Art der Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 2.2 Illusionen der Wahrheit – wie unsere Intuition funktioniert . . . . . . . . . 52 2.3 Es gibt keine Fakten ohne Emotionen – Hinweise der Hirnforschung über das Bauchgefühl im Bewerbungsgespräch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 2.4 Die Kandidaten entstehen im Gespräch – ein systemischer Blick auf die Dynamik des Auswahlprozesses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 2.5 »Sie passte nicht zu uns« – zur Wirkung kultureller Unterschiede in der Personalauswahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 2.6 Von der Zukunft her auswählen – eine wirtschaftswissenschaftliche Perspektive auf unsere Subjektivität in komplexen Umgebungen . . . . . 94 2.7  Wie unser Urteil entsteht – ein Fallbeispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99

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Inhalt

Teil 3: Kulturelle Unterschiede im Bewerbungsgespräch . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 »Du schwarz, ich weiß« – Grundlagen der interkulturellen Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 »Er hat sich sehr gut präsentiert« – fundamentale Unterschiede in der Selbstdarstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 »Sie kam nicht auf den Punkt!« – kulturell geprägte Denkstile und Argumentationsmuster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Von West nach Ost – Kulturregionen im Vorstellungsgespräch . . . . . . 3.5 Leitsätze für die internationale Personalauswahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Teil 4: Instrumente für die internationale Personalauswahl . . . . . . . . . . . . 4.1 Wen wir suchen – Anforderungsprofile, Kompetenzmodelle und Interviewleitfäden in der internationalen Personalauswahl . . . . . . . . . . 4.2 Wie wir suchen – Vorstellungsgespräche, Assessment-Center und Persönlichkeitstests interkulturell neu justieren . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Wie wir nachhaltig besser werden – Interviewtrainings und Onboardingprozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Fazit: Gute Personalauswahl als Kennzahl für die Zukunftsfähigkeit unserer Organisationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 Leserstimmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264

Geleitwort

Die personalpsychologisch fundierte Eignungsdiagnostik hat – bei allen unbe­ strittenen Fortschritten und Errungenschaften unserer Zunft – mit zwei Herausforderungen zu kämpfen. Es ist ihr zum einen in weiten Teilen noch nicht gelungen, eine gewisse Skepsis auf Seiten der Praxis gegenüber ihren Modellen zu überwinden. Und sie hat zum anderen erst wenig überzeugende Antworten auf die Frage zu bieten, wie wir Interkulturalität und Vielfalt valide in den diagnostischen Prozess integrieren können. Das vorliegende Buch eines Praktikers der internationalen Personalauswahl begegnet diesen Herausforderungen, indem es sich der – besonders auch neueren  – Erkenntnisse aus verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen bedient und diese mit treffenden Beobachtungen aus diversen interkulturellen Vorstellungsgesprächen abgleicht. Entstanden ist ein fundiert und kurzweilig verfasstes Buch, dem man nur wünschen kann, dass es in Wissenschaft und Praxis wichtige Impulse setzen wird. Prof. Dr. Werner Sarges, Herausgeber des Handbuchs »Management–Diagnostik« und der Buchreihe »Psychologie für das Personalmanagement«

Vorwort

Die Personalauswahl gehört zu den elementaren Managementaufgaben. Keine Organisation kommt ohne sie aus. Ihre wirtschaftliche Relevanz ist offensichtlich. Keine andere Funktion kann so unmittelbar die Leistung ganzer Teams zum Besseren oder zum Schlechteren verändern. Wählt man Personen aus, von denen man sich später trennen muss, kostet dies viel Geld. Wählt man Personen aus, von denen man sich nicht trennt, obwohl es Bessere gegeben hätte, ist der wirtschaftliche Schaden meist noch größer. Gleichwohl ist der Personalauswahl in den letzten Jahren wenig Beachtung geschenkt worden. Auf den wichtigsten deutschen HR-Tagungen1 der letzten drei Jahre verteilten sich die insgesamt 592 Beiträge mit 229 (39 %) auf Themen der Personalentwicklung, jeweils rund 70 (12 %) auf Themen aus übergrei­ fender Personalpolitik und Employer-Branding, 9 % auf Führungsthemen, je 7 % auf Organisationsentwicklung, Gesundheitsmanagement und Personaladministration. Nur 4 % der Vorträge waren Recruiting-Themen gewidmet, und davon beschäftigte sich die Mehrzahl mit IT-Instrumenten. Dabei sprechen vier Megatrends dafür, der Personalauswahl mehr Aufmerksamkeit zu widmen, als es zurzeit geschieht: 1. Im beständig härter werdenden Wettbewerb um Talente kommt der Personalauswahl eine wachsende Bedeutung zu. Im Zeichen des demografischen Wandels geht es nicht mehr nur darum, unter vielen geeigneten Kandidaten den Besten oder die Beste herauszufinden. Immer öfter finden sich gar keine auf den ersten Blick passenden Bewerber mehr. Entsprechend muss die Perspektive in der Personalauswahl geweitet werden. Es gilt mehr denn je, zu erkennen, welche der Kandidaten das Potenzial für die Stelle haben, selbst wenn sie sich zunächst anders präsentieren, als wir es gewohnt sind.

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Ausgewertet wurden die Kongresse der DGFP, des BPM, der Messen »Personal« und »Zukunft Personal« sowie die HR-Veranstaltungen von Euroforum und Management Circle.

Vorwort

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2. Laut einer Studie der Unternehmensgruppe Hay (2013) wird die Fluktuation auf dem Arbeitsmarkt weiter zunehmen. Für Deutschland wird danach der Anteil derjenigen, die ihren Arbeitgeber verlassen, um bei einer neuen Firma anzuheuern, bis 2018 von jetzt 14 % auf 15,2 % im Jahr steigen. Betrachtet man diesen Trend vor dem Hintergrund einer gesamtwirtschaftlichen Fluktuationsrate von aktuell bereits 28 % (Stettes, 2011)2, werden rein statistisch gesehen die Arbeitsplätze in Deutschland dann fast alle drei Jahre neu besetzt. 3. In Anbetracht sich beschleunigender Innovationszyklen auf den weltweiten Märkten erleben wir eine nie da gewesene Komplexität und Geschwindigkeit von Veränderungen in den Unternehmen. Dies führt zu neuen Herausforderungen auch in der Personalauswahl: • Welche Motivation für ein langfristiges Engagement bringen Bewerber mit? • Welche Potenziale besitzen sie über das hinaus, was die aktuelle Aufgabe an Kompetenzen erfordert? • Wie gut können sie mit Ambiguität, mit komplexen Berichtslinien und einer sich ständig verändernden Umgebung umgehen? • Wie innovativ und »out of the box« denken die Kandidaten, und lassen sie sich gleichzeitig (trotzdem) in bestehende Strukturen integrieren? 4. Nicht zuletzt führt die Globalisierung zu mehr Interkulturalität und Vielfalt im Recruiting. Stellen werden von Deutschland aus für weltweite Standorte besetzt, Bewerber haben im Ausland studiert oder bringen einen Migrationshintergrund mit. Die Notwendigkeit einer internationaleren, offener ausgerichteten Personalgewinnung wächst, um Unternehmen für das nötige Wachstum in Asien, Afrika und Lateinamerika fit zu machen. Vor diesem Hintergrund müssen Unternehmen mehr denn je lernen, auch über kulturelle Unterschiede hinweg die richtigen Mitarbeiter für ihr Unternehmen zu identifizieren. Das vorliegende Buch wurde geschrieben mit dem Ziel, Personalmanagerinnen und -managern sowie Führungskräften die Grundlagen und Instrumente der internationalen Personalauswahl so zu vermitteln, dass sie neue Erkenntnisse und unmittelbar anwendbare Instrumente für ihre tägliche Rekrutierungspraxis gewinnen. Die Globalisierung der Unternehmen und die zunehmend 2

Bei der gesamtwirtschaftlichen Fluktuationsrate werden auch die begonnenen oder beendeten Beschäftigungsverhältnisse berücksichtigt, die durch ein Wachstum oder eine Reduzierung der Belegschaften sowie einen renten- oder schwangerschaftsbedingten Personalaustausch begründet sind.

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Vorwort

internationalen Lebensläufe der Bewerber machen den Umgang mit Vielfalt im Auswahlprozess zu einem immer drängenderen Themenfeld. Gleichwohl geht es auf den folgenden Seiten nicht nur um die Verbesserung unserer Fertigkeiten in der internationalen Personalauswahl. Die wachsende Komplexität unserer Arbeitsumgebungen verlangt von uns auch in anderen Kontexten eine neue Dimension der Offenheit, des vernetzten Denkens und der Selbstreflexion, wie sie die wenigsten bereits beherrschen. Interkulturelle Vorstellungsgespräche bieten uns hierfür ein großartiges Erfahrungsfeld. Schließlich lehrt uns die internationale Personalauswahl auch eine gewisse Demut, nicht vorschnell zu meinen, wir wüssten, wie die anderen denken und wer sie sind. Was ist unser Anteil daran, dass wir uns dieses Bild von ihnen gemacht haben? Diese Vorsicht im Urteil, dieses Innehalten vor der Bewertung – sie bringen eine besondere Qualität in die Begegnung mit anderen Menschen. Es wäre schön, wenn dieses Buch auch etwas zu dieser grundsätzlichen Dimension in jeder Zusammenarbeit beitragen würde.

Einleitung: Warum wir eine neue Personalauswahl brauchen, nicht nur im internationalen Umfeld »There has been some progress here and there, yet one seldom hears the remark: The trouble I have with him is me.« Edward T. Hall

Beginnen wir mit einem Mitschnitt aus einem internationalen Vorstellungsgespräch3, um Hintergrund und Zielsetzungen dieses Buches zu veranschaulichen. Eine erfahrene deutsche Personalreferentin, Mitte dreißig, interviewt einen chinesischen Ingenieur, Anfang dreißig, vorzüglich englisch sprechend. Der Kandidat lebt bereits seit einem Jahr in Deutschland. Er ist Stipendiat einer renommierten deutschen Stiftung und wird später eine herausfordernde Stelle im Business-Development eines deutschen Maschinenbau-Unternehmens annehmen. Wie motivieren Sie sich selbst? Sie:  Nun haben wir bereits länger darüber gesprochen, wie Sie Ihr Team motivieren. Wie motivieren Sie sich denn selbst? Er:  Hm, ja, das ist eine gute Frage. (Pause) Ich denke, ah (Pause). Ich, äh, ich glaube, ich habe, äh, also, ich habe einen große Meilenstein, natürlich, aber in der Zwischenzeit habe ich auch kürzere Meilensteine und Ziele, um wirklich das ins Laufen zu bringen, ah, was ich erreichen möchte. (Pause) Und natürlich habe ich auch gute Zeiten und schlechte Zeiten, und wann immer diese Zeiten kommen, ich, ah, habe ich, also mich schon ein bisschen trainiert, um, ah, um mich mit einer positiveren Haltung darauf einzustellen, um mit meiner Arbeit weitermachen zu können … Sie (unterbricht):  Was meinen Sie damit? Ich bin mir nicht sicher, ob ich Ihnen da folgen kann.

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Der Auszug stammt aus einem im September 2012 durchgeführten, einstündigen Vorstellungsgespräch unter »Laborbedingungen«, d. h. es gab keine wirkliche Position zu besetzen, es war Publikum im Raum, das Interview wurde auf Video aufgezeichnet und im Anschluss wurden gemeinsam mit dem Kandidaten, der Interviewerin und dem Publikum die Fragen und Antworten reflektiert.

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Einleitung

Er:  Ja, weil Sie nicht wirklich wissen, also, Sie sind nicht immer, ähm, irgendwie … Sie (unterbricht):  Oder vielleicht können Sie mir ein Beispiel dafür geben? Er:  O. K., ich meine, Sie sind nicht immer erfolgreich bei bestimmten Dingen, die Sie erreichen möchten, wie, vielleicht Sie, also, natürlich macht ja jeder auch Fehler, also wann immer, also, es gab mal Zeiten, irgendwie, wo ich während meiner Arbeit einige Fehler in einer Woche gemacht habe, und ich habe mir Vorwürfe gemacht und machte auch anderen Kollegen das Leben schwer, mit denen ich zusammengearbeitet habe. Ja, und während so einer Zeit, da brauchst du irgendwie, ah, also auch einen Moment für dich zum Nachdenken, und auch um, um, um – natürlich fühlst du dich schlecht – aber du musst, du musst etwas tun, um wirklich schneller aufzuholen mit den anderen, so wie manchmal, ah, ah … ich kann Ihnen kein wirklich konkretes Beispiel geben, sondern nur ein Gefühl, also, ja, ja, ja …, aber Sie verstehen, was ich sage? Sie:  Ja, ich denke, ich bekomme eine Idee von dem, was Sie sagen wollen.

Welche Assoziationen, welche Bewertungen löst diese Interviewsequenz nun bei Ihnen als Leserin und Leser aus? Was hat Ihnen gefallen an der Antwort des Kandidaten, was nicht, und vor allem: Wie kommen Sie zu Ihrer Bewertung? Vielleicht möchten Sie sich einen konkreten chinesischen Kandidaten vorstellen und die Szene bildhaft noch einmal durchgehen, bevor Sie weiterlesen. Gehen wir dann in die Interpretation des Gesprächsverlaufs: Wir sehen hier eine vergleichsweise normale, in Bewerbungsgesprächen übliche Frage mit einer sowohl persönlichkeitsorientierten als auch kompetenzorientierten Zielsetzung: »Wie motivieren Sie sich selbst?« Die deutsche Interviewerin möchte vermutlich zum einen herausfinden, wodurch der Kandidat allgemein motiviert wird, was ihm Spaß macht und was ihn antreibt. Zum anderen möchte sie erfahren, wie er sich managt, wie er sich Ziele setzt, wie planvoll er seine Arbeit gestaltet und wie er gegebenenfalls mit Rückschlägen umgeht. Es geht also einerseits um seine Grundmotivation, andererseits um so etwas wie seine »Selbstantriebs- und Selbstmanagementkompetenz«. Nicht zuletzt möchte sie wahrscheinlich einen Eindruck davon gewinnen, wie selbstreflektiert und reif er mit solch einer Frage umgeht. Dabei wird die Frage zunächst persönlichkeitsorientiert gestellt und sucht eher eine Antwort wie »Ich bin ein Mensch, der sich selbst folgendermaßen motiviert: …«. Erst als der Kandidat darauf keine für die Interviewerin zufriedenstellende Antwort gibt, wählt diese die biografische Betrachtung als alternativen Zugang zu ihrer Fragestellung. Sie sucht mit der Bitte um ein Beispiel nun eine Antwort wie »Eine Situation, in der ich mich zuletzt selbst motiviert habe, war folgendes Ereignis: …«.

Einleitung

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Nun hat die Interviewerin auf beiden Wegen kaum für sie verwertbare Aufschlüsse über den Kandidaten erhalten. Sie weiß weiterhin nicht, was ihn begeistert und antreibt. Und sie hat auch nur eine sehr rudimentäre Vorstellung davon erhalten, wie der Kandidat seine Arbeit und sein Leben so organisiert, dass er seine Ziele erreicht. Stattdessen, mag sie sich denken, waren seine Antworten irgendwie ausweichend, vage und diffus. Der Kandidat hat zwar einen nachdenklichen Eindruck gemacht, aber etwas wirklich Substanzielles hat er auf ihre Frage nicht geantwortet, er schien sich damit nicht wohlgefühlt zu haben. Vielleicht war es ja seiner chinesischen Herkunft geschuldet, dass er so viel von seinen Fehlern und Schwächen erzählt hat, weil man in China bescheiden auftreten soll? Vielleicht hat er auch die Frage nach der Selbstmotivation nicht nachvollziehen können, da er aus einem kulturellen Kontext kommt, der sehr hierarchisch geprägt ist, mit geringen Freiräumen für selbstständiges Denken? Vielleicht hat er ihre Frage auch sprachlich oder intellektuell nicht verstanden? Vielleicht fühlte er sich auch angegriffen, da sie hinterfragt hat, wie motiviert er ist? Wenn wir diese Interviewsequenz in unseren Trainings zeigen, sind dies einige der Interpretationen und Bilder, die bei den Teilnehmenden entstehen. Was war nun tatsächlich an Frage und Antwort kulturell geprägt? Wir können es nicht wissen. Aber ohne, dass wir es vermeiden können, bilden wir Hypothesen, mit denen wir das Verhalten unseres Gegenübers zu erklären versuchen. Sie, aus Deutschland kommend, kennt sich wahrscheinlich aus in kompetenzbasierten Interviewtechniken. Sie erwartet dabei, dass sich der Kandidat in ihre Zielsetzung insoweit hineinversetzen kann, dass er ihr Informationen zu seiner Persönlichkeit und zu seinen Kompetenzen gibt, die das Thema »Selbstmotivation« betreffen. Dabei wünscht sie sich vermutlich, dass der Kandidat ihr auf die abstrakte Frage eine konkrete, gegebenenfalls mit einem Beispiel angereicherte Antwort gibt, in der er die Frage zunächst deduktiv analytisch vorstrukturiert und dann auf seine konkrete Person bezieht. Eine solche Musterantwort könnte etwa so lauten: »Selbstmotivation ist wichtig, denn nur wenn ich selber motiviert bin, kann ich auch andere überzeugend motivieren. Ich bin ein Typ, der stark von Zielen und Herausforderungen (alternativ: ›vom sozialen Miteinander im Team‹ oder ›von der Anerkennung durch mein Umfeld‹) motiviert wird. Zum Beispiel hat es mir großen Spaß gemacht als … Dabei organisiere ich mir meine Arbeit so, dass ich viele unterschiedliche Dinge an einem Tag tue. So kann ich mich, wenn zum Beispiel mal ein Kundentelefonat nicht so gut läuft, dadurch wieder aufbauen, dass ich danach mit Kollegen an einer Präsentation arbeite.« Wichtig sind der Interviewerin dabei dann wahrscheinlich eine individuelle Reflexion und Zielsetzung des eigenen Handelns, ein explizites Benennen von

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Präferenzen und Positionen sowie ein fokussiertes »Auf-den-Punkt-Kommen« in der Antwort. Es sollten nach der Antwort möglichst wenig Zweideutigkeiten und Andeutungen im Raum verbleiben; die Interviewerin möchte, dass ihr klar wird, wo der Bewerber steht. Entsprechend präferiert sie auch eine feste, klare Stimme, direkten und rückversichernden Blickkontakt, eine aufrechte und offene Körperhaltung sowie eine aktive, aber nicht übertriebene Gestik und Mimik. Er, aus China kommend, kennt ihre Zielsetzung vermutlich nicht. Er bekommt eine abstrakte Frage gestellt und ist sich nicht sicher, worauf sie abzielt. Vielleicht überprüft sie seine Loyalität und Leistungsbereitschaft? Vielleicht möchte sie wissen, in welcher Art der Balance er sich als Person befindet mit seiner Umwelt und mit sich selbst? Vielleicht geht es ihr darum zu erkennen, wie er in seinem sozialen Umfeld interagiert, wie er mit seinem Team, seinen Kollegen und Vorgesetzten harmoniert und sich einfügen kann? Er entscheidet sich dafür, ihr einen Einblick in das Innenleben seiner Persönlichkeit zu geben. Dabei scheint er insofern ostasiatisch-taoistisch geprägt zu sein, als er keine eindeutigen Zustände kennt und anstrebt.4 Denn er beschreibt, wie er mit der Gleichzeitigkeit von Erfolg und Misserfolg, von Zielen und Rückschlägen umgeht und wie er sich darauf trainiert, diesen Ambivalenzen mit einer Haltung der Reife und der positiven Energie entgegenzutreten. Als er spätestens an der Unterbrechung durch die Interviewerin merkt, dass dies nicht die gewünschte Antwort war, gerät er aus dem Takt. Seine Antwort wird unzusammenhängender und noch unklarer für die Interviewerin. War es vorher bereits eine eher zirkuläre, umkreisende Argumentation, sucht er nun verzweifelt nach einem Beispiel, von dem er annimmt, dass die Interviewerin es verstehen kann. Da er aber bereits eine Weile in Deutschland lebt, weiß er wahrscheinlich, dass sie sich in seine Art zu denken kaum hineinversetzen kann. Also passen auch die Beispiele nicht, die ihm vielleicht in den Sinn kommen. Er betont beziehungsund kontextbezogene Perspektiven auf der Suche nach einer passenden Situation (»Ich habe mir Vorwürfe gemacht und machte auch anderen Kollegen das Leben schwer«, »Aber du musst etwas tun, um wirklich schneller aufzuholen mit den anderen«), aber es fällt ihm keine mehr ein. Dass er ihr dabei indirekt ihre Frage beantwortet (Selbstmotivation durch mentale Vorbereitung auf Krisen, durch kurze Momente der Reflexion, durch den Wunsch die anderen nicht hängen zu lassen, durch seinen eigenen Leistungsanspruch), das kommt bei ihr nicht mehr an. Er hofft noch auf einen gesichtswahrenden Abschluss der Sequenz (»Aber Sie verstehen, was ich sage?«), den er dann auch halbherzig bekommt (»Ja, ich denke, ich bekomme eine Idee von dem, was Sie sagen wollen.«). 4 Mehr zum Thema Argumentationsmuster und Denkstile findet sich im Kapitel 3.3.

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Vermutlich wirkt diese Sequenz nun bei beiden Interviewpartnern nach. Er wird merken, dass seine Antwort nicht das war, was sie sich erhofft hat, und etwas nervöser werden. Sie wird sich vielleicht fragen, warum der Kandidat nicht besser versteht, was sie will, und Anflüge von Verärgerung verspüren. Fehlt es ihm tatsächlich an Selbstmanagementkompetenz, oder ist er nicht strukturiert und planvoll genug für die Position? Warum bleibt er so wenig greifbar für sie? Das Gespräch setzt sich damit von einer schlechteren Basis aus fort, denn beide richten ihre Aufmerksamkeit nun intuitiv auch auf die mit der ersten Sequenz verbundenen negativen Assoziationen. Die jeweilige Schublade – sie: »Er ist unklar und nicht strukturiert«, er: »Ich weiß nicht, was sie will, aber es läuft nicht gut« – ist ein kleines Stück geöffnet. Internationale Personalauswahl Mit dieser Sequenz ist das Thema dieses Buches benannt. Es geht darum, Sie – als Leserin und Leser – auf interkulturelle Unterschiede in der internationalen Personalauswahl vorzubereiten. Sie haben sich dieses Buch wahrscheinlich gekauft, um mehr Sicherheit in interkulturellen Vorstellungsgesprächen zu gewinnen und um die Stärken und Potenziale der Kandidatinnen und Kandidaten auch dann treffsicher zu erkennen, wenn diese anders kommunizieren, als Sie es gewöhnt sind. Dabei möchten Sie vermutlich einerseits verstehen, welche kulturellen Unterschiede es überhaupt gibt und wie sich diese im Vorstellungsgespräch ausdrücken. Und Sie wünschen sich andererseits Instrumente, mit denen Sie trotz dieser Unterschiede oder gewissermaßen durch diese Unterschiede hindurch, die Kompetenzen der Bewerber5 valide diagnostizieren können. Am Ende geht es Ihnen darum, die bestmöglichen Kandidaten für eine Stelle zu finden und teure Fehlentscheidungen nach Möglichkeit zu vermeiden. Diese Ziele verfolgt auch das Buch. Nur ist der Weg dahin nicht so gradlinig, wie wir es uns wünschen würden. Es wäre schön, wenn wir uns die zehn wesentlichen Unterschiede im chinesischen Antwortverhalten vor einem Interview durchlesen könnten und dann wüssten, wie der chinesische Bewerber seine Antwort wirklich gemeint hat. Aber so einfach ist es leider nicht. Denn wir haben es hier mit zwei strukturellen Herausforderungen, man könnte auch sagen Dilemmata, zu tun: 5 Im weiteren Verlauf dieses Buches wird aufgrund der besseren Lesbarkeit entweder nur die männliche oder nur die weibliche Form für Bewerber und Bewerberinnen sowie für Auswähler und Auswählerinnen verwendet. Gemeint sind – natürlich – immer beide Geschlechter.

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Dilemma 1: Wir begegnen in der internationalen Personalauswahl kulturellen Unterschieden, die wir bewerten müssen, ohne sie zu kennen. Gleichgültig, wie sorgfältig sich die Interviewerin in der obigen Sequenz auf den chinesischen Kulturraum vorbereitet, sie wird nie so chinesisch denken und fühlen können wie er. Sie muss also immer aus ihrer eigenen kulturellen Perspektive ein Verhalten beurteilen, das letztlich nur aus seiner eigenen Perspektive Sinn macht. Dilemma 2: Wenn wir uns auf ein bestimmtes Bewerberverhalten aus einem spezifischen Kulturraum vorbereiten und die damit verbundenen kulturellen Unterschiede in unsere Bewertung integrieren, dann setzen wir letztlich etwas voraus, was wir eigentlich erst im Vorstellungsgespräch herausfinden können. Denn natürlich sind nicht alle Chinesen gleich »chinesisch«, genauso wenig wie alle Deutschen gleich »deutsch« sind. Die Interviewerin kann in der obigen Sequenz nicht mit Sicherheit voraussagen, ob die chinesischen Kulturstandards überhaupt die richtigen sind, um das Verhalten des Kandidaten zu verstehen. Vielleicht hatte er ja einen englischen Vater oder er passt sich einfach sehr gut an? Sie muss den Kandidaten damit letztlich nach einem Maßstab beurteilen, den sie erst im Gespräch herausfinden kann. Die internationale Personalauswahl bringt uns damit in eine Situation, die von hoher Unsicherheit und Ambiguität geprägt ist. Wenn wir die beiden obigen Dilemmata auf die Interviewerin in der eingangs geschilderten Interviewsequenz übertragen, dann lautet die Herausforderung, a) sich so in den chinesischen Bewerber hineinzuversetzen, dass sie zumindest ansatzweise seine Perspektive einnehmen kann, obgleich ihr seine Art zu denken und wahrzunehmen nicht vertraut ist, und b) im Gespräch zu identifizieren, welche kulturellen Prägungen seine Antwort wohl beeinflusst haben, und diese Prägungen dann in die Bewertung seiner Kompetenzen und Potenziale einzubeziehen. Das Wissen um chinesische Kulturstandards und wie sich diese im Vorstellungsgespräch ausdrücken, kann ihr dabei helfen – es reicht aber allein noch nicht aus. Denn sie muss zu einem validen Auswahlurteil kommen, obwohl sie gar nicht weiß, ob diese kulturellen Maßstäbe überhaupt gerade gelten. Subjektivität Es ist eine Kernthese dieses Buches, dass die vorherrschenden Konzepte zur Personalauswahl auf diese doppelte Herausforderung keine befriedigenden Antworten geben. Das heißt nicht, dass wir diese Konzepte nicht mehr benötigen. Sie reichen nur nicht mehr aus. Das Leitmotiv der heute dominierenden eignungsdiagnostischen Modelle ist Objektivität. Sie entstanden zu einer Zeit, als Personalauswahl noch weit-

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gehend auf der Basis unstrukturierter Interviews betrieben wurde. Sympathie und Menschenkenntnis bestimmten, wem eine Stelle angeboten wurde und wem nicht. Aus diesem Grund entwickelte man wissenschaftlich fundierte Verfahren, um unabhängig von der Person der Interviewenden die für eine Position relevanten Kompetenzen der Kandidaten zu erkennen. Sorgfältig erhobene Anforderungsprofile, wissenschaftlich validierte Kriterien zur Verhaltensbeobachtung und ein standardisierter Auswahlprozess sollten helfen, die willkürliche Wirkung von persönlicher Chemie, Bauchgefühlen und »Nasenfaktoren« zu überwinden. Subjektivität wurde in diesem Sinne zum »Auswahlfehler« und »Problem der sozialen Urteilsbildung« (Schuler, 2007, S. 314), da sie den objektiven Blick auf die Bewerberinnen verstellte oder verzerrte. Die standardisierte, Subjektivität problematisierende Herangehensweise hat die Treffsicherheit der Personalauswahl in der Praxis seitdem nachweislich erhöht (z. B. Dipboye, Macan u. ShahaniDenning, 2012, S. 333). Sie kommt jedoch – wie wir gesehen haben – in einem internationalen Kontext an Grenzen, die umso stärker ins Gewicht fallen, je mehr sich Auswählende und Kandidaten voneinander unterscheiden. Denn die klassische Eignungsdiagnostik vernachlässigt die oben beschrie­ benen Dilemmata der Subjektivität. Sie versucht zu Recht, die Bedeutung der persönlichen Vorlieben der Auswählenden durch ein ­wissenschaftlich strukturiertes Verfahren zu reduzieren. Doch dabei verliert sie aus dem Blickfeld, dass wir diese Präferenzen trotzdem haben und dass wir auf Basis dieser Präferenzen mit den Kandidaten interagieren. Denn wir sind eben kein neutrales Messinstrument, sondern mit unseren eigenen Prägungen und Vorerfahrungen beeinflussen wir den Auswahlprozess auf vielfältige Weise. Unsere Beobachtungen, Bewertungen und Reaktionen entstehen in dem spezifischen kulturellen Koordinatensystem, welches uns zur Verfügung steht. Wir können die Bewerbenden weder so sehen, wie sie sich selbst sehen, noch können wir sie objektiv sehen. Wir können sie nur so sehen, wie wir sie sehen. Das Leitmotiv der internationalen Personalauswahl ist darum Subjektivität. Wir sprechen nicht über die Subjektivität von früher, als Interviewende einfach ein beliebiges Kennenlerngespräch führten und anschließend nach persönlicher Sympathie entschieden. Sondern es geht um eine geschulte Subjektivität, in der die Auswählenden sich bewusst machen, dass ihre Art zu fragen und zu bewerten genauso subjektiv und kulturell geprägt sind wie die Antworten der Bewerberinnen. Für eine solche geschulte Subjektivität müssen wir zunächst verstehen, wie wir selbst kulturell geprägt sind und wie unsere Urteile entstehen. Dann erst macht es als zweiten Schritt Sinn, dass wir etwas über die anderen lernen, also über fremde Kulturstandards und deren Mechanismen im Auswahlprozess. Erst in der

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Kombination beider Fähigkeiten entsteht die Kompetenz, auch dann effektive interkulturelle Vorstellungsgespräche zu führen, wenn wir uns der spezifischen kulturellen Bedeutung einer Aussage nicht sicher sein können – also immer! Zum Aufbau dieses Buches Entsprechend folgt das Buch einem Aufbau, welcher das Wissen um die Subjektivität unserer Urteilsprozesse mit dem Wissen um die kulturellen Einflussfaktoren im Auswahlprozess kombiniert. Als Ausgangsbasis für die einzelnen Kapitel dienen dabei Mitschnitte aus interkulturellen Vorstellungsgesprächen mit Bewerbern aus China, Indien, Russland, Nigeria, Syrien und Indonesien, so wie die eingangs geschilderte Interviewsequenz. Teil I: Im ersten Teil (Herausforderungen der internationalen Personalauswahl) finden Sie, als Leserin und Leser dieses Buches, Ihre Fragestellung noch einmal beschrieben, und Sie erkennen den Kontext, in dem Sie sich damit bewegen. Sie verstehen im ersten Schritt nicht nur, wo die Herausforderungen der internationalen Personalauswahl liegen, sondern auch, warum Sie diese mit den Ihnen bisher zur Verfügung stehenden Methoden nicht bewältigen können. Und Sie beginnen, den Ansatz einer Lösung zu erkennen. Teil II: Im zweiten Teil (Wie unser Urteil entsteht) verabschieden wir uns von der Vorstellung, ein Bewerbungsgespräch könne standardisiert und rational ablaufen und objektive Erkenntnisse über die Kandidaten generieren. Dies bleibt vermutlich nicht ohne Auswirkungen auf Ihr Selbstverständnis als Interviewende. Wenn alles subjektiv, kulturell und situativ ist, wie können wir dann jemals valide, d. h. treffsichere Vorstellungsgespräche führen? Dieser Schritt ist wichtig, denn in der internationalen Personalauswahl hat der Glaube an eine objektive Bedeutung von Aussagen keinen Platz mehr. Stattdessen geht es darum, die subjektive Intention der Kandidaten hinter ihren Antworten zu erfassen, und erst daraus dann auf Kompetenzen und Potenziale in Bezug auf die Zielposition zu schließen. Am Ende des zweiten Teils können Sie nachvollziehen, wie viel Sie selbst dazu beitragen, dass ein bestimmtes Bild der Kandidaten bei Ihnen entstanden ist. Durch die Formate, in denen Sie fragen, durch die Art, wie Sie reagieren, und durch Ihre eigenen vertrauten Bewertungsmuster hängt ihr Urteil ganz wesentlich nicht nur von den Bewerbern, sondern auch von Ihnen selbst ab. Sie lernen so, wie Sie im Auswahlprozess auf die Person einwirken, die Sie am effizientesten beeinflussen können: Sie selbst. Teil III: Im dritten Teil (Kulturelle Unterschiede im Bewerbungsgespräch) wird Ihr Verständnis für die möglichen kulturellen Unterschiede zwischen Ihnen

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und den Kandidatinnen vertieft, was dazu führt, dass Sie wieder an Sicherheit gewinnen. Indem nun konkret greifbar wird, wie sich kulturelle Prägungen im Vorstellungsgespräch zeigen, gewinnen Sie an Handlungsfähigkeit. Sie können, wenn Sie es eilig haben, auch direkt mit dem dritten Teil beginnen, denn erst ab hier geht es spezifisch um die internationale Personalauswahl. Aber das wäre schade. Denn niemand kann Ihnen ja im Vorfeld sagen, ob sich die Kandidaten auch wirklich so verhalten werden, wie es die in diesem Abschnitt beschriebenen Kulturstandards nahelegen. Sie wüssten dann nicht, wie Sie damit umgehen sollen, wenn Sie im Vorstellungsgespräch trotz Ihrer Vorbereitung die Antworten der Bewerber nicht verstehen. Interkulturelle Kompetenz – dazu in Kapitel 3.1 mehr – ist nicht in erster Linie Kulturwissen, sondern der kompetente Umgang mit kulturellem Nichtwissen. Teil IV: Der letzte und vierte Teil (Instrumente für die internationale Personalauswahl) bereitet Sie dann konkret auf den Alltag vor. Hier werden die Erkenntnisse des Buches übersetzt in Handlungsmöglichkeiten und Empfehlungen, wie Sie in der Praxis der internationalen Personalauswahl mit mehr Sicherheit und Validität die Richtigen erkennen können, selbst wenn diese anders sind als Sie. Natürlich könnten Sie auch gleich mit dem vierten Teil beginnen, wenn die internationale Kandidatin schon vor der Tür steht und Sie sich noch schnell fit machen möchten für das Gespräch. Vermutlich würde Ihnen das auch einen Mehrwert bringen. Aber es wäre nicht nachhaltig. Denn auf die internationale Personalauswahl können wir uns nicht vorbereiten, indem wir Kulturstandards auswendiglernen und Auswahlprozesse kulturspezifisch neu validieren und standardisieren. Die wichtigsten Kompetenzen im interkulturellen Vorstellungsgespräch sind nicht Prozessstärke und Strukturiertheit, sondern Selbstreflexion, Einfühlungsvermögen, Ambiguitätstoleranz, Flexibilität und Neugier. Warum wir eine neue Personalauswahl brauchen – nicht nur im internationalen Kontext Es ist ruhig geworden um die Personalauswahl in den letzten zwanzig Jahren. Auf den einschlägigen HR-Konferenzen werden ihr kaum Vorträge gewidmet und die Wissenschaft hat seit Langem keine bedeutenden Impulse mehr eingebracht. Die Praxis setzt einen Teil der eignungsdiagnostischen Modelle weitgehend um, aber sie weigert sich beharrlich, sich vollständig den objektivistischen Verfahrensvorstellungen der Wissenschaft zu beugen.6 Das Bauchgefühl ist weiter6 Die hierzu vorliegenden Ergebnisse einer eigenen Befragung werden im ersten Teil ausführlicher dargestellt.

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Einleitung

hin die maßgebliche Instanz für die Auswahlentscheidung (Nachtwei, Bernstorff, Uedelhoven u. Liebenow, 2013). Gleichzeitig werden insbesondere in den Fachabteilungen nur selten Interviewtrainings besucht, und eine strukturierte und kennzahlenorientierte Evaluation der eigenen Personalauswahl findet kaum statt (Riedel u. Krotoschak, 2015). Trotz Globalisierung, steigenden Fluktuationsraten und demografischem Wandel scheint kaum jemand signifikant in die Qualität der eigenen Personalauswahl investieren zu wollen. Die internationale Personalauswahl bietet nun die Chance, der Personalauswahl insgesamt wieder die Aufmerksamkeit zu verschaffen, die sie in Anbetracht ihrer betriebswirtschaftlichen Relevanz eigentlich verdient: • Zunächst erzeugt die steigende Zahl internationaler Auswahlprozesse – sei es durch internationale Hochschulabsolventen, Kandidaten mit Migrationshintergrund oder Rekrutierungsprozesse in den Niederlassungen im Ausland – einen unmittelbaren Handlungsdruck, sich wieder mit eignungsdiagnostischen Fragen zu befassen. Wir erkennen im Interview mit asia­tischen, afrikanischen oder osteuropäischen Kandidaten, dass wir mit den bewährten Fragen und Bewertungsrastern an Grenzen kommen. Vermutlich lesen Sie genau aus diesem Grund dieses Buch. • Zudem ermöglichen uns die Erkenntnisse und Erfahrungen, die wir in interkulturellen Vorstellungsgesprächen sammeln, eine Neubelebung der Personalauswahl als Ganze. Es ist meine Hypothese, dass man sich in der Praxis so wenig mit Fragen der Personalauswahl befasst, weil man dem eigenen Erfahrungswissen im Zweifel mehr traut als der eignungsdiagnostischen Theorie. Es fehlt, so scheint es, in den Unternehmen mehrheitlich der Glauben daran, dass man mit den gängigen wissenschaftlich hergeleiteten, objektivistischen Verfahren wirklich treffsicherer die richtigen Kandidaten erkennen kann als auf der Basis der eigenen Intuition und Menschenkenntnis. Da wir in der internationalen Personalauswahl nun die Interviewerinnen und Interviewer mit ihren kulturellen und individuellen Sichtweisen und Erfahrungen in den Fokus des Geschehens stellen, verschieben wir die Gewichtungen in der Eignungsdiagnostik. Nicht mehr der standardisierte und im Vorfeld validierte Prozess steht im Vordergrund, sondern die geschulte Subjektivität der Auswählenden. Bauchgefühle, persönliches Erfahrungswissen und individuelle Prägungen rücken in das Zentrum der Personalauswahl, allerdings in einer bewusst gemachten und reflektierten Weise. Die internationale Personalauswahl bietet damit – soweit, wie die oben formulierte Hypothese zutrifft – die Chance, Theorie und Praxis wieder miteinander zu versöhnen.

Einleitung

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I nsofern verbindet sich mit diesem Buch die Hoffnung, in den Unternehmen das Vertrauen darauf (wieder)zuerwecken, dass gute Personalauswahl nicht nur wichtig ist, sondern dass man sie auch – selbst bei erfahrenen Personalmanagern und Führungskräften – durch regelmäßige Trainings noch verbessern kann. • Nicht zuletzt entwickeln wir in der internationalen Personalauswahl Kom­ petenzen, deren Bedeutung weit über die erfolgreiche Personalgewinnung hinausgeht. Denn wenn es uns gelingt, unsere eigene Perspektive zu rela­ tivieren und damit unsere Bewertungsprozesse für Andersartigkeit zu öffnen, dann stärken wir damit generell unsere Fähigkeit, neue Impulse aufzugreifen, auf Veränderungen zu reagieren und Zukunft zu gestalten. Wir lernen dann in der Personalauswahl, wie wir selbstreflektierter, achtsamer, wertschätzender, offener und flexibler mit Vielfalt auch in anderen Kontexten interagieren können. Dann profitieren wir von einer geschulten Personalauswahl auch in anderen Bereichen wie der Personalführung, im Projektmanagement, in Kundengesprächen, in der Produktentwicklung und letztlich in jeder Form der Zusammenarbeit.

Teil 1: Herausforderungen der internationalen Personalauswahl »It amazes me sometimes that even intelligent people will analyze a situation or make a judgement after only recognizing the standard or traditional structure of a piece.« David Bowie

1.1 Es gibt keine Objektivität – warum die klassische Eignungsdiagnostik zu kurz greift In der Personalauswahl geht es – soweit so trivial – um die Erfassung der Eignung einer Person für eine bestimmte Aufgabe. Hierfür werden zunächst aus dem Anforderungsprofil der Position (z. B. eine Vertriebsleitung) bestimmte notwendige Eigenschaften oder Kompetenzen abgeleitet (z. B. Durchsetzungsfähigkeit oder Verhandlungsgeschick). Im Auswahlprozess wird dann gemessen, wie stark diese bei dem Kandidaten oder der Kandidatin ausgeprägt sind. Geht man nun nach den Standardwerken zur Personalauswahl7, dann wird die Qualität der eingesetzten Verfahren danach beurteilt, ob sie eine möglichst hohe Objektivität (Unabhängigkeit von den auswählenden Personen), Reliabilität (Zuverlässigkeit und Wiederholbarkeit der Messergebnisse) und Validität (Vorhersagegenauigkeit in Bezug auf die gesuchte Eigenschaft oder Kompetenz) versprechen. Dabei heben sich die meist in den 1980er und 1990er Jahren entwickelten, aktuellen Modelle der Personalauswahl von einer unstrukturierten, nicht standardisierten und rein intuitiven Gesprächsführung ab, wie sie früher üblich war. Anstelle einer Einstellungsentscheidung, welche wesentlich von den persönlichen Sympathien der Auswählenden abhängt, sollen durch die wissenschaftlich entwickelten und validierten Methoden nur noch das Anforderungsprofil der Position und die darauf passenden, objektiv gemessenen Kompetenzen der Kandidaten ausschlaggebend sein. Ist die Validität eines Auswahlprozesses (n) dabei = 1, so reden wir von einer 100-prozentigen Übereinstimmung zwischen dem Messergebnis im Auswahlprozess und dem tatsächlich vorhandenen Leistungskriterium. Wurde also im Auswahlprozess eine hohe Durchsetzungsfähigkeit gemessen, und bescheinigen 7 Z. B. Westhoff et al. (2004); Schuler (2007); Nerdinger, Blickle u. Schaper (2008); Zedeck (2011); Schmitt (2012); Sarges (2013); Obermann (2013).

Es gibt keine Objektivität

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später auch die Führungskräfte, Kollegen oder Kunden der Person eine hohe Durchsetzungsfähigkeit, so war die Validität des Verfahrens hoch. Ist die Validität niedrig oder sogar negativ, dann hat der Auswahlprozess eine nur geringe oder gar nicht zutreffende Vorhersage des späteren Verhaltens ermöglicht. Elementare Voraussetzung für die Vergleichbarkeit und Gültigkeit von Personalauswahlergebnissen ist nach diesem wissenschaftlichen Ansatz die Strukturiertheit und Standardisierung des Verfahrens. Nur wenn jedem Bewerber vergleichbare, vorher auf die Zielkompetenzen normierte und getestete Fragen und Aufgaben gestellt werden, so die Theorie, können auch valide, objektive und wiederholbare Messergebnisse gewonnen werden. Hufcutt und Culbertson (2011, S. 194 ff.) nennen dies »The Paramount Role of Structure« und belegen, wie viele andere Studien auch, die vermeintlich überlegene Validität des strukturierten gegenüber dem weniger strukturierten Interview (nach ihren Studien n = .57 gegenüber n = .20). Um die entsprechende Qualität von Personalauswahlverfahren sicherzustellen, wurde im Jahr 2002 auf Initiative des Berufsverbandes Deutscher Psychologinnen und Psychologen (BDP) und der Deutschen Gesellschaft für Psychologie (DGPs) die DIN-Norm 33430 mit dem Titel »Anforderungen an Verfahren und deren Einsatz bei berufsbezogenen Eignungsbeurteilungen« verabschiedet. Die Norm verlangt unter anderem, dass • dem Auswahlprozess ein detailliertes, transparentes und auf die zu besetzende Position zugeschnittenes Anforderungsprofil zugrunde liegt; • für den Auswahlprozess sorgfältige Verfahrensbeschreibungen vorliegen und transparent zwischen den gesammelten Informationen und ihrer Bewertung getrennt wird, damit unterschiedliche Auswählende die gleichen Prozesse befolgen und zu vergleichbaren Ergebnissen und Urteilen kommen können; • die zur Eignungsbeurteilung herangezogenen Normwerte denen der Referenzgruppe der Kandidaten entsprechen (z. B. ist die Beurteilung von Auszubildenden nicht normgerecht, wenn sie anhand von Normentabellen für Hochschulabsolventen erfolgt); • die Validität der eingesetzten Verfahren empirisch nachgewiesen ist; • der gesamte Prozess der Eignungsbeurteilung, einschließlich der Auswahlkriterien und Entscheidungsregeln, angemessen dokumentiert wird; • die Auswählenden eine angemessene Vorbereitung und Praxiserfahrung im Bereich der Eignungsdiagnostik besitzen. Diese DIN-Norm wurde 2011 auf internationaler Ebene durch die ISONorm 10667 ergänzt, welche zusätzliche allgemeine Verfahrensgrundsätze aufstellt. Zu dieser ISO-Norm sagte der Vorsitzende des entsprechenden ISO-Aus-

24

Teil 1: Herausforderungen der internationalen Personalauswahl

schusses, Lutz Hornke, in einem Interview der Zeitschrift Personalführung im Januar 2012: »Durch die Dokumentation und Evaluation der Prozesse werden auf Unternehmensseite subjektive Bauchentscheidungen vermieden. Für die Kandidaten ergibt sich eine transparente Situation, in der Entscheidungen nicht länger von persönlichen Vorlieben abhängen. Die Stärken und Schwächen einer Person werden sachlich ausgewertet und im Interesse aller Parteien berücksichtigt« (S. 24). Die klassische eignungsdiagnostische Lehre erweckt so den Eindruck, als seien die Auswählenden eine Art Messgerät, dem es gelingen könnte, eine objektive und rein rationale Überprüfung der zu untersuchenden »Objekte«  – den Kandidaten – vorzunehmen. Subjektivität wird dabei zur »schmutzenden Störquelle« (Obermann, 2013, S. 188), deren Einfluss man durch eine wissenschaftliche Versuchsanordnung, transparente Verfahren und Dokumentationen sowie strenge Vorgaben an die Qualifikation der Auswählenden reduzieren kann. Mit Vielfalt gehen wir in dieser Logik dann kompetent um, wenn wir alle unterschiedlichen Eigenschaften und Kompetenzen objektiv erkennen und mit den gleichen Maßstäben messen und dann – am Anforderungsprofil ausgerichtet – vergleichen, welche am besten passen. Gelingt es den klassischen Modellen der Personalauswahl zufolge also, die Subjektivität der Beobachter aus dem Prozess auszuschließen, dann wirkt sich auch die Unterschiedlichkeit von Auswählern und Kandidaten nicht mehr verzerrend auf das Auswahlergebnis aus. Kritische Anmerkungen aus der Wissenschaft Natürlich werden in der Wissenschaft die oben dargestellten klassischen Modelle auch kritisch hinterfragt. Hierzu gehört der Nachweis häufiger Beobachtungsund Auswahlfehler, wie z. B. dem sogenannten Halo-Effekt (nach dem englischen Wort für Heiligenschein, auch Überstrahlungseffekt genannt), wonach sich die Auswählenden von einer besonders prägnanten Beobachtung besonders beeinflussen (blenden) lassen und sie dadurch dann spätere, gegensätzliche Eindrücke gar nicht mehr wahrnehmen. Die regelmäßig wiederkehrende Beobachtung der immer gleichen Auswahlfehler beeinträchtigt dennoch kaum das objektivistische Grundprinzip der vorherrschenden Lehre, da diese – so die Theorie – durch ein adäquates Verfahren vermieden werden können. Verbleibende Auswahlfehler werden damit per Definition zum Resultat fehlerhaft angewandter objektiver Auswahlprozesse.

Es gibt keine Objektivität

25

Aber auch die Grundannahmen der objektivistischen eignungsdiagnostischen Konzepte werden von einzelnen Autoren infrage gestellt. So ziehen die Wirtschaftspädagogen Laske und Weiskopf (1996) die Wirksamkeit der herkömmlichen Methoden – welche sie geringschätzig als »Personalvermessung« oder auch als »Materialprüfung« bezeichnen – grundsätzlich in Zweifel. Menschen, so argumentieren sie, hätten keineswegs feststehende oder relativ dauerhafte Eigenschaften, sondern sie würden über ein breites Verhaltensrepertoire verfügen, welches sie im Vorstellungsgespräch entsprechend der vermeintlichen Rollenerwartung anpassen können. »Durch die psychometrische Aufbereitung des Individuums«, so schlussfolgern sie, »wird also nicht dessen verborgener Kern, dessen ›wahre Natur‹ ans Tageslicht befördert, vielmehr wird die Person als solche hierdurch erst definiert und hervorgebracht« (S. 308). Letztlich zeige sich im Auswahlprozess also nicht die Passung für eine bestimmte Position oder Organisation, sondern »die Fähigkeit und Kompetenz, mit den entsprechenden Verfahren im ›Spiel der Wahrheitssuche‹ geschickt und adäquat umzugehen: Ausgewählt wird, wer das Verfahren beherrscht« (S. 324). Weniger radikal, aber inhaltlich in die gleiche Richtung weisend, analysieren Dipboye, Macan und Shahani-Denning (2012) im »Oxford Handbook of Personnel Assessment and Selection« das Vorstellungsgespräch kritisch danach, wie sich die Praxis von der Theorie unterschiedet. So wurde nachgewiesen, dass Interviewer auch bei ganz unterschiedlichen Zielpositionen immer ähnliche Idealtypen des »passenden Kandidaten« suchen, von den Autoren »Good Scout« genannt. Diesen zeichnen vor allem beziehungsgestaltende und hochgradig subjektiv definierte Attribute wie »Angemessenheit der Reaktion auf die Interviewer (Responsiveness)«, »Zuverlässigkeit«, »Freundlichkeit« und »emotionale Kontrolle« aus. Weiterhin wurden für den Gesprächsverlauf bei den Auswählenden erstaunlich konstante (implizite) mentale »Ablaufskripte« beobachtet, wie sich das Interview idealtypisch entwickeln solle. Mangels Forschungsergebnissen zu der Bedeutung dieser unbewussten Skripte für das Auswahlergebnis schreiben die Autoren hierzu: »Es ist davon auszugehen, dass die Interviewer diejenigen Kandidaten positiver bewerten, welche sich an diese Skripte halten, und diejenigen ablehnen, die das nicht tun« (S. 327, eigene Übers.). Wie wir anhand der eingangs geschilderten interkulturellen Interviewsequenz zeigen konnten, sind diese impliziten Skripte dabei in hohem Maße kulturell geprägt und – da sie nicht offengelegt werden – für Kandidaten mit einem anderen kulturellen Hintergrund schwer zu durchschauen. Entsprechend müsse man, um die Realität – und damit die Validität – des Vorstellungsgespräch wirklich akkurat abzubilden, sich das Interview eher wie

26

Teil 1: Herausforderungen der internationalen Personalauswahl

einen Tanz vorstellen, ein gegenseitiges Mitschwingen. Anstatt nur die scheinbar objektive, neutrale Sichtweise der Auswählenden zu erfassen, müsse man die Auswahlsituation als dynamische und dyadische (zweiseitige) soziale Interaktion begreifen. Es geht also für die Bildung eines Auswahlurteils möglicherweise viel mehr um die soziale Anpassung der Kandidatin im Gespräch, um Annäherung und Abstand, um den Wechsel von Führung und Unterordnung, um das Austarieren von Redeanteilen und Sprechrhythmen, als um das objektive Erfassen vorhandener Eigenschaften und Kompetenzen. In die gleiche Richtung gehend bezeichnet es Sarges (2013c, 2011, 1995) als »Standardisierungsillusion« (Sarges, 2013c, S. 587 f.), die annimmt, man könne Antwortunterschiede nur dann diagnostisch auswerten, wenn alle Bewerber die gleichen Fragen bekämen. Stattdessen komme es vielmehr auf einen individuell adaptierten und flexibel gestalteten Prozess der Exploration an, der auf fünf Prinzipien beruhe: 1. Multimethodalität (es kommt mehr als nur ein Auswahlinstrument zum Einsatz), 2. Multiperspektivität (mehr als eine Beobachterin), 3. Stimulus-Mehrdeutigkeit (es werden möglichst schwach strukturierte, mehrdeutige, ambivalente, ergebnisoffene Fragen gestellt), 4. Response-Offenheit (es erfolgt eine qualitative Interpretation der Antwortprozesse anstatt einer quantitativen Auswertung der Antwortinhalte), 5. Ego-Involvement (die Kandidaten werden emotional involviert, in ihrer Persönlichkeit im wörtlichen Sinne »herausgefordert«). »Gerne hält man die Stimuli (Fragen oder Aufgaben) eindeutig und die Reaktionen geschlossen (multiple choice oder abgestufte Skalen), aus lauter Angst, man könnte sonst nicht mehr genau messen. Es wäre aber ein großer Fortschritt, wenn wir in Verhaltenssimulationen und Interviews vermehrt mehrdeutige Stimuli und offene Reaktionen zuließen. Man kann dann in einem qualitativ viel breiteren Spektrum diagnostische Informationen einholen« (Sarges, 2013b, S. 30). Diesen Ansatz unterstreicht auch Carolina Kleebaur (2007). Sie kommt in ihrer Analyse der Personalauswahl aus Sicht der Praxis dabei aber zu der noch grundlegenderen Kritik, dass »eine rein wissenschaftliche Personalauswahl, welche sich überwiegend objektiver und standardisierter personaldiagnostischer Verfahren bedient, in der Praxis auf starken Widerstand stößt« (S. 189). Nach ihrer empirischen Studie orientieren sich die Interviewer in den realen Vorstellungsgesprächen wenig an den formal vorgegebenen Methoden der Wissenschaft,

Es gibt keine Objektivität

27

sondern achten stattdessen vor allem auf die intuitiv und emotional erfasste Passung der Kandidaten zur Unternehmenskultur. Von daher empfiehlt sie, auch in den theoretischen Konzepten der Personalauswahl zukünftig einem integrierten Ansatz zu folgen, welcher die wissenschaftlich-objektivistische und eine intuitiv-erfahrungsbasierte Personalauswahl kombiniert. Die kritischen Stimmen zur vorherrschenden eignungsdiagnostischen Lehre greifen also einige der Herausforderungen auf, die in der deutsch-chinesischen Interviewsequenz zu Beginn dieses Buches deutlich geworden sind. Die objektivistischen Modelle der Wissenschaft marginalisieren die Tatsache, dass sich in einer Auswahlsituation Menschen gegenübersitzen, die sich aufgrund verschiedener persönlicher, kultureller und situativer Faktoren wechselseitig beeinflussen und die sozial interagieren. Sie berücksichtigen zu wenig, dass menschliche Urteilsprozesse niemals objektiv erfolgen können, weil sie immer auf der Basis von subjektiv und erfahrungsbasiert entstandenen Bewertungsmustern erfolgen. Die klassischen Theorien verfolgen ohne Zweifel das richtige Ziel, denn eine Personalauswahl sollte so aufgebaut sein, dass die Auswahlentscheidung von den Kompetenzen und Potenzialen der Kandidatinnen abhängt, und nicht von den persönlichen Präferenzen der Auswählenden. Indem die aktuellen Modelle der Personalauswahl versuchen, die subjektive Beeinflussung des Auswahlprozesses durch Normierung, Strukturierung und Standardisierung zu reduzieren, lösen sie aber die Herausforderung der Subjektivität nicht auf, sondern verlagern sie nur. Im schlechtesten Fall fühlen sich die Auswählenden in der Praxis durch die umständlichen Verfahren nur gegängelt und eingeengt und entscheiden – wie die Arbeit von Kleebaur (2007) zeigt – umso subjektiver und intuitiver, da sie ihren eigenen Einfluss auf den Auswahlprozess nicht reflektieren. Wir kommen dem Ziel der Objektivität also nicht näher, indem wir unsere Subjektivität negieren, sondern wir müssen sie im Gegenteil viel bewusster und geschulter integrieren als bislang.

28

Teil 1: Herausforderungen der internationalen Personalauswahl

1.2 Es gibt keine Reliabilität – wie die Auswahlentscheidung von der Situation und den Auswählenden abhängt Neben dem Paradigma der Objektivität wird die klassische Eignungsdiagnostik bestimmt von der Forderung nach einem »reliablen« Versuchsaufbau. Reliabilität ist dann gegeben, wenn der Auswahlprozess zu einem anderen Zeitpunkt durch andere Wissenschaftler (Auswählende) wiederholt werden könnte und die gleichen Ergebnisse erbrächte. Neben dem Faktor Mensch darf also auch der Faktor Kontext (Zeit, Raum, Gruppe, Erwartungen etc.) die Auswahlentscheidung nicht beeinflussen. Lassen Sie uns ein Beispiel anschauen, um aufzuzeigen, dass auch dieses eignungsdiagnostische Ziel in der praktischen Personalauswahl nicht aufrechterhalten werden kann. In einer Studie mit dem schönen Titel »Wie viel täuschen chinesische Bewerber?« (»How Much do Chinese Applicants Fake?«) kommen die Autoren König, Wong und Chen (2012) zu dem Schluss, dass chinesische Kandidaten im Vorstellungsgespräch ähnlich viel aufschneiden wie amerikanische Bewerber, aber deutlich mehr als ihre europäischen Pendants. Dies stellen sie mit Erstaunen fest, denn »diese Ergebnisse stehen im Widerspruch zu dem Kulturstandard der Bescheidenheit in China. […] Hätten sich die Bewerber dieser Norm entsprechend verhalten, so wäre weniger Selbst-Präsentation zu erwarten gewesen – was wir aber nicht gefunden haben. Eine Erklärung für dieses Verhalten könnte die hohe Arbeitslosigkeit unter chinesischen Hochschulabsolventen sein, die an diesem Punkt sogar kulturell geprägte Wertvorstellungen überlagert. […] Für die Praxis der Personalauswahl zeigt dies, dass chinesische Kandidaten eventuell stärker täuschen als Bewerber aus Europa. Personalverantwortliche sollten entsprechend vorsichtige Maßnahmen einbauen, die sich nicht durch Täuschung beeinflussen lassen, wie z. B. kognitive Tests« (S. 249 f.; eigene Übers.). Wie sich aus der Darstellung der Ergebnisse in Tabelle 1 ergibt, lassen aus Sicht der Autoren also Selbstbeschreibungen wie »Ich passe meine Meinung an«, »Ich gebe vor, Wissen zu besitzen, das ich nicht habe«, »Ich übertreibe meine positiven Eigenschaften«, »Ich zeige mich freundlicher, als ich wirklich bin« bei chinesischen Bewerbern darauf schließen, dass diese ein starkes Image-Management betreiben, also nicht bescheiden auftreten und darum im Bewerbungsprozess zu Täuschungshandlungen neigen.

29

Es gibt keine Reliabilität

Tabelle 1: Die Häufigkeit unterschiedlicher Selbstbeschreibungen in China gegenüber der der Schweiz und den USA. Quelle: König, Wong u. Chen, 2012, eigene Übersetzung Nr.

Aussagen

CN (%)

CH(%)

US (%)

1.

Ich übertreibe meine positiven Eigenschaften während des Bewerbungsprozesses (z. B. Fleiß, Detailgenauigkeit, Effizienz).

37

5

56

2.

Ich erfinde Informationen über mich selbst, um meine Chancen auf eine Anstellung zu erhöhen.

11



17

3.

Ich übertreibe meine Arbeitserfahrung, um mich beeindruckender darzustellen, als ich eigentlich bin.

39



45

4.

Ich gebe vor, Erfahrungen zu besitzen, die ich eigentlich nicht habe.

10



23

5.

Ich gebe vor, Wissen zu besitzen, das ich nicht habe.

15



16

6.

Ich übertreibe meine bisherigen Arbeiten oder Leistungsbewertungen, um mich als besserer Mitarbeiter darzustellen.

42

2

30

7.

Ich übertreibe meine Fähigkeiten zu meinem Vorteil.

45

16

51

8.

Ich übertreibe Eigenschaften oder Charakteristika von mir wie z. B. Zuverlässigkeit.

37

1

47

9.

Ich passe meine Meinung an.

34

1

43

Ich zeige mich freundlicher (zuverlässig, empathisch, kooperativ), als ich wirklich bin.

87

16

41

10.

Wenn man aus einer westlichen – also einer individualistischen, regelorientierten, direkten und analytischen Perspektive heraus – auf chinesische Bewerber schaut, dann sind diese leicht negativ akzentuierten Schlussfolgerungen auch nachvollziehbar. Denn wenn in der westlichen Weltsicht ein Mensch bescheiden ist, dann ist er oder sie dies als Persönlichkeit, gleichgültig in welchem Kontext. Die Bescheidenheit ist Teil der Person, auch im Vorstellungsgespräch. Aus einer chinesischen Perspektive ist Bescheidenheit aber zunächst gar nicht der eigentliche Kulturstandard, sondern es geht um die Gestaltung harmonischer Beziehungen und um die konfliktfreie Integration der eigenen Person in die Gemeinschaft (mehr Ausführungen und Quellen dazu in Kapitel 3.2). In diesem Kontext ist das Zurschaustellen von Bescheidenheit dann ein wichtiger Bestandteil der Integrationsleistung. Indem man die anderen besser aussehen lässt als sich selbst (anderen »Gesicht gibt«), stärkt man auch das eigene Gesicht. Bescheidenheit ist darum keine in der Person liegende Eigenschaft, sondern sie ist eine nur im sozialen Kontext verständliche Technik der Beziehungsgestaltung. Somit ist die Frage, wie und wie stark in China Bescheidenheit gezeigt wird, in hohem Maße kontextgebunden und komplex. Nur weil wir – aus der west-

30

Teil 1: Herausforderungen der internationalen Personalauswahl

lichen Perspektive – chinesisches Verhalten oft als bescheiden interpretieren, sollten wir nicht schließen, dass man in China tendenziell auch bescheidener ist. Und genauso wenig kann man daraus schließen, dass Chinesinnen und Chinesen – nur weil sie im Auswahlprozess scheinbar weniger bescheiden auftreten – dann auch mehr zu (Vor-)Täuschungshandlungen neigen als wir Europäer. Chinesische Bewerber haben wohl in Vorstellungsgesprächen  – warum sollte dies anders sein? – ein genauso großes Interesse, sich attraktiv darzustellen, wie alle anderen auch. Die Verknüpfung der unerwartet hohen Werte für die Selbstdarstellung der chinesischen Teilnehmer mit einer angenommenen Täuschungsbereitschaft lässt sich wohl nur aus dem Kontext der Studie erklären. Die Autoren hätten sich ja auf der Basis der Ergebnisse genauso große Sorgen machen können um die scheinbare Täuschungsbereitschaft US-amerikanischer Kandidaten. Die jeweiligen Werte in den Kategorien »Informationen erfinden«, »Erfahrungen vortäuschen« oder »Wissen vortäuschen« waren mit rund 10–20 % bei beiden Kandidatengruppen vergleichbar niedrig, wobei beide über den Schweizer Befragten lagen (0 %). Die einzigen signifikant höheren Ergebnisse als die amerikanischen Teilnehmer hatten die chinesischen Befragten in der Kategorie »Stellte mich freundlicher (more agreeable) dar, als ich wirklich bin« (87 zu 41 %). Dagegen stachen die amerikanischen Befragten in der Kategorie »Ich übertrieb meine positiven Eigenschaften« mit 56 zu 37 % gegenüber der chinesischen Gruppe heraus. Das Autorenteam hätte also auch zu folgender, alternativen Interpretation der Ergebnisse kommen können: »US-amerikanische Bewerber sind die größten Angeber im Vorstellungsgespräch. Chinesische Kandidaten stellen vor allem ihre Bereitschaft in den Vordergrund, sich sozial zu integrieren. Schweizer Kandidaten sind am ehrlichsten. Die Täuschungsbereitschaft im Auswahlprozess ist weltweit schwach ausgeprägt.« Es scheint aber so zu sein, dass die Aspekte »Täuschung und China« sowie »Bescheidenheit und China« bei den Forschern bereits stärker vorbereitet waren (auf Englisch spricht man hier von »Priming-Effekten«), sodass die Ergebnisse diesbezüglich dann mehr Resonanz auslösten. Hätten die Autoren vor allem auf die Ergebnisse der amerikanischen Gruppe geachtet und wären sie dabei unbewusst von Bildern wie »Selbstüberschätzung und USA« oder »Oberflächlichkeit und USA« geleitet gewesen, dann hätte ihre Interpretation mit Sicherheit anders ausgesehen. Nicht nur die kulturelle Perspektive der Beobachter, sondern auch der Kontext und Fokus der Beobachtung beeinflussen somit unsere Urteilsfindung. Wir werden im Laufe des Buches noch viele Auswahlsituationen anhand von kognitionspsychologischen, neurologischen und sozialwissenschaftlichen Forschungsergebnissen analysieren und dabei erkennen, wie momenthaft und

Es gibt keine Reliabilität

31

kontextgebunden unsere Urteile entstehen. Die Vorstellung, ein Vorstellungsgespräch könne mit anderen Beobachtern zu einem anderen Zeitpunkt und in einem anderen Kontext annähernd identisch verlaufen, wenn man die Fragen standardisiert, ist unrealistisch. Nicht ein wiederholbarer Ablauf der Gespräche kann das Ziel sein. Sondern es geht darum, die prozessbedingten Verzerrungen im Auswahlprozess besser zu erkennen und zu reflektieren, sodass wir sie in der abschließenden Auswahlentscheidung angemessen berücksichtigen können.

32

Teil 1: Herausforderungen der internationalen Personalauswahl

1.3 Es gibt keine Rationalität – keine Auswahl ohne Bauchgefühl Das dritte Paradigma der klassischen Eignungsdiagnostik ist das der Rationalität. Es liegt im Wesen des Objektivitätsanspruchs, dass Personalauswahl rational sein muss, denn Gefühle sind per se stets subjektiv. Entsprechend findet sich in der Literatur kein Hinweis für den Umgang mit dem, was man gemeinhin »Bauchgefühl« nennt. In der Praxis sieht dies anders aus. Nach einer eigenen Umfrage im Jahr 2014, an der 49 Unternehmensvertreter teilnahmen, gaben eine überwiegende Mehrheit (70 %) an, dass sie sich in ihrer Auswahlentscheidung ungefähr zu gleichen Teilen auf ihr Gefühl und auf die in den Antworten beobachteten Kompetenzen verlassen. 17 % richten sich überwiegend an den beobachteten Kompetenzen aus, 11 % überwiegend an ihrem Gefühl. Entsprechend würden 74 % nur dann einen Kandidaten auswählen, wenn sie die erforderlichen Kompetenzen beobachten konnten und zusätzlich ihr Bauchgefühl passt (s. Abbildung 1). 19 % vertrauen im Zweifel auch dann ihrem Gefühl, selbst wenn sie die erforderlichen Kompetenzen noch nicht beobachten konnten. Nur 6 % würden auch gegen ihr Bauchgefühl entscheiden, wenn sie die erforderlichen Kompetenzen beobachten konnten. Zu ähnlichen Ergebnissen kommen neben der bereits zitierten qualitativen Studie von Kleebaur (2007) auch Nachtwei und Kollegen (2013), nach deren Studie 74 % der Befragten ihrer Intuition »viel« oder »sehr viel« Einfluss auf ihre Auswahlentscheidungen zugestehen. Ich würde einen Kandidaten auswählen 1

auch gegen mein Bauchgefühl, wenn ich die erforderlichen Kompetenzen beobachten konnte.

2

immer wenn mein Bauchgefühl passt, selbst wenn ich die erforderlichen Kompetenzen noch nicht beobachten konnte.

19 %

3

nur, wenn ich die erforderlichen Kompetenzen beobachten konnte und zusätzlich mein Bauchgefühl passt.

74 %

1 2 3

Abbildung 1: Auswahl nach Bauchgefühl. Quelle: eigene Studie

6%

33

Es gibt keine Rationalität

Zur Strukturiertheit des gewählten Verfahrens befragt, gaben nur 24 % der Befragten an, dass sie sich im Vorstellungsgespräch konsequent an einem Interviewleitfaden ausrichten. Alle anderen variieren ihre Gespräche je nach Verlauf situativ und spontan. 47 % stellen ihre Fragen eher intuitiv, nur 9 % haben die mit einer Frage gesuchten Kompetenzen im Vorfeld mit Verhaltensbeschreibungen operationalisiert. Und nur 4 % der Befragten orientieren sich in ihrer Personalauswahl an der in Kapitel 1.1 skizzierten DIN 33430, mit der die Wissenschaft eine stärkere Prozessorientierung in der Personalauswahl erreichen möchte (s. Abbildung 2). 74 % der Teilnehmenden hatten bis zu der Umfrage noch nie davon gehört (Nachtwei et al., 2013, kommen sogar auf 78 %). 57 % der Befragten unterstützen zumindest in Ansätzen den Satz (»stimme zu«, »stimme eher zu« oder »stimme etwas zu«) »Ich denke nicht, dass ein standardisiertes Verfahren in der Personalauswahl überhaupt sinnvoll ist«. Ich führe meine Personalauswahl nach der DIN 33430 durch (mehrere Antworten möglich) 1

Ich führe meine Personalauswahl relativ streng nach der DIN 33430 durch

0%

2

Ich orientiere mich in meiner Personalauswahl an der DIN 33430

4%

3

Ich würde mich gern an der DIN 33430 orientieren, aber es fehlt mir dafür die Zeit

9%

4

Ich würde mich gern an der DIN 33430 orientieren, kann aber meine Kolleginnen nicht davon überzeugen

4%

5

Ich halte die DIN 33430 für praxisfern

4%

6

Ich kenne die DIN 33430 nicht

1 2 3 4 5 6 0

74 %

50

100

Abbildung 2: Auswahl nach DIN 33430. Quelle: eigene Studie

Die von der Wissenschaft eingeforderte strikte Ausrichtung an Struktur und Rationalität entspricht also in keiner Weise dem, wie in der Praxis Auswahlgespräche geführt werden. Apelojg (2010, S. 200) hat diesen Widerspruch in seiner Dissertation zum Thema »Emotionen in der Personalauswahl« so formuliert: Hier »finden sich vor allem zwei gegensätzliche Positionen in der Personalauswahl: Einerseits die eignungsdiagnostisch geprägte Personalauswahl, die

34

Teil 1: Herausforderungen der internationalen Personalauswahl

Emotionen keinen Raum lässt und suggeriert, Personalauswahl könne frei von Emotionen und objektiv vonstattengehen. Andererseits die lebensweltliche Perspektive der Personalauswählenden, in die Emotionen in unterschiedlicher Art und Weise als fester Bestandteil von Auswahlprozessen einfließen.« Gerade in der internationalen Personalauswahl ist es wichtig, den Gegensatz in den beiden Modellen zu erkennen und sich klar für einen Ansatz zu entscheiden, welcher Emotionen und Bauchgefühle bewusst zulässt und integriert. Denn interkulturelle Begegnungen, wie wir sie in der Eingangssequenz erlebt haben, bringen in der Regel Unsicherheit, Mehrdeutigkeit und ein Gefühl der Ratlosigkeit mit sich, was sich immer auch emotional niederschlägt. Die Interviewerin im Eingangsbeispiel dürfte ebenfalls bereits Anflüge von Frustration, Genervtheit, Irritation oder Unruhe verspürt haben. Wenn wir uns diese Gefühle nicht bewusst machen und hinterfragen, woher sie kommen und was sie ausgelöst hat, schieben wir die Schuld dafür automatisch den Kandidaten zu und sagen ihnen ab.

Interkulturelle Eignungsdiagnostik

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1.4 Interkulturelle Eignungsdiagnostik – Plädoyer für eine ganzheitliche Personalauswahl Fassen wir also zusammen: In der internationalen Personalauswahl verabschieden wir uns von den klassischen eignungsdiagnostischen Paradigmen der Objektivität, der Reliabilität und der Rationalität, wie wir sie bislang kannten. Nicht, dass diese als Zielsetzung nicht mehr gelten würden. Es bleibt weiterhin der Anspruch, dass eine treffsichere Personalauswahl vom Bewerber abhängt und nicht vom Interviewer, dass sie unabhängig von Zeit und Ort die gleichen Ergebnisse hervorbringt und dass sie sich auf beobachteten Kompetenzen begründet anstatt auf bloßer Zuneigung und Sympathie. Aber wenn wir auch im Kontext von Vielfalt und Interkulturalität eine valide Auswahlentscheidung treffen möchten, dann dürfen wir nicht länger den Einfluss unserer Subjektivität, die Dynamik unserer Interaktion und die Emotionalität unserer Reaktionen im Vorstellungsgespräch vernachlässigen. Erst und nur wenn wir uns diese Wirkfaktoren eingestehen und sie in unsere Personalauswahl integrieren, kann es uns gelingen, auch dann die Richtigen zu erkennen, wenn sie anders sind als wir. Um dies zu erreichen, plädiert dieses Buch für einen ganzheitlichen Ansatz in der Personalauswahl. Die klassischen eignungsdiagnostischen Grundlagen benötigen wir weiterhin als Fundament, aber sie werden ergänzt um die Reflexion, wie die Auswählenden mit ihren Verhaltensweisen und Bewertungsmustern auch selbst dazu beitragen, welcher Eindruck und welches Urteil bei ihnen entstehen. Konkret tun sie dies auf drei Ebenen: • Durch die Art ihrer Fragen: Sind Ziel und Erwartungshorizont, mit denen eine bestimmte Frage gestellt wurde, der Bewerberin bekannt, sodass diese in die gewünschte Richtung antworten konnte? Welche autobiografischen Erinnerungen und Assoziationen werden durch die Frage bei der Kandidatin ausgelöst, und ist dies so beabsichtigt? • Durch ihren Einfluss auf die Gesprächsdynamik: Welche Aktions-ReaktionsSpiralen finden im Gespräch statt und wie sind die Auswählenden daran beteiligt? Welche Emotionen übertragen sich nonverbal gegenseitig? Welche Atmosphäre und Energie bringen die Interviewenden selbst in das Vorstellungsgespräch ein? • Durch ihre Bewertungsmuster: Aus welchen eigenen kulturellen Mustern oder persönlichen Vorerfahrungen speist sich die Interpretation des gezeigten Verhaltens? Welche persönlichen Vorlieben oder Abneigungen spricht der Kandidat bei den Auswählenden an? Würde jemand anders vielleicht zu einer ganz anderen Bewertung kommen?

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Teil 1: Herausforderungen der internationalen Personalauswahl

In Abbildung 3 wurde für eine solche integrierte Personalauswahl ein Schaubild entwickelt, nennen wir es ein Modell der »Ganzheitlichen Eignungsdiagnostik«.

Abbildung 3: Bestandteile einer ganzheitlichen Eignungsdiagnostik

In diesem Modell benötigen wir beide Zugänge zum Auswahlprozess, den objektivistischen, rationalen und messorientierten sowie den subjektivistischen, emotionalen und intuitiven Ansatz. Mit dem um Objektivität bemühten Verfahren stellen wir sicher, dass unsere Fragen auf eine fachliche und persönliche Passung zu einem im Vorfeld definierten Anforderungsprofil abzielen (durch kompetenzbasierte Fragen), dass alle Kandidatinnen einen vergleichbaren Auswahlprozess durchlaufen (durch einen strukturierten Gesprächsablauf) und dass wir uns in der Bewertung an Verhaltensbeschreibungen orientieren, mit denen wir das Vorhandensein oder Nicht-Vorhandensein der gesuchten Kompetenzen erkennen können (durch die Bewertung an Verhaltensankern). Ergänzend hinterfragen wir nun die Bedeutung unseres eigenen Beitrags zum Entstehen der Auswahlentscheidung. Wurden die Fragen so gestellt, dass die Kandidaten in die richtige Richtung nach den Antworten gesucht haben (Mehrdeutigkeit der Fragen)? Haben wir durch die Gesprächssituation ein bestimmtes Verhalten selbst ausgelöst oder verhindert (Situativität der Gesprächsdynamik)? Wurde unser Auswahlurteil durch persönliche oder kulturelle Prägungen und Vorlieben beeinflusst, die für die Zielposition gar nicht relevant sind (Subjektivität der eigenen Bewertung)? In dieser Form der ganzheitlichen Personalauswahl dürfen und müssen unsere Subjektivität und unsere Emotionalität auf den Auswahlprozess und die Auswahlentscheidung einwirken, weil wir sie uns bewusst machen. So können wir Antworten auf die in der Einleitung beschriebenen Dilemmata der inter-

Interkulturelle Eignungsdiagnostik

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nationalen Personalauswahl finden: Wir können auch mit kulturellen Prägungen umgehen, die wir noch gar nicht kennen, weil wir wissen, dass wir aktiv danach suchen müssen. Die Frage nach dem richtigen Bewertungsmaßstab – aus wessen Perspektive und nach welcher Logik ergibt die Antwort der Kandidaten einen Sinn, der sich uns zunächst nicht erschließt? – wird damit Teil des Auswahlprozesses, so wie die Überprüfung bestimmter Eigenschaften und Kompetenzen bei den Bewerbern auch. In der ganzheitlichen Personalauswahl verändert sich unsere Rolle als Interviewer dadurch von Wissenden zu Suchenden. Anstatt nur auf die Kandidaten zu schauen und deren Antworten auf der Basis unseres eigenen Kategoriensystems als mehr oder weniger passend zu beurteilen, wird auch das Hinterfragen unserer subjektiven Urteilsbildung Teil des Prozesses. Um dies leisten zu können, benötigen wir aber eine solide Wissensbasis darüber, wie unser Urteil im Vorstellungsgespräch eigentlich entsteht. Im zweiten Teil dieses Buches wird diese Grundlage entlang der oben formulierten Leitfragen gelegt: Wie wirken sich unsere Interviewfragen aus (Kapitel 2.1)? Wie funktionieren unsere Wahrnehmung und Intuition im Vorstellungsgespräch (Kapitel 2.2)? Welche Bedeutung kommt unserem Bauchgefühl im Auswahlprozess zu (Kapitel 2.3)? Welche Prozessdynamik vollzieht sich im Vorstellungsgespräch (Kapitel 2.4)? Wie spielen unterschiedliche kulturelle Ebenen der Kommunikation in das Bewerbungsgespräch hinein (Kapitel 2.5)? Diese Fragen sind zwar in jedem Vorstellungsgespräch relevant, doch in der internationalen Personalauswahl spielen sie eine besonders ausgeprägte Rolle. Denn je größer die kulturellen Unterschiede zwischen Auswählenden und Kandidaten sind, desto stärker wird unsere Urteilsbildung durch diese Unterschiede verzerrt.

Teil 2: Wie unser Urteil entsteht

2.1 Fragen machen Antworten – über die Beeinflussung der Antwort durch die Art der Fragen »I’m always asking questions – not to find ›answers‹, but to see where the questions lead. Dead ends sometimes? That’s fine. New directions? Interesting. Great insights? Over-ambitious. A glimpse here and there? Perfect.« Lesley Hazleton

»Thinking about Answers« nannten der Wirtschaftssoziologe Seymour Sudman und die Psychologen Norman Bradburn und Norbert Schwarz (1996) ihre Bestandsaufnahme zur Sozialpsychologie der Empirischen Sozialforschung und Umfragemethodik (Survey Methodology). Darin betrachten sie eine Befragung, selbst wenn sie nur anhand eines Fragebogens erfolgt, immer als eine soziale Interaktion, die entsprechend auch anhand der linguistischen und sozialen Konstruktionen einer normalen Konversation analysiert werden kann. In dieser Betrachtung liegt der Wert dieser Erkenntnisse auch für die Personalauswahl. Denn auch hier haben wir es mit einer sozialen Interaktion zu tun, in welcher die Beantwortung von Fragen bestimmten sozial- und kognitionspsychologischen Mustern folgt. Und wollen wir anhand der Antworten wirklich etwas über die Kandidaten erfahren, dann müssen wir sicherstellen, dass wir die Antworten nicht durch die Art unserer eigenen Fragen unzulänglich manipuliert haben. Die folgenden Ausführungen sind dabei weitgehend der Arbeit von Sudman, Bradburn und Schwarz (1996) entnommen. Den Sinn einer Frage beantworten Zunächst vollbringen Menschen, die eine Frage beantworten, eine komplexere Leistung, als man gemeinhin annimmt.

