Interdisziplinäre Anthropologie: Jahrbuch 7/2019: Soziale Ungleichheit [1. Aufl. 2019] 978-3-658-28232-5, 978-3-658-28233-2

Der Widerspruch zwischen dem empirischen Befund faktischer gesellschaftlicher Ungleichheit und der idealen Forderung nac

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German Pages XI, 232 [226] Year 2019

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Interdisziplinäre Anthropologie: Jahrbuch 7/2019: Soziale Ungleichheit [1. Aufl. 2019]
 978-3-658-28232-5, 978-3-658-28233-2

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XI
Front Matter ....Pages 1-1
Soziale Ungleichheit (Peter M. Kappeler, Claudia Fichtel)....Pages 3-31
Front Matter ....Pages 33-33
Weshalb Ungleichheit zu Stresserleben, aber nicht notwendigerweise zu Vereinzelung führt: Ein Blick in die psychologische Black Box (Immo Fritsche, Philipp Jugert)....Pages 35-43
Das Problem mit der Ungleichheit: Interdisziplinäre Perspektiven auf einen komplexen Begriff (Christoph Meißelbach)....Pages 45-54
Ungleiche Ungleichheiten: Dimensionen (der Ungleichheit) und deren normative Bewertung (Andreas Peichl, Marc Stöckli)....Pages 55-61
Von Affen und Menschen (Thomas Schwinn)....Pages 63-70
Der Begriff der Gleichheit (Christian Thies)....Pages 71-75
Probleme aufgrund sozialer Ungleichheit: Ein Mismatch-Phänomen (Carel P. van Schaik, Judith M. Burkart)....Pages 77-84
Front Matter ....Pages 85-85
Soziale Ungleichheit (Peter M. Kappeler, Claudia Fichtel)....Pages 87-95
Front Matter ....Pages 97-97
Anthropologie des Tastsinns: Bewegung – Leibkonstitution – Wirklichkeit (Matthias Schloßberger)....Pages 99-125
Wahrnehmungsgehalte und begriffliche Kapazitäten (Christian Tewes)....Pages 127-147
Front Matter ....Pages 149-149
Graduiertenschule Herausforderung Leben an der Universität Koblenz-Landau – Entwicklungen (Annika Hand)....Pages 151-161
Tagungsbericht: Die Ästhetiken der philosophischen Anthropologie (Mina Wagener)....Pages 163-173
Front Matter ....Pages 175-175
Rezension zu (Anne Wilken)....Pages 177-184
Rezension zu (Oliver Victor)....Pages 185-192
Rezension zu (Jan G. Michel)....Pages 193-197
Rezension zu (Eberhard Schockenhoff)....Pages 199-208
Front Matter ....Pages 209-209
Ernst Haeckel (1834–1919): Radikale Wissenschaft, breite Bürgerlichkeit und pazifistische Polemik (Paul Ziche)....Pages 211-232

Citation preview

Interdisziplinäre Anthropologie

Gerald Hartung · Matthias Herrgen Hrsg.

Interdisziplinäre Anthropologie Jahrbuch 7/2019: Soziale Ungleichheit

Interdisziplinäre Anthropologie Reihe herausgegeben von Gerald Hartung, Wuppertal, Deutschland Matthias Herrgen, Darmstadt, Deutschland

Anthropologische Forschungen stehen gegenwärtig im Brennpunkt interdisziplinärer Debatten. Insbesondere in den Bereichen der Biologie und den empirischen Anthropologien sind in den letzten Jahrzehnten rasante Fortschritte zu verzeichnen. Eine Jahresschrift zur Interdisziplinären Anthropologie stellt sich der Aufgabe, den interdisziplinären Dialog in der aktuellen anthropologischen Forschung darzustellen und versteht sich daher als ein strikt Disziplinen übergreifendes Publikationsmedium. Dieser Anspruch manifestiert sich in der dialogischen Form des Diskursteils (in jeder Ausgabe wird ein Schwerpunktthema im Dreischritt Leitartikel, Kommentare, Replik diskursiv thematisiert), der mit Berichten zu interdisziplinären Projekten im anthropologischen Forschungsfeld ergänzt wird. Ein Rezensionsteil bespricht aktuelle wissenschaftliche Publikationen zu relevanten Aspekten, die Rubrik ‚Kalender‘ widmet sich einem biographischen oder bibliographischen Jubiläumsereignis. Reihe herausgegeben von Prof. Dr. Gerald Hartung Bergische Universität Wuppertal Deutschland

Dr. Matthias Herrgen Hochschule Darmstadt Darmstadt, Deutschland

Editorial Board: Prof. Dr. Christian Bermes Universität Landau, Deutschland

Prof. Dr. Dr. hc. Winfried Henke Universität Mainz, Deutschland

Prof. Dr. Peter Kappeler Universität Göttingen, Deutschland

PD Dr. Magnus Schlette Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft e.V. FEST Heidelberg, Deutschland

Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/13338

Gerald Hartung · Matthias Herrgen (Hrsg.)

Interdisziplinäre Anthropologie Jahrbuch 7/2019: Soziale Ungleichheit

Hrsg. Gerald Hartung Bergische Universität Wuppertal Wuppertal, Deutschland

Matthias Herrgen Hochschule Darmstadt Darmstadt, Deutschland

ISSN 2198-8285  (electronic) ISSN 2198-8277 Interdisziplinäre Anthropologie ISBN 978-3-658-28232-5 ISBN 978-3-658-28233-2  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-28233-2 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­ bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer VS © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informa­ tionen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Inhalt

Gerald Hartung / Matthias Herrgen Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX

I Diskurs „Soziale Ungleichheit“ 1 Hauptbeitrag Peter M. Kappeler / Claudia Fichtel Soziale Ungleichheit. Muster, Mechanismen und Konsequenzen in Primatengesellschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 2 Kommentare Immo Fritsche / Philipp Jugert Weshalb Ungleichheit zu Stresserleben, aber nicht notwendigerweise zu Vereinzelung führt: Ein Blick in die psychologische Black Box . . . . . . . . . . . 35 Christoph Meißelbach Das Problem mit der Ungleichheit: Interdisziplinäre Perspektiven auf einen komplexen Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 Andreas Peichl / Marc Stöckli Ungleiche Ungleichheiten: Dimensionen (der Ungleichheit) und deren normative Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55

VI

Inhalt

Thomas Schwinn Von Affen und Menschen. Über anthropologisch-soziale Passförmigkeit . . . . 63 Christian Thies Der Begriff der Gleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 Carel P. van Schaik / Judith M. Burkart Probleme aufgrund sozialer Ungleichheit: Ein Mismatch-Phänomen . . . . . . . . 77 3 Replik Peter M. Kappeler / Claudia Fichtel Soziale Ungleichheit. Ein Paradebeispiel für interdisziplinäre anthropologische Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87

II Beiträge (peer reviewed) Matthias Schloßberger Anthropologie des Tastsinns: Bewegung – Leibkonstitution – Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 Christian Tewes Wahrnehmungsgehalte und begriffliche Kapazitäten. Eine enaktiv-anthropologische Forschungskontroverse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127

III Berichte Annika Hand et al. Graduiertenschule Herausforderung Leben an der Universität Koblenz-Landau – Entwicklungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Mina Wagener Tagungsbericht: Die Ästhetiken der philosophischen Anthropologie . . . . . . . . . 163

Inhalt

VII

IV Rezensionen Anne Wilken Böhnert, Martin / Köchy, Kristian / Wunsch, Matthias (Hg.): Philosophie der Tierforschung (Bd. 1: Methoden und Programme, Bd. 2: Maximen und Konsequenzen, Bd. 3: Milieus und Akteure), Freiburg und München 2016–2018, 1095 Seiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Oliver Victor Langthaler, Rudolf / Hofer, Michael (Hg.): Existenzphilosophie. Anspruch und Kritik einer Denkform, Wien 2014, 169 Seiten . . . . . . . . . . . . . 185 Jan G. Michel Magnus Schlette, Thomas Fuchs, Anna Maria Kirchner (Hg.): Anthropologie der Wahrnehmung, Schriften des MarsiliusKollegs Bd. 16, Heidelberg 2017, 564 Seiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Eberhard Schockenhoff Tewes, Christian: Libertarismus. Willensfreiheit und Verursachung, Frankfurt am Main 2017, 412 Seiten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199

V Kalender Paul Ziche Ernst Haeckel (1834–1919): Radikale Wissenschaft, breite Bürgerlichkeit und pazifistische Polemik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211

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Gerald Hartung / Matthias Herrgen