Fragen machen Antworten

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Die erste Aufgabe besteht darin, den wörtlichen Inhalt einer Frage zu verstehen. Dies scheint zunächst der einfachste Teil der Übung zu sein. Auch die wörtliche Bedeutung einer Frage ist aber selbst in einer Konversation unter Muttersprachlern selten eindeutig, sondern durch den Kontext der Frage definiert. So wurden die Autoren einer Umfrage unter Lehrern stutzig, als die Antwort auf die Frage »Wie viele Kinder haben Sie?« immer zwischen zwanzig und dreißig lag. Die Lehrer hatten die Frage so interpretiert, dass es um die Klassenstärke gehe. Als zweite Aufgabe müssen die Antwortenden den Sinn und die Zielrichtung der Frage interpretieren. Dabei lassen sie sich im Regelfall vom »Prinzip der Kooperation« (nach Grice, 1989) leiten, d. h., sie versuchen den Fragenden genau die Antwort zu geben, nach der diese vermeintlich gefragt haben. Zu diesem Prinzip gehören dann die Maxime der Qualität (die Frage wird wahrheitsgemäß beantwortet), die Maxime der Relevanz (die Antwort bedient das mit der Frage verbundene Ziel der Interviewenden), die Maxime der Quantität (es werden nicht mehr und nicht weniger Informationen gegeben, als gefragt wurden) sowie die Maxime der Art und Weise (die Antwort ist in angemessener Weise klar und höflich). Was genau als wahr, relevant, ausreichend und höflich angesehen wird, ist aber, wie wir schon anhand der oben gegebenen Interviewsequenzen gesehen haben, in hohem Maße kontextabhängig und kulturell geprägt. Im Vorstellungsgespräch wird das Prinzip der Kooperation zusätzlich dadurch verzerrt, dass die Befragten ja ein starkes eigenes Ziel mit ihrer Antwort verfolgen, nämlich sich so attraktiv wie möglich darzustellen. Auch diese Verzerrung ist kulturell unterschiedlich ausgeprägt, wie wir in Kapitel 3.2 noch sehen werden. Als dritte Aufgabe müssen die Antwortenden in ihrem Gedächtnis nach einer passenden Antwort auf die Frage suchen. Dies kann zum einen geschehen, indem sie vor nicht zu langer Zeit eine ähnliche Frage beantwortet haben, die sie bloß noch zu reproduzieren brauchen. Häufiger aber haben sie keine passende Antwort parat, sodass sie in diesem Moment erst eine neue Antwort erzeugen müssen. Hierfür müssen die Befragten dann zunächst alle Informationen aus ihrem Gedächtnis reproduzieren, die zu dem Sinn der Frage passen könnten. Dabei werden bevorzugt die Informationen verwendet, die am leichtesten im Gedächtnis verfügbar sind. Diese können einerseits durch die vorher gestellten Fragen oder durch eine bestimmte Gesprächsatmosphäre stimuliert werden. Zum Beispiel wird durch die Einleitung zu einer Frage ein bestimmtes Bild oder eine bestimmte Stimmung ausgelöst. Aber auch durch ein Bild an der Wand, durch einen gerade gelesenen Artikel oder durch ein im Hintergrund laufendes Radio können bestimmte Assoziationen bevorzugt ausgelöst werden. Oder es handelt

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Teil 2: Wie unser Urteil entsteht

sich um bestimmte dauerhaft mit der Frage verbundene Grundhaltungen und Assoziationen. Auch eine »sich selbst erzeugende Validität« im Vorstellungsgespräch ist in diesem Sinne möglich. Aus der empirischen Sozialforschung wissen wir, dass z. B. Personen, die an einer Befragung zum Kauf eines neuen Autos teilgenommen haben, mit einer um 37 % gestiegenen Wahrscheinlichkeit (3,3 % mit Befragung gegenüber 2,4 % ohne Befragung) in den nächsten sechs Monaten tatsächlich ein neues Auto kaufen. Entsprechend können wir davon ausgehen, dass sowohl Auswählende wie Kandidaten zum Beispiel »Empathiefähigkeit« bei einer Position für besonders wichtig halten (und sich auch empathischer verhalten), wenn sie im Vorstellungsgespräch viel darüber gesprochen haben. Es wäre spannend, hierzu einmal praktische Experimente im Auswahlprozess durchzuführen. Als vierte Aufgabe müssen die Befragten ihre Antwort an das Format der Befragungssituation anpassen. Das können in einem Fragebogen bestimmte vorgegebene Antwortalternativen sein, welche wiederum regelmäßig Ankeroder Bezugseffekte entfalten. So wurde z. B. der bisherige Erfolg im Leben auf einer Skala von 0 bis 10 von 34 % der Befragten mit einem Wert zwischen 0 und 5 angegeben. Auf einer Skala von -5 bis +5 gaben aber nur 13 % einen Wert zwischen -5 und 0 an. Scheinbar wurde ein niedriger positiver Wert »nur« mit dem Ausbleiben von Erfolg assoziiert, ein niedriger negativer Wert dagegen mit dem Scheitern im Leben. Zuletzt werden die Antworten von den Befragten in Bezug auf ihre soziale Erwünschtheit »editiert«, d. h. an die vermeintliche Erwartungshaltung der Interviewenden angepasst. Dieser Aspekt spielt im Vorstellungsgespräch eine besondere Rolle, da die Befragten hier – mit steigender Bedeutung in hierarchisch strukturierten Kulturräumen – in besonderem Maße versuchen, den Interviewenden mit ihren Antworten zu gefallen. Antwort-Unterschiede aufgrund der Struktur unseres biografischen Gedächtnisses In diesem Prozess beeinflussen die Struktur und Funktionsweise unseres biografischen Gedächtnisses, welche Erinnerungen – und damit welche Antworten – durch unsere Fragen im Vorstellungsgespräch ausgelöst werden. Reihenfolge-Effekte

So ergeben sich beispielsweise stets Verzerrungen durch die Reihenfolge der Fragen. Je weniger gefestigt die Ansichten zu einem Thema dabei sind, umso

Fragen machen Antworten

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größer die Verzerrungen durch die Position der Frage. Aufgrund der unterschiedlichen Aufmerksamkeitsverteilung bekommen bei einer schriftlichen Befragung die zuerst genannten Werte überproportionale Zustimmung (sog. »primacy effects«), bei einer mündlichen Befragung sind es die zuletzt genannten (»recency effects«). So bekam in einer mündlichen Befragung durch das Allensbach-Institut zur Frage, ob die Ölvorräte noch 15 Jahre oder noch 25 Jahre halten werden, jeweils die als zweites genannte Zahl eine Zustimmung von rund zwei Drittel. Da die Befragten die Antwort nicht wussten, antworteten sie, was sie glaubten, und das wurde durch die Reihenfolge der Antwortoptionen manipuliert. Gedächtnisstrukturen

Wird eine bestimmte biografische Information im Gespräch abgefragt – was ja im Vorstellungsgespräch regelmäßig passiert – so bestimmt die Struktur unseres Gedächtnisses, welches potenziell passende Ereignis uns dazu einfällt. Anders, als das biografische Frageformat suggeriert, reproduziert eine Frage bei den Befragten dabei nicht eine originale, sondern eine erinnerte Erfahrung (Ross u. Wan, 2010). Und die Form unserer Erinnerung ist nicht nur individuell, sondern auch kulturell unterschiedlich geprägt. In der westlichen Welt denken wir, wie in Teil 3 dieses Buches ausgeführt wird, stark in linearen, abgegrenzten, deduktiv abgeleiteten, individualistischen und monokausalen Strukturen. Das heißt, auch die Erinnerung an Ereignisse, wie z. B. ein bestimmtes Ergebnis im Beruf, wird entsprechend in Kategorien wie »Ich«, »Arbeit« und »Erfolg« abgelegt und vermutlich übergeordneten Attributionen wie »Leistung«, »Ehrgeiz«, »Fähigkeiten« oder auch »Spaß« und »Glück« kausal zugeordnet. In einem asiatischen Denksystem wird das gleiche Ergebnis im Beruf in der Regel deutlich diffuser, vernetzter und zirkulärer mit Kategorien wie »Wir«, »Team«, »Freunde« und »gegenseitiger Gefallen« oder auch mit »Familie«, »Zufall«, »Lernen« und »Gesicht« verknüpft (Ross u. Wan, 2010). Stellen wir nun eine biografische Frage wie »Auf welchen beruflichen Erfolg in Ihrer Karriere sind Sie besonders stolz?«, dann werden einer chinesischen oder indischen Kandidatin vermutlich nicht so schnell ihre Leistungen und Erfolge einfallen, sondern sie wird eventuell zunächst an eine würdigende Teamsitzung mit ihrem stolzen Abteilungsleiter zurückdenken oder an den Anruf am selben Abend bei ihrer Mutter. Eine dann gegebenenfalls folgende umkreisende und diffuse Antwort hat so nicht notwendigerweise damit zu tun, dass die Kandidatin keine beruflichen Erfolge vorzuweisen hätte oder nicht stolz darauf wäre. Ihr fallen bloß die zu unserem Denkmuster passenden Situationen nicht ein.

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Teil 2: Wie unser Urteil entsteht

»Retrieval Cues«

Für die Aktivierung der beabsichtigten Sequenzen im autobiografischen Gedächtnis bedarf es also eines zum Gedächtnis des Kandidaten passenden Auslösers, eines sogenannten »Retrieval Cues«. In der empirischen Sozialforschung wird hier zwischen drei Arten unterschieden, wie wir eine bestimmte Erinnerung auslösen: Die »freie Aktivierung« (free recall), die »ausgelöste Aktivierung« (cued recall) und die »Wiedererkennung« (recognition). Die »freie Aktivierung« macht dabei keine Vorgaben, wie z. B. die Frage »Wie haben Sie zuletzt ein wichtiges Ziel erreicht?« Die »ausgelöste Aktivierung« stellt ebenfalls eine offene Frage, bereitet die Erinnerung aber durch bestimmte Hilfestellungen vor. Ein Beispiel wäre die Frage: »Die meisten Menschen setzen sich Ziele, wie z. B. im Studium eine neue Fremdsprache zu lernen, eine Gehaltssteigerung durchzusetzen oder 5 kg abzunehmen. Welche Ziele haben Sie sich zuletzt gesetzt und wie haben Sie diese erreicht?« Ein Beispiel für ein auf Wiedererkennung setzendes Frageformat wäre schließlich eine eher geschlossene Form wie: »Mich interessiert, was Sie tun, um ein Ziel zu erreichen, z. B. diese Stelle hier zu bekommen. Machen Sie sich vorher einen Plan, wie Sie dieses Ziel erreichen werden? Besprechen Sie das Ziel viel mit Ihren Freunden? Wie viel Zeit haben Sie darauf verwandt, sich auf dieses Vorstellungsgespräch vorzubereiten?« Als spezifisch für das Vorstellungsgespräch lässt sich dabei zur »ausgelösten Aktivierung« als vierte Kategorie noch die »eigenbiografische Aktivierung« ergänzen, wenn die Interviewenden zu einer aus der Biografie des Kandidaten vorgestellten Szene Nachfragen stellen wie »Wie haben Sie das erreicht?«, »Wie haben Sie sich dabei gefühlt?«, »Warum haben Sie sich dafür entschieden?« o. ä. Wie zu erwarten, ist dabei die Erinnerung passender Ereignisse bei der »freien Aktivierung« am schwierigsten, gefolgt von der »ausgelösten Aktivierung«. Am schnellsten an die gesuchten Erinnerungen gelangen wir, nicht überraschend, durch die Fragemethode der »Wiederkennung«. Wollen wir trotzdem die »freie Aktivierung« als Frageformat wählen, um der Bewerberin maximalen Freiraum für die Beantwortung der Frage zu geben und sie nicht zu beeinflussen, dann sollten wir ihr möglichst viel Zeit einräumen. »Je herausfordernder das Aufspüren der gesuchten Informationen, desto länger dauert es« (Sudman et al., S. 178; eigene Übers.). Wir können also die Qualität der im Interview generierten biografischen Informationen erhöhen, wenn wir den Kandidaten ausreichend Zeit einräumen und das Gespräch insgesamt entschleunigen.

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Auswirkungen verschiedener Frageformate in der internationalen Personalauswahl Schauen wir uns nun vier (etwas gekürzte) internationale Interviewsequenzen zum Thema »Teamfähigkeit« an, um zu untersuchen, welche Frageformate auf der Grundlage der oben gemachten Darstellungen in der internationalen Personalauswahl am besten funktionieren: Teamfähigkeit I Er (aus Deutschland):  Sie würden in ihrer nächsten Position in einem großen Team arbeiten, daher würde ich gerne wissen, ob Sie ein Teamplayer sind. Können Sie mir eine Situation beschreiben, in der Sie sich wie ein echter Teamplayer verhalten haben? Sie (aus Indonesien, arbeitet seit drei Jahren als Event-Managerin in Deutschland):  Wie ein echter Teamplayer? O. K., ja, ich mag es, mit Menschen zu interagieren, neue Menschen kennenzulernen. Ich mag es zu ›networken‹, sodass alle davon profitieren. In meinem aktuellen Team übernehme ich viele verschiedene Rollen, je nachdem, wo ich gebraucht werde. Also wenn ich in einem großen Team arbeiten muss, dann wird es keine Probleme geben, denke ich. Teamfähigkeit II Sie (aus Deutschland):  Was bedeutet gute Teamarbeit für Sie? Er (erfahrener technischer Projektleiter aus Nigeria, studiert seit zwei Jahren in Deutschland):  Gute Teamarbeit, das sind für mich Menschen, die sich selbst verstehen, die ihre Aufgabe verstehen, die wissen, was sie brauchen, um die Aufgabe zu erledigen. Die ein effizientes Ergebnis, ein gutes Ergebnis erreichen und die mit der Zeit gut umgehen, um Termine einzuhalten, ja. Und die ihre Stärken und Schwächen gegenseitig kennen, das auch, ja! Teamfähigkeit III Sie (aus Deutschland):  In Konflikten gibt es ja unterschiedliche Typen. Solche, die dem Konflikt aus dem Weg gehen, immer freundlich sind und lieber um des Friedens willen nachgeben, und solche, die keine Diskussion scheuen, um zu einer Entscheidung zu kommen. Wie würden Sie sich selber verorten, wenn es um Konflikte geht, auf einer Skala von 1 bis 10, 1 ist sehr harmonieorientiert, 10 ist sehr konfliktfreudig? Er (erfahrener Vertriebsingenieur für Medizintechnik aus Syrien, hat lange in Dubai gearbeitet):  (Pause.) Puh, mmh, vielleicht nehme ich die 6. (Nachfrage: Warum?) Weil ich, wenn es um Harmonie geht, immer für Harmonie bin. Aber wenn es, na

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ja, ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll, also wenn es darum geht, streng zu sein, dann, also dann neige ich mehr zu der konfliktfreudigen Seite. Sie:  Ich fürchte, ich habe Sie noch nicht verstanden, sorry! Er:  Ja, O. K., also, vielleicht könnten Sie Ihre Frage noch einmal wiederholen? Teamfähigkeit IV Sie (aus Deutschland):  Stellen Sie sich vor, Sie bekommen den Job und haben bald eine Idee, wie man die Prozesse in der Bearbeitung von Kundenanfragen wesentlich besser, kundenorientierter und effizienter bearbeiten könnte. Allerdings würde dies erhebliche Veränderungen und zunächst auch Mehrbelastungen der Kollegen in der Nachbarabteilung mit sich bringen. Wie würden Sie vorgehen? Er (aus China):  Ja, das ist ein sehr lebendiges Szenario, das Sie da vorgestellt haben. Etwas Ähnliches ist mir in der Tat gerade passiert. Ich würde, wenn ich das Glück hätte, diese Stelle zu bekommen, zunächst herausstellen, welche Prioritäten wir verfolgen. Und es ist wichtig, zu betonen, dass wir mit den neuen Prozessen als Team gemeinsame Ziele verfolgen. Sie:  Und wenn Ihr Kollege aus der Nachbarabteilung aber betont, dass seine Prozesse ja bislang auch sehr gut funktioniert haben? Er:  Nun ja, ich würde auch nach Wegen suchen, wie ich ihn dafür entschädigen kann auf andere Art und Weise. Also, wenn es in irgendwie meiner Verantwortung wäre, wenn ich ihm wirklich auch etwas versprechen kann, dann kann ich das auch tun.

In welcher dieser Sequenzen konnten Sie, als Leserin und Leser dieses Buches, am besten ein Bild über die Teamfähigkeit der Kandidaten gewinnen? Betrachten wir dafür zunächst das jeweils gewählte Frageformat anhand der in Abbildung 4 dargestellten Kategorisierungen. Beispiele für alle Frageformate sowie eine kurze Darstellung ihrer jeweiligen Vor- und Nachteile finden sich in Tabelle 2. Es handelt sich in dieser Schematisierung um die vier in der Eignungsdiagnostik unterschiedenen Formate: 1) Haltungs- u. Meinungsfragen, 2) Sze­ nariobasierte Fragen, 3) Persönlichkeitsorientierte Fragen sowie 4) Biografische Fragen. Die Biografischen Fragen sind dabei anhand der oben dargestellten Erkenntnisse der empirischen Sozialforschung noch unterteilt nach der Qualität ihrer »Retrieval Cues« in vier Kategorien: a) freie Aktivierung, b) ausgelöste Aktivierung, c) eigenbiografische Aktivierung sowie d) Aktivierung durch Wiedererkennung. Die Anordnung der Frageformate im Schaubild erfolgt entlang den beiden Achsen x-Achse = Art der Führung (zwischen »nahe Führung« und »weite

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Fragen machen Antworten

Abbildung 4: Verschiedene Frageformate im Vorstellungsgespräch anhand der Kategorie »Fokus« und »Art der Führung«

Führung«) sowie y-Achse = Fokus der Frage (zwischen »persönlich« und »sachlich«). Bei einer »persönlichen« Frage ist der Fokus eher die Person des Kandidaten in Abgrenzung zur Aufgabe oder einem abstrakten Thema. Bei einer »nah geführten« Frage wird der Kandidat eng instruiert, d. h., es gibt wenig Interpretations- und Entscheidungsspielräume für ihn auf dem Weg zur Antwort. Tabelle 2: Verschiedene Frageformate im Vorstellungsgespräch von »nah« nach »weit geführt« Frageformat (von nah nach weit geführt)

Beispiel

Vorteile

Nachteile

Wiedererkennungsaktivierung (biografisch)

–– In einer Bonusvereinbarung, wählen Sie individuelle oder Teamziele? –– Wenn Sie sich zu Unrecht kritisiert fühlen, sprechen Sie dies an?

–– Erinnerungen leicht reproduzierbar –– gut standardisierbar

–– hohe Abhängigkeit von Biografie der Kandidaten –– sehr enge Frage, wenig Spielraum

Meinungs-/ Einstellungsfragen

–– Was halten Sie von der Idee, dass Mitarbeiter in ihren Teams ihren eigenen Bonus verteilen sollen? –– Wie stehen Sie zur Atomkraft?

–– aktiviert Haltungen und strategisches Denken –– konkret greifbar –– gut standardisierbar

–– erfasst keine sozialen Kompetenzen –– eher sachorientiert, unpersönliches Format

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Teil 2: Wie unser Urteil entsteht

Frageformat (von nah nach weit geführt)

Beispiel

Vorteile

Nachteile

Eigenbiografische Aktivierung (biografisch)

–– Warum möchten Sie Ihren aktuellen Arbeitgeber verlassen? –– Als Sie den Umsatz um 80 % steigerten, wie haben Sie das erreicht?

–– hohes Ego-Involvement –– Ausweichen schwierig –– für Kandidaten leicht zu bewältigen

–– hohe Abhängigkeit von Biografie der Kandidaten –– Auswirkung unterschiedlicher Denkstile möglich

Szenariobasierte Fragen

–– Sie müssen Ihre Preise um 20 % anheben, wie gehen Sie vor? –– Ein sehr guter Mitarbeiter mag Sie nicht und zeigt das auch, was tun Sie?

–– Mehrdeutigkeit und Ego-Involvement hoch –– Ausweichen schwierig –– gut standardisierbar

–– eher unpersönlich –– manchmal etwas komplex strukturiert –– nur hypothetisch

Ausgelöste Aktivierung (biografisch)

–– In jedem Team gibt es ja auch mal Konflikte. Welche Konflikte gab es in Ihren Teams, und wie sind Sie als Führungskraft damit umgegangen?

–– lässt Freiraum für Schwerpunkte der Kandidaten –– mit Erinnerungshilfe

–– hohe Abhängigkeit von Biografie der Kandidaten –– Auswirkung unterschiedlicher Denkstile hoch

Persönlichkeitsorientierte Fragen

–– Was bedeutet Erfolg für Sie? –– Welche Stärken zeichnen Sie aus? –– Woran erkennt man es, wenn Sie ärgerlich sind?

–– aktiviert Haltungen und biografische Erfahrungen –– lässt viel Spielraum

–– Intention der Frage oft beiden Seiten unklar –– Auswirkung unterschiedlicher Denkstile extrem hoch

Freie Aktivierung (biografisch)

–– Schildern Sie mir ein Beispiel, wie Sie zuletzt ein Ziel erreicht haben? –– Wann wurden Sie mal zu Unrecht kritisiert, und wie haben Sie reagiert?

–– fragt frei und assoziativ, dadurch Potenzial, ganz Unerwartetes zu sehen

–– hohe Abhängigkeit von Biografie der Kandidaten –– Auswirkung unterschiedlicher Denkstile extrem hoch

Fragen machen Antworten

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Schauen wir auf die vier Interviewsequenzen, dann haben wir es in Sequenz 1 (Indonesien) mit einer biografischen Frage in freier Aktivierung zu tun (Beispiel, »Wann haben Sie sich als Teamplayer verhalten?«), Sequenz 2 (Nigeria) beginnt mit einer Meinungs- und Einstellungsfrage (»Was bedeutet gute Teamarbeit für Sie?«). Sequenz 3 (Syrien) beginnt mit einer persönlichkeitsorientierten Frage (»Was für ein Konflikttyp sind Sie?«), Sequenz 4 (China) ist szenariobasiert (Verbesserungsvorschlag mit Mehrarbeit für Nachbarabteilung). In welcher der Sequenzen haben wir nun verwertbare Informationen über die Kandidaten gewinnen können? Ziehen wir als Grundlage für unsere Bewertung folgende beobachtbaren Verhaltensbeschreibungen von Teamfähigkeit heran: • hört gut zu; • gibt anderen das Gefühl, ernst genommen zu werden; • kann sich gut in andere hineinversetzen; • bereichert andere durch ein gewinnendes Auftreten; • spürt die Bedürfnisse anderer auch nonverbal (ist empathisch); • findet in Konflikten kreative Lösungen. Sequenz 1 (Indonesien), biografisch in freier Aktivierung: Die Kandidatin gibt kein eigenes Beispiel, sondern versucht, sich in Bezug auf ihre Teamfähigkeit insgesamt in einem möglichst guten Licht darzustellen. Der von ihr gelegte Schwerpunkt ist dabei ihre Kontaktfreudigkeit, ihre Flexibilität und ihre Problemlosigkeit im Team. Die obigen Verhaltensbeschreibungen konnten nicht beobachtet werden. Sequenz 2 (Nigeria), Meinungs- und Einstellungsfrage: Der Kandidat zeigt ein interessantes Bild, was er sich unter Teamarbeit vorstellt. Er sieht hierzu ein Team, das sich selbst und seine Aufgaben gut kennt und die erwarteten Ergebnisse erreicht. Damit demonstriert er eigenes Denken und sowohl eine gewisse soziale wie auch eine Zielorientierung. Die obigen Verhaltensbeschreibungen konnten aber nicht beobachtet werden. Sequenz 3 (Syrien), persönlichkeitsorientierte Frage: Der Kandidat versteht zunächst das Ziel der Frage nicht und gibt darum eine in seinen Augen möglichst unverfängliche Antwort, um keine Angriffsfläche zu bieten. Als die Interviewerin ihm rückmeldet, dass sie seine Antwort nicht verstanden hat, gibt er diese Strategie implizit zu und bittet sie, ihre Frage zu wiederholen. Die obigen Verhaltensbeschreibungen konnten entsprechend noch nicht beobachtet werden. Sequenz 4 (China), Szenario: Der Kandidat benennt einen Weg der Lösungsfindung mit der Nachbarabteilung, den er in diesem Falle einschlagen würde. Er schlägt vor, das gemeinsame Ziel herauszustellen und gegebenenfalls dem Kollegen für seine Unterstützung auch eine Gegenleistung (»compensation«) anzubieten.

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Teil 2: Wie unser Urteil entsteht

Unter Umständen klingt der Begriff der »Kompensation« dabei für einen westlichen Beobachter ein wenig befremdlich, so als ob er sich die Unterstützung des Kollegen erkaufen wolle. Diese Interpretation – falls Sie als Leser diesen Gedanken überhaupt hatten – wäre aber von einer westlich geprägten Sach- und Aufgabenorientierung beeinflusst, welche suggeriert, eine professionelle Zusammenarbeit müsse um der Sache willen erfolgen, nicht als Gefälligkeit. Das gegenseitige Geben und Nehmen, auch als persönliches Gewähren von Vorteilen und Zugängen, wird in einer kollektiver strukturierten Kultur wie in China (dort »renqing« genannt), aber auch im beruflichen Kontext als normal und nicht verwerflich angesehen (mehr dazu in Kapitel 3.2). Der Kandidat zeigt somit, dass er sich in die Position seines Gegenübers hineinversetzen kann, und er findet einen Lösungsweg. Wir halten also fest: Die verwertbarsten Informationen zur Teamfähigkeit hat die szenariobasierte Frage geliefert. Die Meinungs- und Einstellungsfrage hat interessante Informationen hervorgebracht, aber nicht zu der gewünschten Kompetenz. Die freie biografische und die persönlichkeitsorientierten Fragen haben kaum relevante Informationen zutage gefördert. Im Gegenteil steht zu befürchten, dass die Interviewenden in diesen drei Sequenzen einen unbewussten Ärger darüber verspüren, dass die Kandidaten ihre Frage nicht beantworten. Sie werden den Bewerbern darum auch in Bezug auf ihre Teamfähigkeit vermutlich eher schlechte Bewertungen geben, obgleich sie objektiv gar keine Informationen über deren Teamfähigkeit gewonnen haben, auch keine negativen. Nun sind diese vier Sequenzen natürlich willkürlich herausgegriffen. Selbstverständlich sind auch Beispiele denkbar, in denen freie biografische oder persönlichkeitsorientierte Fragen in einem interkulturellen Kontext gut funktionieren. Solche Beispiele kommen allerdings in den für dieses Buch analysierten interkulturellen Vorstellungsgesprächen – und es handelt sich um insgesamt sechs Stunden Material mit sehr gut ausgebildeten Kandidaten, die bereits über viel internationale Erfahrung verfügen – kaum vor. Es deutet also viel darauf hin, dass dieser Fragetyp der weit geführten Interviewfragen empfindlicher ist für kulturell verursachte Verzerrungen als eine enge eigenbiografische Aktivierung oder ein szenariobasiertes Frageformat. »Weit geführte« Fragen als Einladung für kulturell bedingte Missverständnisse

Die Erklärung hierfür liegt in der oben skizzierten unterschiedlichen Struktur unseres autobiografischen Gedächtnisses sowie in den weiten Interpretationsspielräumen, welche diese Fragen bieten. Machen wir uns zunächst klar, dass eine persönlichkeitsorientierte Frage in ihrer Aktivierung des autobiografischen Gedächtnisses genauso funktioniert

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wie eine freie biografische Frage. Stellen wir uns die beiden Fragen vor a) »Sind Sie ein durchsetzungsfähiger Mensch?« (persönlichkeitsorientiert) oder b) »Bitte schildern Sie mir eine Situation, wo Sie Ihre Interessen durchgesetzt haben«. In beiden Fällen müssen die Befragten zunächst in einem unsichtbaren Zwischenschritt für sich definieren, was »sich durchsetzen« eigentlich bedeutet. Dann müssen sie ihr Gedächtnis aus dem Stehgreif nach passenden Situationen durchsuchen, in denen sie dieses Verhalten gezeigt hat. Der Unterschied zwischen beiden Fragen liegt allein darin, dass eine persönlichkeitsorientierte Frage suggeriert, die Eigenschaften der Kandidaten seien unveränderlich und situationsunabhängig, die Kandidaten seien immer so. Beide Fragetypen liegen in Abbildung 4 entsprechend am rechten Ende der Skala, da sie die Bewerber »weit führen«, mit viel Spielraum a) für unterschiedliche Definitionen der gefragten Kompetenz oder Eigenschaft, b) für anders strukturierte autobiografische Erinnerungssysteme sowie c) für anders strukturierte Muster bei der Bewertung der Antwort. Die Gefahr ist entsprechend groß, dass die Bewerber etwas anderes unter der Kompetenz verstehen oder die erfragte Kompetenz vielleicht sogar negativ bewerten (wie z. B. Konfliktfähigkeit oder Direktheit). Zudem kann es leicht passieren, dass die Bewerber zu dem gegebenen »Retrieval Cue« einfach gar keine Situation einfällt, die sie für passend halten (wie in der Eingangssequenz mit dem chinesischen Kandidaten gesehen). Und zuletzt ist es denkbar, dass sie zwar eine Situation benennen, dass diese aber von den Auswählenden anders bewertet wird als von ihr selbst. »Weit geführte« Fragen als Ausdruck deduktiver, linearer Denkstile

Und es gibt noch eine Erklärung, warum die Gefahr von Missverständnissen in der interkulturellen Personalauswahl bei weit geführten Fragen wächst. In Kapitel 3.3 wird genauer hergeleitet, dass in der westlich geprägten Welt ein eher individualistisches, linear-deduktives und linear-kausales Denkmuster üblich ist. Dieses Denkmuster finden wir auch in den weit geführten Interviewfragen wieder: Die Interviewenden stellen eine relativ abstrakte Frage nach einer Eigenschaft oder einem irgendwann einmal gezeigten Verhalten und sie erwarten nun eine klar strukturierte, persönliche Eigenanalyse nach dem Muster: 1. Auf welche Kompetenz zielt die Intention der Frage? 2. Wie drückt sich diese Kompetenz im Verhalten aus? 3. Inwiefern ist die Kompetenz für die vorliegende Position relevant? 4. Habe ich die gesuchte Kompetenz bereits gezeigt? 5. Welches passende Beispiel kann ich hierfür benennen?

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Teil 2: Wie unser Urteil entsteht

In zirkulären, induktiven (vom Einzelfall ausgehenden) und vernetzten Denksystemen wie in Asien hängen Ursache und Wirkung aber viel enger zusammen, bedingen sich gegenseitig. Schule und Erziehung sind darauf ausgerichtet, Zusammenhänge herzustellen und Wechselwirkungen zu erkennen. Die Welt besteht nicht aus klar abgegrenzten Einzelteilen, sondern aus einem diffusen und interdependenten Ganzen. Die Vorstellung, Eigenschaften eines Menschen unabhängig von ihrem Kontext gedanklich in seine Einzelteile zu zerlegen, ist diesem Denken eher fremd. Ein japanischer Mitarbeiter in einer Studie des Kulturforschers Moosmüller (1997, S. 121) nennt diese offene Art zu fragen »Weitwinkelfragen«: »Japanische Fragen sind enger. […] Wenn die Expatriates fragen, dann […] weiß ich nie, was die Frage ist.« Entsprechend fällt eine solche analytische, deduktive und lineare Gedankenpyramide den Bewerbern aus solchen Denksystemen deutlich schwerer. Wie unsere Fragen die Antworten beeinflussen Wie wir gesehen haben, beeinflussen wir die Antworten im Vorstellungsgespräch auf vielfältige Weise durch die Art, wie wir eine Frage stellen. Sowohl bei der Interpretation der Frage als auch bei der Auswahl und Editierung der Antwort spielt die Vermutung der Kandidaten, worauf die Interviewer wohl hinauswollen, eine maßgebliche Rolle. Aber auch der bisherige Verlauf des Gesprächs sowie Reihenfolge-Effekte beeinflussen stark, welche Antworten den Befragten zuerst in den Sinn kommen und welche als relevant bewertet werden. Nicht zuletzt ist die Struktur unseres autobiografischen Gedächtnisses individuell und kulturell unterschiedlich geprägt. In einer sehr freien Aktivierung unserer Erinnerungen, wie z. B. in einer persönlichkeitsorientierten Frage, laufen wir dadurch Gefahr, ganz unerwartete oder unpassende Assoziationen auszulösen. In jedem dieser Aspekte ist die Gefahr einer Verzerrung des Gesprächsverlaufes umso höher, je größer die kulturellen Unterschiede zwischen Auswählenden und Bewerbern sind. Da aber ein Vorstellungsgespräch keine normale Gesprächssituation darstellt, werden diese Missverständnisse selten erkannt oder gar benannt. Sondern sie lösen stattdessen auf beiden Seiten Verunsicherung aus, die sich bis zur Verärgerung und Ablehnung steigern kann. In der Regel werden die nicht passenden Antworten dann den Bewerbern zur Last gelegt, welche die gesuchten Kompetenzen eben scheinbar nicht gezeigt haben. Dabei handelt es sich in Wirklichkeit nur um ein Missverständnis. Es empfiehlt sich aus diesen Gründen, in internationalen Vorstellungsgesprächen auf sehr weit gefasste biografische Fragen in freier Aktivierung (»Schildern Sie mir einmal eine Situation, wo Sie …«) zu verzichten. Eine engere

Fragen machen Antworten

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eigenbiografische Führung anhand des Lebenslaufs oder auch szenariobasierte Fragen lassen weniger Raum für Fehlinterpretationen und passen zudem besser in eine induktive und vernetzte Denkstruktur, wie sie in östlicheren Kulturen stärker ausgeprägt ist. Eine ausführliche Erörterung und Beispiele für alternative Frageformate als Antwort auf diese Erkenntnisse finden sich im abschließenden vierten Teil dieses Buches. Wenden wir uns nun der Frage zu, wie unsere Wahrnehmung und unsere Intuition aus den im Vorstellungsgespräch generierten Informationen eine Auswahlentscheidung formen.

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Teil 2: Wie unser Urteil entsteht

2.2 Illusionen der Wahrheit – wie unsere Intuition funktioniert »Intuition is reason in a hurry.« Holbrook Jackson

Gemäß der in Kapitel 1.3 bereits zitierten Studie (2013) von Jens Nachtwei und seinen Kolleginnen an der Humboldt Universität Berlin gaben 74 % der befragten 187 Personalmanager mit durchschnittlich fast elf Jahren Erfahrung in ihrem Beruf an, dass ihre Intuition »viel« oder »sehr viel« Einfluss bei der Personalauswahl habe. Entsprechend wichtig ist es, wenn wir den eigenen Beitrag zu unserer Auswahlentscheidung besser verstehen und integrieren möchten, Ursprung, Funktionsweise und Fehleranfälligkeit unserer Intuition genauer zu betrachten. Daniel Kahneman, Professor für Psychologie an der Princeton University und seit 2002 Wirtschaftsnobelpreisträger, hat dazu in seinem 2011 (2012 auf Deutsch) erschienenen Buch »Schnelles Denken – Langsames Denken« einige sehr aufschlussreiche Studien und Experimente zusammengetragen, auf denen das folgende Kapitel weitgehend basiert. System 1 und System 2: Wie unsere Intuition Entscheidungen vorbereitet und vorbestimmt Die vermutlich wichtigste konzeptionelle Grundlage der Arbeit von Kahneman ist die Erforschung zweier Denksysteme, die er der Einfachheit halber »System 1« und »System 2« nennt. »System 1« bezeichnet dabei das gemeinhin »intuitive Denken« genannte, vorbewusste Filtern, Bewerten und Entscheiden auf der Basis von Vorerfahrungen. Der Psychologe Gigerenzer (2008, S. 57) spricht hier von unseren »Bauchentscheidungen«, die wir auf der Basis von »Faustregeln« treffen, die uns unser »evolviertes Gehirn« zur Verfügung stellt. System 1 arbeitet dabei nach Kahneman »automatisch und schnell, weitgehend mühelos und ohne willentliche Steuerung« (2012, S. 33). System 2 dagegen bezeichnet unseren bewussten Entscheidungsapparat. System 2 operiert mit anstrengenden und Konzentration erfordernden mentalen Aktivitäten wie Berechnungen, Logik und Analyse. Dabei scannt System 1 konstant und ohne, dass man es abschalten könnte, alle relevanten Parameter in der Umgebung in erstaunlicher Menge und Komplexität und es macht System 2 Vorschläge für die Bewertungen und Schlussfolgerungen, die daraus abzuleiten sind. System 2 übernimmt diese Vorschläge in der Regel, es sei denn besondere Umstände (eine hohe Relevanz, Unerwartetes, Sorgen o. Ä.) veranlassen es zu einer genaueren Überprüfung. Kahneman formuliert das so (2012, S. 38):

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»Der größte Teil dessen, was Sie (Ihr System 2) denken und tun, geht aus System 1 hervor, aber System 2 übernimmt, sobald es schwierig wird, und es hat normalerweise das letzte Wort. Die Arbeitsteilung zwischen System 1 und System 2 ist höchst effizient: Sie minimiert den Aufwand und optimiert die Leistung.« Abbildung 5 veranschaulicht diese Arbeitsteilung.

Abbildung 5: Die Arbeitsteilung unseres »Systems 1« und »2«. Quelle: eigene Darstellung nach Kahnemann, 2012, S. 31 ff.

Doch aufgrund der schieren Menge an zu verarbeitenden Informationen wird die Leistungsfähigkeit von System 1 durch systematische kognitive Verzerrungen beeinträchtigt, ohne dass System 2 es merkt. Die folgenden Forschungsergebnisse beschreiben diese Verzerrungen: • System 1 sucht nach Kohärenz und es bewertet nur das, was es wahrnimmt, nicht das, was fehlt (Kahneman nennt dies »WYSIATI« für »What you see is all there is«). Es ist dabei »völlig unempfindlich für die Qualität und Quantität der Informationen, aus denen seine Eindrücke und Intuitionen hervorgehen« (Kahnemann, 2012, S. 113). Ähnlich formuliert es Gigerenzer (2008, S. 48): »Gute Intuitionen ignorieren Informationen. Bauchgefühle erwachsen aus Faustregeln – etwa einem erkannten Namen oder einem konstanten Blickwinkel – und lassen den Rest unbeachtet.« Das heißt, wir beginnen uns von der ersten Wahrnehmung an assoziative Bilder zu machen und stimmige, kohärente Urteile über die Wirklichkeit zu konstruieren, selbst wenn die Datenlage dies eigentlich noch gar nicht zulässt.

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Teil 2: Wie unser Urteil entsteht

• System 1 wird beeinflusst durch sogenannte »Bahnungseffekte« (Priming), sodass wir z. B. durch vorheriges Lesen des Wortes »Essen« das englische Wortfragment »so_p« eher mit »soup« (Suppe) als mit »soap« (Seife) ergänzen. In einer Studie in Arizona wurden ähnliche Bahnungs-Effekte dadurch nachgewiesen, dass in einer Bürgerabstimmung die Unterstützung für einen Vorschlag zur Erhöhung von Bildungsausgaben überproportional anstieg, wenn das Wahllokal in einer Schule untergebracht war. Und Bahnung ist nicht auf Konzepte und Wörter beschränkt. So bewerteten Versuchsteilnehmer, die wegen eines vermeintlichen Audio-Kopfhörertests nicken sollten, die ihnen vorgespielten Radiokommentare als überzeugender im Vergleich zu Probanden, die den Kopf schütteln sollten. Oder Entscheidungen über die Zulassung zu einer Universität auf der Basis von Bewerbungsunterlagen fielen an sonnigen Tagen um 11,9 % positiver aus als an wolkenverhangenen Tagen (Simonsohn, 2007). In einem anderen Experiment stellten auf das Thema »Geld« gebahnte (geprimte) Probanden die Stühle für ein bevorstehendes Kennenlerngespräch 38 cm weiter auseinander als eine Vergleichsgruppe, d. h., sie zeigten ein größeres Bedürfnis nach individueller Distanz. In einem weiteren Beispiel hatten in einer mehrfach wiederholten Testanordnung zwei Vergleichsgruppen jeweils unterschiedliche Textübungen zu bewältigen. Die eine der beiden Gruppen bekam dabei einen Text mit Wörtern, die sich auf ein Leben im Alter beziehen. Anschließend wurden beide Gruppen gebeten, für ein weiteres Experiment in ein 300 Meter entferntes anderes Büro zu wechseln. Die Gruppe mit den »altersbezogenen« Wörtern lief die Strecke signifikant langsamer als die Vergleichsgruppe. • Die bekannteste Bahnungswirkung ist der sogenannte »Ankereffekt«, den wir z. B. aus Verhandlungssituationen kennen. Der zuerst in den Raum geworfene Preis bildet hier den Ausgangspunkt (»Anker«) für die weiteren Verhandlungen. Der Ankereffekt wird dabei auch durch komplett sachfremde Einflüsse wie das Drehen eines Glücksrades oder einen im Hintergrund laufenden Bildschirmschoner erzeugt. In einem Experiment dazu wurde zwei aus erfahrenen Richtern bestehenden Gruppen ein Fall von Ladendiebstahl vorgestellt. Die Richter wurden gebeten, das Strafmaß festzulegen, welches sie in diesem Fall verhängen würden. Vorab sollten die Richter aus beiden Gruppen zwei – gezinkte – Würfel werfen, wobei der Wurf bei der einen Gruppe jeweils eine Drei, bei der anderen Gruppe eine Neun ergab. Anschließend wurden die Richter erst gefragt, ob sie eine Freiheitsstrafe größer oder kleiner als die gewürfelte Zahl verhängen würden, und danach nach der genauen Dauer der Frei-

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heitsstrafe. Das Strafmaß der Gruppe, die eine Neun gewürfelt hatte, betrug acht Monate, das Strafmaß der Gruppe mit einer gewürfelten Drei betrug fünf Monate. Wir werden in unserem Urteil auch von unseren ersten Eindrücken »gebahnt« (dem oben bereits genannten Halo-Effekt), sodass System 1 nach der ersten Einschätzung anschließende weitere Informationen selektiv danach filtert und bewertet, um dieses erste Bild zu bestätigen. In einem in vielen Varianten wiederholten Experiment bewerteten z. B. Testpersonen einen fiktiven Charakter namens Alan mit den Eigenschaften intelligent – fleißig – impulsiv – kritisch – eigensinnig – neidisch durchgängig günstiger als eine Vergleichsperson namens Ben mit den Eigenschaften neidisch – eigensinnig – kritisch – impulsiv – fleißig – intelligent. »Die Abfolge ist wichtig, weil der Halo-Effekt die Bedeutung des ersten Eindrucks verstärkt, manchmal so weit, dass nachfolgende Informationen größtenteils unberücksichtigt bleiben« (Kahneman, 2012, S. 109). System 1 bewertet vor allem diejenigen Aspekte eines Themas als relevant, auf die es sich gerade fokussiert (die sogenannte »Fokussierungsillusion«). Das heißt, allein aus der Tatsache, dass wir uns gerade mit einem Thema oder einer Beobachtung oder einer Eigenschaft befassen, schlussfolgern wir, dass diese besonders wichtig ist. Die Nutzung von System 2 strengt an und verbraucht mentale wie körperliche Energie. Wir bevorzugen darum Lösungen, die wir mit »kognitiver Leichtigkeit« verbinden (vertraute Namen und Parameter, eine für unser Denkmuster eingängige Darstellung, gute Laune, »vorgebahnte« Themen). Und weil die kognitive Überprüfung unseres intuitiven Systems 1 durch das System 2 tatsächlich Glukose verbraucht, haben Untersuchungen z. B. gezeigt, dass Richter direkt nach einer Mahlzeit eher einem Bewilligungsantrag auf vorzeitige Haftentlassung stattgeben (etwa 65 %) als lange nach einer Mahlzeit (kaum über 0 %), da eine Ablehnung die leichter zu treffende und übliche Standardentscheidung darstellt. Sogenannte Stimmungs-Heuristiken lassen System 1 eher ein Urteil vorschlagen, das der aktuellen (oder der aktuell gebahnten) Stimmung entspricht. So wurde in einer Versuchsanordnung bei den zwei Fragen »Wie glücklich sind Sie zurzeit?« und »Wie viele Verabredungen haben Sie im Monat?« keine nennenswerte Korrelation festgestellt. Stellte man die Fragen aber um, war die Korrelation erheblich. Wer also zuerst nach seinen Verabredungen befragt wurde, hatte offensichtlich hierdurch gerade Erinnerungen und Gefühle in Bezug auf das Beziehungsleben fokussiert, die dann die Bewertung des aktuellen Glücksgefühls beeinflussten.

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• Können wir auf eine schwierige Frage (z. B. nach den Wachstumsaussichten einer Firma) nicht schnell eine befriedigende Antwort finden, findet System 1 eine einfachere Frage (z. B. ob uns die Produkte der Firma gefallen) und beantwortet unbewusst diese im Wege der Ersetzung. Dadurch – in Kombination mit WYSIATI  – neigt System 1 zur Selbstüberschätzung dessen, was wir wirklich beurteilen können, und es unterdrückt diesbezügliche Zweifel und Ambiguität. »Unser Geist funktioniert normalerweise so, dass wir intuitive Gefühle und Meinungen über fast alles haben, was uns begegnet. […] Die mentale Schrotflinte erleichtert es, schnelle Antworten auf schwierige Fragen zu finden, ohne unserem trägen System 2 allzu harte Arbeit aufzubürden« (S. 128). • Affekt-Heuristiken führen dazu, dass wir Urteile wesentlich entlang unserer bereits vorgefassten und emotional stabilen Grundhaltungen (»Mag ich das?«) treffen. Zusammen mit dem oben beschriebenen Ersetzungsprozess führt dies dazu, dass wir die Frage »Was denke ich darüber?« oft durch die leichtere Frage »Welche Gefühle weckt das in mir?« ersetzen. • Entsprechend bewertet System 1 Fragen nach der Wahrscheinlichkeit eines Ergebnisses nicht mit Blick auf die statistischen Basisraten, sondern entsprechend ihrer Kohärenz und Plausibilität in Verbindung mit unseren individuell gemachten Erfahrungen. Die Frage, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass ein bestimmtes Ereignis eintritt, wird dann verwechselt mit der Frage, als wie typisch ein solches Ereignis auf der Basis der vorliegenden Assoziationen eingeschätzt wird. So wurde in unterschiedlichen Experimenten ein bestimmtes Personenprofil, das vage nach einem stereotypen Informatiker klang, durchgängig als wahrscheinlicher Informatikstudent eingeschätzt, obgleich an der betroffenen Universität die Basisrate der Geisteswissenschaftler um ein Vielfaches höher war als die der Informatiker. »Die Verknüpfung von WYSIATI und assoziativer Kohärenz«, so Kahneman dazu, »lässt uns tendenziell die Geschichten glauben, die wir uns selbst ausdenken« (S. 194). • Nicht zuletzt neigt System 1 in seiner sinnstiftenden Funktion dazu, auch bei zufälligen Ereignissen oder statistischen Ausreißern Kausalitäten herzustellen und diese im Rückblick auch als vorhersagbar zu betrachten (»Rückschaufehler«). »Die Sinngebungsmaschinerie von System 1 lässt uns die Welt geordneter, einfacher, vorhersagbarer und kohärenter sehen, als sie tatsächlich ist. Die Illusion, man habe die Vergangenheit verstanden, nährt die weitere Illusion, man könne die Zukunft vorhersagen und kontrollieren« (S. 254).

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Kahneman beschreibt all diese Verzerrungen ohne Geringschätzung, denn »System 1 ist auch der Ursprung der meisten Dinge, die wir richtig machen. […] Eine der Glanzleistungen ist das differenzierte und detaillierte Modell unserer Welt, das im assoziativen Gedächtnis abgespeichert ist: Es unterscheidet im Bruchteil einer Sekunde überraschende von normalen Ereignissen, erzeugt sofort eine Vorstellung von dem, was anstatt einer Überraschung erwartet wurde, und sucht automatisch nach einer kausalen Interpretation von Überraschungen und Ereignissen, sowie sie stattfinden« (S. 514). Zur Störanfälligkeit unserer Urteilsbildung in der Personalauswahl Wo liegen nun die Lehren, die sich aus den oben dargestellten kognitiven Verzerrungen unserer Intuition für die Personalauswahl ableiten lassen? Kahneman selbst schreibt dazu recht abstrakt: »Man sollte Anzeichen dafür erkennen, dass man sich in einem kognitiven Minenfeld bewegt, mental einen Gang zurückschalten und System 2 um Verstärkung bitten« (S. 516). Nicht zuletzt hätten Organisationen – anders als Individuen – die Chance, geordnete und System 2 aktivierende Verfahrensabläufe mit mehreren voneinander unabhängigen Urteilenden durchzusetzen sowie durch eine konstante Qualitätskontrolle das Funktionieren ihrer Prozesse zu überprüfen. Konkret auf den Prozess der Personalauswahl bezogen rät er dazu, die Treffgenauigkeit der eigenen assoziativ-subjektiven Urteile schlicht nicht überzubewerten (S. 219 ff.). Statistische Basisraten und Wahrscheinlichkeiten (also z. B. Studienleistungen, Studiendauer, eine bestimmte Berufspraxis oder Auslandserfahrungen) seien in vielen Fällen besser geeignet für die Vorhersage beruflicher Leistung als subjektiv in Auswahlverfahren gewonnene Erkenntnisse. Ähnliches bringt auch Heinrich Wottawa (2013, S. 911 ff.) ins Spiel, wenn er von einer »Formalisierung der Urteilsbildung« auf der Basis empirisch gewonnener Erfolgsfaktoren spricht. Das klingt nun als Empfehlung insgesamt schlüssig, bleibt aber noch sehr vage. Überträgt man die Forschungsergebnisse Kahnemans jedoch zunächst konkret auf das Vorstellungsgespräch, lassen sich spezifischere Empfehlungen für die Personalauswahl generieren. In der Eignungsdiagnostik stellen sich die oben beschriebenen Phänomene dann z. B. so dar: WYSIATI: Wir neigen zu vorschnellen Schlüssen über den Kandidaten auf der Basis dessen, was wir gesehen haben, ohne ausreichend zu berücksichtigen, dass wir nur einen sehr kleinen Teil gesehen haben (und was wir darum gegebenenfalls ebenso noch betrachten sollten). Bahnungs- und Anker-Effekte: Wir haben kaum ein Bewusstsein für die

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Möglichkeit, dass unsere Entscheidungen von komplett sachfremden Erwägungen geleitet sein könnten, wie z. B. dass wir uns mit unserem Koauswähler einfach sehr gut verstehen, dass wir heute Morgen Streit mit den Kindern hatten, dass wir einen Fernsehbeitrag vom Vortag im Hinterkopf haben oder dass der Kandidat uns an einen sehr guten früheren Kollegen erinnert. Halo-Effekt und Fokussierungsillusion: Wir sind überzeugt davon, dass das, was wir sehen, schlüssig und relevant ist, ohne ausreichend zu reflektieren, dass wir alles andere unbewusst rausfiltern oder in die Richtung des ersten Eindrucks umbewerten. Kognitive Leichtigkeit: Wir streben einen Zustand von Vertrautheit an, um­so mehr, wenn wir körperlich oder mental erschöpft sind. Darum haben Kandidaten, die ähnlich wie wir »ticken«, in denen wir etwas Vertrautes wiedererkennen, immer einen Vorteil. Ersetzungen: Unser Bauchgefühl schlägt uns permanent vor, dass wir uns für die Kandidatin entscheiden sollen, die uns sympathisch ist oder überzeugend wirkt, ohne dass wir ausreichend die Qualität unserer Beobachtungen analysieren. Die Frage »Hat sie die nötigen Kompetenzen oder wie schnell kann sie sie entwickeln?« wird dann ersetzt durch die Frage »Fühlen wir uns wohl miteinander und kann sie ihre Kompetenzen schlüssig darstellen?«. Stimmungs-Heuristiken: Verbinden wir mit den Kandidaten etwas Positives oder haben wir gemeinsam einen freundlichen Start in das Gespräch, steigen ihre Chancen beträchtlich. Affekt-Heuristiken: Zeigt der Bewerber Verhaltensweisen, die wir grundsätzlich und emotional verankert ablehnen (bspw. Überheblichkeit, Ausweichen, Übertreibung, Lüge, Unfreundlichkeit), bewerten wir auch die inhaltliche Qualität aller seiner Äußerungen mit einer negativen Voreinstellung. Assoziative Kohärenz: Anstatt im Auswahlprozess die Frage zu überprüfen, wie sehr eine Person die von uns gesuchten Kompetenzen besitzt, vergleichen wir die Kandidaten assoziativ mit den Menschen, die wir in unserem Unternehmen für erfolgreich halten. Anstatt uns von den vorab von uns selbst definierten Leistungsparametern leiten zu lassen, wird die stereotype Ähnlichkeit mit uns bekannten Erfolgsfiguren assoziativ bewertet. Konstruierte Kausalität: In unserer Bewertung der Bewerber stellen wir kausale Verknüpfungen her (z. B. zwischen einem Studienwechsel und einem späteren Jobwechsel nach kurzer Zeit), wo es sich vielleicht nur um Zufälle gehandelt hat, und ordnen andere Beobachtungen (z. B. die oberflächliche Beantwortung einer Frage oder die aktuelle Wechselmotivation, die uns noch nicht schlüssig ist) in diesen Begründungszusammenhang (z. B. »nicht gefestigt« oder »nicht beharrlich«) ein.

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Betrachten wir wieder eine Interviewsequenz, um einige dieser Wahrnehmungsverzerrungen in der Praxis des interkulturellen Vorstellungsgesprächs zu rekonstruieren. Das unter Echtbedingungen durchgeführte und auf Video aufgezeichnete Bewerbungsgespräch fand im Mai 2013 statt zwischen einer noch jungen, sehr freundlichen deutschen Recruiterin und einem russischen Spezialisten für sicherheitspolitische Fragestellungen, welcher gerade mit einem Stipendium einen Forschungsaufenthalt in Deutschland absolvierte. Teamarbeit Sie (ihn anlächelnd):  Haben Sie meist in Teams gearbeitet oder alleinverantwortlich, zum Beispiel in Ihrem letzten Job, haben Sie da in einem Team gearbeitet? Er (spricht mit ruhiger, etwas monotoner Stimme, kaum Lächeln, sparsame Gestik):  Also eigentlich muss man ja fast überall genauso in einem Team wie individuell arbeiten, denn ziemlich oft können dir die Vorgesetzten nicht so viel Zeit widmen, darum solltest du deine eigene Agenda entwickeln, du solltest – und wahrscheinlich die wichtigste Lektion, die ich gelernt habe, ist die, dass du proaktiv sein solltest und Dinge selbst entscheiden.     Zur gleichen Zeit, da es in jeder Institution Menschen gibt, solltest du mit diesen Menschen arbeiten. Es ist wichtig, eine freundliche Atmosphäre zu schaffen, darum solltest du immer versuchen, bestimmte Kontakte zu knüpfen und in der Lage sein, in einem Team zu arbeiten. Aber nach meiner Meinung ist es wahrscheinlich die beste Lösung, hier einfach du selbst zu bleiben und nicht eine Art Rolle zu spielen, denn wenn du einfach versuchst, mit Menschen zu kommunizieren, wenn du versuchst, zu verstehen, zu entdecken, woran sie interessiert sind, so schafft es eine Art von guten Beziehungen. Und hier in Deutschland würde ich sagen, gibt es eine gute Chance, das zu tun, weil wir sehr oft zum Mittagessen mit den Kollegen gehen, und es gibt auch verschiedene Veranstaltungen, bei denen du neue Leute kennenlernen kannst, also ja, ich bin bereit, sowohl in einem Team zu arbeiten als auch alleine. Sie (lächelnd):  Ja, O. K.

Fragen wir uns zunächst wieder: Was ist das Ziel der Frage aufseiten der Interviewerin, welche Erkenntnisse möchte sie gewinnen? Und wie hat Ihnen als Leserin und Leser die Antwort gefallen? Der deutschen Interviewerin geht es, soweit so offensichtlich, um Erkenntnisse zur Teamerfahrung, vermutlich insbesondere zur Teamfähigkeit des Kandidaten. Dies hat sie, auch weil sie zum Zeitpunkt des Interviews erst wenige

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Interviews geführt hat und noch nicht über so viel Erfahrung verfügt, in eine fast schon triviale Frage verpackt: »Haben Sie zuletzt in einem Team gearbeitet oder allein?« Vermutlich geht es ihr dabei nicht so sehr um das biografische »Ob«, »Wann« und »Mit-wem« der Teamerfahrung, sondern vor allem um das »Wie«. Aus der Schilderung einer konkreten Teamsituation heraus erhofft sie sich Erkenntnisse darüber, wie erfahren der Kandidat als Wissenschaftler in der Zusammenarbeit in Teams ist, was ihm genau dabei gefällt oder nicht gefällt, vielleicht auch, welche Rollen er in Teams bevorzugt einnimmt und welche Stärken oder auch Schwächen er hier einbringt. Sie überprüft mit der Frage somit zum einen seine Eigenschaft der Teamorientierung (ob und unter welchen Umständen er lieber allein oder im Team arbeitet), zum anderen seine Kompetenz der Teamfähigkeit (wie gut kann er sich integrieren, Fähigkeit zum Perspektivenwechsel, Einfühlungsvermögen, Neugierde und Interesse an Menschen etc.). Er, aus Russland, merkt, dass sie mehr hören möchte als nur biografische Fakten seiner Teamerfahrung. Was genau sie gerne von ihm hören möchte, weiß er aber nicht, sodass er sich entscheidet, ihr eher abstrakt und assoziativ seine Einstellung zur Teamarbeit darzulegen. Dabei lässt er sich unbewusst von seiner eigenen Gesprächsstrategie leiten: • Es geht um ein professionelles Gespräch. Getreu des russischen Sprichwortes »Lachen ohne Grund ist ein Zeichen von Dummheit« bleibt er dabei sparsam in der Mimik und Gestik, solange sie keine Zeichen gibt, dass sie die professionelle Gesprächsebene etwas verlassen möchte. • Sie bestimmt den Ablauf und die Richtung des Gesprächs. Solange sie ihm nicht signalisiert, dass er zu reden aufhören soll, spricht er weiter. • Da er die Zielsetzung ihrer Frage nicht versteht, versucht er in keiner Richtung eine Schwachstelle zu zeigen. Darum stellt er sowohl Teamarbeit als auch unabhängiges Arbeiten in gleichem Maße positiv dar. • Da er schon etwas länger in Deutschland lebt, glaubt er zu wissen, was im deutschen Arbeitskontext wichtig ist. Er betont darum, dass er – anders als typischerweise ein Arbeitnehmer in Russland – zu unabhängigem, selbstständigem Arbeiten in der Lage ist und proaktiv seine eigene Agenda setzen und Entscheidungen treffen kann. • Zuletzt überwiegt dann wieder seine kollektive kulturelle Prägung, indem er zum einen die Arbeit im Team und das soziale Miteinander betont, zum anderen den direkten Bezug zur Interviewerin herstellt und ihrem Land Komplimente macht (»Hier in Deutschland kann man leicht Kontakte knüpfen …«).

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Aus ihrer Perspektive war er mit dieser Strategie aber mutmaßlich nicht erfolgreich. Weder weiß sie jetzt mehr darüber, ob er eher durch Teamarbeit oder Einzelarbeit motiviert wird, noch hat sie aus seinen Schilderungen Erkenntnisse über seine Teamfähigkeit gewinnen können. Wenn überhaupt, dann weist sein ihr gegenüber gezeigtes Sozialverhalten (kein Lächeln, keine Pausen für Nachfragen lassen, kein Beispiel aus dem eigenen Leben bringen, nicht auf ihre Frage eingehen, nicht greifbar sein, nicht auf den Punkt kommen) eher nicht auf eine besonders ausgeprägte Teamfähigkeit hin. Welche der oben skizzierten Wahrnehmungsfehler spielten hierbei eine Rolle? Hierüber können wir nur spekulieren, aber einige der von Kahneman untersuchten Muster bieten sich an: Er hat lange, monoton und mit geringer Gestik und Mimik gesprochen und ist dabei nicht auf ihre Frage eingegangen. Es fiel ihr darum schwer, aufmerksam zu bleiben (kognitive Leichtigkeit). Weder in seinen Schilderungen noch im Verhalten ihr gegenüber hat er sich aus ihrer Perspektive als besonders teamfähig gezeigt, also ist er es vermutlich einfach nicht (WYSIATI = What you see is all there is). Durch seine eher nüchterne, kühle Grundhaltung empfindet sie ihn als unfreundlich und distanziert, sodass sie seine Antworten darum mit größerer Skepsis betrachtet (Bahnungseffekte). Da es ihr gelegentlich passiert, dass sie sich aufgrund ihres jungen Alters nicht richtig ernst genommen fühlt, findet sie sein Verhalten fast schon ignorant (Affekt-Heuristiken). Sie kann sich nicht vorstellen, dass so ein Typ in der von ihr betreuten Einheit besonders gut ankommen wird (assoziative Kohärenz). Zum bewussten Umgang mit unserer Intuition im Vorstellungsgespräch

Wir sehen also hier, wie der Interviewerin ihr System 1 eine eindeutige Bewer­ tungstendenz vorgibt: »Der Kandidat passt nicht. Es bestehen erhebliche Zweifel an seiner Teamfähigkeit, und auch sonst ist er einfach nicht der Richtige für unser Unternehmen.« Dabei ist es nicht der Inhalt seiner Antwort, aus dem sie seine mangelnde Teamfähigkeit und unzureichende Passung ableitet. Sondern ihre Bewertung entsteht aus der kulturell bedingten Unterschiedlichkeit seines Antwortverhaltens und aus dem Bild, das ihr intuitives Urteil daraus formt. Natürlich würden wir uns in einem richtigen Auswahlprozess nicht nur aufgrund einer einzigen Interviewsequenz ein solches Urteil anmaßen. Aber erstens werden nun vermutlich auch alle darauf folgenden Sequenzen vor dem Hintergrund der Bahnung des schlecht gelaufenen ersten Teils tendenziell schlechter bewertet. Zweitens wird sowohl bei der Interviewerin als auch beim Kandidaten die erste Sequenz Konsequenzen haben in dem Sinne, dass sich die Atmosphäre des Gesprächs verschlechtert haben wird. Und drittens ist zu befürchten, dass

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die Gründe, die in der ersten Sequenz zu den Missverständnissen geführt haben, sich auch in den weiteren Sequenzen negativ bemerkbar machen werden. Wir können die kognitiven Verzerrungen unserer Intuition dabei nicht vermeiden, aber wir können durch eine kognitive Überprüfung durch unser System 2 gegensteuern. Übersetzt auf die Personalauswahl heißt dies, dass wir versuchen, die eigene Bewertung im Vorstellungsgespräch möglichst lange offenzuhalten, zu hinterfragen und bewusst nach Beispielen auch für das Gegenteil suchen. Das sorgfältige Trennen von Beobachtung (»Was habe ich gesehen und gehört?«) und Bewertung (»Wie bewerte ich dies?«) ist darum in der Personalauswahl so zentral, da es unser spontan und intuitiv entstehendes Urteil mit den Mitteln unseres Verstandes wieder mit den ursprünglichen Beobachtungen konfrontiert und dadurch einer Korrektur zugänglich macht. Das Wissen um die Fehlerquellen der eigenen Intuition und um die möglichen Unterschiede kultureller Prägungen hilft uns dabei, gezielt verschiedene Perspektiven einzunehmen und nicht gleich unserem ersten Eindruck zu vertrauen. Ergänzend werden wir natürlich das sich intuitiv aufdrängende Bild durch andere Fragen, Szenarien und Übungen zu vervollständigen oder zu verändern suchen. Nicht zuletzt können wir durch eine Mehrzahl von Beobachtern mehrere intuitive Eindrücke aggregieren und dadurch ihre Treffsicherheit erhöhen (Eisenkraft, 2013). Dies gelingt allerdings nur, wenn wir diese unterschiedlichen Wahrnehmungen auch unabhängig voneinander festhalten und uns dann erst darüber austauschen, da wir ansonsten unsere jeweiligen Bilder und Impressionen durch die gleichen oben beschriebenen kognitionspsychologischen Prozesse intuitiv aneinander annähern und später durch den Rückschaufehler glauben werden, wir hätten von Anfang an den gleichen ersten Eindruck gehabt.

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Es gibt keine Fakten ohne Emotionen

2.3 Es gibt keine Fakten ohne Emotionen –  Hinweise der Hirnforschung über das Bauchgefühl im Bewerbungsgespräch »The emotional brain responds to an event more quickly than the thinking brain.« Daniel Goleman

Neben der Intuition ist das sogenannte »Bauchgefühl« die zweite subjektive Variable, zu der sich die Auswählenden in der Praxis freimütig bekennen. Gemäß der in Kapitel 1.4 zitierten eigenen Untersuchung würden 94 % der befragten Manager nur dann eine Person einstellen, wenn ihnen ihr Bauchgefühl die Zustimmung dafür signalisiert. Und wie bei der Intuition ist auch beim Bauchgefühl zu befürchten, dass seine Treffsicherheit umso mehr nachlässt, je stärker sich die Kandidaten kulturell von den Interviewenden unterscheiden. Interessanterweise sind es dabei die Neurowissenschaften und Hirnforschung, welche uns zur Entstehung und Wirkung unseres Bauchgefühls die aufschlussreichsten Erkenntnisse liefern. Betrachten wir hierfür zunächst den Aufbau des Gehirns, das nach Elger (2013) – wie in Abbildung 6 dargestellt – vom »Entscheidungssystem« gesteuert wird, dem wiederum das »Belohnungssystem«, das »Emotionale System« und das »Gedächtnissystem« zuarbeiten. Diese Systeme lassen sich nicht physikalisch lokalisieren, sondern es sind eher funktional betrachtete Bereiche, die sich meist auf mehrere Hirnregionen verteilen. Das »Entscheidungssystem« kommt dabei dem am nächsten, was Kahneman als »System 2« bezeichnet. Hier werden das Belohnungssystem, Emotionen und Gedächtnis sprachlich-kognitiv zusammengefügt und im Sinne einer Endkontrolle zu einem Urteil, einer Entscheidung oder einer bewussten Handlung zusammengefügt. Gleichzeitig werden hier die eigenen, meist unbewusst entstandenen Wünsche, Bewertungen und Handlungen mit kausalen Erklärungen unterfüttert. Elger (S. 132) beschreibt diese Funktion des Entscheidungssystems als »die richtigen Gründe für diese Wünsche zu finden. Es gibt also nicht zuerst die guten Gründe für unser Wollen, sondern diese werden erst später dazu addiert, um unsere Intentionen zu untermauern.«

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Abbildung 6: Funktionssysteme des Gehirns. Quelle: eigene Darstellung nach Elger, 2013, S. 87 ff.

Das Belohnungssystem Das Belohnungssystem ist dabei so etwas wie der Ort, wo unsere Wünsche entstehen. Es multipliziert als Zentralinstanz unseres Gehirns alle eingehenden Informationen über unser Befinden und stimuliert uns über chemische und neuronale Prozesse so, dass wir wissen und deutlich spüren, wann es uns »gut geht« und wann nicht. Dabei spricht unser Belohnungssystem bereits auf freundliche, sympathische Gesichter ausgesprochen positiv an, aber es honoriert auch soziales und altruistisches Verhalten und jede Form der Befriedigung sozialer Bedürfnisse. Wird das Belohnungssystem aktiviert, dann fühlen wir uns wohl und zufrieden, wir lernen und erinnern uns stärker, wir sind motiviert, kreativ und fokussiert. Dabei wird zu jeder emotional positiv abgespeicherten Erfahrung eine neue Schaltung im Gehirn angelegt, die bei Wiederholung schnell – oft schon beim zweiten Mal – eine neue Spur (oder Bahn) in unser »Erfahrungswissen« eingeprägt hat. Diese »Erfahrungsspur« lenkt und bahnt dann wiederum intuitiv und unbewusst unsere Aufmerksamkeit und unsere Entscheidungen. Wir versuchen eine Wiederholung der Ereignisse herzustellen, die unser Belohnungs-

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system positiv stimuliert haben. Und wir ordnen, wann immer es geht, unsere Beobachtungen selektiv unseren Erinnerungen und Erwartungen so zu, dass das Belohnungssystem aktiv werden kann. Hier decken sich die Erkenntnisse der Hirnforschung mit den Arbeiten Kahnemans, wie sie in Kapitel 2.2 vorgestellt werden. Anhand der Mechanismen von WYSIATI (»What you see is all there is«) und Fokussierungsillusion, Bahnungsund Anker-Effekten, der Ersetzung von schweren durch leichte Fragen, dem Streben nach assoziativer Kohärenz und der Verklärung der Vergangenheit in unseren Rückschaufehlern aktivieren wir unser Belohnungssystem, indem wir uns kognitiv ein kohärentes, stimmiges Bild unserer Außenwelt erzeugen. Ähnlich wie Kahneman fasst Elger (S. 90) diese subjektive Konstruktion unserer wahrgenommenen Wirklichkeit dann so zusammen: »Unser Belohnungssystem verstärkt, moduliert, modifiziert oder hemmt unbewusst Gedankenprozesse und Verhaltensweisen, die wir üblicherweise durch rationale Argumente begründen. Tatsächlich sind diese aber nur eine nachträgliche ›Erfindung‹, weil uns das Wirken des Belohnungssystems eben nicht bewusst ist und wir sowohl für uns als auch für unsere Mitmenschen eine ›vernünftige‹ Erklärung brauchen.« Gigerenzer beschreibt dies dann noch etwas salopper (2008, S. 52): »Wenn die Informationen nicht ausreichen, denkt sich das Gehirn etwas aus, das auf Annahmen über die Welt beruht.« Das Emotionale System In unserem Emotionalen System wird, um im Bild zu bleiben, der Treibstoff erzeugt, um die im Belohnungssystem entstehenden Wünsche zu aktivieren, die positiven (hin zu) genauso wie die negativen (weg von). Wenn wir etwas erleben, speichern wir dabei die damit verbundene Emotion (Freude, Angst, Zufriedenheit, Ärger usw.) zusammen mit der Erinnerung an das Erlebnis ab. Erleben wir dann etwas ähnlich Erscheinendes erneut, dann signalisiert uns unser in der Weise emotional markiertes Erfahrungswissen im Gehirn, ob wir diese Erfahrung eher suchen oder meiden sollen. Antonio Damasio (2012) entwickelte hierfür den Begriff der »somatischen Marker«. Diese markieren einen kognitiven Prozess mit einer bestimmten emotional aufgeladenen Bewertung und geben uns dadurch einen starken Denk- und Entscheidungsimpuls an die Hand: »Die somatischen Marker funktionieren nach einem einfachen Prinzip. Die negativen somatischen Marker warnen vor möglichen negativen

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Konsequenzen einer Entscheidung. Die positiven somatischen Marker erzeugen ein Vorstellungsbild positiver Konsequenzen. Man kann sich das ganze wie Start- und Stop-Signale vorstellen, die der automatischen Bewertung von Vorhersagen dienen« (Damasio, 2012, S. 239). Man darf sich dies natürlich nicht als einen bewusst ablaufenden Prozess vorstellen. Im Vorstellungsgespräch wecken die Kandidaten ja in der Regel nicht wirklich irgendwelche von uns bewusst wahrgenommene und beschreibbare Gefühle. Wir erleben uns selbst in diesem Moment meist als komplett sachlich, logisch und rational. Es geht um eine üblicherweise nur unbewusste Stimulierung von Körperfunktionen durch Signale aus dem Gehirn und Rückenmark. Damasio nennt dies eine Reaktivierung der emotional verknüpften Zonen: Der Körper erstellt das gespeicherte Gesamtbild mit der ganzen »körperlichen Landkarte« (Puls, Hautwiderstand, Blutdruck, Atmung, Schweiß etc.) erneut und nutzt diese Erfahrungen für seine Entscheidungen. In die Praxis übersetzt heißt dies, dass unsere emotionalen Reaktionen auf bestimmte Ereignisse nicht nur auf der konkreten jetzt gemachten Wahrnehmung, sondern auch auf früher gemachten ähnlichen Erfahrungen beruhen. »Bei der emotionalen Bewertung eines Ereignisses kommt es gar nicht darauf an, dass uns diese Ereignisse aus der Vergangenheit, die bestimmte emotionale Spuren hinterlassen haben, bewusst werden. Wir haben in bestimmten Situationen oder bei bestimmten Personen einfach nur ein gutes oder ein schlechtes Gefühl« (Elger, 2013, S. 118). Lächelt z. B. ein Kandidat kaum im Vorstellungsgespräch, erinnert uns dies eventuell an andere Situationen, in denen wir nicht angelächelt wurden, und es weckt die mit der damals gemachten Erfahrung verknüpften emotionalen Signale. Aus diesen Beschreibungen folgt, was Elger als eine der sieben Grundregeln des neurologisch gebotenen Führungsverhaltens (»Neuroleadership«) bezeichnet: »Es gibt keine Fakten ohne Emotionen« (Elger, 2013, S. 173). Alles was wir hören, sehen, riechen, spüren oder schmecken wird vom Gehirn automatisch mit einer emotionalen Bewertung verknüpft. Fehlt uns der Zugang zu diesen emotionalen Markierungen, das haben Studien mit durch einen Unfall hirngeschädigten Personen gezeigt, kann unser Entscheidungssystem nicht mehr funktionieren und wir werden halt- und orientierungslos. Entsprechend haben die oben zitierten 94 % der befragten Interviewerinnen und Interviewer recht, wenn sie auf die Steuerung ihrer Entscheidungen durch ihr Bauchgefühl beharren. Es wäre sinnlos, so zu tun, als könnten wir es ausschalten oder überwinden. Die Frage ist – und das Ende dieses Kapitels wird der Antwort darauf

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gewidmet sein – wie wir unser Bauchgefühl am besten nutzen, damit es die Treffsicherheit unserer Auswahlentscheidungen nicht beeinträchtigt, sondern erhöht. Zu berücksichtigen ist dabei, dass natürlich das Emotionale System der Kandidaten genauso funktioniert wie unseres, und dass wir als Auswählende durch unser emotional beeinflusstes Verhalten auch bei den Bewerbern ein entsprechendes Bauchgefühl auslösen. Unsere Emotionen werden dabei meist genauso nonverbal und unbewusst kommuniziert, wie wir sie selbst nur unbewusst erleben. Und sie können sich sogar komplett selbstständig auf das Gegenüber »spiegeln«, d. h., ein eigenes emotionales Signal (z. B. ein entspanntes Lachen, ein verunsichertes Wegsehen oder ein besorgtes Stirnrunzeln) löst bei unserem Gegenüber die gleichen Emotionen aus, ohne dass dafür wirklich ein Anlass erkennbar wäre. Lächeln wir den Kandidaten an, lächelt er eher zurück, als wenn wir ernst aussehen. Findet eine Bewerberin uns sympathisch und zeigt uns das, werden wir eher dazu tendieren, sie auch sympathisch zu finden. Sind wir als Auswählende gehetzt und unter Druck, wird sich diese Unruhe in der ein oder anderen Weise auch auf die Auszuwählenden übertragen. Je authentischer wir uns als Menschen im Interview zu erkennen geben, umso authentischer und echter werden wir auch die Auszuwählenden erleben. Es macht also keinen Sinn, als Interviewer im Vorstellungsgespräch kühl, neutral und emotionsarm zu erscheinen, um die Kandidaten möglichst nicht durch positive Rückmeldungen zu einer sozial erwünschten Antwort zu manipulieren. Die Bewerber werden dadurch ebenfalls abkühlen, ihre inhaltliche Position und ihre emotionale Mitte verlieren. Das Gedächtnissystem Wenn unser Belohnungssystem der Ort ist, wo unsere Wünsche entstehen, und im Emotionalen System entsteht der Treibstoff dafür, dann ist das Gedächtnissystem die Landkarte, an der wir uns orientieren. Unser Emotionales System verknüpft unsere Wahrnehmungen und Beobachtungen (»Was habe ich erlebt?«) mit Empfindungen (»Wie ist es mir dabei ergangen?«). Unser Gedächtnissystem speichert diese Erinnerungen (zusammen mit ihren emotionalen Markierungen) ab und entwickelt daraus Voraussagen über die mögliche weitere Entwicklung der Situation. Und je öfter wir eine bestimmte Wahrnehmung mit einer bestimmten emotionalen Resonanz verknüpft haben (s. o.), desto stärker wird bei einer ähnlichen neuen Wahrnehmung dieselbe emotionale Reaktion wieder ausgelöst. Die Verknüpfung wird fester Bestandteil unseres intuitiven Systems 1. In diesem Prozess bleibt das Gedächtnissystem keineswegs statisch. Auch das, was wir erinnern, wird bei jeder Erinnerung auf der Basis aktueller Erfahrungen

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Teil 2: Wie unser Urteil entsteht

neu bewertet, emotional verknüpft und neu erinnert. Und je stärker eine neue Erfahrung uns emotional bewegt oder das Belohnungssystem aktiviert, umso stärker und schneller können wir auch unsere Erinnerungen überschreiben. Aus diesem Grund ist auch der von Kahneman beschriebene Rückschaufehler neurologisch keine Überraschung: Aus der Gegenwart betrachtet bewerten wir unsere Entscheidungen der Vergangenheit anders und wir vergessen, wie wir sie früher gesehen haben. Wie Elger es beschreibt: »So erschafft sich das Gedächtnis kontinuierlich das Bild unseres Lebens neu« (2013, S. 116). Das Bauchgefühl in der internationalen Personalauswahl Wie gehen wir nun also mit unserem Bauchgefühl in der internationalen Personalauswahl um? Zunächst sollten wir würdigen, was es für uns leistet: In der Kombination unseres Bauchgefühls mit dem in Kapitel 2.2 beschriebenen intuitiven System 1 gelingt es uns aufgrund unseres Erfahrungswissens, in Millisekunden die Millionen an Informationen aus unserer Umgebung intuitiv und unbewusst zu begreifen und zu eindeutigen Interpretationen und Handlungsanweisungen zu verarbeiten. Der dadurch generierte Bewertungs- und Handlungsimpuls ist nicht nur ein äußerst schneller und effizienter Ratgeber. Unser Bauchgefühl und unsere Intuition eröffnen uns damit auch einen so breiten Zugang zu unserem Erfahrungswissen, wie er uns rein kognitiv-intellektuell nie gegeben wäre. Entsprechend sind auch intuitiv und aus dem Bauch getroffene Entscheidungen und Urteile oft viel besser und fokussierter, als wenn wir unseren Verstand einschalten und lange über etwas nachdenken (Gigerenzer, 2008). Allerdings können uns unser Bauchgefühl und unsere Intuition, wie wir in Kapitel 2.2 gesehen haben, anhand von Wahrnehmungsverzerrungen und Ersetzungsstrategien auch mächtig in die Irre führen, ohne dass wir es merken. Hinzu kommt die Gefahr, dass unser Bauchgefühl fälschlicherweise auf Reize reagiert, die wir aus einer früheren Situation zu kennen glauben, die aber in der jetzigen Situation von den Bewerbern ganz anders gemeint waren. Gerade in der internationalen Personalauswahl haben wir es regelmäßig – wie die obige Sequenz mit dem ernst und uninspiriert wirkenden russischen Kandidaten illustriert – mit Verhaltensweisen zu tun, die zwar gleich aussehen, aber in den verschiedenen Kulturräumen komplett gegensätzlich bewertet werden. Stellen wir uns das ausschweifende Gestikulieren eines italienischen Kandidaten vor, den überaus von sich überzeugten Erzählfluss einer amerikanischen Bewerberin oder den stockenden, diffusen und selbstkritischen Vortrag des chinesischen Ingenieurs in der Eingangssequenz dieses Buches: Schnell wird uns unser Bauchgefühl Bewertungen nahelegen (theatralisch für den Italiener, arrogant für die

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Amerikanerin, schüchtern oder ausweichend für den Chinesen), die mit der konkreten Intention des Verhaltens aus der Perspektive der Bewerber nichts zu tun haben. In Teil 3 werden wir noch eine Vielzahl weiterer Beispiele dafür kennenlernen. Wir werden aber, wenn wir ungeprüft unserem Bauchgefühl folgen, von unserer Bewertung der Situation in jedem Fall überzeugt sein und sie für alternativlos halten, allein schon, weil sie unsere ist und sich stimmig anfühlt. Mit seinen emotional durch Vorerfahrung gebahnten und auf Kohärenz zielenden Deutungsmustern suggeriert uns unser Bauchgefühl eine objektiv vorhandene Wahrheit. Aber es warnt uns nicht, dass wir diese Wahrheit auf der Basis unseres eigenen emotional markierten Erfahrungswissens selbst so erzeugt haben. Konkret lassen sich darum aus diesen Ressourcen und Risiken unseres Bauchgefühls folgende Empfehlungen für die Praxis ableiten: 1. Wir sollten der Tatsache ins Auge blicken, dass unser emotional markiertes Erfahrungswissen, das wir als Bauchgefühl wahrnehmen, immer in die Urteilsfindung eingreift, ob uns das gefällt oder nicht. Anders als die klassischen eignungsdiagnostischen Theorien suggerieren, kann es also in der Personalauswahl nicht darum gehen, die vermeintlich objektiven Qualitäten der Kandidaten zu erkennen, indem wir die Subjektivität der Interviewenden erfolgreich eliminieren. Dieses Ziel ist neurologisch unerreichbar. Blenden wir unsere Subjektivität aus, wirkt sie unbewusst nur umso stärker auf die Auswahlentscheidung ein. Nicht Objektivität ist das Ziel der Personalauswahl, sondern eine geschulte Subjektivität. Wir haben ja immer ein Gefühl zu den Kandidaten. Schon nach dem ersten Lesen des Lebenslaufs und wenn sie zur Tür hereinkommen, nehmen wir sie nicht nur rational, sondern auch emotional wahr. Wir haben ein »gutes Gefühl« oder ein skeptisches, ein misstrauisches oder ein komisches. Dieses Bauchgefühl steht am Anfang und am Ende des Prozesses. Wir führen also ein anspruchsvolles Auswahlverfahren durch, nicht um das Bauchgefühl loszuwerden, sondern um es möglichst reflektiert abzugleichen, zu ergänzen, zu verstören und neu zusammenzusetzen mit dem, was wir kognitiv und emotional im weiteren Prozess über die Bewerber erfahren. 2. Um unser Bauchgefühl in dieser geschulten Weise in den Auswahlprozess zu integrieren, müssen wir es zunächst einmal wahrnehmen. Dabei reicht es nicht, dass wir in unserem Bauch ein diffuses und schwaches Signal zur Kenntnis nehmen, und uns damit zufriedengeben, dass die Kandidatin nicht passt, weil wir »ein komisches Gefühl« haben. Um unser Bauchgefühl als

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reiche Informationsquelle unseres Erfahrungswissens nutzen zu können und um uns vor den oben beschriebenen Fehlinterpretationen und Verzerrungen zu schützen, müssen wir genauer in uns hineinhorchen: Was für ein Gefühl genau ist bei uns entstanden? Waren es Anflüge von Ärger, Frustration, Missachtung, Inkongruenz, Langeweile, Hilflosigkeit oder Bedrängung, oder im positiven Fall von Ablenkung, Anerkennung, Freude, Interesse oder Ähnlichem? Wann genau ist dieses Gefühl entstanden und in welchem Moment des Interviews war es am stärksten? Welche Verhaltensweise genau hat das Gefühl bei uns ausgelöst? Erst wenn wir in der Weise achtsam, aber auch streng mit uns sind und unsere Wahrnehmungen konkretisieren und differenzieren, wird unser Bauchgefühl wirklich zu einer Ressource im Auswahlprozess. 3. Haben wir unser Gefühl in der Weise präzisiert, können wir es interpretieren und unsere Interpretation mit den Eindrücken der anderen Beobachter vergleichen. Welche Bewertung haben wir mit welcher Beobachtung verbunden, und inwiefern wären – gerade vor dem Hintergrund kultureller Unterschiede – auch andere Bewertungen denkbar? Inwiefern hat unsere eigene kulturelle und persönliche Prägung dazu beigetragen, dass das spezifische Verhalten bei uns dieses Gefühl ausgelöst hat? Auf welche früheren Erfahrungen und Erinnerungen weist uns unser Bauchgefühl hin, die wir z. B. mit anderen Kollegen, der Vorgängerin auf der Position oder bei einem vorherigen Arbeitgeber gemacht haben? Haben die Kandidaten bei uns bestimmte »Knöpfe gedrückt«, auf die wir immer positiv oder negativ ansprechen? 4. Auf diese Weise wird es klar, dass uns unser Bauchgefühl letztlich gar keine Informationen über die Kandidaten liefert. Es gibt uns nur Informationen über uns in der Begegnung mit dem Kandidaten. Entsprechend müssen wir nun bewerten, inwieweit unser Gefühl auch für das Anforderungsprofil der Zielposition relevant ist. Was schließen wir aus unserer eigenen Reaktion für die eventuelle spätere Entwicklung am designierten Arbeitsplatz? Wie wahrscheinlich ist es, dass sich die Erfahrungen, auf denen unser Bauchgefühl beruht, nun mit der Bewerberin wiederholen werden? Ist unsere kulturelle Prägung weitgehend deckungsgleich mit der Prägung der Kolleginnen und Kollegen vor Ort? Welche interkulturellen Kompetenzen sind bereits da oder können trainiert werden, um gegebenenfalls die kulturellen Unterschiede in den Griff zu bekommen? Sind wir positiv oder negativ eingestimmt, weil wir bestimmte Kompetenzen erkennen oder nicht erkennen konnten oder weil in unserem kommunikativen Prozess mit den Kandidaten etwas gut oder nicht gut gelaufen ist? Ist die Situation im Vorstellungsgespräch wirklich vergleichbar mit dem Kontext, in dem die Kandidaten später arbeiten sollen?

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5. Ein solcher Prozess ermöglicht uns, eine stimmige Auswahlentscheidung zu treffen, in der unser Bauchgefühl zu einer wichtigen Ressource wird, der wir aber trotzdem nicht blind und ungeprüft vertrauen. Mit unserem Verstand hinterfragen wir, woher ein bestimmtes Gefühl kommt und welche Geste oder welche Bemerkung es ausgelöst hat. Gleichzeitig versuchen wir, dem ersten intuitiven Eindruck eine Vielzahl weiterer möglichst unterschiedlicher Eindrücke hinzuzufügen, sodass sich auch unser Bauchgefühl immer wieder neu sortieren und von unserem Verstand neu hinterfragen lassen muss. Hierfür benötigen wir allerdings drei Dinge: • Selbstreflexion und Offenheit: Wir müssen bereit sein, die Subjektivität und Emotionalität der eigenen Bewertungen anzuerkennen und sie als solche auch zu hinterfragen und hinterfragen zu lassen. • Training: Wir brauchen eine entsprechende Vorbereitung (z. B. durch Interviewtrainings) und Begleitung (z. B. durch strukturiertes Feedback) durch externe Trainer oder Kollegen, um den bewussten Umgang mit unserem Bauchgefühl zu schulen und wachzuhalten. • Zeit: Es klappt nicht, das eigene Bauchgefühl in der oben beschriebenen Weise wahrzunehmen, wenn wir den Auswahlprozess möglichst schnell bewältigen wollen. Es braucht Zeit und Entschleunigung, bewusst darauf zu achten, was die Kandidaten emotional bei uns auslösen, und dieses Gefühl dann sowohl zu den eigenen Prägungen als auch zu den Anforderungen der Zielposition in Bezug zu setzen. Es braucht Zeit, das eigene Bauchgefühl nicht vorschnell zu akzeptieren und stattdessen neue Fragen, Übungen und Simulationen auszutesten, die eventuell ein anderes Kandidatenverhalten mit einer anderen eigenen emotionalen Bewertung zur Folge haben. Und es braucht nicht zuletzt Zeit, sich mit der oben angesprochenen Selbstreflexion und Offenheit mit den anderen Auswählenden über die eigenen Beobachtungen und Bewertungen auszutauschen. Natürlich müssen wir uns dabei nicht bei jedem Bewerber so viel Mühe geben. Aber wenn man bedenkt, welche wirtschaftlichen Folgen Personalauswahlentscheidungen haben, dann ist diese Zeit im Zweifelsfall gut investiert.

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2.4 Die Kandidaten entstehen im Gespräch – ein systemischer Blick auf die Dynamik des Auswahlprozesses »Das Mögliche ist beinahe unendlich, das Wirkliche streng begrenzt, weil doch nur eine von allen Möglichkeiten zur Wirklichkeit werden kann. Das Wirkliche ist nur ein Sonderfall des Möglichen, und deshalb auch anders denkbar. Daraus folgt, dass wir das Wirkliche umzudenken haben, um ins Mögliche vorzustoßen.« Friedrich Dürrenmatt

Nachdem Kapitel 2.1 beleuchtet hat, wie die Art unserer Fragen das jeweilige Antwortverhalten beeinflusst, und nachdem Kapitel 2.2 und 2.3 sich mit unserer intuitiven und emotional geprägten Urteilsbildung befasst haben, steht in Kapitel 2.4 und 2.5 nun im Vordergrund, wie die Dynamik des Auswahlprozesses auf unsere Auswahlentscheidung einwirkt. Begreift man das Vorstellungsgespräch dabei als soziales System, das damit auch bestimmten gut erforschten systemimmanenten Eigendynamiken folgt, ergeben sich hierfür generell (was in Kapitel 2.4 näher erläutert wird) sowie insbesondere für interkulturelle Auswahlsituationen (Kapitel 2.5) wertvolle Erkenntnisse. Stellen Sie sich bitte zunächst folgendes Bewerbungsgespräch vor (welches real so passiert ist), um den Gedanken der (sich selbsterzeugenden) Eigendynamik im Auswahlprozess zu verdeutlichen: Ein Personalleiter möchte bei einer Kandidatin für eine Marketingstelle herausfinden, wie begeisterungsfähig und motivierend diese ist. Er begegnet ihr freundlich, entgegenkommend, aber etwas reserviert, da ihm eine gewisse professionelle Distanz wichtig ist. Im Interview geht es zunächst um fachliche Aspekte der Position, um herauszufinden, wie substanziell die Vorkenntnisse der Kandidatin sind. Dann wird die Bewerberin gefragt, ob sie zu einem Rollenspiel bereit sei, was diese bejaht. Die Aufgabenstellung des Rollenspiels ist es, den CEO davon zu überzeugen, das Marketingbudget im kommenden Jahr um 20 % zu erhöhen, um eine TV-Kampagne für ein Nischenprodukt zu finanzieren. Die Kandidatin erledigt die Aufgabe ordentlich, sie führt das Gespräch sehr professionell, sachlich und anhand einiger interessanter Kennzahlen, die sie sich spontan ausdenkt. Sie ist dabei aber sehr nüchtern und rational, mit sehr sparsamer Gestik und Mimik. Von Begeisterungsfähigkeit kann der Interviewer wenig entdecken. Mit so einer Vorstellung würde sie »seinen« CEO niemals überzeugen können. Da die Kandidatin auch den Rest des Gesprächs über nicht wirklich »aus sich rauskommt«, wird ihr schließlich abgesagt. Denn gerade im Marketing seines Unter-

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nehmens sucht der Personalleiter »Typen«, die mitreißend und inspirierend sind, mit denen die Zusammenarbeit einfach Spaß macht. Das war hier nicht gegeben.

Im Vorinterview mit der Personalberatung war die Kandidatin allerdings noch ganz anders aufgetreten, phantasievoll, lustig und sehr begeistert von dem Unternehmen und seinen Produkten. Was war passiert? Zunächst sehen wir hier einen Bahnungseffekt (»Priming«), wie er in Kapitel 2.2 dargestellt wurde: Durch die starke und fordernde Auseinandersetzung mit fachlichen Themen zuvor ist die Kandidatin nicht auf Begeisterung »gebahnt«, sondern sie ist mental und emotional eher sachorientiert. Außerdem befindet sie sich im Wettkampfmodus, sie ist konzentriert und will sich behaupten. Auf Inspiration, Frohsinn und Kreativität ist sie nicht eingestellt. Zudem richtet sie ihr Verhalten am Interviewer aus. Dieser ist freundlich, aber professionell distanziert. Also scheint es ihr in diesem Unternehmen – zumindest in diesem Kontext eines Vorstellungsgesprächs – nicht angebracht zu sein, zu kontaktfreudig zu wirken und sehr aus sich herauszukommen. Außerdem spricht der Personalleiter von einer Erhöhung des Marketingbudgets um 20 % zur Bewerbung eines Nischenproduktes. Sollte sie vielleicht hier gleich einhaken und die kaufmännische Sinnhaftigkeit einer solchen Maßnahme hinterfragen? Lohnt sich der Aufwand für ein Nischenprodukt? Sie hinterfragt es nicht, aber die Frage beschäftigt sie unbewusst, sodass sie sich emotional auf die Aufgabenstellung nicht völlig einlassen kann. Schließlich stellt sie sich bei der Aufgabe den CEO ihres aktuellen Unternehmens vor, einen sehr zahlengetriebenen, emotionsarmen Typus. Ihm ist mit Begeisterung nicht beizukommen, darum denkt sie sich: Chefs überzeugt man nur mit Nüchternheit und Zahlen. Auch aus dieser Erwägung heraus bemüht sie sich, nicht zu viel Esprit in ihr Rollenspiel zu legen, sondern eher ihre rationale, klare und analytische Seite zu betonen. Das Rollenspiel erfüllt entsprechend nicht die Erwartungen des Personalleiters, der sich sehr viel mehr Begeisterungsfähigkeit erhofft hatte. Es entgeht seiner Aufmerksamkeit, dass sie durchaus einige kreative Gedankengänge in ihr Rollenspiel integriert. Wie in der eingangs geschilderten Interviewsequenz mit dem chinesischen Kandidaten ist auch dieser Auswählende so festgelegt auf die Auslöser, die er gerne sehen möchte, dass ihm zu einem großen Teil entgeht, was er stattdessen sieht. Er versucht im Anschluss noch durch ein, zwei Fragen mehr Enthusiasmus bei der Kandidatin zu spüren, aber irgendwie ist »die Luft raus«. Wir sehen hier, wie sich eine Prozessdynamik – in der Sprache der sozialen Systeme gesprochen – selbst erzeugt. Die Kandidatin hätte sich viel lieber in der ganzen ihr zur Verfügung stehenden Begeisterungsfähigkeit gezeigt, und der

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Personalleiter hätte sie lieber begeisterungsfähig gesehen. Aber beide haben es nicht geschafft, dorthin zu kommen, obwohl sie es wollten. Hieraus lassen sich drei Fragen für das erfolgreiche Führen von Bewerbungsgesprächen generieren: 1. Wie tragen wir selbst dazu bei, dass sich das Verhalten der Kandidaten im Vorstellungsgespräch genau so zeigt, wie es sich zeigt? 2. Wie wirkt die Dynamik des Vorstellungsgesprächs auf unsere Wahrnehmung ein, sodass wir (nur) das sehen, worauf wir intuitiv achten? 3. Mit welcher Haltung und mit welchen Methoden können wir als Auswählende ein Vorstellungsgespräch so führen, dass wir ein möglichst breites Repertoire der Bewerberkompetenzen und -eigenschaften kennenlernen und uns nicht zu früh gegenseitig eingrenzen? Vor allem die Fragen 2 und 3 berühren dabei eng die in der Einleitung beschriebenen zwei Dilemmata der internationalen Personalauswahl: Wie kann es uns gelingen, ein Verhalten zu erkennen und zu bewerten, dessen Bedeutung wir mit der uns zur Verfügung stehenden kulturellen Prägung gar nicht richtig verstehen können? Und wie können wir einer interkulturellen Dynamik im Auswahlprozess begegnen, von der wir erst im Gespräch herausfinden können, welche Dynamik eigentlich vorliegt? Aber auch Frage 1 hat erhebliche Bedeutung in interkulturellen Vorstellungsgesprächen, da sich die Bewerber an unserer eigenen kulturellen Prägung (oder besser: an dem, was sie sich darunter vorstellen) orientieren und sich bestmöglich darauf einstellen. Für die Beantwortung aller drei Fragen stellt die Theorie sozialer Systeme (im Folgenden auch »systemischer Ansatz« oder »Systemik« genannt) einige hilfreiche Erklärungs- und Lösungsansätze zur Verfügung, die uns entsprechend auch in der internationalen Personalauswahl weiterhelfen können. Soziale Prozesse passieren »von allein« Aus den Naturwissenschaften kommend,8 gehen systemtheoretische Konzepte davon aus, dass sich auch soziale Prozesse selbstorganisiert entwickeln, ohne dass sich dies auf eine klar zu erkennende steuernde Hand kausal zurückführen ließe: »Es entwickeln sich über die Zeit Muster zwischen den Systemmitgliedern, die entstehen, weil sie entstehen; indem sie immer wieder gleich 8 Z. B. am Konzept der sich selbst erzeugenden »Autopoiese« in der Biologie, der selbst entstehenden »dissipativen Strukturen« in der Chemie oder der »Synergetik« und »Kybernetik« in der Physik und Steuerungslehre.

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ablaufen, immer wieder dieselbe Handlung auf sich selbst anwenden, laufen sie allmählich auf einen stabilen Zustand zu« (von Schlippe u. Schweitzer, 2012, S. 106 f.). So lässt sich auch ein Vorstellungsgespräch als soziales System begreifen, in dem sich Interviewende und Kandidaten unbewusst und in einer gegenseitigen Wechselwirkung aneinander ausrichten, ohne dass sie dies notwendigerweise bewusst auch so wollen und steuern können. Denn Auswählende und Kandidaten sind ja nicht frei, sich gegenseitig zu fragen und zu antworten, was sie gerade möchten. Sondern sie bewegen sich in ihrem Verhalten in systemimmanenten Grenzen, die sie teilweise mitbringen (aus ihrer Kultur, ihrer Organisation, ihrer Aufgabe oder ihrer Persönlichkeit), die sie teilweise aber auch miteinander erst erzeugen. Konkret bilden sich in jedem sozialen System (also auch in einem Personalauswahlsystem) über kommunikative Prozesse sogenannte »Attraktoren« (Anziehungspunkte) heraus, welche sich Schritt für Schritt als dominant erweisen und damit immer stärker vorgeben, welches Verhalten in dem System als richtig und passend akzeptiert wird und welches nicht. Natürlich haben dabei hierarchisch höherrangige Systemmitglieder – wie z. B. in einem Vorstellungsgespräch in der Regel die Auswählenden – meist größeren Einfluss auf die Dominanz bestimmter Attraktoren. Auch die Auswählenden bewegen sich aber in den Grenzen ihres Systems und auch sie werden ihrerseits von den anderen Systemmitgliedern genauso wie von den bereits zu Regeln gewordenen Attraktoren eines Systems in ihren Freiheitsgraden beschränkt. Ein solcher Attraktor kann dann z. B. das Selbstbild sein »Wir sind hier direkt und geradeheraus« oder »Wir sind sachlich und rational«. Aber auch die Kennzahlen der Reporting-Vorgaben oder der Führungsstil einer Führungskraft wirken als Attraktoren im System. Im Vorstellungsgespräch geben schon die Begrüßung, die äußeren Umstände (Kleidung, Raum, Zeit etc.), die Sprache und die Art der Gesprächsführung die ersten Attraktoren vor. Im Fall des obigen Beispiels waren dies der bisherige fachbezogene Verlauf des Vorstellungsgesprächs sowie die freundlich-distanzierte Haltung des Interviewers. Und auch die innere Vorstellungswelt der Kandidatin, wie man einen CEO am besten überzeugen kann, wirkte sich systembildend auf das Vorstellungsgespräch aus, selbst wenn dies dem Interviewer gar nicht bekannt sein konnte. Im internationalen Vorstellungsgespräch kann sich ein solcher Attraktor z. B. daraus ergeben, dass das Unternehmen und die Interviewerin aus Deutschland kommen und das Gespräch ohne große Small-Talk-Phase mit einer Frage nach den Stärken und Schwächen des Kandidaten beginnt. Der ausländische Kandidat notiert sich hier vielleicht unbewusst, dass er sich ja in einem kulturellen Umfeld bewegt, welches er mit Deutschland assoziiert. Er wird sich entsprechend

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bemühen, seine Antworten so »deutsch« wie möglich zu geben, d. h. so, wie er »deutsch sein« versteht. Mit zunehmender Stabilität eines Systems werden dann Deutungen und Handlungsoptionen, die in andere Richtungen weisen könnten, mehr und mehr ausgeschlossen. Neue Informationen werden dann fast nur noch in Richtung der als dominant erlebten Attraktoren bewertet. Stellt z. B. die Interviewerin eine Frage nach der Beziehung zu den Teammitgliedern, weil sie den Kandidaten bis dahin als sehr sachlich erlebt hat, wird der Kandidat seine Antwort eventuell wieder sehr sachlich und prozessorientiert ausrichten, weil er denkt, dass dies aus Sicht der deutschen Interviewerin positiv bewertet wird. Reagiert die Interviewerin darauf etwas ungeduldig und unzufrieden, so wird sich der Kandidat in seinen Vorstellungen über »die sachorientierten Deutschen« gegebenenfalls bestätigt fühlen und versuchen, noch »deutscher«, also noch sachlicher zu antworten. So verfestigen sich Kommunikationsprozesse und Deutungsschemata mit der Zeit, bis sich Gesprächsabläufe so verengen und wiederholen, dass ein Ausbrechen kaum noch möglich ist. Aus langjährigen Beziehungsgeflechten wie Familien, Paaren oder eng verbundenen Teams kennen wir alle diesen Zustand, wo wir meinen, schon vorhersagen zu können, was der oder die Andere denken, tun oder sagen wird. Jedes einzelne Systemmitglied handelt dabei aus seiner eigenen Perspektive heraus willentlich und zielvoll, kann aber doch als Individuum – selbst als Unternehmenschef – das System nur beeinflussen, nie komplett steuern. Der Einzelne richtet sein Verhalten immer an allen Attraktoren und Regeln aus, die er oder sie im gesamten System wahrnimmt, niemals nur an einer isolierten Aktion im System. Systeme erzeugen Verhalten Dabei geht die Systemik davon aus, dass auch jeder Mensch in sich ein eigenes System aus verschiedenen Anteilen darstellt, so wie wir z. B. eine energische, eine ehrgeizige, eine kontaktfreudige, eine analytische oder eine schwermütige Seite haben. Im Sinne des systemischen Denkens sind wir also beispielsweise nicht leistungsorientiert oder hilfsbereit, sondern wir haben Anteile dieser Eigenschaften, die wir dann im Kontakt mit anderen Personen mehr oder weniger ausleben. Dem systemischen Konzept zufolge kann dann eine Kandidatin im Bewerbungsgespräch auch nie »so sein«. Sondern ihr Verhalten wird gewissermaßen erst im »Personalauswahlsystem« (von dem sie natürlich ein Teil ist) »erzeugt« durch die Wechselwirkung aus Atmosphäre, Vorerwartungen, Fragen und Antworten, Wahrnehmung und Interpretation, nonverbaler Kommunikation,

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zeitlichen und räumlichen Rahmenbedingungen und so fort. Bestimmte Anteile ihrer Persönlichkeit werden im Kontakt mit den Auswählenden besonders angesprochen, andere Seiten kommen dagegen kaum zum Vorschein. Die Begeisterungsfähigkeit, die unsere Kandidatin im obigen Beispiel durchaus in sich trug, konnte sich nicht entfalten. Wären bei dem Gespräch andere Auswählende anwesend gewesen, zu einer anderen Uhrzeit, an einem anderen Ort, mit einer anderen Frage, dann hätte die Kandidatin vielleicht viel mehr von ihrer Begeisterungsfähigkeit gezeigt, und es wäre eine andere Gesprächsdynamik mit anderen Eindrücken entstanden. In der Praxis erleben wir dies oft bei zweistufigen Prozessen, dass Kandidaten im ersten Gespräch voll überzeugen können, im zweiten dagegen nicht mehr so sehr. In der Regel wird den Bewerbern dann abgesagt, was vermutlich den in Kapitel 2.2 beschriebenen kognitionspsychologischen Phänomenen der Fokussierungsillusion und des WYSIATI (»What you see is all there is«) geschuldet ist. Aus einer systemischen Perspektive müsste man sich dagegen fragen, was die Auswählenden im zweiten Gespräch anders gemacht haben als die Auswählenden im ersten Gespräch und welche Schlussfolgerungen sich daraus für das vermutete Verhalten der Kandidaten in der designierten Zielposition ziehen lassen. Zirkularität in der Personalauswahl Systemisches Denken in der Personalauswahl begreift ein Vorstellungsgespräch also als einen sich selbst erzeugenden, zirkulären Prozess, auf den Interviewer und Kandidaten zwar einwirken, den aber niemand allein, bewusst und autonom steuert: Beide verhalten sich so, wie sie denken, dass es von ihnen erwartet wird. Und dadurch, dass sie sich so verhalten, erzeugen und festigen sie den Glauben daran, dass ihr Verhalten richtig war. Gleiches gilt für ihre Wahrnehmung. Sie achten auf die Dinge, von denen sie erwarten, dass sie passieren. Und dadurch, dass sie sie erwarten, steigt auch die Wahrscheinlichkeit, dass sie sie wahrnehmen und dass sie sie so interpretieren, wie erwartet. Drei Zitate aus Hirnforschung, Kognitionspsychologie und Systemik verdeutlichen diese Zusammenhänge: Elger (2013, S. 53) beschreibt aus der Sicht der Hirnforschung: »Das Bewusstsein ist nur eine Momentaufnahme von wenigen Sekunden […]. Es ist praktisch wie ein Scheinwerfer, den wir in dunkler Nacht auf unsere Umgebung richten. Was im Kegel des Scheinwerfers ist, erkennen wir klar und deutlich. Wenn wir ihn weiterbewegen, sehen wir neue, andere Dinge … Ebenso verhält es sich mit dem Ich. […] Je nach der Situation, in der ich mich befinde, tritt ein bestimmter Aspekt in den Vordergrund.«

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Kahneman (2012, S. 496) beschreibt aus der Kognitionspsychologie: »Jeder Aspekt des Lebens, auf den die Aufmerksamkeit gerichtet wird, spielt bei einer umfassenden Bewertung eine große Rolle. Dies ist das Wesen der Fokussierungsillusion: Nichts im Leben ist so wichtig, wie man glaubt, wenn man darüber nachdenkt.« Von Schlippe und Schweitzer (2012, S. 115) schreiben aus systemischer Sicht: »Das Dilemma jeder Beobachtung […] liegt dabei darin, dass sie etwas markiert (beobachtet), und etwas anderes nicht markiert (nicht beobachtet). Damit macht sie sich für das Nichtbeobachtete blind – und zwar ohne es zu merken, denn würde sie es bemerken, würde sie es wieder beobachten. […] Die Differenz und damit der Vorgang der Unterscheidung […] ist also von zentralem Interesse«. Das System, aus dem Auswählende und Bewerber kommen und das sie gemeinsam miteinander erzeugen, wirkt wie Leitplanken auf das, was sie wahrnehmen, wie sie es bewerten und wie sie sich verhalten. Zu Beginn des Gesprächs wirken vor allem ihre Herkunftssysteme (Landeskultur, Unternehmenskultur, Kolleginnen und Vorgesetzte, berufliche und persönliche Erfahrungen und Erwartungen) systembildend auf das Gespräch ein. Doch mit dem ersten Blickkontakt bilden sich neue, gemeinsame Muster heraus, an denen sie ihr Denken und Handeln ausrichten. Je tiefer eingegraben die Muster und Kulturen, je stabiler das System dabei etabliert ist, desto fester, höher und widerstandsfähiger sind die Leitplanken ihres Bewusstseins. Damit kristallisieren sich Antworten auf die ersten beiden der zu Beginn dieses Kapitels gestellten Fragen heraus: 1. Wir tragen selbst dazu bei, dass sich das Verhalten der Kandidaten im Vorstellungsgespräch genau so zeigt, wie es sich zeigt, indem wir uns genau so verhalten, wie wir uns verhalten. Würden wir uns selbst anders verhalten, wäre auch ein anderes Verhalten bei den Bewerbern die Folge. Das heißt nicht, dass es nicht bestimmte Verhaltensdispositionen bei den Kandidaten gibt, also Verhaltensweisen, die sie lieber, öfter und kompetenter zeigen. Aber innerhalb ihres möglichen und wahrscheinlichen Verhaltensspektrums lösen wir als Auswählende immer nur einen Ausschnitt aus. Die entscheidende Frage für die Validität unseres Interviews ist es nun, ob der Ausschnitt aus dem Verhaltensrepertoire der Kandidaten, den wir in unserem Gespräch erwischen, repräsentativ und typisch ist für das Verhalten, das sie voraussichtlich später auch in der Zielposition zeigen werden. Dabei hilft es uns, wenn wir rekonstruieren können, welche unserer Verhaltensweisen auf

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welche Art das Verhalten bei unserem Gegenüber beeinflusst haben könnten. In jedem Fall sollten wir uns aber davon lösen, die »eine Persönlichkeit« der Kandidaten entdecken zu wollen. Stattdessen geht es darum, ihr Verhaltensspektrum in seiner ganzen Breite kennenzulernen und die Muster, Häufigkeiten und Schwerpunkte darin zu identifizieren. 2. Unsere Wahrnehmung im Vorstellungsgespräch wird geleitet von dem, was wir zu sehen erwarten. Und was wir erwarten, ist eine Folge einerseits der bereits in uns angelegten kulturellen und persönlichen Erfahrungsspuren und Prägungen im Gehirn, andererseits des Gesprächsverlaufs selbst. An der Interviewsequenz mit dem russischen Kandidaten in Kapitel 2.3 können wir dies verdeutlichen: Ein ernst und emotionsarm blickender Kandidat, der mit monotoner Stimme ohne Punkt und Komma und ohne erkennbare Struktur Dinge aneinanderreiht, die er mit Teamfähigkeit verbindet. Aus der kulturellen Logik des Kandidaten machte dies Sinn, er war im russischen Sinne professionell, wartete auf ihr Zeichen für eine neue Frage, gab viele Beispiele, offenbarte keine Widerstände. Die Interviewerin erwartete aber ein Lächeln, ein beschwingtes, proaktives Auftreten, ein abwechslungsreiches und aufeinander abgestimmtes Gespräch, ein strukturiertes Herausarbeiten dessen, was sie über seine Teamfähigkeit erfahren wollte. Da ihre Erwartungen aber nicht erfüllt wurden, hat sie die vielen Dinge, die er ihr auf der inhaltlichen Ebene zum Thema Teamfähigkeit genannt hat, gar nicht wahrgenommen oder sie hat sie ihm zumindest nicht geglaubt. Ihre intuitive Wahrnehmung dürfte eher so ausgesehen haben wie: »Du kannst mir ja viel über deine Teamfähigkeit erzählen; aber wenn ich dich im Gespräch mit mir als so wenig teamfähig erlebe, dann glaube ich dir eh nicht und höre auch nicht richtig zu.« Systemische Haltungen als Instrumente im Vorstellungsgespräch Welche Lösungsansätze bietet uns die Systemik an, um – wie es in Frage 3 formuliert wurde – vor diesem Hintergrund ein Vorstellungsgespräch so zu führen, dass wir ein möglichst breites Repertoire der Kompetenzen und Eigenschaften unserer Kandidaten kennenlernen und uns nicht zu früh gegenseitig eingrenzen? Und mit Blick auf die zwei Dilemmata der internationalen Personalauswahl gesprochen: Wie können wir im Vorstellungsgespräch erkennen, was wir noch nicht kennen, und wie finden wir heraus, an welchen kulturellen Leitplanken sich unsere Kandidaten orientieren? Die systemische Beratung und Therapie haben hierfür »systemische Hal­ tungen« entwickelt, die sich sehr konkret auf den Kontext der Personalauswahl übertragen lassen:

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I. Beziehung

Wenn wir erreichen wollen, dass wir bei aller Komplexität im Vorstellungsgespräch die Persönlichkeit, die Kompetenzen und Schwächen der Kandidaten in ihrer Vielfalt erfassen, dann bedarf es einer Atmosphäre der Offenheit und des Vertrauens. An erster Stelle unter den Erfolgsfaktoren im Auswahlprozess steht also der Aufbau einer tragfähigen und vertrauensvollen Beziehung, einer »affektiven Rahmung« (von Schlippe u. Schweitzer, 2012, S. 200) des Vorstellungsgesprächs. Eine solche Investition in die Qualität der Begegnung geschieht durch die Wahl des Ortes, des zeitlichen Rahmens, die Art der Ansprache, der persönlichen Erkundigungen, der wertschätzenden Zwischensignale, des aufmunternden Feedbacks im Gespräch. Sie ermöglichen es den Kandidaten, sich schneller und weiter zu öffnen und in ihrer Vielfalt zu zeigen. Und sie schaffen eine Vertrauensbasis auch für verstörende oder unbequeme Fragen im weiteren Prozess. Nicht zuletzt erleichtert uns eine wertschätzende und beziehungsorientierte Gesprächsführung die Wahrnehmung von Zwischentönen und nonverbalen Reaktionen, und sie macht uns auch achtsamer für unsere eigenen emotional verankerten Reaktionen, die wir dann später als Bauchgefühl rational verorten müssen. Als zusätzlicher Aspekt kommt dem Beziehungsaufbau – vorrangig vor der Kommunikation auf der Sach- und Aufgabenebene – ohnehin in den meisten Kulturkreisen eine größere Bedeutung zu als in Deutschland. Wir kommen also den meisten internationalen Gesprächspartnern auch kulturell entgegen, wenn wir der Gestaltung der Begegnung und der Beziehung mehr Raum geben. II. Neugier

Da sich die systemische Perspektive vor allem dafür interessiert, wie sich Menschen sinnvoll in ihren Systemen ausrichten und organisieren, macht auch die Frage nach einer objektiv vorhandenen Persönlichkeit im Vorstellungsgespräch keinen Sinn. Vielmehr geht es zunächst darum, »Möglichkeitsräume« zu erkennen, also Potenziale, die eine Bewerberin mitbringt oder mitgebracht hat, um in einer bestimmten Situation konstruktive Lösungen zu finden. Dies lässt sich am besten aus einer Haltung der wertschätzenden Neugier heraus erfragen, welche sich durch ein Interesse an der anderen Person und ihren ganz individuellen Mustern und Begründungen auszeichnet, so absonderlich uns diese auf den ersten Blick auch erscheinen mag. So beschreiben von Schlippe und Schweitzer (2012, S. 207): »Die Idee, man habe eine ›richtige‹ Beschreibung gefunden, verhindert dabei die Suche nach weiteren möglichen Beschreibungen. […] Die systemische

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Neugier interessiert sich für die jedem System immanente Eigenlogik, die als weder gut noch schlecht, sondern schlicht als wirksam angesehen wird, weil sie sich für dieses System offensichtlich evolutionär bewährt hat. […] Das Nichtwissen stellt also einen bestimmten Standpunkt dar, dessen vorrangiges Ziel es ist, die vorschnelle Erkenntnis zu verhindern.« Entsprechend gilt es im Vorstellungsgespräch, die eigenen Bilder, Hypothesen und Bewertungen im Kopf immer wieder zurückzuhalten und zu relativieren, um zusätzliche Informationen über die Ziele, Erfahrungen und Bewertungen aus der Perspektive des Kandidaten einzuholen. III. Ressourcen

Um die Qualität der Beziehung zu steigern und die Möglichkeitsräume zu erweitern, hilft es, das Vorstellungsgespräch durchgängig aus einer Haltung der Lösungs- und Ressourcenorientierung heraus zu führen. In der systemischen Beratung geht man davon aus, dass »jedes System bereits über alle Ressourcen verfügt, die es zur Lösung seiner Probleme benötigt – es nutzt sie nur derzeit nicht« (von Schlippe u. Schweitzer, 2012, S. 209 f.). Nun besitzt natürlich nicht jede Kandidatin die erforderlichen Kompetenzen und Erfahrungen, die sie zur Bewältigung einer neuen Position benötigt. Je eher wir aber im Bewerbungsgespräch zunächst an die Kandidatin glauben und uns bemühen, die Vielfalt ihrer Ressourcen, Kompetenzen und Potenziale sichtbar werden zu lassen, umso breiter wird später unsere Basis an Wahrnehmungen über die tatsächlich vorhandenen Potenziale sein. IV. Zirkularität

Die zirkuläre Erzeugung jedes Ergebnisses ist das Kernstück der systemischen Perspektive, und das gilt auch für das Auswahlsystem. Wir als Auswählende haben – wie im Konzept der ganzheitlichen Personalauswahl formuliert – keinen Blick von außen auf die Kandidaten, sondern wir sind Teil des Prozesses, aus dem heraus ihr Bild in uns entsteht. Entsprechend bedeutet dies, zu hinterfragen, welche eigenen Handlungen und Anteile zu einer bestimmten Antwort oder Reaktion im Vorstellungsgespräch geführt haben. Wir können aber auch spielerisch damit experimentieren, inwieweit das Verhalten der Kandidaten konsistent bleibt, auch wenn wir uns anders verhalten. Dies können wir tun, indem wir eine Frage neu formulieren, ein Lächeln einstreuen, unsere Stimmlage und Haltung verändern, eine Pause machen oder indem wir die mit der Frage verbundenen eigenen Ziele oder Bewertungen transparent machen und noch einmal erklären. Und natürlich trägt auch die Vielfalt unterschiedlicher Aus-

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Teil 2: Wie unser Urteil entsteht

wahlinstrumente und Fragetechniken dazu bei, den sich selbst stabilisierenden Einfluss unserer Subjektivität zu relativieren. Zudem beinhaltet die zirkuläre Perspektive ein automatisches Warnsignal vor allen linear-kausalen Erklärungsansätzen (Sie hat das gemacht, weil er jenes tat …) für das Verhalten der Kandidatin, auch in der Schilderung ihrer früheren beruflichen Stationen. Möglicherweise hat sich eine Kandidatin in einer früheren Situation als scheinbar führungsschwach gezeigt; um dies genauer zu verstehen, müssen wir aber die kontextabhängige Logik dieses Verhaltens weiter erforschen. Hierbei helfen sogenannte »zirkuläre Fragen«, wie die nach dritten Perspektiven (»Wie fand denn Ihre Kollegin Ihre Reaktion?«), nach Ausnahmen (»Wann haben Sie mal etwas entschieden, ohne ihr Team zu beteiligen?«), nach Skalierungen (»In welcher Position waren Sie erfolgreicher, bei Unternehmen A oder B?«) oder nach eigenen Möglichkeitskonstruktionen (»Angenommen, Sie würden bei uns einen perfekten Chef und perfekte Kollegen vorfinden, woran würden Sie diese erkennen?«). Weitere Beispiele für zirkuläre Fragen im Vorstellungsgespräch finden sich in Kapitel 4.2, wenn es darum geht, die Erkenntnisse dieses Buches in konkrete Instrumente für die Praxis zu übertragen. V. Verstörung

Aus der systemischen Perspektive folgt, dass wir immer nur das wahrnehmen und erinnern, was wir aufgrund unserer im Gehirn abgelegten Aufmerksamkeitsstruktur eben wahrnehmen und erinnern. Und von dem, was wir nicht wahrnehmen, wissen wir nichts. Je tiefer die Wahrnehmungs- und Interpretationsbahnen, je emotionaler ihre Verankerung und je stabiler das System, umso schwieriger ist es, unsere Aufmerksamkeit willentlich auf etwas Neues zu richten oder anders zu reagieren. Entsprechend können wir in festgefahrenen Mustern auch nicht einfach ein anderes Verhalten anweisen, da sich unsere Verhaltensweisen immer an irgendeiner systemimmanenten Logik ausrichten, selbst wenn keiner der Beteiligten diese bewusst verfolgt oder auch nur versteht. Übersetzt auf das Vorstellungsgespräch hilft es darum auch nur begrenzt, wenn wir uns selbst vornehmen, ab heute auch einmal eine andere Perspektive einzunehmen. Wenn dies so einfach wäre, dann hätten wir es sicher bereits getan. Was wir aber tun können ist, das bestehende System sanft und auf eine wertschätzende, respektvolle Weise aus dem Gleichgewicht zu bringen. Die neue Ordnung, die sich dann erst wieder bilden muss, gibt allen Beteiligten die Chance, das System und die in ihm wirkenden Sichtweisen zu verändern. Indem wir das bestehende System verstören und erwartete Muster unterbrechen, geben

Die Kandidaten entstehen im Gespräch

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wir anderen Attraktoren die Gelegenheit, unsere Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und neue Wahrnehmungen zutage zu fördern. Im Interview kann dies z. B. durch die Schilderung einer eigenen Erfahrung geschehen, durch eine körperliche Veränderung (Aufstehen, den Flipchart nutzen etc.) oder durch unerwartete Fragen (»Welche Person in Ihrem persönlichen Umfeld ist ihr größtes Vorbild?«), ungewöhnliche Formulierungen (»Warum interessieren Sie sich denn ausgerechnet für ein so unbekanntes Unternehmen wie unseres?«) oder durch eine scheinbar paradoxe Zielrichtung (»Woran wird es liegen, falls das Projekt scheitern sollte?«). Mit manchmal auch unorthodoxen Fragen können wir andere Seiten bei den Kandidaten ansprechen und damit auch bei uns selbst andere Wahrnehmungen stimulieren und beobachten, wie sich die Gesprächssituation dadurch verändert. Systemische Personalauswahl als Lösungsansatz im interkulturellen Vorstellungsgespräch Aus diesen Darstellungen lassen sich Eckpunkte für ein Konzept der systemischen Personalauswahl entwickeln, welches einen umso größeren Mehrwert gegenüber den klassischen Methoden der Personalauswahl bietet, je stärker sich Auswählende und Kandidaten kulturell voneinander unterscheiden: • In einer systemisch ausgerichteten Personalauswahl geht es nicht darum, einen feststehenden Persönlichkeitskern der Bewerberinnen und Bewerber zu erkennen. Vielmehr wird jedes Individuum als eigenes System verschiedener Anteile und Verhaltensweisen verstanden, die im Vorstellungsgespräch unterschiedlich stark angesprochen werden und mit den Auswählenden »in Resonanz gehen« können. Die Zielsetzung des Interviews verändert sich von daher dahingehend, anstatt eines feststehenden Persönlichkeitskerns ein möglichst breites und repräsentatives Spektrum der unterschiedlichen Seiten der Kandidaten sichtbar zu machen sowie Muster und Schwerpunkte darin zu identifizieren. Durch diesen breiteren und ergebnisoffeneren Ansatz wächst die Bereitschaft dazu, auch ungewohnte Verhaltensweisen zunächst einmal ohne Bewertung stehen zu lassen. Das eigene Schubladendenken erodiert. • Da die Auswählenden Teil des Auswahlsystems sind und ihrerseits das Verhalten der Kandidaten beeinflussen, müssen sie im Blick haben, wie sie durch ihre eigenen Fragen, Reaktionen und Bewertungen das Auswahlurteil selbst mit herbeiführen. Diese Form der Selbstreflexion beinhaltet, dass die Auswählenden auch ihre kulturellen Prägungen und Prämissen dahingehend hinterfragen. Die Suche

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nach den potenziell unterschiedlichen kulturellen Maßstäben und nach den Verzerrungen, die sich im Vorstellungsgespräch daraus ergeben, wird damit Teil des Auswahlprozesses. • In der Bewertung der Antworten der Kandidaten geben sich die Auswählenden nicht mit linear-kausalen Erklärungsmustern (»Mein Chef hat seine Versprechungen nicht eingehalten, also habe ich das Unternehmen verlassen«) zufrieden, sondern sie versuchen, Wechselwirkungen und systemische Zusammenhänge in der geschilderten Situation offenzulegen (»Wie hat denn die Personalabteilung darauf reagiert, dass die Zusagen nicht eingehalten wurden?«) und dadurch Verhaltensmuster bei den Kandidaten genauer zu erkennen. Dieses ganzheitliche und vernetzte Denken  – und die entsprechenden zirkulären Fragetechniken  – der Systemik machen die Gedankenwelt der Kandidaten in ihrer Komplexität und kulturellen Unterschiedlichkeit sichtbar, ohne sie unmittelbar einzuordnen. Der Versuch dagegen, lineare Begründungszusammenhänge herzustellen (»Warum haben Sie …«) folgt den eigenen Bewertungsmustern, Denkstilen und Gedächtnisstrukturen und ist darum anfälliger für kulturell bedingte Verzerrungen. • Eine wichtige Aufgabe der Auswählenden in der systemischen Personalauswahl besteht darin, eigene, systemisch bedingte Wahrnehmungsgrenzen und Eigendynamiken zu erkennen und zu durchbrechen. Dies beinhaltet sowohl die Begrenzungen, die sich aus den Herkunftssystemen (Kultur, Gewohnheiten im Unternehmen, persönliche Erfahrungen, Erwartungen nach dem Lesen des Lebenslaufs etc.) ergeben, als auch Beschränkungen aufgrund der Gesprächsdynamik selbst. Systemische Haltungen wie Beziehungsorientierung, Ressourcenorientierung, Neugier und die Bereitschaft zur vorsichtigen Verstörung des Systems sind vor allem für diesen Aspekt von großer Bedeutung. Dieser Ansatz vergrößert die Chance, auch kulturelle Prägungen zu erkennen und sich von den Kandidaten erklären zu lassen, die man vorher noch nicht kannte. • Da jedes Gespräch eine eigene Systemdynamik entwickelt, die alle nur beeinflussen, aber keine der beteiligten Personen so beabsichtigen und steuern kann, kann das Festhalten an vorab normierten und standardisierten Fragen kaum zu adäquaten Ergebnisse führen. Stattdessen gilt es, mit den aus dem Anforderungsprofil der Position entwickelten Gesprächszielen im Kopf, das eigene Verhalten im Vorstellungsgespräch flexibel zu halten. »Trial and error« während des Interviews ist in diesem Sinne der effizientere Ansatz als eine aufwendige Validierung von Frageformaten im Vorfeld.

Die Kandidaten entstehen im Gespräch

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Diese Grundhaltung der Systemik lässt sie auch kulturell bedingte Missverständnisse leichter verkraften und flexibler darauf reagieren. Da es nicht nur einen Weg zum Ziel gibt, gibt es auch nicht nur einen richtigen Weg zum Ziel; das Scheitern ist dem »trial and error« immanent. Entsprechend ist das Risiko von interkulturellen Missverständnissen und daraus erwachsenden Enttäuschungen und Frustrationen geringer: Wenn der eine Weg nicht funktioniert, versuchen wir eben einen anderen. • Die systemische Personalauswahl zeichnet sich somit durch eine Haltung des Nichtwissens aus, da niemand im Vorfeld vorhersagen kann, wie das Gespräch verlaufen wird und welche Frage letztlich die relevantesten Informationen über die Stärken und Schwächen der Kandidaten hervorgebracht haben wird. Auch in diesem Sinne verändert sich die Position der Auswählenden, wie in der Einleitung formuliert, von Wissenden zu Suchenden. Anstatt aus einer herausgehobenen Position heraus objektive Wahrheiten über den Kandidaten besitzen und erkennen zu wollen, suchen die Interviewer auf einer Ebene mit den Kandidaten zusammen nach der Passung von Bewerber und Vakanz. Nicht die richtige (also zu den Auswählenden kulturell passende) Beant­ wortung der Fragen oder die gelungene (also auf die Auswählenden kulturell abgestimmte) Präsentation überzeugender Beispiele entscheiden in diesem Modell über Erfolg und Misserfolg im Vorstellungsgespräch. Im Vordergrund steht die gemeinsame Exploration, ob die Erfahrungen und das Verhaltensrepertoire der Kandidaten geeignet sind, die mit der Zielposition verbundenen Herausforderungen zu meistern. Ein Selbstverständnis der Interviewer, dass die Bewerber kulturell weitgehend so sein sollten wie sie selbst, gerät dadurch ins Wanken. Eine systemisch orientierte Personalauswahl erhöht entsprechend unsere Fähigkeit, treffsichere interkulturelle Vorstellungsgespräche zu führen, selbst wenn uns die spezifischen kulturellen Prägungen der Kandidaten nicht bekannt sind – was, siehe Dilemma 1 und 2, letztlich immer der Fall ist.

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2.5 »Sie passte nicht zu uns« – zur Wirkung kultureller Unterschiede in der Personalauswahl »Used properly, intercultural experiences can be a tremendous eye-opener, providing a view of one’s self seldom seen under normal conditions at home.« Edward T. Hall

Wie wirkt sich nun die kulturelle Prägung, die wir aus unserer persönlichen Biografie mit in das Vorstellungsgespräch hineinbringen, auf die Prozessdynamik in der Personalauswahl aus? Was passiert mit uns, wenn wir uns interkulturell missverstehen? Und wie sollten wir damit umgehen, wenn wir den Eindruck gewinnen, dass die Kandidatin kulturell nicht passt? Beginnen wir zunächst wieder mit einer kurzen interkulturellen Interviewsequenz, um uns den Antworten auf diese Fragen zu nähern: Sie (aus Deutschland):  Wenn Sie eine Million Euro im Lotto gewännen, was würden Sie tun? Er (aus Syrien):  Ich würde mir einfach kaufen, ach was kaufen, ich würde mir einfach ein schönes Hotel suchen, in einer schönen Gegend, mit einem tollen Bad, und dort würde ich bleiben, bis die eine Million Euro aufgebraucht sind. Sie (etwas überrascht):  Ach, so wie Ferien einfach, oder so? Er (bleibt cool, schmunzelt etwas):  Ja, lange Ferien. Sie (lacht und beugt sich vor):  Lange Ferien, Ja? … O. K. (Kurze Pause, sie lacht wieder und lehnt sich zurück.) Das ist ja interessant. Er (lacht auch): Ja!

Was wollte die Interviewerin mit dieser Frage wohl erreichen, und wie hat Ihnen als Leserin und Leser seine Antwort gefallen? Das Ziel der Interviewerin war es vermutlich, ihn mit dieser Frage als Mensch näher kennenzulernen: Was hat er für Visionen jenseits der Arbeit, wofür brennt ein Feuer in ihm, und was treibt ihn wirklich an jenseits eines für den Lebensunterhalt erforderlichen Broterwerbs? Zudem wollte sie ihn eventuell mit dem unkonventionellen Szenario auch etwas aus dem Gleichgewicht bringen und sehen, wie er darauf reagiert. Dabei war sie, wie sie später in der Analyse zugab, fast schockiert von seiner Antwort. Sie hatte erwartet – und erhofft –, dass er sich ganz einer Sache und Aufgabe verschreiben würde, wie z. B. seiner Familie, seinem Land oder einem größeren Ganzen etwas Gutes zu tun. Zumindest hatte sie gedacht, dass er sich einen Lebenstraum erfüllen würde, wie auf Weltreise mit einer Luxusjacht zu

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gehen oder den Himalaya zu besteigen. Oder er hätte das Geld auch zum Teil verschenken und den Großteil sparen können, um weiter seiner Arbeit nachzugehen, weil er sein Leben und seine Arbeit insgesamt sehr erfüllend findet und Geld ihm nichts bedeutet. Aber einfach in einem Luxushotel wohnen und warten, bis das Geld weg ist? Er dagegen steigt auf ihre Erwartungshaltung in keiner Weise ein. Er merkt natürlich, dass dies ein sehr ungewöhnliches Szenario ist und dass sie hier eine neue Seite an ihm sehen möchte. Aber er erkennt die Ernsthaftigkeit hinter ihrer Frage nicht, versteht die Frage wohl eher als etwas verschrobenes Beziehungsangebot, geht darauf ein, lacht ein bisschen und spielt es »cool«. Was war nun kulturell geprägt an ihrer Frage und an seiner Antwort? Wiederum können wir das nicht wissen, aber auf der Basis von Kulturstandards Hypothesen dazu aufstellen. Kulturell »deutsch« beeinflusst war dann wohl vor allem ihre Erwartungshaltung, die geprägt ist von einer protestantischen Leistungsethik, der damit einhergehenden Gewissenhaftigkeit sowie der darin verankerten Sach- und Aufgabenorientierung (mehr dazu im dritten Teil dieses Buches): Man kann doch nicht einfach nichts tun wollen, wenn man eine Million Euro gewinnt? Man muss doch etwas damit machen? Kulturell »arabisch« an seiner Antwort ist vermutlich, dass er auf diese Leistungsebene – zumindest in diesem Kontext – nicht eingeht. Er begreift die Frage stattdessen – bei so einem unernsten Szenario – als Einladung zum gemeinsamen Fantasieren und Träumen. Der Sinn des Lebens ist doch ein gutes Leben? Und wäre es nicht schön, einmal all seinen Verpflichtungen entkommen zu können? Und lädt die Frage nicht zu einer Verbrüderung ein, da sie Spaß und Freiheit und auch ein bisschen Anarchie ausstrahlt? Man bekommt den Eindruck, dass von der Frage eher seine expressive, leichte, emotionale und Geschichten erzählende arabische Seite (Ehlail, 2013; Kratochwil, 2006) angesprochen wird. Dass er der Interviewerin auch bei so einer spielerischen Frage nicht wirklich darum geht, ihn kennenzulernen, sondern dass sie damit seine Leistungsbereitschaft und seinen Idealismus überprüft, das kommt ihm in seiner beziehungsorientierteren kulturellen Prägung nicht in den Sinn. Was bleibt, ist auf beiden Seiten das etwas unglückliche Gefühl, hier nicht das Richtige gefragt und nicht das Richtige geantwortet zu haben. Man hat sich nicht verstanden und man hat nicht einmal verstanden, warum. Ein leichtes Gefühl der Leere und Enttäuschung mag sich in den beiden ausbreiten. Wie lassen sich nun die Gefühle, die dieses Szenario auslöste, in den Begriffen der interkulturellen Kommunikation erklären? Was können wir über den Einfluss kultureller Missverständnisse auf die Dynamik des Vorstellungsgesprächs daraus

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lernen? Wie sollte die Interviewerin damit umgehen, dass der Kandidat kulturell scheinbar nicht passt? Und wie können ihr die oben skizzierten Methoden der systemischen Personalauswahl helfen, trotz des gegenseitigen Nicht-Verstehens in dieser Sequenz zu einer validen Personalauswahl zu finden? Kultur als Referenzrahmen Im systemischen Sinn verstanden ist eine kulturelle Prägung zunächst kein Persönlichkeitsmerkmal. Kultur ist vielmehr ein Bezugs- und Regelsystem, in das wir durch Kindheit, Schule, Arbeit, Medien usw. hineinwachsen, und welches wir – da wir uns normalerweise an die Regeln halten – immer wieder selbst mit erzeugen. Auf das Beispiel der Pünktlichkeit angewandt sind wir in Deutschland nicht per se »pünktliche Persönlichkeiten«. Aber im deutschen Kulturraum wird pünktliches Erscheinen und Beginnen im beruflichen Kontext überwiegend als »richtig« (angemessen) bewertet und Verstöße dagegen werden kommunikativ (verbal oder nonverbal) geahndet. Dadurch, dass wir meist pünktlich erscheinen oder uns im Falle der Unpünktlichkeit dafür entschuldigen, tragen wir zur Bestätigung dieses Kulturstandards bei. Bis zu einem gewissen Grad – und natürlich von Person zu Person unterschiedlich – haben wir diese Erwartung verinnerlicht, und es bereitet uns emotionale Unruhe, unpünktlich zu erscheinen. Trotzdem haben wir je nach Kontext die Freiheit, zum Beispiel als Kunde oder bei einer privaten Verabredung, auch unpünktlich zu sein; nur müssen wir dies dann kommunikativ erklären bzw. neu verhandeln. Kultur wird also in kommunikativen Prozessen (verbal und nonverbal) erzeugt und verstetigt, so wie die oben im systemischen Sinne beschriebenen Attraktoren zu Regeln und immer festeren Leitplanken unseres Handelns werden. Sie werden Teil unserer Identität, steuern unsere Wahrnehmungen und unser Verhalten, und dennoch müssen wir uns ihrer immer wieder im Kontakt mit unserer Außenwelt versichern, um sie stabil zu halten. Die Psychologen Storch und Tschacher (2014) haben diesen Prozess der gegenseitigen Vergewisserung als »Synchronisation« bezeichnet. In ihrem Kommunikationsmodell verabschieden sie sich komplett von der konventionellen Vorstellung, es gehe bei Kommunikation um den Austausch von Botschaften, die man richtig decodieren müsse. Die schiere Menge der Botschaften, die man verbal, nonverbal (durch Gestik und Mimik) und paraverbal (durch Intonation) auf den verschiedenen Sach- und Beziehungsebenen zu jedem beliebigen Zeitpunkt gleichzeitig bewusst und unbewusst sende und empfange, so ihre These, sei viel zu hoch, um sie überhaupt noch decodieren zu können. Stattdessen gehe

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es im kommunikativen Prozess darum, dass man »Stimmigkeit« erzeuge, indem man sich geistig (durch Einigung auf Bedeutungen) und körperlich (durch Angleichung der Gestik, Mimik, Körperhaltung, Stimmlage usw.) synchronisiere. Und genau diese Synchronisierung funktioniert in unserem obigen Beispiel nicht, genauso wenig wie sie in den Interviewsequenzen mit dem chinesischen oder dem russischen Kandidaten funktioniert. Beide Gesprächspartner wissen jeweils voneinander nicht, wo der andere steht, warum er sich so verhält, was er oder sie für Ziele verfolgt, und sie fühlen sich nicht verstanden. Das Bild, das sie von sich selbst haben, ihre Selbstwahrnehmung als kompetente, zielorientierte, wirksame, verständnisvolle und insgesamt angemessene Interviewer und Kandidaten wird nicht bestätigt. Hieraus entsteht bei beiden Parteien emotional spürbare Unsicherheit. Was passiert, wenn wir uns kulturell nicht verstehen? Warum wirkt sich diese Verunsicherung so emotional aus? Neurologische Untersuchungen haben gezeigt, dass wir auf die Bedrohung oder Verletzung sozialer Bedürfnisse genauso stark und in den gleichen Hirnregionen reagieren wie bei körperlichen Schmerzen. Der amerikanische Hirnforscher David Rock (2009) beschreibt diese mit dem sogenannten »SCARF«-Modell: 1. Status (Habe ich einen sicheren Platz hier?), 2. Certainty (Kann ich ausreichend vorhersagen, was die Zukunft für mich bereithält?), 3. Autonomy (Kann ich ausreichend selbst beeinflussen, was ich tue?), 4. Relatedness (Habe ich ausgefüllte soziale Beziehungen?) und 5. Fairness (Bekomme ich einen gerechten Anteil ab?). Und auf allen fünf Ebenen fühlen wir als Auswählende uns in unserer Identität durch eine schieflaufende interkulturelle Begegnung verunsichert. Unsere Position als Experte oder Entscheidungsträger ist gefährdet (Status), wir können die weitere Entwicklung nicht einschätzen (Certainty), und es stellt sich ein Gefühl von Frustration und Kontrollverlust ein, da wir nicht bewirken und erreichen, was wir uns vorgenommen haben (Autonomy). Der Beziehungsaufbau und das Vertrauen zum Gegenüber sind gestört (Relatedness), und oft kommt das Gefühl hinzu, übervorteilt oder ausgenutzt zu werden (Fairness). Gleiches gilt natürlich für die Bewerber gleichermaßen. Wie gehen wir nun als Auswählende mit diesen negativen Emotionen im Vorstellungsgespräch um? Wir wissen aus der Neurologie, dass wir negative Emotionen als weniger belastend erleben, wenn wir uns ihre Ursache rational

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erklären und sinnhaft in unsere mentalen Modelle integrieren können. Und die Intensität von Emotionen schwächt sich ab, wenn wir unsere emotionale Reaktion benennen und damit zu einem gewissen Grad externalisieren können (Elger, 2012, S. 76). Können wir uns das irritierende Verhalten der Kandidaten also durch kulturelle Einflüsse erklären oder können wir uns zumindest unsere negativen Gefühle eingestehen, dann reduziert sich die bei uns entstehende emotionale Reaktion. Solange wir uns unsere Gefühle also zugestehen und erklären können, wenn wir uns insgesamt stabil und ausgeglichen fühlen, dann stellen uns diese Emotionen wichtige Signale für das weitere Interview zur Verfügung. Wir können dann gezielter an den ambivalenten Punkten nachfragen und überprüfen, was uns an der Antwort aufgeregt hat. Häufig sind diese Voraussetzungen aber nicht gegeben, wir sind selbst verunsichert, sodass wir unbewusst mit Abwehrmechanismen reagieren, um unser inneres Gleichgewicht zu bewahren. Der Begriff der Abwehrmechanismen geht auf die Psychoanalyse zurück und bezeichnet alle nicht bewusst gesteuerten Mechanismen der Psyche, um unangenehme Affekte und innere Konflikte zu bewältigen. Diese an sich sinnvollen und zur Selbststeuerung unabdingbaren automatisierten Prozesse werden vor allem dann problematisch, wenn sie andere Menschen in die Stabilisierung der eigenen Psyche einbeziehen. Der Psychologe Karl König (1997) hat diese Abwehrmechanismen umfangreich zusammengefasst. Die bekanntesten dabei sind Verdrängung (das störende Erlebnis wird nicht bewusst wahrgenommen), Regression (Rückfall in eine frühere Entwicklungsstufe), Vermeidung, Verschiebung (z. B. das Auslassen von Aggressionen an unbeteiligten Dritten), Projektion (die eigenen Gefühle und Selbstbewertungen werden den anderen zugeschrieben), Intellektualisierung und Rationalisierung, Abwertung, Idealisierung oder Somatisierung (Entladung in körperlichen Beschwerden). Für den Auswahlprozess sind dabei vor allem die Projektion, die Verschiebung, die Rationalisierung und die Abwertung relevant: • Im Falle der Projektion verlagert der Auswähler z. B. seine eigene aktuelle Überlastung auf den Kandidaten, den er dann als aufdringlich und »pushy« erlebt. Oder er projiziert sein geringes Selbstbewusstsein auf den Kandidaten, den er als arrogant und selbstgefällig wahrnimmt. • Bei einer Verschiebung wird z. B. ein Konflikt innerhalb des Auswahlkomitees (oder zwischen der Auswählerin und ihrer Vorgesetzten) auf dem Rücken der Kandidatin ausgetragen. • Bei der Rationalisierung werden Gefühle der Unzufriedenheit z. B. mit Verweis auf Stereotype (»Da sind die Amis halt viel radikaler«) abgewehrt. Oder

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es werden scheinbar allgemeingültige Setzungen formuliert wie »So kann man sich doch hier nicht benehmen!«. • Nicht zuletzt ist die Abwertung der naheliegendste Abwehrmechanismus in der Personalauswahl. Konfrontiert uns die Kandidatin mit Antworten, die wir nicht verstehen oder die uns verunsichern, dann schreiben wir dies der Kandidatin zu, indem wir sie z. B. als »planlos« oder »ausweichend« klassifizieren. Wir wählen sie dann einfach nicht aus und sagen ihr ab. Allen Abwehrmechanismen ist gemein, dass wir – um eine eigene unbekannte und sich negativ anfühlende Emotion in den Griff zu bekommen – die Verantwortung dafür den Kandidaten übertragen. Dabei ist gerade das unangenehme Gefühl des »Nicht-Verstehens« und des »Nicht-Verstandenwerdens« in der interkulturellen Kommunikation etwas, das immer beide Parteien gleichermaßen fühlen und verursachen. Unser negatives Bauchgefühl schreiben wir dennoch meist nur den Kandidaten zu. »Sie passte nicht« als Absagegrund Nun könnte man argumentieren, dass eine fehlende kulturelle Passung zwischen Kandidaten und Auswählenden, erst recht wenn sie sich stark im Bauchgefühl zum Ausdruck bringt, doch ausreicht als Grundlage für eine Absage. Wozu muss ich verstehen, worin genau die kulturellen Unterschiede liegen und warum beide Parteien so emotional reagieren, wenn das Ergebnis doch dasselbe ist: Sie passen nicht!? Diese Argumentation ist aber zu kurz gegriffen: • Erstens ist das Urteil der Auswählenden nicht notwendigerweise deckungsgleich mit dem der restlichen Organisation. Vielleicht sprechen die Kollegen in der Fachabteilung lange nicht so stark auf die kulturellen Unterschiede an? • Zweitens ist unsere eigene kulturelle Prägung nicht zwingend repräsentativ für die Zielposition. Für die zweite oder dritte Führungsebene in Russland ist z. B. die kommunikative Kompetenz im russischen Kulturkreis oft wichtiger als die Passung zum westlichen Mutterhaus. • Drittens haben wir unter Umständen in Anbetracht des Fachkräftemangels keine Bewerber zur Verfügung, die fachlich und kulturell zu uns passen. Wenn es uns von daher nicht gelingt, auch dann eine fachliche und persönliche Eignung zu erkennen, wenn die Kandidaten kulturell anders sind als wir, werden wir manche Stellen perspektivisch gar nicht mehr besetzen können. • Viertens sind nicht alle Unterschiede kulturell und erst recht nicht nationalkulturell bedingt. Auch unterschiedliche Prägungen aufgrund der persön-

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lichen Biografie, des Alters, des Studienschwerpunktes, der sozialen Schicht oder früherer Unternehmenskulturen äußern sich im Vorstellungsgespräch und beeinflussen dessen Prozessdynamik auf genau dieselbe Art und Weise. Spätestens dann sollten wir sensibel sein für kulturell und individuell bedingte Verzerrungen im Auswahlprozess, wenn wir nicht immer automatisch die Bewerber vorziehen wollen, die uns ähnlich sind. • Fünftens sind kulturelle Prägungen grundsätzlich veränderbar, auch wenn dies natürlich davon abhängig ist, wie tief sie in der eigenen Persönlichkeit und Identität verankert sind. Und natürlich können wir durch interkulturelle Trainings diesen Anpassungs- und Integrationsprozess unterstützen und die Kompetenz erhöhen, auch über kulturelle Unterschiede hinweg effizient zu kommunizieren. Von daher sollten wir nicht nur schauen, wie anders die Kandidatin ist, und darum gegebenenfalls absagen. Sondern die entscheidende Frage ist, welche Unterstützungsmaßnahmen es erfordern würde, um trotzdem eine funktionierende Kommunikationsgrundlage an den relevanten Schnittstellen zu schaffen. • Sechstens muss es das Ziel jeder Organisation sein, sukzessive mehr Vielfalt in das Unternehmen zu rekrutieren. Ein aktives Diversity-Management stärkt die Innovationskraft, die Anpassung an die Globalisierung sowie Problemlösungskompetenzen im Unternehmen und es flankiert den demografischen Wandel. Und wollen oder können wir es uns wirklich leisten, auf Dauer kulturelle Prägungen chinesischer, indischer oder russischer Art aus unseren Organisationen fernzuhalten, wenn wir gerade in diesen Ländern unsere Wachstumsmärkte sehen? Erinnern wir uns an die bislang in diesem Buch analysierten Interviewsequenzen: Der chinesische Kandidat, der die deutsche Interviewerin mit seiner diffusen, »sowohl-als-auch«-Antwort auf die Frage nach der Selbstmotivation frustrierte. Der russische Kandidat, der die Recruiterin mit einem unstrukturierten Monolog auf die Frage nach den eigenen Teamerfahrungen überforderte. Der syrische Bewerber, der sich auf die Frage nach seinem Konflikttypus einfach nicht festlegen oder einen Lottogewinn im Hotel verprassen wollte und dadurch die Interviewerin irritierte. In allen drei betreffenden Interviewsimulationen haben wir die rund 15 Personen im Publikum anschließend um eine Bewertung der Kandidaten bezüglich der mit der Frage verbundenen Kompetenzen auf einer Skala von 1 (sehr schlecht) bis 10 (sehr gut) gebeten. Die Streuung lag zwischen 3 bis 9 bei dem Kandidaten aus Syrien in Bezug auf Konfliktfähigkeit, zwischen 3 und 8 (klare Kommunikation) bzw. 4 und 8 (Teamfähigkeit) bei dem Kandidaten aus

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Russland und zwischen 3 und 9 in Bezug auf Durchsetzungsstärke und Überzeugungsfähigkeit bei dem Kandidaten aus China. Die Frage, wie das Vorhandensein der jeweiligen Kompetenz im Publikum gesehen wurde, hing somit extrem von den Beurteilenden ab, viel mehr als von den Kandidaten. In allen drei Fällen handelte es sich dabei um hoch qualifizierte Kandidaten, ausgewählt für begehrte Stipendien und sehr erfolgreich in ihren bisherigen beruflichen Stationen. Es wäre sehr schade, sie nicht einzustellen, nur weil sie kulturell scheinbar nicht passten!

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2.6 Von der Zukunft her auswählen – eine wirtschaftswissenschaftliche Perspektive auf unsere Subjektivität in komplexen Umgebungen »It is the quality of our awareness, which determines the quality of our results« Otto Scharmer

Unsere Subjektivität, so lautet der Leitgedanke der bisherigen Kapitel im zweiten Teil, beeinflusst unsere Auswahlergebnisse in sehr viel größerem Maße, als wir denken. Wir überschätzen unsere Urteilsfähigkeit, wenn wir meinen, wir könnten objektiv erkennen, ob ein Kandidat bestimmte Kompetenzen hat oder nicht. Je weiter die persönlichen und kulturellen Prägungen der Kandidaten von unseren eigenen abweichen, desto mehr müssen wir die in den Kapiteln 2.1 bis 2.5 dargestellten Muster und Mechanismen unserer subjektiven Urteilsbildung erkennen und integrieren, wenn wir zu treffsicheren Auswahlentscheidungen kommen wollen. Die in diesem Kapitel dargestellte Perspektive der Wirtschafts- und Orga­ nisationswissenschaften fügt dieser Argumentation noch einen weiteren Aspekt hinzu: Selbst wenn wir es könnten, sollten wir uns nicht ausschließlich auf ein objektiviertes und verwissenschaftlichtes Verfahren verlassen, da es für die Lösungsfindung in komplexen Umgebungen nicht mehr ausreicht. Komplexe Umgebungen verlangen komplexe Lösungen Das Umfeld unserer Organisationen ist von wachsender Komplexität geprägt. Digitalisierung und Globalisierung, um nur die wichtigsten Dynamiken zu benennen, zwingen uns zu immer schnelleren Produktanpassungen auf immer unübersichtlicheren Märkten. Heijo Rieckmann (1997) nennt dies »Dynaxity« (ein Kunstwort aus Dynamics und Complexity, siehe Abbildung 7) der Stufe III, geprägt unter anderem von Instabilität, Sprunghaftigkeit, kurzen Planungshorizonten und unüberschaubaren Wechselwirkungspotenzialen. Scharmer (2009) prägte hierfür den Terminus »Generative Komplexität«, in der wir die Lösung für die Herausforderungen von heute oft noch gar nicht kennen, ja nicht einmal über die Art der Herausforderung und über die zu ihrer Lösung benötigten Akteure Klarheit besteht. In Zeiten solcher Komplexität führt unsere bisher erfolgreiche – arbeitsteilig, linear und pyramidal aufgestellte – Organisationsform zu zunehmend dysfunktionalen Lösungen. Wir agieren dann zu sehr der Vergangenheit verhaftet. Und wir treffen Entscheidungen nicht dort, wo das eigentliche Wissen

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Von der Zukunft her auswählen

Geschwindigkeit Sufe III: hohe »Dynaxity« Problemlösungsmodus: dialogisch, vernetzt, systemisch, selbst-reflexiv (»double-loop«) Sufe II: mittlere »Dynaxity« Problemlösungsmodus: argumen­tativ, hierarchisch, linear (»single-loop«) Sufe I: Routine, »downloading«

Komplexität

Abbildung 7: »Dynaxity«-Modell nach Rieckmann. Quelle: eigene Darstellung nach Rieckmann, 1997

ist: nämlich auf der Arbeitsebene und beim Kunden. Stattdessen treffen wir die Entscheidungen an der Spitze und im Zentrum der Organisationen (Pfläging, 2014). Unsere Entscheidungs- und Planungsprozesse werden dadurch zu langsam, und wir entwickeln Lösungen an den Erfordernissen der Zukunft und an der Zielgruppe vorbei. »Wir produzieren dann gemeinsam Ergebnisse, die keiner haben will« (Scharmer, 2009, S. 24). »Methodistisches, rezeptologisches Vorgehen ist damit endgültig vorbei«, schreibt Rieckmann (1997, S. 12) zu den daraus erwachsenden Anforderungen der Dynaxity der Stufe III, »rein rationalistisch-analytische Faktenhuberei ebenfalls. […] Die Fähigkeit zur Selbstdistanzierung, Reflexion, Selbstkritik sowie Veränderungsfähigkeit und Selbstorganisation wird unverzichtbar.« Das Hinterfragen der eigenen Perspektive, Sensibilität, Kreativität und »Überraschungskompetenz« im Sinne einer Offenheit für das Unerwartete werden in diesem Modell zu Schlüsselkompetenzen. Von der Zukunft her auswählen Der am MIT in Boston lehrende Wirtschafts- und Organisationswissenschaftler Otto Scharmer hat hierzu mit seinem Buch »Theorie U – von der Zukunft her führen« (2009) ein Führungskonzept entwickelt, welches den erfolgreichen Umgang mit Komplexität in das Zentrum des Managementhandelns stellt. In diesem Ansatz skizziert er vier »Felder der Kommunikation«, welche jeweils zur Bewältigung von vier sukzessiv steigenden Komplexitätsniveaus benötigt werden: • Feld 1 (»Downloading«) benennt dabei die rein auf die Vergangenheit und auf sich selbst gerichtete Handlung des »so wie immer«. Es findet eigentlich gar keine Kommunikation statt.

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Teil 2: Wie unser Urteil entsteht

• Feld 2 (»Debatte«) meint einen sachbezogenen, objektorientierten Austausch über Fakten, ohne sich wirklich mit den Motiven des Gegenübers auseinanderzusetzen. Hier bewegen wir uns in den klassischen arbeitsteiligen, linearen Managementkonzepten. • Feld 3 (»Dialog«) beschreibt eine selbstreflektierte, vernetzte und beziehungsorientierte Kommunikationsebene, in der die Wechselbeziehungen der Akteure, ihre Zielsetzungen und ihre auch kulturell geprägten Perspektiven durch empathisches Zuhören sichtbar und damit gestaltbar werden. Diese Ebene findet sich wieder in Konzepten der sich selbst steuernden Prozesse (»Dynaxity«-Stufe III) und im systemischen Ansatz, wie er in Kapitel 2.4 beschrieben wird. • Feld 4 (»Presencing«) schließlich fügt der Kommunikationsform des Dialogs noch eine weitere Ebene der Wahrnehmung hinzu, die wir durch eine stärkere Berücksichtigung der eigentlichen Zielsetzungen (und Quellen) unseres gemeinsamen Handelns erreichen. Das Besondere an Feld 4 ist hier, dass es sich nicht mehr auf die Vergangenheit als Referenzpunkt für unsere Entscheidungen und Handlungen bezieht, sondern auf die sich in der gemeinsamen Intention zeigende Zukunft. Nur aus der Vergangenheit, so Scharmers Credo, können wir in den generativen Komplexitäten von heute nicht mehr zu adäquaten Lösungen gelangen. Auf die Personalauswahl übersetzt (s. Tabelle 3), bewegen wir uns mit den bisherigen Konzepten der Eignungsdiagnostik im Wesentlichen auf dem linearen, arbeitsteiligen und pyramidalen Organisationsmodell von Scharmers Feld 2 (»Debatte«), wie es für die mittlere »Dynaxity«-Stufe II entwickelt wurde. Die Anforderungsprofile werden linear entwickelt aus dem, was in der Vergangenheit erfolgreich war und bilden die rezeptologische Grundlage des Auswahlprozesses: »Man nehme 300 Gramm Konfliktfähigkeit, 600 Gramm Dynamik und einen gehäuften Teelöffel Kreativität.« Das Vorhandensein der Zutaten wird dann vermeintlich rational und faktenbasiert auf der Basis standardisierter Frageformate »abgewogen«. Wir haben es aber in der internationalen Personalauswahl mit den in der Einleitung beschriebenen zwei Dilemmata zu tun, welche eine Ambiguität, Komplexität und Dynamik der 3. »Dynaxity«-Stufe bzw. des 3. Feldes bei Scharmer unvermeidbar machen: Wir müssen das Verhalten der Kandidaten aus einer uns fremden kulturellen Perspektive beurteilen, die wir nie zu 100 % verstehen können. Und wir können erst im Auswahlprozess herausfinden, welche kulturelle Perspektive die Bewerber tatsächlich mitbringen. Hierfür benötigen wir einen Zuwachs an Selbstreflexion, an dialogorientierter Kommunikation

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Von der Zukunft her auswählen

und Überraschungskompetenz, wenn wir weiterhin zielführende Auswahlergebnisse erzielen wollen. Im 4. Feld der Personalauswahl ergänzen wir diese Ebene mit dem geschärften Blick für das, was wir mit der Stellenbesetzung eigentlich erreichen wollen und erreichen können. Damit öffnen wir unsere Wahrnehmung für die sich erst im Auswahlprozess zeigenden Potenziale von Position und Kandidaten. Vielleicht benötigen wir – um im obigen Bilde zu bleiben – doch nicht 300 Gramm Konfliktfähigkeit, sondern 500 Gramm? Vielleicht brauchen wir auch eine andere Sorte Konfliktfähigkeit als die, die sonst in unserem Unternehmen vorherrscht? Vielleicht erleben wir im Auswahlprozess bei der Bewerberin Kompetenzen und Eigenschaften, von denen wir vorher gar nicht gewusst haben, welchen Mehrwert sie für uns haben können? Vielleicht entstehen auch erst im Vorstellungsgespräch gemeinsame Visionen für eine Weiterentwicklung der Position, die weit über das hinausgehen, wonach man ursprünglich gesucht hat? Ein zu starres, im Vorfeld entwickeltes und standardisiertes Auswahlsystem nimmt uns die Flexibilität und Offenheit, um diese zukunftsorientierten Fragen im Auswahlprozess zuzulassen und ergebnisoffen zu beantworten. Tabelle 3: Unternehmerisches Handeln und Personalauswahl: Parallelen der Kommunikationsstile. Quelle: eigene Darstellung auf der Grundlage von Scharmer, 2009 I. Downloading

II. Debatte

III. Dialog

IV. Presencing

Art des Handelns

Gewohnheiten der Vergangenheit, intuitive Bewertung

Unterschiede aussprechen und verhandeln

Ziele erkunden, eigenen Standpunkt reflektieren, gemeinsam denken

gemeinsame Krea­tivität und Vergegenwärtigung

Personalauswahl

Formales und Äußerliches, Sympathie

objektiv messbare Kompetenzen und Qualifikationen

aus verschiedenen Perspektiven gemeinsam beleuchtete Persönlichkeit

Erkennen uner­warteter Potenziale bei Kandidat und Position

Wie wir in der Personalauswahl das 4. Feld der Kommunikation konkret erreichen können, wurde bislang noch nicht entwickelt, und es würde den Rahmen dieses Buches sprengen, dies jetzt zu tun. Scharmer benennt in seiner »Theorie U« für das Erreichen der 4. Ebene die vier Prozessschritte a) »ein Gefäß bilden« (einen Raum schaffen der Begegnung und der Fokussierung auf das Wesentliche), b) »eintauchen« (eine Atmosphäre der Intensität für den Moment und für das gemeinsame Anliegen kreieren), c) »die Aufmerksamkeit ausrichten« (die Wahrnehmung schärfen für den eigenen Anteil an der Generierung des bisherigen Ergebnisses) und d) »Öffnung des Fühlens«

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Teil 2: Wie unser Urteil entsteht

(alle Sinne und Antennen auch für die emotional und nonverbal vermittelten Signale öffnen, in denen sich das eigentliche gemeinsame Ziel und seine Lösung zeigen). Sicher ist eine solche Intensität in einem Vorstellungsgespräch meist nicht erforderlich. Aber das Modell zeigt die Richtung auf, in die sich eine Personalauswahl entwickeln muss, um auch in einer komplexen Umgebung bei wichtigen Positionen und guten Kandidaten die gemeinsamen Potenziale für die Zukunft erkennen zu können: »Es ist die Qualität unserer Wahrnehmung, welche die Qualität unserer Arbeitsergebnisse bestimmt« (Scharmer, 2011, S. 37).

Wie unser Urteil entsteht

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2.7  Wie unser Urteil entsteht – ein Fallbeispiel Schauen wir uns abschließend noch ein Fallbeispiel an, um die in den bisherigen Kapiteln beleuchteten Mechanismen unserer Urteilsbildung in der internationalen Personalauswahl zu illustrieren, bevor wir uns dann den konkreten kulturell geprägten Unterschieden im Auswahlprozess zuwenden. »Ihre Stärken?« Das unter Echtbedingungen durchgeführte und auf Video aufgezeichnete Bewerbungsgespräch fand im März 2013 statt zwischen einer erfahrenen deutschen Recruiterin und einem indischen Elektrotechniker, einem angehenden Master of Engineering, der seit rund einem Jahr als Werkstudent in Deutschland arbeitet. Der indische Kandidat sprach sehr gutes Englisch, lächelte viel, wirkte offen, freundlich und selbstständig. Sie:  Was sehen Sie als Ihre Stärken an? Er (kurze Pause):  Das kann ich gar nicht so sagen [Original: »I cannot really comment on that«]. (Pause und lächelt) Nun, wenn ich mich an den Rahmen der Position halte, auf die ich mich bewerbe, dann würde ich sagen, dass ich die Arbeit gerne tue, die ich ausübe, darum bewerbe ich mich auch darauf. Ich hoffe, sie wird mir Spaß machen. Und wenn ich gerne zur Arbeit gehe, wenn mir meine Aufgabe Spaß macht, dann würde ich nicht nur für den Job arbeiten, ich … Sie (unterbricht freundlich):  Meinen Sie Arbeit im Allgemeinen oder Arbeit auf einem speziellen Gebiet? Er:  Ich würde sagen, Arbeit im Allgemeinen. In dem Sinne, wenn ich dort wirklich arbeiten möchte, dann wird mir die Arbeit Spaß machen. Ich würde es dann gerne machen und mich nicht gezwungen fühlen. Und, ähm, eine weitere Stärke von mir wäre, dass ich in meiner Arbeitsweise recht organisiert [wörtlich: »a bit organized«] bin, in der Art, wie ich … Sie (unterbricht, bleibt dabei aber freundlich):  Können Sie mir dafür ein Beispiel geben? Er (gibt ein Beispiel aus seinem Alltag als Werkstudent, und dann):  So, das wäre eine weitere Stärke, würde ich sagen. Und, noch allgemeiner, also grundsätzlicher, freundlich und (lacht) diplomatisch zu sein, das wäre noch eine allgemeine Stärke von mir. Sie (lächelt freundlich):  Ja, danke!

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Teil 2: Wie unser Urteil entsteht

Wieder stellt sich zunächst die Frage, was denn die Zielsetzung der Frage bei der Interviewerin ist? Welches mentale Modell hat sie im Kopf, welche Musterantwort hätte dem Bewerber die »volle Punktzahl« gebracht? Und wie hat Ihnen als Leserin und Leser die Antwort gefallen? Gehen wir zunächst wieder in die Analyse: • Vermutlich geht es der Interviewerin zum einen darum, tatsächlich vom Kandidaten eine Hilfestellung zu bekommen bei der Beantwortung der Frage, welche Stärken er für die Position mitbringt. Natürlich wird sie ihm nicht alle Stärken glauben, die er nennt, sondern sich dann noch selbst davon überzeugen wollen. Aber indem er seine Stärken aus seiner Sicht formuliert, darf er ihre Suche anreichern und vorstrukturieren. • Als zweiten Aspekt will sie sicher seine Fähigkeit zur Selbstreflexion und die Stimmigkeit des Gesamteindrucks überprüfen. Je besser jemand sich selbst kennt, so ihre Annahme, umso klarer kann er seine eigenen Stärken (und Schwächen) benennen und erklären. Und je größer seine Selbsterkenntnis ist, desto ausgeprägter wird seine Fähigkeit zur Selbststeuerung einerseits, zum Perspektivenwechsel anderseits sein. Und natürlich wird sie darum im Laufe des Interviews erkennen wollen, ob sich seine Selbstwahrnehmung mit dem Eindruck deckt, den sie von ihm gewinnt. Und sie wird es positiv honorieren, wenn die von ihm benannten Stärken auch ihrem Eindruck entsprechen und umgekehrt. • Die dritte Intention der Frage ist wahrscheinlich die Überprüfung seiner Kompetenz zur Selbstpräsentation. Hierzu gehören zum einen das erforderliche Selbstvertrauen und ein Bewusstsein für die eigenen Stärken. Außerdem beinhaltet diese ein selbstbewusstes und überzeugendes Auftreten, mit dem man idealerweise auch später im Beruf andere überzeugen und motivieren kann. Und nicht zuletzt gehört hierzu die Kompetenz der adressatengerechten Kommunikation, d. h. eine angemessen lange bzw. kurze, aufmerksame, freundliche, menschliche und gewinnende Selbstdarstellung. • Als vierte Zielrichtung der Frage geht es der Interviewerin vermutlich auch ein wenig darum, festzustellen, wie strukturiert und systematisch der Bewerber seine Stärken auswählt und benennt. Positiv bewerten wird sie dabei, wenn die Stärken auch für die Zielposition relevant sind und wenn er sie linear-deduktiv und kausal herleitet und abgrenzt. Eine Musterantwort wäre also vermutlich etwas wie Folgendes gewesen: »Natürlich spricht man nicht so gerne über seine Stärken, aber ich denke, dass mich vor allem vier Dinge auszeichnen: Ich bin sehr zielstrebig und habe einen gewissen Ehrgeiz bei der Arbeit; wenn ich eine Zusage gebe, dann setze ich auch alles

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daran, sie zu erreichen. Dazu gelingt es mir meist sehr gut, andere von meinen Zielen zu überzeugen, sodass sie gerne mitwirken, auch wenn es mal Interessengegensätze gibt. Drittens habe ich eine sehr gute Ausbildung, die einfach perfekt auf diese Stelle passt. [Beispiel]. Und nicht zuletzt bin ich sehr begeisterungsfähig, ich lerne gerne und probiere Neues aus und kann mich für ganz viele Dinge begeistern.« Oder so ähnlich … Bei dieser Antwort hätte der Kandidat ihr dann idealerweise klar in die Augen geschaut, ein bisschen gelächelt, hätte mit fester Stimme gesprochen, aufrecht gesessen und mit seinen Händen in dezenter Gestik das Gesagte unterstrichen. Was ist nun vermutlich die »Agenda« des indischen Kandidaten? Er ist von ihrer Frage zunächst etwas überfordert. In Indien, wie in vielen anderen eher kollektiv und kontextorientiert strukturierten Kulturen,9 ist es unüblich und gilt auch als eher unhöflich, sich selbst so herauszustellen. Darüber hinaus ist es im Denkstil weniger angelegt, eine »Stärke« als eine untrennbar zu sich selbst gehörende Eigenschaft zu betrachten. Denn erst im Kontext, in der Zusammenarbeit mit den Kolleginnen/Kollegen und Vorgesetzten können bestimmte Anlagen und Eigenschaften zu Stärken werden – oder auch zu Schwächen. Entsprechend antwortet er zunächst: »Das kann ich gar nicht so sagen.« Aus dieser Überforderung heraus sehen wir dann eine der bei Kahneman beschriebenen kognitiven Verzerrungen zunächst auf Kandidatenseite: Er ersetzt die schwierige Frage nach den eigenen Stärken mit der leichteren Frage: »Warum bin ich der richtige Kandidat für Sie?« Bei dieser Frage muss er sich nicht so quälen, denn er kann sich nun in Bezug setzen zu der neuen Firma und muss sich nicht mehr so sehr exponieren. »Ich arbeite gerne und sehr motiviert, wenn es mir Spaß macht. Und bei Ihnen wird es mir ja großen Spaß machen. Darum bewerbe ich mich ja auch bei Ihnen.« Die Zirkularität dieser Argumentation ist dann aus seiner Sicht auch nicht unlogisch, sondern sie unterstreicht in seiner Perspektive seine Eignung für die Stelle: Mit ihm bekommen wir einen Mitarbeiter, der sich voll engagiert, wenn er begeistert ist; und von diesem Unternehmen ist er begeistert. Zudem ist in seinem – indisch geprägten – Denkstil eine analytisch-deduktive Vorgehensweise vermutlich weniger angelegt. Die Vorstellung, dass die Interviewerin mit dieser knappen Frage nun von ihm erwartet, sich selbst in einzelne Kompetenzen zu zerlegen und diese nacheinander, hierarchisch strukturiert und klar abgegrenzt vor ihr aufzubereiten, liegt ihm fern. Aus seiner Sicht möchte ein Arbeitgeber im Vorstellungsgespräch vor allem herausfinden, ob der Kandidat einen aufrechten Charakter hat und zuverlässig, engagiert und 9

Mehr Informationen zu diesen und weiteren Kulturdimensionen finden sich in Kapitel 3.1.