Vorwort

Die Verwendung des Begriffes der Ungleichheit scheint, auch wenn als rein deskriptiver Terminus gemeint, stets eine evaluative Komponente in sich zu tragen. Schon die Markierung „sozialer Ungleichheit“ im Kontext gesellschaftlicher Analysen leitet über zu einer Problemanzeige, motiviert einen Handlungsbedarf und reiht sich ein in die Argumentationsmuster kulturkritischer oder -pessimistischer Positionen. Wer über Ungleichheit spricht, der kann keinen neutralen Standpunkt einnehmen, so hat es den Anschein. Max Webers Forderung, dass sich wissenschaftliche Forschung der Werturteile enthalten soll, erfährt hier offensichtlich eine Einschränkung. Der Widerspruch zwischen dem empirischen Befund faktischer gesellschaftlicher Ungleichheit und der idealen Forderung nach Gleichheit, die zu den Moral- und Rechtsprinzipien des Aufklärungszeitalters und der Moderne gehört, wirkt zurück in den Wissenschaftsbetrieb. Was bleibt von unserer Rede vom Idealbild des Menschen als animal sociale angesichts der realen Schieflagen in einer ‚ungleichen‘ Gesellschaft? Hilft die kontrafaktische Forderung nach einer gerechten Gesellschaft, unseren Sinn für Ungleichheiten und Ungerechtigkeit zu schärfen oder macht sie uns blind für die faktische Lage der Dinge? Aber auch anders gefragt: Kann Ungleichheit überhaupt als ein Faktum der Wissenschaft begriffen werden? Welche Auswirkungen hätte eine Anerkennung der Ungleichheit als Faktum in biologischer, soziologischer, vielleicht sogar moralischer und politischer Hinsicht auf unsere Konzeption der conditio humana? Mit diesen Fragen ist nur von weither die Herausforderung angesprochen, die uns bei der Konzeptionalisierung des thematischen Schwerpunkts unseres siebten Jahrbuchs vor Augen stand. Mit dem disziplinären Ausgangspunkt in der Primatologie respektive vergleichenden Ethologie möchte der Diskurs die Tiefenstrukturen der sozialen Ungleichheiten ausloten. Mit der Ausgangsthese, dass das Leben in Sozialverbänden ein im Tierreich weit verbreitetes, ferner in der Mannigfaltigkeit der Sozialformen ein stammesgeschichtlich hochgradig variables Phänomen ist, bieten sich somit für

X

Vorwort

den Vergleich mit den Spezifika der menschlichen Vergesellschaftung hinreichend Vergleichsmomente an. Die Debatte der Interdisziplinären Anthropologie möchte statt biologischer Reduktionismen oder naturalistischer Verkürzungen die menschliche Sozialität und deren ‚Schieflagen‘ im Sinne der Ungleichheit als inter- und transdisziplinären Allgemeinplatz einwickeln, in denen den beteiligten Disziplinen zuallererst eine heuristische Phänomenbeschreibung ermöglicht wird – statt diese Ansätze einem naturalistischen Fehlschluss zu opfern, wie sich wissenschaftsgeschichtlich an sozialdarwinistischen Strömungen oder den Debatten im Kontext der Soziobiologie zeigen lässt. Dank des Engagements der Autoren unseres target articles, Peter Kappeler und Claudia Fichtel, steht dieser Ausgabe ein explizit primatologischer Ausgangspunkt des Themenheftes zur Verfügung, dessen diskursive methodische Durchdringungen durch zahlreiche Kommentatorinnen und Kommentatoren realisiert wurde: Zwischen der Analyse von Ungleichheitseffekten, den kritischen Debatten um die Varianz und Folgen von Exklusionsmechanismen zeigt sich eine Schwerpunktbildung im Themenkreis von Einsamkeit & Isolation: Aus unserer Sicht wird daher ganz wunderbar deutlich, wie zeitgemäß die Interdisziplinäre Anthropologie Anschluss an rezente lebensweltliche Herausforderungen findet. Allen Beiträgern zum Diskurs daher unser herzlicher Dank! Unsere Reviewer haben erneut mit viel Geduld die Rubrik „Beiträge“ betreut und damit zur Qualitätssicherung und Entwicklung unseres Formates wesentlich beigetragen, auch dafür unser bester Dank. Die redaktionelle Bearbeitung des vorliegenden Bandes sowie das Redigat wurden wie gewohnt mit großer Routine und Einsatz von Sarah Laufs M.A. (Promovendin am Historischen Seminar der Universität Düsseldorf) und Sascha Kühlein M. Ed. (Philosophie, Universität Wuppertal) vorgenommen. Wir danken beiden recht herzlich für ihre Treue, die sie auch nach Ende ihrer jeweiligen Studien- und Projektzeiten an unseren Instituten mit dem Jahrbuchprojekt verbindet. Das achte Jahrbuch wird sich einem Thema widmen, das nicht nur im Diskurs der 5. Ausgabe (Lebensspanne 2.0) bereits angeklungen ist, sondern auch eine kontroverse gesellschaftliche Debatte abbildet. Mit „Tod & Sterben“ wollen wir uns einerseits der ‚Kultur des Sterbens‘ in kulturtheoretischer Perspektive widmen, andererseits die Vielgestaltigkeit theoretischer Ansätze ansprechen, die im Rahmen der Endlichkeitserfahrung des Menschen zweifelsohne eine anthropologische Herausforderung darstellen. Wir danken ferner unserem editorial board, das seit Jahren an der inhaltlichen Konzeption unseres Projektes mitwirkt. Last not least danken wir Ihnen, liebe Leserinnen und Lesern, für Ihre Treue, sowohl in der digitalen Welt oder in der klassischen Form des ‚analogen‘ Buches. Gerne stehen wir für kritische Rück-

Vorwort

XI

meldungen und Ideen zur Zukunft unseres Jahrbuch-Projektes zur Verfügung: [email protected] Ihre Herausgeber Gerald Hartung und Matthias Herrgen Wuppertal / Darmstadt, im September 2019

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I Diskurs „Soziale Ungleichheit“ 1 Hauptbeitrag

Peter M. Kappeler / Claudia Fichtel

Soziale Ungleichheit Muster, Mechanismen und Konsequenzen in Primatengesellschaften

“All human beings are born free and equal in dignity and rights. They are endowed with reason and conscience and should act towards one another in a spirit of brotherhood.” Universal Declaration of Human Rights 1948 “Culture normally evolves more rapidly than genes, creating novel environments that expose genes to new selective pressures.” Richerson et al. 2010

Zusammenfassung Soziale Ungleichheit und ihre Folgen stellen ein massives Problem für die Stabilität und den Zusammenhalt moderner menschlicher Gesellschaften dar; unter anderem weil sie mit erhöhten Risiken für zahlreiche, individuell nachteilige Merkmale verbunden sind. Wir diskutieren Stress und Einsamkeit als psycho-soziale Faktoren, die diese Verbindung vermitteln, und fassen den Stand der aktuellen Forschung zu deren Beziehungen in Gesellschaften nicht-menschlicher Primaten zusammen. Wir argumentieren, dass die für Homo sapiens vor der Sesshaftigkeit charakteristische Form des Sozialsystems soziale Gleichheit gefördert hat, und dass sich unsere Lebensbedingungen in wenigen Jahrtausenden so rasant und grundlegend geändert haben, dass unsere Psyche und Physiologie noch nicht ausreichend Zeit hatten, darauf mit Anpassungen zu reagieren, die nicht durch die Folgen von chronischem Stress charakterisiert sind. Soziale Ungleichheit und ihre Folgen in menschlichen Gesellschaften liefern also ein Beispiel für die Dynamik der Koevolution zwischen kultureller Veränderung und evolutionärer Anpassung – eines der grundlegenden Probleme der evolutionären Anthropologie.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 G. Hartung und M. Herrgen (Hrsg.), Interdisziplinäre Anthropologie, Interdisziplinäre Anthropologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28233-2_1

Peter M. Kappeler / Claudia Fichtel

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Formen sozialer Ungleichheit in menschlichen Gesellschaften