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Teil 2: Wie unser Urteil entsteht

loyal sein wird. Diesen Eindruck versucht er entsprechend zu unterstreichen, indem er sich zusätzlich als »freundlich und diplomatisch« beschreibt. Zu welcher Bewertung in Bezug auf Selbstreflexion, Selbstpräsentation und Strukturiertheit des Kandidaten wird die Interviewerin nun kommen, und welche Rolle spielen dabei die in Kapitel 2 beschriebenen Prozesse der Urteilsbildung? Auswertung des Vorstellungsgesprächs Auf der Grundlage einer objektivistischen kompetenzbasierten Betrachtung kann die Interviewerin aus ihrer westlichen Perspektive heraus die Antwort des Kandidaten nicht überzeugend finden. Die Art von Informationen, die sie sich erhofft hatte, hat sie kaum bekommen. Sie kennt jetzt nur sehr allgemeine Stärken von ihm, er macht keinen besonders selbstreflektierten Eindruck. Er wirkt sehr freundlich, aber zurückhaltend, und seine Antworten waren aus ihrer Sicht nicht besonders überzeugend und vor allem waren sie vollkommen unstrukturiert. Dennoch ist sie im Interview, wie man es auf dem Video später nacherleben kann, aufgrund einiger kognitiver Verzerrungen (s. Kapitel 2.2) nicht komplett unzufrieden mit seiner Antwort. Denn der Bewerber tritt ungemein freundlich und sympathisch auf, er lächelt viel und ist sehr leicht zu mögen. Seine Aussagen werden entsprechend von der Interviewerin durch eine positiv gebahnte Grundhaltung gefärbt und gefiltert (Bahnungs- und Ankereffekte). Zudem war die Interviewerin schon einmal länger in Indien und hatte dort eine sehr erfüllte und spannende Zeit (Affektheuristiken). Nicht zuletzt spricht der Kandidat sehr gutes Englisch und er achtet sehr genau auf nonverbale Signale der Interviewerin, er macht ihr die Interviewführung leicht (Kognitive Leichtigkeit). Man kann sich einen so netten Mitarbeiter sehr gut auch im eigenen Team vorstellen, zumal er seinen Arbeitsalltag als Werkstudent sympathisch und authentisch darstellt (Assoziative Kohärenz). Ihr System 1 legt ihr also nahe, den Kandidaten zu mögen, und ihm darum vermutlich auch Kompetenzen zuzuschreiben, die er noch gar nicht gezeigt hat (Ersetzung der Frage). Dabei reflektiert die Interviewerin nicht, wie sie mit der Art ihrer Frage (s. Kapitel 2.1) selbst zu der aus ihrer Sicht inhaltlich eher belanglosen Antwort beiträgt. Durch das persönlichkeitsorientierte Frageformat wählt sie einen vermeintlich persönlichen, aber sehr weit geführten Ansatz, ähnlich den in Kapitel 2.1 beschriebenen biografischen Fragen in freier Assoziierung. Der Kandidat kann und muss viel interpretieren, was für eine Antwort die Interviewerin wohl hören will in Bezug auf die Qualität (wie sehr darf er oder muss er übertreiben?), die Beziehung (worauf genau zielt ihre Frage?), die Quanti-

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tät (wie umfangreich soll er antworten, und was weiß sie bereits?), sowie die Art und Weise (wie direkt darf er sein?). Sein biografisches Gedächtnis wird dabei komplett frei aktiviert. Und da sein Denkstil anders strukturiert ist als jener der Interviewerin, kommen ihm ganz andere Assoziationen in den Sinn, als die Interviewerin es erwartet hatte. Er ist ganzheitlich auf seine Loyalität, Anpassungsbereitschaft und Integrität als potenzieller Mitarbeiter ausgerichtet. Einzelne Situationen, in denen er individuelle Stärken gezeigt hat, um sich dabei von anderen aus dem Team abzuheben, fallen ihm zunächst nicht ein. So hat er Glück, dass er so freundlich, sympathisch, gut verständlich, humorvoll und schwungvoll kommuniziert. Dadurch hört sie den aus ihrer Sicht eigentlich schwachen Inhalt seiner Antwort zwar, reagiert aber nicht so ungeduldig und verärgert, wie es auch hätte passieren können. In der Terminologie der Hirnforschung (s. Kapitel 2.3) gesprochen, ist ihr Belohnungssystem aktiviert. Sein Antwortverhalten ist bei ihr emotional positiv »markiert«: Er lächelt, er achtet auf sie, er erinnert sie an andere nette Menschen und Situationen, die sie bereits erlebt hat. Ihr Bauchgefühl und ihre Intuition geben ihr positive Signale. Der Kandidat scheint eine integre Person zu sein, auf die man sich verlassen kann, die sich engagiert und zu der man menschlich schnell einen Zugang findet. Aus einer systemischen Perspektive (2.4) analysiert, wird das Gespräch durch einige initial wirkende Attraktoren schnell in Bahnen gelenkt, die einer guten Stimmung förderlich sind. a) Beide treffen sich in diesem Fall in einer freiwillig gewählten gemeinsamen Lernsituation, in der sie voneinander profitieren möchten. Sie sehen sich dadurch eher als Partner und nicht als Gegner. b) Beide haben bereits internationale Erfahrungen, auch im Land des oder der jeweiligen anderen. Sie begegnen sich darum mit viel Verständnis, Respekt und gutem Willen. c) Die äußeren Rahmenbedingungen der gemeinsamen Systembildung sind entspannt, ästhetisch ansprechend, es gibt kaum realen Druck, man hat viel Zeit und es herrscht eine hohe Fehlertoleranz. Was im systemischen Sinn polarisierend und blockierend wirken könnte, sind die unterschiedlichen Zielsetzungen: Er möchte sich vor der Kamera und vor dem deutschen Publikum als sehr guter Kandidat präsentieren, d. h., er möchte alles richtig machen und als ganzer und loyaler Mensch einen guten und verlässlichen Eindruck hinterlassen. Sie möchte als Recruiterin vor Publikum ihre Erfahrung und Professionalität beweisen, d. h., sie möchte wirkungsvolle Fragen stellen, ihn treffend analysieren, seine Kompetenzen und Eigenschaften erkennen, die »Wahrheit« über ihn herausfinden. Letztlich wiegen im Gespräch die Effekte für eine positive Stimmung stärker. Sie kommuniziert sehr ruhig, freundlich, gründlich und entspannt mit sanfter

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Stimme, gibt regelmäßig wertschätzende Rückmeldungen. Er tritt locker, sympathisch, humorvoll, anpassungs- und lernwillig auf. So holen beide vor allem die guten Seiten aus dem anderen heraus, und der Kandidat kann sich dadurch – trotz der offensichtlichen kulturell bedingten Missverständnisse – sehr authentisch, ehrlich, reflektierend, aufgeschlossen und freundlich zeigen. Bewertung der Kompetenzen auf der Basis einer ganzheitlichen Personalauswahl Welche abschließende Bewertung können wir nun auf der Basis dieser Interviewsequenz in Bezug auf die Zielkompetenzen Selbstreflexion, Selbstpräsentation und der Strukturiertheit des Kandidaten abgeben? Wie in jedem Auswahlgespräch stehen uns drei Ansätze zur Verfügung, um aus einem im Gespräch gezeigten Verhalten auf ein wahrscheinliches späteres Verhalten am Arbeitsplatz zu schließen: 1. Biografisch: Wurde in der Vergangenheit eine Kompetenz gezeigt, so ist es wahrscheinlicher, dass die Kompetenz auch in der Zukunft abgerufen werden kann. 2. Simulationsgeneriert: Wird mit Blick auf eine hypothetische zukünftige Situation oder bei einer Arbeitsprobe eine Kompetenz gezeigt, so ist es wahrscheinlicher, dass die Kompetenz auch später im Beruf abgerufen werden kann. 3. Situativ: Wurde in der realen Interviewsituation im Hier und Jetzt (oder im Rollenspiel, Gruppendiskussion o. ä.) gegenüber den Auswählenden eine Kompetenz gezeigt, so ist es wahrscheinlicher, dass dieses Verhalten auch in einem anderen Kontext und in einer realen Arbeitssituation abgerufen werden kann. Bei allen drei Methoden ist es zulässig, in einer positiv wahrgenommenen Kompetenz einen Indikator für die spätere Arbeitssituation zu sehen. Bei einer nicht wahrgenommen Kompetenz wissen wir aber nicht unbedingt, ob die Kompetenz gar nicht vorhanden ist oder ob sie eventuell bloß noch nicht aktiviert wurde. In der hier dargestellten Interviewsequenz haben wir biografisch nur geringe und simulationsgeneriert keine Informationen über die Kompetenzen des Kandidaten erhalten. Bei den situativ generierten Informationen müssen wir uns zunächst immer fragen, wie übertragbar die Situation im Vorstellungsgespräch auf eine spätere Arbeitssituation tatsächlich ist. Hier müssen wir alle oben skizzierten systemischen Entstehungsbedingungen als mögliche Fragezeichen mitberücksichtigen.

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Der Kandidat agierte allerdings sehr freundlich, sympathisch, entgegenkommend und humorvoll im Vorstellungsgespräch. So können wir zumindest davon ausgehen, dass er diese Seiten im Verhaltensrepertoire hat und ohne Mühe davon Gebrauch machen kann. In Bezug auf die oben skizzierten Kompetenzen konnten wir aber nur beobachten, dass der Kandidat anders mit der Frage umgegangen ist, als die Interviewerin es erwartet und erhofft hatte. Das heißt, seine Art der Selbstreflexion, Selbstpräsentation und Strukturiertheit folgte einer anderen Logik, welche für die Interviewerin nicht ohne Weiteres erkennbar war. Weitere auswahlrelevante sachliche Informationen konnten wir in dieser Interviewsequenz noch nicht generieren. Die möglichen Verzerrungen durch die offene Art der Frage, durch die Prozessdynamik und durch die unterschiedlichen kulturellen Bewertungen lassen keine Schlüsse darauf zu, zu welcher Form der Selbstreflexion, Selbstpräsentation oder Strukturiertheit der Kandidat in einem anderen Kontext fähig ist. Es bleibt ein positives Bauchgefühl, mehr nicht. Zusammenfassende Betrachtung Fassen wir also noch einmal zusammen, was wir bisher über den Prozess unserer Urteilsbildung in der Personalauswahl gelernt haben und wie uns dieses Wissen in der internationalen Personalauswahl helfen kann: Unser automatisch und unbewusst agierendes System 1 greift mit unglaublicher Geschwindigkeit auf unser gesamtes Erfahrungswissen zurück und produziert daraus für jede Wahrnehmung innere Bilder, Zukunftserwartungen und Entscheidungsvorschläge. Dabei ist dieses Erfahrungswissen emotional »markiert«, d. h., jeder früheren Wahrnehmung wird vom Gehirn eine nur als Intuition oder als Bauchgefühl spürbare Gefühlsreaktion zugeordnet. Diese gespeicherte Emotion hilft uns, unsere Erfahrungen zu strukturieren und für die Zukunft handlungsleitend wiederzuverwerten. So beeinflusst sie, worauf wir zukünftig achten, wie wir es bewerten, wie wir reagieren und was wir davon erinnern. Sie spurt uns eine Bahn, auf der wir uns das nächste Mal wieder bewegen, solange nichts Unvorhergesehenes passiert. Jede Erfahrung wirkt also darauf hin, dass wir dieselbe Erfahrung wiederholen, solange unsere Aufmerksamkeit nicht von neuen und unerwarteten Reizen anders gesteuert wird. Je häufiger dabei eine bestimmte Erfahrung mit einem Gefühl verbunden wird und je intensiver das emotionale Erleben in dieser Erfahrung, desto stabiler entwickeln sich die entsprechenden neuronalen Schaltungen und desto schwerer ist eine Neuprogrammierung dieser gebahnten Strukturen für die Zukunft zu erreichen. Wir nehmen diese Erfahrung dann

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Teil 2: Wie unser Urteil entsteht

bewusst als Einstellungen und Wertgefüge, als mentale Modelle, als kulturelle Prägungen oder Glaubenssätze wahr. In der Interaktion mit anderen Menschen bilden wir so handlungs- und wahrnehmungsleitende Systeme heraus, die sich – da sie zirkulär entstehen – nur begrenzt willentlich steuern lassen. In der Auswahlsituation wird somit auch das Bild, das wir uns von einer Bewerberin machen, zu einem Teil »von selbst« hervorgebracht. Vieles, was die Kandidatin uns zeigt, sehen wir nicht oder wir bewerten es anders als die Kandidatin selbst. Und viele Seiten, welche die Kandidatin hätte zeigen können, haben wir gar nicht aktiviert. Dieser Prozess ist zwangsläufig, denn wenn wir es anders wahrnehmen oder auslösen könnten, dann würden wir es tun. Wir können also nur dadurch darauf einwirken, dass wir uns bewusst öffnen für alle Eindrücke, welche die Zirkularität unseres Denkens, Wahrnehmens und Handelns unterbrechen – und dadurch unsere Aufmerksamkeit umlenken. Diese systemischen Prozesse werden noch verstärkt durch kognitive Wahrnehmungsverzerrungen, z. B. dass wir uns auch dann ein Urteil bilden, wenn wir nur sehr unzureichende Informationen besitzen (WYSIATI). Oder dass unsere Wahrnehmung durch Bahnungs- und Ankereffekte ganz unterschiedlich ausfällt, je nachdem was wir vorher erlebt haben. Wissen wir auf eine komplexe Frage (z. B. »Ist die Kandidatin durchsetzungsfähig?«) keine Antwort, so ersetzen wir die Frage kurzerhand und ohne es zu bemerken durch eine einfachere Frage (z. B. »Würde sich Kollege Schmidt von ihr etwas sagen lassen?«) und beantworten diese dann intuitiv. Wir bevorzugen dabei im Zweifel immer die Lösung, die wir kennen und mit der wir uns leicht tun, und erfinden hinterher rational kausale Erklärungen für unsere spontan empfundene Präferenz (kognitive Leichtigkeit). Stellt sich diese Präferenz im Nachhinein als falsch heraus, hilft uns der Rückschaufehler (»Das habe ich doch gleich gesagt«) bei der Stabilisierung unserer Systeme, indem wir vergessen, dass wir früher – zum Zeitpunkt einer Entscheidung – anders dachten. Zusätzlich verfälschend wirkt sich aus, dass die Art unserer Fragen kognitionsund verhaltenspsychologisch bei unseren Gesprächspartnern oft ganz andere gedankliche Prozesse auslöst, als wir dies beabsichtigt haben. Diese Verzerrungen wirken umso stärker, je freier und offener das Frageformat und je unterschiedlicher die kulturellen Prägungen der Interviewpartner sind. Nicht zuletzt bergen unsere kulturellen Unterschiede stets die Gefahr, dass wir die Antworten und das Verhalten der Kandidaten anders interpretieren, als diese es gemeint haben. Und so kann sich aufgrund dieser Missverständnisse eine negative Prozessdynamik in Gang setzen, die Gefühle wie Frustration, Bedrohung oder Enttäuschung in Abwehrmechanismen wie Abwertung, Rationalisierung oder Vermeidung münden lässt.

Wie unser Urteil entsteht

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Obgleich all diese Prozesse der Zirkularität, der intuitiven Steuerung und der Subjektivität in jedem Vorstellungsgespräch wirken und unsere Urteile prägen, sind sie uns doch meist nicht bewusst. Erst in der internationalen Personalauswahl spüren wir, dass es auch mit unseren eigenen Mustern und Prägungen zu tun haben muss, wenn das Vorstellungsgespräch so anders verläuft als sonst. Wir erkennen hier eher, dass wir die Verantwortung für unser Bauchgefühl nicht mehr einseitig den Kandidaten zuschreiben können. Wir können uns aber meist nicht erklären, worin die Unterschiede genau liegen, wie sie sich auswirken und wie wir sie in unserem Auswahlprozess besser abbilden können. In diesem zweiten Teil wurde darum ein Grundgerüst gelegt zum Verständnis, wie unser Auswahlurteil entsteht, welche subjektiven und emotionalen Prozesse hierbei entstehen und wie wir unsere eigene Einwirkung auf den Auswahlprozess besser in unsere Auswahlentscheidung integrieren können. Das in Kapitel 1.4 entwickelte Konzept einer ganzheitlichen Personalauswahl, in der klassische kompetenzbasierte eignungsdiagnostische Methoden mit einer geschulten Subjektivität verbunden werden, wird dadurch konkret. Wenn das didaktische Konzept dieses Buches aufgeht, dann fühlen Sie, liebe Leserin und lieber Leser, sich nun zwar bereichert, aber auch ein wenig verunsichert. Die Prozesse, die sich unbewusst im Vorstellungsgespräch vollziehen, mit denen wir als Interviewende auf das Auswahlergebnis einwirken, sind Ihnen soweit nun vermutlich nachvollziehbar. Noch sehr vage ist aber, was wir besser machen können, um trotz dieser Komplexität in der internationalen Personalauswahl zu validen Ergebnissen zu kommen. Vielleicht denken Sie sich: Wenn wir unserem Urteil gar nicht mehr vertrauen können, weil es so unbewusst entsteht, worauf sollen wir dann überhaupt noch vertrauen? Die Antwort hierauf wird sich in dem nun folgenden dritten und vierten Teil konkretisieren. Natürlich gibt es beschreibbare kulturelle Unterschiede, die mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit bei Bewerbern aus bestimmten Kulturregionen sichtbar sein werden und die Ihnen Ihre Urteilsfindung erleichtern. Diese werden im dritten Teil vorgestellt. Und es gibt auch ganz konkret umsetzbare Handlungsempfehlungen, die Ihnen auch dann helfen, zu validen Auswahlergebnissen zu kommen, wenn Sie die hinter einem Verhalten liegenden Kulturstandards nicht kennen. Einige davon haben Sie in diesem zweiten Teil bereits kennengelernt und sie werden im vierten Teil noch vertieft. Was jetzt verankert sein sollte, ist das Verständnis, dass wir Selbstkompetenzen, wie Selbstreflexion, Ambiguitätstoleranz, Neugier und Verhaltensflexibilität, benötigen, wenn wir in der internationalen Personalauswahl erfolgreich sein wollen. Erst auf diesem Fundament können wir unser Kulturwissen dann nachhaltig anwenden.

Teil 3: Kulturelle Unterschiede im Bewerbungsgespräch

3.1 »Du schwarz, ich weiß« – Grundlagen der interkulturellen Kommunikation »Wir sehen die Dinge nicht, wie sie sind. Wir sehen die Dinge, wie wir sind.« Anaïs Nin

Der Schwerpunkt dieses Buches liegt bis hierhin darauf, zu zeigen, dass unsere Urteilsbildung umso anfälliger ist für die Verzerrungen unserer Subjektivität, je mehr sich Auswählende und Kandidaten voneinander unterscheiden. Im kompetenten Umgang mit diesen Verzerrungen liegt die Grundlage für eine treffsichere internationale Personalauswahl, in der wir nie sicher sein und nie vollständig verstehen können, welche kulturellen Prägungen unsere Gesprächspartner gerade leiten. Darauf aufbauend konstruieren wir nun im 3. Teil ein konkretes Orientierungssystem für die internationale Personalauswahl (s. Abbildung 8). Wie ist dieses System aufgebaut? Zunächst legen wir in Kapitel 3.1 das Fundament: Was heißt »Kultur« eigentlich und welche Rolle kann sie im Vorstellungsgespräch spielen? Was ist interkulturelle Kompetenz und wie drückt sie sich in der Personalauswahl aus? Dieses Fundament bekommt dann einen Fußboden, und das ist die eigene kulturelle Prägung – für die meisten Leser dieses Buches vermutlich die deutsche. In dem Moment, in dem wir verstehen, wie wir selbst kulturell ticken, haben wir uns nicht nur wichtiges Kulturwissen angeeignet, sondern wir haben auch die Grundlage gelegt für eine erfolgreiche interkulturelle Kommunikation. Denn wenn wir verstanden haben, dass unsere Art zu denken und zu kommunizieren nur eine mögliche Spielart ist, wie man denken und kommunizieren kann, in dem Moment gestehen wir dieses Recht auch unserem Gegenüber zu. Wir haben dann verstanden, dass unsere kulturelle Prägung nicht universell gilt und auch nicht besser ist als andere kulturelle Prägungen, sie ist nur anders.

»Du schwarz, ich weiß«

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In Kapitel 3.2 und 3.3 errichten wir die beiden Säulen, die unser Orien­ tierungssystem tragen. Aus den mindestens 15 verschiedenen Kulturdimensionen, welche die Literatur inzwischen untersucht hat, beschreiben diese beiden Säulen zwei fundamentale kulturelle Grundhaltungen, die wir im Vorstellungsgespräch mit Bewerbern aus allen Kulturräumen in unterschiedlicher Ausprägung erleben können: Einerseits die Vorstellung des Selbst, der Selbstdarstellung und der Integration des Selbst in die Gruppe. Andererseits die Struktur des Denkens, der Denkstile, der Logik und des Argumentationsaufbaus. Auch wenn in Kapitel 3.2 und 3.3 die meisten Beispiele für diese Grundhaltungen aus Ostasien kommen, helfen uns diese Säulen in allen internationalen Vorstellungsgesprächen. Denn wenn wir die Extreme kennen, dann können wir auch mit geringeren Ausprägungen umgehen. In Kapitel 3.4 schließlich errichten wir das Dach, indem wir eine überblickshafte kulturelle Landkarte für Kulturregionen im Vorstellungsgespräch erstellen. Kapitel 3.5 schließt dann unser Orientierungssystem gewissermaßen an die Außenwelt an, denn es zieht eine Verbindung zu den im 2. Teil beschriebenen Mechanismen unserer Urteilsbildung.

Abbildung 8: Ein Orientierungssystem für die internationale Personalauswahl

Das Ziel ist, dass Sie, liebe Leserin und lieber Leser, nachdem Sie den dritten Teil gelesen haben, • in der Lage sind, zu beschreiben, wie sich Ihre eigene kulturelle Prägung im Vorstellungsgespräch ausdrückt; • die beiden im Vorstellungsgespräch fundamentalen Kulturdimensionen (Selbstkonzepte und Denkstile) kennen und erkennen können;

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Teil 3: Kulturelle Unterschiede im Bewerbungsgespräch

• eine Vorstellung davon haben, welche kulturellen Unterschiede Ihnen weltweit darüber hinaus noch begegnen können; • das Rüstzeug erworben haben, wie Sie Ihr Kulturwissen so einsetzen, dass es Sie offener, flexibler und interkulturell kompetenter werden lässt. Was ist Kultur und interkulturelle Kompetenz? In Kapitel 2.5 haben wir uns bereits damit befasst, was Kultur eigentlich ist: ein kommunikativ erzeugtes, mentales Koordinatensystem, an dem wir unser Verhalten ausrichten. Was wir kulturell als »richtiges« oder »falsches« Verhalten bewerten, wurde niemals von irgendjemandem so festgelegt, sondern es hat sich evolutionär in unserer jeweiligen Bezugsgruppe (Land, Familie, Generation, Studienrichtung, Region o. Ä.) so herausgebildet. Ähnlich einem Eisberg gibt es dabei eine sichtbare Oberfläche, auf der sich Kultur anhand unserer Kleidung, Nahrung, Sprache, Verhaltensweisen und Symbole nach außen hin ausdrückt. Der Großteil unserer kulturellen Prägung, nämlich die Bedeutung, die wir den Dingen zuschreiben, und die Werte, die diesen zugrunde liegen, befinden sich aber unter der Oberfläche. Sie sind nicht äußerlich erkennbar, sondern wir müssen – um im Bild des Eisbergs zu bleiben – tiefer eintauchen, um sie zu verstehen. In einem bestimmten Kulturraum werden dabei Präferenzen für ein bestimmtes Verhaltensmuster geteilt. Natürlich sind darin niemals alle Mitglieder einer Kultur gleich, doch es gibt bestimmte als angemessen bewertete Korridore. Trompenaars und Hampden-Turner (1997, S. 24) nennen dies »Normalverteilung«, Hofstede (2001, S. 26) spricht von »Häufigkeiten«, Alexander Thomas (2003) hat hierfür den Begriff »Kulturstandards« geprägt. In Abbildung 9 wird dieses Konstrukt (mit fiktiven Werten) am Beispiel der Pünktlichkeit dargestellt. Wenn in Kultur 1, nehmen wir Deutschland als Beispiel, eine Besprechung für 10 Uhr angesetzt ist, dann mag der Erste um 9:40 Uhr kommen und der Letzte um 10:12 Uhr, die meisten sind um 10:00 Uhr da. Vor allem aber gehen alle davon aus, dass die Besprechung um spätestens 10:05 Uhr beginnt, sonst werden sie nervös auf die Besprechungsleitung blicken. Während der Kulturstandard »Pünktlichkeit« also nicht beweist oder gar vorhersagt, wer wann zum Meeting erscheint, so beschreibt er doch den Raum, ab wann die meisten Mitglieder eines Kulturraums (also auch so verschiedene Persönlichkeiten wie Angela Merkel und Mesut Özil) beginnen, unruhig auf ihren Plätzen hin und her zu rücken und sich unwohl zu fühlen. Entsprechend kommen meist auch in Kultur 2, nehmen wir als Beispiel einen weniger monochron strukturierten Kulturraum wie Indien, Russland

»Du schwarz, ich weiß«

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Abbildung 9: Darstellung des Kulturstandard-Begriffs am Beispiel der Pünktlichkeit

oder Mexiko, einige Teilnehmer zu früh, andere später als in Deutschland. Die Besprechung fängt dort dann vielleicht um 10:15 Uhr an, oder genau dann, wenn die höchstrangige Person den Raum betritt. Entscheidend ist aber zum Verständnis des Pünktlichkeitsstandards von Kultur 2 nicht, wer wann kommt, sondern dass die Teilnehmer es überwiegend unproblematisch finden werden, wenn die Besprechung um 10:10 Uhr noch nicht begonnen hat. Es fehlt in polychron geprägten Kulturen das in Ländern wie Deutschland übliche, protestantisch getaktete, lineare Zeitverständnis, wonach Zeit abläuft und man jemandem entsprechend »Zeit stehlen« kann. Das Leben und die Zeit verlaufen z. B. in Indien eher zyklisch, die richtige Zeit kommt also wieder. Ärgern wir uns dementsprechend über eine indische Teilnehmerin, wenn sie zu spät kommt, dann ist das aus einer deutschen Perspektive nachvollziehbar. Aus Sicht der indischen Kollegin macht ihr Verhalten aber eventuell Sinn. Unser Ärger ist also verständlich, aber er ist nicht nützlich. Er belastet die Beziehung und steht unserem Ziel, bestimmte Aufgaben in diesem Meeting zu bewältigen, entgegen. Anpassung – wer an wen? Und wer sollte sich in der interkulturellen Begegnung an wen anpassen? Der Gast an den Gastgeber? Die Minderheit an die Mehrheit? Der Verkäufer an den Kunden? Die Kandidatin an die Auswählenden? Wenn z. B. ein deutscher General-Manager in China zusammen mit zwei anderen chinesischen Kollegen für sein deutsches Unternehmen in China einen Einkaufsleiter auswählt, nach welchen kulturellen Regeln sollten Kandidaten und Auswählende dann agieren? Die Fragen sind verständlich, aber irrelevant. Es ist aus einer normativen Perspektive egal, wer sich an wen anpasst. Entscheidend ist, welche Interessen die Parteien verfolgen und zu welcher Art der Anpassung sie überhaupt fähig sind. Das eigene Verhalten sollte sich an den eigenen Zielen und Kapazi-

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Teil 3: Kulturelle Unterschiede im Bewerbungsgespräch

täten orientieren und nicht an einer vermeintlichen Hol- oder Bringschuld der Beteiligten. Die Zeit und Energie, die wir aufbringen, um uns über den kulturellen Regelverstoß der anderen (»Sie sollte doch aber …«) zu beklagen, ist sehr viel besser investiert, wenn wir stattdessen interessengeleitet nach Lösungen für die spezifische Situation suchen. Nicht die kulturelle Anpassung an sich ist das Ziel interkultureller Kompetenz, sondern der Prozess der gegenseitigen Verständigung. Es geht darum, Lösungen zu erzielen, arbeitsfähig zu bleiben, emotionale Blockaden und Abwehrmechanismen zu verhindern sowie – wenn es gelingt – die Vielfalt der anderen auch als Ressource bei der eigenen Aufgabenbewältigung zu erkennen und wertzuschätzen. Für das interkulturelle Vorstellungsgespräch heißt diese Logik immer, dass wir uns sowohl anpassen (soweit uns dies möglich ist) als auch unsere Fragen und Reaktionen erklären sollten. Denn es geht uns ja darum, die Kandidaten bestmöglich zu verstehen. Es ist zwar denkbar, dass es Teil des Anforderungsprofils ist, kulturell wie ein Deutscher kommunizieren zu können. Aber im Auswahlprozess möchten wir ja die Kompetenzen und Potenziale der Bewerber möglichst umfassend kennenlernen, und nicht nur untersuchen, ob sie kulturell so ticken wie wir. Kulturdimensionen im Vorstellungsgespräch Forscher wie Geert Hofstede (2001), Edward T. Hall (1981), Shalom Schwartz (2012), Fons Trompenaars und Charles Hampden-Turner (1997) und andere haben seit den 1970er Jahren durch verschiedene quantitative Verfahren einzelne Eigenschaften (Kulturdimensionen) herausgearbeitet, nach welchen sich Kulturen beschreiben lassen. In einer groß angelegten Studie mit dem Namen »Global Leadership and Organizational Behaviour Effectiveness (GLOBE)« (House, Hanges, Javidan, Dorfman u. Gupta, 2004) haben dann Anfang des Jahrtausends 180 Wissenschaftler ca. 17.000 Middle Manager in 61 Ländern und 951 Unternehmen befragt, um die Ausprägungen verschiedener Kulturdimensionen in neun verschiedenen Kulturräumen weiter zu untersuchen. Bannys (2012) hat die Ergebnisse dieser Studie sehr übersichtlich zu einer kulturellen Weltkarte zusammenfasst (s. Abbildung 10). Wir sehen hier, wie sich Kulturräume danach klassifizieren lassen, ob sie eher individualistisch oder eher gruppenorientiert agieren (x-Achse) und ob sie eher langfristig planend und leistungsorientiert oder eher kurzfristig flexibel und beziehungsorientiert ausgerichtet sind (y-Achse). Zur Vorbereitung auf interkulturelle Vorstellungsgespräche helfen diese schematischen Darstellungen nicht weiter, dazu sind sie zu abstrakt und überblickshaft. Doch es erleichtert

»Du schwarz, ich weiß«

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Abbildung 10: Kulturregionen in Abhängigkeit von den Zielorientierungen und Beziehungen ihrer Mitglieder. Quelle: Bannys, 2012, S. 129

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Teil 3: Kulturelle Unterschiede im Bewerbungsgespräch

das Begreifen kultureller Unterschiede, solche Landkarten vor sich zu sehen: Es gibt offensichtliche Unterschiede zwischen Kulturen, man kann sie messen, und sie wirken sich auf die konkrete Interaktion zwischen Individuen aus. Eine pragmatischere und auf das Individuum bezogene Klassifizierung verschiedener Kulturräume hat der Amerikaner Richard Lewis (Lewis, 2000) mit einem »Modell der interkulturellen Kommunikation« entwickelt (s. Abbildung 11).

Abbildung 11: Das Kulturtypenmodell nach Richard D. Lewis, ergänzt durch Autor. Quelle: Lewis, 2000, S. 49 f.

Die drei stark vereinfachten Idealtypen des »Linear-Aktiven Typus«, »MultiAktiven Typus« und »Reaktiven Typus« bei Lewis bilden in diesem Modell ein Kontinuum, in dem sich alle existierenden Kulturen abbilden lassen. LinearAktiv geprägte Menschen kommunizieren und handeln dabei in der Tendenz individualistisch, durchsetzungsorientiert, direkt und sachbezogen. MultiAktiv ausgerichtete Kulturen zeichnen sich aus durch eine hohe Beziehungs-

»Du schwarz, ich weiß«

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orientierung, Emotionalität und Expressivität, polychrones Zeitempfinden und Nähe. Reaktive Kulturräume schließlich sind idealtypisch bestimmt von starkem Gruppenkollektivismus, Hierarchieorientierung und kontextbezogener, indirekter und gesichtswahrender Kommunikation. Dabei liegt der deutsche Kulturraum auf der äußeren Spitze des Linear-Aktiven Typus, Lateinamerika entspricht am ehesten dem Multi-Aktiven Modell, und Ostasien liegt auf dem äußeren Reaktiven Punkt. Das Hilfreiche an diesem Modell ist neben seiner Einfachheit, dass es kulturelle Muster beschreibt, welche sich je nach Ausprägung auf einem Spektrum unterschiedlicher Kombinationen und Mischformen in allen Kulturräumen wiederfinden. So wird es offensichtlich, dass wir, wenn wir uns z. B. auf eine Begegnung mit dem Kulturraum China vorbereiten, uns damit auch ein wenig auf den Kulturraum Nahost vorbereiten. Oder dass Erfahrungen, die wir z. B. in Brasilien gemacht haben, uns teilweise auch in Osteuropa weiterhelfen werden. Im Vorstellungsgespräch konkretisieren sich diese unterschiedlichen Kulturtypen dann einerseits auf der Inhaltsebene (Welche Lösungswege wählen die Kandidaten?), andererseits auf der Ebene der Kommunikation an sich (Wie machen sich die Kulturunterschiede in den Frage- und Antwortmustern bemerkbar?). Folgende exemplarische Fragen und Zuordnungen geben einen ersten Einblick in die Relevanz dieser Typologien in der Personalauswahl: Unsicherheitsvermeidung/Regel-, Zeit- und Planungsverständnis: Wie sehr folgen die Handlungen, Gedanken und Ausführungen der Kandidaten im Interview einem Plan? Wie stark springen sie in der Agenda? Wie sehr gehen sie Fragen eher analytisch-strukturiert oder assoziativ an? Wie sehr nehmen sich die Kandidaten die Freiheit, Regeln nicht zu befolgen, und wie bewerten sie das bei anderen? Bewerber aus Ländern des Multi-Aktiven Typus werden hier genauso wie Kandidaten des Reaktiven Typus tendenziell spontaner, freier, assoziativer und weniger regelorientiert vorgehen als diejenigen des Linear-Aktiven Typus. Hierarchie: Wie sehr versucht ein Kandidat, dem Interviewer inhaltlich recht zu geben, da dieser hierarchisch höher steht? Welche Führungsund Motivationskonzepte wendet er an, und wo wird das Durchsetzen oder auch das selbstständige Entscheiden hierarchisch verankert? Traut sich der Kandidat, Rückfragen zu stellen, wie hält er Blickkontakt und kann er auch Nein sagen? Bewerber des Reaktiven Typus werden hier überwiegend dazu neigen, hierarchischen Unterschieden große Beachtung zu schenken; die geringsten Status-Unterschiede werden meist beim Linear-Aktiven Typus gemacht. Individualismus/Kollektivismus: Was schreibt die Kandidatin ihrer eigenen Leistung zu, wie sehr stellt sie sich selbst in den Mittelpunkt? Wie deutlich und

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Teil 3: Kulturelle Unterschiede im Bewerbungsgespräch

ausführlich werden eigene Ziele, Stärken oder Schwächen benannt oder hinter der Gruppe »versteckt«? Wie wichtig ist es der Kandidatin, im Interview ihre eigene Meinung auszudrücken, und wie reagiert sie, wenn die Gefahr besteht, etwas Falsches zu sagen? Wie direkt oder indirekt löst sie Konflikte und welches Maß an Rücksichtnahme wendet sie an? Wie sehr werden persönliche oder familiäre Netzwerke im Interview hervorgehoben, und wie sehr wird Status an externen Faktoren (Universität, Titel, Familienzugehörigkeit) festgemacht? Hier handeln Bewerber des Reaktiven Typus überwiegend stärker kollektiv ausgerichtet, gefolgt vom Multi-Aktiven Typus. Der Linear-Aktive Typ ist in der Regel am deutlichsten individualistisch geprägt. Bestimmtheit/Durchsetzungsvermögen/Leistungsorientierung (»Assertiveness«): Wie viel und wie laut reden die Kandidaten, wie ausladend und raumgreifend sind ihre Gesten, und trauen sie sich, den Interviewer zu unterbrechen? Wie wettbewerbsgeprägt ist ihr Denken, wie sehr sehen sie sich in Konkurrenz und lösen Konflikte in den Dimensionen von Macht und Gewinnen vs. Verlieren? Wie stark werden Erfolge gemessen und bewertet? Hier agiert der Linear-Aktive Typ typischerweise am durchsetzungsorientiertesten, gefolgt vom Multi-Aktiven und vom Reaktiven Typ. High Context/Low Context: Wie ausführlich wird auf einzelne berufliche Stationen eingegangen, wie explizit Erfolge und vor allem Misserfolge benannt, wie konkret spezifische Rahmenbedingungen erläutert? Wie präzise oder wie bewusst vage sind Formulierungen gehalten, wie viel wird generell geredet? Werden klare Antworten gegeben, auch wenn der Kandidat unsicher ist, ob diese Antwort erwünscht ist? Oder ist er bereit, von der Wahrheit abzuweichen, wenn es die Situation oder die Beziehung erfordert? In Bezug auf diese Dimension ist der Reaktive Typus in der Regel am stärksten »High Context«-orientiert, d. h., die indirekte und angedeutete Kommunikation überwiegt. Der Linear-Aktive Typus bevorzugt »Low Context«-orientierte, direkte und explizite Kommunikation, der Multi-Aktive Typ liegt dazwischen. Emotionalität/Sachlichkeit: Wie sehr gilt es für die Kandidatin als professionell, ihre Emotionen zu verstecken, wie sehr als menschlich, sie zu zeigen? Wie stark gestikuliert sie, wie laut spricht sie und wie expressiv ist ihre Mimik? Diesbezüglich agiert der Multi-Aktive Typus tendenziell in einem emotionalen, expressiven Kommunikationsstil, während es dem Reaktiven Typus wichtig ist, die eigenen Emotionen nach außen hin zu verbergen. Hier liegt der Linear-Aktive Typus in der Mitte, tendiert aber auch zu einem sachlichen, eher nüchternen Ausdruck. Geschlechtergleichheit: Sind Blickkontakt oder Händeschütteln gegenüber Männern anders als gegenüber Frauen? Wird das Gespräch vor allem mit einem männlichen oder einem weiblichen Gegenüber geführt?

»Du schwarz, ich weiß«

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Nähe/Distanz, Trennung Person und Rolle, Zeitwahrnehmung: Wie nahe kommen die Kandidaten den Interviewenden auch körperlich? Wie persönlich dürfen Fragen und Antworten werden? Wie schnell, überlappend und unterbrechend ist der Sprechrhythmus, wie häufig und wie direkt der Augenkontakt? Zukunftsorientierung: Schauen die Kandidaten zuerst nach vorne auf das Ziel und die Chance, oder auf den Ist-Zustand oder auf das, was noch fehlt? Berufen sie sich eher auf frühere Erfolge und Traditionen und legitimieren ihr Handeln mit bewährten Vorgehensweisen oder suchen sie mehr die Veränderung? Motivieren sie durch Begeisterung und positive Energie oder durch Nüchternheit, Gründlichkeit oder Anweisungen? Beeindrucken sie andere durch überzeugende Ziele und Visionen oder durch kritisches Hinterfragen? Die drei letztgenannten Dimensionen lassen sich auf dem Lewis-Modell nicht verorten. Natürlich sind diese Klassifizierungen stark vereinfacht, und in vielen einzelnen Beobachtungen lassen sich Beispiele finden, die diesen Zuordnungen zu widersprechen scheinen. Beim Einsteigen in einen Zug agieren Chinesen scheinbar individualistischer als Deutsche, Japaner zeigen sich nach der Arbeit in einer Karaoke-Bar expressiver als Brasilianer und Amerikaner verhalten sich beim Small Talk mit Fremden in einem Supermarkt beziehungsorientierter als Afrikaner. Die Details und Spezifikationen der kulturellen Hintergründe sind komplex und oftmals widersprüchlich. Umso wichtiger ist es einerseits, zu verinnerlichen, dass ein Kulturstandard kein individuelles Verhalten vorhersagen kann, sondern nur einen kollektiv bevorzugten Verhaltenskorridor beschreibt, von dem aber je nach Kontext auch abgewichen werden kann. Andererseits ist es erforderlich, wie wir es auf den folgenden Seiten tun, sich tiefer mit den Hintergründen und Wertvorstellungen zu befassen, welche diesen Kulturstandards zugrunde liegen. Deutsche Kulturstandards in der Personalauswahl Die wirksamste Methode, um diese kulturell verankerten Verhaltensmuster noch konkreter und bildhafter zu begreifen, ist die Auseinandersetzung mit den eigenen kulturellen Prägungen im Vorstellungsgespräch. In meinem Fall – und für die meisten Leser und Leserinnen dieses Buches wird dies auch gelten – sind diese durch den deutschen Kulturraum bestimmt. Natürlich darf man sich dabei »die Deutschen« nicht als ein kulturell homogenes Volk vorstellen. Aber auch in Deutschland gibt es bestimmte als Kulturstandards beschreibbare Korridore von als »richtig« oder »falsch« bewertetem Verhalten. Sylvia Schroll-Machl (2012) hat hierzu zahlreiche Beispiele und

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Teil 3: Kulturelle Unterschiede im Bewerbungsgespräch

Erklärungsmuster zusammengetragen, welche uns gerade für das internationale Vorstellungsgespräch einen hilfreichen Spiegel vorhalten. Danach zeichnen sich Deutsche im Vergleich zu anderen Kulturen durch folgende Verhaltenspräferenzen aus: 1. Sie handeln und kommunizieren sehr sach- und aufgabenorientiert. Die Beschäftigung mit Sachverhalten und Aufgaben hat in der sozialen Interaktion im beruflichen Kontext Vorrang gegenüber dem Beziehungsaufbau. Letzterer erfolgt eher nebenbei im Prozess der gemeinsamen Aufgabenerfüllung. 2. Sie agieren eher planungs- und regelorientiert, d. h., sie haben meist eine hohe Erwartung, dass es Planung, Strukturen und Regeln für die Zusammenarbeit gibt. Mit diffusen, unklaren Situationen ohne klar geregelte Verantwortungen und Zuständigkeiten können sie meist nicht so gut umgehen. 3. Sie erfüllen ihre Aufgaben in der Regel mit einem hohen Maß an Eigenverantwortung und verinnerlichter Kontrolle. Wenn sie eine Zusage gegeben haben, dann fühlen sie sich meist auch ernsthaft verpflichtet, diese zu erfüllen. Fragt man zu oft nach, was den Fortgang einer Aufgabe betrifft, wird das eher als Misstrauen oder als Hineinregieren empfunden und nicht als echtes Interesse. 4. Ihre Kommunikation ist gekennzeichnet von Direktheit und der Suche nach Wahrheit und Klarheit. Zustimmung (»Ja«) und Ablehnung (»Nein«) werden auf der Sachebene explizit ausgedrückt, im beruflichen Kontext wird kritisches, hinterfragendes und analytisches Denken erwartet und wertgeschätzt. Small Talk, Übertreibung oder das Verschweigen von Missständen werden von Deutschen eher negativ bewertet. 5. Sie haben ein monochrones Zeitempfinden (Zeit ist planbar, Pünktlichkeit ist wichtig, Planabarbeitung ist strukturiert). 6. Sie agieren individualistisch in Bezug auf die eigene Meinung, die eigene Leistung, die eigenen Rechte und Pflichten, wobei sie gleichzeitig soziale Verantwortung und gesellschaftlichen Ausgleich befürworten. Schauen wir uns zur Illustration dieser Kulturstandards einmal die Verhaltensanker an, welche wir in den Kompetenzmodellen verschiedener deutscher Unternehmen für die Beschreibung der Kompetenz »effektives Kommunizieren« in der Praxis gefunden haben. Eine Kandidatin oder einen Mitarbeiter, der effektiv kommuniziert, erkennt man danach an folgendem Verhalten: Sie oder er • spricht deutlich, flüssig und verständlich; • antwortet differenziert und präzise, kommt auf den Punkt; • stellt die eigenen Überlegungen prägnant und pointiert dar;

»Du schwarz, ich weiß«

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• vermittelt Inhalte konsistent und relevant; • argumentiert objektiv und schlüssig; • nutzt Fakten und rationale Argumente, um zu überzeugen und zu beeinflussen; • benennt eigene Positionen und Meinungen klar, offen und aufrichtig; • hört aktiv zu und fragt nach, ob es richtig verstanden wurde; • informiert andere rechtzeitig, umfassend und verständlich; • nutzt Medien und technische Unterstützung effektiv; • präsentiert selbstbewusst und überzeugend. Es ist recht offensichtlich, dass diese Beschreibungen von »effektivem Kommu­ nizieren« vieles von dem ausdrücken, was in Deutschland kulturell als »effektiv« und damit positiv bewertet wird. Deutsche schätzen Kommunikation im beruflichen Kontext (und meist auch im privaten) tendenziell dann, wenn sie klar, strukturiert, sachlich, planvoll, auf den Punkt, substanziell, ehrlich, zuverlässig und individuell zuzuordnen ist. Stellen Sie sich nun vor, »effektives Kommunizieren« würde wie folgt be­ schrieben: Sie oder er • spricht energievoll, lebhaft und überzeugend; • formt Hypothesen, stellt verschiedene Perspektiven einander gegenüber; • stellt die eigenen Überlegungen kreativ und innovativ dar, findet elegante Lösungen; • vermittelt Inhalte auf unterschiedlichen Wegen, setzt Wiederholungen geschickt ein; • argumentiert leidenschaftlich und emotional; • nutzt Gestik und Mimik, um zu überzeugen und zu beeinflussen; • benennt eigene Positionen und Meinungen mit Humor und Taktgefühl; • ist verbindlich und zeigt Interesse, beherrscht Small Talk; • verwendet Informationen taktisch klug, um die eigene Position zu unterstützen; • ist amüsant, langweilt nicht; • präsentiert eloquent und findet die richtigen Worte, kann gut formulieren. Mit dieser Operationalisierung von effektiver Kommunikation, welche eher den Kulturstandards aus Lateinamerika, Südeuropa und Frankreich entspricht, würden deutsche Kandidaten wohl weniger als »effektiv kommunizierend« eingeschätzt. Oder was wäre, wenn »effektives Kommunizieren« in den Kulturstandards aus Japan, China und Südostasien wie folgt dargestellt würde: Sie oder er

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• • • • • • • • • • • •

Teil 3: Kulturelle Unterschiede im Bewerbungsgespräch

spricht ruhig, verständig und ausgewogen; antwortet umfassend, lässt nichts aus; hört gut zu, lässt Pausen; stellt die eigenen Überlegungen taktvoll und diplomatisch dar; vermittelt Inhalte ganzheitlich, erkennt Wechselwirkungen; argumentiert freundlich und gesichtswahrend, lässt Interpretationsspielräume; nutzt Beispiele und Referenzen, lässt andere für sich sprechen; lässt sich eigene Gedanken und Gefühle nicht anmerken; agiert sensibel, erkennt Schwingungen und nonverbale Signale; informiert loyal und zuverlässig; bringt sich ein, hilft der Gruppe, voranzukommen; präsentiert unaufdringlich und angenehm, lächelt viel.

Auch bei dieser Beschreibung von »effektivem Kommunizieren« dürften deutsche Kandidaten kaum erfolgreich bewertet werden. Damit wird deutlich, dass das kommunikative Grundprofil, nach dem wir in unseren Vorstellungsgesprächen immer suchen, in hohem Maße von unserer deutschen kulturellen Prägung beeinflusst ist. Bewerberinnen, die besonders viel reden oder besonders laut, die sehr vage und umkreisend agieren oder lange Pausen lassen, Kandidaten, die weit ausholen oder zu expressiv auftreten – sie alle entsprechen nicht unserer Vorstellung von »effektiv kommunizierend«. Rufen wir uns hierzu die Forschungsergebnisse von Dipboye und Kollegen (2012) aus Kapitel 1.3 in Erinnerung. Sie zeigen, dass Interviewer in der Praxis, völlig unabhängig von der Zielposition, meist nach immer den gleichen, sehr vage und unbewusst definierten Idealtypen suchen, sogenannten »good scouts«. Und sie beschreiben, dass Vorstellungsgespräche meist nach unbewussten, aber sehr festgelegten mentalen Ablaufskripten der Interviewenden ablaufen, welche das Auswahlergebnis maßgeblich beeinflussen. Halten die Kandidaten sich nicht an diese inoffiziellen Skripte, werden sie als weniger kompetent wahrgenommen. Betrachten wir in dem Kontext weiterhin die oben dargestellten Umfrageergebnisse aus der Praxis, wonach 93 % der Befragten keine Bewerber einstellen würden, wenn ihnen ihr Bauchgefühl keine positive Wahrnehmung dazu signalisiert. Vor dem Hintergrund ist es nicht wahrscheinlich, dass wir auch Kandidaten einstellen, die von unserer kulturellen Grundpräferenz stark abweichen. Um eine größere Offenheit in der internationalen Personalauswahl zu erlangen, müssen wir uns bewusst machen, dass unsere kulturelle Präferenz mit den in der Eignungsdiagnostik eigentlich relevanten Kompetenzen gar nichts zu tun hat. Nur weil unsere eigene direkte, explizite, sachorientierte,

»Du schwarz, ich weiß«

121

kritische, gewissenhafte, regelorientierte, monochrone und individualistische Herangehensweise an Aufgaben und Beziehungen für uns funktioniert, heißt das nicht, das nicht auch andere Herangehensweisen funktionieren können. Es gibt viele Wege, ein Ziel zu erreichen. Aber unsere eigene kulturelle Prägung legt uns nahe, dass unser Weg der einzige ist oder dass er zumindest besser ist als andere. Er ist uns aber nur vertrauter. Um einen anderen kulturellen Ansatz nicht nur zu verstehen, sondern ihn auch als gleichermaßen in sich stimmig und sinnvoll anerkennen zu können, müssen wir die Logik und Historie dieses Ansatzes nachvollziehen können. Erst wenn es uns wirklich einleuchtet, warum auch das fremde Verhalten in seiner eigenen Perspektive Sinn macht, so wie wir unser eigenes Verhalten für sinnvoll halten, erst dann begegnen wir uns wirklich auf Augenhöhe. Entsprechend befassen sich nun die nächsten beiden Kapitel – Konzeptionen von Selbst und Welt in Kapitel 3.2, Denkstile in Kapitel 3.3 – mit unseren kulturellen Fundamenten, mit unseren Weltbildern und Denkmustern, und wie sie unsere Sichtweisen und unser Verhalten im Vorstellungsgespräch bestimmen.

122

Teil 3: Kulturelle Unterschiede im Bewerbungsgespräch

3.2 »Er hat sich sehr gut präsentiert« – fundamentale Unterschiede in der Selbstdarstellung »Meine Lippen, wenn sie sprechen, sind einsam wie der Herbstwind« Japanisches Sprichwort

Wenn wir ein Vorstellungsgespräch als soziale Interaktion begreifen, dann ist es von entscheidender Bedeutung für das Gespräch, nach welchen kulturellen Modellen die Beteiligten ihre Beziehungen gestalten. Die Grundlage für entsprechende Forschungen legten 1991 die Amerikanerin Hazel Rose Markus und der in den USA lehrende Japaner Shinobu Kitayama mit ihrem Artikel »Culture and Self: Implications for Cognition, Emotion, and Motivation«. Aus der Gegenüberstellung westlicher und ostasiatischer Selbst-Konzepte entwickeln sie hierin ein Modell, mit dem sich viele kulturelle Unterschiede im Kommunikationsverhalten und bei der Beziehungsgestaltung hervorragend erklären lassen. Und auch für das Vorstellungsgespräch lassen sich aus dieser Gegenüberstellung Erkenntnisse gewinnen, wie sich ein unterschiedlich verankertes Selbstkonzept auswirkt auf die Art der Selbstpräsentation, auf die grundsätzlichen Kommunikationsmuster, auf die Zielsetzung bei der Beantwortung von Fragen und auf den Umgang mit Konflikten. Unabhängige, individualistische vs. vernetzte, interdependente Konstruktionen des »Selbst« Kern des Modells ist die Unterscheidung von unabhängigen und individua­ listischen gegenüber vernetzten und interdependenten Konstruktionen des »Selbst«. Menschen mit einer individualistischen Selbstkonstruktion, wie sie für die westliche Welt typisch sind, sehen sich dabei tendenziell eher als abgegrenzte Einheiten, die aus ihrem Individualismus heraus mit ihrer Umwelt in Interaktion treten. Menschen mit einer interdependenten Selbstvorstellung sehen sich dagegen zunächst als Teil eines übergeordneten Ganzen (Familie, Gruppe, Firma). Erst in ihrer Position und in den Grenzen des Kollektivs entfalten sie ihre Persönlichkeit. Das Ziel von Menschen mit einer individualistischen Selbstkonstruktion ist es entsprechend, sich anderen in ihren individuellen Eigenschaften und Zielen zu zeigen und sich mit ihnen auszutauschen. Das Ziel von interdependent geprägten Menschen ist dagegen zunächst die Integration in das vorhandene Beziehungsgefüge. Die japanische Grußformel »Dohso yo roshiku onegai shimas« (sinngemäß: »Schön, Sie kennenzulernen«, aber wörtlich: »Bitte nehmen Sie mich in Ihre Gruppe auf«) ist hierfür deutlicher Ausdruck.

»Er hat sich sehr gut präsentiert«

123

Bond und Kwang-Kuo (2008, S. 244) illustrieren diesen Unterschied in der Praxis am Beispiel einer Cocktailparty. Auf einer amerikanischen Cocktailparty gehen die Gäste unabhängig von Tisch zu Tisch und verfolgen in einem lockeren Mix aus Selbstdarstellung und sozialem Austausch den Auf- und Ausbau ihrer Beziehungsnetzwerke. Sie machen kleine Scherze und loten aus, wie sie in Bezug auf Status, Interessen und Persönlichkeit zueinander stehen, während sie schrittweise Einzelheiten von sich preisgeben. Sie bringen ihre Persönlichkeiten und Positionen ein und verweben sie zu einem sozialen Netzwerk. Bei einem chinesischen Empfang ist der Status der Gäste bereits durch die Tischordnung vorgegeben. Jeder kennt jeden und hat eine Vorstellung, wie die Gäste zueinander stehen. Alle folgen »Li«, dem konfuzianischen Begriff für das richtige soziale Verhalten, und bemühen sich, sich gemäß ihrer Rolle und Position harmonisch in das Ganze einzufügen. Veränderungen in diesem starren Beziehungsgeflecht sind nur graduell möglich durch guanxi (Beziehungspflege), renqing (gegenseitige Unterstützung und Gefälligkeiten), mianzi (Gesichtsmanagement) und huibao (Gegenseitigkeit). Kommunikation dient entsprechend dazu, den eigenen Status im Verhältnis zum Gegenüber zu ermitteln, wo er noch unklar ist, und ihm ansonsten zu entsprechen und ihn graduell zu eigenen Gunsten zu verändern. Die Gäste beziehen ihre Identität also wesentlich aus der Position, die sie in ihrem sozialen Gefüge innehaben, und aus dem Streben, diese zu beeinflussen. Referenzpunkt ist nicht ihre Individualität, sondern ihre Positionierung im sozialen Kontext. Eine Studie von Li, Zhang, Bhatt und Yum aus dem Jahr 2006 mit chinesischen, indischen und anglokanadischen Erwachsenen illustriert diese Unterschiede im Selbstkonzept eindrücklich. Die Wissenschaftler ließen die Studienteilnehmenden auf der sogenannten IOS-Skala (Inclusion of Other in the Self-Scale) die Nähe ihrer Beziehung zu wichtigen Personen in ihrem sozialen Umfeld (vom engsten Familienmitglied bis zum Nachbarn) markieren. Die Ergebnisse wurden anschließend übertragen auf eine numerische Likert-Skala von 1 (getrennt) bis 7 (am meisten überlappend). Dabei zeigte sich, wie Abbildung 12 verdeutlicht, die indische Gruppe am deutlichsten interdependent in ihrem Selbstkonzept, knapp gefolgt von der chinesischen Gruppe und mit großem Abstand (im Schnitt rund 1,5 Punkte) vor der kanadischen. Nur in der »Nähe zum besten Freund/bester Freundin« lagen die kanadischen Teilnehmer fast gleichauf.

124

Teil 3: Kulturelle Unterschiede im Bewerbungsgespräch

Indien Geschlecht

M

China n

M

Kanada n

M

n

Engste Familienmitglieder Männer

6.05

111

Frauen

6.12

101

5.91

103

4.54

113

5.87

 93

4.88

106

Enge Familienmitglieder Männer

5.55

111

5.47

103

3.84

114

Frauen

5.84

101

5.51

 93

3.98

106

1 = Selbst Andere

2 = Selbst Andere

3

Selbst Andere

4

Selbst Andere

Engster Freund Männer

4.54

111

4.19

103

4.02

114

Frauen

5.40

101

4.13

 93

4.63

106

5 = Selbst Andere

Enge Freunde Männer

4.11

111

3.66

103

3.02

113

Frauen

4.64

101

3.67

 93

3.31

106

Männer

3.86

111

3.76

103

2.12

113

Frauen

4.56

100

3.90

 93

2.50

106

Männer

3.97

109

3.39

103

2.36

113

Frauen

4.49

 89

3.35

 93

2.46

106

Männer

3.45

110

3.26

103

1.63

114

Frauen

4.12

100

3.09

 93

1.59

106

Verwandte

6 = Selbst Andere

7

Selbst Andere

Kollegen

Nachbarn

Hinweis: M = Mittelwert, Durchschnitt, arithmethisches Mittel; n = Anzahl der Befragten Abbildung 12: Durchschnittswerte für die Selbst-Andere-Verbundenheit als Funktion von Kultur und Geschlecht. Quelle: Li, Zhang, Bhatt u. Yum, 2006, S. 600; eigene Übersetzung

Bemerkenswert an den von Li und Kollegen generierten Ergebnissen ist, dass im Selbstkonzept der asiatischen Teilnehmer die wahrgenommene Verbundenheit mit Nachbarn, Kollegen und Verwandten genauso hoch ist wie bei der kanadischen Gruppe zu deren engsten Freunden und nahen Familienmitgliedern. Können Sie sich als westlich geprägte Leserin und Leser vorstellen, sich einem Kollegen oder Nachbarn so nah und voneinander abhängig zu fühlen, wie Sie es zurzeit mit Ihren Geschwistern oder engsten Freunden tun? Was würde das heißen für die Vorsicht, die Sie in dieser Beziehung dann walten ließen? Wie stark würde Ihr Selbstbild dann von den Urteilen und Fremdbildern dieses sozialen Umfeldes bestimmt? Wie klar, direkt und rücksichtslos würden Sie sich trauen,

»Er hat sich sehr gut präsentiert«

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Ihre Meinung zu sagen, wenn Ihnen das Urteil eines Kollegen so wichtig wäre wie das Ihres besten Freundes, aber ohne dass Sie sich gleichzeitig so vertraut und sicher fühlen würden wie mit Ihrem besten Freund? Wie sehr würden Sie sich dann anstrengen, um ihre Gruppenzugehörigkeit sicherzustellen? Vor dem Hintergrund einer in dieser engen Form wahrgenommen Abhängigkeit vom sozialen Umfeld wird es auch für einen westlich-individualistisch geprägten Menschen etwas vorstellbarer, was es heißt, ein interdependentes Selbstkonzept zu besitzen. Nicht zuletzt fällt auf, dass kulturübergreifend – außer bei den Nachbarn – durchgängig Frauen höhere Werte der Vernetzung aufweisen als Männer. Die folgenden Ausführungen, wie sich ein interdependentes Selbstkonzept im Vorstellungsgespräch ausdrückt, können somit auch zu einem besseren Verständnis von unterschiedlichem weiblichem und männlichem Verhalten im Bewerbungsprozess beitragen. Es würde nun den Rahmen dieses Buches sprengen, die kulturhistorischen Wurzeln beider Selbstkonzepte ausführlich zu erläutern. Die auf Unabhängigkeit ausgerichteten griechischen Denker, das newtonsche mechanistische Weltbild, die Logik der Aufklärung und die Rationalität der Cartesianischen Wende, der am eigenen Gewissen ausgerichtete Protestantismus, die individualisierende Dynamik von Kapitalismus und Industrialisierung – sie alle haben ihren geistesgeschichtlichen Anteil am unabhängigen Selbstkonzept der westlichen Welt heute. Kollektiv ausgerichtete, meist landwirtschaftlich geprägte Ökonomien, zentral oder paternalistisch strukturierte Herrschaftsverhältnisse sowie religiöse Bezugssysteme mit einer starken spirituellen Ausrichtung korrelieren dagegen eher mit einem interdependenten Selbstkonzept. Die Philosophien des Buddhismus, des Taoismus und des Konfuzianismus haben schließlich in Ostasien das interdependente Bild eines harmonischen Miteinanders und einer ganzheitlichen, sich gegenseitig bedingenden Welt besonders stark geprägt. Es ist darum vor allem der ostasiatische Kulturraum, von dem wir für das Aufeinandertreffen des unabhängigen mit dem vernetzten Selbst im Vorstellungsgespräch lernen können. Vorstellungsgespräche als Beziehungsarbeit Bevor wir uns genauer ansehen, wie sich die Vorstellung eines vernetzten, interdependenten Selbst im Bewerbungsgespräch äußert, betrachten wir zunächst noch einmal drei Gesprächssequenzen aus den bereits zitierten Interviewsimulationen. Alle drei Kandidaten, wir erinnern uns, verfügten über ausgezeichnete Qualifikationen, arbeiteten für namhafte Organisationen und hielten sich zum Zeitpunkt der Interviews bereits seit über einem Jahr in Deutschland auf:

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Teil 3: Kulturelle Unterschiede im Bewerbungsgespräch

1) Sie (aus Deutschland):  Vielleicht, bevor wir zum Abschluss des Interviews kommen, fassen Sie mir doch bitte noch einmal in drei Sätzen zusammen, warum wir Sie einstellen sollten! Er (aus China): Ähm (Pause), na ja, wie ich gesagt hatte, ähm, ich denke, ich habe Ihre Stellenausschreibung sehr sorgfältig studiert, und auch Ihr, ähm, Unternehmensprofil, und so, denke ich, habe ich ein gutes Bild gewonnen von der Person, die Sie suchen. Und ich sende meine Unterlagen nicht an 1.000 Unternehmen, wenn ich einen Job suche. Ich schaue schon genau hin und suche nach etwas, das zu mir passt. Es sollte ein gegenseitiges Verständnis da sein. Darum denke ich, die Punkte die ich schon genannt hatte, wie zum Beispiel meine zwischenmenschlichen Kompetenzen, meine – ähm (schaut kurz zu Boden), meine – ähm (schaut sie an, gestikuliert mit seinen Händen), mein internationaler Hintergrund und auch mein Management-Stil, ich denke diese drei Punkte, denke ich, auf eine bestimmte Weise, machen mich, ah, wirklich gut, und ich denke, ah, das sollte, sollte passend sein für ihre potenzielle Position, ja. 2) Sie (aus Deutschland):  Warum sollten wir Sie für diese Stelle auswählen, könnten Sie mir drei Gründe nennen? Er (aus Indien):  Mmh, O. K., ich kann das nicht so stark sagen, aber ich würde gerne auf einige Gründe hinweisen. Der erste Grund sind alle Anforderungen und Qualifikationen aus der Stellenbeschreibung, die ich abdecke mit meinem Profil, außer dass ich den Master-Studiengang noch abschließen muss, an dem ich gerade arbeite. Aber das, was in der Stellenausschreibung gesucht wird, ist genau das, was ich gerade in meinem Master mache. Und wir haben dort die gleichen Beziehungen zu den gleichen Universitäten wie Ihr Unternehmen.    Und gleichzeitig suchen Sie Erfahrungen in der Softwareentwicklung und im Programmieren, und das ist ja das, was ich bei meinem aktuellen Arbeitgeber mache. Ich sehe da, ähm, also eine ziemlich gute Passung zu dem gemischten interdisziplinären Profil, und, ähm, das ist gut (Pause) – für mich natürlich (lacht). Sie: Und (Pause, lächelt) der dritte Grund? Er:  Ein weiterer Grund wäre, dass ich mich wirklich enthusiastisch fühle, was diese Position betrifft. Ich möchte das wirklich machen und ich hoffe, es wird mir Spaß machen, also das wäre noch ein Grund. Und der dritte Grund, würde ich sagen, ist, dass die Mischung in der Position gut zu dem passt, was ich gerne machen möchte. Ich würde in der Position mit vielen externen Forschungseinrichtungen zusammenarbeiten, und darauf freue ich mich auch, weil ich da

»Er hat sich sehr gut präsentiert«

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bereits Erfahrungen habe, also ich denke, das wäre, das wäre auch wirklich ein Pluspunkt. 3) Er (aus Deutschland):  Jetzt eine klassische Interviewfrage: Was halten Sie für Ihre größten Stärken? Sie (aus Indonesien):  Meine größten Stärken? Ähm (Pause, schaut an die Decke), ähm, O. K., ich … mag es, Menschen zu motivieren. Aber auf einer persönlichen Ebene, ich kann es nicht in einem großen Stil tun, auf einem Forum. Das ist nicht meine Kapazität. Es ist mehr von Mensch zu Mensch, das ist meine größte Stärke. Er:  Mmh, O.K … und noch eine? Sie:  Ich lache gerne – das ist nicht so gut (lächelt). Er:  Ist das eine Stärke oder eine Schwäche? Sie (lacht): Ja!

Wir erleben hier bei allen drei Kandidaten eine erkennbare Scheu oder Zurückhaltung, ihre Stärken selbstbewusst und klar zu formulieren. Der Kandidat aus China beginnt zögerlich, spricht dann zunächst 80 % der Zeit über seine Vorbereitung auf diese Bewerbung und über sein Bedürfnis, zum Unternehmen zu passen. Erst ganz zum Schluss benennt er – etwas unsicher wirkend, aber immerhin – ganz knapp drei Stärken. Diese Stärken bezeichnet er aber auch nicht als absolut, sondern im Konjunktiv (»sollte passend sein«) in Bezug zur »potenziellen Zielposition«. Der Kandidat aus Indien beginnt leicht abwehrend (»Ich kann das nicht so stark sagen«) drei Gründe zu formulieren, hört dann aber bereits nach zwei Gründen wieder auf. Grund Nummer eins (»Decke alle Anforderungen der Stellenausschreibung ab«), schränkt er dabei gleich wieder ein (»bis auf meinen Master«) und Grund Nummer zwei (»Programmieren und Softwareentwicklung mache ich ja bereits«) ist eigentlich identisch mit Grund Nummer eins. Gleichwohl scheint ihm das ganze Selbstlob am Ende etwas peinlich zu sein, denn er schließt etwas abrupt ab mit »Und das ist gut«, merkt dann offensichtlich die Egozentrik dieser Aussage und schränkt sie darum ein mit »für mich natürlich«, was er zusätzlich durch ein Lachen abschwächt. Auf Nachfrage schiebt er dann noch als dritte Stärke hinterher, wie enthusiastisch und motiviert er für die Stelle ist und wie viel Spaß sie ihm machen würde. Alle Gründe, die er nennt, sind dabei kontextbezogen, relativ zum nachfragenden Unternehmen. Die Kandidatin aus Indonesien schließlich braucht ebenfalls eine Weile, bis sie antwortet mit der Aussage, dass sie gerne andere Menschen motiviere, dies

128

Teil 3: Kulturelle Unterschiede im Bewerbungsgespräch

aber auch gleich einschränkt (»aber nicht auf der großen Bühne«). Auf Nachfrage benennt sie noch als weitere Stärke, dass sie gerne lache, scheint die Antwort aber selbst gleich für unangemessen zu halten: »Aber das ist nicht gut«. Warum fällt es den drei Bewerbern hier so schwer, sich selbst positiv und überzeugend darzustellen? Sind sie schüchtern, unsicher oder haben sie ein geringes Selbstbewusstsein? Fehlt es ihnen an Überzeugungskraft, Präsentationsstärke und Durchsetzungsfähigkeit? Oder hält sie ihr asiatischer kultureller Hintergrund davon ab, sich etwas dominanter und forscher darzustellen? Geht man davon aus, dass tatsächlich die kulturelle Herkunft aus Asien eine Rolle spielt, dann erleben die Kandidaten hier einen Zielkonflikt: Einerseits wissen sie, dass ihr deutscher Interviewpartner von ihnen vermutlich eine selbstbewusste Benennung ihrer eigenen Stärken hören möchte. Andererseits müssen sie sich bemühen – interdependent denkend – ihren Platz im Verhältnis zum Auswählenden zu bestimmen und die Beziehung zu ihm bzw. zu ihr harmonisch und ausgeglichen zu gestalten. Diesem Zielkonflikt sind zwar deutsche Kandidaten tendenziell auch ausgesetzt, denn auch in Deutschland kann ein zu ausgeprägtes Präsentieren der eigenen Stärken und Qualitäten als eingebildet oder selbstverliebt bewertet werden. Eine Vielzahl von Untersuchungen (vgl. Kim, 2002; Schaller, Norenzayan, Heine, Yamagishi u. Kameda, 2010; Fiske, Kitayama, Markus u. Nisbett, 1998) belegen jedoch, dass sich Menschen aus einem individualistischeren Kulturkreis in der Regel sehr viel leichter damit tun, sich positiv darzustellen als Menschen mit einem vernetzten, interdependenten Selbstkonzept. Hierfür gibt es verschiedene Erklärungsansätze: • Zunächst gehen Angehörige eines auf Unabhängigkeit ausgerichteten und individualistisch geprägten Kulturkreises tatsächlich eher davon aus, dass sie besser sind als der Durchschnitt. In US-amerikanischen Studien haben z. B. 90 % aus einer Gruppe von Geschäftsleuten ihre Leistung höher eingeschätzt als der Durchschnitt. 85 % von fast einer Million High-SchoolSchülern hielten sich sozial für umgänglicher als der Rest. In eher interdependent strukturierten Gesellschaften wie Japan, Thailand oder Korea wurde dieser Effekt kaum beobachtet. Teilweise war die Selbsteinschätzung dort sogar niedriger, d. h., man hielt sich für weniger geeignet und qualifiziert als der Durchschnitt. • Auch sind individualistische Denkmuster, die Menschen über ihre Eigenschaften und ihre Persönlichkeit definieren, in gruppenorientiert denkenden Gesellschaften generell weniger ausgeprägt. Denn die eigene Identität ergibt sich dort nicht so sehr aus dem, was man selbst ist und kann, sondern aus der

»Er hat sich sehr gut präsentiert«









129

Position und Rolle, die man innerhalb der Gruppe einnimmt. Entsprechend ist die Aufmerksamkeit nicht auf die Selbstpräsentation, sondern auf die Gruppenintegration und Gruppenresonanz gerichtet. Vergleichende Studien haben gezeigt, dass Mitglieder individualistischer Gesellschaften sich tendenziell stärker an Ergebniszielen orientieren, an Dingen, die sie individuell erreichen, bekommen oder bewirken wollen. Mitglieder interdependenter Gesellschaften sind dagegen eher darauf ausgerichtet, negative Aufmerksamkeit und Gesichtsverlust in der Gruppe zu vermeiden. Eine negative und selbstkritische Selbstoffenbarung erfüllt dann die Funktion des Erwartungsmanagements: Indem man die eigenen Fähigkeiten kleinredet, reduziert man die Gefahr, später den Erwartungen nicht zu entsprechen. Ganz erheblich ist die Art der Selbstdarstellung außerdem davon beeinflusst, mit welchen Interpretationen und Reaktionen man seitens des sozialen Umfeldes rechnen muss. Hier zeichnen sich westliche, individualistische Gesellschaften aus durch eine klare Korrelation zwischen positiver Selbstpräsentation und von außen wahrgenommener Kompetenz: Menschen, die sich positiv, stark und selbstbewusst darstellen, wird Kompetenz, Selbstbewusstsein und Einfluss zugeschrieben. Menschen dagegen, die ihre Fehler und Schwächen zur Schau stellen, werden tendenziell als weniger kompetent und als durchsetzungsschwach eingeschätzt. In Asien ist dies entgegengesetzt. Dort werden die Personen als besonders positiv und charakterstark bewertet, die sich selbst bescheiden, unprätentiös und selbstkritisch geben. Ein wesentlicher Grund für diese gegensätzlichen Bewertungen ist hierbei die interdependent geprägte Vorstellung, sich durch Selbstbezug außerhalb der Gruppe zu stellen. Ein japanisches Sprichwort sagt: »Siehst du einen Nagel herausstehen, so schlag ihn hinein!« Wer sich zu sehr in den Vordergrund spielt, der riskiert, nicht in die Gruppe integriert zu werden. Entsprechend neigen Menschen aus interdependenten Kulturräumen dazu, sich selbst als durchschnittlich, nicht anders als die anderen oder als nichts Besonderes zu bezeichnen. Ihre Erfolge werten sie dann als Erfolge der ganzen Gruppe oder sie schreiben sie den Umständen und glücklichen Begebenheiten zu. Diese Tendenz zur selbstkritischen, teilweise auch selbst herabwür­di­gen­den Eigendarstellung wird verstärkt durch ritualisierte Formen der Kommu­ nikation, die einen bescheidenen, selbstlosen und zurückgenommenen Auftritt verlangen. So wird es z. B. in Japan als Enryo bezeichnet, sich gegenüber anderen selbst zu erniedrigen, um dadurch einerseits Fremdbestätigung zu erfahren (eine Art »fishing for compliments«), andererseits Konfliktvermeidung und Unterordnungsbereitschaft zu signalisieren. Dies führt dann

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Teil 3: Kulturelle Unterschiede im Bewerbungsgespräch

dazu, dass man als Gast z. B. ein Geschenk überreicht mit den Worten »Es wird Ihnen sicher nicht gefallen, aber bitte nehmen Sie es trotzdem« oder ein Essen serviert mit der Einleitung »Es schmeckt leider nicht sehr gut, aber hier ist etwas zu essen«. Ähnlich ritualisierte Kommunikationsformen finden sich auch in China unter den Begriffen qianxu und keqi, wo man traditionell z. B. ein Kompliment erst einmal abwehren sollte (»Nein, mein Chinesisch ist noch auf Kinderniveau, ich brauche noch viel Übung«), um nicht arrogant und selbstgefällig zu wirken. • Die generell vorhandene Vorsicht, sich lobend über sich selbst zu äußern, wird durch die besondere hierarchische Situation des Vorstellungsgesprächs noch verstärkt. Zum einen stehen die Auswählenden als diejenigen, die eine Ressource zu verteilen haben, in der Hierarchie über den Kandidaten. Ein moralisch tadelloses Bild abzugeben, ist also noch wichtiger als in einem normalen sozialen Kontext. Zum anderen ist die Frage der Integrationsund Unterordnungswilligkeit aus Sicht der interdependent geprägten Kandidaten das wesentliche Einstellungskriterium, welches aus ihrer Sicht im Vorstellungsgespräch abgeprüft wird. Umso bedeutender ist es, sich nicht durch vermeintlichen Selbstbezug und Eitelkeit als eine Person zu zeigen, die sich vermutlich nur schwer integrieren wird. • Eine wichtige Rolle für eine neutrale oder sogar selbstkritische Eigendarstellung spielt schließlich die Wertschätzung, die insbesondere in Asien der Selbstentwicklung zugeschrieben wird. Die Suche nach persönlicher Reife, nach Wachstum und Selbstverbesserung ist ein wesentliches Thema buddhistischer, taoistischer und konfuzianischer Ethik, welche sich unter anderem in Zurückhaltung, Bescheidenheit und Lernbereitschaft ausdrückt. Wer darum in den Vordergrund stellt, was er bereits weiß oder kann, dokumentiert damit indirekt, sich nicht mehr weiterentwickeln und nicht mehr lernen zu wollen. Nun sollte man aus diesen Erklärungen für die oben beschriebenen Interviewsequenzen nicht den eindimensionalen Schluss ziehen, dass Kandidaten aus interdependent geprägten Kulturräumen immer bescheiden auftreten und ihre Fähigkeiten im Vorstellungsgespräch herunterspielen. Wie die in Kapitel 1.2 zitierte Studie »Wie viel täuschen chinesische Bewerber? (How Much do Chinese Applicants Fake?)« gezeigt hat, sagen chinesische Kandidatinnen vielleicht sogar häufiger als europäische Bewerberinnen, dass sie ihre Qualifikationen und Kompetenzen im Bewerbungsgespräch übertreiben und positiver darstellen, als sie wirklich sind. Wie ist dieser scheinbare Widerspruch – zurückhaltendes, selbstkritisches, bescheidenes Auftreten einerseits, Übertreibung der eigenen Stärken und

»Er hat sich sehr gut präsentiert«

131

Kompetenzen andererseits – zu erklären? Begreift man das Vorstellungsgespräch als Beziehungsarbeit, in der die Kandidaten sich durch aktives »Gesichtsmanagement« möglichst vorteilhaft darstellen möchten, bekommt diese Gleichzeitigkeit einen Sinn. Der Begriff des »Gesichts« ist auch in Deutschland nicht unbekannt, wenn wir z. B. von einer »gesichtswahrenden Lösung« sprechen, der alle Parteien zustimmen können, ohne am Ende als Verlierer dazustehen. Er beschreibt so etwas wie das Ansehen, die Reputation oder die Wertschätzung, die einem Menschen in der Öffentlichkeit entgegengebracht werden. Je stärker dabei eine Gesellschaft am Gruppenzusammenhalt, an der Wahrung der Harmonie und an einem reibungsfreien sozialen Miteinander orientiert ist, je interdependenter ihre Mitglieder sich selbst begreifen, umso stärker wirkt das Konzept des Gesichts auf das Zusammenleben ein. Das Konzept ist dabei im asiatischen Kulturraum am besten untersucht und dort auch sprachlich am klarsten verankert. So finden sich im Chinesischen zwei Entsprechungen für »Gesicht« (Bond u. Kwang-Kuo, 2008; Qi, 2014), und diese Unterscheidung ist wichtig für den oben skizzierten scheinbaren Widerspruch auch über den chinesischen Kulturraum hinaus: Lian und Mianzi. Lian ist dabei das moralische Gesicht, das ein Mensch dadurch bekommt oder verliert, indem er sich an die Verhaltensregeln der Gemeinschaft hält. Mianzi ist das soziale Gesicht, am ehesten dem deutschen Prestige oder Ansehen entsprechend, das ein Mensch durch seine Leistungen, seinen Status und seinen Einfluss gewinnt. Die Herausforderung ist nun, dass sich Lian und Mianzi in jeder Form der Selbstdarstellung widersprechen, denn Lian verlangt nach Bescheidenheit, Einordnung und Achtung der vorhandenen sozialen Struktur, Mianzi erfordert Imagepflege. Um sich nun Mianzi zu geben, ohne Lian zu verlieren, stehen den Bewerbern im Wesentlichen drei Wege zur Verfügung: • Sie können sich selbst in einem möglichst guten Licht darstellen, müssen dabei aber jeden Eindruck von Selbstdarstellung vermeiden. Dies erreichen sie am besten auf indirektem Weg, indem sie Leistungen ihrer Gruppe betonen, Institutionen und Personen aus ihrem Werdegang von hohem Prestige scheinbar beiläufig erwähnen, Eigenlob sehr respektvoll und einschränkend anbringen und Referenzpersonen oder Auszeichnungen benennen, die das Lob aus einer dritten Richtung implizieren. • Sie können den Auswählenden Gesicht geben, indem sie Lob, Anerkennung und Komplimente verteilen, der Meinung der Auswählenden zustimmen, Gemeinsamkeiten betonen oder auch  – was im Vorstellungsgespräch allerdings selten vorkommt – kleine Geschenke mitbringen. Die damit ver-

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Teil 3: Kulturelle Unterschiede im Bewerbungsgespräch

bundene Hoffnung ist, dass diese Anerkennung reziprok erwidert wird, sodass auch der Bewerber Mianzi bekommen wird. In jedem Fall wirkt sich diese Form des Gesicht-Gebens positiv auf das eigene Lian, das moralische Gesicht aus, sodass anschließend auch kleinere Verfehlungen in Form von vorsichtigem Eigenlob denkbar sind, ohne Lian zu verlieren. • Zuletzt müssen die Kandidaten zu jeder Zeit darauf achten, kein Gesicht (Lian und Mianzi) zu verlieren, indem sie z. B. auf Fragen keine Antwort wissen, eigene Fehler und Misserfolge zugeben oder sich respektlos gegenüber den Auswählenden verhalten. Spüren die Bewerber anhand der Reaktion der Auswählenden, dass sie z. B. etwas Falsches gesagt oder getan haben, dann droht ihnen Gesichtsverlust, den sie so gut wie möglich abwenden werden. Hierfür können sie z. B. umlenken, d. h., sie antworten auf eine Frage, die ihnen gar nicht gestellt wurde, zu der sie aber die Antwort wissen. Sie können die Situation auch von sich abwenden, indem sie entweder die Wahrheit verbiegen oder sie mit Umständen erklären, die nicht in ihrer Verantwortung lagen (z. B. »Das wurde an unserer Hochschule nicht unterrichtet«). Sie können sich entschuldigen und versprechen, ihr Defizit in der Zukunft durch besonderen Einsatz wieder wettzumachen. Sie können das Verhalten der Interviewenden aber auch sehr unhöflich und wenig rücksichtsvoll finden, und dadurch die Verantwortung für den Gesichtsverlust den Auswählern zuschreiben, und sie werden sich dann innerlich zurückziehen. In jedem Fall wird eine solche Situation starke Emotionen wie Scham, Verunsicherung, Selbstzweifel, Angst oder Ärger auslösen, welche die Leistungsfähigkeit im weiteren Verlauf des Interviews beeinträchtigen. Mit dieser Unterscheidung wird die Gleichzeitigkeit von Bescheidenheit einerseits und Selbstimagepflege andererseits im Vorstellungsgespräch greifbar. Auch Kandidaten aus interdependent geprägten Kulturräumen versuchen, sich selbst in einem möglichst positiven Licht darzustellen und übertreiben dabei gerne einmal ihre Stärken und Kompetenzen. Sie tun dies aber auf eine Art, die ihnen – in ihrem eigenen kulturellen Kontext – nicht als unbescheiden oder egozentrisch ausgelegt werden kann. In unseren drei Interviewsequenzen oben können wir Ansätze davon beobachten. So betont z. B. der chinesische Kandidat zunächst ausführlich die Bedeutung, welche die Auswahl der richtigen Stelle für ihn hat, was entweder als Auszeichnung für die Stelle, aber auch als indirekte Auszeichnung für sich selbst verstanden werden kann. In jedem Fall betont er die Kontextebene seiner Stärken wesentlich stärker als seine individuellen Qualitäten. Auch der indische

»Er hat sich sehr gut präsentiert«

133

Kandidat versucht vor allem den Kontext seiner Aussagen indirekt für sich sprechen zu lassen (»Wir haben dort die gleichen Beziehungen zu den gleichen Universitäten wie Ihr Unternehmen«) und er stellt seine eigene Motivation und seinen Enthusiasmus für das Unternehmen als Stärke dar, was idealerweise ihm und den Auswählenden gleichermaßen Gesicht gibt. Was lässt sich nun daraus an konkreten Schlussfolgerungen und Handlungsempfehlungen für die internationale Personalauswahl ableiten? • Die wichtigste Botschaft ist zunächst, dass das Verhalten der Bewerber aus ihrer eigenen Perspektive in der Regel Sinn ergibt, selbst wenn sich Ihnen als Interviewende dieser Sinn nicht sofort erschließt. • Versuchen Sie darum, nicht abwertend zu reagieren, falls Sie ein sonderbar klingendes Kompliment bekommen, falls die Bewerber Ihnen nach dem Mund reden oder plötzlich das Thema wechseln, falls sie ihren eigenen Beitrag zu einem Erfolg auch nach mehrmaliger Nachfrage nicht benennen, falls in Nebensätzen vollkommen irrelevante Personen und Institutionen erwähnt werden oder falls Schüchternheit und Selbstlob sich unzusammenhängend abwechseln. Die große Herausforderung für interdependent geprägte Kandidaten liegt darin, sich selbst loben zu müssen, ohne sich selbst loben zu dürfen. • Verabschieden Sie sich in jedem Fall von der Vorstellung, es ginge hier um Kompetenzen, denn Ihre Kandidaten betreiben gerade Beziehungsarbeit. Versuchen Sie stattdessen, von vorneherein eine vertrauensvolle und wertschätzende Beziehung zu etablieren. Je akzeptierter und willkommener sich die Kandidaten fühlen, desto eher können sie die »Gesichtsarbeit« vernachlässigen und sich als Mensch zu erkennen geben. • Wenn Sie merken, dass es den Bewerbern schwer fällt, sich selbst in den Vordergrund zu stellen, suchen Sie nach Fragen, die das nicht verlangen. Wenn Sie trotzdem möchten, dass die Kandidaten ihre individuellen Leistungen, Ergebnisse und Stärken benennen, arbeiten Sie eher mit schwach strukturierten Fragen, bei denen es keine eindeutig gute oder schlechte Antwort gibt, wie z. B.: Was war aus Ihrer Sicht das wichtigste Projekt, an dem Sie im Unternehmen X gearbeitet haben? In welchem Ihrer bisherigen Unternehmen haben Sie am meisten erreicht? Sie können auch Fragen stellen, bei denen das Lob gegebenenfalls von dritter Seite kommt, wie: Welcher Ihrer bisherigen Chefs würde Sie am meisten loben? Warum hat man Sie damals für die Aufgabe ausgewählt? Wenn es den Preis »Mitarbeiter des Jahres« gegeben hätte, in welchem Ihrer bisherigen Unternehmen hätten Sie ihn am ehesten bekommen? Oder Sie können die Kandidaten selbst loben, sodass diese dem nur noch zustimmen müssen, wie z. B.: Das war ja eine

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Teil 3: Kulturelle Unterschiede im Bewerbungsgespräch

großartiges Umsatzwachstum, wie haben Sie das denn geschafft? Das war ja eine beachtliche Leistung, gleichzeitig zu studieren und diese Arbeitsergebnisse zu bringen, was sagt das über Sie aus? Konsistenz und Klarheit als Erwartungshaltung individualistischer Gesellschaften Auch in der Art, wie die Bewerberinnen und Bewerber eine Frage beantworten, drücken sich die unterschiedlichen Selbstkonzepte im Vorstellungsgespräch aus. Während es in einem individualistischen Kontext wichtig ist, klare eigene Positionen zu entwickeln und konsistent, also durchgängig und zuverlässig zu vertreten, steht in einem interdependenten Kontext die Suche nach Übereinstimmung und Harmonie auch auf der inhaltlichen Ebene im Vordergrund. Betrachten wir dazu erneut eine kurze Interviewsequenz: Sie (aus Deutschland):  Lassen Sie uns über Entscheidungen sprechen: Sind Sie jemand, der schnell und einfach Entscheidungen trifft, oder denken Sie lange darüber nach? Wie kommen Sie zu Entscheidungen? Er (erfahrener Vertriebsingenieur für Medizintechnik aus Syrien, hat lange in Dubai gearbeitet) (denkt kurz nach, dann):  Ehrlich gesagt, das kommt auf die Entscheidung an. Wenn man mit einem Kunden zu tun hat in unserem Geschäft, wo es um Maschinen geht, die 500.000 Dollar kosten, wo man dann kurz davor ist, den Abschluss zu machen, da muss man auch mal schnelle Entscheidungen treffen, denn man will die Diskussion jetzt auch mal beenden auf der Basis dieser Entscheidung, darum sollte diese Art von Entscheidung dann schnell getroffen werden. Aber natürlich mit einem Verständnis des Kunden und auf eine gute Art und Weise. Aber wenn wir zum Beispiel über die Entscheidung sprechen, jemanden einzustellen, dafür nehme ich mir richtig Zeit.