Gleichheit ist ein herausragender Anspruch moderner menschlicher Gesellschaften. Obwohl die Isonomie, also die politische Gleichheit aller Vollbürger einer Gemeinde, schon im antiken Griechenland unter Kleisthenes erstmals eingeführt wurde und damit eine wichtige Grundlage für die Errichtung der antiken Demokratie darstellte, waren Frauen, Sklaven und Männer unter 30 Jahren von diesem gesellschaftlichen Fortschritt ausgeschlossen. Erst mehr als 2000 Jahre später erfuhr das Ideal der Gleichheit eine entscheidende Renaissance und Weiterentwicklung. In den Versionen des englischen Manifests Agreement of the People von 1647 wurde die Gleichheit vor dem Gesetz erstmals in der Neuzeit propagiert. Etwa zur gleichen Zeit charakterisierte Thomas Hobbes 1651 im Leviathan den Naturzustand des Menschen durch Gleichheit und Freiheit.1 Allerdings beinhaltet die Gleichheit in seinem Gedankenexperiment auch das Recht jedes einzelnen, seine egoistischen Interessen durchzusetzen, wodurch Gleichheit ironischerweise zu Konflikten und Krieg führt. John Locke trat dieser Schlussfolgerung von Hobbes 1690 insofern entgegen, als dass seine aus der Interpretation biblischer Texte abgeleitete Überzeugung, dass die Ausübung der höchsten Naturrechte, also Freiheit, Gleichheit – einschließlich der Gleichheit von Mann und Frau – und die Unverletzlichkeit von Eigentum und Person, durch die Rechte anderer begrenzt ist.2 Die faszinierende und revolutionäre Idee der Gleichheit war im weiteren Verlauf des 17. Jahrhunderts nicht mehr aufzuhalten und brach sich mit der fortschreitenden Aufklärung in der Amerikanischen und Französischen Revolution Bahn. Der Rest ist Geschichte. Trotz dieser historisch einschneidenden gesellschaftlichen Umwälzungen, die nicht zuletzt auch das Ziel hatten, das Ideal der Gleichheit zu befördern, ist die Ungleichheit der Lebensbedingungen heute ein fundamentales Charakteristikum praktisch aller menschlichen Gesellschaften. So ist der formale Anspruch auf Gleichheit zwar insgesamt weit verbreitet, aber es gibt immer noch Gesellschaften, in denen Menschen aufgrund ihres Geschlechts, ihrer ethnischen oder sozialen Herkunft, ihrer religiösen oder politischen Überzeugung oder wegen ihrer sexuellen Präferenzen diskriminiert, unterdrückt oder gar verfolgt werden. Zudem existieren in Gesellschaften mit formaler Gleichheit vor dem Gesetz und im gesellschaftlichen Umgang auch Unterschiede im individuellen Zugang zu Bildung sowie im Risiko, bestimmten Krankheiten anheim zu fallen, Opfer krimineller Gewalt zu

1 Hobbes 1651. 2 Locke 1690.

Soziale Ungleichheit

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werden oder ein bestimmtes Lebensalter zu erreichen.3 So schwankt beispielsweise die durchschnittliche individuelle Lebenserwartung zwischen Bewohnern von Sambia (ca. 40 Jahre) und Japan (> 80 Jahre) um das Doppelte und ähnlich große Unterschiede in Bezug auf die subjektive „allgemeine Zufriedenheit“ existieren zwischen Bulgaren und Isländern. Dass zahlreiche Faktoren, welche die Lebenserwartung oder die Zufriedenheit beeinflussen, mit Unterschieden im absoluten Wohlstand (gemessen als durchschnittliches Jahreseinkommen) korreliert sind, ist an sich kaum überraschend. Erst auf den zweiten Blick zeigt sich aber, dass soziale Ungleichheit innerhalb einer Gesellschaft ebenso – und zum Teil sehr viel entscheidender – bedeutsam für Gesundheit und Zufriedenheit ist als die absoluten Unterschiede zwischen Gesellschaften. Auch in dieser Hinsicht existieren große Unterschiede. So ist der income gap, also der Unterschied zwischen dem durchschnittlichen verfügbaren Pro-Kopf-Einkommen der reichsten und ärmsten 20 % einer Gesellschaft in Singapur und in den USA mehr als doppelt so groß als in Japan und Finnland, obwohl es sich nach den Maßstäben des absoluten Durchschnittseinkommens in allen Fällen um vergleichsweise wohlhabende Gesellschaften handelt. Dieses Maß an Ungleichheit lässt sich für jedes Land aus offiziellen Statistiken ermitteln und in Bezug zu anderen, durchschnittlichen sozio-ökonomischen oder gesundheitlichen Kenngrößen setzen.4

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Konsequenzen sozialer Ungleichheit

Zahlreiche derartige korrelative Untersuchungen haben gezeigt, dass dieses Maß sozio- ökonomischer Ungleichheit innerhalb einer Gesellschaft mit sehr viel mehr Indikatoren individueller Gesundheit und des gesellschaftlichen Zusammenhaltes korreliert als Unterschiede in der absoluten durchschnittlichen sozio-ökonomischen Situation.5 So nehmen beispielsweise das Vertrauen in Mitmenschen, die durchschnittliche Lebenserwartung, sowie die vertikale soziale Mobilität mit zunehmender Ungleichheit über zahlreiche Gesellschaften hinweg ab, wohingegen der Anteil von Personen mit geistigen Krankheiten, der Anteil Drogenabhängiger, Übergewichtiger und Gefängnisinsassen, die Kindersterblichkeit, die Rate von Teenager-Schwangerschaften und von Morden mit zunehmender Ungleichheit

3 Wilkinson / Pickett 2009. 4 Wilkinson / Pickett 2009. 5 Wilkinson / Pickett 2009.

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Peter M. Kappeler / Claudia Fichtel

zunehmen.6 Ungleichheit hat daher zahlreiche Konsequenzen für grundlegende Merkmale des Sozialverhaltens und der menschlichen Biologie, die sich letztendlich auf individuelle physische oder psychologische Merkmale oder auf bestimmte Verhaltenstendenzen, oft auch im Umgang mit anderen, zurückführen lassen. Außerdem sind diese Konsequenzen entweder für die direkt Betroffenen oder für deren Gesellschaft als Ganzes offensichtlich von Nachteil. In diesem Aufsatz beschäftigen wir uns mit der Frage, wie und warum diese Zusammenhänge möglicherweise zustande kommen. In Bezug auf die beschriebenen Korrelationen zwischen Kennzahlen aus nationalen Erhebungen gilt es vorweg zwei Dinge klarzustellen. Zum einen ist es offensichtlich, dass den signifikanten Zusammenhängen zwischen dem durchschnittlichen Maß an sozialer (Un-)gleichheit und dem psychischen und physischen Wohlbefinden nicht notwendigerweise direkte kausale Beziehungen zugrundeliegen müssen. Allerdings gibt es mehrere Studien, die einen kausalen Zusammenhang zwischen sozialen Faktoren und individueller Gesundheit experimentell nachgewiesen haben. Dabei hatten beispielsweise Probandinnen mit mehr und intensiveren sozialen Kontakten eine geringere Wahrscheinlichkeit, infolge einer experimentellen Virusapplikation eine Erkältung zu bekommen, als Studienteilnehmer mit weniger und schwächeren sozialen Kontakten.7 Eine stärkere soziale Integration verbessert also scheinbar die Immunabwehr und letztendlich die Gesundheit. Umgekehrt gibt es keine Unterstützung für die alternative Hypothese, dass kranke oder infizierte Personen aufgrund ihres Gesundheitszustandes sozial weniger integriert wären. Wir gehen daher nicht davon aus, dass eine vergleichsweise geringe Lebenserwartung oder eine hohe Mordrate zu mehr sozialer Ungleichheit führen, sondern dass durchschnittliche Unterschiede in der sozialen (Un-) gleichheit zwischen Gesellschaften zu messbaren Effekten in den jeweils anderen Variablen führen. Zum anderen gilt es zu betonen, dass durchschnittliche Zusammenhänge, basierend auf nationalen Statistiken, keine Vorhersagen über unvermeidbare Konsequenzen für individuelle Schicksale erlauben. Vielmehr zeigen diese Untersuchungen durchschnittliche Risiken auf, die sich aus Unterschieden im sozialen Status ergeben. Eine Analogie mit dem Rauchen verdeutlicht diesen Punkt: Nicht jeder Raucher stirbt an einer der Krankheiten, die in abschreckenden Darstellungen Zigarettenschachteln zieren; gleichwohl erhöht regelmäßiges Rauchen das Risiko, eines dieser Schicksale zu erleiden.