Wenn es Ihnen als Leserin oder Leser nun so geht wie der Interviewerin, die im Anschluss gemeinsam mit dem Kandidaten das Gespräch ausgewertet hat, dann sind Sie jetzt auch etwas ratlos. Was hat er jetzt genau gesagt? Ist er nun entscheidungsfreudig, oder ist er es nicht? Warum soll eine Entscheidung über den Kauf einer Maschine von 500.000 Dollar denn schnell gehen, eine Entscheidung, einen neuen Mitarbeiter einzustellen aber lange dauern? Es lassen sich doch für die umgekehrte Argumentation auch gute Gründe finden. Die deutsche Interviewerin will mit ihrer persönlichkeitsorientierten Frage wissen, ob er mutig und schnell Entscheidungen trifft oder eher sorgfältig und vorsichtig und wie er zu seinen Entscheidungen kommt, also vielleicht eher

»Er hat sich sehr gut präsentiert«

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intuitiv und spontan, eher analytisch und durchdacht oder eher kommunikativ und im Austausch mit seinem Team. Sie erhofft sich dabei eine klare, ehrliche und konsistente Antwort; sie will wissen, wie er zu dieser Frage steht. Eine solche Antwort bekommt sie von ihm aber nicht. Der Kandidat vermeidet eine eindeutige Festlegung und wirkt auf die Interviewerin dadurch ausweichend und unklar. Dabei zeigt sie eine Erwartungshaltung, wie sie für unabhängigkeitsbetonte und individualistisch geprägte westliche Gesellschaften typisch ist. Das individualistische Selbst geht davon aus, es besitze klar abgegrenzte, vom Kontext weitgehend unabhängige, stabile und konsistente Eigenschaften. Im Austausch mit anderen will es diese Eigenschaften und Einstellungen auch klar, ehrlich und unverfälscht vor anderen zeigen und benennen sowie ebenso gezeigt und benannt bekommen. Jemand, der in der einen Situation eine andere Meinung vertritt und eine andere Persönlichkeit zeigt als in einer anderen Situation, wird in diesem individualistischen Weltbild negativ bewertet. Letztlich beruhen auf dieser Grundannahme auch die gängigen Konzepte der Personalauswahl, wie wir sie kennen. Wir suchen stabile und konsistente Eigenschaften, Haltungen und Kompetenzen in den Kandidaten und gehen davon aus, dass diese sich dann später in der Zielposition wie vorhergesagt verwirklichen werden. Einem vernetzten, interdependent geprägten Selbst ist diese Vorstellung aber weitgehend fremd. Menschen in entsprechenden Kulturräumen entwickeln, wie wir gesehen haben, ihre Identität zu einem großen Teil erst im Bezug zur Außenwelt. Das heißt natürlich nicht, dass Menschen in interdependent strukturierten Gesellschaften keine unterscheidbaren Eigenschaften, Haltungen, Meinungen und Kompetenzen hätten. Sie passen diese nur flexibler an den Kontext an und definieren sich stärker darüber, wie harmonisch und stimmig sie sich in ihr Beziehungsnetz integrieren. Die Bedeutung von inkonsistentem Verhalten in interdependenten Kulturen

Bevor wir die Antwort des syrischen Kandidaten genauer interpretieren, schauen wir uns dazu eine vergleichende Studie zur Verhaltensvariabilität von USamerikanischen und koreanischen Studierenden an (Suh, 2002). Der Autor bat die Studierenden, zunächst ihre eigene Persönlichkeit anhand einer Rangordnung von zwanzig vorgegebenen Eigenschaften zu definieren. Anschließend sollten sie anhand der gleichen Eigenschaften ihr Verhalten einordnen, wie sie es in Beziehung zu bestimmten Interaktionspartnern (Freund, Eltern, Professor, Fremder, jüngere Person) überwiegend zeigen würden. Wir sehen in Tabelle 4 und 5 die Ergebnisse der Befragung anhand je einer Tabelle für die US-amerikanische (s. Tabelle 4) und die koreanische

136

Teil 3: Kulturelle Unterschiede im Bewerbungsgespräch

Gruppe (s. Tabelle 5). So liegt beispielsweise die Eigenschaft »ehrlich« in der amerikanischen Gruppe im Selbstbild auf Platz 1, im Verhalten gegenüber Fremden aber nur auf Platz 8. Für die abgebildete Tabelle wurden dabei aus Gründen der besseren Lesbarkeit jeweils nur zwölf der ursprünglich zwanzig Eigenschaften aus der Studie von Suh ausgewählt. Tabelle 4: Selbstzuschreibung von Verhalten in Abhängigkeit vom Kontext: USA. Quelle: nach Suh, 2002, S. 1385; eigene Übersetzung Kontext Eigenschaft

Selbst

Freund

Ehrlich

1

2

4

6

8

4

Liebenswürdig (»kind«)

2

5

1

4

1

2

Rational

3

10

5

2

2

9

Kooperativ

4

6

6

1

5

7

Freundlich

5

1

2

5

3

1

Aufgeschlossen

6

7

7

3

6

6

Gesprächig

7

3

3

12

12

8

Emotional

8

9

9

16

20

12

Fröhlich

Eltern

Professor Fremder

Jüngere Person

9

8

10

9

7

3

Bescheiden

11

12

12

8

4

11

Introvertiert

17

18

18

11

10

18

Zweischneidig (»two-faced«)

20

19

19

17

17

19

.85

.94

.80

.73

.85

Rangkorrelations­ koeffizient

1 = höchste Selbstzuschreibung von Verhalten in Abhängigkeit vom Kontext 20 = niedrigste Selbstzuschreibung von Verhalten in Abhängigkeit vom Kontext

137

»Er hat sich sehr gut präsentiert«

Tabelle 5: Selbstzuschreibung von Verhalten in Abhängigkeit vom Kontext: Korea. Quelle: nach Suh, 2002, S. 1386; eigene Übersetzung Kontext Eigenschaft

Selbst

Freund

Eltern

Professor Fremder

Jüngere Person

Emotional

1

9

7

16

16

11

Fröhlich

2

1

4

9

13

5

Liebenswürdig (»kind«)

3

6

6

3

2

1

Kooperativ

4

3

2

1

6

2

Freundlich

5

2

1

7

14

4

Ehrlich

6

7

3

5

5

3

Rational

10

12

10

6

3

8

Bescheiden

11

10

11

2

1

9

Aufgeschlossen

12

5

9

10

11

6

Introvertiert

13

20

16

4

4

12

Zweischneidig (»two-faced«)

14

17

14

13

10

15

Gesprächig

16

8

8

17

19

10

.72

.80

.36

.08

.62

Rangkorrelations­ koeffizient

1 = höchste Selbstzuschreibung von Verhalten in Abhängigkeit vom Kontext 20 = niedrigste Selbstzuschreibung von Verhalten in Abhängigkeit vom Kontext

Zunächst ist es in dieser Untersuchung interessant zu sehen, mit welchen Eigenschaften sich die koreanische Gruppe selbst beschreibt (Selbst). So liegt z. B. »emotional« in Korea auf Platz 1, »fröhlich« auf Platz 2, »rational«, »bescheiden« und »introvertiert« dagegen nur auf den Plätzen 10, 11 und 13. Gleichzeitig liegen »aufgeschlossen« in der koreanischen Gruppe auf Rang 12, »gesprächig« auf 16. Während westliche Kulturforscher wie Richard Lewis im oben vorgestellten Modell also Koreaner als »Reaktiven Typus« klassifizieren, der sich durch ein ruhiges, kontrolliertes und vorsichtiges Auftreten auszeichnet, sehen sich Koreaner selbst als emotional und fröhlich und nicht als besonders bescheiden oder introvertiert. Diese Diskrepanz hat damit zu tun, dass wir in westlichen Kulturkreisen »gesprächig« und »aufgeschlossen« meist mit »extrovertiert«, »fröhlich« und »emotional« assoziieren und darum einen Menschen, der sich nicht gesprächig und aufgeschlossen verhält, auch nicht als emotional, extrovertiert und fröhlich erleben. Noch relevanter ist aber die Tatsache, dass westliche Kulturforscher einem Koreaner tendenziell immer als Fremde oder

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Teil 3: Kulturelle Unterschiede im Bewerbungsgespräch

als Professoren gegenübertreten, sodass sie die eigentliche Persönlichkeit, die Koreaner sich selber zuschreiben, nie zu sehen bekommen. Die Studie von Suh liefert hierzu prägnante Ergebnisse, denn sie zeigt, wie stark und in welchen Eigenschaften die koreanischen Teilnehmenden ihr Verhalten an ihre Interaktionspartner anpassen. So liegen z. B. die Werte für »introvertiert« in der koreanischen Gruppe auf Platz 4 gegenüber Professoren, aber nur auf Platz 20 gegenüber Freunden. »Emotional« liegt auf Platz 1 in der Selbstsicht, auf Platz 16 gegenüber Professoren. »Gesprächig« liegt auf Platz 8 mit Freunden und auf Rang 19 mit Fremden. »Freundlich« rangiert auf Platz 1 mit Eltern, aber nur auf 14 mit Fremden; »bescheiden« auf Rang 1 mit Fremden und auf Rang 10 gegenüber Freunden. Insgesamt, so zeigt die untere Zeile mit dem Rangkorrelationskoeffizienten, drückt das Verhalten der koreanischen Gruppe gegenüber Fremden nur zu 8 % ihre eigentliche Persönlichkeit aus, gegenüber Professoren nur zu 36 %. Die Konsistenz im Verhalten der amerikanischen Studienteilnehmer, also wie sehr ihr Auftreten auch bei unterschiedlichen Interaktionspartnern stabil bleibt, liegt mit 73 % gegenüber Fremden und 80 % gegenüber Professoren deutlich höher. Wir stellen also fest, dass das Selbstbild der koreanischen Teilnehmer kaum ein valider Indikator dafür ist, wie sie sich z. B. gegenüber Autoritätspersonen oder Fremden verhalten. Sie halten sich für emotional und fröhlich, zeigen sich gegenüber Fremden oder Professoren aber ganz anders. Umgekehrt kann man aus ihrem Verhalten diesen gegenüber kaum Rückschlüsse darauf ziehen, welches Selbstbild sie haben. Macht es dann überhaupt Sinn, im Vorstellungsgespräch so stark nach der Persönlichkeit zu suchen, wenn sie sich im Verhalten so wenig zeigt? Aus Sicht der Kandidatinnen aus interdependent geprägten Kulturräumen ist es jedenfalls schwer nachvollziehbar, dass wir im Westen das so intensiv tun. Letztlich ist es doch aus ihrer Sicht vor allem maßgeblich, wie sie sich verhalten und wie gut sie sich an die Erwartungen ihrer Umwelt anpassen. Die Kandidatinnen legen darum im Vorstellungsgespräch ihren Schwerpunkt darauf, ihre Flexibilität und Anpassungsbereitschaft zu beweisen. Nicht Selbstdarstellung und Gradlinigkeit der eigenen Persönlichkeit sind in einer vernetzten Perspektive also die entscheidenden Werte, sondern die gelungene Anpassung an die Umgebung. Konsistenz, sich treu zu bleiben und Authentizität, wie sie in der westlichen Welt als Zeichen starker Persönlichkeiten gesehen werden, bekommen in dieser Interpretation dann schnell eine negative Konnotation: Sie werden zu fehlender Flexibilität, Starrheit, Eigensinn und Unreife. Die hieraus resultierenden Missverständnisse zwischen westlichen, individua­ listisch geprägten Interviewern und eher kontextorientierten, interdependent

»Er hat sich sehr gut präsentiert«

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gepolten Bewerbern sind vorprogrammiert. Die westlichen Interviewer suchen den Kern der Persönlichkeit ihrer Kandidaten, die Kandidaten dagegen halten diesen Kern für gar nicht relevant und versuchen, eine Festlegung zu vermeiden, da sie sich als möglichst flexibel und integrationsfähig darstellen wollen. Je mehr die Auswählenden versuchen, die Kandidaten auf eine Position und Persönlichkeit festzulegen, desto mehr werden die Bewerber sich unsicher fühlen und ausweichen wollen. Die obige Interviewsequenz mit dem Kandidaten aus Nahost liefert dafür ein gutes Beispiel. Auf die Frage der Interviewerin nach seinem Entscheidungsverhalten gibt er eine eher ausweichende und nichtssagende Antwort. Die Interviewerin wird ihm das als Wankelmütigkeit oder Unklarheit, gegebenenfalls auch als Inkompetenz auslegen. Er ist für sie nicht greifbar. Aus seiner Sicht dagegen kann er die Frage wirklich nicht beantworten, denn zum einen weiß er nicht, worauf sie mit dieser Frage hinaus will. Und zum anderen kann er ihr tatsächlich keine Antwort geben. Ob er an sich, losgelöst vom Kontext, eher ein entscheidungsfreudiger oder eher ein vorsichtiger, bedenklicher Typ ist, kann er vermutlich wirklich nicht sagen, da es seinem Selbstkonzept nicht entspricht. Er passt dies an, je nachdem was der Kontext erfordert. Das heißt jedoch nicht, dass die Persönlichkeit kollektiv geprägter Kandidaten gar keine Relevanz hätte für ihre spätere Arbeitsleistung. Und es heißt auch nicht, dass es nicht gelingen kann, diese Persönlichkeit im Vorstellungsgespräch klarer herauszuarbeiten. Wir müssen aber unsere Instrumente dafür anpassen. Denn es ist ja nicht so, dass – um wieder an die Studie von Suh anzuknüpfen – die koreanischen Teilnehmer sich selbst keine Eigenschaften zuschreiben würden. Und sie zeigen diese Eigenschaften auch nicht wahllos und beliebig, sondern je nach Kontext auch stabil und konsistent. English und Chen (2007, S. 488; eigene Übers.) nennen dies eine »Wenn-dann-Konsistenz« interdependent geprägter Individuen: »Obwohl das Selbstkonzept der ostasiatischen Teilnehmer sich stark am Beziehungskontext orientiert, bleibt es trotzdem in bestimmten Beziehungen über die Zeit stabil. Solche ›Wenn-dann-Konsistenz‹ ermöglicht es ihnen, einerseits dem kulturellen Erfordernis nach Anpassung an die Erwartungen anderer zu entsprechen, andererseits ein kohärentes Identitätsgefühl zu bewahren.« (Immer) wenn sie mit einem Professor interagieren, verhalten sich die Teilnehmer der koreanischen Studie also eher bescheiden und zurückhaltend; (immer) wenn sie unter sich mit Freunden sind, zeigen sie sich eher fröhlich und extrovertiert. Für die internationale Personalauswahl heißt das, dass wir bei interdependent strukturierten Kandidatinnen ihr Verhalten und ihre Persönlichkeit immer nur im Kontext erkennen können. Erinnern wir uns dazu an die

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Teil 3: Kulturelle Unterschiede im Bewerbungsgespräch

unterschiedlichen Frageformate, wie sie in Kapitel 2.1 vorgestellt werden. Die von der Interviewerin in der obigen Interviewsequenz gestellte Form war eine persönlichkeitsorientierte Frage, die in ihrer Art wirkt wie eine biografische Frage in freier Aktivierung: »Wie treffen Sie Entscheidungen? Was sind Sie für ein Entscheidungstyp?« Sie hätte vermutlich eine Antwort von größerem diagnostischem Wert bekommen, wenn sie Fragen gestellt hätte vor einem konkreten Handlungskontext, wie z. B.: • Als Sie damals das Unternehmen X verlassen haben, weil Sie in Ihrer Karriere vorankommen wollten, wie lange haben Sie damals gebraucht, um diese Entscheidung zu treffen? Sind Sie auch in anderen Entscheidungen so spontan/ so sorgfältig? (Biografische Fragen mit eigenbiografischer Aktivierung) • Als Sie sich damals bei der Umstrukturierung entschieden haben, die Produktgruppe X nicht weiter herzustellen und den Markt zu verlassen, wie war der Entscheidungsfindungsprozess, um zu dieser Entscheidung zu kommen? (Biografische Fragen mit eigenbiografischer Aktivierung) • Was ist die beste Entscheidung in Ihrem Berufsleben, die Sie jemals getroffen haben? Wie haben Sie sie getroffen? (Biografische Fragen mit ausgelöster Aktivierung) • Gibt es eine Entscheidung in Ihrem Berufsleben, die Sie anders treffen würden, wenn Sie noch mal vor der gleichen Wahl ständen? Wie haben Sie diese Entscheidung damals getroffen und was hätten Sie gegebenenfalls besser machen können? (Biografische Fragen mit ausgelöster Aktivierung) • Angenommen, ein Kunde möchte von Ihnen einen 10 % besseren Preis, er muss aber in einer Stunde eine Antwort erhalten. Die Marge wäre groß genug, aber es wäre natürlich ein geringerer Gewinn als bisher und leider sind alle Ihre Chefs schon im Wochenende. Was tun Sie, um zu einer Entscheidung zu kommen? Wie würden Sie die Entscheidung gegebenenfalls treffen, wenn Sie der Chef wären? (Szenario) • Angenommen Sie möchten einen Freund oder eine Freundin ins Kino einladen und Sie sollen den Film aussuchen. Wie gehen Sie vor, um einen passenden Film zu finden, und wie lange brauchen Sie dafür vermutlich? (Szenario) So können wir unsere Interviewtechniken anpassen, um auch von vernetzt und interdependent denkenden Menschen im Vorstellungsgespräch klarere und konsistente Antworten zu bekommen.

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Konformität und Vermeidung als Lösungsstrategie des interdependenten Selbst Was für die Art der Interaktion und Präsentation der eigenen Persönlichkeit gilt, trifft auch auf einer inhaltlichen Ebene zu. Aus einer westlichen, individualistischen Perspektive suchen wir bei den Kandidaten den Punkt, wofür sie stehen, woran sie glauben, und wir möchten uns darauf verlassen können. Im Gegensatz dazu stellt das interdependente Selbst auch auf der Sachebene die Wahrung der Harmonie und das reibungsfreie Miteinander in den Vordergrund. »Im chinesischen Kontext wird Zurückhaltung der eigenen Meinung zugunsten der Gruppenharmonie keineswegs als Zeichen individueller Schwäche oder Feigheit gesehen, sondern vielmehr als Indiz für geistige Reife, Selbstbeherrschung und Limao (ethisches Verhalten) betrachtet« (Günthner, 1993, S. 76). Schauen wir uns zwei Beispiele dafür an: 1) Sie (aus Deutschland):  Sie haben ja in Dubai mit Menschen aus vielen verschiedenen Ländern zusammengearbeitet. Konnten Sie da Unterschiede feststellen, wie man mit ihnen umgeht? Er (aus Syrien):  Ach, na ja, wie ich schon gesagt habe, am Ende des Tages, wenn man mit dem Kunden zu tun hat, dann werde ich nicht zu persönlich. Also wenn ich mein Ziel erreicht habe und mein Produkt verkauft, auf professionelle Art und Weise natürlich, dann, ehrlich gesagt, dann ist es mir egal, woher er kommt. Sie:  Das macht dann keinen Unterschied? Er: Genau. 2) Sie (aus Deutschland):  Stellen Sie sich folgende Situation vor: Bei einem wichtigen Kundentermin stellt Ihr Vorgesetzter Ihr Produkt vor, eine neue Softwaregeneration. Und in seiner Rede macht er zwei bedeutungsvolle Fehler, welche beim Kunden Erwartungen wecken werden, die Ihr Produkt gar nicht erfüllen kann. Wie würden Sie reagieren? Er (aus Indien):  Mmh, O. K. (kleine Pause), O. K., es ist ja, es ist ganz verständlich, dass der Vorgesetzte ein paar Fehler in seiner Rede macht. Ah, ist natürlich nicht gut, wenn es vor dem Kunden passiert, aber, ah, er ist ja nicht derjenige, der letztlich auch an dem Projekt gearbeitet hat, also kann das schon mal passieren, dass, ah, dass er nicht alle Aspekte kennt und so was passieren würde. (Pause) In dem Sinne würden wir versuchen, die Fehler in der Demophase des

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Teil 3: Kulturelle Unterschiede im Bewerbungsgespräch

Produktes zu korrigieren, in der wir dann genauer erklären, wie das Produkt funktioniert. Und das könnte das Problem vielleicht lösen. Sie:  O. K., ich verstehe. Und gegenüber Ihrem Vorgesetzten, würden Sie es erwähnen? Er:  Ja, das würde ich gerne (Original: Yes, I would like to; lächelt), wenn es ein ernster Fehler war. (Pause) Aber auf eine professionelle Art natürlich.

Diese beiden Ausschnitte haben auf den ersten Blick wenig gemeinsam. Sequenz 1 beginnt mit einer vermeintlich eigenbiografisch aktivierten Frage: »Konnten Sie Unterschiede feststellen, wie man mit unterschiedlichen Kulturen in Dubai umgeht?« Tatsächlich ist es aber eine verkleidete persönlichkeitsorientierte Frage, und als solche wird sie vom Kandidaten auch erkannt. Die Interviewerin möchte, wie sie später in der Auswertung erklärt, sich von der interkulturellen Kompetenz des Bewerbers ein Bild machen. Hat er sich bereits mit unterschiedlichen Kulturen auch intellektuell auseinandergesetzt? Was weiß er über die Auswirkungen verschiedener kultureller Prägungen im Geschäftskontakt und wie geht er mit eigenen und fremden Vorurteilen um? Der Kandidat hat allerdings eine andere Assoziation. Er denkt, wie er ebenfalls später erklärt, die Interviewerin wolle hier eine »politisch korrekte« Antwort hören im Sinne von »Für mich sind alle Menschen gleich, unabhängig von Hautfarbe und Herkunft«. Und so sagt er es dann auch. Sequenz 2 ist dagegen szenariobasiert, situativ strukturiert. Der Kandidat soll erklären, wie er eine hypothetische Situation klären würde, in der es einen Zielkonflikt gibt zwischen Loyalität und Unterordnung dem Chef gegenüber einerseits, Zuverlässigkeit und Ehrlichkeit dem Kunden gegenüber andererseits. Der Kandidat löst diesen Konflikt, indem er auf der einen Seite zum Chef nach außen hin loyal bleibt und ihn gegenüber der Interviewerin auch von jedem Fehlverhalten freispricht. Andererseits möchte er den Fehler des Chefs gegenüber dem Kunden in der Erprobungsphase der Software dann so korrigieren, dass der Kunde und die Kundenbeziehung keinen Schaden nehmen, und trotzdem der Fehler des Chefs möglichst unbemerkt, zumindest aber unausgesprochen bleibt. Auf die Frage, ob er den Chef im Anschluss auf seinen Fehler aufmerksam machen wird, antwortet er zweideutig: »Ich würde es gerne tun.« Ob er es dann auch wirklich machen würde, bleibt aber offen. Auch hierdurch löst er also einen Zielkonflikt (zwischen seiner eigenen hierarchieorientierten und indirekten kulturellen Prägung einerseits und dem vermeintlichen Wunsch der Interviewerin nach einer klaren und direkten Konfliktklärung andererseits) mit einem gesichtswahrenden Mittelweg. Wir sehen hier also zunächst zwei Beispiele, wie unterschiedliche Frageformate verschiedene Informationen mit sehr unterschiedlichem diagnostischem

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Gehalt produzieren können. Aus Sequenz 1 lernen wir letztlich nichts über den Kandidaten, außer dass er in dieser Frage das Ziel der Interviewerin falsch interpretiert und entsprechend »falsch« antwortet. Aus Sequenz 2 lernen wir dagegen gleich doppelt über die Konfliktlösungsstrategien des Kandidaten: zum einen aus der Zukunft (Wie würde er das Szenario lösen?), zum anderen aus dem Hier und Jetzt in der Begegnung mit der Interviewerin (Wie löst er den Zielkonflikt zwischen seiner eigenen Prägung und der Erwartung der Interviewerin?). Beide Male ist das gewählte Konfliktlösungsverhalten zwar nicht unbedingt typisch für eine deutsche Arbeitsumgebung, wo vielleicht eine explizitere und gradlinigere Auflösung des Zielkonfliktes üblich wäre. Die Vorgehensweise des Kandidaten beweist jedoch Fingerspitzengefühl und eine gewisse Verhaltensflexibilität und damit wichtige Basiskompetenzen für Konfliktfähigkeit – und übrigens auch für interkulturelle Kommunikation. In beiden Sequenzen meinen die Kandidaten also zu erkennen, was die Interviewerin hören möchte. In Sequenz 1 versucht der Bewerber nun die gewünschte Antwort zu geben, da die Frage vermeintlich klar auf dieses Ziel ausgerichtet ist. In Sequenz 2 antwortet der Bewerber dagegen mehrdeutig, er weicht einer eindeutigen Positionierung gleich zweimal aus, tut dies aber in einer vergleichsweise einfühlsamen, eleganten, fast schon charmanten Art und Weise. Auf den zweiten Blick erkennen wir damit die Gemeinsamkeit der beiden Sequenzen: Es geht in beiden Fällen um kulturell unterschiedlich verankertes Konformitätsund Konfliktlösungsverhalten, um unterschiedlich definierte Gradlinigkeit im Antwortprozess. Die Bedeutung von Konformität und Konfliktvermeidung

Warum ist das für die internationale Personalauswahl relevant? Weil wir es als westliche, individualistisch geprägte Interviewende negativ bewerten, wenn die Bewerber ihre Meinung nach uns richten, wenn sie uns nach dem Mund reden, wenn sie Konflikte vermeiden und einer klaren Haltung aus dem Weg gehen. Genau dies ist in einem interdependenten Kontext aber oft das sozial kompetente Verhalten. Betrachten wir das in Abbildung 13 dargestellte klassische Konfliktlösungsschema, wie es in einem westlichen Kontext entwickelt wurde, um den Unterschied zu illustrieren. Die Vermeidung eines Konfliktes ist in dieser Betrachtung die schlechteste Lösung, sie wird gleichgesetzt mit einem Rückzug und einem »Lose-Lose«Ergebnis. Weder wird dabei das Eigeninteresse verfolgt, noch Rücksicht auf das Anliegen der anderen genommen; das Konfliktlösungsmuster ist in dieser Sicht unkooperativ in der Beziehung und schwach in der Sache. Aber auch ein anpassender Konfliktlösungsstil, bei dem die eigenen Interessen aufgegeben

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Teil 3: Kulturelle Unterschiede im Bewerbungsgespräch

Abbildung 13: Konfliktlösungsstile in einer kulturell westlich verankerten Darstellung. Quelle: eigene Darstellung auf der Grundlage von Rahin u. Bonoma, 1979; Thomas u. Kilmann, 2007; Fisher, Ury u. Patton 1991

werden, wird in einer individualistisch geprägten Gesellschaft tendenziell negativ bewertet. Beide Male wählen die Kandidaten in unseren Interviewsequenzen aber diesen Weg. In Sequenz 1 gibt der Kandidat der Interviewerin die vermeintlich gewünschte Antwort (Anpassung). In Sequenz 2 vermeidet der Kandidat den Konflikt durch einen Umweg im Szenario bzw. durch eine zweideutige Formulierung gegenüber der Interviewerin. Aus einer westlichen Perspektive sind dies wenig zielführende Wege, denn die eigenen Interessen werden nicht aktiv verfolgt, die Interessengegensätze werden nicht transparent gemacht, und so wird letztlich auch das Interesse der anderen nicht aktiv aufgegriffen. Doch in einem vernetzten, interdependenten Selbstkonzept zählt nicht die Darstellung und Durchsetzung der eigenen Interessen, sondern zunächst die Wahrung einer harmonischen, konfliktfreien Beziehungsebene. »Um das Gesicht (Lian) des Gegenübers nicht zu bedrohen, soll anstelle offener Kritik Nichtübereinstimmung vermieden, Aussagen vage bzw. Hinweise indirekt gehalten, Anspielungen gemacht und im Konfliktfall der Meinung des Anderen zugestimmt werden«, schreibt Günthner (1993, S. 74) dazu. Das Zurückstellen der eigenen Position, um die Harmonie zu wahren und das soziale Gefüge nicht zu gefährden, ist in dieser Perspektive Ausdruck einer Win-win-Strategie. Denn im Falle eines offen auftretenden Konfliktes würden alle beteiligten Parteien ihr Gesicht verlieren. Diesem unterschiedlichen Konfliktlösungsverhalten liegen komplett entgegengesetzte Persönlichkeitsmodelle zugrunde. In einem individualistischen

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Selbstkonzept ist es Ausdruck des Entwicklungsprozesses einer Persönlichkeit, eigene Haltungen, Werte und Meinungen zu bilden und sich schrittweise vom Anpassungs- und Konformitätsdruck der Gruppe zu lösen. In dieser Perspektive wird es negativ gesehen, seine eigene Position aufzugeben, bloß um sich dem Gruppendruck zu unterwerfen. Als Solomon Asch in den 1950er Jahren in einem vielbeachteten Experiment nachwies, wie Individuen angesichts einer fingierten Mehrheitsmeinung der Gruppe bereit waren, eine offensichtlich kürzere Linie als gleich lang wie eine andere Linie zu bezeichnen, betrachtete er dies als ein erschreckendes Ergebnis: »Dass wir einen so starken Hang zur Konformität in unserer Gesellschaft vorfinden konnten, sodass normal intelligente und rechtschaffene junge Leute bereit sind, ›schwarz‹ als ›weiß‹ zu bezeichnen, ist besorgniserregend. Es wirft Fragen auf über die Grundlagen unseres Erziehungssystems und über die Werte, welche unser Auftreten anleiten« (zit. nach Bond u. Smith, 1996, S. 111; eigene Übers.). In einem vernetzten, interdependenten Selbstkonzept verhält es sich aber genau umgekehrt. Es ist Ziel des persönlichen Reifungs- und Sozialisierungsprozesses, die eigenen Haltungen, Bedürfnisse und Emotionen so weit kontrollieren zu lernen, dass Harmonie und eine Verbindung mit dem übergeordneten Ganzen möglich werden. Konformität ist in dieser Perspektive also kein Zeichen von Schwäche oder von erst unzureichend ausgebildeter Persönlichkeit, sondern sie drückt das Gegenteil aus: Stärke, Taktgefühl, soziale Intelligenz, Reife und eine gute Erziehung. Entsprechend passen chinesische Studierende ihre Meinung der Mehrheitsmeinung häufiger an als ihre amerikanischen Pendants (Bond u. Kwang-Kuo, 2008). Ostasiatische Teilnehmer an einer Studie wählen signifikant häufiger (85 %) einen Stift aus, der der Mehrheitsfarbe entspricht, als US-amerikanische Teilnehmer (29 %; Kim u. Markus, 1999), die einen Stift mit einer besonderen Farbe bevorzugen. Und koreanische Zeitschriften betonen deutlich häufiger Konformität (gemeinsame Werte, Harmonie, Traditionen, Trends) in ihren Werbeanzeigen als US-amerikanische Zeitschriften, die mit ihren Produkten wesentlich häufiger an die Einzigartigkeit ihrer Leserinnen und Leser appellieren (Kim u. Markus, 1999; s. Abbildung 14).

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Teil 3: Kulturelle Unterschiede im Bewerbungsgespräch USA

USA

Korea

Prozentsatz der Anzeigen, welche Konformitäts-Themen betonen

80

60

40

20

0

Korea

100 Prozentsatz der Anzeigen, welche Einzigartigkeits-Themen betonen

100

80

60

40

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Wirtschaft

Kultur

Frauen

Jugendliche

0

Wirtschaft

Kultur

Frauen

Jugendliche

Abbildung 14: Appelle an Konformität vs. Einzigartigkeit bei Werbeanzeigen in den USA und Korea. Quelle: Kim u. Markus, 1999, S. 794, eigene Übersetzung

Für den Kontext des interkulturellen Vorstellungsgesprächs heißt dies, dass wir zunächst unsere Bewertungen relativieren müssen, wenn wir Kandidaten als durchsetzungsschwach, anpasserisch, schwammig oder als nicht authentisch erleben. Unter Umständen ist genau dieses Verhalten aus ihrer eigenen Perspektive ein Zeichen von Reife und Integrationsfähigkeit. Aus unserer westlichen Perspektive ist es nachvollziehbar, wenn wir dem syrischen Kandidaten im obigen Beispiel innerlich Punkte abziehen, uns vielleicht sogar darüber ärgern, dass er auf die Frage nach seinen interkulturellen Erfahrungen in Dubai so trivial und ausweichend antwortet. Alles, was er dazu sagt, ist, dass er da gar keine Unterschiede mache. Das ist aus unserer Sicht keine Antwort auf unsere Frage, die ja implizit deutlich über ihren Wortlaut hinausging. Und wir bewerten ihn entsprechend als nicht reflektiert und undifferenziert. In der Sequenz mit dem indischen Bewerber, in der es um das Ausbügeln falscher Versprechungen des Vorgesetzten geht, erkennen wir dagegen die Vorteile einer szenariobasierten, situativen Fragetechnik im interkulturellen Kontext. Der Kandidat kann sich eine konkrete Situation vorstellen, die mit unserer eigenen konkret vorgestellten Situation weitgehend identisch ist. Wie Sarges (2013c) in der in Kapitel 1.1 formulierten Kritik an standardisierten Fragekatalogen fordert, ist das Szenario stimulusmehrdeutig, d. h., es gibt keine offensichtlich richtige oder falsche Antwort und es verlangt ein hohes EgoInvolvement, der Kandidat muss sich selbst in die Person des Szenarios hineinversetzen. Wir bekommen so ein authentisches Bild, wie er ähnliche Konflikte und Herausforderungen vermutlich dann auch später im Job angehen wird. Um ein ähnliches Ergebnis auch in einem biografischen Zugang in der ersten Sequenz mit dem syrischen Kandidaten zu erzielen, hätte die Interviewerin ihn enger führen und ihre Motive transparenter machen müssen. In einer aus-

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gelösten Aktivierung seines biografischen Gedächtnisses hätte die Frage dann z. B. so aussehen können: »In Dubai leben und arbeiten, dass wissen wir, ja Menschen aus ganz unterschiedlichen Ländern und Kulturen zusammen. Sicher hatten auch Sie Kunden und Geschäftspartner aus den verschiedensten Teilen der Welt. Nun hat diese Vielfalt ja nicht nur Vorteile, sondern manchmal führen kulturelle Unterschiede auch zu Missverständnissen und zu ganz unterschiedlichen Erwartungen, sodass man sein Verhalten manchmal anpassen oder erklären muss. Wie haben Sie das erlebt, haben Sie z. B. bei Geschäftspartnern Ihren Kommunikationsstil verändert, je nachdem ob Ihr Gegenüber z. B. aus Indien, aus Dubai oder aus England kam?« Sollte dann die Antwort immer noch unbefriedigend sein, kann man das EgoInvolvement noch steigern: »Wie ist das denn z. B. bei Ihnen selbst, Sie haben ja international bereits viel erlebt, wie würden Sie ihre eigene kulturelle Prägung beschreiben? Ticken Sie kulturell anders als z. B. die Deutschen oder die USAmerikaner, die Sie kennen?« Oder man kann das Ziel der eigenen Frage noch besser erklären: »Für uns ist das ein Vorteil, dass sie schon viel internationale Erfahrung sammeln konnten, denn wir suchen Personen im Vertrieb, die interkulturell sehr kompetent und flexibel sind. Darum würde es mir helfen, wenn Sie mir ein paar Beispiele nennen könnten, wo Sie ihr Verhalten anpassen, je nachdem ob Ihnen z. B. ein Deutscher, ein Inder oder ein Syrer gegenübersitzt. Gibt es da Dinge, wo Sie sich anpassen je nach dem kulturellen Kontext Ihres Gegenübers?« Erst wenn nach all diesen Fragen immer noch keine Beispiele kommen, dann wird man wohl davon ausgehen müssen, dass der Kandidat tatsächlich das Thema Kultur zumindest kognitiv noch nicht durchdrungen und sich erst wenig damit beschäftigt hat. Die Bedeutung von Schweigen und Pausen

Neben den Inhalten, was also geantwortet wird, drückt sich die integrative Zielsetzung interdependent geprägter Kandidaten auch in der Art aus, wie viel oder besser wie wenig überhaupt gesprochen wird. Betrachten wir zunächst noch einmal den Beginn der ersten Interviewsequenz in der Einleitung dieses Buches (S. 11 f.), um uns mit diesem Aspekt näher zu befassen. Der chinesische Bewerber wird dort gefragt, wie er sich selbst motiviere, und er beginnt seine Antwort in einem ruhigen, nachdenklichen Ton: »Hm, ja, das ist eine gute Frage. (Pause) Ich denke, ah (Pause). Ich, äh, ich glaube, ich habe, äh, also, ich habe einen große Meilenstein, natürlich, aber in

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der Zwischenzeit habe ich auch kürzere Meilensteine und Ziele, um wirklich das ins Laufen zu bringen, ah, was ich erreichen möchte. (Pause) Und natürlich habe ich auch gute Zeiten und schlechte Zeiten, und wann immer diese Zeiten kommen, ich, ah, habe ich, also mich schon ein bisschen trainiert, um, ah, um mich mit einer positiveren Haltung darauf einzustellen, um mit meiner Arbeit weitermachen zu können …« Man wird in dieser Sequenz als westlicher Zuhörer schnell etwas ungeduldig. Man möchte dem Kandidaten helfen, seine Sätze zu beenden und schneller auf den Punkt zu kommen, so umständlich erscheint er. Auf Satzkonstruktionen und Argumentationsaufbau, welche diesen Eindruck bestärken, wird in Kapitel 3.3 noch ausführlicher eingegangen werden. Aber allein die Pausen, die kurzen Momente des Schweigens, die häufigen Fülllaute wie »ah« oder »ähm« und das erkennbare Ringen um eine Antwort nötigen dem individualistisch geprägten Zuhörenden einiges an gutem Willen ab. Inwieweit ist nun ein langsamer, leiser und von Pausen getragener Redestil nicht zwingend ein Indikator für ein interdependentes Selbstkonzept? Gesteland (2012) subsumiert auch unter die Rubrik der sogenannten »expressiven Kul­tu­ ren« so interdependent und kollektivistisch geprägte Länder wie Ägypten oder Saudi-Arabien. Lewis (2000) zählt in seinem bereits dargestellten Modell der Kulturtypologien auch das südliche Afrika und Russland zu den eher »multiaktiven« Kulturkreisen, und selbst so kollektiv ausgerichtete Kulturkreise wie die Türkei und Indien sind nach Lewis noch eher auf der expressiven als auf der reaktiven Seite. Deborah Tannen (1985) weist schließlich auch für westeuropäische Länder wie Finnland (schweigsam) oder Italien (redselig) komplett unterschiedliche Sprech- und Pausenrhythmen nach, ja selbst zwischen NewYorker- und Nicht-New-Yorker-Amerikanern beschreibt sie schwerwiegende interkulturelle Reibungen durch ein unterschiedliches Redeverhalten. Eine Präferenz für ruhiges, abwartendes Kommunikationsverhalten können wir aber in allen durch Buddhismus, Taoismus und Konfuzianismus geprägten Länder Asiens erkennen, wo Schweigen, Pausen und Zögern – als Zeichen der Wahrung von Harmonie und Takt – positiver bewertet werden als in anderen kollektiveren Kulturkreisen wie Afrika, dem Nahen Osten oder Osteuropa. Eine Auseinandersetzung mit der Bewertung unterschiedlicher Sprechrhythmen hilft uns also vor allem, uns auf Vorstellungsgespräche mit Bewerbern und Bewerberinnen aus Ostasien vorzubereiten und diese besser zu verstehen. Aber auch für das Verständnis anderer eher nonverbaler Kulturen, wie z. B. Finnland, hilft uns der folgende Abschnitt. Gleiches gilt für den Umgang mit eher introvertierten, als Persönlichkeit ruhigeren Bewerbertypen allgemein. Und nicht

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zuletzt gehören auch wir Deutsche international zu den eher redearmen, wenig expressiven und streng konsekutiv kommunizierenden Kulturen. Indem wir verstehen lernen, warum sich ostasiatische Kandidaten schweigsamer verhalten als wir und wie wir darauf emotional reagieren, lernen wir also auch etwas über die Auswirkungen unser eigenen Redepräferenzen auf expressivere Kulturen wie beispielsweise US-Amerikaner, Brasilianer oder Franzosen. Wie wird ein unterschiedlich expressives Kommunikationsverhalten von der jeweils anderen Seite bewertet? Tannen (1985) hat für Menschen, die gemessen am US-amerikanischen Mittel eher expressiv kommunizieren, gezeigt, dass diese sich als tendenziell warmherzig, pflegeleicht (easygoing), aufmerksam, fröhlich, abenteuerlustig und offen beschreiben. Im Gegensatz dazu wird eine Gruppe der für ihre Schweigsamkeit bekannten Athabaskan-Indianer von einer US-amerikanischen Vergleichsgruppe als passiv, entrückt, antisozial, faul, unkooperativ, rückständig, feindselig und dumm bezeichnet. Nun ist die Wahrscheinlichkeit, jemals ein Vorstellungsgespräch mit einem AthabaskanIndianer zu führen, zugegebenermaßen nicht sehr hoch, aber die Botschaft ist klar: In den westlichen Ländern dominieren Einschätzungen, dass eine verbale, offene, klare, direkte und explizite Kommunikation etwas Gutes ist. Stille, Schweigen, Pausen, Langsamkeit und kommunikative Zurückhaltung werden dagegen als fehlender Gemeinschaftssinn, als Desinteresse, Unverständnis oder Unwillen, Schüchternheit, Ablehnung oder zumindest als mangelnde sprachliche Kompetenz abgewertet (Kim, 2002). Für den ostasiatisch geprägten Kulturraum ist dies andersherum, und dafür gibt es eine einleuchtende Erklärung. Während in einem individualistischen, abgegrenzt verstandenen Selbstkonzept die Selbstoffenbarung des Redners im Zentrum der Betrachtung steht, ist die asiatische, interdependent strukturierte Kommunikation beziehungs- und empfängerorientiert (Yum, 1988). Während also in der westlichen Welt vom Sprechenden erwartet wird, sich so klar und verständlich auszudrücken, dass die Botschaft ankommt, trägt in Asien das Umfeld die Verantwortung dafür, dass die Kommunikation gelingt. So schreibt Yum (S. 385; eigene Übers.): »Als eine der häufigsten Irritationen berichten ostasiatische Studierende in den USA, dass sie dauernd gefragt werden, was sie möchten. In ihren Herkunftsländern wird erwartet, dass der Gastgeber oder die Gastgeberin weiß, was sie brauchen, und sie entsprechend bedient.« Nicht der Sender muss klar sagen, was er denkt und möchte, sondern der Empfänger muss dies erkennen, auch ohne dass es gesagt werden muss. Wenn dem Zuhörer aber die Verpflichtung zukommt, das Gemeinte richtig zu entschlüsseln, dann steht zwangsläufig nicht das Reden im Vordergrund,

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Teil 3: Kulturelle Unterschiede im Bewerbungsgespräch

sondern das Zuhören und Einfühlen. Kommunikative Aktivität bedeutet in einem asiatischen Kontext also nicht in erster Linie, sich selbst auszudrücken, sondern sich achtsam, zuhörend, einfühlsam, gegenwärtig und anteilnehmend auf das Gegenüber einzulassen. Tsujimura (1987) hat hierfür das japanische Konzept des »ishin-denshin« beschrieben, was so viel heißt wie nonverbales Verständnis, unausgesprochene Übereinstimmung oder auch Kommunikation von Herz zu Herz. Nicht auf eine klare, explizite und unmissverständliche eigene Rede kommt es an, sondern darauf, das Gemeinte auch ohne große Worte zu erkennen. Entsprechend wählten in einer Befragung in Japan die Teilnehmer unter 34 Adjektiven für ihr Kommunikationsverhalten mit großem Abstand die Attribute reserviert (96 %), förmlich (65 %), still (54 %), vorsichtig (47 %) und ausweichend (45 %) als die Top 5. »In Japan ist die verbale Kommunikation nur die Begleitung der nonverbalen Signale anstatt andersherum wie in anderen Kulturen« (Fuki, 2002, S. 102; eigene Übers.). Wir erleben an diesem Punkt also eine fast diametral entgegengesetzte Kommunikationsphilosophie, die in der internationalen Personalauswahl zu großen Missverständnissen führen kann. Spricht die westliche Interviewerin klar, deutlich, laut, selbstsicher, redet viel, macht keine Pausen und unterbricht, wirkt dies aus asiatischer Perspektive in der Tendenz unsensibel, selbstgefällig, ausschwei­ fend, unprofessionell oder gar desinteressiert und ignorant. Kommuniziert der asiatische Kandidat zögerlich, leise, mit vielen Pausen und Füllwörtern, wirkt dies in westlicher Betrachtung bestenfalls schüchtern und zurückhaltend, gegebenenfalls aber auch unsicher, ausweichend oder gar inkompetent und ahnungslos. Natürlich wissen dabei viele international erfahrene asiatische Bewerberinnen, dass Menschen in westlichen Unternehmen anders kommunizieren und dass darum auch von ihnen ein expressiveres Kommunikationsverhalten erwartet wird. Das heißt aber nicht, dass sie dieses andere Kommunikationsverhalten auch beherrschen oder dass sie sich darin wohlfühlen. Und es sagt erst recht nichts über ihre Kompetenzen und Potenziale für eine bestimmte Position aus. Selbstdarstellung im Vorstellungsgespräch: eine abschließende Betrachtung Betrachten wir als Abrundung des Kapitels das »Asiazentrische Kommunikationsmodell« des in Hawaii lehrenden Japaners Yoshitaka Miike (2012, nachfolgend in eigenen Worten zusammengefasst): 1. Kommunikation ist die Manifestation eines ganzheitlichen, vernetzten, zirkulären und interdependenten Weltbildes. »Nichts und niemand im Uni-

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versum existiert isoliert«, und Kommunikation ist der Prozess der ewig neuen Standortbestimmung darin. Kommunikation ist der Ort, an dem sich Selbstentwicklung und persönliche Reifung vollziehen. In der Begegnung mit den anderen durch Kommunikation trainiert das eigene Selbst die Überwindung von Selbstverliebtheit und Egozentrik, um sich mit dem übergeordneten Ganzen verbinden zu können. In der Kommunikation verwirklicht sich das emotionale Begreifen der eigenen Umwelt. Nicht in erster Linie Verstand und Logik, sondern Mitgefühl und das nonverbale Spüren der Bedürfnisse der anderen bestimmen das Zusammenleben und bilden das Wesen der Kommunikation. Durch Kommunikation vollzieht sich der kontinuierliche und reziproke Austausch des Lebens von Geben und Nehmen. Nicht die unmittelbare Gegenseitigkeit ist hierfür maßgeblich, sondern das Bewusstsein und die Dankbarkeit für das zu anderer Zeit von anderen Menschen Erhaltene. Kommunikation ist in diesem Sinne nicht die Ausübung individueller Rechte, sondern die Erfüllung einer kollektiven Verpflichtung. Kommunikation ist die Grundlage, auf der aus Unterschiedlichkeit Harmonie erwächst, aus Vielfalt eine Einheit, ohne zur Gleichheit werden zu müssen. Harmonie ist in diesem Sinne nicht ein Mittel der Kommunikation, sondern ihr moralisches Ziel.

Erinnern wir uns noch einmal an die Interviewsequenz mit dem chinesischen Kandidaten zu Beginn des Buches, dann erkennen wir viele dieser asiazentrischen Kommunikationsmuster wieder: das Ziel des Kandidaten, sich als Individuum in ein größeres Ganzes einzuordnen, die Suche nach persönlicher Reife und Selbstverbesserung, das zögerliche Erspüren des »richtigen« Verhaltens für den Kontext der Situation: »Ich kann Ihnen kein wirklich konkretes Beispiel geben, sondern, nur ein Gefühl, also, ja, ja, ja …, aber Sie verstehen, was ich sage?« Entsprechend der hierin sichtbar werdenden gegensätzlichen Selbstkonzepte folgt auch das Verhalten im Vorstellungsgespräch, wie in diesem Kapitel herausgearbeitet wurde, sehr unterschiedlichen Leitlinien: Selbstpräsentation: In einem individualistischen Weltbild, wie es in den westlichen Ländern üblich ist, ist es geboten, die eigenen Stärken klar zu benennen und die Besonderheiten der eigenen Persönlichkeit herauszustellen. In einem interdependenten Kontext lautet das Paradigma, sich als gut integrierbar, lernwillig und bescheiden zu präsentieren. Entsprechend werden Selbstkritik, Zurückhaltung und Bescheidenheit hier als schüchtern, unsicher und durchsetzungsschwach, dort als wohlerzogen und rücksichtsvoll bewertet. Selbstlob erfolgt in einem kollektiv geprägten Kontext dann am besten indirekt durch

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Beschreibung des Kontextes oder durch Komplimente, die der Gesprächspartner erwidert. Konsistenz: In einem unabhängig und abgegrenzt verstandenen Persönlichkeitsbild existieren Eigenschaften und Verhaltenspräferenzen absolut und variieren kaum. Entsprechend zielt das Vorstellungsgespräch darauf ab, ein konsistentes Persönlichkeitsbild der Kandidatin zu erkennen, aus dem sich ihre Passung auf die Position und in die Unternehmenskultur ergibt. In einem interdependenten Selbstbild ist die eigene Persönlichkeit eine deutlich weniger relevante Größe, denn das Verhalten richtet sich viel stärker nach dem Kontext als nach den eigenen Eigenschaften. Entsprechend zielt auch das Verhalten im Bewerbungsgespräch vor allem darauf ab, die eigene Anpassungsfähigkeit und vor allem Anpassungswilligkeit zu demonstrieren. Eine klare und eindeutige Darstellung der eigenen Persönlichkeit mit ihren Ecken und Kanten wird also hier positiv, dort negativ bewertet. Die beharrliche Suche nach dem Persönlichkeitskern aufseiten des westlichen Auswählenden wird vom kontextbezogen denkenden Kandidaten oft gar nicht verstanden. Eine inkonsistente, sich nicht festlegende und am Interviewenden orientierende Betonung der eigenen Integrationsfähigkeit wird entsprechend hier als negativ, dort als positiv interpretiert. Reden und Schweigen: Sich als unabhängig und abgegrenzt verstehende Individuen begreifen es als ihre Verpflichtung, ihre Persönlichkeit zu zeigen und sich dem anderen verständlich zu machen. Eine klare, explizite und unmissverständliche Sprache und ein steter und alternierender Redefluss werden entsprechend positiv gesehen. In einer interdependent begriffenen Welt ist es dagegen in der Verantwortung der Zuhörenden, die Bedeutung des Gesagten sowie die Wünsche und Bedürfnisse der anderen zu erfassen. Direkte Sprache birgt in einer vernetzten Perspektive die Gefahr, Unstimmigkeiten oder unerfüllbare Wünsche an die sichtbare Oberfläche zu holen und damit die Harmonie der Beziehung zu stören. Zudem lenkt eigenes Reden davon ab, dem anderen achtsam zuzuhören. Nicht zuletzt legt Gesprächigkeit nahe, dass man sich selbst zu wichtig nimmt. Stetes, explizites und lückenloses verbales Kommunizieren wirkt somit schnell eigensinnig, unhöflich und unsensibel. Konformität: In einer Welt von unabhängigen Individuen ist es das Ziel von Erziehung und Sozialisation, die eigene Einzigartigkeit zu entdecken, zu entfalten und auszudrücken. In einer Welt von Beziehungsnetzen und Gruppenzugehörigkeiten ist es dagegen das Ziel von Erziehung und Sozialisation, die Selbstbezogenheit des unreifen Kindes zu überwinden und die Integration in ein größeres Ganzes zu erlernen. Entsprechend wird es im westlich geprägten  Vorstellungsgespräch – in gewissen Grenzen – positiv bewertet, die eigenen

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Meinungen und Haltungen klar zu benennen, während es in einem interdependenten Umfeld ein Zeichen von Bildung und Rücksichtnahme darstellt, diese auch einordnen und zurücknehmen zu können. Vermeidung: In einem individualistischen Selbstkonzept ist das Ideal der Konfliktlösung eine Win-win-Konstellation, in der jeder seine eigenen Interessen offen vertritt und die Interessen der anderen als gleichberechtigt akzeptiert. Dies setzt die klare und transparente Benennung der eigenen Position voraus in der Erwartung, dass das Gegenüber dies ebenso tut. In einem interdependent geprägten Kulturraum ist die offene Benennung eines Dissenses bereits eine ernst zu nehmende Bedrohung der Harmonie und der Beziehungsbalance; ein Gesichtsverlust für beide Seiten wäre die Folge. Die explizite Bearbeitung und Lösung eines Konfliktes wird entsprechend hier als konstruktiv und engagiert, dort eher als selbstbezogen und heikel bewertet. Nachgeben, Ausweichen oder zweideutiges Lavieren zwischen den Positionen sind in der individualistischen Perspektive wenig zielführende Methoden der Konfliktlösung, während sie aus der interdependenten Logik heraus Reife und soziale Intelligenz dokumentieren. Tabelle 6 fasst diese aus dem jeweiligen Selbstkonzept folgenden Verhaltenspräferenzen und ihre jeweils unterschiedliche gegenseitige Bewertung zusammen. Tabelle 6: Unabhängiges, individualistisches vs. vernetztes, interdependentes Selbstkonzept und seine Auswirkungen auf das Vorstellungsgespräch

Natürlich sind dies idealtypische Repräsentationen zweier Selbstkonzepte, die in der Reinform nirgendwo existieren. Alle Menschen besitzen kulturüber-

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greifend individuelle Persönlichkeiten, welche sie in ihren jeweiligen sozialen Kontexten unterschiedlich ausdrücken. Alle Menschen verfügen darum gleichzeitig sowohl über independente als auch über interdependente Anlagen oder Anteile, welche sich kulturell nur in ihrer Ausprägung unterscheiden sowie in den Kontexten, in denen sie sichtbar werden (Luo, 2008). So können wir unter anderem am Beispiel China beobachten, wie gesellschaftliche und ökonomische Transformationsprozesse (in dem Fall: Jahrzehnte der »Ein-Kind-Politik« auf der Basis eines starken, kapitalistisch organisierten wirtschaftlichen Wachstums) den Wunsch jüngerer Generationen nach individueller Karriereentwicklung, Sichtbarkeit und Selbstentfaltung wachsen lassen können, ohne dass gleichzeitig kollektive Prägungen erkennbar an Bedeutung verlieren (Podoshen, Li u. Zhang, 2011; Yi, Ribbens u. Morgan, 2010). Andere Untersuchungen belegen, wie sich auch durch situative Kontexte und entsprechende Bahnungseffekte (sogenanntes »cultural priming«) eher individualistische oder eher interdependente Selbstkonzepte aktivieren lassen, dies vor allem bei bi-kulturell geprägten und international erfahrenen Menschen wie in Hongkong oder Singapur (Markus u. Kitayama, 2010). Für die Praxis der internationalen Personalauswahl ist es dabei vergleichsweise irrelevant, inwieweit sich ein Kulturraum wie China oder Ostasien bereits insgesamt von interdependenten Verhaltensmustern gelöst hat. Entscheidend ist die konkrete kulturelle Prägung des Individuums, das uns im Vorstellungsgespräch gegenübersitzt. Hier haben wir gesehen, wie unterschiedliche Selbstkonzepte das Verhalten von Kandidaten beeinflussen können. Wir sollten uns darum nicht auf der Basis unserer eigenen kulturellen Perspektive zu vorschnellen Bewertungen verleiten lassen, eine Kandidatin sei z. B. schüchtern, umständlich, undurchsichtig oder wankelmütig. Inwieweit bei der Bewerberin letztlich eher kulturelle oder eher individuelle Verhaltensdispositionen eine stärkere Rolle gespielt haben, können und müssen wir erst im Gespräch selbst herausfinden. Kulturvergleichende Regionalstudien helfen uns in diesem Sinne nur, um uns darauf vorzubereiten, inwieweit ein interdependentes Selbstkonzept bei Bewerbern aus einem bestimmten Kulturraum wahrscheinlicher ist als bei anderen. Nimmt man die Daten der in Kapitel 3.1 erwähnten GLOBE-Studie für die Kulturdimension »Gruppen-Kollektivismus« als Grundlage (was zwar nicht das Gleiche ist wie ein interdependentes Selbstkonzept, aber dem am nächsten kommt, vgl. Brewer u. Chen, 2007), dann ergeben sich hierfür die in Abbildung 15 dargestellten Unterschiede zwischen den Kulturregionen.

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Abbildung 15: Gruppen-Kollektivismus auf der Basis der GLOBE-Studie nach Kulturregionen, am Durchschnitt normiert. Quelle: eigene Darstellung nach House et al., 2004, S. 469

Die Darstellung zeigt, dass es sich bei den in diesem Kapitel beschriebenen Verhaltenstypen im Vorstellungsgespräch nicht nur um ein Phänomen zwischen Ost- und Südasien auf der einen und Europa/USA auf der anderen Seite handelt. Auch bei Bewerberinnen aus Afrika, Nahost, Lateinamerika oder Osteuropa erleben wir interdependent geprägte Verhaltensweisen, die wir in einem westlich-individualistischen Weltbild fehlinterpretieren können. In der internationalen Personalauswahl helfen uns diese Erkenntnisse auf mehreren Ebenen: • Wir werden insgesamt vorsichtiger, eine Antwort vorschnell negativ zu bewerten. Unser Wissen um die Unterschiedlichkeit der Selbstkonzepte hilft uns, ein Verhalten eher zu akzeptieren, selbst wenn wir es nicht verstehen. Wir können es dann zwar immer noch nicht positiv bewerten, aber wir reagieren weniger irritiert und bleiben offener im weiteren Gespräch. • Es fällt uns leichter, eine eigene Logik dahinter zu erkennen, wenn sich Kandidaten schüchtern, nachdenklich, ruhig, ausweichend oder vage verhalten. Vielleicht finden wir ein forsches, direktes und dynamisches Auftreten immer noch besser. Aber wir können auch andere Kommunikationsstile als in sich schlüssig begreifen und schließen nicht automatisch daraus, dass es der Persönlichkeit dahinter an Selbstvertrauen oder Beharrlichkeit fehlt. Dadurch gelingt es uns nicht zuletzt, besser auf die Inhalte einer Antwort zu achten, selbst wenn die Form nicht in die von uns präferierten Muster passt. • Wir können unseren Gesprächsstil besser anpassen an diesen anderen Ansatz

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der Selbstpräsentation, indem wir mehr in die Beziehung investieren und konkretere, situationsspezifischere Fragen stellen. • Nicht zuletzt können wir auch eine größere Wertschätzung für Verhaltensweisen entwickeln, welche sich mehr an der Gruppenharmonie orientieren als an der Selbstentfaltung. Auch wenn wir uns in der westlichen Welt mit unserer Form des Individualismus in der Regel wohlfühlen, so wissen wir doch, dass manches Projekt, mancher Konflikt und manches Team besser funktionieren würde mit etwas mehr Gemeinschaftssinn. Dass es uns manchmal weiterbrächte, wenn wir weniger reden und dafür besser zuhören würden. Und so kann die internationale Personalauswahl uns helfen, andere Sichtweisen und Verhaltenspräferenzen positiver zu sehen, von denen wir profitieren können, auch wenn sie sich anders darstellen, als wir es gewöhnt sind.

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3.3 »Sie kam nicht auf den Punkt!« – kulturell geprägte Denkstile und Argumentationsmuster »Das Ziel chinesischer Bildung ist Vernunft, nicht Rationalität. Eine gebildete Person sollte sich auszeichnen durch gesunden Menschenverstand, Mäßigung und Zurückhaltung sowie die Ablehnung von abstrakten Theorien und logischen Extremen.« Lin Yutang

Beginnen wir auch dieses Kapitel zunächst wieder mit einer Interviewsequenz: Sie (aus Deutschland):  Stellen wir uns folgende Situation vor: Sie haben einen Mitarbeiter, sehr ehrgeizig, engagiert und wertvoll für Ihr Unternehmen, aber Sie bekommen mit, dass er Sie hinter Ihrem Rücken kritisiert und dass er eigentlich gerne Ihren Job hätte und sich darum zu profilieren versucht. Wie würden Sie mit so einer Situation umgehen? Er (aus China): Mmh (kleine Pause). Ich denke, da (kleine Pause) gibt es überall solche Menschen, man kann sie nicht vermeiden. Darum (kleine Pause). Normalerweise mache ich, also wenn diese Art von Person nicht direkt zu mir kommt und ein Thema anspricht (Original: »to raise an issue«), dann bleibe ich unverändert, ich mache nichts Bestimmtes, um, um zu versuchen, gegen ihn zu kämpfen. Das ist, das ist … Sie (unterbricht):  Und die Tatsache, dass er Sie vielleicht hinter Ihrem Rücken vor anderen kritisiert? Er:  Ich denke, es ist nicht, ähm, also, was die Leute an dir kritisieren, dass dir, dass du einen wirklich negativen Eindruck hast, dann zu den anderen, also nicht nur zwischen dir und, also mir und ihm, oder ihr. Es geht, es geht um dein Image, ich meine, du bist ja irgendwie (kleine Pause) verantwortlich für dein eigenes Image. Also, das Image, das du selbst bekommst, ist nicht, dass die Leute sagen, du bist schlecht, dass du schlecht bist, du hast dein eigenes Urteil (kleine Pause). Ich meine, dass du dir dein eigenes Urteil über meine Leistung machst (Pause). Nicht durch andere. Wenn du, wenn mein Boss über mir, er ist klug (kleine Pause) und er ist wirklich, ah, irgendwie, ah, eine zuverlässige Person, er sollte wissen, dass ich meinen Job gut mache, ich muss dafür eigentlich nichts Bestimmtes machen.

Welchen Eindruck haben Sie als Leserin und Leser von dieser Antwort? Was haben Sie verstanden und wie bewerten Sie das? Wir sehen hier wieder eine szenariobasierte, situative Frage zum Konfliktlösungsverhalten des Kandidaten. Die Situation ist schwach strukturiert, d. h.,

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es gibt keine offensichtlich »richtige« Lösung: Ein sonst engagierter und wertvoller Mitarbeiter verhält sich nicht korrekt, redet abfällig, offenbar um sich zu profilieren. Aus ihrer westlich geprägten Erwartungshaltung heraus möchte die Interviewerin hier seine Konfliktlösungskompetenzen erkennen, also z. B. Selbstreflexion, Geduld, Empathie, die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel, aber auch Mut, um den Konflikt anzugehen und, falls nötig, schwierige Gespräche zu führen. Die Situation kann aus einer westlichen Perspektive heraus nicht so bleiben, wie sie ist, und bedarf einer aktiven Klärung durch die Führungskraft. Der Kandidat reagiert jedoch vermeidend, er würde – solange der Mitarbeiter den Konflikt nicht zuspitzt – nichts tun. Als die Interviewerin die Brisanz der Situation daraufhin nochmals hervorhebt, versucht er seine Sichtweise zu erklären. Doch was er dann sagt, versteht sie kaum noch; er erwähnt das Image, für das ja jeder selbst verantwortlich sei, und dass sein eigener Boss schon wissen werde, was er an ihm hat. Aus Sicht der Interviewerin hat der Kandidat damit – außer Geduld – keine Konfliktlösungskompetenzen demonstriert. Er scheint schwach und für eine Führungsrolle ungeeignet. Immerhin ermöglicht uns die szenariobasierte Fragetechnik, seinen Umgang mit Konflikten zu erkennen, wie er in einem interdependenten Kontext nicht ungewöhnlich ist: Indem die Auseinandersetzung nicht offen ausgetragen wird, wird die Harmonie gewahrt und ein Gesichtsverlust für beide Parteien vermieden. Aber es hat auch mit seinem Denkstil und Argumentationsaufbau zu tun, dass seine Antwort für die Interviewerin so wenig Sinn ergibt. Dabei ist es wiederum der Gegensatz zwischen ostasiatischen und westlichen Traditionen, an dem sich die verschiedenen Denkmuster des Bewerbers und der Interviewerin am besten beschreiben und herleiten lassen. Auch hier gibt es aber ein Kontinuum, auf dem sich auch Südasien, Osteuropa, Afrika, der Nahe Osten oder Lateinamerika kulturell abbilden lassen. Nicht zuletzt haben wir auch bei den Interviewsequenzen mit den Kandidaten aus Russland, Indien, Syrien oder Indonesien gesehen, dass deren Vorstellung von Logik und Struktur nicht der Musterantwort der kulturell deutsch geprägten Interviewenden entsprach. Griechisches Denken vs. Taoismus – analytische vs. ganzheitliche Logik Der bereits zitierte US-amerikanische Psychologe Richard Nisbett hat in seinem Buch »The Geography of Thought  – How Asians and Westerners think differently … and Why« (2003) seine und andere Forschungsarbeiten zu den kulturell bedingt unterschiedlichen Denkstilen im Westen und in Asien

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zusammengefasst. Hierbei stellt er als idealtypische Modelle die Traditionen des Denkens, der Logik und der Debatte im antiken Griechenland denen des buddhistisch, konfuzianisch und vor allem taoistisch geprägten Asiens gegenüber. Diese Modelle, die unser Denken seit über 2.000 Jahren sowohl in Asien als auch im Westen nachdrücklich prägen, lassen sich an zwei Grundsätzen festmachen, die mit den in Kapitel 3.2 dargestellten Selbstkonzepten in engem Zusammenhang stehen. Die Welt als Summe ihrer Teile oder als unteilbares Ganzes

Die Welt des antiken Griechenlands, geprägt von einer Ökonomie der Hirten, Jäger, Fischer und Händler, organisiert in weitgehend selbst regierten Stadtstaaten, war eine Welt des Austauschs zwischen Individuen. Und so wie sie sich selbst als selbstständige und willensvolle Einheiten in ihrer sozialen Umgebung sahen, so betrachteten die griechischen Denker auch bei einem Gegenstand dessen Eigenschaften (Größe, Gewicht, Form, Farbe usw.) als die entscheidende Grundlage, um sein Verhalten zu verstehen. Das Prinzip der Kausalität wurde begriffen als eine weitgehend zwingende Konsequenz aus den Eigenschaften der beteiligten Objekte und Personen. Logik hieß entsprechend, jeglichen Kontext von einem Gegenstand zu entfernen, um aus dessen unveräußerlichen Attributen heraus Kategorien und Regelsysteme zu bilden: Ein Vogel fliegt – eine Amsel ist ein Vogel – also fliegt eine Amsel. Insbesondere in der aristotelischen Logik und Argumentation bildete diese Art der Deduktion die kleinste und kraftvollste Einheit der Überzeugung. Die Welt des antiken China, ethnisch weitgehend homogen, ökonomisch dem nur kollektiv zu bewältigenden Reisanbau verhaftet und politisch durch starke Zentralgewalten kontrolliert, wurde von gegenläufigen geistesgeschichtlichen Einflüssen geprägt. Die drei großen Philosophien Ostasiens, Taoismus, Konfuzianismus und Buddhismus, teilen in ihren Lehren die Vorstellung eines ganzheitlichen, vernetzten und in allem miteinander in Verbindung stehenden Universums. Menschliches Verhalten muss sich entsprechend an der Harmonie des Ganzen und des sozialen Gefüges orientieren. Die Welt ist komplex, ständig im Wandel und nicht kontrollierbar. Der Versuch, das Verhalten eines einzelnen Menschen oder Gegenstandes dadurch zu verstehen, indem man sie gedanklich aus ihrem Kontext herauslöst, macht aus dieser Perspektive keinen Sinn. In der Logik des antiken China ist der Kontext wichtiger als das Objekt, das Feld wichtiger als der Gegenstand, die Substanz wichtiger als die Form. In der Betrachtung sozialer Interaktionen steht entsprechend die Beziehung im Vordergrund vor der Regel, die Wechselwirkung vor der linearen Kausalität und das konkrete Ereignis vor der abstrakten Kategorie.

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Die Bedeutung der griechischen Philosophen für die Denkstile der heutigen westlichen Welt lassen sich über die Renaissance, die Aufklärung, den Rationalismus und den Protestantismus gut nachverfolgen. Und Nisbett zeigt durch einige Experimente und Beobachtungen, wie sich diese Denkmuster in der Praxis unterschiedlicher Wahrnehmungen und Zuordnungen heute noch äußern: • Menschen aus Asien sind z. B. in ihrer Wahrnehmung signifikant stärker »feldbezogen« (»field dependent«) als Menschen aus dem Westen. So wurden in einer Reihe von Experimenten japanischen und US-amerikanischen Studierenden für wenige Sekunden Bilder gezeigt, auf denen Objekte (Fische, Baufahrzeuge u. a.) im Vordergrund vor einem mehr oder weniger relevanten Hintergrund zu sehen waren. Die Teilnehmer aus Japan nannten im Anschluss 60 % mehr Beispiele von Dingen, die sie im Hintergrund gesehen hatten; die US-Amerikaner begannen ihre Erzählung dreimal so häufig mit einem Satz über das Objekt (»Ich sah einen Fisch«) als über den Kontext (»Es sah wie ein Aquarium aus«). Und die Wiedererkennung des ursprünglichen Objektes war bei den japanischen Teilnehmern wesentlich davon abhängig, dass der Hintergrund unverändert blieb, während die amerikanische Gruppe das Objekt auch vor einem anderen Hintergrund fast genauso oft wiedererkannte wie vor dem ursprünglichen. • Menschen aus Asien ordnen, wenn sie verschiedene abstrakte Gegenstände aus unterschiedlichen Materialien einander zuordnen sollen, überwiegend Gegenstände aus dem gleichen Material einander zu (also z. B. alle Gegenstände aus Kork), während Menschen aus den USA überwiegend eine ähnliche Form aus unterschiedlichen Materialien gruppieren (also z. B. alle Pyramidenformen). • Menschen aus Asien ordnen Tiere und Gegenstände signifikant häufiger der Beziehung zu als der Kategorie (wie es Menschen in den USA tun), also z. B. die Kuh zum Gras (weil sie Gras frisst) anstatt zum Huhn (weil beides Tiere sind). • Menschen aus Asien beschreiben sich selbst doppelt so häufig unter Bezugnahme auf Kontext und andere Menschen (»Bei der Arbeit bin ich ernst«, »Ich gehe ins Theater mit meinem Mann«), wohingegen US-Amerikaner sich überwiegend in absoluten Begriffen (»Ich bin …«, »Ich mache gerne …«) klassifizieren. • Menschen aus Asien tendieren stärker dazu, Gegenstände aufgrund einer ähnlichen Anmutung zuzuordnen (die Blumen sehen fröhlich aus) als aufgrund abstrakter Regeln und Kategorien (die Blumen haben einen Stängel). • Menschen aus Asien erzählen Situationen, in denen sie im Mittelpunkt standen, überwiegend aus der Perspektive einer dritten Person oder ihrer

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Umgebung; nordamerikanische Versuchsteilnehmer wählen überwiegend ihre eigene Perspektive. Menschen (und Zeitungen) aus Asien wählen für die Erklärung eines bestimmten Verhaltens einer Person doppelt so häufig kontextbezogene Gründe (»Es war dunkel und die Gelegenheit war gut«), US-amerikanische suchen die Erklärung doppelt so häufig in der Persönlichkeit (»Er war bekanntermaßen impulsiv«). Menschen aus Asien wählen häufiger als Amerikaner sogenannte »sekundäre Kontrollstrategien«, wenn sie vor einer Herausforderung stehen. Anstatt eine als schwierig erlebte Situation aktiv zu verändern (»primäre Kontrolle«), versuchen sie, den Kontext intakt zu lassen und sich selbst besser einzufügen. Dies erreichen sie entweder, indem sie a) durch eine gute Vorbereitung die Auswirkungen der Situation minimieren, b) ihr Verhalten oder ihre Erwartungen an die Gegebenheiten anpassen, c) sich mit dem Schicksal als übergeordneter Instanz abfinden oder d) die Situation so uminterpretieren, dass sie eine positivere Bedeutung (z. B. eine wichtige Lernerfahrung, ein nützliches Nebenergebnis) bekommt. US-amerikanische Geschichtslehrer stellen ihren Schülern doppelt so häufig »Warum«-Fragen, um eine lineare Kausalität zu erkennen, während japanische Lehrer vor allem mit »Wie«-Fragen arbeiten, welche den Kontext beleuchten. Kinder in Asien lernen Verben deutlich schneller als in westlichen Ländern, wo Kinder zunächst Verben nur sehr langsam, Substantive aber deutlich schneller lernen. So lernen Kinder in Asien eher in Beziehungen zu denken, Kinder im Westen in Kategorien.

Aus all diesen Beobachtungen erkennen wir, wie sich der Unterschied zwischen einem interdependenten und kontextbezogenen Weltbild auf der einen Seite, einem unabhängigen und objektbezogenen Weltbild auf der anderen Seite in unterschiedlichen Wahrnehmungen, Denkmustern und Verhaltensweisen ausdrückt. In einer interdependenten Logik steht nicht die Analyse von Objekten und Kausalitäten im Vordergrund, sondern die Erkundung eines Feldes und von Zusammenhängen. Auf das Thema dieses Buches bezogen ist entsprechend der Wunsch von westlichen Auswählenden, eine asiatische Bewerberin möge bitte »auf den Punkt« kommen, vor diesem Hintergrund wenig aussichtsreich. Wo alles mit allem zusammenhängt, gibt es keine abgrenzbaren Kategorien, und wo es weder einen Anfang noch ein Ende gibt, da gibt es auch keinen Punkt. Die Welt kann per se nie klar sein, denn die Dinge sind alle verwoben und sie sind immer im Fluss. Hieraus erwächst dann eine dialektische Logik, die

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einen Schlüssel zum Verständnis vieler Gesprächssituationen mit Menschen aus anderen Kulturräumen (nicht nur) im Vorstellungsgespräch darstellt. Lineare oder dialektische Logik

Das westliche Denken ist, wie wir gesehen haben, stark von objektbezogenen, linearen und deduktiv-logisch abgeleiteten Schlussfolgerungen geprägt. Ein solcher aus westlicher Sicht logischer Dreisatz geht dann z. B. so: Die internationale Personalauswahl beschäftigt sich mit Bewerbern aus vielen verschiedenen Ländern. In vielen verschiedenen Ländern finden wir viele unterschiedliche Kulturen vor. Also beschäftigt sich die internationale Personalauswahl auch mit unterschiedlichen Kulturen. Oder auch: Für die Position benötige ich die Kompetenzen A, B und C. Die Kandidatin zeigt die Kompetenzen A, B und C. Also passt die Kandidatin auf die Position. Nehmen wir sie trotzdem nicht, dann verhalten wir uns nicht rational. Für den strukturierten Aufbau von Argumentationen und Präsentationen erwarten wir darum die Fähigkeit zum abstrakten Denken und zur Regelund Kategorienbildung. Nur auf diesem Weg kann man aus westlicher Sicht rational die für eine konkrete Fragestellung relevanten Schlussfolgerungen logisch ableiten. Und wie wir an den Interviewsequenzen in diesem Buch bislang gesehen haben, überprüfen wir eigentlich fast bei jeder Frage – selbst wenn es primär um andere Kompetenzen geht – nebenbei immer auch genau diese Fähigkeit, nämlich im westlich linearen und deduktiven Sinne strukturiert und logisch unsere Fragestellung abzuarbeiten. Westliche Rhetorik, egal ob in der Wissenschaft, in der Politik oder für ein organisationsinternes Positionspapier, folgt dabei im Wesentlichen immer den gleichen Prozessschritten: Einleitung → Hintergrund → Hypothese/Frage/Vorschlag → Methode, vom Allgemeinen zum Speziellen → Beweise und Interpretation der Beweise → Abwehr möglicher Gegenargumente → Schlussfolgerungen und Empfehlungen. So auch dieses Buch! Das Denken in Asien hat seine Wurzeln dagegen in der Vorstellung einer ganzheitlichen, vernetzten und sich gegenseitig bedingenden Welt. Alle Dinge und alle Menschen können sich nur darum auf eine bestimmte Art verhalten, weil auch ihre Umgebung sich so verhält, wie sie sich verhält. Verändert sich ein Parameter, müssen auch alle anderen sich verändern. Den stärksten Ausdruck verleiht diesen Abbildung 16: Das Ying-YangSymbol des Taoismus Wechselwirkungen des Lebens der Taoismus mit

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seinem Yin-Yang-Symbol »Der Weg« (s. Abbildung 16): Beide Seiten, das Weiße im Schwarzen wie das Schwarze im Weißen, halten einander und bedingen sich gegenseitig. Yang, das Helle und Aktive, ist auch Teil des Yin und kann nur sein, weil auch Yin ist – und umgekehrt. Nisbett zitiert zur Verdeutlichung dieses Grundgedankens aus den klassischen chinesischen Texten des I Ching: »Dem Elend, ihm lehnt das Glück entgegen; dem Glück, ihm wohnt das Elend inne. Wer weiß, ob es Glück oder Elend ist? Es gibt keine Gewissheit. Das Rechtschaffene wird plötzlich boshaft, das Gute wird plötzlich schlecht« (Nisbett, 2003, S. 14; eigene Übers.). Oder wie es im Tao Te Ching, der Grundlage des Taoismus, heißt: »Das Schwere ist die Wurzel des Leichten […]. Das Unbewegte ist die Quelle aller Bewegung« (Kap. 26, zitiert nach Nisbett, 2003, S. 14, eigene Übers.). Die Logik dieses Denkens ist nicht linear, kategorisch und objektbezogen, sondern sie ist feldbezogen, ganzheitlich, fließend, zirkulär, dialektisch und universalistisch: »Wir verbinden dreißig Speichen und nennen es ein Rad. Aber es ist der Raum, wo das Nichts ist zwischen den Speichen, was den Nutzen des Rades bestimmt. Während wir also das nutzen, was ist, sollten wir auch die Nützlichkeit dessen erkennen, was nicht ist« (Kap. 11 in der Fassung von Waley, 1934; eigene Übers.). Nisbett beschreibt drei Prinzipien östlicher Dialektik, die sich aus dieser taois­ tischen asiatischen Logik konkret ergeben: • Das Prinzip der Veränderung: Die Welt ist nicht statisch. Was heute noch richtig ist, kann morgen bereits falsch sein. Was heute als ein Glück erscheint, mag sich morgen als Fluch erweisen. Was wir als Wirklichkeit wahrnehmen, ist darum nur aus der Subjektivität und aus dem Moment heraus wahr. • Das Prinzip der Gegensätze: Da alles in der Welt sich ständig verändert und nur subjektiv und momenthaft existiert, sind Widersprüche, Ungereimtheiten und Paradoxe unausweichlich. Wie es das Zeichen des Yin und Yang symbolisiert, wird darum erst aus der Komplementarität von scheinbaren Gegensätzen Wahrheit. Das Gute trägt den Kern des Schlechten bereits in sich, der Erfolg den Misserfolg, das Schöne birgt das Hässliche in sich, und erst aus der Integration des Selbst mit dem Anderen entsteht ein sinnvolles Ganzes. • Das Prinzip der Ganzheitlichkeit: Da sich alles beständig verändert und nur zusammen mit seinem Gegenteil wahr ist, muss auch alles aus seinem

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Kontext heraus betrachtet werden. »Um eine Sache zu verstehen, müssen wir alle ihre Beziehungen kennen, so wie einzelne Noten nur gemeinsam eine Melodie ergeben« (Nisbett, 2002, S. 175; eigene Übers.). Diese Form des dialektischen Denkens steht in offensichtlichem Widerspruch zur westlichen (aristotelischen) Logik, die vor allem auf der Prämisse der Identität (A = A und kann nicht gleichzeitig etwas anderes sein) und auf der Prämisse der Widerspruchsfreiheit (A ≠ Nicht-A) beruht. Eine Sache kann nicht gleichzeitig etwas anderes sein, und schon gar nicht ihr Gegenteil. Peng und Nisbett (1999) haben vier Versuchsreihen durchgeführt, um diese unterschiedlichen Denkansätze in der Praxis nachzuweisen. In Versuch 1 stellten sie chinesischen und US-amerikanischen Probandinnen und Probanden zunächst amerikanische und chinesische Sprichwörter, später dann noch jiddische Sprichwörter vor, die entweder einer linearen Logik oder einer widersprüchlichen Logik folgten. Diese lauteten z. B. »Wenig ist besser als Nichts«, oder »Lieber einen Spatz in der Hand als eine Taube auf dem Dach« für die lineare Kategorie und »Wenn du in Eile bist, so gehe langsam« oder »Ein Mensch ist stärker als Eisen und schwächer als eine Fliege« für die widersprüchliche. Die chinesischen Teilnehmenden zeigten dabei eine deutliche Präferenz für die dialektischen Weisheiten, die amerikanischen fast im gleichen Umfang für die linearen. In Versuch 2 wurden chinesischen und US-amerikanischen Teilnehmenden zwei Szenarien vorgestellt, in denen ein Konflikt zwischen einer Mutter und einer Tochter bzw. zwischen einem beruflichen und einem privaten Interesse zu lösen war. 72 % der chinesischen Teilnehmenden folgten dabei einer eher dialektischen Analyse der Situation (beide Seiten haben recht), aber nur 26 % der amerikanischen Gruppe taten dies. In Versuch 3 wurden wiederum chinesischen und US-amerikanischen Teilnehmern verschiedene Begründungen a) für die Existenz Gottes und b) für die – falschen – Annahmen von Aristoteles über die Gesetze der Schwerkraft vorgelegt, nämlich einerseits eine logische Argumentation, andererseits eine dialektische, ganzheitliche Begründung. Die chinesischen Teilnehmer waren mit rund 60 % von der dialektischen Erklärung überzeugt, die amerikanischen fanden diese nur zu rund 37 % überzeugend. In Versuch 4 wurden einer chinesischen und einer amerikanischen Gruppe jeweils entweder ein oder zwei Artikel gezeigt, welche widersprüchliche Positionen zu einem Thema einnahmen und begründeten. Zum Beispiel argumentierte der eine Artikel, dass ältere Gefängnisinsassen meist längere Strafen verbüßten und darum gefährlicher seien, sie sollten darum von einer eventuellen Amnestie aus-

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genommen werden. Der andere Artikel sagte, dass ältere Menschen statistisch weniger Verbrechen begingen, von daher sollten ältere Gefangene bevorzugt von einer eventuellen Amnestie profitieren. Dabei wurden die Argumente, wenn die Teilnehmer nur einen Artikel zu lesen bekamen, natürlich als unterschiedlich plausibel betrachtet. Nun wäre es eigentlich zu erwarten gewesen, dass bei den Teilnehmern dann, wenn sie zwei Meinungen zu einem Thema hören (man ihnen also Argumente und Gegenargumente liefert), die Unterstützung für beide Meinungen etwas abnimmt. Zumindest sollte dies bei den Argumenten gelten, die in der Einzelbetrachtung als weniger plausibel eingeschätzt worden waren. Tatsächlich geschah aber, wie Abbildung 17 zeigt, nichts dergleichen.