6 Siehe auch Daly 2016. 7 Cohen et al. 1997.

Soziale Ungleichheit

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7

Physiologische Reaktionen auf soziale Ungleichheit

Bei der Menge und Anzahl giftiger und krebserregender Substanzen im Tabakrauch ist es nicht verwunderlich, dass dessen Inhalation zu negativen gesundheitlichen Konsequenzen führen kann. Wie kann aber ein Maß subjektiver Wahrnehmung der sozialen Position das Verhalten und die Physiologie eines Individuums beeinflussen? Und wieso sind diese Effekte für die Betroffenen offensichtlich nachteilig? In diesem Zusammenhang werden vor allem zwei verhaltensphysiologische Mechanismen diskutiert: Chronischer Stress und subjektiv wahrgenommene Einsamkeit. Erstens nimmt die physiologische Stress-Reaktion unter den psychologischen und physiologischen Mechanismen, die diese Beziehung vermitteln, eine gut untersuchte und zentrale Rolle ein.8 Diese Reaktion ist, wie bei allen Wirbeltieren, durch die vermehrte Ausschüttung von Glukokortikoiden und anderen Hormonen als Reaktion auf die Einwirkung externer sozialer oder ökologischer Stressoren charakterisiert. Durch die Ausschüttung dieser Botenstoffe wird kurzfristig mehr verfügbare Energie mobilisiert, wodurch sich die allgemeine physische und psychische Leistungsfähigkeit erhöht.9 Wenn die stress-auslösenden Faktoren durch diese Reaktion aber nicht kurzfristig beseitigt werden, hat chronischer Stress eine Reihe nachteiliger Effekte; unter anderem auch auf die Leistungsfähigkeit des Immunsystem und des zentralen Nervensystems.10 Dadurch entsteht für die physiologische Steuerung des Organismus ein Dilemma, denn es gilt zu entscheiden, wie die begrenzte verfügbare Energie unter diesen Bedingungen am besten zwischen Wachstum, Fortpflanzung und Erhaltungsfunktionen, zu denen auch das Immunsystem gehört, aufgeteilt werden soll. Da Individuen sich darin unterscheiden, wie häufig und wie lange sie welchen stress-auslösenden Faktoren ausgesetzt sind und wie gut sie deren Effekte abbauen können, ergeben sich dadurch letztendlich Unterschiede darin, wie gesund Individuen sind, wie erfolgreich sie sich fortpflanzen und wie lange sie leben. Der soziale Status eines Individuums in Relation zu den anderen Mitgliedern seiner Gesellschaft stellt in zahlreichen Arten einen wichtigen sozialen Stressor dar.11 Bei Menschen geht man davon aus, dass die Wahrnehmung chronischer sozialer Ungleichheit innerhalb einer Gesellschaft ähnliche physiologische Reaktionen auslöst wie soziale Subordination bei anderen Säugetieren.12 Je größer 8 9 10 11 12

De Kloet et al. 2005. Von Holst 1998. De Kloet et al. 2005. Sapolsky 2004; Sapolsky 2005. Wilkinson 2004; Sandi / Haller 2015.

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Peter M. Kappeler / Claudia Fichtel

also der Unterschied in der subjektiv wahrgenommenen sozialen Benachteiligung zwischen den Reichsten und Ärmsten einer Gesellschaft, umso ausgeprägter sollte der Durchschnittswert einer Gesellschaft für die von der sozialen Ungleichheit betroffenen Variablen sein, wodurch die beobachteten Korrelationen zwischen Gesellschaften letztendlich zustande kommen. Die negativen Effekte eines geringen sozialen Status können aber durch andere soziale Faktoren wie Freundschaften, enge soziale Bindungen und Vertrauen in Andere abgemildert werden; unter anderem durch die dadurch ausgelöste Ausschüttung von Oxytocin. Dieser Effekt wird als social buffering bezeichnet.13 Auf der Verhaltensebene wirkt die Summe der Konsequenzen wiederholter Interaktionen im Laufe der Zeit ebenfalls als sozialer Puffer einer Stressreaktion. Selbst die Mitgliedschaft in sozialen Gruppierungen, beispielsweise in einer Kirchengemeinde, hat messbare positive Effekte auf die Lebenserwartung.14 Zweitens führt mehr Ungleichheit innerhalb einer Gesellschaft zu einer Abnahme der allgemeinen sozialen Kohäsion, welche sich wiederum in einem erhöhten Risiko für soziale Vereinsamung niederschlägt.15 Zahlreiche klinische Studien haben gezeigt, dass Einsamkeit das Mortalitätsrisiko um bis zu 30 % erhöht.16 Dieser Effekt wird ebenfalls durch atypische Reaktivität auf akuten Stress vermittelt. So weisen Menschen, die sich einsam fühlen, vermehrt kardio-vaskuläre Unregelmäßigkeiten, Schlafstörungen, erhöhten Blutdruck und Entzündungsreaktivität auf und deren Immunreaktivität ist abgeschwächt.17 Subjektiv wahrgenommene soziale Isolation trägt unter anderem auch zu verminderter kognitiver Performanz und exekutiver Funktion bei und sie beeinflusst soziale kognitive Fähigkeiten in einer Art und Weise, die zu einer (weiteren) Abnahme sozialer Kohäsion führt.18 Einsamkeit reduziert also soziale Aufmerksamkeit und Kognition, aber auch Emotionalität und Soziabilität, sodass sich infolgedessen Morbidität und Mortalität erhöhen. Damit werden also letztendlich dieselben physiologischen Regulationsmechanismen eingesetzt, die auch Effekte chronischer sozialer Stressoren abwenden. Mit anderen Worten: Wir verfügen nur über eine überschaubare Anzahl physiologischer Mechanismen, mit denen wir den Konsequenzen sozialer Ungleichheit begegnen können.

13 Cohen / Wills 1985. 14 House / Landis / Umberson 1988. 15 Berger-Schmitt 2000; De Jong Gierveld / Van Tilburg / Dykstra 2006; Schiefer / Van der Noll 2017. 16 Holt-Lunstad et al. 2015. 17 Cacioppo / Hawkley 2003; Brown / Gallagher / Creaven 2018. 18 Cacioppo / Hawkley 2009.

Soziale Ungleichheit

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Der Einfluss von sozialen Stressoren auf Gesundheit und erfolgreiche Fortpflanzung ist bei Menschen schon lange bekannt.19 So haben beispielsweise einsame Menschen eine um bis zu 50 % reduzierte Lebenserwartung sowie ein erhöhtes Risiko für Depressionen, Herz-Kreislauf Erkrankungen und diverse Infektionen.20 Außerdem haben zahlreiche Studien einen Zusammenhang zwischen sozio-ökonomischem Status und Gesundheit21 sowie zwischen sozialem Stress und Gesundheit22 belegt, wobei beide Faktoren über die gesamte Lebensspanne wirken können, d. h. soziale Einflüsse in der Kindheit haben auch nachhaltige Effekte auf die Gesundheit von Erwachsenen. Schließlich sind auch subtilere soziale Einflüsse auf den menschlichen Fortpflanzungserfolg bekannt: Die Präsenz der Schwiegermutter erhöht die Sterblichkeit von Söhnen,23 wohingegen die Anwesenheit der eigenen Mutter die Überlebensrate der Kinder einer Frau erhöht.24

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Fragen und Ziele

Neben Hinweisen aus korrelativen Vergleichen zwischen menschlichen Gesellschaften gibt es auch deutliche Hinweise aus klinischen und soziologischen Studien, die auf enge kausale und funktionale Zusammenhänge zwischen sozialen Faktoren und dem körperlichen und geistigen Wohlbefinden schließen lassen. Vor diesem Hintergrund stellt sich für uns und andere evolutionäre Anthropologen die Frage nach der evolutionären Geschichte und der Angepasstheit der biologischen Reaktionen auf soziale Ungleichheit. Mit anderen Worten: Sind die Konsequenzen von Unterschieden in sozialer Ungleichheit ein Phänomen moderner menschlicher Gesellschaften, die sich in Größe und Komplexität von den sozialen Einheiten unterscheiden, in denen Homo sapiens mehr als 95 % seiner Existenz verbracht hat, Beispiele für Fehlanpassungen (maladaptations) in dem Sinne, dass unter anderen Bedingungen fitnesssteigernde Merkmalsanpassungen heute zu gegenteiligen Effekten führen,25 oder handelt es sich um unvermeidbare Kosten der Sozialität, die sich auch in anderen Arten in entsprechender Form wiederfinden?

19 20 21 22 23 24 25

House / Landis / Umberson 1988. Holt-Lunstad / Smith / Layton 2010; Miller 2011. Umberson / Crosnoe / Reczek 2010. Taylor 2010. Fox et al. 2009. Sear / Mace 2008. Crespi 2000.

Peter M. Kappeler / Claudia Fichtel

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Da in Humanstudien soziale Variablen aus ethischen Gründen nur sehr indirekt oder allgemein gemessen werden können, ist es durch vergleichende Untersuchungen an natürlichen Populationen nicht-menschlicher Primaten möglich, in sozial ähnlich komplexen Sozietäten grundlegende Effekte und Zusammenhänge zu untersuchen. In Bezug auf menschliche Gesellschaften sind wir heute auch weiter als Hobbes und Locke, da wir über den Naturzustand menschlicher Gesellschaften nicht nur mutmaßen können, sondern weil Jahrzehnte intensiver Feldarbeit unser Verständnis der sozialen Struktur ursprünglicher menschlicher Gesellschaften deutlich verbessert haben. Da unsere persönliche Expertise im Studium der Sozialsysteme nicht-menschlicher Primaten liegt, werden wir uns in diesem Aufsatz vor allem der sozialen Ungleichheit unserer nahen Verwandten widmen; allerdings nicht ohne die zeitliche Dimension der relevanten sozialen Veränderungen menschlicher Gesellschaften zu skizzieren. Wir beleuchten dabei die Muster und Ursachen innerartlicher Variabilität in sozialer Gleichheit zwischen verschiedenen Primatengesellschaften. Ein weiterer Fokus wird auf den Verhaltensmechanismen liegen, die existierende soziale Strukturen stabilisieren. In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage nach den kognitiven Mechanismen, die bestimmte Ausprägungen sozialer (Un-) gleichheit befördern. Aus evolutionsbiologischer Perspektive ist schließlich die Frage nach den möglichen Konsequenzen sozialer Ungleichheit für die individuelle Physiologie, Gesundheit und letztendlich Fitness von größtem Interesse. Vor diesem umfassenden Hintergrund werden wir abschließend die erwähnten Phänomene in menschlichen Gesellschaften in Bezug auf ihre biologischen Wurzeln bewerten.