Abbildung 17: Lineare vs. dialektische Logik in den USA (links) und China (rechts). Quelle: Peng u. Nisbett, 1999, S. 44 f., eigene Übers.

Die amerikanische Gruppe fand die weniger plausiblen Argumente gleich wenig überzeugend, egal ob mit oder ohne Gegenargument. Die Zustimmung für die plausibleren Argumente stieg aber sogar noch an, wenn sie gemeinsam mit dem Gegenargument gelesen wurden. In der chinesischen Gruppe war die Reaktion genau umgekehrt. Egal für wie viel oder wenig plausibel das Argument in der Einzelbetrachtung gehalten wurde, wenn die Teilnehmerinnen beide Argumente zu lesen bekamen, fanden sie beide etwa gleichermaßen plausibel. Wir sehen hier also eine Manifestierung der aristotelischen gegenüber der dialektischen Logik. Die amerikanischen Probandinnen orientieren sich an der Prämisse der Widerspruchsfreiheit: Was ich für richtig halte, kann nicht gleichzeitig falsch sein. Wenn ich also etwas, was ich für richtig halte, von etwas widerlegt sehe, was ich für nicht richtig halte, dann muss es erst recht richtig sein,

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wenn ich einen Widerspruch vermeiden möchte. Die chinesischen Teilnehmer orientieren sich dagegen am Prinzip der Komplementarität der Gegensätze: Wenn es zwei Argumente für oder gegen etwas gibt, dann kann die Wahrheit nur aus beiden gemeinsam entstehen. Ein ähnlicher Versuch zeigte, dass sich Koreaner in einem Persönlichkeitsfragebogen häufig gleichzeitig als höflich und ruppig (»rude«) beschrieben, wohingegen sich diese Kombination für Amerikaner logisch ausschloss. In einem weiteren Versuch ergaben sich bei der Bewertung kurzer und einprägsamer, aber gegensätzlicher Lebensphilosophien in der amerikanischen Gruppe klare Unterschiede in der Zustimmung. Wenn also z. B. eines der Satzpaare wie »Die Persönlichkeit eines Menschen ist sein Schicksal« vs. »Die Persönlichkeit eines Menschen ist nicht sein Schicksal« oder »Je mehr man weiß, desto mehr glaubt man« vs. »Je mehr man weiß, desto weniger glaubt man« gezeigt wurde, ergaben sich deutliche statistische Präferenzen. In der koreanischen Gruppe war die Zustimmung immer fast 100 %, gleich welcher Teil des Paares gezeigt wurde. Schließlich wurde einer Gruppe von japanischen und amerikanischen Probanden Fotos von Gesichtern gezeigt mit der Bitte, die Emotionen in den Gesichtern zu beschreiben. Amerikanische Teilnehmer sahen überwiegend entweder positive Emotionen (Freude, Glück, Zufriedenheit etc.) oder negative (Angst, Trauer, Wut etc.), japanische sahen überwiegend beide Arten von Emotionen gleichzeitig. Und auch in der Selbstbeschreibung zu ihrem Befinden waren in einem anderen Versuch amerikanische Teilnehmer stets entweder positiv oder negativ gestimmt, während chinesische und koreanische Befragte überwiegend sowohl positive als auch negative Gefühle beschrieben. All diese Beobachtungen zeigen, wie unterschiedlich die Welt in einer westlichen gegenüber einer asiatischen Logik gedanklich konstruiert wird. Die aristotelische, westliche, lineare Logik erwartet eine Analyse und Abgrenzung der Beobachtung vom Kontext, eine Fokussierung auf das Objekt, eine Regelbildung (und damit Verallgemeinerung) der Ergebnisse sowie eine klare Positionierung in der Schlussfolgerung. Die taoistische, asiatische, dialektische Logik erwartet eine Einbindung der Beobachtung in den Kontext, eine Fokussierung auf die Zusammenhänge und Wechselwirkungen, eine Offenheit für die Veränderbarkeit des Einzelfalls, sowie nicht zuletzt eine Integration der unterschiedlichen Positionen in der Schlussfolgerung. Auch viele chinesische Schriftzeichen drücken diese dialektische Grundhaltung aus, da oft aus der Kombination scheinbarer Gegensätze ein neuer Begriff entsteht. So bedeutet z. B. die Verbindung der Zeichen Speer und Schild = Konflikt, früher und modern = Geschichte, Leben und Tod = Wendepunkt oder Gefahr und Gelegenheit = Krise.

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Betrachten wir vor diesem Hintergrund noch einmal die obige Interviewsequenz, in welcher der chinesische Kandidat mit dem Szenario konfrontiert wird, dass sich einer seiner Mitarbeiter hinter seinem Rücken negativ über ihn äußert. Zunächst wählt der Bewerber eine der sogenannten »sekundären Kontrollstrategien« als Lösungsmuster: Anstatt die Situation aktiv zu verändern, d. h. auf den Mitarbeiter offen einzuwirken, passt er seine Erwartungen der Situation an. Es sei nicht erforderlich, sich in einem solchen Fall offen gegen den Mitarbeiter zu stellen, denn das eigene Image entstehe nicht durch das, was eine andere Person sagt, sondern durch das, was man tut. Die Menschen, die ihm wichtig seien – z. B. sein Vorgesetzter – würden merken, dass an der negativen Rede nichts dran sei. Zudem beschreibt der Kandidat in diesem Szenario sehr anschaulich das Konzept des »Gesichts« im Vorstellungsgespräch, wie es in Kapitel 3.2 vorgestellt wird. Jeder Mensch hat ein Gesicht (er nennt es in dem Fall auch auf Englisch »Image«) und jeder Mensch trägt Verantwortung für sein eigenes Gesicht. Indem der Mitarbeiter vor anderen versucht, sein (des Befragten) Image zu beschädigen, nimmt er sich letztlich selbst Gesicht, er schadet sich selbst. Ein guter Vorgesetzter und sensible Kollegen werden das erkennen. Würde der Kandidat jetzt offen auf die schlechte Rede reagieren und den persönlichen Konflikt transparent austragen, dann würde er die Harmonie im Team auch seinerseits beschädigen, er würde sich auf dieselbe niedrige Stufe der Kommunikation begeben wie sein Mitarbeiter. Was in einer westlichen Perspektive wie eine ausweichende, vermeidende Konfliktlösung aussieht, ist in seinen Augen ein weises, reifes Deeskalieren der Situation. Schließlich erkennen wir in der gewählten Antwort aber auch die oben beschriebene dialektische Sichtweise auf die Welt wieder. In einer westlichen, linearen Logik wäre es wichtig, deutlich zu machen, wer recht hat, wer im Recht ist. Es kann ja nur eine Sicht auf den Konflikt wahr sein, also muss in einer linearen Logik Energie darauf verwendet werden, zu beweisen, dass die Sicht des unzufriedenen Mitarbeiters nicht wahr ist, sondern dass er nur stören will. In einer dialektischen Perspektive kommt es darauf nicht an. Nach Letzterem entsteht erst aus der Komplementarität der Sichtweisen Wahrheit, und die Ganzheitlichkeit der Situation ist ohnehin mehr als nur die unsachliche Kritik des Mitarbeiters. Auch der Ehrgeiz des unzufriedenen Mitarbeiters, der gerne die Führungsposition hätte, ist Teil der Wahrheit; auch die Unmöglichkeit einer Organisation, alle Karrierewünsche zu erfüllen ist Teil davon. Und auch wenn die unsachliche Kritik des Mitarbeiters seine Unreife und Selbstbezogenheit dokumentiert, so gehört sie doch zum Leben dazu und kommt vor, ist vielleicht seiner Jugend geschuldet und sie ist Teil und Symptom der Arbeitswelt und muss als solche nicht bekämpft werden: »Ich denke, da gibt es überall solche Menschen, man kann sie nicht vermeiden.«

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Erinnern wir uns an die andere Interviewsequenz mit demselben chinesischen Kandidaten zu Beginn des Buches auf die Frage »Wie motivieren Sie sich selbst?«: »Natürlich habe ich auch gute Zeiten und schlechte Zeiten, und wann immer diese Zeiten kommen, ich, ah, habe ich, also mich schon ein bisschen trainiert, um, ah, um mich mit einer positiveren Haltung darauf einzustellen, um mit meiner Arbeit weitermachen zu können.« Alle drei Elemente der asiatischen Dialektik finden sich hier wieder, die Prinzipien der Veränderung, der Gegensätze und der Ganzheitlichkeit. Was heute gut ist, kann morgen schon schlecht sein. Was heute ein Erfolg ist, trägt vielleicht den Samen des Misserfolgs bereits in sich. Und erst aus Sieg und Niederlage gemeinsam entsteht Wachstum und Entwicklung und damit ein neues Ganzes. Wir sollten also vorsichtig sein, eine Argumentation als unlogisch und unstrukturiert abzulehnen, nur weil sie unserer eigenen linearen westlichen Logik nicht entspricht. Unter Umständen folgt sie eben nur einer ganzheitlichen und dialektischen Logik. Kandidaten aus Asien sind in der Regel geübter darin, Beobachtungen in einen Kontext zu stellen, assoziativ zu denken, Bezüge zu sehen und ganzheitliche Lösungen zu finden. Sie tun sich dagegen oft schwer, wenn es darum geht, auf eine Frage abstrakte Kategorien zu bilden und darauf deduktiv abgeleitete, eindeutige, linear strukturierte und kontextunabhängige Antworten zu geben. Ihre Perspektive ist vermutlich weniger objektbezogen, weniger absolut und weniger klar. Sie nennen zuweilen Gründe im gleichen Satz, die aus einer westlichen Perspektive nichts miteinander zu tun haben – da sie nicht zu derselben Kategorie gehören. Dafür analysieren sie vielleicht nachdenklicher, ausgewogener, selbstkritischer und differenzierter. Auch wenn es aus westlicher Sicht manchmal so scheinen mag, ist die eine Art, zu denken und zu argumentieren, nicht kompetenter als die andere. Beide Denkmuster haben ihre Ursprünge und ihre Berechtigung, sie sind aus ihrer jeweiligen Sicht in gleichem Maße sinnhaft und lösungsorientiert. Die – westliche – abstrakte und lineare Herangehensweise, die objektorientierte Analyse und Bildung allgemeingültiger Regeln und Kategorien, ermöglicht grundsätzliche Erkenntnisse, Lösungen und Denkfortschritte. Die – östliche – induktive und dialektische Logik, die feldorientierte und ganzheitliche Beobachtung und Suche nach konkreten, kontextspezifischen Erklärungen, ermöglicht differenzierte Lösungen und schrittweise Verbesserungen. Und sie erkennt Zusammenhänge, die in einer westlichen Sicht oft verborgen bleiben. Beide Denkstile haben ihre Stärken und Schwächen. Unsere Personalauswahl wird also valider, wenn wir den uns weniger vertrauten Stil nicht gleich ablehnen. Und unsere Organisationen gewinnen an Problemlösungskompetenz hinzu, wenn sie beide Denkstile beherrschen und variabel einsetzen können.

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Deduktiv, induktiv, zirkulär: der Aufbau von Argumentationen Es sind jedoch nicht allein die unterschiedlichen Denkansätze zwischen Ost und West, welche im Vorstellungsgespräch – und nicht nur dort – zu interkulturell bedingten Fehlinterpretationen führen. Es kommen noch sprachliche und rhetorische Aspekte im Aufbau von Argumenten sowie in der Diskursorganisation hinzu, die das gegenseitige Verständnis erschweren. Auch die beiden oben besprochenen Interviewsequenzen mit dem chinesischen Kandidaten »Wie motivieren Sie sich selbst?« sowie »Umgang mit kritisierendem Mitarbeiter« weisen einige dieser Merkmale auf. Deduktiver vs. induktiver Argumentationsaufbau

Eine westlich strukturierte Argumentation – erst recht in einem schriftlichen Dokument – folgt einem deduktiven Aufbau, d. h., sie beginnt mit der allgemeinen These, der Regel oder dem Hauptargument. Diese These wird dann gestützt durch Unterthesen, die jeweils Schritt für Schritt in ihren Einzelheiten abgearbeitet werden z. B.: »Dieses Buch befasst sich mit der internationalen Personalauswahl. Diese umfasst a) die Struktur der Fragen, b) die Interpretation der Antworten, c) die Dynamik der Begegnung im Vorstellungsgespräch. Die Struktur der Fragen lässt sich dabei an zwei Kriterien feststellen usw.« In Ostasien – und auch in anderen eher interdependent geprägten Kulturkreisen wie Osteuropa oder dem Nahen Osten – kommt dagegen das wichtigste Argument oft erst am Schluss, oder es wird mitten im Text quasi versteckt, und manchmal wird es gar nicht explizit benannt. Begonnen wird eher induktiv mit einem einzelnen Aspekt, der geeignet ist, das Thema zwischen den beiden Gesprächspartnern zu eröffnen. In einer Studie der englisch-chinesischen Sprachpädagogen Xing, Wang und Spencer (2008) begannen z. B. rund 60 % der englischen Teilnehmer ihr Essay mit der Hauptthese im ersten Absatz, aber nur rund 25 % der chinesischen Teilnehmer. Auch in der oben genannten Interviewsequenz »Wie motivieren Sie sich selbst?« nennt der Kandidat sein Hauptargument – dass er sich gut mental auf Rückschläge vorbereitet habe – gar nicht explizit. Ob es daran liegt, dass er von der Interviewerin unterbrochen wurde, weil diese sein Hauptargument vergeblich suchte, oder ob er es auch ohne Unterbrechung nicht genannt hätte, wird man dabei nie erfahren. In der zweiten Sequenz, dem Szenario mit dem unsachlich kritisierenden Mitarbeiter, ist das Hauptargument des Kandidaten vermutlich, dass der eigene Ruf nicht von solchen unprofessionell auftretenden Kollegen abhänge, sondern davon, wie man sich sonst einbringe und wie man

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Teil 3: Kulturelle Unterschiede im Bewerbungsgespräch

selbst kommuniziere. Auch dieses Argument findet sich aber eher am Ende seiner Antwort und nur versteckt zwischen anderen Sätzen. Es hängt mit dem oben dargestellten dialektischen, ganzheitlichen Denkstil zusammen, dass Menschen aus Ostasien in ihrer Argumentation eher induktiv und zirkulär vorgehen. Wenn es das Ziel ist, ein Feld zu erkunden und Zusammenhänge zu sehen, dann ist es nicht sinnvoll, mit der Schlussfolgerung zu starten und von dort eine lineare Argumentation aufzubauen. Ein solches Vorgehen verengt die Perspektive und erschwert es, dass unentdeckte Details, die vielleicht auch wichtig sind zum Verständnis der Situation, später noch in das Blickfeld geraten. Ein japanischer Manager, der lange in den USA gelebt hat und beide Argumentationsstile kennt, beschreibt diesen Unterschied mit den Worten: »Wenn ich im amerikanischen Stil präsentiere [die Kernaussage zuerst], dann befürchte ich immer, dass die Zuhörer Zweifel an der Glaubwürdigkeit meiner Darstellung haben werden, dass sie mich verdächtigen, keine gute Analyse gemacht zu haben« (Moosmüller, 1997, S. 127). Zudem hat eine solche induktive Vorgehensweise auch einen interaktiven, harmonieorientierten Zweck. Sie bereitet die Leser und Zuhörer besser vor auf das, was gesagt werden soll, und sie gibt den Adressaten mehr Raum für die Interpretation. Wang (1994, S. 221; eigene Übers.) nennt dies in seiner Analyse chinesischer Rhetorik-Ratgeber das »Umkreisen des Themas in einem entspannten Ton, um die Stimmung der Zuhörer positiv zu beeinflussen, bevor die eigentliche Aussage gemacht wird, wenn die Zeit reif ist«. Sato (2000, S. 327; eigene Übers.) ergänzt dies mit den Worten: »Vage Formulierungen sind vorteilhafter, denn sie überlassen die Entscheidungsfindung dem Gegenüber.« Moosmüller (1997, S. 128) gibt hierfür ein schönes Beispiel: Ein japanischer Mitarbeiter bittet seine amerikanische Kollegin, ihm ihren Fotoapparat zu leihen, indem er zunächst die Hintergründe seiner Dienstreise erläutert und dann scheinbar beiläufig erwähnt, dass sein eigener Fotoapparat kaputt gegangen sei. Auf ihre Frage, warum er denn nicht gleich danach gefragt habe, antwortet dieser: »Aber ich kenne ja nicht Ihre Prioritäten. In der Zeit, in denen ich Ihnen die Hintergründe erkläre, können Sie darüber nachdenken, z. B. ob Sie die Kamera selber brauchen; ich wollte nicht drängen.« Ein langsames »Zur-SacheKommen« sei wichtig, um eine schöne Atmosphäre herzustellen und höflich vorzugehen (Günthner, 1993, S. 79). Einführung – Hauptteil – Schlussfolgerung: Oder was sonst?

Aus dieser Logik des behutsamen und ganzheitlichen Vorgehens folgt dann eine komplett unterschiedliche Diskursorganisation. Während im Westen das lineare Schema »Einführung-Hauptteil-Schlussfolgerung« für die Argumentation

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zwingend ist, ist die ostasiatische Gesprächsführung von einem rhetorischen Ideal beeinflusst, das aus westlicher Sicht eher einem Zickzack-Kurs ähnelt: dem »Qi-Cheng-Zhuan-He« in China oder »Ki-Syo-Ten-Ketsu« in Japan10, was auf Deutsch soviel heißt wie »Beginn-Fortsetzung-Wendung-Zusammenschau«. Qi eröffnet das Thema, oft nach dem Modell des »Öffnen des Fensters, um die Berge zu sehen«. Es geht in der Eröffnung also nicht darum, die »Berge« (das eigentliche Thema) zu benennen, sondern lediglich Perspektiven darauf zu eröffnen. Cheng entwickelt das Thema weiter und führt die Adressaten näher an die Kernaussagen heran. Zhuan bringt einen scheinbar irrelevanten neuen Aspekt oder eine unerwartete Perspektive auf das Thema ein, um so die Komplexität und Vielfalt des Kontextes zu unterstreichen. He schließlich führt die Aussagen zusammen, ohne dabei aber zwingend eine klare abschließende Schlussfolgerung zu benennen. Hier macht sich bemerkbar, dass in einem interdependenten Kulturkreis wie Ostasien die Verantwortung für das Entschlüsseln einer Botschaft beim Empfänger liegt. Den Leserinnen oder Zuhörern sollte also auch in der Zusammenschau ausreichend Raum gelassen werden, zu eigenen Schlüssen in Bezug auf die Aussage zu kommen. »Die Rolle chinesischer Leser umfasst, die Ideen eines Autors zu verstehen, zu beenden und sogar zu verfeinern. Es wird von ihnen erwartet, von einem Teil des geschriebenen Textes weiter zu schließen auf den tieferen Sinn der nicht explizit benannten Gedanken. Dazu gehört es, mit dem Geschriebenen durch ihre Vorstellungskraft zu interagieren und es durch ihr eigenes Hintergrundwissen und ihr persönliches Verständnis neu zu aktivieren« (Wang, 1994, S. 225; eigene Übers.). Auf dieses Buch übertragen ginge ein solches »Qi-Cheng-Zhuan-He«-Muster in Bezug auf die kulturelle Bedingtheit unserer Frageformate zum Beispiel so: Wir möchten mit unseren Fragen die Menschen kennenlernen, die sich hinter ihren Lebensläufen verbergen (Eröffnung). Je besser unsere Fragen sind, desto reichhaltiger wird das Bild, das wir von den Kandidatinnen gewinnen (Fortführung). Die Bewerber haben oft nicht viel Erfahrung mit Vorstellungsgesprächen (Wendung). Wir müssen darauf achten, dass die Kandidaten auch

10 Die koreanische Entsprechung nennt sich »ki-sung-chon-kyul«. Dabei ist es unbenommen, dass die heutige Ausbildung auch an ostasiatischen Schulen und Universitäten, insbesondere wenn sie auf Englisch stattfindet, stark von westlichen Argumentationsstilen beeinflusst ist (vgl. Zheng, 2013; Liu u. Furneaux, 2013; Cheng u. Chen, 2009). Das ändert aber nichts daran, dass die rhetorischen Ideale dieses Kulturraums und die dem zugrunde liegenden Denkstile sich auch heute noch stark im Diskursaufbau wiederfinden, wie ja auch die Beispiele dieses Buches zeigen.

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verstehen, warum wir eine Frage stellen und welches Ziel wir damit verfolgen (Zusammenschau). In der zweiten Interviewsequenz mit dem chinesischen Kandidaten zum Umgang mit dem überkritischen Mitarbeiter finden wir, wenn wir etwas zwischen den Zeilen lesen, auch eine solche Sequenz: »Ich denke, da gibt es überall solche Menschen [die schlecht über andere reden], man kann sie nicht vermeiden« (Eröffnung). »Ich denke, es ist nicht die Kritik der anderen, die wirklich einen negativen Eindruck erzeugt« (Fortführung). »Es geht um dein Image, ich meine, du bist ja verantwortlich für dein eigenes Image« (Wendung). »Wenn mein Boss über mir eine zuverlässige Person ist, dann sollte er wissen, dass ich meinen Job gut mache, ich muss dafür eigentlich nichts Bestimmtes machen« (Zusammenschau). Und selbst der russische Kandidat folgt in der in Kapitel 2.2 beschriebenen Sequenz zur Teamarbeit in gewisser Weise einem solchen Aufbau: »Also eigentlich muss man ja fast überall genauso in einem Team wie individuell arbeiten« (Eröffnung). »Ziemlich oft können dir die Vorgesetzten nicht so viel Zeit widmen, darum solltest du deine eigene Agenda entwickeln. Zur gleichen Zeit, da es in jeder Institution Menschen gibt, solltest du mit diesen Menschen arbeiten« (Fortführung). »Aber nach meiner Meinung ist es wahrscheinlich die beste Lösung, hier einfach du selbst zu bleiben und nicht eine Art Rolle zu spielen« (Wendung). »Wenn du einfach versuchst, mit Menschen zu kommunizieren, wenn du versuchst zu verstehen, zu entdecken, woran sie interessiert sind, so schafft es eine Art von guten Beziehungen« (Zusammenschau). Die Herausforderung für westliche Zuhörer liegt nun darin, dass sie erst alle Aussagen im Zusammenhang auf sich wirken lassen müssen, damit diese einen Sinn ergeben. Unser westliches Aufmerksamkeitsschema ist aber andersherum geprägt: Wir suchen die Kernaussage und folgen dann dem Begründungsaufbau. Hören wir eine Aussage, die scheinbar zusammenhanglos neben einer anderen Aussage steht, dann können wir spätestens nach dem dritten Satz nicht mehr folgen und schalten dann ab. Lineare vs. zirkuläre Satzkonstruktionen

Was für den Aufbau einer Argumentation gilt, findet sich auch in der Satzkonstruktion wieder. Während im westlichen Kontext in der Regel zunächst die Aussage kommt und dann die Erklärung folgt (»Ich gehe heute ins Museum, weil es regnet«), ist es im asiatischen Kontext meist umgekehrt (»Weil es heute regnet, gehe ich ins Museum«). Ist die Kausalität aus dem Kontext erschließbar, kann dabei die Konjunktion auch weggelassen werden, was dann aufgrund der sprachlichen Infinitivkonstruktion im Chinesischen wörtlich lautet »Heute

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regnen so groß, ich nicht gehen kaufen Dinge« (Günthner, 1993, S. 133). Die einseitig lineare Verbindung zwischen den Satzteilen geht verloren, sie halten sich scheinbar gegenseitig, gleichrangig und zirkulär aneinander fest. In beiden Interviewsequenzen mit dem chinesischen Kandidaten finden wir hierfür Beispiele: »Ich denke es ist nicht, was die Leute an dir kritisieren, dass du einen wirklich negativen Eindruck hast.« Im westlichen Kontext würden wir sagen »Ein negativer Eindruck entsteht nicht dadurch, dass dich andere Leute kritisieren«. »Also das Image, das du selbst bekommst ist nicht, dass die Leute sagen, du bist schlecht, dass du schlecht bist, du hast dein eigenes Urteil.« Ins Westliche übertragen: »Du hast dein eigenes Urteil über mich, darum wird mein Image bei dir nicht davon bestimmt, was die Leute über mich sagen.« Oder betrachten wir noch einmal das Eingangsszenario »Wie motivieren Sie sich selbst?«: »Natürlich macht ja jeder auch Fehler, also wann immer, also, es gab mal Zeiten, irgendwie, wo ich während meiner Arbeit einige Fehler in einer Woche gemacht habe, und ich habe mir Vorwürfe gemacht und machte auch anderen Kollegen das Leben schwer, mit denen ich zusammengearbeitet habe. Ja, und während so einer Zeit, da brauchst du irgendwie, ah, also auch einen Moment für dich zum Nachdenken, und auch um, um, um – natürlich fühlst du dich schlecht – aber du musst, du musst etwas tun, um wirklich schneller aufzuholen mit den anderen.« Wie anders wäre seine Antwort von der westlichen Interviewerin aufgenommen worden, wenn er seinen Satz- und Argumentationsbau so umgestellt hätte: »Es motiviert mich, dass ich mit meinen Kollegen mithalten und sie nicht hängen lassen möchte. Darum strenge ich mich besonders an, wenn mal etwas nicht klappt oder ich einen Fehler gemacht habe. Natürlich fühlst du dich dann manchmal schlecht und du brauchst einen Moment zum Nachdenken, aber dann gebe ich extra Gas, um wieder schneller aufzuholen.« Fehlende Diskursmarkierungen

Neben der Umstellung der Satzteile zeichnen sich die »kulturellen Übersetzungen« oben dadurch aus, dass sie sogenannte »Diskursmarkierungen« verwenden, welche der chinesische Kandidat weitgehend weglässt. In diesem Fall wurden die Worte »dadurch, dass«, »darum«, »davon«, »wenn«, »oder« sowie »aber« ergänzt. Diskursmarkierungen bezeichnen alle Worte oder Sätze, die geeignet sind a) um Sätze oder Satzbestandteile miteinander zu verbinden,

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b) um die Haltung der Rednerin zu ihrer Aussage zu verdeutlichen oder c) um die Beziehung von Sprecher und Zuhörer zu illustrieren. Neben allen Konjunktionen gehören dazu also auch Formulierungen wie »nun denn«, »also«, »nicht wahr?«, »von daher«, »was XY betrifft«, »zudem«, »in Bezug auf«, »na ja«, »um ehrlich zu sein«, »tatsächlich«, »einerseits und andererseits«, »offenbar« usw. Die analytisch geprägten westlichen Sprachen legen viel Wert auf eine präzise und explizite Bezeichnung der Bezüge zwischen den Satzteilen, es werden darum viele solcher Diskursmarkierungen eingesetzt. In einer interdependenten Perspektive ergeben sich die Zusammenhänge jedoch aus dem Kontext, sie müssen nicht mehr explizit hervorgehoben werden. In der oben zitierten Studie von Xing und Kollegen (2008) haben die chinesischen Teilnehmer nur rund 10 % so viele Diskursmarkierungen verwandt wie die englische Kontrollgruppe. Da in einer individualistischen Kultur die Verantwortung für die Verständlichkeit einer Nachricht beim Sender liegt, muss dieser den Leser oder die Zuhörerin sorgfältig an die Hand nehmen und klarmachen, wer genau was mit wem warum tut und in welchem Zusammenhang dies mit dem vorher Gesagten und dem noch Kommenden steht. In einer kollektiv strukturierten Umgebung, welche die Aufgabe des Verstehens und der Interpretation sehr viel stärker den Adressaten zuweist, wirkt eine solch enge sprachliche Führung überflüssig, wenn nicht gar anmaßend, einengend und unhöflich. Susanne Günthner (1993, S. 161) weist in ihrer Analyse deutsch-chinesischer Konversationen eine Vielzahl von Missverständnissen nach, die sich aus den fehlenden Diskursmarkierungen ergeben. Hinzu kommt, dass die chinesischen Gesprächspartner in ihrer Analyse oft auf das Subjekt oder das Hilfsverb (sein oder haben) verzichten, wenn es sich aus dem Kontext erschließt. Oder sie lassen die Artikel weg, da es hierfür im Chinesischen keine Entsprechung gibt. Für westliche Beobachter wird diese Sprache dann schnell unverständlich oder sie halten den Sprecher für inkompetent und dumm. Metaphorische vs. gradlinige Ausdrucksweise

Auf einen weiteren Aspekt chinesischer, aber z. B. auch arabischer Rhetorik (Kammhuber, 2013) sei zuletzt noch hingewiesen. Wir bewegen uns in einem interdependent geprägten Kulturraum, der eine ganzheitliche, dialektische Logik bevorzugt und dem die Wahrung der Harmonie auch im Streitgespräch sehr wichtig ist. In diesem Kontext ist es nicht angelegt, auf einem Standpunkt zu beharren oder den Beweis zu führen, wer recht hat. Stattdessen bedarf es indirekter, subtiler und weniger konfrontativer Stilmittel, um den eigenen Meinungen Nachdruck zu verleihen. Hierzu dienen dann zum einen Metaphern, Analogien, Anspielungen, blumige Formulierungen, Wiederholungen, Sprich-

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wörter und Redewendungen. Zum anderen gibt die Berufung auf Autoritäten und historische Beispiele einer Aussage eine hohe Glaubwürdigkeit (Günthner, 1993; Liu, 2007; Nisbett, 2003; Jia, 2004). Nicht zuletzt erhöht eine gebildete, eloquente und impressionistische Sprache die Überzeugungskraft einer Aussage, da sie die Adressaten auch auf der emotionalen und spirituellen Ebene anspricht: »Chinesische Leser wollen einen Text auch ›spüren‹, denn es ist der Zusammenhang zwischen dem äußerlichen Text und den inneren Gefühlen des Autors, auf den sie Wert legen« (Wang, 1994, S. 226; eigene Übers.). Aus einer westlichen Perspektive wirken diese indirekten Anleihen zuweilen zwar sympathisch, weise oder exotisch, oft aber auch unklar, verwirrend, ausweichend, unlogisch oder auch unselbstständig. Beide Interpretationen sind jedoch für die Personalauswahl unzulässig, denn wir sollten sie als das nehmen, was sie sind: ein Stilmittel, welches in kontextorientierten Kulturen einen höheren Stellenwert besitzt als bei uns. Fazit

Neben den jeweiligen Denkstilen sind es also auch die unterschiedlichen rhetorischen Muster und sprachlichen Gewohnheiten, welche uns zum Verständnis unserer Kandidaten und Kandidatinnen im Wege stehen können. Ein induktiver Argumentationsaufbau, ein Zickzackkurs in der Gesprächsstruktur, zirkuläre Satzkonstruktionen, vage Satzverbindungen oder eine blumige, metaphorische Ausdrucksweise tragen in ihrer Kombination zu erheblichen Missverständnissen bei. Auf der vergeblichen Suche nach der Struktur, die wir nicht erkennen, vergessen wir dann, auf die Inhalte zu achten. Wir notieren dann Kommentare, wie »Floskeln«, »unlogisch«, »verworren«, »unsortiert«, »ausschweifend«, »kam nicht auf den Punkt«, »schwammig« oder »undurchsichtig«, und sagen dem Kandidaten ab. Unser westlicher, deduktiv-analytischer Argumentationsstil mit seiner präzisen und expliziten Beweisführung ist hervorragend geeignet, aus vielen Informationen fokussiert und zielorientiert Erkenntnisse zu gewinnen und anschließend unser Umfeld für unsere Schlussfolgerungen zu gewinnen. Er hat aber seine Schwächen, wenn der Ist-Zustand zu komplex ist oder wenn wir das Ziel noch nicht kennen. Denn er tendiert dazu, unsere Wahrnehmung einzuschränken, und er ist in seiner konfrontativen Ausrichtung oft wenig einladend für neue, erweiternde Gedanken. Wir sollten also auch hier Vorsicht walten lassen, um nicht vorschnell Kompetenzen abzulehnen, die unseren Organisationen eigentlich guttun würden. Sicherlich vermischen sich die hier dargestellten rhetorischen Merkmale und Diskursstrukturen mehr und mehr mit westlich geprägten Vorbildern,

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insbesondere bei Bewerbern mit einem internationalen Studien- oder Arbeitshintergrund. Zahlreiche Studien zeigen, wie schnell auch Argumentationsmuster und Sprachstile weiterentwickelt und angepasst werden können, wenn das Umfeld dies erfordert und unterstützt (z. B. Xing et al., 2008). Das Beispiel der hier zitierten Interviewsequenzen zeigt aber, dass auch Kandidaten mit sehr guten Englischkenntnissen und umfangreichen internationalen Erfahrungen noch stark von ihrer ursprünglichen Sozialisierung im Argumentations- und Satzaufbau geprägt sein können. Diskussionen ohne Gewinner: auf der Suche nach dem »Mittelweg« Sehen wir uns noch eine Interviewsequenz an, dieses Mal wieder mit dem indischen Kandidaten. Er bekommt eine ähnliche Frage, wie sie bereits dem chinesischen Bewerber gestellt wurde: Sie (aus Deutschland):  Stellen Sie sich vor, Sie bekommen diesen Job, und ein Kollege, der sich auch beworben hatte, benimmt sich nun sehr störend im Team, kritisiert viel, gibt manche Informationen weiter usw. Was tun Sie? Er (aus Indien):  O. K. (Pause), das ist ein bisschen schwierig (Pause). Aber ich denke, wenn der Kollege auch älter ist als ich, dann würde ich eine direkte Konversation über das Thema vermeiden, solange alles unter Kontrolle ist und es meine Arbeit nicht beeinträchtigt. Natürlich ist es nicht gut, aber wenn die Arbeit nicht leidet, können wir es tolerieren. Sollte es schlimmer werden, dann müssen wir in unseren Teambesprechungen über seine Kritikpunkte sprechen, denn das ist die professionelle Plattform dafür. Ich möchte lieber auf einem formellen und offiziellen Weg mit ihm seine Kritik besprechen, als direkt zu ihm zu gehen wegen seiner Punkte auf der persönlichen Ebene. Sie:  Aber was würden Sie tun, wenn er es selbst auf eine persönliche Ebene bringt und schlecht über Sie spricht, weil er vielleicht ärgerlich ist, dass er die Stelle nicht bekommen hat? Er:  Ja schon, das ist nicht gut, aber wenn er hinter meinem Rücken gegenüber anderen schlecht über mich redet, dann würde ich denken, dass diese Personen dann erfahren genug sind, um die Situation zu verstehen. Und vielleicht würde ich mich einfach weiter auf meine Arbeit konzentrieren, und wenn meine Manager sehen, dass ich gute Arbeit leiste und dass mein Verhalten in Ordnung ist, dann muss ich gar nichts machen, dann ist alles prima.

Auch seine Antwort folgt wie beim chinesischen Bewerber einer sekundären Kontrollstrategie: Anstatt aktiv auf die Situation einzuwirken, vertraut der

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Kandidat darauf, dass die anderen wissen, wie sie damit umzugehen haben, und dass sich der Konflikt von allein abbauen wird. Neben einem Bedürfnis nach Wahrung der äußeren Harmonie drückt sich auch hier ein (wie oben beschrieben) dialektisches, interdependentes Weltbild aus. Es ist nicht geboten, die Situation pro-aktiv zu klären und Ungereimtheiten, Widersprüche auszuräumen. Es ist nicht erforderlich, explizit zu markieren, wer recht hat. Vielmehr ist es der reifere Weg, die Enttäuschung des Kollegen einfach zuzulassen und darauf zu vertrauen, dass seine Umgebung wissen wird, wie sie sie einzuordnen hat. In der konfuzianischen Philosophie nennt sich dieser Ansatz »der Mittelweg der Harmonie« (Zhong He). »Wenn Zhong He erreicht ist«, so schreibt Konfuzius im Buch von Maß und Mitte, »dann sind der Himmel und die Erde an ihrem Platz und alles wird wachsen« (zit. nach Chen, 2002, S. 183; eigene Übers.). Anders als die »goldene Mitte« bei Aristoteles beschreibt dieser Ansatz aber nicht die Tugend, sich von Extremen fernzuhalten. Der Mittelweg des Konfuzianismus und Taoismus ist erreicht, wenn sich alle Bestandteile einer Situation in einer Balance befinden, also auch ihre Extreme. »Alle Dinge im Universum enthalten gegensätzliche Strömungen, die in Balance gebracht werden müssen. In dieser Denkweise ergibt sich erst aus der Integration der Gegensätze ein Ganzes« (Chen, 2002, S. 182; eigene Übers.). Dieser holistische und dialektische philosophische Grundsatz wirkt sich nicht nur auf die Denkstile und Argumentationsstrukturen des Ostens aus. Er beeinflusst auch die Debatten- und Argumentationsfähigkeit von Kandidatinnen aus diesen Kulturregionen erheblich: • Während westliche Interviewer auf ihre Fragen eine klare Positionierung erwarten, gilt eine Festlegung auf eine einzige, scheinbar überlegene Lösung hier tendenziell als naiv und unreif. Die Welt ist dafür zu komplex. • Während es das westliche Diskussionsziel ist, die anderen argumentativ von der Überlegenheit des eigenen Lösungswegs zu überzeugen, gilt eine solche Vorgehensweise hier als rüde und unsensibel, und abgesehen davon auch als nicht zielführend. • Wenn Schwachstellen in der Argumentation des Gegenübers ausgemacht wurden, dann werden sie in einer westlichen Debatte tendenziell klar und direkt geäußert und als Widerspruch explizit markiert. Im östlichen Kontext gilt es dagegen, auch bei kritischen Anmerkungen, an die Argumente des Gegenübers anzuknüpfen, Gemeinsamkeiten zu betonen und auf Defizite nur indirekt und rücksichtsvoll hinzuweisen. • Während ein westliches Konfliktlösungsmodell fragt, wer nach abstrakten Kriterien (Zuständigkeit, Gesetzeslage, Vertragsgestaltung etc.) »im Recht«

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ist, werden Konflikte hier auf der Basis individueller, konkreter sowie zielund beziehungsgeleiteter Kriterien gelöst. Das Verhältnis von Rechtsanwälten zu Ingenieuren, welches in den USA 40-mal höher ist als in Japan (Nisbett, 2003, S. 194), illustriert diesen Unterschied. • Während das westliche Bildungssystem von der frühesten Kindheit an darauf trainiert, eigene Gedanken, Meinungen, Ideen und Positionen zu entwickeln und zu vertreten, folgt das östliche Bildungsideal (Liu, 2008) den Maximen der Wiederholung (»memorize«), der Umsetzung (»apply skills«) und des Respekts vor Autoritäten (»respect superiors«). Nicht das Entwickeln eigener Ideen steht im Vordergrund, sondern die möglichst exakte Kopie, die Anwendung und die Anknüpfung an das Vorhandene. Dies führt dazu, dass die Schnelligkeit des Gedankenflusses und der Ausdrucksfähigkeit selbst in der Muttersprache deutlich weniger ausgebildet ist als im Westen. Hinzu kommt, dass in einem interdependenten Kontext vor jeder Äußerung eine deutlich größere Zahl an Verhaltensvorgaben und sozialen Uneindeutigkeiten zu berücksichtigen ist, was zusätzliche Ressourcen bindet, die dann entsprechend für die Meinungsbildung und -äußerung nicht zur Verfügung stehen. Diese Unterschiede führen dazu, dass Mitarbeiter oder Studierende aus Asien in westlichen Unternehmen oder Hochschulen zunächst oft große Anpassungsschwierigkeiten in Bezug auf die dortigen Meinungsbildungsprozesse haben. Sie erleben die westliche Diskussionskultur als schnell, aggressiv, unsensibel, wenig wertschätzend, überfordernd oder schlicht als nicht sinnvoll. So hat eine Studie unter chinesischen Studierenden in England ergeben, dass auch nach Abschluss des Studiums noch eine Mehrzahl der Befragten den westlichen Debattierstil ablehnte. Sie empfanden ihn a) als zu grob und zu polarisierend, sie fühlten sich b) mit den damit verbundenen sozialen Risiken und Unsicherheiten unwohl, sie sahen sich c) von anderen chinesischen Studierenden unter Druck gesetzt, sich nicht »unchinesisch« zu verhalten, und sie bewerteten d) den westlichen Diskussionsstil auch inhaltlich als weniger zielführend (Durkin, 2011, S. 280). Für unsere Auswahlprozesse heißt das, dass wir Kandidaten und Kandi­ datinnen aus weniger individualistisch und linear denkenden Kulturkreisen mehr Verständnis und Geduld entgegenbringen müssen, damit sie im Vorstellungsgespräch eigene Gedanken entwickeln und ausdrücken können. Nur, weil sie gegebenenfalls länger brauchen, um eine Position zu finden oder einen Vorschlag zu unterbreiten, dürfen wir nicht schließen, dass ihnen die intellektuellen oder sprachlichen Fähigkeiten dazu fehlen.

Von West nach Ost

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3.4 Von West nach Ost – Kulturregionen im Vorstellungsgespräch »Beware of false knowledge; it is more dangerous than ignorance.« George Bernard Shaw

Somit haben wir die Säulen unseres Orientierungssystems für die internationale Personalauswahl errichtet. Mehr braucht es eigentlich nicht. Mit diesem Wissen um die fundamentalen Unterschiede im Bewerberverhalten und wie sie unser Auswahlurteil beeinflussen, haben wir bereits ein ausreichendes Rüstzeug für jedes internationale Vorstellungsgespräch erlangt. Gleichwohl fehlt noch das Dach, oder besser die Abrundung unseres Orientierungssystems. Denn durch die Fokussierung des Buches auf die beiden Säulen des Selbstkonzeptes und der Denkstile haben wir natürlich viele kleinere kulturelle Unterschiede übergangen, wie sie im Gespräch mit internationalen Kandidatinnen und Kandidaten noch auftreten können. Dieses Kapitel versteht sich entsprechend als Ergänzung, um Ihnen als Leserin und Leser für alle Kulturregionen dieser Welt noch eine Vorbereitung auf Ihre Vorstellungsgespräche auf den Weg zu geben. Wie auch die Kapitel zuvor sind auch diese Beschreibungen als Kulturstandards zu verstehen, die ihnen das Verständnis für den möglichen kulturellen Hintergrund eines zunächst sonderbar erscheinenden Kandidatenverhaltens erleichtern sollen. Es sind Werkzeuge, die im Umgang mit Vielfalt weiterhelfen können, aber nicht zwingend passen müssen. Vereinigte Staaten

Schauen wir auf die Kulturstandards der USA im Vorstellungsgespräch, dann fallen neben vielen Gemeinsamkeiten zu Deutschland vier Unterschiede vor allem ins Gewicht: a) Schneller, lockerer Beziehungsaufbau; b) Teamorientierung, Fairness und Gleichheitsfiktion; c) Chancen-, Handlungs- und Zukunftsorientierung; d) Leistungsorientierung und Selbstbewusstsein (»Assertiveness«). Vor dem Hintergrund ihrer Pionier- und Einwanderergeschichte ist ein freundliches, scheinbar gleichberechtigtes, kollegiales und lockeres Miteinander in den USA wichtig. Den starren Strukturen und sozialen Schichtungen Europas und allen anderen Teilen der Welt entkommen, pflegt man ein Selbstbild der Freiheit und Beziehungsgleichheit, um sich so zu begegnen, wie man ist, d. h. ein einfacher Mensch mit Namen Paul, Michael, Lisa oder Emily. Man hilft sich gegenseitig und begegnet sich neugierig, sozial und entspannt. In der Fiktion sind alle freiwillig in dieses Land gekommen, um es gemeinsam bewohnbar zu

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machen, und alle sitzen nun gleichberechtigt in einem Boot. Nestbeschmutzen ist darum verpönt. Alle haben in diesem Geist die gleichen Chancen und sind ihres eigenen Glückes Schmied. Agiert wird entsprechend von der Zukunft her, das, was man erreichen möchte, zählt. Der Appell an gemeinsame Erfolge, Ziele, Visionen und Missionen ersetzt die offene Anordnung. Unterscheidungen aufgrund formaler oder äußerlicher Kriterien und dadurch zugeschriebener Status sind suspekt, allein durch Leistung und Persönlichkeit findet man seinen Platz und kommt nach vorne. Der uramerikanische Traum vom Tellerwäscher zum Millionär hat nach wie vor eine hohe Anziehungskraft. Selbstbewusst auf die eigenen messbaren Erfolge zu verweisen und seine Position durchzusetzen, ist darum nicht arrogant oder rücksichtslos, sondern Teil des sozialen Miteinanders. US-amerikanische Kandidatinnen präsentieren sich darum in der Regel entspannt und freundlich, sie reden viel, sie geben sich sicher und selbstbewusst, sie denken chancenorientiert und sie gehen Konflikten oder schwierigen Themen gerne aus dem Weg. Damit lösen sie bei deutschen Beobachtern oft die Bewertung aus, sie seien oberflächlich, unreflektiert und arrogant, zuweilen auch ausweichend, undurchsichtig und konfliktscheu. Gleichzeitig wirken sie auf deutsche Interviewende meist dynamisch, optimistisch, pro-aktiv, energiegeladen, teamorientiert und extrovertiert. Auf biografische Fragen sind sie meist gut vorbereitet und haben schnell überzeugende Beispiele parat. Umso wichtiger ist es, durch Fachfragen, Szenarien oder durch enges und ego-involvierendes Nachfragen (»Gab es denn auch Teammitglieder, die mit ihrem Führungsstil nicht so gut klarkamen? Woran haben Sie das gemerkt und wie haben Sie reagiert?«) die Hülle der positiven Selbstdarstellung zu durchdringen. Lateinamerika und Südeuropa

Betrachtet man die Überblicksdarstellungen in Kapitel 3.1, findet man die Kulturen Lateinamerikas und Südeuropas nahe der Ebenen »beziehungsorientiert«, »kurzfristig« und »flexibel in der Regelinterpretation« (Bannys, 2012, S. 129) sowie nahe dem Multi-Aktiven Typus (Lewis, 2000). Letzterer zeichnet sich aus durch eine ausholende, expressive Kommunikation, einen emotionalen und nahen Beziehungsaufbau sowie polychrone (gleichzeitige), intuitive Handlungsmuster. Zwar sehen wir hier innerhalb des Kulturraums große Unterschiede zwischen Ländern bzw. Regionen wie Frankreich, Portugal oder Norditalien auf der einen Seite, Brasilien, Mexiko oder Süditalien auf der anderen. Aber wenn wir verallgemeinern, was Kandidaten aus Lateinamerika oder Südeuropa von jenen aus Deutschland kulturell unterscheidet, dann zeichnen die Kategorisierungen von Bannys und Lewis ein hilfreiches Bild. Bewerber aus diesen Kulturräumen reden

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schneller, expressiver und unterbrechen sich mehr als angelsächsische, wie auch die beiden Grafiken von Trompenaars und Hamden-Turner in Abbildung 18 zeigen:

Abbildung 18: Gesprächsrhythmus und Tonhöhe in unterschiedlichen Kulturregionen. Quelle: Trompenaars u. Hamden-Turner, 1997, S. 75

Sie agieren flexibler und weniger planvoll, sie lassen weniger körperlichen Abstand und sie bevorzugen pragmatische und individuelle Lösungen. Herausforderungen gehen sie eher auf der Beziehungsebene an, ein persönliches Gespräch empfinden sie als wirkungsvoller als eine E-Mail oder ein Vereinbarungsprotokoll. Sie achten in der Regel stark auf die äußere Form. Präsentationen sind geschmückt und lebhaft, ihr Aufbau folgt oft eher der Wichtigkeit als einem deduktiv-analytischen Prinzip. Deutsche Interviewende bewerten diese kulturellen Präferenzen oft als lebhaft, schnell, kreativ, flexibel und aktiv. Auf der anderen Seite wird das gleiche Verhalten, wenn das Gespräch weniger positiv verläuft, als unstrukturiert, unberechenbar, unzuverlässig, planlos, eigenwillig, aufdringlich, eitel oder substanzlos abgewertet. Bewerber aus diesem Kulturraum treffen bei den deutschen Beobachtern mit deren Wunsch nach Klarheit, linearer Struktur, Sachorientierung und Gründlichkeit oft auf Unverständnis und Ungeduld. Hilfreich im Interview mit solchen Bewerbern ist es darum, einerseits selbst auch auf der Beziehungsebene erreichbar zu sein und eine menschliche, positiv-emotionale Atmosphäre zu kreieren. Andererseits ist es wichtig, seine Gesprächsziele präzise zu verfolgen, klare Fragen zu stellen und auch einmal zu unterbrechen, wenn die Antwort zu ausschweifend ausfällt. Auch hier empfiehlt es sich, durch Fachfragen, Szenarien oder durch enges und ego-involvierendes Nachfragen ein konkretes Verhaltensrepertoire sichtbar zu machen und sich nicht mit Allgemeinplätzen zufriedenzugeben. Afrika

Betrachtet man die Kulturstandards für das sogenannte »Sub-Sahara-Afrika« nach den Werten der GLOBE-Studie (s. Abbildung 19), dann sehen wir einen größeren Gruppen-Kollektivismus, eine stärkere Hierarchieorientierung und

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Teil 3: Kulturelle Unterschiede im Bewerbungsgespräch

eine größere Human-Orientierung (Fairness, Altruismus, Großzügigkeit) in Afrika, dagegen eine stärkere Leistungsorientierung, Zukunftsorientierung, Unsicherheitsvermeidung (Regelorientierung) und Geschlechtergleichheit im angloamerikanischen Kulturraum. Die Unterschiede sind aber kleiner, als z. B. gegenüber dem arabischen Raum oder Asien. Lewis ordnet die Kulturregion Afrika darüber hinaus eher dem Multi-Aktiven Typus zu, was mit einer größeren Emotionalität, Expressivität und Musikalität als beim Linear-Aktiven Typus einhergeht.

Abbildung 19: Kulturstandards Sub-Sahara-Afrika im Vergleich zum angloamaerikanischen Raum (am Durchschnitt normalisierte Werte gemäß der GLOBE-Studie). Quelle: eigene Darstellung nach House et al., 2004, S. 742 ff.

Schaut man die Kulturstandards einzelner afrikanischer Länder (Mayer u. Boness, 2003) etwas genauer an, dann präzisieren sich einige dieser Unterschiede. Hierzu gehört ein nach dem Zulu-Wort »Ubuntu« benanntes Gruppenkonzept, das so viel heißt wie »Ich bin, weil du bist« und damit ein stark interdependentes Gemeinschaftsverständnis ausdrückt. Aber auch Modelle der konsensualen Entscheidungsfindung (Indaba), ein spirituelles Weltbild sowie ein stark am Hier und Jetzt orientiertes Zeitkonzept (der Wert einer Angelegenheit bemisst sich an der Zeit, die man ihr einräumt) drücken feine Unterschiede zu westlichen Kulturräumen aus, die sich mit den Methoden der GLOBE-Studie nicht erfassen ließen. In einer Interviewsequenz mit einem Kandidaten aus Nigeria, welche ebenfalls im Rahmen unserer simulierten Vorstellungsgespräche aufgenommen wurde, nannte der Kandidat auf die Frage nach seinem Führungsansatz in schwierigen Situationen, »miteinander auch außerhalb des Arbeitskontextes zu reden, als Brüder und Schwestern«. Eine in dieser Form beziehungs- und

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gemeinschaftsorientierte Antwort hätte ein deutscher oder US-amerikanischer Kandidat sicher nicht gegeben. Es bleibt dennoch ein etwas unklares Bild, mit welchen kulturellen Prägungen bei afrikanischen Bewerbenden wohl zu rechnen ist und was diese dann bei deutschen Interviewenden auslösen. Eventuell treffen wir auf stark westlichkompatible Muster, eventuell aber auch auf ein eher multi-aktiv ausgeprägtes Verhalten. Unter Umständen erleben wir auch stark interdependent und konsensual geprägte Kandidaten, oder vielleicht zeigen sich unsere Gesprächspartner auch spirituell und in ihrem Zeitempfinden sehr entspannt im Hier und Jetzt. Die Fähigkeit, im Interview herauszufinden, welche kulturellen Prägungen die Kandidaten eigentlich leiten, spielt hier eine besondere Rolle. Naher Osten

Lewis ordnet die arabischen Staaten kulturell auf halber Strecke zwischen dem Multi-Aktiven- und dem Reaktiven-Pol ein, was sich mit dem deckt, was die GLOBE-Studie oder einzelne Kulturstudien (z. B. Kratochwil, 2006; Ehlail, 2013) belegen. Arabische Kulturen zeichnen sich auf der einen Seite aus durch eine ausgeprägte Expressivität in Sprache, Gestik und Stimme, eine starke Beziehungsorientierung sowie spontane, emotionale, regelrelativierende und kurzfristige Handlungsmuster. Auf der anderen Seite sind sie geprägt von einer stark interdependenten, gruppen-kollektivistischen Grundhaltung (vor allem an der Familie ausgerichtet), einer hohen Hierarchie- und Statusorientierung, sowie von einer (auch religiös begründeten) detaillierten Festlegung gesellschaftlicher Rollen und Pflichten. Sie trennen zudem in der Rollenzuschreibung stark zwischen den Geschlechtern, wobei gerade in dieser Hinsicht auch eine große Bandbreite an Interpretationen und Spielarten existiert. Im Ergebnis erleben deutsche Interviewende Kandidaten aus dem arabischen Kulturraum oft als engagiert, energiegeladen, zielstrebig, flexibel und clever. Die gleichen kulturellen Prägungen können aber auch als aufdringlich, aggressiv, ausweichend, geschwätzig, trickreich, unterwürfig oder übertrieben erlebt werden. Was deutschen Beobachtern – so auch in unseren Interviewsequenzen mit dem Kandidaten aus Syrien  – dabei schwerfällt, ist, dass Kandidaten aus arabischen Ländern oft in keine Schublade zu passen scheinen. Da sie gleichzeitig sehr lebhaft und expressiv agieren und andererseits sehr kollektiv geprägt sind, wirken sie auf Deutsche dann unter Umständen gleichzeitig stolz und anpassungsbereit, selbstbewusst und unsicher, resolut und unentschieden, formal und locker, zielstrebig und planlos. Die nach einem klaren Bild strebenden deutschen Auswählenden fühlen sich durch diese Variabilität im Verhalten oft verunsichert.

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Teil 3: Kulturelle Unterschiede im Bewerbungsgespräch

Auch mit arabischen Bewerbern ist es entsprechend wichtig, auf der Grundlage der im 2. Teil des Buches herausgearbeiteten Erkenntnisse und Methoden im Interview erst herauszufinden, welche Kulturstandards für die Bewertung der Antworten gerade eine Rolle spielen. Russland und Osteuropa

Russen und die meisten Osteuropäer gehören, wie die Deutschen auch, zu den sogenannten »Schalenvölkern«. Sie lassen nicht so schnell einen Fremden an sich heran und brauchen eine gewisse Zeit, bis sie menschlich auftauen. Hinzu kommt, dass in Osteuropa Professionalität zumeist mit Ernsthaftigkeit gleichgesetzt wird, sodass zu Beginn einer professionellen Begegnung oft nur sparsam dosierte Emotionen oder Freundlichkeiten gezeigt werden. Deutsche Beobachter bewerten dies dann schnell als abweisend, uninspiriert, unmotiviert oder auch als undurchsichtig. Wechseln Osteuropäer von der Sach- auf die Beziehungsebene, dann ist das Eis wohl gebrochen bzw. die Schale geknackt. Sie können sich dann auch im beruflichen Kontext herzlicher, näher, emotionaler, impulsiver und spontaner zeigen, als es in einer kulturell deutsch geprägten Arbeitsumgebung üblich ist. Zeitlich bewegen sie sich im Hier und Jetzt: Das, was sie jetzt gerade tun und erreichen wollen, bestimmt ihre Agenda. Entsprechend planen sie wenig und strukturieren ihre Aufgaben – und Antworten – eher intuitiv und beziehungsgeleitet. Dabei verbindet Osteuropäer überwiegend eine Abneigung gegenüber formalen Autoritäten, ein Misstrauen gegenüber Regeln sowie ein großer Respekt vor Macht und Hierarchie. Auch dem Bewerbungsgespräch begegnen sie darum oft zunächst etwas skeptisch und geben sich Mühe, möglichst souverän zu wirken. Russland und Osteuropa sind gruppen-kollektivistischer ausgerichtet als Westeuropa, d. h., man findet auch hier viele der in Kapitel 3.2 und 3.3 beschriebenen Aspekte wie Inkonsistenz, Konformismus, Indirektheit, Zurückhaltung sowie eine weniger lineare Denkstruktur. Gleichzeitig ist der Kulturraum eher hierarchisch und personalistisch geprägt, sodass der Macher mehr gilt als der Denker. Schnelle Entscheidungen suggerieren in dieser Logik mehr Macht und Souveränität als Nachfragen und sorgfältige Analyse. Auf deutsche Beobachter macht dieses Verhalten oft einen widersprüchlichen, unreflektierten, aufgesetzten und unstrukturierten Eindruck. Im Bewerbungsgespräch mit Kandidaten aus Russland und Osteuropa ist es darum wichtig, auch eine persönliche Gesprächsebene zu erreichen, auf der sie sich als Menschen hinter ihrer professionellen Fassade zeigen können.

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Süd- und Ostasien

Die Länder Ost- und etwas abgeschwächt Südasiens belegen bei Lewis kulturell den reaktiven Pol, der sich auszeichnet durch eine ruhige und abwägende Kommunikation, vorsichtige und harmonieorientierte Beziehungsgestaltung sowie eine kontrollierte, hierarchisch und langfristig ausgerichtete Handlungsweise. Durch ihr stark interdependentes Selbstkonzept sowie ihre eher induktiven, ganzheitlichen und dialektischen Denkmuster vertreten sie im Vorstellungsgespräch einen zu Westeuropa und den USA gegensätzlichen Typus. Von deutschen Interviewenden werden Kandidaten aus Süd- und Ostasien oft als bedächtig, vorsichtig, schüchtern, lernwillig und nachdenklich eingeschätzt. Zuweilen lösen sie aber auch den Eindruck der Wankelmütigkeit, Zaghaftigkeit und Unsicherheit aus. Ihr Denkstil wird im negativen Fall als verworren, ausweichend, unstrukturiert, langatmig und inkompetent abgewertet: Sie kommen eigentlich nie auf den Punkt. Für die Interviewführung heißt dies, eine freundliche, wertschätzende und ruhige Gesprächsatmosphäre herzustellen, großzügig mit Komplimenten und ermutigendem Zwischenfeedback umzugehen, weit gefasste und abstrakte biografische Fragen nach Möglichkeit zu vermeiden, sich von dem seltsamen Aufbau einer Argumentation oder ungewöhnlichen Pausen nicht aus der Ruhe bringen zu lassen, trotzdem gut zuzuhören und die Kandidaten nicht in die Enge zu treiben. Fachfragen, Simulationen oder Arbeitsproben bringen bei Bewerbern aus Süd- und Ostasien aufgrund der großen kulturellen Unterschiede oftmals relevantere Ergebnisse als ein kompetenzbasiertes Interview. Entscheidend bleibt, welches Bild wir uns machen

Werden sich nun die Kandidatinnen und Kandidaten aus diesen Ländern wirklich so verhalten, wie es hier beschrieben wurde? Vielleicht ja, vielleicht aber auch nicht. Kulturstandards sind keine geeigneten Instrumente, um ein bestimmtes Verhalten vorherzusagen. Zu unterschiedlich sind die Persönlichkeiten der Bewerber und zu vielfältig ihre sonstigen kulturellen Prägungen aufgrund von Alter, Geschlecht, Beruf, regionaler Herkunft oder internationaler Erfahrung. Gerade in Ländern mit einer schnellen wirtschaftlichen oder politischen Entwicklung können sich die oberflächlich erkennbaren Verhaltensweisen schnell ändern. Nicht zuletzt haben die situativen, systemischen Dynamiken im Interview einen erheblichen Einfluss auf den Ablauf des Gesprächs. Dennoch gibt uns das Wissen um die kulturellen Hintergründe der einzelnen Länder und Regionen ein größeres Repertoire an Deutungsmustern. Es weitet unsere Perspektive und schützt uns so vor voreiligen Schlüssen. Die obigen Kurzbeschreibungen der verschiedenen Kulturräume im Vorstellungsgespräch

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Teil 3: Kulturelle Unterschiede im Bewerbungsgespräch

zeigen dabei einmal mehr, wie sehr unser Urteil von unseren eigenen kulturell geprägten Bewertungsmaßstäben abhängt. Amerikaner sind nicht extrovertierter oder oberflächlicher, Chinesinnen nicht vorsichtiger oder schüchterner und Deutsche nicht zuverlässiger oder unflexibler als Menschen anderer Kulturen. Sie zeigen nur kulturell bedingt andere Schwerpunkte in ihrem Verhalten. Das jeweilige Bild dazu entsteht in den Köpfen ihrer Beobachter.

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Leitsätze für die internationale Personalauswahl

3.5 Leitsätze für die internationale Personalauswahl »So from an actor’s perspective, you really have no idea how you are acting.« Ice-T

Wie wirken nun die Mechanismen unserer Urteilsbildung und kulturelle Prägungen in der Personalauswahl zusammen? Betrachten wir zur Zusammenfassung des bisher Geschriebenen noch einmal eine internationale Interviewsequenz, um daraus im Anschluss einige Leitsätze für die internationale Personalauswahl zu entwickeln. Er (aus Deutschland):  Nun eine andere Frage. Wie motivieren Sie sich selbst? Sie (aus Indonesien): Ja (lächelt), bevor ich andere motivieren kann, muss ich mich erst einmal selbst motivieren. Er: Genau (lächelt auch). Sie: Ja (Pause), darum muss ich (kleine Pause) – ich singe gerne! Wenn es mir schlecht geht, dann muss ich singen, ja (lacht). Er: Und (lächelt, kleine Pause) wo singen Sie, zu Hause oder im Büro? (lacht) Sie:  Meine Kollegen wissen das (zeigt auf einen anwesenden Kollegen im Raum und lacht auch).

Bitte nehmen Sie sich nun etwas Zeit und prüfen sich kurz selbst. Spüren Sie direkt in Ihren Bauch und fragen sich, wie Ihnen die Antwort gefallen hat. Ist Ihnen die Kandidatin sympathisch? Haben Sie sich gefreut über die Antwort? Oder fanden Sie sie albern? Welches Bild haben Sie sich nun von ihr gemacht, was für einen Menschen vermuten Sie hinter der Kandidatin? Wenn es Ihnen so ging wie mir, dann hat Ihnen die Antwort gefallen. Das war doch mal etwas erfrischend anderes. Ein Mensch, der fröhlich durch das Leben geht, schnell Beziehungen aufbaut und andere mit seiner Zugewandtheit, Emotionalität, Lebensfreude und Begeisterungsfähigkeit motivieren kann. Ich stellte mir eine Kandidatin vor, die für ein gutes Teamklima wichtig ist, die eigene Ideen einbringt, kreativ ist, Menschen begeistern kann, eine aktive Person voller Tatendrang. Aber vielleicht ging es Ihnen auch ganz anders, und Sie fanden die Antwort zwar nett, aber auch ein wenig seicht, infantil und unernst. Vielleicht hatten Sie sich eine analytischere Auseinandersetzung mit der Frage gewünscht und sind unzufrieden, dass Sie über die Motivationsstruktur und die Selbstmanagementkompetenzen der Kandidatin noch gar nichts erfahren haben. Vielleicht haben Sie

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Teil 3: Kulturelle Unterschiede im Bewerbungsgespräch

sich auch wirklich vorgestellt, wie die Kollegin singend durchs Büro trällert und alle schnell – oh mein Gott, da singt sie wieder – in ihren Büros verschwinden? Unter Umständen haben Sie auch den indonesischen Hintergrund der Bewerberin berücksichtigt und Sie dachten sich entweder, dass Ihnen so ein Gesang im Büro dann doch »zu indonesisch« wäre. Oder sie freuten sich über den potenziell bereichernden fremdkulturellen Einfluss und dachten, dass etwas mehr Vielfalt und ein emotionalerer Ansatz Ihren Kolleginnen und Kollegen sicher auch guttun würden. Was auch immer für Bilder, Eindrücke und Bewertungen in Ihnen entstanden sind: Es sind Ihre Bilder ganz allein und sie haben mit der Kandidatin fast nichts zu tun. Der diagnostische Gehalt dieser Interviewsequenz ist nahe Null. Außer dass in Ihnen nun einmal solche Eindrücke entstanden sind und dass diese Eindrücke darum bei anderen Personen vielleicht auch entstanden wären, haben Sie noch nichts über die Kandidatin erfahren, was Ihnen helfen könnte, ihre im Beruf relevanten Eigenschaften und Kompetenzen zu erfassen. Alle Bilder und Gefühle, die bei Ihnen zu der Kandidatin entstanden sind, sind ausschließlich Reflexionen ihrer eigenen persönlichen, situativen und kulturellen Einstellungen in dem Moment. Wenn Sie kulturell anders geprägt wären, wenn Sie persönlich anders strukturiert wären, wenn Sie früher einmal andere Erfahrungen gemacht hätten und wenn Sie das Gespräch zusammen mit einem anderen Kollegen oder zu einer anderen Uhrzeit geführt hätten, dann wären Ihre Eindrücke und Bewertungen jetzt vielleicht ganz andere. Auf der Basis dieser kurzen interkulturellen Interviewsequenz und der Bilder, die sie in Ihnen auslöste, lassen sich aus den bisherigen drei Teilen dieses Buches zehn Kernsätze zur internationalen Personalauswahl ableiten: I. Wir glauben, was wir fühlen. Die maßgebliche Steuerungsgröße in der Personalauswahl, das Bauchgefühl (bei Kahneman: das System 1), präjudiziert unsere Auswahlentscheidung, die wir im Anschluss mit rationalen Argumenten zu belegen suchen. Der Einfluss der intuitiv generierten und unbewusst in unser Entscheidungssystem einwirkenden Haltungen und Gefühle ist um ein Vielfaches größer, als wir uns gemeinhin eingestehen. Dabei basiert unser Bauchgefühl auf unserer ganz persönlichen Erfahrungswelt, die unser Gehirn emotional markiert. Was wir dabei vergessen ist, dass wir unsere Erfahrungen in einem spezifischen, persönlichen und kulturellen Kontext machen, der umso weniger passt, je mehr der kulturelle Kontext der Kandidaten ein anderer ist. II. Wir wissen nicht, was wir nicht wissen. Unser Urteil ist einer Vielzahl von kognitiven Verzerrungen ausgesetzt. Anker- und Bahnungseffekte kanalisieren

Leitsätze für die internationale Personalauswahl

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unsere Aufmerksamkeit und unsere Urteilsspanne auf teilweise vollkommen irrationale Weise. Von Moment zu Moment können wir so die gleiche Situation vollkommen unterschiedlich bewerten. Unser Bedürfnis nach kognitiver Leichtigkeit lässt uns immer die Lösungen vorziehen, die wir bereits kennen. Ist uns eine Frage oder Situation zu komplex, ersetzen wir sie unbewusst mit einer leichteren, ohne es zu merken. Fokussierungsillusionen führen dazu, dass wir immer genau das Thema oder die Eigenschaft für besonders wichtig halten, mit der wir uns gerade beschäftigen. Und wir halten nach dem Gesetz des WYSIATI (»What you see is all there is«) unsere Einschätzung fast immer für stichhaltig, egal wie klein der Ausschnitt des Gesamtbildes ist, den wir erst kennengelernt haben. Stellt sich eine Entscheidung im Nachhinein als falsch heraus, verändern wir dank des Rückschaufehlers unsere Erinnerung und gehen davon aus, dass wir genau diese Entwicklung kommen gesehen haben. Da unsere Intuition so schnell und reibungslos arbeitet, merken wir nicht, wie sehr wir im Vorstellungsgespräch nach einem Gefühl der Stimmigkeit suchen – welches sich umso schwerer einstellt, je weniger die Bewerber so sind wie wir. III. Wir sehen die Kandidaten, wie wir sind. Unsere Bewertung der Bewerber beruht auf Maßstäben und mentalen Modellen, die wir aufgrund unserer persönlichen und beruflichen Erfahrungen sowie unserer kulturellen Prägung über die Jahre entwickelt haben. Auch wenn wir noch so sehr versuchen, die Kandidaten objektiv zu sehen; wir können sie doch nur durch die Brille und aus der Perspektive sehen, durch die wir sie eben sehen. Eine andere steht uns nicht zur Verfügung. Wir mögen ein ruhiges, nachdenkliches und bescheidenes Auftreten angenehm finden, ein anderer findet das gleiche Verhalten ausweichend und konfliktscheu. Wir finden ein expressives, emotionales und assoziatives Herleiten einer Lösung eventuell oberflächlich und aufgesetzt, eine andere findet es dynamisch, inspirierend und tatkräftig. Für beide Interpretationen liefert die Art des Verhaltens jeweils keine Belege, es handelt sich nur um persönliche Präferenzen und um unterschiedliche kulturelle Codierungen. Über die Kompetenzen, die die Bewerber dann gegebenenfalls später im Beruf zeigen werden, sagt keine der Verhaltensweisen wirklich etwas aus. Die Bilder, welche durch die Kandidatinnen und Kandidaten in uns entstehen, haben also genauso viel mit uns und mit unserer eigenen kulturellen Prägung zu tun wie mit dem, wie die Bewerber sich verhalten.

IV. Wenn wir etwas Neues sehen wollen, müssen wir aktiv danach suchen. Wir nehmen im Vorstellungsgespräch wahr, was zu unseren im Gehirn bereits angelegten neuronalen Schaltungen passt, und wir bewerten es entsprechend.

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Teil 3: Kulturelle Unterschiede im Bewerbungsgespräch

Darum können wir ein kulturell anders geprägtes Verhalten im Vorstellungsgespräch zunächst nicht bewerten, weil wir es gar nicht als solches erkennen, denn es passt zu den in uns angelegten Maßstäben nicht. Wollen wir unsere Aufmerksamkeit auf etwas Neues lenken und dazulernen, müssen wir dies willentlich tun. Wir können unsere inneren Bilder hinterfragen, woher sie kommen, auf welcher Grundlage sie entstanden sind und welche Relevanz sie für die Auswahlentscheidung haben. Und wir können neue Bilder in uns entstehen lassen, indem wir versuchen zu verstehen, wie die Welt aus dem Blickwinkel unseres Gesprächspartners aussieht, anstatt sie sofort aus unserer eigenen Perspektive zu bewerten. Die Suche nach den kulturellen Mustern, an denen unsere Kandidaten ihr Verhalten ausrichten, wird damit zum Bestandteil des Vorstellungsgesprächs, so wie die Suche nach den hinter einem Verhalten sichtbaren Kompetenzen auch. V. Wir lösen selbst aus, was wir messen wollen. Aufgrund der Wechselwirkungen in jedem sozialen System richten wir uns im Vorstellungsgespräch an den Kandidaten aus, genauso wie diese ihr Verhalten an uns ausrichten. Ob wir es wollen oder nicht, wir stimulieren bei unserem Gegenüber unbewusst bestimmte Seiten und Verhaltensweisen und beeinflussen so das Verhalten, das wir messen wollen. So lernen wir immer nur einen Ausschnitt aus dem Verhaltensrepertoire der Kandidaten kennen und tendieren dazu, diesen für ihre Persönlichkeit zu halten. Haben wir auf dieser Basis dann erst einmal einen Eindruck gewonnen, kommen wir auch aufgrund der systemischen Kreisläufe aus dieser Bewertung kaum noch heraus. Senden und empfangen wir kulturell nicht auf einer Wellenlänge, verlieren wir dabei die Selbstverständlichkeit unserer Kommunikation. Wir verunsichern uns gegenseitig und sagen den Kandidaten ab. VI. Wie wir fragen, so wird uns geantwortet. Alle Bewerber bemühen sich, eine Frage so gut und vollständig wie möglich zu beantworten, wobei sie sich gleichzeitig in einem möglichst positiven Licht darstellen wollen. Doch die vermuteten Ziele im Bewerbungsgespräch, die Denkstile und die Strukturen unserer Erinnerung sind kulturell unterschiedlich geprägt. Je weiter und abstrakter die Fragen sind, die wir stellen, desto größer ist in der internationalen Personalauswahl die Gefahr, dass unsere Bewerber ihre Zielsetzung nicht richtig verstehen oder dass ihr biografisches Gedächtnis kein passendes Beispiel findet. VII. Wir zeigen uns anders. In einem westlichen, individualistischen Kontext zeigen die Kandidaten ihre Persönlichkeit durch eine selbstbewusste Benennung der eigenen Stärken und Kompetenzen sowie ein aktives, explizites und extrovertiertes Kommunikationsverhalten. In einem östlichen, interdependenten

Leitsätze für die internationale Personalauswahl

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Kontext beweisen die Kandidaten ihre Integrationsfähigkeit, indem sie sich als Individuum zurücknehmen, Fehler vermeiden, ihre Meinungen unklar lassen oder anpassen und Konflikte vorsichtig und indirekt angehen. Wir bewerten dadurch ein Verhalten, das den interdependent geprägten Kandidaten reif, integer und anpassungsbereit erscheint, im Westen als schüchtern, ausweichend oder durchsetzungsschwach. VIII. Wir denken anders. In einem westlichen Denkstil suchen wir eine Aussage zu Beginn, aus der sich analytisch sauber die einzelnen Argumente und Belege ergeben. Wichtig ist, dass die Bewerber klar sind und auf den Punkt kommen. In einer östlichen Logik gibt es aber keine Klarheit und keinen Punkt. Alles hängt mit allem zusammen, nichts ist wahr ohne sein Gegenteil, und zunächst werden die Argumente dargelegt, eventuell folgt dann auch eine Aussage am Schluss. Vor dem Hintergrund unserer gegensätzlichen Denkmuster erscheinen uns Kandidaten aus interdependenten Kulturkreisen zuweilen unstrukturiert, vage, unlogisch und dumm – dabei folgen sie nur einer anderen Logik als wir.

IX. Anders ist schlechter. Wir wären natürlich gerne offen für Vielfalt, aber niemand kann das wirklich von sich behaupten. Unbewusst ablaufende kogni­ tionspsychologische, neurologische, interkulturelle und systemische Prozesse haben die zwingende Folge, dass wir das bevorzugen, was wir kennen und womit wir uns vertraut fühlen. Wir wählen darum lieber diejenigen aus, die uns ähnlich sind. Natürlich halten wir dabei unsere Personalauswahl in jedem Fall für gut. Das liegt in der neurologischen und kognitionspsychologischen Natur der Sache. Wir finden unsere Entscheidung schon allein deswegen gut, weil es unsere Entscheidung ist. Ob sie aber wirklich gut im Sinne von valide war und ob eine andere Entscheidung eventuell noch besser gewesen wäre, das ist damit nicht gesagt. Solange wir also nicht die Anstrengung unternehmen, die unbewusst angenommene Überlegenheit unserer eigenen persönlichen und kulturellen Präferenzen im Vorstellungsgespräch zu hinterfragen, solange werden wir weiterhin nur die auswählen, die am ehesten so sind wie wir. X. Wir können es besser. Wir können den in den ersten neun Leitsätzen formulierten Automatismen nur begrenzt dadurch begegnen, dass wir uns im Vorfeld über die kulturellen Prägungen unserer Bewerber informieren. Denn erstens werden wir die kulturelle Perspektive unserer Kandidaten trotzdem nie so gut kennen wie diese selbst, d. h., unser Bild bleibt immer verfälscht. Zweitens können wir ja erst im Vorstellungsgespräch herausfinden, wie sehr die Auszuwählenden den Kulturstandards ihrer Heimatkultur überhaupt entsprechen.

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Teil 3: Kulturelle Unterschiede im Bewerbungsgespräch

Und drittens bedeutet das Wissen um die vermutliche kulturelle Prägung der Bewerber noch nicht, dass wir auch bereit sind, unser eigenes Verhalten zu verändern. Es braucht a) eine Haltung der Neugier und Offenheit, b) die Bereitschaft zur Selbstreflexion, c) ein bisschen Mut, einmal etwas Neues auszuprobieren, d) etwas Kulturwissen sowie e) einige konkrete Empfehlungen für die Anpassung unserer Auswahlinstrumente; dann ist es nicht schwer, die Richtigen zu erkennen, auch wenn sie anders sind als wir. Die Aspekte a), b) und c) dürfen wir dabei bei Ihnen, liebe Leserin und lieber Leser, wohl voraussetzen. Sonst würden Sie sich nicht die Mühe machen, dieses Buch zu lesen. Zu d) sollte Ihnen das bisher Dargelegte eine gewisse Grundlage verschafft haben. Und auch zu e) wurden in den einzelnen Kapiteln bis hierhin bereits einige Beispiele und Empfehlungen entwickelt, was wir in der internationalen Personalauswahl konkret anders machen können. Es fehlt aber noch ein strukturierter Transfer, wie die gewonnenen Erkenntnisse in den einzelnen Instrumenten der Personalauswahl umgesetzt werden können. Dies leistet nun der abschließende 4. Teil. Dieser ist dabei wie folgt strukturiert: Kapitel 4.1 beschäftigt sich mit der Frage, wen Sie eigentlich suchen, also wie Sie Ihre Anforderungsprofile, Kompetenzmodelle und Interviewleitfäden in der internationalen Personalauswahl ausgestalten. Kapitel 4.2 entwickelt Empfehlungen und Leitfäden, wie Sie suchen, also wie Sie konkret Ihre Vorstellungsgespräche, Assessment-Center und Persönlichkeitstests auf die Erfordernisse Ihrer internationalen Vakanzen abstimmen. Kapitel 4.3 beschäftigt sich mit zwei flankierenden Instrumenten, die Sie nicht außer Acht lassen sollten, um Ihren internationalen Rekrutierungserfolg sicherzustellen: Interkulturelle Interviewtrainings zur Vorbereitung der Auswahlprozesse sowie Onboarding- und Integrationsprogramme im Anschluss an die Rekrutierung. Kapitel 4.4 schließlich rundet dieses Buch ab mit einem Ausblick, was eine interkulturell geschulte Personalauswahl für Ihr Unternehmen leisten kann, auch über die eigentliche Personalgewinnung hinaus.

Teil 4: Instrumente für die internationale Personalauswahl

4.1 Wen wir suchen – Anforderungsprofile, Kompetenzmodelle und Interviewleitfäden in der internationalen Personalauswahl »But my question is, am I compromising by adapting my words for the audience, and where is the line beyond which I am changing my position?« Joichi Ito

Stellen wir uns als Grundlage für den Praxisteil dieses Buches folgende zwei Szenarien vor: Szenario 1: Ihr Unternehmen, 800 Mitarbeiter, Entwickler und Produzent von Hochtechnologie-Komponenten in der Medizintechnik, hat eine kleine Produktion in Malaysia. Hierfür suchen Sie einen neuen Werksleiter, der gleichzeitig als Geschäftsführer agiert. Vom bisherigen Stelleninhaber musste man sich trennen, obwohl er in seinem Team beliebt war, weil es Qualitätsprobleme gab und die Kommunikation mit dem Stammhaus nicht gut funktionierte. Es sind sieben Bewerber in der engeren Auswahl, alle sieben sind Männer, davon drei aus Malaysia, je einer aus den USA, aus Singapur, aus den Niederlanden und aus Deutschland. Szenario 2: Ihr Unternehmen, 3.000 Mitarbeiter, mittelständisch geprägt, Produzent technisch hochwertiger Baukomponenten, in 16 Ländern mit eigenen Auslandsgesellschaften vertreten, ruft zur Flankierung des Globalisierungsprozesses ein internationales Traineeprogramm ins Leben. Sie stehen nun davor, aus zwanzig Kandidatinnen und Kandidaten aus elf Ländern (aus Asien, Osteuropa, Lateinamerika und Europa) die acht besten Bewerber für Ihr Programm auszuwählen.

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Teil 4: Instrumente für die internationale Personalauswahl

Anforderungsprofile

Inwieweit würden Sie Ihre Anforderungsprofile in diesen beiden Szenarien spezifisch ausgestalten, weil die Kandidaten aus dem Ausland kommen und die Positionen vor Ort angesiedelt bzw., was das Traineeprogramm betrifft, zumindest international ausgerichtet sind? Beginnen wir mit Szenario 1. Über die fachlichen Aspekte des Anforderungsprofils wollen wir nicht reden, diese richten sich nach dem konkreten Profil der Aufgabe und natürlich ein wenig nach Angebot und Nachfrage. Qualifikationen, die Sie am Markt nicht finden, müssen Sie den Kandidaten selbst antrainieren. Aber wie sieht es kulturell aus, wie »deutsch« sollte der Kandidat ticken, wie »malaysisch« muss er sein, damit er auf der Stelle bestehen kann? Die Antwort hängt vom Aufgabenbereich, vom Entwicklungspotenzial und von der Arbeitsumgebung der Zielposition ab. Da die Person sich täglich als Führungskraft in einem malaysischen Umfeld bewegen wird und regelmäßig mit dem Stammhaus interagiert, ist dies hier relativ eindeutig. Der designierte Kandidat muss in beiden Umgebungen schnell erfolgreich sein können. Zwar kann man die Kommunikation mit dem deutschen Mutterhaus mit gemeinsamen interkulturellen Trainings, einer Teamentwicklung oder auch einem individuellen Coaching gerade in der Anfangsphase erheblich unterstützen. Da aber der Vorgänger bereits u. a. daran gescheitert ist, dass die Kommunikation mit Deutschland nicht funktionierte, muss der Maßstab an diesem Punkt relativ hoch sein. Je größer die interkulturellen Kompetenzen der Bewerber sind, also die Fähigkeit, kulturelle Unterschiede kommunikativ zu überbrücken, desto eher und desto flexibler werden sie in beiden Umgebungen funktionieren. Zu den fachlichen Aspekten der Zielposition kommt somit hinzu, dass die Bewerber sich sowohl in eine lokale malaysische Unternehmensumgebung als auch in eine deutsche Stammhauskultur gut einfügen können müssen. Dies können sie leisten, indem sie bereits in beiden Kulturen gelebt und/oder gearbeitet haben, sodass sie sozusagen »kulturell zweisprachig« geworden sind. Mehr als die spezifische Kulturerfahrung zählt aber ihre interkulturelle Kompetenz, auch dann erfolgreich zusammenarbeiten zu können, wenn sie sich in einer fremden Kultur oder zwischen zwei fremden Kulturen bewegen. Insofern kommen alle sieben der oben skizzierten Kandidaten grundsätzlich für die Position in Betracht. Über die Diagnostik interkultureller Kompetenz existieren bereits zahlreiche Bücher, die sich mit der Auswahl und Vorbereitung von Expatriates befassen (z. B. Wirth, 1992; Stahl, 1995; Deller, 2000; Bergemann u. Sourisseaux, 2003; Taubert, 2003; Prechtl, 2008). An dieser Stelle soll es darum reichen, Ihnen eine selbst erstellte Arbeitsdefinition mit entsprechenden Verhaltensbeschreibungen zur Verfügung zu stellen:

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Wen wir suchen

• • • •

Interkulturelle Kompetenz bedeutet kulturelle Unterschiede zu verstehen und verstehen zu wollen, sich durch kulturelle Unterschiede nicht aus der Ruhe bringen zu lassen, konstruktiv und lösungsorientiert mit kulturellen Unterschieden umzugehen, Vielfalt als Mehrwert und Ressource zu begreifen.

Interkulturelle Kompetenz besteht entsprechend aus mehreren Teilkompetenzen, die sich gemäß Tabelle 7 im Auswahlprozess operationalisieren lassen. Tabelle 7: Interkulturelle Teilkompetenzen und ihre Operationalisierung Selbstreflexion

macht sich sein/ihr eigenes Verhalten bewusst reflektiert eigenkulturelle Prägungen kennt eigene Stärken und Schwächen

Verhaltensflexibilität

kann sich auf neue Situationen gut einstellen kann Verhaltensweisen spontan der Situation anpassen ist nicht auf bestimmte Reaktionsmuster festgelegt

Polyzentrismus/Vorurteilsfreiheit

ist anderen Kulturen gegenüber wertfrei eingestellt denkt nicht in Stereotypen zeigt sich neugierig, tolerant und offen

Ambiguitätstoleranz

trifft in uneindeutigen Situationen überlegt Entscheidungen lässt sich durch Widersprüche nicht verunsichern hält Unsicherheiten aus

Einfühlungsvermögen

kann sich in andere hineinversetzen erkennt die Bedürfnisse der Beteiligten reagiert situationsadäquat und sensibel

Da diese Kompetenzen allein bereits nicht leicht zu finden sein werden und einige fachliche und methodische Kompetenzen noch hinzukommen, empfiehlt es sich, den Suchkorridor in Bezug auf spezifische technische oder Produktkenntnisse möglichst breit zu halten. Andernfalls sucht man die berühmte »Nadel im Heuhaufen«; und technisches Wissen kann man sich leichter aneignen als kommunikative Kompetenzen. Wie sieht das Anforderungsprofil in Szenario 2 diesbezüglich für die Trainees aus? Hier ist die Frage nach dem kulturellen Aspekt des Anforderungsprofils schwerer zu beantworten, da die designierten Stelleninhaber zunächst in

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Teil 4: Instrumente für die internationale Personalauswahl

wechselnden Aufgabenbereichen und Arbeitsumgebungen eingesetzt werden. Vom Entwicklungspotenzial her sollen sie aber vermutlich alle in der Lage sein, in Zukunft sowohl im deutschen Stammhaus als auch in ihren Heimatländern Führungsaufgaben zu übernehmen. Der Schlüsselaspekt des Anforderungsprofils von Nachwuchsführungskräften ist jedoch das Entwicklungspotenzial. Die Trainees müssen darum zum Start des Programms gerade so gut in einer deutschen Arbeitsumgebung (oder auch an dritten Standorten) kulturell funktionieren können, dass sie mit etwas Unterstützung durch Trainings und gegebenenfalls auch Coachings dort nicht zu viel Porzellan zerschlagen. Es reicht also im Auswahlprozess aus, eine gewisse kulturelle Kompatibilität mit dem Stammhaus erkennen zu können, sie muss aber nicht besonders hoch sein. Auch hier ist es also nicht Teil des Anforderungsprofils, dass die Bewerber kulturell so sind wie wir. Aus einer Organisationsentwicklungsperspektive wäre es sogar schade, wenn sich die Trainees bereits in der Startphase sehr »deutsch« verhielten. Denn das Unternehmen hat dieses Programm ja gerade aufgelegt, um den Globalisierungsprozess zu unterstützen, d. h. um Vielfalt in das Unternehmen zu holen und um als Organisation internationaler zu werden. Aus dieser Perspektive betrachtet, sollten die Kandidaten also so polnisch, chinesisch, indisch oder mexikanisch sein wie möglich oder wie es für die jeweilige Arbeitsumgebung mit einer entsprechenden Unterstützung gerade noch verkraftbar ist. Umso wichtiger ist es also gerade in Szenario 2, dass wir als Auswählende in der Lage sind, auch über kulturelle Unterschiede hinweg die Kompetenzen und Entwicklungspotenziale der Kandidaten zu erkennen und vergleichbar zu machen. Kompetenzmodelle

Nun ist es denkbar, dass die Unternehmen in Szenario 1 und 2 ein allgemeines Kompetenzmodell als Grundlage für ihr Talent-Management, und damit auch für ihre Personalauswahl, entwickelt haben. In dem Fall stellt sich die Frage, ob und wie sie dieses Kompetenzmodell auch in den beiden Szenarien einsetzen. Können sie die gleichen Kompetenzen, die sie in Deutschland oder zumindest in Europa und den USA als Maßstab für die Personalauswahl voraussetzen, auch in Malaysia oder bei Trainees aus der ganzen Welt erwarten? Inwiefern kann ein Kompetenzmodell überhaupt universell gültig, d. h. international und damit interkulturell übertragbar sein? Für diejenigen Leserinnen und Leser, die in den eigenen Unternehmen auch ein Kompetenzmodell eingeführt haben oder dies beabsichtigen, findet sich auf den folgenden Seiten dazu ein kleiner Exkurs zum Thema »Interkulturelle Übertragbarkeit von Kompetenzmodellen«. Diejenigen, welche die beiden Szenarien

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sofort beim nächsten Schritt, d. h. bei der Vorbereitung der Interviewleitfäden fortsetzen möchten, mögen diesen Abschnitt bitte überspringen. Fangen wir etwas grundsätzlicher an. Die Funktion eines Kompetenzmodells ist es, für alle HR-Maßnahmen von der Personalauswahl über Beurteilungssysteme und Potenzialanalysen bis zur Personalentwicklung und Nachfolgeplanung als Wegweiser und Umrahmung zu dienen (so heißt es auf Englisch auch »Competency Framework«). In der Regel werden hierfür verschiedene Kompetenzfelder definiert, die dann z. B. die Bereiche Führung, Strategie, Veränderung, Leistung, Kommunikation, Problemlösung, Business oder Selbstkompetenzen umfassen. Die Auswahl der Kompetenzen folgt dabei den Fragen a) Was hat uns bisher erfolgreich gemacht? (leistungsorientiert), b) Was wird uns in der Zukunft erfolgreich machen? (strategisch) oder c) Was macht uns besonders und was ist uns wichtig in der Welt? (wertebasiert). Diese Unterscheidung ist wichtig, denn die internationale Übertragbarkeit eines Kompetenzmodells steht und fällt mit seiner Zielsetzung, nicht mit seinem Wortlaut. Dabei sollte ein Unternehmen natürlich erwarten, dass alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an allen Standorten gleich schlau und kompetent sind, oder dass sie sich zumindest dorthin entwickeln können. Die kulturelle Prägung sollte also keinen Einfluss auf das avisierte Kompetenzniveau an sich haben. Definieren wir aber, wie Abbildung 20 illustriert, den Kompetenzbegriff als Funktion von Motiven, Willen, Eigenschaften, Werten, Erfahrungen, Fähigkeiten, Fertigkeiten und Wissen, dann wird deutlich, dass die Interpretation einer Kompetenz durchaus starken kulturellen Einflüssen unterliegt. E IG

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Abbildung 20: Kulturelle Einflüsse im Kompetenzbegriff nach Krotoschak. Quelle: eigene Darstellung auf der Grundlage von Krotoschak, 2007, S. 64

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Entsprechend besteht die Gefahr, wenn eine Unternehmenszentrale ein Kompetenzmodell nur in der Zentrale entwickelt und dann in den internationalen Landesgesellschaften einfach »ausrollt« – wie es treffend heißt –, dass das Modell kulturell in den Landesgesellschaften nicht funktioniert. Es kann dann seine strategisch bündelnde und leitende Funktion international nicht erfüllen. Für die Personalauswahl in den beiden obigen Szenarien wäre es dann nutzlos, unter Umständen sogar kontraproduktiv. Vier Ebenen spielen hierbei eine Rolle: 1. Zunächst ist bereits der Kompetenzbegriff an sich kulturell eher in einer westlichen, individualistisch geprägten Welt verankert. Die Vorstellung, ein Mensch habe unabhängig vom Kontext bestimmte unabänderliche Eigenschaften und Kompetenzen, ist in einem ganzheitlichen, interdependenten und dialektischen Denken viel weniger angelegt. Es besteht also die Gefahr, dass schon das Konzept eines Kompetenzmodells in den kollektiver geprägten Standorten nicht verstanden wird und es darum in der Praxis nicht angenommen wird. Umso wichtiger ist es, die Zielsetzung und den Nutzen eines Kompetenzmodells für die tägliche Arbeit als Personalerin und Personaler oder als Führungskraft bereits in der Entwicklungs- und Implementierungsphase deutlich zu machen. 2. Auf der Ebene darunter ist bei der Auswahl der Kompetenzen auf unterschiedliche kulturelle Konnotationen zu achten: Kompetenzen wie »Konfliktfähigkeit«, »Kritikfähigkeit«, »Durchsetzungsstärke«, »Selbstbewusstsein«, »Direktheit«, »Out of the box thinking«, »Entscheidungsstärke« oder »Gradlinigkeit« haben in Deutschland einen guten Klang, aber keineswegs universell. Schon in den Vereinigten Staaten wird z. B. »Kritikfähigkeit« nicht wirklich positiv bewertet, denn dort ist es wichtiger, optimistisch nach vorne zu schauen. Und in einem interdependent und hierarchisch geprägten Land wie Japan wird man »Out of the box thinking« sehr ambivalent betrachten. Gleiches gilt für die Attribute »Direktheit« oder »Gradlinigkeit«, die schon in unseren etwas indirekter kommunizierenden Nachbarländern England oder Frankreich schnell als plump und unhöflich wahrgenommen werden und nicht unbedingt als erstrebenswert. Wählt man Kompetenzen aus, die international keine übereinstimmend positive Bewertung auslösen, wird es nicht gelingen, das Personalmanagement in diesen Ländern danach auszurichten. 3. Auch bei der Operationalisierung spielen kulturspezifische Interpretationen eine wichtige Rolle. In zwei US-amerikanischen Unternehmen wurden z. B. für die Kompetenz »Führung und Initiative« folgende Verhaltensanker entwickelt: • vermeidet und reduziert »Bürokratie«; • strebt nach Kürze, Einfachheit und Klarheit;

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• versteht und nutzt Geschwindigkeit als Wettbewerbsvorteil; • hat einen unstillbaren Hunger nach Erfolgen und Ergebnissen; • entscheidet schnell und ohne Zögern – aber auf der Basis der erforderlichen Fakten; • implementiert getroffene Entscheidungen selbstbewusst und mutig.  us einer US-amerikanischen kulturellen Perspektive kann eine so definierte A Kompetenz überzeugen und motivieren, aber aus einer deutschen Sicht (und erst recht aus einer asiatischen Perspektive) wirkt sie eher befremdlich. Die Zukunft birgt in einer deutschen Betrachtung viele Risiken im Detail, sodass in der Regel ein systematisches und gründliches Vorgehen vorgezogen wird, selbst wenn es auf Kosten des Tempos geht. Die Vermeidung von Unsicherheit durch Regeln, Zuständigkeiten und Prozesse wird in Deutschland grundsätzlich positiv gesehen. Nicht zuletzt ist ein »unstillbarer Hunger nach Erfolgen und Ergebnissen« eine für den deutschen Kulturraum extrem individualistische und auch übertriebene Formulierung, welche dem deutschen Bedürfnis nach Wahrheit und Sachlichkeit nicht entspricht. So mancher Deutsche mag sich also von diesen Formulierungen überfordert oder nicht wahrgenommen fühlen; oder es fällt zumindest schwer, sich damit positiv zu identifizieren. Ein Kompetenzmodell, das nicht überzeugt, entfaltet jedoch keine handlungsleitende Kraft. 4. Zudem bietet auch die Interpretation der Verhaltensbeschreibungen reichlich Raum für kulturell bedingte Missverständnisse. Stellen wir uns folgende Verhaltensbeschreibungen für die Kompetenz »Teamfähigkeit« vor: • fördert den Zusammenhalt des Teams; • schafft ein Klima des Vertrauens und des emotionalen Zusammenhalts; • gibt konstruktives, hilfreiches Feedback; • vermittelt anderen, anerkannt und wichtig zu sein. Ist es bei diesen Verhaltensankern vorgesehen, dass die Chefin eine Mitarbeiterin zu Hause anruft, wenn sie krank ist, und nach dem Wohlergehen fragt? In Indien wäre das ein angemessenes Zeichen von Fürsorge, in Deutschland würde es wohl eher als Misstrauen interpretiert. Beinhaltet Teamfähigkeit sodann, als Chefin die Kollegen nach der Arbeit in eine Pizzeria einzuladen? Und wann, wie und gegenüber wem darf ein Feedback gegeben werden, damit es als konstruktiv und hilfreich empfunden wird? In der Anwendung des Kompetenzmodells ist es daher wichtig, Freiräume zu lassen für kulturspezifisch unterschiedliche Interpretationen derselben Kompetenz. Solange allen Beteiligten das Ziel der Kompetenz klar

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ist, sind diese Freiräume produktiv, eine Standardisierung der Verhaltensweisen ist nicht nötig. Im Gegenteil, ein Austausch über die Art, wie man eine Kompetenz auf vielfältige Art mit Leben füllt, kann eine Organisation bereichern und stärken.   Daraus ergeben sich drei zentrale Anforderungen an die interkulturelle Übertragbarkeit eines Kompetenzmodells: • Während die Ziele des Kompetenzmodells weltweit für das gesamte Unternehmen gelten sollten, ist der Weg dorthin kulturell geprägt. Es ist, um ein Beispiel zu geben, Ansichtssache, ob ein expressiver, ein vorsichtiger oder ein sachlicher Kommunikationsstil als überzeugender und effizienter wahrgenommen wird. Das Ziel der Kompetenz ist es, sich zu verstehen und erfolgreich zusammenzuarbeiten. Das Kompetenzmodell gibt die Richtung und die strategischen Ziele vor, aber nicht den Weg dahin. • Die Auswahl der Kompetenzen und die darauf aufbauende Ableitung der Verhaltensbeschreibungen sollten entsprechend an den Zielen des Kompetenzmodells ausgerichtet sein und möglichst kulturneutral ausfallen. Um dies zu erreichen, ist es empfehlenswert, die Landesgesellschaften gleich in die Entwicklung des Modells einzubinden. • Die Interpretation der Kompetenzen (Wie erkennen wir die Kompetenzen in der Personalauswahl oder in der Leistungsbeurteilung?) sollte dann lokal erfolgen, muss sich aber an den Zielsetzungen des Kompetenzmodells orientieren. Im folgenden Abschnitt werden als Bestandteil der Interviewleitfäden in diesem Sinne sechs übergreifende Kompetenzen kulturneutral operationalisiert und mit exemplarischen Fragen für die Personalauswahl versehen. Interviewleitfäden

In der in Kapitel 1.3 zitierten eigenen Studie zur Praxis der Personalauswahl gaben 95 % der Befragten an, meist einen strukturierten Interviewleitfaden zu benutzen. Dabei setzen ihn aber nur 22 % für alle Kandidaten gleich und standardisiert ein oder halten sich zumindest weitgehend daran. Und nur 8 % haben ein vorher entwickeltes Auswertungsblatt zur Hand, auf dem die mit einer Frage verbundenen Kompetenzen bereits mit Verhaltensbeschreibungen versehen sind. Auch ich gehöre zu den 95 %, die einen Interviewleitfaden benutzen, aber weder zu den 22 % noch zu den 8 %. Wie in diesem Buch ausgiebig beleuchtet wird, werden wir der Subjektivität, Individualität und Emotionalität eignungs-

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diagnostischer Prozesse nicht gerecht, wenn wir sie in ein zu starres Korsett von Standardisierungen und Verfahrensvorschriften binden. Auf der anderen Seite trägt es ohne Zweifel zur eigenen Fokussierung im Vorstellungsgespräch bei, wenn man die gesuchten Kompetenzen im Vorfeld explizit macht und sich exemplarische Verhaltensbeschreibungen und geeignete Fragen dafür überlegt. Dies gilt insbesondere, da ja in der Regel mehrere Beteiligte mit sehr unterschiedlichen Erfahrungshintergründen und Zielsetzungen am Auswahlprozess mitwirken. Man sollte nur – siehe die obigen Ausführungen zu den Kompetenzmodellen – darauf achten, dass die Verhaltensbeschreibungen kulturneutral ausfallen (also nicht Kandidaten aus einem bestimmten Kulturraum bevorteilen, indem sie einen bestimmten kulturellen Stil voraussetzen). Und man sollte nicht der Illusion verfallen, man könne objektiv messen und validieren, wie relevant diese Verhaltensbeschreibungen tatsächlich für die spätere Leistung in der Zielposition sind. Wir sprechen hier von subjektiv geprägten Annäherungen, die wir durch Perspektivenvielfalt, Erfahrungswissen und gesunden Menschenverstand zu objektivieren versuchen. Nicht zuletzt sind Interviewleitfäden hilfreich als Erinnerungshilfe, wenn man bestimmte »gute Fragen« nicht vergessen möchte. Und gerade szenariobasierte Fragen und Arbeitsproben sind geeignet, um sie allen Kandidatinnen und Kandidaten zu geben und damit eine zusätzliche Ebene der Vergleichbarkeit zwischen den Vorstellungsgesprächen herzustellen. Im Folgenden findet sich in diesem Sinne ein exemplarischer Interviewleitfaden zu sechs beispielhaften Kompetenzen mit möglichst kulturneutralen Verhaltensbeschreibungen und dazu passenden Fragen. Die Fragen folgen dabei den Empfehlungen aus Kapitel 2.1, indem sie versuchen, die Bewerber enger, d. h. mit weniger Raum für Missverständnisse, zu führen. Der Interviewleitfaden versteht sich dabei selbstredend nur als eine mögliche Umsetzung der bisherigen Erkenntnisse dieses Buches und damit als Anregung und mögliche Ressource für Praktikerinnen und Praktiker der Personalauswahl. Natürlich sind auch andere Kompetenzfelder mit anderen Verhaltensbeschreibungen und anderen Musterfragen denkbar und potenziell ebenso wirksam. Weitere Musterfragen zu den Kompetenzfeldern Führung und Konflikt, welche spezifischer auf den Auswahlprozess für den Werksleiter in Malaysia in Szenario 1 zugeschnitten sind, finden sich im Kapitel »Vorstellungsgespräche« (4.2).

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Effektives Kommunizieren

Ziel der Kompetenz: Erfolgreich zusammenarbeiten Verhaltensbeschreibungen: • spricht so, dass Adressaten ihn oder sie verstehen; • bemerkt es, wenn die Antwort nicht den Erwartungen entspricht, und versucht zu korrigieren; • kann die Perspektive wechseln, sich in andere hineinversetzen; • kann sein oder ihr Kommunikationsverhalten anpassen; • ist sich bewusst, dass es unterschiedliche Kommunikationsstile gibt; • wechselt auf die Metaebene, wenn es zu Missverständnissen kommt; • zeigt Verständnis, Wertschätzung für Gesprächspartner; • kommuniziert lösungsorientiert, sucht Verständnis herzustellen; • kann Vertrauen herstellen, z. B. durch Humor, nonverbale Signale oder Rückfragen. Musterfragen: 1. Wenn Sie einem Mitarbeiter etwas Schwieriges sagen müssen, z. B. dass er oder sie seine/ihre Ergebnisse nicht erreicht hat und darum dieses Jahr keinen Bonus bekommt, wie gehen Sie dabei vor? 2. Wenn Sie Ihr Team davon überzeugen müssen, wegen eines wichtigen Projektes in der kommenden Woche 30 % Überstunden zu leisten, wie gehen Sie dabei vor? 3. Sie haben vor ein paar Minuten etwas Interessantes gesagt: (An dieser Stelle geht es darum, eine Formulierung der Kandidatin aufzugreifen, die man wirklich nicht verstanden hat oder wo man sich der Bedeutung nicht sicher ist.) Wie haben Sie das genau gemeint? Was war Ihre Zielsetzung, als Sie das gesagt haben? Was wäre aus Ihrer Sicht eine angemessene Reaktion darauf gewesen? 4. Stellen Sie sich vor, Sie kommen zu mir, weil Sie meine Unterstützung brauchen, ich bin ein Kollege von Ihnen. Sie kommen darum in mein Büro und erzählen mir von Ihren Schwierigkeiten, und dass Ihnen die nötige Zeit und das Wissen fehlt. Ich schaue Sie freundlich und aufmunternd an und sage: »Ach, du hast doch schon ganz andere Herausforderungen gemeistert, das schaffst du schon!« Wie würden Sie meine Antwort interpretieren? Und wie würden Sie reagieren?

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Ziele verfolgen

Ziel der Kompetenz: Ergebnisse erzielen Verhaltensbeschreibungen: • zeigt, dass er/sie Ergebnisse erzielen möchte; • reflektiert, welche Zeit und Ressourcen zur Zielerreichung erforderlich sind; • antizipiert mögliche Komplikationen; • setzt Prioritäten; • geht mit Rückschlägen konstruktiv um. Musterfragen: 1. Welche Ziele verfolgen Sie mit Ihrer Bewerbung bei uns? Seit wann haben Sie dieses Ziel? Warum ist jetzt der richtige Zeitpunkt gekommen? Was haben Sie getan, um sich auf dieses Gespräch vorzubereiten? War das für Ihre Verhältnisse eher viel oder eher wenig? Wenn Sie noch einen Tag mehr gehabt hätten für die Vorbereitung auf dieses Gespräch, was hätten Sie noch tun können? Was werden Sie tun, falls es mit dieser Bewerbung nicht klappt? 2. Auf welches Ergebnis in Ihrer beruflichen Laufbahn sind Sie besonders stolz, wofür wurden Sie von anderen gelobt? Was haben Sie getan, um dieses Ergebnis zu erreichen? Ging das immer glatt, oder gab es auf dem Weg auch Rückschläge und Komplikationen zu bewältigen? Welche waren das, und wie haben Sie das geschafft? 3. Stellen Sie sich vor, Sie erhalten vom Stammhaus die Vorgabe, die Bruttomarge zu steigern, sodass Sie die Preise um 10 % anheben müssen. Sie haben dafür sechs Monate Zeit. Wie gehen Sie vor? Nachfrage: Was tun Sie, falls Ihnen wichtige Distributoren von diesem Schritt abraten? Teams bereichern

Ziel der Kompetenz: Zur Funktionsfähigkeit der Teams beitragen Verhaltensbeschreibungen: • zeigt Interesse an anderen Menschen; • würdigt, was andere gesagt/getan haben; • bringt eigene Ideen ein; • erkennt Bedürfnisse anderer; • unterstützt andere; • hat etwas, wofür er/sie geschätzt wird.

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Musterfragen: 1. Jeder Mensch hat ja bestimmte Werte, wie er oder sie mit Kollegen/Kolleginnen und Teammitgliedern umgehen möchte. Wenn Sie von Ihren Kollegen ein positives Feedback bekommen, welches Lob freut Sie besonders, worauf sind Sie besonders stolz? Haben Sie ein solches Feedback schon einmal bekommen? Von wem war das? Was haben Sie getan, um dieses Feedback zu verdienen? 2. Sicher haben Sie auch bereits in Teams gearbeitet, in denen Sie sich wohlgefühlt haben, und in anderen, in denen Sie sich nicht so zu Hause fühlten. Fällt Ihnen ein gutes Team ein? In welcher Position war das? Was hat Ihnen dort so gut gefallen? Und fällt Ihnen ein nicht so angenehmes Team ein? Inwiefern haben Sie damals versucht – falls es überhaupt möglich war – die Atmosphäre in diesem Team zu verbessern? 3. Stellen Sie sich vor, Ihre Schwiegereltern sind zu Besuch und Sie haben für den Abend Konzertkarten. Nun bittet Sie ein Kollege um 17:00 Uhr noch um Unterstützung für eine wichtige Projektpräsentation, obwohl Sie ihm vorher gesagt haben, dass Sie spätestens um 17:15 Uhr das Büro verlassen müssen. Wenn Sie die Unterstützung gewähren, können Sie das Konzert vergessen. Wie gehen Sie mit der Bitte um? Wie erklären Sie es gegebenenfalls dem Kollegen oder den Schwiegereltern? Konflikte lösen

Ziel der Kompetenz: Zur Funktionsfähigkeit aller bei Konflikten beitragen Verhaltensbeschreibungen: • erkennt Konflikte, gegebenenfalls auch nonverbal; • kann sich in Konfliktparteien hineinversetzen; • reflektiert eigenen Anteil am Konflikt; • entwickelt Lösungsideen; • versucht aus Erfahrung zu lernen; • zeigt Wertschätzung und Lösungsorientierung. Musterfragen: 1. Kulturen gehen ja unterschiedlich mit Streit und Konflikten um. Sie selbst kommen aus xy (Land). Wie würden Sie die idealtypische Konfliktlösung in Ihrer Heimatkultur beschreiben? Ist das auch Ihre persönliche Art, wie Sie am liebsten mit Konflikten umgehen? Fällt Ihnen dafür ein Beispiel ein? Was fiel Ihnen dabei leicht, was schwer? Haben Sie in Ihrem Berufsleben auch schon andere Konfliktlösungsstile erlebt? Was hat Ihnen daran gefallen, was nicht? 2. Vermutlich haben Sie auch schon einmal eine Situation erlebt, wo Sie mit

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Menschen zusammengearbeitet haben, die Sie nicht mochten, oder die Menschen mochten Sie nicht. Fällt Ihnen dazu ein Beispiel ein? Wussten Sie damals, warum es zwischen Ihnen überhaupt einen Konflikt gab? Wie sind Sie damals damit umgegangen? Wie fanden Ihre Kollegen Ihre Art, damit umzugehen? Würden Sie heute dasselbe tun? 3. Stellen Sie sich vor, Sie kommen in unser Unternehmen und merken, dass eine Ihrer Kolleginnen gerne Ihre Stelle gehabt hätte. Nun ist sie nach außen hin freundlich zu Ihnen, aber Sie merken trotzdem, dass Sie nicht gut zusammenarbeiten, sie ist sehr kritisch und schlecht gelaunt. Sie sprechen mit ihr und fragen, wie es ihr geht, aber sie sagt, es sei alles prima. Wie gehen Sie mit dieser Situation um? Führen

Ziel der Kompetenz: Andere dazu bringen, ihre Aufgaben zu erfüllen Verhaltensbeschreibungen: • denkt über den Rahmen der eigenen Aufgabe hinaus; • übernimmt Verantwortung für ein Gesamtergebnis; • kann andere für eine Aufgabe gewinnen; • hilft anderen, besser zu werden; • wird von anderen als Autorität anerkannt. Musterfragen: 1. Welche der Führungspersönlichkeiten, die Sie in Ihrer Karriere kennengelernt haben, hat Sie am meisten beeindruckt? Welche Eigenschaften waren Ihnen an dieser Person am wichtigsten und warum? Angenommen, ich wäre Ihr Mitarbeiter, woran würde ich merken, dass Ihnen diese Eigenschaften wichtig sind? 2. Als Führungskraft muss man oft andere Menschen dazu bringen, Dinge zu tun, die sie in dem Moment eigentlich gar nicht tun wollen. Welche Möglichkeiten haben Sie, das zu erreichen? Und welcher Weg liegt Ihnen persönlich am meisten? Mit welchem Weg tun Sie sich dagegen schwer? Haben Sie jetzt gerade an ein bestimmtes Beispiel gedacht? Welches war das? 3. Stellen Sie sich vor, Sie kommen in ein neues Team, und nach einem Jahr bittet man Sie, die Leitung dieses Teams zu übernehmen. Inwiefern verhalten Sie sich danach – als Leitung – anders als vorher? 4. Stellen Sie sich vor, Sie bemerken, dass einer Ihrer Händler, ein absoluter Starverkäufer und sehr profitabel in dem Land, Gelder für eine Marketingaktion zweckentfremdet hat, um einen wichtigen Kunden zu einer Luxusreise einzuladen. Was tun Sie?

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Ziel der Kompetenz: Dazu beitragen, dass etwas Neues entsteht Verhaltensbeschreibungen: • möchte dazu beitragen, dass etwas Neues entsteht; • greift auf und nutzt, was bereits vorhanden ist; • bringt eigene Ideen ein; • findet Lösungen bei Komplikationen; • erkennt Stärken, Chancen und Ressourcen. Musterfragen: 1. Sie haben sich ja im Vorfeld etwas mit unserem Unternehmen beschäftigt. Nach allem, was Sie bereits über uns wissen, wo sehen Sie Potenziale für uns, die wir vielleicht selbst noch gar nicht ausreichend erkennen? Was sollten wir aus Ihrer Sicht besonders herausstellen oder vielleicht noch ausbauen? 2. Sie haben ja bereits viel erreicht und tolle Ergebnisse erzielt in Ihrer Karriere. Auf welche Ihrer Leistungen bisher sind Sie besonders stolz? Warum macht Sie genau diese Leistung stolz? Als Sie damals daran gearbeitet haben, zu welchem Zeitpunkt war Ihnen klar, dass das ein Erfolg werden würde? Was waren Ihre drei wichtigsten Eigenschaften, die zu diesem Erfolg beigetragen haben? 3. Stellen Sie sich vor, Sie haben eine Idee für eine Prozessverbesserung in der Nachbarabteilung, die zunächst viel Arbeit bedeutet, doch dann hohe Einsparungen verspricht. Leider hat der dortige Abteilungsleiter keine Zeit, sich ernsthaft mit Ihrer Idee zu beschäftigen. Wie gehen Sie mit der Situation um? 4. Stellen Sie sich vor, Sie dürfen 20.000 Euro ausgeben, um die Leistungsfähigkeit Ihres Teams zu erhöhen, wofür würden Sie das Geld ausgeben?

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4.2 Wie wir suchen – Vorstellungsgespräche, Assessment-Center und Persönlichkeitstests interkulturell neu justieren »The pessimist complains about the wind; the optimist expects it to change; the realist adjusts the sails.« William Arthur Ward

Bereiten wir nun die Vorstellungsgespräche und das Assessment-Center sowie einen flankierenden Persönlichkeitstest für die Szenarien 1 und 2 konkret vor.

Vorstellungsgespräche Konzentrieren wir uns bezüglich der Vorstellungsgespräche auf Szenario 1, also die Stelle des Werksleiters, da hier das Interview positionsspezifischer geführt werden kann. Betrachten wir hierfür exemplarisch eine Interviewsequenz mit einem Bewerber aus Malaysia, wie sie idealtypisch stattgefunden haben könnte. Den Fragen und Antworten liegen dabei Ausschnitte aus Vorstellungsgesprächen zugrunde, die real so passiert sind, sie sind aber willkürlich kombiniert und durch eigene Ideen ergänzt. Es geht (s. o.) um die Position des Leiters einer kleinen Produktion. Vom bisherigen Stelleninhaber hat man sich getrennt, obwohl er in seinem Team beliebt war. Der folgende Gesprächsausschnitt konzentriert sich darum auf die Kompetenzen Durchsetzungsstärke, Führungsstärke, Kommunikations- und Konfliktfähigkeit. Interviewer (aus Deutschland):  Sie arbeiten zurzeit bereits als Produktionsleiter, wie groß ist Ihre Verantwortung im Moment? Kandidat (aus Malaysia):  Wir produzieren Präzisions-Stanzwerkzeuge, das sind rund fünf Millionen Dollar im Jahr, wir haben 15 Mitarbeiter in zwei Schichten. Interviewer:  In der designierten Position in unserem Unternehmen würden Sie eine etwas größere Produktion führen, insgesamt zwanzig Personen, dazu kommen noch vier im Supply-Chain und Einkauf sowie drei in Finanzen und Administration. Das Lager lassen wir extern führen.     Die Herausforderung, vor der wir stehen, ist, dass wir uns von dem bisherigen Werksleiter trennen mussten. Nun werden Ihnen manche Teammitglieder vielleicht skeptisch gegenüberstehen. Wie würden Sie in einer solchen Situation das Vertrauen Ihres Teams gewinnen? Kandidat:  Ja, das ist eine gute Frage. Da benötigt das Team einen Manager, dem es vertrauen kann und den es respektiert. In meinem jetzigen Unter-

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nehmen war ich in einer ähnlichen Position, mein Vorgänger musste gehen, nachdem es einen großen Unfall gegeben hatte, und er war sehr beliebt. Man muss dann als Führungskraft viel mit den Mitarbeitern reden, ihre Stärken gut verstehen, auch ihre Schwächen, und man muss sehr zuverlässig sein. Man muss sich sehr genau alles anschauen und da, wo man Schwächen oder Fehler erkennt, muss man diese auch sofort ansprechen, auf eine gute Art und Weise natürlich. In meinem jetzigen Unternehmen haben wir ein gutes Vertrauen im Team geschaffen, ich bin jetzt seit zwei Jahren dabei und alle arbeiten noch sehr gerne dort. Interviewer:  Das klingt ja wirklich nach einem guten Start und einer guten Atmosphäre in Ihrem jetzigen Team. Wie lange hat es denn gedauert, bis Sie das Gefühl hatten »Jetzt habe ich das Vertrauen vom Team«? Kandidat:  Ach, das war gar nicht so lange, vielleicht ein, zwei Monate. Interviewer:  Wow, das ging ja wirklich schnell. Woran haben Sie denn gemerkt, dass alle jetzt gerne mit Ihnen zusammenarbeiten? Kandidat (kleine Pause):  Ah, in einem Unternehmen geht alles sehr schnell, man redet nicht so viel und spricht nicht über solche Sachen. Ich habe das einfach gespürt (kleine Pause). Die Atmosphäre war besser, wir haben gelacht, von den Kindern erzählt, und manchmal im Vorbeigehen hat mir auch einer oder ein anderer Sachen erzählt, die nicht so gut funktionieren. Interviewer:  Und das war dann für Sie das Zeichen, dass Sie das Vertrauen der Kollegen gewonnen haben? Kandidat:  Ja, genau. Interviewer:  Und wie war es bis dahin, war da noch eine angespannte Atmosphäre? Kandidat:  Na ja, ich weiß nicht, ob angespannt gut ist, wir hatten eine gute Kooperation und die Produktion hat funktioniert. Aber es war nicht so gut, man musste sehr aufpassen und alle waren sehr vorsichtig. Ich habe auch nicht viel erfahren, was die Leute wirklich denken. Es war ein bisschen Misstrauen da. Aber jetzt ist es besser. Interviewer:  Das klingt ja gut. Und wenn ich jetzt Ihr Team fragen würde: »Wie hat Ihr neuer Chef es geschafft, Ihr Vertrauen zu gewinnen?«, was würden die Kollegen mir antworten? Kandidat:  Ich weiß nicht, vielleicht müssen Sie mal fragen? (lacht) Sie haben mir nichts gesagt. Ich denke, vielleicht würden sie denken, er war sehr freundlich, er hat gut gehört und sehr genau geschaut. Wenn ich etwas besser machen sollte, hat er guten Weg gefunden, das zu sagen. Interviewer:  Und gab es auch eine oder zwei Personen in Ihrem Team, die besonders schwer zu überzeugen waren?

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Kandidat:  Ja, es gab einen, er war Leiter von der einen Schicht und schon sehr lange im Unternehmen. Er war gar nicht so glücklich, als ich kam. Interviewer:  Und, konnten Sie ihn auch für sich gewinnen, sein Vertrauen gewinnen? Kandidat:  Er war schon lange dabei und kannte alle Menschen im Unternehmen, vielleicht war ich für ihn ein bisschen auch Konkurrenz. Ich denke schon, ein bisschen Vertrauen. Er ist immer noch manchmal misstrauisch jetzt, aber es geht viel besser. Wir lachen oft schon zusammen. Interviewer:  Und wie haben Sie das bei ihm hinbekommen? Kandidat: Ah (kleine Pause), ich habe einfach Zeit gegeben (kleine Pause). Manchmal war er nicht so guter Laune, ich habe einfach gelassen. Ich war immer freundlich, und wenn er mal etwas Gutes gemacht hat oder jemand aus seinem Team, dann habe ich es immer gesagt und gelobt. Interviewer:  Und mussten Sie ihn auch mal kritisieren oder etwas ändern in seiner Schicht? Kandidat:  Ja, zum Glück nichts Großes. Ich habe einfach einem Kollegen aus der anderen Schicht gesagt, vielleicht könnt ihr mal etwas probieren, ob es besser funktioniert, und der hat dann mit seinem Chef das gemacht und davon erzählt, und das hat besser geklappt, und dann haben es alle so gemacht. Interviewer:  Und das haben Sie bei einer Teambesprechung angesprochen? Kandidat:  Nein, beim Mittagessen, das ist besser nicht so offiziell. Interviewer:  Und angenommen, Sie hätten bei dem Schichtleiter, der so skeptisch war, richtig viele Fehler gefunden, hätten Sie diese dann angesprochen? Kandidat:  Ja, ja, ja, auf jeden Fall (kleine Pause). Aber da wäre ich sehr vorsichtig gewesen. Ich hätte alles sehr genau angeschaut und genau aufgeschrieben, warum ich denke, dass es Fehler sind, und welche Auswirkungen diese Fehler haben. Dann hätte ich versucht, ein gutes Gespräch zu zweit zu finden. Interviewer:  Und wenn er das trotzdem nicht eingesehen und nicht gemacht hätte? Kandidat:  Man muss immer zusammenarbeiten, er hätte das auch gemacht. Vielleicht wäre er nicht glücklich gewesen, vielleicht hätte er auch gesagt, ich bin kein guter Chef, aber er hätte es gemacht.

Analysieren wir dieses Gespräch auf der Basis des in Kapitel 1.4 skizzierten Konzeptes der ganzheitlichen Personalauswahl getrennt nach a) den gewählten Frageformaten, b) der Gesprächsdynamik sowie c) den Bewertungsmustern und entwickeln anschließend daraus weiterführende Empfehlungen.

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Frageformate

Die Strategie des Interviewers ist es in diesem Gesprächsausschnitt, den Kandidaten an einen Punkt zu führen, an dem er ihn als Führungskraft und Vorgesetzten erleben und begreifen kann. Er versucht, von ihm Schilderungen seines Führungsverhaltens zu bekommen, die er als echt und authentisch wahrnimmt. Diese Verhaltensbeschreibungen möchte er dann dahingehend bewerten, ob sie auch im Kontext der Zielposition funktionieren würden. Es geht ihm also, wie Sarges es nennt, um »Ego-Involviertheit« (vgl. Kapitel 1.1). Der Interviewer wählt dafür einen konkreten Zugang, indem er ihm die Führungssituation in der Zielposition mit ihren real existierenden Herausforderungen skizziert und ihn dann bittet zu beschreiben, wie er diese Situation angehen würde. Es handelt sich also um eine szenariobasierte, situative Frage, bei der das Szenario dem konkret zu erwartenden Kontext der zu besetzenden Stelle entspricht. Die erste Antwort, die er darauf erhält, ist noch eher ausweichend gehalten. Der Kandidat benennt in einem »Qi-Cheng-Zhuan-He«-Aufbau (übersetzt: »Beginn-Fortsetzung-Wendung-Zu­­­sam­menschau«, vgl. Kapitel  3.3) scheinbar unzusammenhängend verschiedene Faktoren, die ihm wichtig sind als Führungskraft. Er formuliert, sich selbst zurücknehmend, in der »Man«-Form, bezieht das Szenario dann aber auf seine eigene Startphase in seinem jetzigen Unternehmen und schließt mit einer Zusammenschau seiner biografischen Erfahrungen in der »Wir«Form: »In meinem jetzigen Unternehmen haben wir ein gutes Vertrauen im Team geschaffen, ich bin jetzt seit zwei Jahren dabei und alle arbeiten noch sehr gerne dort.« Hieran knüpft der Interviewer an, indem er durch Lob und Komplimente in die Atmosphäre investiert (»Das klingt ja wirklich nach einem guten Start und einer guten Atmosphäre in ihrem jetzigen Team«, »Wow, das ging ja wirklich schnell«, »Das klingt ja gut«) und dann weitere Einzelheiten über die Situation erfragt. Nach der Frage, »Woran haben Sie denn gemerkt, dass alle jetzt gerne mit Ihnen zusammenarbeiten?«, gibt der Kandidat dann Einblicke in seine persönliche Erfahrungswelt. Wie wir in Kapitel 2.1 gesehen haben, hätte der Interviewer diesen Prozess der Öffnung durch eine offene biografische oder persönlichkeitsorientierte Frage (»Schildern Sie mir mal eine Situation, wo Sie ein schwieriges Team erfolgreich geführt haben?« oder »Was für eine Führungskraft sind Sie, vor allem in schwierigen Teams?«) vermutlich nicht erreicht. Der Bewerber hätte nicht gewusst, worauf die Frage abzielt, und versucht, sich bedeckt zu halten. Oder die Assoziationen, die in seinem biografischen Gedächtnis zu der Frage entstanden wären, hätten nicht zu den Erwartungen des Interviewers gepasst. Beides hätte voraussichtlich zu einer schlechten Bewertung der Antwort und damit auch zu einer beidseitigen Verunsicherung geführt.

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Im weiteren Gesprächsverlauf geht es dann für den Interviewer darum, durch weiteres Explorieren (»Und gab es auch eine oder zwei Personen in Ihrem Team, die besonders schwer zu überzeugen waren?«, »Konnten Sie ihn auch für sich gewinnen?«, »Und das haben Sie bei einer Teambesprechung angesprochen?«, »Mussten Sie ihn auch mal kritisieren oder etwas ändern in seiner Schicht?«) das Verhaltensspektrum des Kandidaten weiter auszuleuchten. Dabei geht er durch einen Perspektivenwechsel (»Und wenn ich jetzt Ihr Team fragen würde: ›Wie hat Ihr neuer Chef es geschafft, Ihr Vertrauen zu gewinnen?‹, was würden die Kollegen mir antworten?«) das Risiko ein, dass der Kandidat sein persönliches Erleben wieder etwas verlassen muss. Andererseits weitet er dadurch – systemisch gesehen – den Wahrnehmungsraum und vor allem befreit er den Kandidaten von dem Dilemma, sich selbst direkt loben zu müssen. An manchen Stellen baut er dem Kandidaten Brücken (»Und das war dann für Sie das Zeichen, dass Sie das Vertrauen der Kollegen gewonnen haben?«, »Und wie war es bis dahin, war da noch eine angespannte Atmosphäre?«), die in einer weniger vertrauten Atmosphäre auch suggestiv wirken können. In diesem Fall geben Sie dem Bewerber aber die Möglichkeit, auch schwierige Aspekte leichter zugeben zu können. Als der Interviewer merkt, dass die Aufgabe auf der Zielposition voraussichtlich konfliktreicher ist als das, was der Kandidat bisher persönlich erlebt hat, verschärft er die Situation durch eine hypothetische Zuspitzung: »Und angenommen, Sie hätten bei dem Schichtleiter, der so skeptisch war, richtig viele Fehler gefunden, hätten Sie diese dann angesprochen?«, »Und wenn er das trotzdem nicht eingesehen, nicht gemacht hätte?«. Wie Sie als Leserin und Leser dabei die Antworten in Bezug auf die gesuchten Kompetenzen bewerten, werden wir auf den späteren Seiten erörtern. Was die gewählten Frageformate betrifft, unterstützt zunächst auch diese Sequenz die in Kapitel 2.1 erläuterte These dieses Buches, dass wir in der internationalen Personalauswahl besser verwertbare Antworten generieren, wenn wir die Interviews enger, d. h. mehr auf die einzelne Situation bezogen und mit weniger Interpretationsspielräumen führen. Offene biografische Fragen in einer freien Aktivierung haben, genauso wie die ähnlich wirkenden persönlichkeitsorientierten Fragen, drei wesentliche Nachteile: • Alle Kandidaten haben unterschiedliche Dinge erlebt; die Ausgangsbedingungen für die Bewerber sind also ungleich. • Verschiedene Kandidaten sind verschieden gut darin oder auch nur unterschiedlich gut vorbereitet darauf, abstrakte biografische oder persönlichkeitsorientierte Fragen zu beantworten. Ein bestimmter Denkstil, Einfalls-

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reichtum, Vorbereitung oder Interviewführungskompetenzen sind aber ja nicht die Fähigkeiten, die wir diagnostisch erfassen wollen. • Bei einem frei aktivierten biografischen oder persönlichkeitsorientierten Format ist es ein weiter Weg, die Bewerber aus der abstrakten Frage heraus wieder in ihr eigenes konkretes Erleben zu führen, in dem sie authentisch, emotional und individuell involviert sind bei ihren Erzählungen. In der internationalen Personalauswahl fallen diese Nachteile, wie in Kapitel 2.1 ausführlich beschrieben, besonders ins Gewicht. Wir sollten darum auf dieses Frageformat verzichten. Geben Sie Ihren Kandidaten nicht irgendwelche abstrakten Themen zu be­arbeiten, sondern arbeiten Sie stattdessen mit ihnen an reellen Aufgaben, Herausforderungen und Konflikten, die diese ganz konkret in der Zielposition lösen müssen. Je plastischer der Bezug Ihrer Fragen zur designierten Aufgabe ist, desto konkreter werden auch die Antworten sein. Und lassen Sie sich ansonsten leiten von Ihrer Neugier: Was interessiert Sie wirklich an dem Menschen, der Ihnen da gegenübersitzt? Nutzen Sie Ihre Bewerber als Ressource, um von ihnen zu lernen, was sie wissen und wie sie die Welt betrachten. Sehen Sie das Vorstellungsgespräch nicht als Testverfahren, bei dem Sie die richtigen Antworten bereits wissen, sondern als gemeinsames Kennenlernen. Und ja, falls Sie diese Nachfrage umtreibt: Auch die Frage »Wie motivieren Sie sich selbst?« sollten Sie weglassen. Sarges (2013, 2011, 1995) hat viele konkrete Vorschläge entwickelt, wie man alternativ zur freien Aktivierung auch biografische Fragen explorierend und mit einer hohen »Ego-Involviertheit« stellen kann: • indem man nach Motiven fahndet: »Was genau war für Sie (nicht an sich!) das Befriedigende daran?« oder: »Was speziell hat Ihnen (nicht einem!) das gegeben?« oder: »Was waren Ihre wichtigsten Lernergebnisse dabei?«; • durch Kontrastieren und Differenzieren: Kandidat: »Hat mir sehr gut ge­ fallen«, Interviewer daraufhin: »Und was hat Ihnen gar nicht gefallen?« oder »Was war denn besonders schön?«; • indem Ähnlichkeiten und Vergleiche gesucht werden: Interviewer: »Gab es ein ähnliches Verhalten (eine ähnliche Situation) früher (später) schon (noch) einmal?« oder »Welches Ihrer bisherigen Unternehmen hat Sie als Entwickler am meisten geprägt?«; • durch gedankliches Experimentieren: Kandidat: »Das war mir dann zu viel, sodass ich gegangen bin.« Interviewer daraufhin: »Was hätte Ihr Chef denn tun müssen, damit Sie noch geblieben wären?« oder »Was hätten Sie denn tun können, um die Situation zu entschärfen?«;

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• durch Erkundung von Kausalattributionen: Interviewer: »Worauf führen Sie das zurück?« oder »Wie erklären Sie sich das?«; • durch Erkundung von Zielen: Interviewer: »Zu welchem Zweck haben Sie das in Angriff genommen?« oder »Was wollten Sie damit erreichen?«. Anstatt nur herauszufinden, was eine Kandidatin gemacht hat, kommt es darauf an, zu rekonstruieren, wie sie es gemacht hat, wie sie es damals und heute bewertet und welche Lehren sie im Nachhinein daraus zieht. Eine ähnliche Wirkung erzielen die in Kapitel 2.4 beschriebenen, dem systemischen Ansatz entnommenen zirkulären Fragen. Zirkulär sind diese Fragen darum, weil sie die systemimmanenten Zirkelbeziehungen im Verhalten (Wir tun etwas, weil wir es so kennen und weil wir es nicht anders kennen, finden wir es gut so) aufzulösen versuchen, indem sie die Aufmerksamkeit umlenken. Dies erreichen Sie z. B. dadurch, dass Sie • dritte Perspektiven abfragen: »Wie hat denn Ihre Chefin diesen Konflikt zwischen Ihnen und der Kollegin gesehen?«; • gezielt nach Ausnahmen fahnden: »Wenn Sie sagen, Sie seien ein sehr rationaler Typ, in welchen Situationen können Sie denn mal emotional werden?«; • um Skalierungen bitten: »Auf einer Skala von 1 bis 10, wie zufrieden sind Sie bei Ihrem jetzigen Arbeitgeber?«; • neue Möglichkeits- und Lösungsräume aufmachen: »Wenn Sie frei wählen könnten, was wäre denn jetzt der perfekte Job für Sie?« oder »Wenn Ihre Chefs Ihnen alle Freiräume gegeben hätten, welches Produkt hätten Sie dann entwickelt?« oder »Wenn Sie sich damals anders entschieden hätten, wie hätte sich Ihre Karriere dann entwickelt?«. All diesen Fragen ist gemein, dass sie die Bewerber in ihrer Persönlichkeit, in ihrem Selbstbild und in ihren kulturellen Prägungen konkret sichtbar werden lassen. Nicht zuletzt können wir sehr konkrete und praxisnahe Antworten generieren, indem wir mit Szenarien arbeiten. Die oft gehörte Einschätzung, dass hypothetische Fragen »völlig ungeeignet sind, um das tatsächliche Handeln der Interviewpartner zu ermitteln« (Gläser u. Laudel, 2009, S. 124), wird durch die Erkenntnisse aus der empirischen Sozialforschung nicht bestätigt. Auch in einer szenariobasierten Frage versuchen die Kandidaten, eine auf die Frage möglichst passende Antwort zu geben, d. h., sie versetzen sich in die hypothetische Situation emotional hinein und beantworten sie als mögliche Realität. Die EgoInvolviertheit ist also auch hier gegeben, die Denkmuster, Bewertungen und Modelle der Kandidaten werden in der Antwort gut sichtbar. Zudem haben

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Teil 4: Instrumente für die internationale Personalauswahl

Szenarien den Vorteil, dass man allen Bewerberinnen die gleichen Situationen schildern kann, weil es nicht auf die eigene Biografie ankommt, sodass die Interviews vergleichbarer und teilweise standardisierbar werden. Wichtig dabei ist, dass die Szenarien keine eindeutig bessere, sozial erwünschtere Lösung anbieten, und dass sie die Kandidaten persönlich betreffen. Eine Situation wie »Ein Mitarbeiter kommt zu Ihnen mit einem familiären Problem, Sie haben aber gerade eine wichtige Kundenanfrage zu beantworten, was tun Sie?« ist kein sinnvolles Szenario, weil die Antwort auf der Hand liegt: Man muss sich um den Mitarbeiter kümmern und um die Kundenanfrage, und so werden auch alle Bewerber antworten. Die Kandidaten dürfen nicht das Gefühl haben, dass es eine Musterantwort gibt, sondern sie müssen eine mehrdeutige, schwach strukturierte Situation mit verschiedenen, scheinbar gleich guten oder gleich schlechten Lösungsoptionen vorfinden. Dies geschieht am einfachsten, indem man Szenarien auswählt, die im designierten Arbeitskontext auch tatsächlich so passieren können. Ein Szenario wie »Stellen Sie sich vor, Sie haben eine attraktive Fortbildung in Ihrem Team zu vergeben, würden Sie eher einen Mitarbeiter nehmen, der fleißig und engagiert ist, aber nicht so viel Potenzial hat, oder einen Mitarbeiter mit extrem viel Talent, aber wechselhafter Motivation?« stellt die Bewerber vor eine solche Aufgabe. Beide Antwortalternativen haben Vor- und Nachteile. Indem die Kandidaten erkennen lassen, welcher Lösungsweg aus welchen Gründen ihnen näherliegt und vor allem, ob sie die Vor- und Nachteile beider Varianten erkennen, eröffnen sie ihre Gedankenwelten, ihre inneren Bilder und Wertvorstellungen, die sich sehr gut diagnostisch auswerten lassen. Häufig ergeben sich aus solchen Szenarien dann wieder Ansatzpunkte für eigenbiografische Folgefragen, da den Bewerbern ähnliche Situationen einfallen, die sie bereits erlebt haben. Nachfolgend finden Sie aus allen drei Kategorien noch einige Beispielfragen für unseren designierten Werksleiter in Malaysia, d. h. in Bezug auf Führung, Durchsetzungsstärke, Kommunikations- und Konfliktfähigkeit: • »Manchmal gibt es ja Schlüsselmomente in der Zusammenarbeit, die erste Teambesprechung, der erste große Streit, das erste gemeinsame Erfolgserlebnis. Was waren bei Ihnen die wichtigsten Erfahrungen, die so ein gutes Team aus Ihnen gemacht haben?« • »Hören Sie denn in Ihrem jetzigen Unternehmen auch manchmal Kritik an Ihnen? Was sind das für Situationen? Welcher Ihrer Mitarbeiter ist denn Ihr größter Fan und wer ist Ihr schärfster Kritiker?« • »Ich nehme an, Ihre jetzigen Mitarbeiter haben großen Respekt vor Ihnen, warum haben sie diesen Respekt? Was tun Sie, damit Ihre Mitarbeiter Respekt vor Ihnen haben?«

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• »Angenommen, Ihr einer Schichtleiter ist ein sehr erfahrener und guter Mann mit Spezialkenntnissen, auf die Sie nicht so leicht verzichten können, aber er ist schon 54 und hat eigentlich keine Lust mehr, ist öfter mal krank und arbeitet langsam. Was können Sie tun, um ihn wieder zu motivieren?« • »Wenn ich Ihre Mitarbeiter nach einem Feedback über Sie befragen würde, so als Reference-Check; welches Feedback würde Sie am meisten wundern?« • »Was ist denn Ihre Aufgabe in Ihrem jetzigen Team? Angenommen, Sie wären nach einem Verkehrsunfall drei Monate nicht im Betrieb, was würde ohne Sie anders laufen?« • »Stellen Sie sich vor, Ihr Team schneidet in einer Mitarbeiterbefragung schlecht ab, die Kollegen fühlen sich schlecht informiert, zu wenig eingebunden in wichtige Fragen und nicht genug wertgeschätzt, was würden Sie tun?« • »Sie haben ja sicher schon einige Chefs erlebt. An welchem früheren Vorgesetzten orientieren Sie sich am meisten in Ihrer jetzigen Führungsrolle und worin?« • »Wie gehen Sie in Ihrem jetzigen Team damit um, wenn es Streit unter Kollegen gibt?« • »Haben Sie schon einmal jemanden entlassen? Was war der Grund und wie sind Sie vorgegangen?« • »Als Werksleiter sind Sie ja in einer Vermittlerposition zwischen den Kollegen in Malaysia und uns im Stammhaus. Was denken Sie denn, worauf es uns hier besonders ankommt? Möchten Sie, dass Ihre Mitarbeiter Sie als ›einer von uns‹ wahrnehmen oder als ›einer vom Stammhaus‹? Was würden Sie dafür tun, dass Sie so wahrgenommen werden?« • »Angenommen, Ihre Mitarbeiter wollen wegen der Inflation von 16 % in diesem Jahr 20 % mehr Gehalt, aber budgetiert sind nur 10 % und es gelingt Ihnen nicht, vom Stammhaus mehr zu bekommen. Was tun Sie?« • »Sie kommen ja aus Singapur, das ist eine andere Kultur als Malaysia, und Sie würden für ein deutsches Unternehmen arbeiten. Werden Sie eher einen Führungsstil anwenden, wie er in Malaysia üblich ist oder einen aus Singapur oder einen aus Deutschland? Was sind denn für Sie die wichtigsten Unterschiede?« • »Was müsste ich als Mitarbeiter tun, damit Sie richtig sauer auf mich werden?« • »Sie kennen sich ja selbst am besten. Was ist der wichtigste Grund, warum Sie in unserer Position erfolgreich sein werden? Und – was natürlich nicht passieren wird, aber falls es doch passiert – was wäre der wichtigste Grund, warum Sie in unserer Position scheitern werden?«

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Teil 4: Instrumente für die internationale Personalauswahl

Gesprächsdynamik

Welchen Eindruck haben Sie in der obigen Sequenz von der Gesprächsdynamik gewonnen? Inwieweit hat der Interviewer durch seine Gesprächsführung inhaltlich oder nonverbal, aufgrund von Bahnungseffekten oder durch kulturell bedingte Missverständnisse das Verhalten des Kandidaten beeinflusst? Welche Seiten des Kandidaten hat der Auswähler angesprochen, in welchen Eigenschaften fühlte sich der Bewerber eventuell besonders stimuliert? Hat der Kandidat seine Antworten an etwas ausgerichtet, was er als »Musterantwort«, als sozial erwünscht vermutete? Wie hat die kommunikative Synchronisation der beiden geklappt, wie wohl haben sie sich vermutlich miteinander gefühlt? Wenn es Ihnen so geht wie mir, dann haben Sie die Gesprächsatmosphäre als angenehm empfunden. Der Interviewer hat sich nicht davon aus der Ruhe bringen lassen, dass es etwas gedauert hat, bis er verwertbare Antworten bekam. Er wirkte freundlich, wertschätzend, entgegenkommend, geduldig, interessiert; er hat dem Kandidaten Angebote gemacht und Hilfestellungen gegeben. Der Bewerber hat sich seinerseits recht schnell geöffnet, er wirkte nicht unter Druck, sondern in sich ruhend und authentisch. Es war nach außen nicht erkennbar, dass der Kandidat eine bestimmte Seite von sich besonders herausgestellt hat, um dem Interviewer zu gefallen. Es schien, dass der Kandidat ausreichend Raum hatte, um sich im Gespräch zu entfalten und um verschiedene Aspekte seiner Persönlichkeit zu zeigen. Eine besondere Verzerrung des Interviews durch die Gesprächsdynamik ist nicht ersichtlich. Eventuell könnte man höchstens anmerken, dass der Interviewer zu positiv und zu verständnisvoll agierte. Er ist so tolerant mit der zunächst etwas langatmigen und ausweichenden Art des Bewerbers umgegangen, wie es in der Realität eines Unternehmensalltags wohl niemand tun würde, zumindest niemand im deutschen Stammhaus des Unternehmens. Was bringt es uns, könnte man fragen, mit so viel Verständnis und interkultureller Kompetenz einen Kandidaten zu interviewen, wenn die reale Kommunikation mit dem Produktionsvorstand im Mutterhaus in keiner Weise so aussehen würde? Die Fragen sind berechtigt, gehen aber an der Zielsetzung des Interviews vorbei. Wir möchten zunächst herausfinden, welche Kompetenzen der Kandidat unter idealen Bedingungen hat. Dann erst können wir in der Zusammenschau bewerten, inwieweit diese Kompetenzen – gegebenenfalls mit etwas Unterstützung durch flankierende Trainings – auch im »real existierenden« Kontext ausreichen werden, um die mit der Position verbundenen Aufgaben erfolgreich zu bewältigen. Die Kommunikation mit dem deutschen Produktionsvorstand ist Bestandteil des Anforderungsprofils. Aber sie ist nur ein Teil davon, und wir dürfen

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nicht den gesamten Auswahlprozess nur danach ausrichten. Erst wenn wir das ganze Verhaltens- und Kompetenzspektrum des Kandidaten so gut wie möglich kennengelernt haben, können wir in der Zusammenschau bewerten, wie stark die potenziell schwierige Kommunikation mit dem Stammhaus im Gesamtgefüge wiegt. Eventuell kann man ja auch den deutschen Produktionsvorstand etwas interkulturell trainieren, so dass die Kommunikation mit ihm auf diese Weise erleichtert wird. Wenn wir den Auswahlprozess also bereits in einem frühen Stadium innerlich abbrechen, weil die Bewerber kulturell zu uns oder zu irgendwem sonst nicht passen, dann verbauen wir uns die Chance, das Gesamtbild zu sehen, zu gewichten und miteinander abwägen zu können. Als konkrete Anregungen für die Gesprächsdynamik in internationalen Vorstellungsgesprächen lassen sich aus dieser Argumentation und aus der gesamten Interviewsequenz darum vier Empfehlungen ableiten: 1. Übernehmen Sie als Interviewende die Verantwortung für eine konstruktive Gesprächsatmosphäre, in der die Kandidaten sich von ihren besten Seiten zeigen können. 2. Agieren Sie im Vorstellungsgespräch aus einer Haltung der inneren Ruhe und Gelassenheit heraus. So gelingt es Ihnen am besten, sich selbst so zurückzunehmen, dass die Kandidaten im Vordergrund stehen, ohne in eine bestimmte Richtung gelenkt zu werden. 3. Führen Sie Ihre Interviews geleitet von Neugier, Wertschätzung und Be­ ziehungsorientierung, dann kommen die Bewerber eher aus sich heraus und zeigen ein authentisches, vielfältiges Verhaltensspektrum. 4. Lernen Sie Ihre eigenen kulturellen und persönlichen Prägungen und Vorlieben kennen und gehen Sie im Interview selbstreflektiert mit ihnen um, umso weniger wird der Verlauf des Vorstellungsgesprächs dann von diesen bestimmt. Diese Hinweise mögen Ihnen nun zunächst etwas trivial erscheinen. Sie sind so allgemein, dass Sie ihnen vermutlich ohne Probleme zustimmen werden. Sie sind auf der anderen Seite aber so fundamental, dass Sie sie nicht einfach nur dadurch befolgen können, dass Sie sich dies vornehmen. Es handelt sich nicht um Verhaltensweisen, die man übernehmen kann, nur indem man sie liest und gedanklich für richtig hält. Wenn es so einfach wäre, dann würden wir uns wohl alle immer so verhalten; diese Empfehlungen sind ja nicht wirklich überraschend. Stattdessen bewegen wir uns hier auf einem Gebiet, wo wir uns nur durch praktische Erfahrungen, eigenes Erleben und Selbstreflexion weiterentwickeln können. Dies kann zum Teil in unseren täglichen Interviews geschehen, wenn

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wir uns selbst beobachten, uns gegenseitig im Kollegenkreis austauschen und Feedback geben. Darüber hinaus bieten entsprechende Interviewtrainings einen geeigneten Raum, in dem dieses erfahrungsbasierte Lernen erfolgen kann. In diesen Trainings – hierzu wird später im Buch noch ein eigener Abschnitt folgen – können wir uns in der Rolle der Interviewenden und der Kandidaten erleben und anschließend reflektieren, wie wir uns in den jeweiligen Situationen gegenseitig beeinflussen, was unser Bauchgefühl uns signalisiert, welche Eigendynamiken sich entwickeln und wie die eigenen Prägungen unsere Wahrnehmungen und unsere Reaktionen leiten. Und wir können darauf aufbauend durch Übungen, Wiederholungen, eigene Erfahrungen und das Beispiel der anderen Teilnehmer konkrete Verhaltensweisen einüben, die dem entsprechen, was wir im Interview erreichen wollen. Bewertungsmuster

Wie bewerten Sie nun die Antworten des Kandidaten in Bezug auf die Kompetenzen Durchsetzungsstärke, Führungsstärke, Kommunikations- und Konfliktfähigkeit? Trennen wir zunächst sorgfältig zwischen Beobachtung und Bewertung, wie wir es in der Personalauswahl – und insbesondere in der internationalen – immer tun sollten: Wir beobachten ein Antwortverhalten, das vielleicht etwas umständlicher und etwas zurückhaltender ist, als wir es bei einem deutschen Bewerber erwarten würden. Der Kandidat holt manchmal etwas weiter aus, der erste Satz seiner Antworten stellt oft noch den Kontext der Frage her, bevor dann erst im zweiten Satz die eigentliche Antwort beginnt (»Ah, in einem Unternehmen geht alles sehr schnell, man redet nicht so viel und spricht nicht über solche Sachen«, »Na ja, ich weiß nicht, ob angespannt gut ist, wir hatten eine gute Kooperation und die Produktion hat funktioniert«, »Er war schon lange dabei und kannte alle Menschen im Unternehmen, vielleicht war ich für ihn ein bisschen auch Konkurrenz«). Vor allem aber antwortet der Kandidat nur auf die Fragen und lässt fast jede Chance aus, sich darüber hinaus zu profilieren und zu inszenieren. Ein selbstbewusster deutscher Bewerber hätte vermutlich viel schneller die Gelegenheit wahrgenommen, von sich aus darzustellen, was er oder sie für ein Führungsverständnis hat, wie man mit Konflikten umgeht, warum es ihm oder ihr gut gelingt, Vertrauen aufzubauen und Loyalität zu kreieren, und warum der eigene Lösungsweg so besonders gut und erfolgreich war. Der malaysische Kandidat stellt dagegen einfach nur dar, was er gemacht hat, und macht kein großes Aufhebens darum. Er benutzt zudem ein eher bescheidenes Vokabular (»Wir hatten eine gute Kooperation«, »Haben ein gutes Vertrauen«, »Jetzt ist es besser«, »Ich denke schon, ein bisschen Vertrauen«). Er

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macht zahlreiche Pausen und im Satzbau lässt er immer wieder Satzbestandteile und Diskursmarkierungen weg (»Ich weiß nicht, vielleicht müssen Sie [meine Mitarbeiter] mal fragen? Sie haben mir nicht gesagt« [warum sie mir vertraut haben], »Er war schon lange dabei und kannte alle Menschen im Unternehmen, vielleicht war ich für ihn ein bisschen auch Konkurrenz. [Trotzdem] Ich denke schon, [dass er mir inzwischen] ein bisschen Vertrauen [entgegenbringt]. Er ist immer noch manchmal misstrauisch jetzt, aber es geht viel besser. [Das merkt man auch daran, dass] Wir lachen oft schon zusammen«). Nicht zuletzt sind die Lösungswege, die der Kandidat inhaltlich präsentiert, geprägt von Vorsicht, Geduld und sekundären Kontrollstrategien. Er hat zwar in seiner letzten Position agiert und interveniert, als es erforderlich war, und er würde dies auch in der Zielposition tun, aber dies mit überwiegend indirekten Methoden. Warum er sich so präsentiert und diese Lösungswege wählt, wurde in den Kapiteln 3.2 und 3.3 ausführlich dargestellt. Er versucht, sich in einem guten Licht darzustellen, ohne selbstbezogen und arrogant zu wirken. Er ist bemüht, die Harmonie zu wahren, auch in Konfliktsituationen. Sein Sprachstil ist indirekt und langsam aufbauend, sein Denkstil ist induktiv; er lässt Räume, stellt Möglichkeiten, Beziehungen und Zusammenhänge in den Vordergrund. Ein führungsstarker deutscher Kandidat wäre dagegen eher aufgetreten im Stil von: »Ich bin A, ich kann B, ich würde die Situation nach C lösen, denn die Ursachen der Situation sind vermutlich D und E.« Auf diesem Wege haben Sie auf der Grundlage Ihres Wissens über unterschiedliche Denkstile und Selbstkonzepte vom Kandidaten nun vermutlich das Bild einer Führungskraft, die »asiatischer« führt als ein Europäer, also leiser, indirekter, mehr zuhörend als explizit handelnd und weniger konfrontativ. Hätten Sie dieses Wissen nicht, würden Sie wahrscheinlich denken, dass das zwar ein netter Kerl ist, der bestimmt als Teammitglied seine Qualitäten hat, aber für eine Führungsaufgabe mit einer solchen Verantwortung nicht reif, nicht selbstbewusst und nicht stark genug ist. Und was denken Sie jetzt in Kenntnis der kulturellen Prägungen in seinen Antworten: Wäre er vermutlich in der Lage, sich auch in einer eskalierten Teamsituation durchzusetzen und die Führungsaufgabe erfolgreich zu bewältigen? Es ist zumindest denkbar. Würde er sich nach Ihrem jetzigen Eindruck auch in der Kommunikation mit dem deutschen Stammhaus behaupten können? Vermutlich müsste man beide Seiten durch eine gemeinsame interkulturelle Teamentwicklung und gegebenenfalls anschließende Supervisionsrunden darin unterstützen. Mit einer solchen Begleitung und mit etwas gutem Willen ist aber auch das denkbar. Wenn Sie im weiteren Verlauf des Interviews dieses Bild des Kandidaten noch weiter verfeinern möchten, bieten sich dafür im Wesentlichen vier Wege an, die

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Sie auch kombinieren können und sollten: a) Sie lassen sich in der obigen Art weitere Szenen aus seiner beruflichen Vergangenheit schildern. b) Sie lassen ihn weitere Szenarien lösen, die in der Zielposition vermutlich auf ihn zukommen werden. c) Sie versuchen, ihn auf biografischem Wege als Mensch noch etwas besser kennenzulernen und daraus Schlüsse zu ziehen, wie eigenständig und durchsetzungsstark er ist. Musste er z. B. als Kind viel Verantwortung übernehmen? Hat er sich an einer anspruchsvollen Universität durchgesetzt und wie hat er das gemacht? Hat er Stipendien oder Auszeichnungen bekommen, die für ihn sprechen? d) Sie konzentrieren sich auf fachliche und methodische Kompetenzen, die Sie auch mit Arbeitsproben und Projektaufgaben testen, und sagen sich: Wenn er inhaltlich sehr gut ist, wird er auch kommunikativ schlau genug sein, sodass wir den Rest schon hinbekommen, indem wir ihn ausreichend unterstützen. Bevor wir aus der Bewertung dieser Interviewsequenz nun ein paar allgemeine Empfehlungen ableiten, schauen wir uns noch an, wie sich dieselbe Frage mit dem US-amerikanischen Bewerber (nennen wir ihn Bob und die Interviewerin Andrea) hätte entwickeln können. Auch dieser Dialog hat, ebenso wie das Interview mit dem Kandidaten aus Malaysia, in dieser Form nicht reell stattgefunden, sondern es handelt sich um Versatzstücke aus anderen Interviews, vermischt mit eigenen Ideen zu einem potenziellen Gesprächsverlauf. Interviewerin (aus Deutschland):  Die Herausforderung, vor der wir stehen, ist, dass wir uns von dem bisherigen Werksleiter trennen mussten. Nun werden Ihnen manche Teammitglieder vielleicht skeptisch gegenüberstehen. Wie würden Sie in einer solchen Situation das Vertrauen Ihres Teams gewinnen? Kandidat (aus den USA):  Na klar, die werden ihrem alten Chef hinterhertrauern und sich fragen, ob sie die nächsten sind. In einer solchen Situation, Andrea (hier beugt sich der Kandidat leicht vor und hebt beschwörend den Zeigefinger), da ist es absolut entscheidend, ganz klar zu sein und mit offenen Karten zu spielen: »Ich bin euer neuer Chef, ich weiß, ihr seid gut mit meinem Vorgänger klargekommen, aber ihr seid wichtig für mich, ich brauche euch hier für den Erfolg des Unternehmens, und jeder, der hier mitzieht und sich einbringen will, ist mir herzlich willkommen!« Und so würde ich sie für mich gewinnen. Klar verliert man dann vielleicht auch ein oder zwei, aber die, die bleiben, sind 100 % im Boot. Interviewerin:  Jetzt ist unser Werk ja in Malaysia und nicht in Europa oder in den USA. Sie haben ja auch schon in China und in Singapur gearbeitet, sind also interkulturell in Asien sehr erfahren. Wie würden Sie bei Ihrem Team in Malaysia erkennen, ob Ihre Ansprache funktioniert hat, ob die wirklich »im Boot« sind? Kandidat:  Sicher, Andrea, das ist eine sehr gute Frage. Natürlich läuft das in

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Asien anders als in Nebraska oder Ohio, das ist ja offensichtlich. In Asien sagen mir die Leute nicht, ob sie mitziehen oder nicht, das muss ich spüren und zwischen den Zeilen hören, sonst merke ich es erst, wenn sie plötzlich kündigen oder einfach nicht mehr kommen. Hab ich alles schon erlebt, vor allem in China. Da muss man sehr aufmerksam sein. Interviewerin:  Und wie sind Sie oder was machen Sie, wenn Sie aufmerksam sind? Kandidat:  In Asien musst du auch ein bisschen der Freund und der Papa deiner Mitarbeiter sein, damit sie zu dir halten und damit du etwas von dem erfährst, was hinter den Kulissen vor sich geht. Da darfst du nicht nur in deinem Büro sitzen und E-Mails schreiben, sondern da musst du mit den Leuten essen und auch wissen, wie die Kinder heißen, wo sie herkommen und ob das Geld reicht, um sich eine Wohnung zu kaufen. Dafür muss man sich auch Zeit nehmen.

An dieser Stelle brechen wir die Interviewsequenz ab und gehen gleich in die Auswertung. Welches Bild und welches Gefühl zum Bewerber haben Sie entwickelt? Kommt der Kandidat aus Ihrer Sicht für die Werksleitung in Malaysia in Betracht? Schauen wir uns zunächst wieder an, was wir beobachten konnten. Der Kandidat erweckt den Eindruck, als wäre er entspannt und inhaltlich »Herr der Lage«. Durch seine schnellen Antworten, die direkte Ansprache der Interviewerin mit ihrem Vornamen, eine selbstbewusste Körperhaltung und Formulierungen wie »sicher«, »na klar«, »offensichtlich«, »natürlich«, »da ist es«, »da musst du« oder »du darfst nicht« scheint er seiner Sache sicher zu sein, frei von Zweifeln. Für ihn, so wirkt es, sind die Fragen einfach und eindeutig, und es fällt ihm nicht schwer, dafür Lösungen zu finden. Auch als die Interviewerin zweimal versucht, ihn mit ihren Fragen auf die Ebene des persönlichen Erlebens, der eigenen Involviertheit zu bringen (»Woran würden Sie erkennen, ob ihr Team wirklich im Boot ist?«, »Wie sind Sie oder was machen Sie, wenn Sie aufmerksam sind?«), zeigt er keine Nachdenklichkeit. Er antwortet ohne zu Zögern mit grundsätzlichen Feststellungen, wie »es ist« in Asien, also wie vermutlich er es dann auch macht. In der Bewertung ist es denkbar, dass Sie dieses Antwortverhalten positiv beurteilen. Das Unternehmen sucht ja eine in Asien erfahrene Führungskraft, jemanden, der selbstsicher, durchsetzungsstark und klar ist, und der »weiß, wie es geht«. Es ist aber auch möglich, dass Sie auf das Verhalten des Kandidaten emotional ablehnend reagieren. Für US-Amerikaner sind Verhaltensweisen wie Lockerheit, ein schneller und direkter Beziehungsaufbau, Individualismus, Bestimmtheit (Assertiveness), Chancen- und Handlungsorientierung sowie ein

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positives Denken kulturell positiv verankert (siehe Kapitel 3.4), und es wirkt, als würde auch der Kandidat sein Verhalten daran ausrichten. Zweifel, Unklarheit, eine ausgiebige Analyse, Zurückhaltung, Kritik oder eine Problemfokussierung stehen in dieser kulturellen Prägung nicht im Vordergrund, sie werden eher als nörgelig und miesmacherisch verstanden. Alle wollen doch gemeinsam etwas erreichen, also sollte man nach vorne schauen, sich nicht entziehen oder verweigern, die Dinge nicht schlechtmachen. Für eine deutsche kulturelle Prägung, bei der Aspekte wie Wahrheit, Zuverlässigkeit und Authentizität hoch bewertet werden, aber auch eine starke Sach- und Aufgabenorientierung, etwas Skepsis gegenüber der Zukunft und eine gewisse Formalität und Vorsicht beim Beziehungsaufbau, löst diese USamerikanische Prägung schnell Widerstände aus (und umgekehrt). Entsprechend kann es also sein, dass Sie – falls Sie eine kulturelle Prägung in Deutschland erfahren haben – seine persönliche Ansprache (»Sicher, Andrea, das ist eine sehr gute Frage«) anmaßend finden, seine Selbstsicherheit aufgesetzt, egozentrisch und oberflächlich und seine Verallgemeinerungen (»da ist es«, »da musst du«) unreflektiert und ausweichend. Falls Ihre Bewertung des Antwortverhaltens in diese negative Richtung geht, wird Ihr Bauchgefühl nun rebellieren. Sie werden ihn nicht mögen. Und ihr Verstand wird diese emotionale Ablehnung unterlegen mit rationalen Erklärungen wie »In einem asiatischen Kontext darf man nicht so ichbezogen auftreten«, »Der Kandidat war zu unreflektiert als Führungskraft«, »Er war zu ausweichend, kam nicht auf den Punkt« oder »So einer passt nicht zu unserer Unternehmenskultur, wir legen mehr Wert auf Gründlichkeit und Analyse«. Dabei sind seine Äußerungen auf der inhaltlichen Ebene durchaus in Einklang mit dem, was auch in diesem Buch in Teil 3 über die Kulturstandards Ostund Südasiens geschrieben wird. Wenn man als Führungskraft in Asien wissen möchte, woran man ist in seinem Team, dann vermittelt sich vieles nonverbal und indirekt, man muss mehr spüren und weniger reden. Und viel Vertrauensaufbau läuft über die Beziehungsebene, über das menschliche Miteinander, indem man sich auch für die persönlichen Themen interessiert. Und seinen Ansatz, die Mitarbeiter durch eine Kombination aus Wertschätzung (»Ihr seid wichtig für mich«), Teamgeist (»Jeder, der mitzieht, ist willkommen«) und Transparenz (»Ich bin euer neuer Chef, und ich weiß, ihr seid gut mit meinem Vorgänger klargekommen«) für sich zu gewinnen, ist sicher auch in einem asiatischen Kontext zumindest nicht verkehrt. Es ist also nicht der Inhalt seiner Antworten, der gegebenenfalls zu einer Ablehnung und damit zu einer Absage führt, sondern der kommunikative Stil, die Codierung, die er wählt. Letztere sind aber kulturell geprägt, bei ihm genauso wie bei der Interpretation der Interviewerin.

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Ob der Bewerber Bob mit seinem kulturellen Stil als Werksleiter in Malaysia erfolgreich sein würde, können wir somit noch nicht sagen. Die negative Interpretation – dass er nicht sorgfältig nachdenkt (unreflektiert und oberflächlich), dass er sich selbst überschätzt (anmaßend), dass er die Bedürfnisse und Interessen anderer übergeht (egozentrisch), dass er nur eine Rolle spielt und unehrlich ist (aufgesetzt), dass er Schwierigkeiten aus dem Weg geht (ausweichend) – lässt sich durch sein Antwortverhalten nicht belegen. Aus seinem kulturellen Kontext heraus hat er angemessen kommuniziert, und der Inhalt seiner Antworten war durchaus reflektiert und einfühlsam. Um herauszufinden, ob der Kandidat die Stelle gut ausfüllen würde, müssten wir also weitere Fragen und Übungen stellen. Der Weg, den die Interviewerin hierfür eingeschlagen hat, indem Sie ihn zu seinem persönlichen Erleben in bestimmten Situationen zu lenken versuchte, hat dabei zwar noch nicht vollständig geklappt, aber die Richtung stimmte. Noch ein, zwei weitere solcher Fragen, eventuell auch ein persönliches Beispiel von ihr, und der Bewerber wäre vielleicht auch von der »Man«-Form in die »Ich«-Form gewechselt. Alternativ könnte Sie auf dem biografischen Weg versuchen, mehr Differenziertheit und persönliche Involviertheit in seinen Antworten zu erhalten (»Warum sind Sie seinerzeit nach Asien gegangen?«, »Warum gefällt es Ihnen hier?«, »Haben Sie echte Freunde aus dem Land?«, »Was haben Sie in Asien über Ihre eigene amerikanische Kultur gelernt?«, »Welche Methoden haben Sie hier kennengelernt, wie man ›Nein‹ sagen kann, ohne explizit ›Nein‹ zu sagen? Welche davon nutzen Sie inzwischen selbst manchmal?«). Sie kann ihn auch bitten, ein Rollenspiel mit einem malaysischen Kollegen zu spielen und beobachten, wie er diesen kulturell versteht und emotional »abholt«. Oder sie zeigt ihm Videosequenzen aus Gesprächssituationen in Asien, so wie z. B. auch die in diesem Buch geschilderten Interviewausschnitte, und bittet ihn, diese zu interpretieren. Aber auch eine abstrakte Fachfrage, wie die nach den wichtigsten Kompetenzen, die man als Führungskraft in Ostasien aus seiner Sicht benötigt, kann dazu beitragen, die Fragezeichen in Bezug auf seine Reflektiertheit und seine sozialen Kompetenzen auszuräumen. Konkrete Empfehlungen zum Umgang mit unseren Bewertungsmustern

Auf der Basis dieser beiden Interviewszenen können wir nun die Erkenntnisse dieses Buches zum Umgang mit unseren Bewertungsmustern in der internationalen Personalauswahl noch einmal zu sechs konkreten Empfehlungen bündeln: 1. An erster Stelle – und dann kommt lange, lange nichts – steht eine sehr klare und triviale Empfehlung: Seien Sie vorsichtig mit Abwertungen!

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 ie Liste der Faktoren, die unsere Urteilsbildung verzerren, ist lang: D kognitionspsychologische Automatismen, die systemischen Eigendynamiken eines Vorstellungsgesprächs, die unterschiedlichen kulturellen Perspektiven von Interviewenden und Kandidaten und nicht zuletzt die Emotionalität, wenn wir uns kulturell nicht verstehen. Aus all diesen Gründen ziehen wir immer diejenigen vor, die uns ähnlich sind, mit denen wir uns im Gespräch gut synchronisieren. Darum: Wenn Ihnen eine Antwort nicht gefällt, bitten Sie Ihren Verstand und Ihre Neugierde um Unterstützung und geben Sie die Bewerber nicht vorschnell verloren! 2. Betrachten Sie die Suche nach der Logik, die Ihre Kandidatinnen und Kan­ didaten mit ihren Antworten verfolgen, als genauso wichtigen Teil Ihrer Arbeit wie die Suche nach deren Kompetenzen. Sie sind als Auswählende nicht identisch mit der zu besetzenden Stelle, sondern nur ihr Repräsentant. Ihr eigener Bewertungsmaßstab ist nur einer von vielen möglichen Bewertungsmaßstäben. In dem Sinne hängt die Treffsicherheit Ihrer Auswahl auch davon ab, inwieweit es Ihnen gelingt, zu jeder wichtigen Beobachtung nicht nur Ihre eigene Interpretation, sondern auch möglichst viele alternative Interpretationsmöglichkeiten in Ihre Auswahlentscheidung einzubeziehen. 3. Entsprechend bereichert die Beschäftigung mit Ihrem eigenen kulturellen Hintergrund, und wie er sich von anderen kulturellen Prägungen unterscheidet, Ihre Kompetenzen in der internationalen Personalauswahl, da sie Ihnen mehr Deutungsvarianten für ein Verhalten liefert. Die Empfehlung lautet also: Beschäftigen Sie sich damit! 4. Vertrauen Sie Ihrem Bauchgefühl nicht blind, sondern prüfen und integrieren Sie es anhand des in Kapitel 2.3 dargestellten Schemas. Es gibt Ihnen einen immens schnellen und umfassenden Zugang zu Ihrem Erfahrungswissen. Es steht Ihnen dadurch als Ressource zur Verfügung, und Sie können es ohnehin nicht ignorieren. Allerdings erinnert Sie Ihr Bauchgefühl, wie zuletzt die beiden obigen Interviewsequenzen gezeigt haben, unter Umständen an Situationen, die gar nicht passen, weil ihnen ein anderer kultureller Kontext zugrunde lag. 5. Achten Sie mehr auf die Inhalte als auf die Form des Gesagten. Die vielen Interviewsequenzen in diesem Buch haben gezeigt, wie sehr wir unser Urteil von den – kulturell geprägten – Verhaltensweisen im Vorstellungsgespräch abhängig machen anstatt von den Inhalten. Den Aussagen, was die Bewerber eigentlich sagen, hören wir oft gar nicht mehr bis zum Ende zu. Oder wir glauben den Kandidaten nicht, weil die Art, wie sie es gesagt haben, nicht zu den uns vertrauten Mustern passt. Wir können diesen Verzerrungen entgegenwirken, indem wir uns mehr auf die Inhalte konzentrieren, auch wenn die gewählte Codierung uns nicht behagt.