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Muster sozialer Strukturen in Primatengesellschaften

Der vergleichende Blick auf die soziale Struktur der Gesellschaften anderer Primatenarten ermöglicht eine breitere Perspektive auf grundlegende Muster, Mechanismen und Konsequenzen sozialer Ungleichheit, die wiederum für die Bewertung und Veränderung menschlicher Gesellschaften bedeutsam sein könnten. Die soziale Struktur ist ein Epiphänomen der Muster individueller dyadischer sozialer Beziehungen, welche sich aus der Summe der wiederholten Interaktionen zwischen Mitgliedern einer Gruppe ableiten lassen.26 Einzelne Interaktionen lassen sich dabei einer entweder grundsätzlich kompetitiven oder kooperativen Funktion zuordnen. Aggression und Submission dienen dabei der Regulation von Konkurrenzsituationen; gegenseitiges Lausen und Kuscheln charakterisieren dabei kooperative Interaktionen. 26 Hinde 1976.

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Da kompetitive Interaktionen immer mit einem Verletzungsrisiko behaftet sind, ist es aus evolutiver Sicht vorteilhaft, kompetitive Asymmetrien durch den Einsatz von Signalen zu ritualisieren. Ein körperlich grundsätzlich überlegenes Tier kann also allein durch eine Drohung seine Ansprüche durchsetzen, während ein unterlegenes Individuum die Eskalation eines Konflikts durch Unterwürfigkeitssignale abwenden kann. Dyadische Dominanzbeziehungen lassen sich eindeutig durch spontanes submissives Verhalten eines Individuums erkennen und sind durch eine gewisse zeitliche Stabilität charakterisiert.27 Auf der Gruppenebene können Dominanzbeziehungen zu bestimmten emergenten Mustern führen, die durch ihre Linearität und Steilheit charakterisiert sind.28 Wenn Individuum A alle anderen Gruppenmitglieder, Individuum B alle anderen außer A usw. dominiert, existiert eine maximal steile Hierarchie, die zudem durch strikte Linearität charakterisiert ist. Am anderen Ende des Spektrums möglicher Dominanzhierarchien stehen Muster, die durch komplette Egalitarität charakterisiert sind. Bei egalitären Arten gibt es entweder keine erkennbaren Dominanzbeziehungen auf der dyadischen Ebene, oder existierende dyadische Dominanzbeziehungen lassen sich in kein hierarchisches Muster ordnen; zum Beispiel wenn Tier A Individuum B dominiert, B ihrerseits den Artgenossen C dominiert, letztere aber ihrerseits dominant über A ist, handelt es sich um eine flache und nicht lineare Hierarchie. Innerhalb der nicht-menschlichen Primaten sind Beispiele für alle Abstufungen entlang dieses Kontinuums bekannt. Wieso unterscheiden sich Arten in Bezug auf ihre Dominanzhierarchie? Die Verhaltensökologie geht davon aus, dass Artunterschiede in sozialer Struktur Anpassungen an Regelmäßigkeiten in den jeweiligen ökologischen und sozialen Bedingungen darstellen.29 Das diesen Überlegungen zugrundeliegende, sozioökologische Modell geht davon aus, dass Männchen und Weibchen um unterschiedliche fitness-limitierende Ressourcen konkurrieren. Der männliche Fortpflanzungserfolg wird letztendlich durch den Zugang zu paarungsbereiten Weibchen limitiert. Die Zahl der Weibchen und die Synchronität ihrer Fortpflanzungsbereitschaft bestimmen daher das Monopolisierungspotential zwischen Männchen. Ausgeprägte Intoleranz und Dominanzbeziehungen zwischen Männchen existieren daher immer dann, wenn Männchen potentiell in der Lage sind, einzelne fertile Weibchen für sich zu monopolisieren.30 Eher egalitäre Dominanzbeziehungen zwischen Männchen entstehen dagegen, wenn die Zahl der Weibchen groß ist und/oder deren Fortpflan27 28 29 30

Hausfater 1975. De Vries / Stevens / Vervaecke 2006. Wrangham 1980; Van Schaik 1989; Clutton-Brock / Janson 2012. Van Hooff / Van Schaik 1994.

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zungszyklen eng synchronisiert sind. Bei den wenigen Primatenarten, bei denen Männchen in ihrer Geburtsgruppe verbleiben, wird deren gegenseitige Toleranz zudem durch den vergleichsweise hohen durchschnittlichen Verwandtschaftsgrad zwischen ihnen erhöht. Die Muster an Dominanzbeziehungen zwischen Primatenweibchen werden letztendlich von Nahrungskonkurrenz innerhalb und zwischen Gruppen geformt, wobei diese in Ausbeutungs- und Interferenzkonkurrenz unterteilt werden kann. Interferenzkonkurrenz liegt dann vor, wenn manche Individuen Artgenossen durch Aggression von Nahrungsquellen ausschließen können. Ausbeutungskonkurrenz ist dadurch charakterisiert, dass manche Individuen Zugang zu Nahrungsressourcen verlieren, weil andere Tiere diese bereits gefunden oder aufgebraucht haben; es findet aber kein direkter Wettbewerb statt. Das spezifische kompetitive Regime einer Art wird dabei von Eigenschaften der Nahrungsressourcen wie deren Größe, räumliche Verteilung und Verteidigbarkeit bestimmt. Die Rahmenbedingungen dieser möglichen kompetitiven Regimes werden von drei nicht voneinander unabhängigen Variablen moduliert: Philopatrie, Nepotismus und Despotismus, aus deren Kombination sich vier Kategorien konstruieren lassen.31 In Residenten-Nepotisten-Gruppen sind die Weibchen philopatrisch, unterstützen ihre Verwandten und kooperieren mit ihnen. Zudem haben sie despotische Dominanzbeziehungen als Folge intensiver Interferenzkonkurrenz innerhalb der Gruppe. In Emigranten-Egalitaristen-Gruppen wechseln die Weibchen zwischen Gruppen, bilden keine agonistischen Allianzen und kooperieren auch nicht in anderen Kontexten miteinander. Außerdem existieren keine stabilen, linearen Dominanzhierarchien aufgrund der vorherrschenden schwachen Ausbeutungskonkurrenz innerhalb der Gruppe. Wenn die Nahrungskonkurrenz zwischen Gruppen intensiv ist, kommt es dagegen zur Bildung von Residenten-Egalitaristen-Gruppen, die durch weibliche Philopatrie sowie das Fehlen von Dominanzbeziehungen und kooperativem Verhalten charakterisiert sind. Wenn schließlich die Nahrungskonkurrenz sowohl innerhalb als auch zwischen Gruppen ausgeprägt ist, bilden sich tolerante Residenten-Nepotisten-Gruppen, die durch weibliche Philopatrie, klare Dominanzbeziehungen, kooperatives Verhalten und Toleranz der Dominanten gegenüber den Subordinaten charakterisiert sind. Existierende Dominanzhierarchien werden zudem durch eine oder mehrere soziale Mechanismen stabilisiert. Nur für Weibchen (von Altweltprimaten) ist ein System der mütterlichen Rangerfolge beschrieben, welches dazu führt, dass der Rang eines Weibchens stärker durch die soziale Position ihres Clans und durch