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6. Achten Sie mehr auf das, was Ihnen gefallen hat, als auf das, was Ihnen missfiel oder fehlte. Fanden Sie auf der fachlichen Ebene einzelne Antworten überzeugend? Gab es ruhige, freundliche, dynamische, lustige oder nachdenkliche Momente, in denen Sie die Bewerberin oder den Bewerber mochten? Welches Potenzial können Sie auch in den Verhaltensweisen sehen, die Sie eigentlich unpassend fanden (also z. B. in der Zurückhaltung des malaysischen oder der Selbstsicherheit des amerikanischen Kandidaten)? Indem wir ressourcenorientiert auf die Bewerber schauen, erhöhen wir automatisch unsere Offenheit dafür, Stärken und Potenziale auch dort zu sehen, wo sie sich anders ausdrücken als gewohnt. An dieser Zusammenfassung sehen wir, dass die treffsichere Bewertung der Kandidaten in der internationalen Personalauswahl keine komplexe Wissenschaft ist, für die wir die Kulturstandards aller 193 Staaten dieser Erde studiert haben müssen. Es reichen sechs eher grundlegende Verhaltensweisen: 1) Geduld, 2) das Bemühen um einen Perspektivenwechsel, 3) etwas Kulturwissen (vor allem der eigenen Prägungen), 4) Selbstreflexion, 5) Fokussierung auf die Inhalte der Antworten sowie 6) Ressourcenorientierung. Die meisten davon werden Sie bereits mitbringen.

Assessment-Center Wenden wir uns nun dem Traineeprogramm in Szenario 2 zu, das wir bislang etwas vernachlässigt haben. Vermutlich würden Sie die besten Kandidatinnen und Kandidaten hierfür auf der Basis eines Assessment-Centers (AC) auswählen. Neben einem Vorstellungsgespräch würden Sie dabei wahrscheinlich Gruppenübungen (Gruppendiskussionen oder gemeinsam zu bewältigende Projektaufgaben), Fallstudien mit anschließenden Präsentationen, fachliche Arbeitsproben sowie Rollenspiele in den Auswahlprozess integrieren. Nun stellt sich die Frage, wie Sie Ihr AC so konzipieren und durchführen, dass die zwanzig Bewerberinnen und Bewerber für sie vergleichbar werden, obgleich sie aus elf verschiedenen Ländern und damit auch aus unterschiedlichen Kulturräumen kommen. Auf der Ebene der Anforderungsprofile hatten wir dabei in Kapitel 4.1 bereits geklärt, dass es nicht das Ziel sein soll, nur die Bewerber auszuwählen, die möglichst deutsch oder zumindest möglichst westlich kommunizieren. Gerade in der Internationalität und Interkulturalität liegt ja eine Stärke und auch eine explizite Zielsetzung dieses internationalen Traineeprogramms. Das AC muss also in der Lage sein, die Kompetenzen der Kandidaten auf der Basis ihres eigenen kulturellen Hintergrundes zu erkennen.

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Teil 4: Instrumente für die internationale Personalauswahl

Grundsätzlich ist der Einsatz von Assessment-Center dabei international üblich, und es spricht interkulturell nichts gegen das Format (Obermann, 2013; Povah u. Thornton, 2011; Woodruffe, 2011). Allerdings kann die Ausgestaltung einzelner Aufgabengruppen zu erheblichen Verzerrungen aufgrund der unterschiedlichen kulturellen Prägungen der Bewerber führen. Der folgende Abschnitt zeigt darum für Gruppenübungen, Präsentationen, Arbeitsproben und Rollenspiele die größten Risiken kulturell bedingter Bevorzugungen oder Benachteiligungen auf und macht Vorschläge, wie diesen begegnet bzw. vorgebeugt werden kann. Gruppenübungen

Gruppenübungen, wie z. B. gemeinsam zu lösende Fallstudien, kleine Projekte oder auch einfache Gruppendiskussionen, zielen meist darauf ab, die Team-, Durchsetzungs- und Konfliktfähigkeit der Bewerbenden zu überprüfen. Neben der inhaltlichen Bearbeitung der jeweiligen Aufgaben möchten die Beobachter erkennen, wie die Kandidatinnen miteinander umgehen, wie sie Meinungsverschiedenheiten lösen, wie sie ihre Themen einbringen und gegebenenfalls durchsetzen, ob sie Verantwortung übernehmen und wie sie ihren Platz in der Gruppe finden und behaupten. Dabei ist, wie wir in Kapitel 3.2 gesehen haben, die Vorstellung eines angemessenen Auftretens in einer Gruppe in einem individualistischen Kontext recht klar umrissen. Wir erwarten hier eine aktive, verbale Teilnahme an der Diskussion, die Entwicklung klarer und konsistent vertretener Meinungen, die offene, argumentative Behauptung der eigenen Position sowie die aktive Durchsetzung der eigenen Interessen. Teamfähigkeit erweist sich in dieser Perspektive dann darin, trotz dieser ichbezogenen Herangehensweise auch die Belange der Gruppe zu erkennen und die anderen nicht einfach zu übergehen, sondern sie nach Möglichkeit einzubinden. In einem interdependenten, gruppenbezogenen Kontext zeigt sich Teamfähigkeit dagegen bereits darin, sich gar nicht erst so individualistisch zu verhalten. Ein solches Auftreten, wie wir es im Westen kennen, würde dort tendenziell als eigensinnig, unhöflich, rücksichtslos, arrogant und unreif bewertet. Stattdessen wird von den Gruppenmitgliedern in einem interdependenten Kontext eher erwartet, dass sie rücksichtsvoll agieren, sorgfältig zuhören, Pausen lassen, sich auf die Vorredner beziehen, die Gruppengedanken aufgreifen, sich nicht in den Vordergrund spielen und ihre Haltung im Zweifel an die Gruppenmeinung anpassen. In einem international besetzten AC ergab sich hierzu einmal ein eindrückliches Beispiel: Als die Kandidaten gebeten wurden, im Anschluss an eine Gruppendiskussion ihre eigene Leistung darin schriftlich zu bewerten,

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beschrieb eine Kandidatin mit einem deutsch-arabischen Hintergrund ihr sehr ruhiges, fast schon passives Verhalten in der Gruppenübung wie folgt: »In der Gruppendiskussion habe ich mich recht sicher gefühlt und den anderen den Vortritt gelassen. Ich hatte zwar meine eigene Meinung und Entscheidung still getroffen, doch wollte ich mir zunächst von den anderen ihre Meinungen und Gesichtspunkte anhören, die ich selber vielleicht nicht beachtet habe. Meiner Meinung nach ist es wichtig, anderen zuzuhören, ausreden zu lassen und deren Argumente zu verarbeiten. Wenn ich mit einer Entscheidung der Gruppe nicht zufrieden gewesen wäre, hätte ich meine Stimme aber erhoben. Insgesamt habe ich bei dieser Gruppendiskussion ›passiv gesprochen‹, doch aktiv mitgedacht.« Von den westlich geprägten Beobachtern hatte sie vorher für ihre in der Gruppendiskussion gezeigte Teamfähigkeit auf einer Skala von 1 bis 5 (1 = kaum ausgeprägt, 5 = sehr gut ausgeprägt) nur 2 Punkte bekommen. Zusätzlich zu den unterschiedlich ausgedrückten Selbstkonzepten ist auch eine dialektische und ganzheitliche »sowohl-als-auch«-Logik, wie sie in Kapitel 3.3 dargestellt wird, ein Nachteil, wenn es darum geht, sich in einer westlich geprägten Gruppensituation zu behaupten. Denn dieser Denkstil vermeidet es, konträre Positionen argumentativ abzugrenzen und zu verteidigen. Debatten, bei denen es darum geht, den Gewinner zu ermitteln, indem man die Argumente der anderen gezielt entkräftet und widerlegt, sind in diesem Denkmuster nicht angelegt. Stattdessen wird Wert darauf gelegt, auf die Argumente des Vorredners einzugehen, Gemeinsamkeiten herauszustellen und verbindende Positionen aus den konträren Argumenten zu entwickeln. In einem westlichen Kontext wird ein solches interdependentes Argumentationsmuster dann als widersprüchlich, ausweichend, unkonkret oder langatmig bewertet. Nicht zuletzt finden wir in den meisten kollektiv geprägten Kulturkreisen Bildungssysteme vor, die mehr Wert auf das Kopieren, Nachahmen und Anwenden des Erlernten legen als auf Originalität und Kreativität. In diesen Kulturen wird entsprechend die Bildung und Ausformulierung eigener Meinungen wenig trainiert. In Gruppenübungen haben darum Kandidatinnen und Kandidaten aus westlichen Kulturkreisen einen klaren Startvorteil, solange die Bewertung nach eher individualistischen Kriterien erfolgt. Sie sind schneller, verbal artikulierter, analytisch präziser, klarer in ihren Positionen, fokussierter und zudem im Englischen meist besser als Teilnehmende aus östlichen Kulturregionen. Bemühen wir uns nicht bewusst darum, diese Verzerrungen auszugleichen, werden hier immer

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die Bewerber aus westlichen Ländern erfolgreicher abschneiden. Die folgenden Maßnahmen helfen, dem entgegenzuwirken: • Wo immer möglich, sollte auch in der Beobachtergruppe Wert auf Vielfalt gelegt werden. Dies kann darin bestehen, dass die Auswählenden selbst aus unterschiedlichen Kulturkreisen kommen. Aber auch eine Mischung aus den Geschlechtern, aus Alter, Regionen und Persönlichkeiten trägt dazu bei, die Kandidaten differenzierter und ergebnisoffener zu bewerten. • In der Beobachtung sollte gezielt auch auf eher passive und gruppenbezogene Qualitäten geachtet werden wie zuhören, nachdenken, nachfragen, vermitteln, Kontext herstellen oder sich auf andere beziehen. • Nach Möglichkeit sollte das Gruppenziel nicht darauf ausgerichtet sein, dass sich eine Gewinnerposition durchsetzt (»Einigen Sie sich auf …«). Einfacher für Teilnehmende aus kollektiven Kulturkreisen ist es, wenn die Aufgabenstellung auf eine möglichst erfolgreiche Zusammenarbeit hinwirkt (»Entwickeln Sie gemeinsam eine Lösung …«). • Um Kandidaten aus interdependenten Kulturkreisen darin zu stärken, ihre Rücksichtnahme selbst positiv zu bewerten, können kulturelle Unterschiede gezielt als Thema in Gruppenübungen eingebracht werden. • Innerhalb der Übungen sollten durch die AC-Leitung geschützte Räume geschaffen werden, in denen auch langsamere und vorsichtigere Teilnehmende ihre Gedanken einbringen können. Dies kann z. B. geschehen, indem zu verschiedenen Zeitpunkten alle Teilnehmenden nacheinander eine individuelle Einschätzung des Diskussionsstandes und des bisherigen Diskussionsverlaufs geben müssen. • Es bringt, wie im oben genannten Beispiel gesehen, zusätzliche Aspekte in die Bewertung der Gruppenarbeit ein, wenn die Teilnehmer im Anschluss gebeten werden, ihr Auftreten selbst zu reflektieren. • Nicht zuletzt wirken auch in der Beobachterkonferenz dieselben sozialen Prozesse – einschließlich ihrer kulturell bedingten Verzerrungen – wie in der Gruppenarbeit der Kandidatinnen und Kandidaten. Nicht immer bekommen abweichende Perspektiven darum innerhalb des Auswahlgremiums ausreichend Raum, und nicht alle Beobachter sind gleichermaßen durchsetzungsfähig. Innerhalb der Bewertungsprozesse sollte darum immer wieder gezielt zu neuen Blickrichtungen und Interpretationen ermutigt werden, um ein möglichst umfassendes Bild der Gruppenarbeit zu gewinnen. Fallstudien und Präsentationen

Nicht nur durch Gruppenübungen schaffen wir unterschiedliche Voraussetzungen für unsere zwanzig Kandidatinnen und Kandidaten. Auch auf

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Einzelarbeiten wie Fallstudien und anschließende Präsentationen wirken sich die in Kapitel 3.3 beleuchteten kulturell unterschiedlichen Denkstile und Argumentationsmuster aus. Bewerber aus Asien oder Osteuropa bauen ihre Präsentationen tendenziell induktiv auf, d. h. vom Einzelfall ausgehend. Ihr Argumentationsaufbau ist nicht linear strukturiert, sie stellen Zusammenhänge her, bilden Mittelpositionen aus Gegenargumenten und sie präsentieren den Beobachtern keine vermeintlichen Wahrheiten, sondern sie machen eher Vorschläge für die eigene Meinungsbildung. Eine Präsentation, welche so vorgeht und scheinbar zusammenhanglos einzelne Argumente nebeneinanderstellt, wird aber von westlich geprägten Auswählenden in der Regel als unstrukturiert, unsystematisch, planlos, unverständlich oder inkompetent bewertet. Westliche Beobachter erwarten in einer Fallbearbeitung erst die Aussage und dann eine daraus analytisch abgeleitete, klar strukturierte Begründung. Es ist für sie eine große Herausforderung, einem Vortrag zu folgen, dessen Kernaussage sie nicht sofort erkennen. Bei einer Darstellung, welche eher das Feld erkundet, verschiedene Perspektiven offen nebeneinanderstellt und bewusst dem Betrachter Freiräume für die eigene Interpretation und Gewichtung lässt, verlieren sie schnell den Faden. Entsprechend negativ bewerten z. B. deutsche und amerikanische Führungskräfte die Präsentationsfähigkeit ihrer japanischen Mitarbeiter: »Die japanischen Mitarbeiter sind nicht gut, wenn es darum geht, Informationen auszuwählen, zu bündeln, zusammenzufassen. […] Sie können keine Prioritäten setzen, […] sie haben kein Abstraktionsvermögen, können nicht strukturell denken, und es mangelt ihnen an verbaler Ausdrucksfähigkeit« (Moosmüller, 1997, S. 125). Neben der schwer nachzuvollziehenden Struktur der Präsentationen ist auch die Art des Vortrags, wie in Kapitel 3.2 ausgeführt, oft durch ein interdependentes Selbst-Konzept beeinflusst. Aspekte wie eine leisere Stimme, mehr Pausen und eine bedächtigere Vortragsform wirken auf westliche Beobachter schnell schüchtern und unsicher oder auch desinteressiert und unmotiviert. Auch entschuldigende und sich selbst schlechtredende Formulierungen wie »Ich wusste leider nur wenig über das Thema und habe mich nur kurz vorbereiten können« oder »Ich bin leider nicht ganz fertig geworden« wirken in die gleiche Richtung. Für die Konzeption des Assessment-Centers in Szenario 2 müssen wir uns darum klarmachen, dass die analytische Kompetenz der Bewerber und ihre Präsentationsfähigkeiten im westlichen Sinne nicht universell gleichermaßen trainiert sind. Über die Fähigkeit zur Wissensverarbeitung generell – und erst recht über die Intelligenz der Kandidaten – wird dadurch noch keine Aussage

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möglich. Und auch über die Kompetenz der AC-Teilnehmenden, in anderen Konstellationen ihre Umwelt von einem Thema zu überzeugen, können Sie nach einer Präsentationsübung mit westlichen Maßstäben allein kein Urteil treffen. Wollen wir den diagnostischen Gehalt von Fallstudien und Präsentationen kulturübergreifend erhöhen, müssen wir darum die Bewertung stärker auf die Inhalte ausrichten als auf den Aufbau und die Form. Wenn wir uns in der Beobachtung bewusst auf das »Was« des Gesagten konzentrieren, bleibt unsere Aufmerksamkeit höher, selbst wenn die Struktur der Präsentation uns konfus und unlogisch oder der Vortragsstil verunsichert und uninspiriert erscheinen mögen. Zudem müssen wir uns die Vorteile einer induktiven, kontextbezogenen und ganzheitlichen Perspektive auf ein Thema stärker bewusst machen, um sie besser wertschätzen zu können. Wie wir in Kapitel 3.3 gesehen haben, erlaubt uns ein solcher Denkstil, mehr und vielseitigere Aspekte zu generieren als ein analytischer, deduktiver, linearer und früh auf ein Ergebnis fokussierter Blick. Der induktive Denkstil erkennt Wechselwirkungen und komplexe Muster besser. Und er hilft im systemischen Sinn, sich »Freiheitsgrade« für das eigene Denken und die eigene Wahrnehmung zu bewahren. Auf der anderen Seite hat dieser eher östliche Ansatz den Nachteil, dass er mehr Zeit in Anspruch nimmt und hilfreiche Kategorisierungen erschwert. Es dauert deutlich länger und erfordert viel Geduld und sorgfältiges Zuhören, aus den vielen Einzelheiten, Andeutungen und Vorschlägen im Dialog dann eine gemeinsame Haltung, Zielsetzung und Vorgehensweise herauszuarbeiten. Für die Bewertung von Präsentationen in der Personalauswahl müssen wir lernen, beide Herangehensweisen als in sich schlüssig und wertvoll zu erkennen. Gerade wegen unserer westlich geprägten linearen Denkweise fällt uns dies oft schwer, weil wir immer versuchen, den »besseren Weg« zu identifizieren, und weil wir nicht gut darin sind, nach der Anfangsaussage einer Argumentation noch bis zum Ende zuzuhören. Arbeitsproben

Auf Arbeitsproben sollten Sie in dem Assessment-Center für die Kandidaten des Traineeprogramms, aber auch für die Auswahl des Werksleiters in Malaysia, nicht verzichten. Sie sind insbesondere in einem interkulturellen Kontext aus drei Gründen geeignet, um vorhandene Kompetenzen zu erfassen: • Sie sind konkret und bieten wenig Raum für Missverständnisse. • Sie helfen uns, mehr auf die Inhalte als auf die kommunikativen Prägungen unserer Bewerber zu achten. • Sie sind weniger schnell verzerrt durch unterschiedliche Denk- und Argumentationsstile.

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Eine solche Arbeitsprobe kann darin bestehen, eine Maschine zu analysieren, eine Zeichnung zu lesen, Fachfragen zu beantworten, eine Berechnung durchzuführen, eine Bilanz zu bewerten oder ein Trainingsprogramm zu konzipieren. Selbst Lernfähigkeit lässt sich gut mit solchen praktischen Simulationen erfassen, indem man sie ein erstes Mal durchführt, dann Hinweise und Erklärungen für Verbesserungen gibt, und sie anschließend erneut durchführt. Es existieren keine Hinweise, dass die Durchführung von Arbeitsproben in bestimmten Ländern und Kulturen zu größerer Verunsicherung aufseiten der Kandidatinnen und Kandidaten beitragen könnte als in anderen. Wichtig für die Validität von Arbeitsproben ist, vorab zu klären, welche Vorkenntnisse auf Bewerberseite bereits erwartet werden können. Allein das Vorhandensein einer formalen Qualifikation, wie z. B. eines Hochschulabschlusses, bedeutet noch nicht, dass bestimmte Bildungsgrundlagen vorhanden sind. Dazu sind die Bildungssysteme und -methoden international zu unterschiedlich. Auch die Nachfrage bei den Kandidaten ist hierfür kein eindeutiges Zeichen, denn in einem interdependenten Kontext ist es immer eine Belastung für die Beziehung, einer vermeintlichen Erwartung des Gegenübers nicht zu entsprechen. So berichtet Schmidt (2015, S. 27) aus Vorstellungsgesprächen mit russischen Bewerbern, dass auf die Frage »Welche Erfahrungen haben Sie auf dem Gebiet X oder Y?« häufig die unkonkrete Antwort kommt »Mein Horizont ist sehr breit«. Bevor die Kandidaten zugeben, etwas nicht zu wissen, geben sie lieber eine vage, zweideutige oder umschreibende Antwort. Die Arbeitsprobe sollte also idealerweise so gestaltet sein, dass sie möglichst wenig Wissen voraussetzt, sondern allein mit allgemeinem Denkvermögen sowie den zur Verfügung gestellten Materialien gelöst werden kann. Kulturell bedingte Verzerrungen treten am ehesten dann auf, wenn Nachfragen der Kandidaten erforderlich werden und wenn es sich um in der Gruppe durchgeführte Übungen handelt. Eine Rückfrage zu stellen, ist in einem interdependenten Umfeld immer ein Risiko, denn man offenbart nicht nur das eigene Nichtwissen, sondern man stellt damit auch die Auswählenden bloß, da sie die Aufgabe nicht gut genug erklärt haben. Insbesondere in Gruppen ist es in dieser Logik darum oft ratsamer, nicht nachzufragen, sondern so zu tun, als habe man alles verstanden. Man kann als Auswählende dieses Risiko reduzieren, indem man nur mit jeweils einem oder zwei Kandidaten oder in Stillarbeit Arbeitsproben durchführt und möglichst gesichtswahrend überprüft, ob die Aufgabenstellung verstanden wurde und alle erforderlichen Arbeitsmittel vorhanden sind.

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Rollenspiele

In der Regel gehören auch Rollenspiele zu einem Assessment-Center dazu. Sie simulieren praxisnah eine in der Zielposition wahrscheinliche Situation (z. B. ein Verkaufs- oder ein Konfliktgespräch), in welcher die Kandidaten im Hier und Jetzt der Auswahlsituation die designierte Rolle des Positionsinhabers übernehmen. Schon in einem kulturell homogenen Umfeld gelten Rollenspiele dabei aufgrund der Komplexität in den Interaktionen als schwer auszuwerten und noch schwerer zu standardisieren. Ihr Verlauf ist immer spontan und unterschiedlich, und Ursache und Wirkung einer Verhaltensweise lassen sich dabei selten treffsicher auseinanderhalten. In der Bewertung sind sie darum besonders anfällig für die in Teil 2 dargestellten kognitionspsychologischen, systemischen und interkulturellen Verzerrungen. Das Potenzial von Rollenspielen liegt jedoch darin, mit einer hohen EgoInvolviertheit der Teilnehmer tatsächliche Verhaltensweisen hervorrufen zu können, die spontaner und authentischer sind als ein nur biografisch oder szenariobasiert beschriebenes »Sekundär«-Verhalten (Aldering u. Nüsser, 2013; Obermann, 2013, S. 99 ff.). Gerade die Echtheit der im Rollenspiel zutage tretenden Emotionen und Reaktionen auf beiden Seiten und die Nicht-Planbarkeit ihrer Abläufe macht die Stärke dieses Instruments aus. Rollenspiele bieten somit einerseits Raum für überraschende Einblicke und unerwartete Verhaltensweisen. Bei den zwanzig Kandidaten aus elf Ländern und Kulturen unseres Szenarios birgt die oben beschriebene Komplexität andererseits die Gefahr zusätzlicher Verzerrungen. Was in einem Rollenspiel von Bewerberseite wahrgenommen wurde, worauf die Rollenspieler reagiert haben und was sie mit ihrer Reaktion beabsichtigten, all dies wird sich kognitiv nie eindeutig rekonstruieren lassen. Die Interpretationen der Beobachter gleichen dadurch eher Mutmaßungen, die mit der Perspektive und den Intentionen der Kandidaten unter Umständen wenig gemein haben. Hinzu kommt, dass ein Rollenspiel neben den jeweils inhaltlich gesuchten Kompetenzen immer auch ein hohes Maß an Verhaltensflexibilität und Selbstsicherheit erfordert. Ein interdependenter kultureller Kontext verlangt jedoch, wie wir gesehen haben, eher nach Anpassung und Konformität als nach Selbstpräsentation und Originalität. Das Verhalten von Kandidatinnen und Kandidaten aus einem weniger individualistischen Kulturkreis wird dadurch oft dominiert von dem Wunsch, das »richtige« Verhalten zu finden, und von der Angst davor, einen Fehler zu machen. Originalität, Flexibilität und Selbstsicherheit bleiben dabei oft auf der Strecke. Unter dem Gesichtspunkt der Authentizität, Spontaneität und Vielfältigkeit wäre es somit einerseits schade, auf Rollenspiele in einem interkulturellen

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Kontext zu verzichten. Andererseits kann man sie selbst im schlechtesten Fall (der Bewerber redet fast gar nicht oder wie ein Wasserfall) nicht negativ interpretieren, denn die möglichen Ursachen haben unter Umständen mit der späteren Konstellation im Beruf (wo die meisten Aufgaben ja planbar und vertraut sind) wenig gemein. In diesem Fall haben sie schlicht kaum oder keine Aussagekraft. Wenn Sie sich dafür entscheiden, in Szenario 2 Rollenspiele in die ACKonzeption für das Traineeprogramm aufzunehmen, dann können Sie die Gefahr von kulturell bedingten Verzerrungen auf drei Wegen reduzieren: 1. Bemühen Sie sich, das Rollenspiel möglichst nah und realistisch am Zielprofil der Position auszurichten. Dadurch erhöhen Sie die Übertragbarkeit auf das spätere Verhalten im Beruf und Sie machen es den Bewerbern leichter, sich ein aus ihrer Sicht adäquates Verhalten vorzustellen. Versuchen Sie außerdem, den Kontext des Rollenspiels im Vorfeld langsam aufzubauen, indem die mit der Übung thematisierten Kompetenzen (z. B. Führung, Kritik, Motivation) bereits besprochen wurden. Um die Kandidaten an das Rollenspiel heranzuführen und Ängste zu reduzieren, können Sie es z. B. zunächst als Szenario beantworten lassen, bevor Sie es dann nachspielen. Sie sollten zudem deutlich machen, dass es kein »falsches« Verhalten im Rollenspiel geben kann und dass die Kandidatin einfach möglichst natürlich sich selbst spielen soll. Ein solches Rollenspiel, das Sie zunächst als Szenario lösen lassen, könnte dann so lauten: »Mitarbeiter A ist oft etwas übereifrig, möchte gerne gefallen. Aus diesem Grund hat er gestern einem Kunden einen Liefertermin zugesagt, der sich auf keinen Fall halten lässt. Wie würden Sie ein Gespräch führen mit dem Ziel, dass er zukünftig keine unrealistischen Zusagen mehr macht?« (Kandidat erläutert seine Vorgehensweise.) »Prima, das klingt ja nach einem sehr durchdachten Ansatz. Ich würde, wenn es Ihnen recht ist, die Szene gerne einmal mit Ihnen nachspielen, um Sie auch ›in Aktion‹ zu erleben, wie Sie das konkret machen würden, O. K.? Haben Sie keine Angst, es gibt dabei kein richtiges oder falsches Gespräch, es geht nur darum, Ihren eigenen Stil in solchen Gesprächen besser kennenzulernen. Wären Sie bereit?« 2. Nehmen Sie sich anschließend Zeit, das Rollenspiel gemeinsam mit den Kandidaten auszuwerten. Fragen Sie nach, wie die Bewerber die Situation verstanden haben, welche Ziele sie verfolgten und wie sie selbst ihre Vorgehensweise sowie das Verhalten des Rollenspielers reflektieren. Und wenn Sie möchten, geben Sie Feedback und spielen Sie es noch mal, um auch die Lernfähigkeit und Verhaltensflexibilität der Bewerber kennenzulernen. 3. Bewerten Sie in Anbetracht der oben beschriebenen Komplexität von Rollen-

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spielen die positiven Aspekte im Verhalten der Kandidaten positiv, aber gewichten Sie negative oder fehlende Verhaltensweisen nicht zu stark. Eine angenehme Verhaltensweise, die im Rollenspiel gezeigt worden ist, gehört offenbar zum Verhaltensrepertoire der Kandidaten. Eine Verhaltensweise, die nicht gezeigt wurde, ist unter Umständen trotzdem vorhanden, sie wurde bloß nicht richtig stimuliert. Und eine aus Ihrer Sicht weniger positive Verhaltensweise wurde unter Umständen nur gezeigt, weil die Kandidaten davon ausgingen, dass man ein solches Verhalten gerne sehen wollte. Oder sie waren schlicht zu nervös. Persönlichkeitstests

Nun haben Sie Ihr Assessment-Center durchgeführt oder ein erstes Gespräch mit den Bewerbern für die Werksleitung in Malaysia geführt. Um ihr Urteil zu überprüfen oder um noch Hinweise für die Themenschwerpunkte der letzten Auswahlrunde zu erhalten, möchten Sie nun von den erfolgreichen Kandidaten noch einen Persönlichkeitstest durchführen lassen. Vor dem Einsatz eines psychometrischen Verfahrens bei Ihren Kandidaten stellt sich allerdings die Frage, inwieweit diese auch interkulturelle Gültigkeit beanspruchen können. Werden die Profile der Kandidaten aus Malaysia, Singapur, Deutschland, den Niederlanden und den USA für die Werksleitung in Malaysia in vergleichbarer Weise ihren wirklichen Verhaltenspräferenzen entsprechen, obgleich die Bewerber aus sehr unterschiedlichen kulturellen Perspektiven den Fragebogen ausfüllen? Können wir – im zweiten Beispielfall –bei den potenziellen Trainees davon ausgehen, dass die Testverfahren eine valide Passung zum Kompetenzprofil des Unternehmens ergeben, obgleich sie aus elf verschiedenen Ländern kommen? Die Fragen sind höchst relevant, denn mit den Testverfahren werden nicht nur vergleichsweise wertneutrale Persönlichkeitstypologien abgebildet, wie z. B. eher extrovertierte oder introvertierte, eher aufgaben- oder eher beziehungsorientierte Verhaltenspräferenzen. Die meisten Testverfahren erstellen dezidierte Leistungsprofile zu Eigenschaften wie detailorientiert, konzeptionell, führend, entscheidungsstark, unternehmerisch oder kooperativ, welche das Vorhandensein (oder Nichtvorhandensein) auswahlrelevanter Kompetenzen suggerieren. Auf Wunsch werden diese Profile dann bei einzelnen Anbietern automatisiert mit einem Zielprofil für die Position oder auch mit dem Kompetenzmodell des Unternehmens abgeglichen, sodass die Auswählenden anschließend (s. Abbildung 21) mithilfe einer Ampelkennzeichnung auf einen Blick erkennen können, ob ein Kandidat voraussichtlich passt oder nicht. Ein Testverfahren, welches hierdurch ganze Bewerbergruppen aufgrund ihres kulturellen Hinter-

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grundes benachteiligt oder bevorteilt, wäre nicht nur nicht valide, sondern in hohem Maße diskriminierend.

Abbildung 21: Darstellung eines Persönlichkeitstests mit einer Ampelkennzeichnung des Kandidatenprofils in der Praxis

Ein Einfluss kultureller Unterschiede auf die Testergebnisse ist dabei auf vier Ebenen möglich: • Bereits die Annahme, eine Persönlichkeit zeige sich unabhängig vom Kontext, ist – siehe Kapitel 3.2 – in einem interdependenten Kulturraum weniger verankert als in einem individualistischen. Entsprechend ist zu vermuten, dass Kandidaten aus kollektiver geprägten Ländern weniger konsistent antworten, da sie sich beim Ausfüllen der Fragebögen stärker danach ausrichten, welche Zielumgebung sie sich vor ihrem inneren Auge vorstellen. Es liegen leider noch keine Untersuchungen vor, welche die Konsistenz der Testergebnisse zum kulturellen Hintergrund der Teilnehmer in Bezug setzen. • Bezüglich der den Testverfahren zugrunde liegenden Persönlichkeitsmodelle stellt sich die Frage, inwieweit diese theoretischen Fundamente tatsächlich über alle Kulturen hinweg universell gültig sind. So haben chinesische Wissenschaftler um die Hongkong-chinesische Professorin Fanny Cheung dem bislang als Standardmodell der Persönlichkeit geltenden Fünf-FaktorenModell neben den bekannten Elementen Neurotizismus, Extraversion, Offenheit für Erfahrungen, Gewissenhaftigkeit und Verträglichkeit noch eine sechste Dimension der »Zwischenmenschlichen Bezogenheit« hinzugefügt (Cheung et al., 1996). Auch andere theoretische Grundlagen sind vermutlich von der kulturellen Perspektive beeinflusst, aus der heraus sie entstanden sind: einer westlich-individualistischen. Auch hierzu liegen aber noch keine Untersuchungen vor, die also die Testgrundlagen auf eine kulturelle Prädisposition hin analysiert hätten. • In der Übersetzung in andere Sprachen und Kulturräume stehen die Verfahren vor der Herausforderung, dass sie für jede Testvariante bedeutungsgleiche Fragen und Begriffe (Items) finden müssen. Da aber Wörter immer unterschiedliche Konnotationen und Nebenbedeutungen annehmen können,

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gibt es oft keine 100-prozentigen Äquivalente für ein bestimmtes Wort. So hat z. B. der Begriff »aggressiv« in den USA oder der Türkei auch eine positive Nebenbedeutung (»aggressive growth«), die ihm im Deutschen abgeht. Das Wort »bequem« dagegen hat im Deutschen als Verhaltensweise einen eher negativen Beigeschmack (faul, ohne Ehrgeiz), während »comfortable« eher positive Assoziationen (entspannt, umgänglich) auslöst. Die Tests müssen somit in gewissem Umfang für jeden Sprach- und Kulturraum neu konstruiert werden. • Kulturelle Unterschiede können sich nicht zuletzt in den Testergebnissen ausdrücken. So ergab eine Analyse auf der Basis des CAPTain-Tests Unterschiede von rund 2 Punkten im Führungsverhalten deutscher und russischer Manager im Vergleich auf einer Skala von 0 bis10. Russische Führungskräfte legen demnach mehr Wert auf eine enge persönliche Beziehung zu ihren Mitarbeitern, auf individuelle Spontaneität und auf die Wahrung ihrer persönlichen Autorität. Deutsche Führungskräfte messen klaren Zielvorgaben sowie der Delegation von Aufgaben mehr Bedeutung bei (Nagler u. Petäjävaara, 2014, S. 70 ff., auf der Basis einer Fallzahl von n=8.306). Auch für den OPQ32-Test ergaben sich auf der Basis von über 1 Mio. Fallzahlen landesspezifische Abweichungen von bis zu 2 Punkten auf einer Skala von 1 bis 10 (Bartram, 2013).  un könnte man sagen, dass ein Unterschied von 2 Punkten auf einer 10erN Skala keine erhebliche Differenz ist. Ob ein Kandidat nun z. B. eine 6 oder eine 8 in der Kategorie Entscheidungsstärke erzielt, wird kaum die Auswahlentscheidung bestimmen. Andererseits betrachten wir die Kandidaten aber im Vergleich zueinander und bilden daraus Persönlichkeitsprofile und Ranglisten, wodurch die Bedeutung auch geringerer absoluter Unterschiede zunimmt. Betrachten wir als Illustration hierfür eine Analyse auf der Basis des HoganAssessment-Systems zur Erfassung von Motiven und Werten (Neubauer, 2014). Dieser ergab für die Dimension »Genussstreben«, was einem Bedürfnis nach Freiheit von Regeln, Spontaneität, Abwechslung und Selbstbestimmung entspricht (s. Abbildung 22) einen Unterschied von 21 Prozentrangpunkten zwischen deutschen und chinesischen Teilnehmern. Der Wunsch nach Spaß, Flexibilität und Freiräumen in Bezug auf Regeln, Hierarchie oder Planung ist demnach in China ausgeprägter als in Deutschland. Vergleichen wir also eine Testteilnehmerin im Vergleich zu einer chinesischen Normgruppe, erhält sie eine niedrigere Ausprägung der Dimension in ihrem Bericht ausgewiesen, als wenn wir sie an der deutschen Vergleichsnorm aus-

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Abbildung 22: Prozentrangwerte deutscher und chinesischer berufstätiger Erwachsener in Bezug auf Spontaneität, Flexibilität und Freiheit von Regeln (auf der Basis des HoganAssessment-Systems mit dem Begriff »Genussstreben« zusammengefasst, im Vergleich zur globalen Norm). Quelle: Neubauer, 2014, S. 23

Beispiel Genussstreben Deutschland 77 % Unbewusste Voreingenommenheit Möglicherweise sind Sie sich nicht über die folgenden Aspekte Ihres Führungsstil bewusst: –– Es ist wahrscheinlich, dass Sie gering–– Es ist wahrscheinlich, dass Sie spon­ fügige Regelverstöße tolerieren. tane und oppoturnistische Entscheidun–– Möglicherweise wertschätzen Sie gen treffen. ­Änderungen um ihrer selbst willen. –– Sie neigen dazu, Neues und Exzentri–– Möglicherweise mögen Sie Mitarbeiter sches mit offenen Armen zu begrüßen. nicht, die nicht wissen, wie man Spaß hat. China 34 % Unbewusste Voreingenommenheit Möglicherweise sind Sie sich nicht über die folgenden Aspekte Ihres Führungsstil bewusst: –– Möglicherweise ziehen Sie es vor, Ihre –– Möglicherweise ziehen Sie es vor, AufEntscheidungen auf der Grundlage von gaben anhand von standardisierten VorStandardvorgehensweisen zu treffen. gehensweisen zu erledigen. –– Möglicherweise neigen Sie dazu, Maß–– Möglicherweise ärgern Sie sich über losigkeit und Exzesse zu vermeiden. Personen, die einer Arbeit nicht die fort–– Möglicherweise ziehen Sie es vor, währende Aufmerksamkeit zollen, die Status- und Hierarchieunterschiede zu sie verdient. beachten. Abbildung 23: Auszug aus einem Textbaustein in einer schriftlichen Auswertung zur Kategorie »Genussstreben« der Testteilnehmerin Martina Mustermann in Relation zur deutschen und chinesischen Norm. Quelle: Neubauer, 2014, S. 24

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richten. Abbildung 23 zeigt die Größe dieses Unterschiedes am Beispiel der Testteilnehmerin Martina Mustermann. Gemessen an der deutschen Vergleichsgruppe hat Frau Mustermann einen Prozentrangwert von 77 erhalten, d. h., 77 % aller Teilnehmer haben einen geringeren oder gleich hohen Wert wie sie. Entsprechend ergibt ihre Auswertung dort: »Es ist wahrscheinlich, dass Sie geringfügige Regelverstöße tolerieren« oder: »Es ist wahrscheinlich, dass Sie spontane und opportunistische Entscheidungen treffen«. Im Vergleich zur deutschen Referenzgruppe ist ihr Bedürfnis nach Freiheit von Regeln, nach Spontaneität, Abwechslung und Selbstbestimmung sehr stark ausgeprägt. Weil die Dimension in China deutlich höher ausgeprägt ist, erhält Frau Mustermann beim Vergleich mit der chinesischen Landesnorm dagegen einen unter dem Durchschnitt liegenden Prozentrangwert von 34 auf dieser Dimension. In ihrer Auswertung steht entsprechend: »Möglicherweise ziehen Sie es vor, Ihre Entscheidungen auf der Basis von Standardvorgehensweisen zu treffen« und »Status- und Hierarchieunterschiede zu beachten«. Im Vergleich zur chinesischen Referenzgruppe ist ihr Bedürfnis nach Freiheit von Regeln, nach Spontaneität, Abwechslung und Selbstbestimmung nur schwach ausgeprägt. Die Testberichte fallen also auf der Basis der deutschen und chinesischen Norm markant unterschiedlich aus, weil die Berichte die bestehenden Unterschiede zwischen den Kulturen berücksichtigen. Die jeweilige kulturelle Prägung der Kandidaten hat also einen erheblichen Einfluss auf ihre Testergebnisse. Die Anbieter des Hogan-AssessmentSystems gehen darum sogar so weit, ihr Verfahren gezielt auch im Rahmen von interkulturellen Trainings und Entsendungsprozessen einzusetzen, da man damit kulturelle Unterschiede und ihre konkreten Auswirkungen in der Zusammenarbeit sichtbar machen kann. Was sollten Sie entsprechend beachten, wenn Sie für unsere beiden Szenarien Persönlichkeitstests als Auswahlinstrument einsetzen wollen? • Achten Sie bei der Auswahl eines Anbieters darauf, welche Sorgfalt auf die Übersetzung, d. h. auf die sprachliche und kulturelle Äquivalenz der verwendeten Begriffe oder Verhaltensbeschreibungen (Items) verwandt wird. • Bewerten Sie eine geringe Konsistenz innerhalb eines Testergebnisses nicht notwendigerweise als ein Zeichen für eine schwach ausgeprägte Persönlichkeit. Es kann in interdependenter geprägten Kulturräumen  – siehe Kap. 3.2 – ein Zeichen von Reife und Anpassungsfähigkeit sein, ein Verhalten an der Situation und gegebenenfalls auch an der sozialen Erwünschtheit im jeweiligen Kontext auszurichten.

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• Fragen Sie nach, ob die Testergebnisse in dem von Ihnen gewählten Verfahren absolut (d. h. ohne Gewichtung an einer kulturellen Vergleichsgruppe) oder normiert (d. h. relativ im Vergleich mit anderen) ausgegeben werden. Erhalten Sie sie absolut, müssen Sie definieren, welche Ausprägung eines bestimmten Verhaltens im kulturellen Kontext der Zielposition erforderlich sein wird. Erhalten Sie sie normiert, müssen Sie im Vorfeld genau überlegen, welche Normgruppe (das Heimatland des Kandidaten, das Stammhaus oder der kulturelle Kontext der Zielposition) für die Interpretation der Ergebnisse maßgeblich sein soll. Das Beispiel unserer beiden Szenarien zeigt, wie schwer diese Fragen zu beantworten sind. Suchen Sie einen Werksleiter, der »malaysisch« denkt und handelt, nehmen Sie die deutsche Vergleichsgruppe oder messen Sie die Kandidaten an einer internationalen, aggregierten Norm? Oder vergleichen Sie jeden der Kandidaten mit seinem eigenen Landesdurchschnitt? Möchten Sie Ihre Trainees am kulturellen Schwerpunkt des Mutterhauses orientieren, an einer internationalen Norm oder an ihrem Heimatland? Meine Empfehlung wäre, dass Sie sich die Berichte gleich an drei Normen ausrichten lassen: an der Heimatkultur, an der Zielkultur und an der deutschen Kultur. Auf diese Weise erhalten Sie eine differenzierte Darstellung der Persönlichkeitsprofile und können dann im Kontext aller Übungen entscheiden, welche kulturelle Prägung Sie in welcher Persönlichkeitsdimension am wichtigsten finden. Und außerdem erhalten sowohl die Kandidaten wie die Beobachter auf diesem Weg zusätzlich noch eine Sensibilisierung für die Relevanz kultureller Unterschiede in ihrer täglichen Zusammenarbeit. Nicht zuletzt müssen Sie sich bei der Auswertung der Testergebnisse bewusst machen, dass kulturelle Unterschiede die Aussagen der Testergebnisse auf vielfältige Weise beeinflussen. Persönlichkeitstests bilden nicht ab, wie sich die Kandidaten in unserer Perspektive verhalten werden, sondern sie beschreiben Verhaltenspräferenzen der Bewerber aus ihrer eigenen kulturellen Perspektive. Dies betrifft übrigens auch unterschiedliches Antwortverhalten in psychometrischen Tests zwischen Männern und Frauen. Hier ergaben sich beim CAPTain-Test insbesondere in den Dimensionen Einflussnahme (Männer haben 0,6 Punkte höhere Werte) und Kontaktorientierung (Frauen haben höhere Werte) Differenzen (Nagler u. Petäjävaara, 2014, S. 36). Die Verkürzung der Ergebnisse zu einem Ampelmodell (grün = passt, gelb = passt vielleicht, rot= passt nicht) suggeriert darum eine Objektivität der Passung, die es so nicht gibt.

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Teil 4: Instrumente für die internationale Personalauswahl

4.3 Wie wir nachhaltig besser werden – Interviewtrainings und Onboardingprozesse Zwei flankierende Themen fehlen nun noch zur Abrundung des Auswahlprozesses für unseren Werksleiter in Malaysia in Szenario 1 sowie für die internationalen Trainees in Szenario 2. Wie bereiten Sie sich auf den Auswahlprozess vor? Und was tun Sie im Anschluss, nachdem die Auswahlentscheidung gefallen ist, um die ausgewählten Kandidatinnen und Kandidaten erfolgreich an Bord zu holen (neudeutsch: »onboarding«) und zu integrieren? Vorbereitende Interviewtrainings

Es ist die Konsequenz der beiden oben dargestellten Dilemmata in der internationalen Personalauswahl, dass wir darin nicht (nur) dadurch erfolgreich sein können, indem wir uns auf die Kulturstandards der Herkunftsländer unserer Kandidaten vorbereiten. Wir werden die kulturelle Perspektive der Bewerber nie so gut und umfassend nachempfinden können wie diese selbst und wir können auch erst im Gespräch herausfinden, inwiefern ihr Verhalten den Kulturstandards ihrer Heimatkultur überhaupt entspricht. Wir brauchen darum die Fähigkeit, auch dann die richtigen Kandidaten zu erkennen, wenn wir ihre kulturellen Prägungen noch nicht oder nicht gut genug kennen. Hierfür benötigen wir neben den bisherigen eignungsdiagnostischen Grundlagen der Personalauswahl nun auch die Kompetenz, in den Fragen und Antworten unsere eigenen subjektiven und kulturellen Prägungen, diejenigen der Kandidatinnen und Kandidaten sowie die Wechselwirkung aus beiden in den Auswahlprozess zu integrieren. Zu dieser Kompetenz gehören, wie die letzten Kapitel noch einmal zusammengefasst haben, etwas Kulturwissen sowie Gelassenheit, Geduld, Neugier, Wertschätzung, Ressourcen- und Beziehungsorientierung, dazu Selbstreflexion und die Bereitschaft zum Perspektivenwechsel. Nicht zuletzt erleichtern uns konkrete Hinweise bezüglich der Frageformate oder der Gestaltung von Vorstellungsgesprächen und Assessment-Centern, unsere Methoden in der internationalen Personalauswahl anzupassen. All dies sollten wir trainieren, so wie ein Fußballspieler seinen Freistoß oder eine Tennisspielerin ihren Aufschlag trainiert. Natürlich sind – um im Bild zu bleiben – die Spiele und Turniere (also die Auswahlgespräche) entscheidend, um diese Kompetenz zu entwickeln. Aber zur gezielten Sensibilisierung für bzw. zur Einübung von Bewegungsabläufen hilft uns ein geschützter Raum, in dem wir fokussiert an den einzelnen Prozessschritten arbeiten. Abbildung 24 gibt entsprechend einen Überblick, wie wir uns in einem interkulturellen Interviewtraining auf die internationale Personalauswahl vorbereiten können.

Wie wir nachhaltig besser werden

241

Abbildung 24: Trainingsinhalte eines Vorbereitungstrainings zur internationalen und interkulturellen Personalauswahl

Ziel eines solchen Trainings ist es, ein nachhaltiges Verständnis sowohl der eigenen als auch der fremden kulturellen Muster im Auswahlprozess zu entwickeln und in konkrete Instrumente für die internationale Personalauswahl zu übertragen. Da es sich in diesen Prozessen um emotional wahrgenommene Bewertungen und Reaktionen handelt, lässt sich dieses Ziel auch nur mit einer erfahrungsbasierten Methodik erreichen. Das bedeutet, dass auf Momente des persönlichen Erlebens und Erfahrens (durch Übungen, Rollenspiele, Videosequenzen) kognitive Reflexionen des Erlebten folgen und das Erlernte anschließend in praktischen Simulationen umgesetzt und eingeübt wird. Je mehr die Teilnehmenden am eigenen Leib, also emotional, erleben und erkennen, wie sehr sie ihre Auswahlentscheidung durch ihre Fragen, ihre mentalen Modelle, ihre Interpretationen und ihre intuitiven Reaktionen selbst beeinflussen, umso bereitwilliger werden sie anschließend auf Veränderungsvorschläge für ihre internationale Personalauswahlwahl reagieren und umso klarer wird ihnen von allein sein, was sie anders machen wollen. Ein solches internationales Interviewtraining sähe dann z. B. wie in Tabelle 8 dargestellt aus.

242

Teil 4: Instrumente für die internationale Personalauswahl

Tabelle 8: Ein beispielhaftes Vorbereitungstraining für die internationale Personalauswahl Tag 1

Trainingsmethode

Lernziel

1,5 Std.

TN interviewen sich gegenseitig zu zwei Zielkompetenzen, anschließend Abgleich der Bewertungen und Diskussion

eigenes Erleben im Bewerbungsgespräch und in der Fremdbewertung

1,0 Std.

sensibilisierende Übung (Gruppendiskussion) zu kognitionspsychologischen Verzerrungen

TN erkennen, wie subjektiv sie Entscheidungen treffen

1,0 Std.

eignungsdiagnostische Grundlagen der Interviewführung (Kleingruppenarbeit), am Beispiel des eigenen Kompetenzmodells o. ä.

kognitive Grundlagen der klassischen Eignungsdiagnostik

1,0 Std.

kleine Übung und anschließende Erarbeitung: Ganzheitliche/Systemische Personalauswahl

Erweiterung der konzeptionellen Grundlage

1,5 Std.

Rollenspiele zu Fragetechniken (biografisch, szenariobasiert, zirkulär, persönlichkeitsorientiert)

eigenes Erleben Fragetechniken

1,5 Std.

TN interviewen sich gegenseitig zu zwei Zielkompetenzen, anschließend Abgleich und Diskussion

Anwenden und Erleben, wie sich das Erlernte des Tages auswirkt

Abrundung Tag 1 Tag 2

Trainingsmethode

Lernziel

0,5 Std.

Kleingruppenarbeit 1: Was ist mir persönlich wichtig bei Kandidaten, wie ticke ich, wer passt zu mir?

eigenes Erleben als Interviewer

1,0 Std.

Kleingruppenarbeit 2: Wie beeinflusst unsere deutsche Prägung, wen wir gut bewerten?

kognitive Reflexion des kulturellen Einflusses

2,0 Std.

Analyse von Video-Interviewsequenzen mit Kandidaten aus China, Indien, Russland u. a.

Erleben und Reflexion des kulturellen Einflusses

0,5 Std.

Abrundung: Wie erkennen wir interkulturelle Unterschiede und wie gehen wir damit um?

Reflexion zum Interviewziel

0,5 Std.

Übung zum Umgang mit Indirektheit und induktivem Denkstil im Interview, Abrundung Selbstkonzepte und Denkstile

Erleben und Reflexion des kulturellen Einflusses

2,0 Std.

Rollenspiele in 4er-Gruppen: TN erproben Fragetechniken in interkulturellen Kontexten

Entwickeln von angepassten Instrumenten

243

Wie wir nachhaltig besser werden

Tag 2

Trainingsmethode

Lernziel

1,0 Std.

Zusammenfassung: Wie führen wir valide und offene internationale Vorstellungsgespräche?

abschließende Reflexion und Transfer in die Praxis

Abrundung Tag 2 und Transferaufgabe

Im Anschluss können die Lerninhalte des Trainings dann unternehmensintern in gemeinsamen Supervisionen und Co-Interviews in der Praxis verankert und vertieft werden. Eine weitere Vorbereitung auf die spezifischen Kulturstandards eines bestimmten Herkunftslandes einer Kandidatin ist dann nicht mehr erforderlich. Sie haben ja dann die Vorstellungsgespräche, um diese kennenzulernen. Integration und »Onboarding«

Nun haben wir die acht Traineestellen besetzt, den Werksleiter ausgewählt. Gehen wir einmal davon aus, dass die acht Trainees aus fünf Ländern und drei Kontinenten kommen, und die Werksleiterstelle hat leider nicht Bob bekommen, sondern der Bewerber aus Singapur. Was können wir nun tun, um sicherzustellen, dass diese neuen Mitarbeiter gut integriert werden, schnell produktiv sind und dem Unternehmen möglichst lange erhalten bleiben? Die amerikanischen Autoren Mark Stein und Lilith Christiansen (2010) haben untersucht, welcher wirtschaftliche Nutzen durch die strukturierte Integration neuer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Unternehmen generiert werden kann. Gegenüber traditionellen Einarbeitungsprogrammen, welche sich meist auf die fachliche Wissensvermittlung beschränken, sinkt demzufolge durch ein professionelles Onboarding die Zahl der Abgänge während der Probezeit insgesamt um 24 %, die Zahl der »bedauerlichen«, von Arbeitnehmerseite herbeigeführten Kündigungen (Regrettable Attrition) sogar um 59 % (s. Abbildung 25). Zudem steigt durch ein strukturiertes Integrationsprogramm der Wertbeitrag (in Abbildung 26: Employee Value Contribution), welche die neuen Mitarbeitenden leisten können, da sie schneller über die erforderlichen Ressourcen, Kenntnisse und Netzwerke im Unternehmen verfügen. Dies ist umso mehr der Fall, je mehr das Onboarding sich nicht nur auf die ersten Arbeitstage beschränkt, sondern an Umfang und Intensität noch zunimmt, wenn die Neuen sich bereits mit ihrer Aufgabe und ihrem »Business Context« vertraut gemacht haben. Schon in einem Unternehmen, das nur zwanzig neue Mitarbeiter im Jahr einstellt, ergibt sich so schnell ein wirtschaftlicher Mehrwert im sechsstelligen Bereich.

244

Teil 4: Instrumente für die internationale Personalauswahl

14 %

10 %

12,5 % 24 % Rückgang

35 %

9,5 % Niveau

12 %

8% 65 %

6% 4%

65 %

2%

59 % Rückgang

35 %

0% Aktueller Zustand gewollter Personalabgang

Zielzustand ungewollter Personalabgang

Zeit Erfahrungen im Arbeitskontext Inhalte des Onboarding Programms Wertbeitrag der neuen Mitarbeiter

Abbildung 25 und 26: Der wirtschaftliche Mehrwert systematischer Onboarding-Prozesse (Onboarding Margin). Quelle: Stein u. Christiansen, 2010, S. 20 f., eigene Übersetzung

Auch wenn es noch keine Untersuchungen dazu gibt, dürfen wir wohl annehmen, dass der Nutzen eines fokussierten Onboardings umso höher ist, je größer die kulturellen und persönlichen Unterschiede zwischen den neuen Mitarbeitenden und dem Unternehmen ausfallen. Denn die kulturellen Unterschiede, die wir in der Personalauswahl durch unsere Vorbereitung ausgleichen konnten, bestehen natürlich nach der Einstellung weiter. Wir müssen die international Ausgewählten im dann folgenden Integrationsprozess aus zwei Gründen gezielt abholen und integrieren: Erstens besteht sonst die Gefahr, dass wir die mühevoll erkannten und ausgewählten Talente sonst schon während der Probezeit wieder verlieren, weil die Integration durch kulturelle Anpassungsschwierigkeiten scheitert. Zweitens bedeuten gerade diese kulturellen Unterschiede eine Ressource für das Unternehmen, die wir auch bewusst nutzen sollten. Zumindest im zweiten Szenario des Traineeprogramms ist ja die Flankierung und Stärkung des Globalisierungsprozesses im Unternehmen auch ein wichtiges Motiv des ganzen Programms. Wie können wir also nach der Unterzeichnung der Arbeitsverträge die Trainees und den neuen Werksleiter aus Singapur schneller und besser in das Unternehmen einbinden? Stein und Christiansen schlagen vor, den OnboardingProzess konzeptionell in vier Phasen aufzuteilen und ihn auf vier unterschiedlichen Ebenen anzusiedeln (s. Abbildung 27). Phase 1 (Vorbereiten) bezeichnet den Zeitraum zwischen Vertragsunterzeichnung und erstem Arbeitstag, Phase 2 (Orientieren) bezieht sich auf die ersten Wochen im Unternehmen, Phase 3 (Integrieren) findet zwischen der dritten und zwölften Woche statt, wenn die neuen Mitarbeiter in ihre täglichen Aufgaben integriert werden, und Phase 4 (Herausragen) ist der Zeitraum, wo die Neuen bereits in die neuen Aufgaben

Wie wir nachhaltig besser werden

245

eingebunden sind, sich aber trotzdem noch den Blick von außen bewahrt haben und noch nicht an die etablierten Prozesse gewöhnt sind. Die vier Ebenen des Onboardings beziehen sich auf a) die kulturelle Integration, b) den Aufbau persönlicher Netzwerke, c) die Aufnahme in Laufbahnplanungs- und Leistungsbeurteilungssysteme sowie d) die Aneignung von Unternehmenszielen und -strategien. Wir sehen an dieser Systematik, dass ein Traineeprogramm im Prinzip nichts anderes ist als ein besonders sorgfältiger, intensiver und für einen langen Zeitraum konzipierter Onboardingprozess.

Abbildung 27: Ebenen und Phasen systematischer Onboarding-Prozesse. Quelle: vereinfachte Darstellung nach Stein u. Christiansen, 2010, S. 67, eigene Übers.

Entsprechend könnte ein Onboarding-Programm für den neuen Werksleiter entlang dieser vier Phasen folgende Komponenten beinhalten, die sich dann sinngemäß auch auf die Konzeption des Traineeprogramms übertragen lassen: Phase 1 (Vorbereitung): Der neuer Werksleiter, nennen wir ihn Kevin, tritt bereits vor dem ersten Arbeitstag mit einem Mentoren (ein hierarchisch übergeordneter Kollege am besten aus dem Mutterhaus) und einem Buddy (ein Kollege, z. B. der Werksleiter eines anderen internationalen Standortes) in Kontakt. Sie lernen sich kennen, tauschen sich aus über die Unternehmenskultur, Ziele, das geschäftliche Umfeld, besondere Herausforderungen, wichtige Ereignisse der jüngeren Unternehmensgeschichte usw. In der Folgezeit vereinbaren sie für die Orientierungsphase regelmäßige Treffen und Telefonate, sowohl Mentor als auch Buddy stehen für Fragen und Unterstützung zur Verfügung, fühlen sich mitverantwortlich und werden auf diesem Wege auch intensiv mit der Unternehmensentwicklung in Asien vertraut. Diese Art der wechselseitigen Einbindung unterstützt die strategische und die kulturelle Integration des neuen Werksleiters sowie den Aufbau belastbarer Netzwerke. Nicht zuletzt erfüllt sie

246

Teil 4: Instrumente für die internationale Personalauswahl

ein wichtiges Ziel der übergreifenden Organisationsentwicklung, weil auch Mentor und Buddy in diesem Prozess viel lernen. Ergänzend wird Kevin bereits vor dem ersten Arbeitstag vertraut gemacht mit relevanten Angeboten des Unternehmens, z. B. der Intranetseite, internen Clubs oder Netzwerken, Produktinformationen etc. Ein eventueller »look and see«-Trip nach Deutschland, eine Einladung zu einem Messebesuch in der Region oder eine Einladung zu einer Firmenveranstaltung bereits vor Arbeitsantritt geben ihm die Möglichkeit, das neue Unternehmen frühzeitig und vielfältig kennenzulernen. Phase 2 (Orientierung): Bereits im Vorfeld wurden für Kevin Termine mit wichtigen internen und externen Ansprechpartnern gemacht. In diesen Kennenlerngesprächen soll er, neben einem freien Gesprächsteil, auch gezielt vorbereitete Fragen stellen, durch die man sich menschlich, beruflich und kulturell besser kennenlernt. Der in Kapitel 2.6 vorgestellte Harvard-Professor Otto Scharmer (2015, eigene Übers.) schlägt hierfür in seinen »Stakeholderinterviews« z. B. die simple, aber wirkungsvolle Startfrage vor: »Was ist das wichtigste Ziel Ihrer Arbeit, und wie kann ich – als neuer Kollege – Ihnen dabei helfen, dieses Ziel zu erreichen?« Oder auch: »Wenn ich – als neuer Kollege/Partner/ Lieferant – in meiner Position in den nächsten zwölf Monaten drei Dinge verändern könnte, welche hätten für Ihre Arbeit die größten Auswirkungen?« Neben der Personalabteilung und den Kollegen kümmern sich auch Mentor und Buddy um Kevin. Bei verschiedenen Gelegenheiten (Teamsitzungen, Projektbesprechungen, Willkommensveranstaltung, Begrüßung durch das Topmanagement o. Ä.) wird Kevin nach seinen Erfahrungen und seiner Perspektive auf ein bestimmtes Thema befragt, sodass sein Erfahrungsschatz, seine kulturelle Prägung und sein Blick von außen gezielt abgeholt und genutzt werden. Phase 3 (Integration): In einem gemeinsamen interkulturellen Teamtraining wird Kevin zusammen mit seinem unmittelbaren Team in Malaysia, den wichtigsten Kollegen im Stammhaus sowie gegebenenfalls auch mit Buddy und Mentor auf die Chancen und Risiken vorbereitet, die in ihrer kulturellen Unterschiedlichkeit liegen. Diese werden zu den konkret zu bewältigenden Aufgaben in Bezug gesetzt, es werden Risikoszenarien analysiert und Lösungsmöglichkeiten entwickelt. Der Umgang mit Beziehungsaufbau, Hierarchie, Regeln, Planung, Führung, Lob, Kritik oder Konflikt wird verglichen, und es werden Wege vereinbart, wie man mit eventuellen Missverständnissen und Unzufriedenheiten umgehen möchte. Ist die Position von besonderer Bedeutung oder deuten sich bereits Missverständnisse an, kann zusätzlich ein interkulturelles Coaching in Anspruch genommen werden. Während eines längeren Aufenthaltes im Stammhaus bekommt Kevin über Maßnahmen wie »Schnuppertage« in anderen Abteilungen, die Mitwirkung an

Wie wir nachhaltig besser werden

247

Querschnittsprojekten, Weiterbildungen, Präsentationen und »Shadowing« (er begleitet andere Kollegen einen ganzen Tag an deren Arbeitsplatz) die Gelegenheit zum Austausch und Erfahrungslernen. Hiervon profitieren alle Beteiligten, da sie sich persönlich kennenlernen (Netzwerkbildung), ein besseres kulturelles Verständnis füreinander entwickeln (kulturelle Integration) und gemeinsam geschäftliche Themen voranbringen (strategische Integration). Nicht zuletzt baut Kevin in dieser Phase die Grundlagen auf, die er benötigt, um seine Führungsaufgabe in Malaysia an der Schnittstelle von lokalen Begebenheiten und den Erwartungen des Stammhauses erfolgreich zu meistern. Phase 4 (Herausragen): In der vierten Phase wird die Außenperspektive von Kevin (einerseits kulturell, andererseits aufgrund seines noch frischen Blicks eines Neuen) noch einmal intensiv genutzt, um die Strategien, Pläne und Ziele im Unternehmen zu überprüfen. Klingt alles schlüssig? Haben wir etwas übersehen? Was können wir noch verbessern? Sind Kevins Erfahrungen und Methodenkenntnisse aus früheren Unternehmen für uns von besonderem Interesse? Kann Kevins kultureller und fachlicher Hintergrund in Projekten, z. B. als interner Trainer, Mentor oder Projektmitarbeiter, gezielt eingesetzt werden? Zusätzlich zum Know-how-Gewinn für das Unternehmen wird ihm durch diese Einbindung Wertschätzung und Interesse signalisiert, und er erhält die Möglichkeit, seine Herangehensweise und Denkmuster zu erklären. Zudem ist es in Phase 4 für Kevins Karriereplanung bedeutsam, dass er die Grundlagen, Prozesse und Möglichkeiten der Leistungsbeurteilung und Personalentwicklung im Unternehmen kennenlernt und ihre Logik versteht. Auf der anderen Seite ist es wichtig, auch seine Vorgesetzten dafür zu sensibilisieren, dass Kevin aus seiner kulturellen Perspektive heraus Leistung und Ziele eventuell anders bewertet (z. B. teamorientierter oder langfristiger) und Rückmeldungen zum Leistungsstand anders äußert (vielleicht indirekter, eventuell aber auch direkter) als sie. Die bewusste und planvolle Integration von neuen Mitarbeitern wie Kevin oder auch den internationalen Trainees im zweiten Szenario erfüllt auf diesem Weg mehrere Ziele gleichzeitig: • Sie stellt sicher, dass internationale Kandidaten, deren Potenziale und Talente im Auswahlprozess durch eine sorgfältige Vorbereitung erkannt wurden, nicht anschließend aufgrund von kulturellen Unterschieden von der Organisation wieder abgestoßen werden. • Sie beschleunigt und vertieft den Integrationsprozess, sodass die neuen Mitarbeitenden schneller und bessere Leistungen erbringen können. • Sie erleichtert es, dass die Vielfalt der Neuen als Ressource sichtbar und für die Ziele des Unternehmens nutzbar gemacht wird.

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Teil 4: Instrumente für die internationale Personalauswahl

• Sie trainiert die interkulturelle Kompetenz aller Beteiligten und schafft eine nachhaltige positive Referenz für die internationale Zusammenarbeit im Unternehmen. • Sie unterstützt die Organisationsentwicklung im gesamten Unternehmen, indem sie Kommunikationswege vernetzt und neue Perspektiven eröffnet.

Fazit: Gute Personalauswahl als Kennzahl für die Zukunftsfähigkeit unserer Organisationen »Life is ten percent what happens to you and ninety percent how you respond to it.« Lou Holtz

Damit haben wir alle Aufgaben dieses Buches abgearbeitet und – wenn es funktioniert hat – seine Ziele erreicht. Sie haben einiges gelernt darüber, wie sich kulturelle Unterschiede im Prozess der Personalauswahl äußern und wie dies ihre Urteilsbildung beeinflusst. Und Sie haben Instrumente an die Hand bekommen, mit denen Sie diese Erkenntnisse in die Praxis Ihrer internationalen Vorstellungsgespräche und Assessment-Center übertragen können. Vielleicht nehmen Sie sich jetzt einen Moment Zeit und überlegen, welche Elemente dieses Buches Sie nun in Ihren beruflichen Alltag übernehmen möchten. Welche Erkenntnisse aus diesem Buch sind Ihnen am wichtigsten? Wem möchten Sie davon erzählen? Wo sehen Sie in Ihren Organisationen den größten Handlungsbedarf? Was möchten Sie in Ihren eigenen Vorstellungsgesprächen anders machen? Wie werden Sie das erreichen? Und woran werden Sie merken, ob Sie erfolgreich waren? Notieren Sie, wenn möglich, die Quintessenz Ihrer Überlegungen auf einem Zettel oder einer Postkarte, die Sie sich an den Kühlschrank, den Computer hängen oder virtuell in Ihr Smartphone legen. Idealerweise schauen Sie nach acht Tagen, nach drei Wochen und dann noch einmal nach sechs Monaten wieder auf diese Notizen und überprüfen, ob Sie das getan haben, was Sie sich heute vornehmen. Auf diesem Wege verankern Sie das Erlernte und unterstützen die dadurch ausgelösten Veränderungsprozesse in der Praxis. Potenziale, die es zu erschließen gilt Lassen Sie uns nun noch einmal den Bogen schlagen zum Beginn dieses Buches. Was haben Sie mit der Lektüre dieses Buches erreicht und was wollen Sie damit erreichen, dass Sie die dadurch gewonnenen Erkenntnisse nun umsetzen? Etwas provozierend gefragt: Warum sollen oder wollen Sie ab jetzt so viel Zeit und Mühe investieren, um auch über kulturelle Unterschiede hinweg die Kompetenzen und Potenziale Ihrer Bewerberinnen und Bewerber besser zu erkennen? Mit

250

Fazit

welchen Argumenten können Sie gegebenenfalls Ihre Kolleginnen und Vorgesetzten, Fach- und Führungskräfte in den Personal- und Fachabteilungen dafür gewinnen, dies auch zu tun? Es ist ja nicht per se moralisch oder gar ökonomisch besser, Menschen ein­zustellen, die einen anderen kulturellen oder persönlichen Hintergrund einbringen als man selbst. In der Regel verursacht Vielfalt zunächst einen höheren Integrationsaufwand, mehr Missverständnisse und dadurch mitunter Frustration bei allen Beteiligten. Der Mehrwert von Vielfalt zeigt sich erst, wenn sie funktioniert. Die Berücksichtigung von Interkulturalität in der Personalauswahl ist kein Selbstzweck. Die letzten Seiten dieses Buches sollen darum noch einmal als Argumentations­hilfe dienen, dass eine für Vielfalt offene und eine für unterschiedliche Kulturen sensible Personalauswahl nicht nur möglich ist, sondern dass es sich auch rechnet, hierin zu investieren. Die Richtigen erkennen

Beginnen wir mit dem offensichtlichsten Argument: Wenn es uns in der Personalauswahl nicht gelingt, kulturelle Unterschiede zu erkennen und in unserer Bewertung zu berücksichtigen, dann halten wir ein (aus unserer Sicht) ungewöhnliches Verhalten aus den vielen in diesem Buch erörterten Gründen nur darum für schlechter, weil es anders ist als unseres. Die Unterschiede gehen dann zu Lasten der Treffsicherheit unserer Entscheidung. Wir wählen dann nicht diejenigen aus, die auf die Position am besten passen, sondern diejenigen, die am ehesten so sind wie wir. Indem wir unsere Eignungsdiagnostik für Vielfalt sensibilisieren, verbessern wir also insgesamt die Qualität unserer Neueinstellungen und wir reduzieren Fehlentscheidungen. In Zeiten des demografischen Wandels erweitern wir außerdem das Spektrum der möglichen Kandidatinnen und Kandidaten, die auf eine Position passen könnten. Nicht zuletzt strahlt unsere Fähigkeit, kulturelle Unterschiede in der Personalauswahl zu erkennen, auch auf die Qualität unserer Leistungsbeurteilung sowie auf unsere Offenheit bei der internen Besetzung von Führungspositionen aus. Veränderungsfähig bleiben

Das zweite Argument hat damit zu tun, dass wir unsere Anpassungs-, Veränderungs- und Problemlösungsfähigkeiten stärken, wenn es uns gelingt, Vielfalt zu integrieren. Holen wir noch einmal etwas aus, um diese These zu belegen. In diesem Buch wurden einige Beispiele gegeben, wie ein induktiver, vernetzter Denkstil einen vollkommen anderen Argumentationsaufbau zur Folge

251

Fazit

hat als ein deduktiver, linearer Ansatz westlicher Prägung. Beide Ansätze haben dabei ihre kulturhistorische Begründung und beide haben unzweifelhafte, aber unterschiedliche Stärken. Nisbett (2003) illustriert dies mit einem Eignungstest, wie er im Westen (Abbildung 28) und in China (Abbildung 29) zur Anwendung kommt.

3

?

(A)

(B)

(C)

1

7 3

(E)

(F)

(G)

5 2

(D)

(H)

4 2

7

4

6

6

1 6 5

1

3

4

5

2

7

Abbildung 28 und 29: Analytischer vs. holistischer Denkstil im Eignungstest. Quelle: Nisbett, 2003, S. 218

Der westliche Eignungstest beruht auf unserem deduktiven und analytischen Denkstil. Die Teilnehmer sollen die Regeln in der Anordnung der Symbole erkennen, indem sie deren individuelle Eigenschaften analysieren und vergleichen, und auf der Basis dieser Regelbildung dann das richtige fehlende Einzelstück ergänzen. Nisbett hat in seinen Forschungen belegt, dass chinesische Testteilnehmer, obgleich sie in anderen Verfahren das gleiche Intelligenzniveau aufwiesen wie eine Vergleichsgruppe, in diesen Folgen- und Reihentests schlechter abschnitten als Teilnehmer aus westlichen Ländern. Der chinesische Eignungstest fokussiert dagegen auf die Fähigkeit zur holistischen, ganzheitlichen Betrachtung und Bearbeitung eines Kontextes. Die Teilnehmer sollen aus sieben unterschiedlich geformten Rechtecken und Dreiecken sowohl einen laufenden als auch einen fliegenden Vogel bilden. Nicht die Analyse der individuellen Eigenschaften steht im Vordergrund, es gibt auch nicht nur eine richtige Lösung des Problems. Es geht darum, mit Fantasie und einem ganzheitlichen Blick aus verschiedenen Einzelteilen ein wirksames Ganzes zu formen.

252

Fazit

Besser kann man die unterschiedlichen Vorzüge beider Denkstile nicht illustrieren. Wer würde bezweifeln, dass auch die in dem chinesischen Eignungstest abgefragten Kompetenzen wichtig sind, um komplexe Herausforderungen zu bewältigen. Und doch steht zu vermuten, dass Teilnehmer aus westlichen Ländern in dieser Übung deutlich schlechter abschneiden würden als jene aus Asien. Ich persönlich hätte sie nicht lösen können! Analog zu diesem Beispiel könnte man eine lange Liste von Stärken und Vorteilen erstellen, welche unterschiedliche kulturelle Stile zur Lösung bestimmter Herausforderungen beitragen können. Die USA können z. B. den Optimismus und den schwer zu erschütternden Glauben beitragen, gemeinsam etwas Großes erreichen zu können. Aus Deutschland nehmen wir die Gewissenhaftigkeit und die Suche nach Wahrheit, sodass auch unangenehme Dinge angesprochen werden, wenn die Aufgabe es erfordert. Aus Polen kommen Improvisationstalent, Leidenschaft und Beharrlichkeit hinzu. Die arabische Welt trägt Eloquenz und Haltung bei, Lateinamerika Lebensfreude und Spontaneität. Aus Asien ergänzen wir Geduld, Ganzheitlichkeit, vernetztes Denken und Sensibilität. Und so könnte man noch viele weitere Kulturstandards hinzufügen, welche sich je nach Kontext und Problemstellung mal als eine Stärke und mal als eine Schwäche herausstellen können. Wir versäumen es, die vielfältigen Ressourcen, Erfahrungen und Perspektiven dieser Welt zu nutzen, wenn wir nicht lernfähig und lernwillig auf sie zugehen und verstehen wollen, wofür sie gut sind. Indem wir also in der Personalauswahl mit Neugier und Offenheit die Logik hinter den Lebensentwürfen unserer Kandidaten entdecken, trainieren wir unsere Fähigkeit, neue Lösungsansätze aufzunehmen. Anstatt umgehend das Verhalten der anderen nach unseren Maßstäben zu bewerten, üben wir, auch andere Entwürfe zu studieren und davon zu lernen. Mit jedem Interview erweitern wir dadurch unseren Horizont und gewinnen Vielseitigkeit, Kreativität und Problemlösungskompetenzen hinzu. Komplexität bewältigen

Nicht zuletzt rechnen sich Investitionen in die Offenheit unserer Personalauswahl noch aus einem weiteren, weniger offensichtlichen Grund: Dieselben Fähigkeiten, die wir benötigen, um kulturelle Unterschiede in der Personalauswahl zu erkennen, benötigen wir in jedem Umfeld, das sich durch Komplexität und Veränderung auszeichnet. Blicken wir dazu kurz zurück auf die in Kapitel 2.6 vorgestellten Ansätze zum Umgang mit Komplexität. Anstatt auf pyramidale Entscheidungsstrukturen, lineare Lösungsmuster, arbeitsteilige Organisationsformen und formalisierte Standardprozesse zu vertrauen, benötigen wir zur Bewältigung komplexer

Fazit

253

Herausforderungen Selbstreflexion, vernetztes und ganzheitliches Denken, Neugier, Sensibilität, Kreativität und »Überraschungskompetenz«. In der internationalen Personalauswahl können wir diese Kompetenzen in jedem Bewerbungsgespräch trainieren. Wir stehen vor der Herausforderung, ein Verhalten zu bewerten, das auf kulturell geprägten Annahmen und Verhaltensweisen beruht, die wir womöglich noch nicht kennen. Entsprechend müssen wir kontinuierlich und parallel a) unsere Auswahlziele und -fragen verfolgen, b) mit größtmöglicher Neugier, Offenheit und Sensibilität die Antworten der Bewerber aufnehmen, c) dabei hinterfragen, inwieweit wir durch unsere Fragen, Reaktionen und Bewertungsmuster unseren Auswahlprozess selbst verzerren, und d) auf der Basis des dergestalt reflektierten Kenntnisstandes sowohl unsere Ziele und Fragen als auch unsere Bewertungen und Reaktionen überprüfen und neu justieren. Nutzen wir unsere Vorstellungsgespräche, um diese Interaktions-, Wahrneh­ mungs- und Reflexionsübung bewusst zu durchlaufen, trainieren wir in jedem Vorstellungsgespräch immer wieder die Qualität unserer Wahrnehmung, die Differenziertheit unserer Selbstbeobachtung und die Flexibilität unseres Verhaltens generell. Indem wir in der Personalauswahl lernen, besser zu beobachten und differenzierter zu bewerten, werden wir also auch in anderen Kontexten sensibler, offener, reflektierter, flexibler und vielseitiger. Ein Schlussplädoyer Es sind also drei Ebenen, auf denen wir in die Zukunft unserer Organisationen investieren, wenn wir die Qualität unserer internationalen Personalauswahl erhöhen: 1. Wir stärken unsere Fähigkeit, die richtigen Bewerber für eine Position zu finden, selbst wenn diese sich anders präsentieren, als wir es gewöhnt sind. 2. Wir öffnen unsere Personalauswahl für neue Erfahrungen, Kompetenzen und Potenziale in Bezug auf Regionen, Sprachen und Kulturen, Geschlecht oder Alter, aber auch was Denkstile, Kommunikationsverhalten, Beziehungsgestaltung, Führungsstile und Problemlösungsstrategien betrifft. 3. Wir erlernen und trainieren allgemeine Managementkompetenzen, welche wir für die Problemlösung und Zukunftsgestaltung in komplexen Umgebungen benötigen. So stärken wir unsere Fähigkeit, auch dann Lösungen zu finden, wenn wir noch keine in der Vergangenheit erprobten Erfahrungswerte und standardisierte Vorgehensweisen besitzen.

254

Fazit

So gesehen, wird die Qualität unserer Vorstellungsgespräche dann insgesamt eine relevante Kennzahl für die Zukunftsfähigkeit unserer Organisationen. Wir können sie durch Kandidatenbefragungen, Verbleibstudien, Supervisionen oder kollegiales Feedback messen und evaluieren. Wir können sie als Lernziel in die allgemeine Führungskräfteentwicklung integrieren und in die Ausbildung der HR-Business-Partner sowieso. Wir können die Personalauswahl neu entdecken als ein Arbeitsfeld, auf dem wir mit vergleichsweise wenigen Mitteln vielfältige und nachhaltige Veränderungen in unseren Organisationen bewirken können. Es spricht viel dafür, dies auch zu tun!

Literatur

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Dank

Viele, viele Menschen haben wichtigen Anteil am Entstehen dieses Buches. Manche haben große Abschnitte teilweise mehrmals Korrektur gelesen. Andere gaben in einzelnen Gesprächen genau die Inspiration, Anregung und Rückmeldung, die in diesem Moment weitergeholfen hat. Wieder andere standen mir menschlich oder logistisch mit Ermutigung, Geduld und Unterstützung zur Seite. Weitere haben viel dazu beigetragen, dass das Buch nun bekannt gemacht und verbreitet wird. All diesen Menschen gilt mein großer Dank. Es hat so viel Spaß gemacht, dieses Buch zu schreiben, auch wegen euch und Ihnen! Drei Personen – Frank Bannys, Monika Stahl und Doris Schemmel – möchte ich herausheben, deren Unterstützung als Lektoren und Ratgeber von besonderer Bedeutung war. Sie haben mir erfolgreich die textlichen Selbstverliebtheiten und akademischen Pirouetten ausgetrieben und mich immer wieder hartnäckig daran erinnert, dass dieses Buch ja einmal Leserinnen und Leser haben soll. Alle anderen Menschen, die auf die eine oder andere Art an diesem Buchprojekt beteiligt waren, möchte ich einfach alphabetisch aufzählen; alle waren wichtig: Martin Andree, Rüdiger Bechstein, Stefan Brindt, Johanna Charpentier, Valeria Chignoli, Lilith Christiansen, Gabriella Gal, Ines Gasser, Anne Heiduck, Simone Heinrich, Romina Helm, Prof. Dr. Jürgen Henze, Katharina Heuer, Dr. Imke Heuer, Jessie Hütter, Maria Kapaki, Wolfgang Kissel, Eva Krotoschak, Philipp Kunze, Nicole Kurz, René Kusch, Magdalena Lozowska, Julia Mützel, Christoph Nagler, Moritz Neugebauer, Prof. Dr. Jürgen Olesch, Kristina Pinkert, Günter Presting, Ke Rao, Britta Riedel, Susanne Riedel, Prof. Dr. Werner Sarges, Philipp Scharff, Sein Schmidt, Prof. Dr. Heinz Schuler, Anne Schwarz, Regina Stoyhe, Dr. Jingjing Wang, Volkmar Wenzel, András Wienands, Frauke Wrage, Paweł Zych sowie alle Kandidatinnen und Kandidaten, Interviewerinnen und Interviewer unserer interkulturellen Interviewsimulationen. Danke!

Leserstimmen

»Das Buch beleuchtet anschaulich, warum wir uns bei der Auswahl von Bewerbern aus Asien, Osteuropa und anderen Kulturkreisen oft schwer tun und wie sehr unser Auswahlurteil durch unsere eigene kulturelle Brille bestimmt wird. Die vielen Praxisbeispiele und ihre Analysen werden dabei eingebettet in einen verständlich beschriebenen wissenschaftlichen Kontext. Ein sehr gelungenes Buch.« Katharina Heuer, Geschäftsführerin der Deutschen Gesellschaft für Personalführung e. V. (DGFP)

»Diversity in der Personalauswahl – ein sehr wichtiger Aspekt, um dem Mangel an Fachkräften zu begegnen. Den angemessenen und sensiblen Umgang mit Interkulturalität müssen wir lernen und nutzen, um unsere Innovationskraft in den Unternehmen zu stärken und an die voranschreitende Globalisierung anzupassen. Ein spannendes Thema, in diesem Buch praxisnah und kenntnisreich umgesetzt.« Prof. Dr. Gunther Olesch, Geschäftsführer Personal, Informatik u. Recht, PHOENIX CONTACT GmbH & Co. KG

»Der Autor beleuchtet mit seinem Buch ein Thema, das nicht nur in Anbetracht zunehmender Globalisierung und internationaler Bildungsmigration immer relevanter wird. Je schneller und komplexer die Märkte sind, auf denen sich unsere Unternehmen bewegen, desto relevanter wird unsere Fähigkeit, Neuland zu betreten und innovative Lösungswege zu entdecken. Das Buch ist vielfältig und sehr gut recherchiert, nimmt den Leser dabei stets an die Hand und bleibt auch in komplexer Materie anschaulich und nachvollziehbar. Eine absolut empfehlenswerte Lektüre nicht nur für Recruiter.« Stefan Brindt, General Manager Human Resources and Organisation Development bei der SMS Siemag AG und Leiter der Fachgruppe Recruiting und Employer Branding beim Bundesverband der Personalmanager

Leserstimmen

265

»Das Buch überträgt wichtige Forschungsergebnisse und Praxismethoden des interkulturellen Managements auf die Personalauswahl und schließt damit eine große Lücke. Breit recherchiert, fundiert und praxisorientiert geschrieben – eine Pflichtlektüre für Verantwortungsträger in der internationalen Personalarbeit sowie eine absolute Bereicherung für alle, die sich für internationale und interkulturelle Themenstellungen im Management interessieren.« Diplom-Kaufmann Frank Bannys, Autor von »Interkulturelles Management«, seit 2010 internationaler Managementberater, davor 20 Jahre unterschiedliche internationale Führungspositionen als Senior Vice President der Giesecke & Devrient GmbH

»Der Autor beschreibt differenziert und eingängig, wie unterschiedlich sich westliche und östliche Denkstile und Konzepte der Selbstpräsentation im Vorstellungsgespräch offenbaren. Man spürt die Referenz auf begründete Wissenschaft bei gleichzeitiger Anwendungsoption für die Praxis, das ist freilich die Gratwanderung für uns alle. Glückwunsch, das ist ein guter Wurf!« Prof. Dr. Jürgen Henze, Professor für Vergleichende Erziehungswissenschaft an der HumboldtUniversität zu Berlin, Berater und Trainer mit dem Schwerpunkt Asiatische Kulturräume und Vorsitzender des Instituts für die Didaktik interkulturellen Handelns (INDIK e. V.)