31 Sterck / Watts / Van Schaik 1997.

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ihre Geburtsposition innerhalb ihres Clans vorbestimmt ist.32 Bei diesen Arten mit weiblicher Philopatrie bilden Mütter und ihre Töchter sogenannte Matrilinien, die stabile Dominanzbeziehungen untereinander unterhalten. Innerhalb einer Matrilinie hat die Mutter den höchsten Rang, gefolgt von ihren Töchtern in umgekehrter Reihenfolge ihres Alters: Die jüngste Tochter rangiert also unmittelbar unterhalb der Mutter und die älteste Tochter nimmt den niedersten Rang innerhalb der Matrilinie ein. Die Dominanzbeziehungen zwischen Matrilinien können jahrzehntelang stabil sein.33 Männchen und Weibchen können auch durch die Bildung von Koalitionen ihren Rang stabilisieren oder sogar verbessern.34 Dabei unterstützt ein Tier entweder das dominante oder subordinate Individuum, häufig Verwandte desselben Geschlechts, in agonistischen Auseinandersetzungen. Wenn das dominante Tier die Unterstützung erhält, wird die existierende Hierarchie dadurch stabilisiert. Durch Unterstützung der Subordinaten kann diese ebenso Zugang zu einer Ressource erhalten und, bei nachhaltiger Unterstützung, gegebenenfalls seine Rangposition verbessern; vor allem wenn die Koalitionspartner einen niederen Rang haben als das Opfer der Koalition.35 Tiere, die solche Koalitionen eingehen, besitzen häufig eine enge soziale Beziehung, die durch überdurchschnittliche Affiliation und Toleranz charakterisiert ist. Neben Dyaden mit besonders engen sozialen Bindungen gibt es natürlich auch Individuen, deren Beziehungen durch weit unterdurchschnittliche Affiliationsraten und erhöhte Aggressionsraten charakterisiert sind.36 Die betroffenen Individuen haben aber zumeist andere soziale Beziehungen mit besserer Qualität. Mit der Ausnahme neu in eine Gruppe eingewanderter Tiere gibt es daher kaum Beispiele für anhaltende soziale Isolation einzelner Mitglieder von Primatengruppen. Mitglieder einer Primatengesellschaft bilden per Definition eine kohäsive und interagierende Einheit, sodass ausgeprägte Formen sozialer Isolation, wie sie bei Menschen beschrieben sind, nicht vorkommen.37 Wenn Tiere experimentell in Gefangenschaft isoliert werden, lassen sich aber die Effekte einer akuten Stress-Reaktion teilweise schon nach einer Trennung von einer Stunde nachweisen.38 Das heißt, obwohl soziale

32 33 34 35 36 37 38

Walters 1980. Hausfater / Altmann / Altmann 1982. Harcourt / De Waal 1992. Van Schaik / Pandit / Vogel 2006. Silk / Cheney / Seyfarth. 2013. Hawkley et al. 2012. Cacioppo et al. 2015.

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Isolation unter natürlichen Bedingungen sehr selten auftritt, bewerten Primaten diese Situation als sozialen Stressor.

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Muster sozialer Strukturen in menschlichen Gesellschaften

Soziale Vereinsamung ist dagegen in modernen menschlichen Gesellschaften zunehmend verbreitet, vor allem unter älteren Menschen.39 Die durchschnittliche Anzahl von Menschen, mit denen US-Amerikaner wichtige persönliche Dinge besprechen, verringerte sich beispielsweise innerhalb von nur 20 Jahren um ein Drittel.40 Einsamkeit ist daher mutmaßlich ein Aspekt menschlicher Sozialität mit ausgeprägter kultureller und zeitlicher Dynamik. Da menschliche Gesellschaften in Bezug auf ihre jeweiligen hierarchischen Strukturen ebenso variabel sind, ist die soziale Struktur menschlicher Gesellschaften schwierig repräsentativ und verallgemeinernd zu charakterisieren. Die Mitglieder moderner westlicher Gesellschaften leben in komplexen Gesellschaften, in denen jedes Individuum in eine unterschiedliche Zahl sozialer Einheiten eingebettet ist. Diese Einheiten umfassen die Kernfamilie, die Nachbarschaft, die Gemeinde und den Staat, aber auch mehrere dynamische, funktionale Gruppen wie die Arbeitskollegen, die Yoga-Gruppe oder den Fußballverein. Da unsere Vorfahren ungefähr 95 % der Zeit seit der Entstehung unserer Art in Gesellschaften organisiert waren, die heutigen Jäger- und Sammler-Gesellschaften wohl sehr ähnlich waren41, ist es möglich, wenn nicht sogar wahrscheinlich, dass diese Form sozialer Komplexität moderner Gesellschaften aus evolutionärer Sicht sehr rezent ist. Vor diesem Hintergrund erscheint es angebracht, die Entwicklung menschlicher Gesellschaften kurz zu rekapitulieren und die soziale Struktur von Jäger-Sammler Gesellschaften näher zu beleuchten, um so das soziale Umfeld, in dem sich menschliches Sozialverhalten entwickelt hat und an welches soziale und physiologische Anpassungen sehr wahrscheinlich entstanden sind, näher zu beschreiben. Jäger- und Sammlergesellschaften sind dadurch definiert, dass sie den Großteil ihrer Nahrung von wilden Pflanzen und Tieren beziehen. Diese Lebensform, die nomadische Wanderungen zwischen temporären Siedlungen beinhaltet, war für unsere Vorfahren bis vor ungefähr 12.000 Jahren typisch und ist durch eine Organisation auf drei Ebenen charakterisiert. Die kleinste soziale Einheit besteht 39 Dickens et al. 2011. 40 McPherson / Smith-Lovin / Brashears 2006. 41 Hill et al. 2011.

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aus Gruppen, die im Durchschnitt um die 30 (Spannbreite fünf bis 80) erwachsene Mitglieder haben, die einer oder wenigen erweiterten Familien angehören.42 In diesen Gruppen kennt jeder noch jeden, gemeinsame Entscheidungen werden in persönlichen Treffen aller Betroffener gefällt und es gibt daher weder eine politische Führung noch andere soziale Hierarchien.43 Diese egalitäre Struktur ist auch darin begründet, dass es aufgrund der Lebensweise keine Anhäufung von Ressourcen gibt und stattdessen das Teilen von Nahrung und andere prosoziale Verhaltensweisen weit verbreitet sind.44 Diese Gruppen sind nicht stabil, sondern die Mitglieder trennen sich im Laufe eines Tages in temporäre Untergruppen auf, die sich mehrmals in Größe und Zusammensetzung ändern und erst am Abend alle wieder im gemeinsamen Lager zusammenkommen. Eine ähnliche Dynamik existiert zwischen benachbarten Gruppen, die auch diese Mitglieder temporär miteinander austauschen. Das stabile soziale Element der Gruppen sind eheliche Lebensgemeinschaften, die in der Regel permanent und exklusiv sind und deren Töchter und Söhne mit derselben Wahrscheinlichkeit auch als Erwachsene in der Gruppe verbleiben.45 Um Inzucht zu vermeiden, müssen daher auch geschlechtsreife Individuen zwischen benachbarten Gruppen ausgetauscht werden.46 Obwohl es eine Tendenz dafür gibt, dass Männer eher in ihrer Geburtsfamilie verbleiben,47 führt die Exogamie beider Geschlechter im Vergleich zu anderen Primaten zu einmaligen Konsequenzen für die soziale Struktur, da sich dadurch soziale Beziehungen auch zwischen benachbarten Gruppen ausbilden. So haben beispielsweise mehrere erwachsene männliche Mitglieder eines Stammes affiliative Beziehungen mit derselben Frau, weil sie des einen Tochter und gleichzeitig des anderen Schwester, Ehefrau oder Schwiegertochter ist.48 Infolge dieser Beziehungsstrukturen existieren soziale Netzwerke affiliativer Beziehungen über mehrere benachbarte Gruppen, welche Verwandte und Nicht-Verwandte einschließen und dadurch prosoziales Verhalten und kumulative kulturelle Evolution befördern.49 Die Tatsache, dass Frauen, die besser in diese sozialen Netzwerke eingebunden sind, mehr überlebende Nach-

42 43 44 45 46 47 48 49

Hill et al. 2011; Apicella et al. 2012. Diamond 2012. Boehm 1993, Boehm 2012; Dyble et al. 2016; Gintis / Van Schaik / Boehm 2018. Hill et al. 2011. Chapais 2010. Hill et al. 2011. Chapais 2010. Migliano et al. 2017.

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kommen produzieren,50 weist darauf hin, dass ausgeprägte prosoziale Tendenzen aus evolutionärer Sicht vorteilhaft waren. Mehrere benachbarte Gruppen bilden eine ethno-linguistische Gruppe oder einen ethno-linguistischen Stamm.51 Auf der Stammesebene war es wohl nicht mehr möglich, jeden Einzelnen persönlich, wohl aber durch dessen Reputation oder vom Hörensagen zu kennen. Die meisten heute noch existierenden Stämme haben ebenfalls keine starke politische Führung und treffen gemeinsame Entscheidungen in Treffen aller Beteiligten.52 Auf der nächsten Ebene der organisatorischen Komplexität entstanden aus Stämmen mit mehreren hundert Mitgliedern Stammesfürstentümer mit Tausenden von Mitgliedern. Dieser Übergang in der Organisationsform war eine Folge der Veränderung der Subsistenzform vom Jagen und Sammeln hin zu Landwirtschaft und Viehzucht. Dadurch entstanden neue soziale Herausforderungen, da es nicht länger für jedes Mitglied eines Stammesfürstentums möglich war, jedes andere persönlich zu kennen. Daher entstanden hier anerkannte Führer mit einem hohen sozialen Status sowie Proto-Bürokraten, die sich um die Verwaltung des Stammesfürstentums kümmerten und zur weiteren sozialen Stratifizierung beitrugen. Mit Fortgang der Sesshaftigkeit entstanden immer größere Staaten, in denen sich immer weniger Menschen persönlich kannten und persönlich miteinander interagierten. Viele zusätzliche Institutionen wurden notwendig, um Staaten funktionsfähig zu halten, Entscheidungen wurden von einer kleinen Gruppe von Führern getroffen und durch spezialisierte Bürokraten ausgeführt,53 die zu einer zunehmenden sozialen Stratifizierung beitrugen. Die sozialen Strukturen menschlicher Gesellschaften haben sich also in relativ kurzer Zeit massiv gewandelt und es ist daher nicht abwegig, dass physiologische Anpassungen sich immer noch an psycho-sozialen Kontexten orientieren, die über Jahrhunderttausende vorherrschten.

[7]

Kognitive Mechanismen und soziale Ungleichheit

Menschen klassifizieren Andere sowohl anhand sozialer Attribute wie dem sozialen Status oder Vermögen, aber auch nach deren Zugehörigkeit zu Gruppen höherer Ordnung, z. B. Familien oder Gesellschaftsklassen. Mitglieder von Gesellschaften nicht-menschlicher Primaten können ebenso in Bezug auf ihre Zugehörigkeit zu einer Gruppe höherer Ordnung wie Familien, Matrilinien oder Koalitionen cha50 51 52 53

Page et al. 2017. Marlowe 2005. Diamond 2012. Diamond 2012.

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rakterisiert werden. Dabei stellen sich die Fragen, ob nicht-menschliche Primaten diese sozialen Einheiten erkennen und ihr Verhalten entsprechend anpassen, welche kognitiven Mechanismen der Erkennung von sozialen Unterschieden zu Grunde liegen und ob die sozialen Eigenschaften von Gesellschaften mit kognitiven Fähigkeiten ko-variieren. Eine Form des logischen Denkens ist die transitive Inferenz, die der Erkennung von ordinalen Zusammenhängen dient. Wenn zum Beispiel A > B und B > C dann ist A > C. Inferenz ist in vielen Kontexten hilfreich, so auch bei der Erkennung von sozialen Beziehungen von gruppenlebenden Tieren.54 Damit können Individuen sowohl ihre eigene als auch die soziale Position Anderer durch das Beobachten von sozialen Interaktionen lernen und damit letztendlich kostspielige Konflikte vermeiden.55 Transitive Inferenz wird in kognitiven Tests untersucht, in denen Tiere vor die Aufgabe gestellt werden, ordinale Zusammenhänge von Objekten zu lernen und in einer Transfer-Aufgabe den bereits gelernten Beziehungen neue Objekt-Kombinationen zuzuordnen. In vergleichenden Untersuchungen an Arten, die in größeren Gruppen oder Gruppen mit eindeutigen Dominanzbeziehungen leben, konnte gezeigt werden, dass Primaten, die in komplexeren Gesellschaften leben, eine bessere Performanz in diesen Aufgaben an den Tag legen.56 Damit scheint die Fähigkeit zur transitiven Inferenz ein wichtiger kognitiver Mechanismus zur Erfassung von sozialen Beziehungen zu sein. Darüber hinaus konnte in einer anderen Untersuchung an Pavianen gezeigt werden, dass Individuen allein anhand von vokalen Interaktionen zweier Individuen die jeweiligen Rangbeziehungen erkennen können.57 Pavian-Weibchen bilden matrilineare Dominanzhierarchien, wobei es sowohl innerhalb einer Matrilinie wie auch zwischen Matrilinien lineare Dominanzbeziehungen gibt. Kommt es zu Konflikten zwischen zwei Individuen, so äußert das dominante Individuum „Droh-Grunzer“ und das subordinierte Individuum „Schreie“. Spielt man jetzt einem Pavian eine Lautabfolge mit Droh-Grunzern eines dominanten Tieres und Schreien eines subordinierten Tieres über einen Lautsprecher vor, so blickt es kurz zu dem Lautsprecher. Imitiert man aber eine Rangumkehrung, indem man Droh-Grunzer eines eigentlich subordinierten Individuums und Schreie eines eigentlich dominanten Individuums vorspielt, so blicken Paviane sehr viel länger in Richtung des Lautsprechers, was darauf hindeutet, dass diese imitierte Rangumkehrung eine größere Aufmerksamkeit der Tiere hervorruft. Interessanterweise blickten Paviane 54 55 56 57

Cheney / Seyfarth 1990. Bond / Kamil / Balda 2004. Bond / Kamil / Balda 2003; MacLean / Merritt / Brannon 2008. Bergman et al. 2003.

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am längsten zum Lautsprecher, wenn Rangumkehrungen zwischen Matrilinien imitiert wurden, vermutlich da ein Rangwechsel zwischen Matrilinien eine größere Instabilität für die gesamte Gruppe mit sich bringen würde. Somit sind bereits bei nicht-menschlichen Primaten kognitive Mechanismen etabliert, die es erlauben, soziale Beziehungen und Rangordnungen zu erfassen und zu verfolgen.58 Doch passen Primaten ihr Verhalten auch entsprechend solcher Rangunterschiede an? Diese Frage wurde in experimentellen Ansätzen untersucht, in denen zwei Individuen in einer kompetitiven Situation Zugang zu Futter gegeben wurde. Dabei wurde getestet, ob Schimpansen in der Lage sind, zu verstehen, was ein anderer Schimpanse sieht, und damit eine basale Form der Theory of Mind haben.59 Unter der Theory of Mind versteht man die Fähigkeit, mentale Zustände wie Überzeugungen, Wünsche, Ansprüche und Wissen einem selbst und Anderen zuschreiben zu können, aber auch zu verstehen, dass Andere unterschiedliche Überzeugungen, Wünsche und Wissen haben können.60 In diesen Versuchen konnten ein dominanter und ein subordinierter Schimpanse aus zwei getrennten Räumen heraus beobachten, wie Futter in einem zwischen ihnen liegenden Raum positioniert wurde. Allerdings konnte nur das subordinierte Tier sehen, dass ein Stückchen Futter hinter einer Barriere und das andere mittig im Raum positioniert wurde. Das dominante Tier konnte hingegen nur das mittig im Raum positionierte Stückchen Futter sehen. Da dominante Tiere den Zugang zu Futter gegenüber subordinierten Tieren monopolisieren können, sollte das subordinierte Tier, nachdem beiden der Zugang zum Test-Raum gewährt wurde, zunächst zu dem Stückchen Futter gehen, welches das dominante Tier nicht sehen kann, wenn es verstehen kann, dass das dominante Tier nicht sehen oder wissen kann, dass sich Futter hinter der Barriere befindet. In vielen dieser Versuche konnte gezeigt werden, dass Schimpansen diese Aufgabe lösen und ihre Strategie, welches Futterstückchen sie zuerst zu versuchen bekommen, an die Präsenz höher-rangiger Artgenossen anpassen.61 Es gibt darüber hinaus auch Hinweise, dass manche Schweinsaffen taktisch submissive Signale einsetzen, mit denen sie ihre soziale Rangposition nicht nur im Fall eines Konfliktes, sondern auch in friedlichen Situationen signalisieren. Damit können sie vermutlich ihren Verhaltensstatus in zukünftigen Interaktionen anzeigen, dadurch Konflikte vermeiden und bessere soziale Beziehung pflegen als Artgenossen, die ihren Status seltener oder gar nicht in friedlichen Situationen signalisieren.62 58 59 60 61 62

Bergman et al. 2003; Bond / Kamil / Balda 2004. Tomasello / Call / Hare 2003. Tomasello / Call 1997. Tomasello / Call / Hare 2003. Flack / De Waal 2007.

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Diese Beispiele deuten darauf hin, dass verschiedenste nicht-menschliche Primaten soziale Rangunterschiede erkennen und ihr Verhalten entsprechend daran anpassen. Neben dem Erkennen von sozialen Unterschieden ist es zudem wichtig, zu verstehen, ob nicht-menschliche Primaten auch ungleiche Behandlungen wahrnehmen und bewerten. In einem wegweisenden experimentellen Ansatz haben Sarah Brosnan und Frans de Waal an braunen Kapuzineraffen untersucht, ob diese Tiere eine Aversion gegen ungleiche Behandlung besitzen.63 Den Tieren wurde beigebracht, beim Experimentator eine Wertmarke gegen ein Futterstück einzulösen. Wenn zwei benachbarte Tiere für den Tausch derselben Wertmarke unterschiedliche Futterbelohnungen bekamen oder eines sogar ohne Tausch eine Belohnung bekam, verweigerte das andere Tier häufig das Tauschgeschäft, wobei Reaktionen wie Wegwerfen der Wertmarke oder des wertloseren Futters einen offensichtlichen Hinweis auf die emotionale Befindlichkeit dieser Tiere gaben. Brosnan und de Waal interpretierten diese Reaktionen dahingehend, dass Kapuzineraffen eine dem Menschen ähnelnde Aversion gegen ungleiche Behandlung haben.64 Nachfolgende Untersuchungen mit braunen Kapuzineraffen deuteten allerdings darauf hin, dass die Zurückweisung des Tauschgeschäftes durch die Qualität des präsentierten Futters und der Frustration, eine schlechtere Belohnung zu erhalten, besser erklärt werden kann.65 Obwohl analoge Experimente mit Schimpansen,66 Javaneraffen67 und Weißbüscheläffchen68 zwar darauf hindeuten, dass diese Arten eine Aversion gegen ungleiche Behandlungen zeigen, konnten diese Ergebnisse mit anderen Populationen nicht repliziert werden.69 Damit ist die Frage, ob nicht-menschliche Primaten eine Aversion gegen ungleiche Behandlung haben, umstritten und es bedarf zusätzlicher Untersuchungen, um diese Frage abschließend zu beantworten. Die andere Seite derselben Medaille betrifft die Fähigkeit, Artgenossen altruistisches Verhalten gezielt zukommen zu lassen. Bei Menschen wurde diese Fähigkeit experimentell im Ultimatum-Spiel untersucht. Dabei macht ein Spieler einem anderen ein Angebot darüber, wie eine Ressource zwischen ihnen geteilt werden soll. Wenn der andere akzeptiert, wird entsprechend geteilt; wenn er ablehnt, bekommen 63 64 65 66 67 68 69

Brosnan / De Waal 2003. Brosnan / De Waal 2003. Roma et al. 2006; McAuliffe et al. 2015. Brosnan / Schiff / De Waal 2005. Massen et al. 2012. Yasue et al. 2018. Schimpansen: Bräuer / Call / Tomasello 2006, Bräuer / Call / Tomasello 2009; Kapuzineraffen: Roma et al. 2006, Silberberg et al. 2009.

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beide nichts. Man würde erwarten, dass rein eigennützige Individuen möglichst wenig anbieten und der andere jedes noch so geringe Angebot akzeptiert. Beim Vergleich der Ergebnisse dieses Spiels in 15 verschiedenen menschlichen Gesellschaften wurde aber herausgefunden, dass das durchschnittliche Angebot zwischen 15 % und 60 % variiert.70 Bieter berücksichtigen daher in einmaligen Spielen mit anonymen Partnern das Risiko der Ablehnung von unfairen Angeboten (altruistische Bestrafung) bzw. sie können sich in die Erwartung des Empfängers hineinversetzen. Bei einem ähnlichen Experiment mit Schimpansen wurde gezeigt, dass hier die Anbieter immer für sich die größere Belohnung wählen und dass Entscheider nur dann ihr Ultimatum einsetzen, wenn sie komplett leer ausgehen.71 In einem anderen Experiment konnte gezeigt werden, dass Schimpansen nur Individuen bestrafen, die ihnen Futter gestohlen hatten, aber sie verhielten sich nicht spontan hinterhältig gegenüber ihren Artgenossen.72 Schimpansen scheinen sich daher in diesen Versuchsansätzen nicht in die Bedürfnisse anderer hineinzuversetzen73 und verhalten sich eher wie eigennützige, rationale Maximierer.74 Vor diesem Hintergrund ist der experimentelle Befund, dass Weissbüscheläffchen spontan nicht-verwandten Tieren Futter zugänglich machen, verblüffend.75 Eine vergleichende Studie konnte zeigen, dass der Anteil von allomaternaler Fürsorge, aber auch ein Maß für soziale Toleranz zwischen Arten am besten Variation in proaktivem prosoziales Verhalten vorhersagen.76 Demnach wird proaktives, prosoziales Verhalten durch kooperative Jungenaufzucht und soziale Toleranz gefördert. Soziale Toleranz gegenüber Artgenossen wiederum ist ein kennzeichnendes Merkmal egalitärer Gesellschaften. Soziale Toleranz erleichtert soziales Lernen und fördert eine ausgeprägtere Verhaltenshomogenität innerhalb von Gruppen. Demgegenüber sind despotische Gesellschaften dadurch gekennzeichnet, dass soziale Toleranz eher zwischen bestimmten Dyaden wie z. B. Verwandten oder Freunden auftritt, wodurch s ic h soziales Lernen eher auf ebensolche Dyaden beschränkt, was wiederum zu einer größeren Verhaltensvariabilität innerhalb einer sozialen Gruppe führt und Verhaltenshomogenität auf Untergruppen beschränkt.77 Demnach fördern 70 71 72 73 74 75 76 77

Henrich et al. 2006. Jensen / Call / Tomasello 2007. Jensen et al. 2006. Silk et al. 2005. Jensen / Call / Tomasello 2007. Burkart et al. 2007. Burkart et al. 2014. Coussi-Korbel / Fragaszy 1995; Van Schaik / Deaner / Merrill 1999; Whiten / Van Schaik 2007.

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egalitäre Gesellschaften soziales Lernen und proaktives, prosoziales Verhalten, aber auch Kooperation. In diesem Zusammenhang ist es schließlich auch interessant, dass Arten, die in egalitäreren, kooperativeren Gesellschaften organisiert sind, in einigen Experimenten im Bereich der sozialen Kognition bessere Performanzen aufweisen als Arten, die in eher despotischen Gesellschaften organisiert sind.78 Nicht-menschliche Primaten verfügen also über kognitive Fähigkeiten, die es ihnen erlauben, soziale Unterschiede wahrzunehmen, und sie können ihr Verhalten adaptiv an solche Situationen anpassen. Es gibt zwar keine generelle Tendenz, soziale Ungleichheiten auszugleichen, aber Arten mit einem hohen Grad an Jungenfürsorge durch Nicht-Eltern sowie hoher sozialer Toleranz neigen dazu, Unterschiede im Zugang zu Ressourcen oder im sozialen Status durch entsprechende Verhaltensweisen auszugleichen. Diese Merkmale und Vorhersagen treffen auch auf ursprüngliche menschliche Gesellschaften zu, wie Judith Burkart und Carel van Schaik ausführlich gezeigt und erläutert haben.79

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Konsequenzen sozialer Beziehungen für Gesundheit und Fitness

In den letzten 20 Jahren wurden zahlreiche empirische Hinweise darauf gefunden, dass soziale Faktoren die Gesundheit – und letztendlich die Fitness – von wilden Primaten, aber auch von anderen Säugetieren beeinflussen.80 Der soziale Status eines Individuums in Relation zu anderen Mitgliedern seiner Gesellschaft stellt in zahlreichen Arten einen wichtigen sozialen Stressor dar.81 Obwohl es auch Hinweise darauf gibt, dass die sozial hochrangige Alpha-Position physiologisch besonders belastend sein kann,82 ist es in der Regel so, dass Tiere mit einem geringen sozialen Status mit anhaltend physiologischen Kosten auf diese Situation reagieren.83 Dabei sind insbesondere Situationen sozialer Instabilität sowohl für hoch- als auch niederrangige Tiere physiologisch belastend.84 Da in größeren Gruppen eine stärkere

78 79 80 81 82 83 84

Burkart / Van Schaik 2010; Joly et al. 2017. Burkart / Hrdy / Van Schaik 2009; Burkart / Van Schaik 2016. Kappeler / Cremer / Nunn 2015; Beehner / Bergman 2017; Ostner / Schülke 2018. Sapolsky 2005. Gesquiere et al. 2011. Creel 2001. Creel 2001.

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Differenzierung der Dominanzhierarchien erfolgt, sind diese Effekte in größeren Gruppen besonders ausgeprägt.85 Die negativen Effekte eines geringen sozialen Status können durch soziale Puffer abgemildert werden.86 Bei nicht-menschlichen Primaten verringert sich beispielsweise durch das Lausen der Puls, der als ein zentrales Maß für Erregung gelten kann. So sinkt der Puls eines zuvor gestressten Makaken durch das Lausen schneller als ohne diese Form der sozialen Unterstützung und die pure Anwesenheit eines engen sozialen Partners kann bei Pavianen, Berberaffen und Schimpansen die Stärke einer Stress-Reaktion abmildern. Außerdem bewirkt soziale Unterstützung oder das Lausen mit einem guten Freund bei Schimpansen eine vermehrte Ausschüttung von Oxytocin, wodurch auch die Stärke zukünftiger Stress-Reaktionen abgemildert wird. Auf der Verhaltensebene wirkt die Summe der Konsequenzen wiederholter Interaktionen im Laufe der Zeit ebenfalls als sozialer Puffer einer Stressreaktion.87 Dabei scheinen bei nicht-menschlichen Primaten verschiedene Faktoren wie die Ausgeglichenheit, Dauer und Anzahl sozialer Interaktionen, aber auch die Stellung eines Individuums im sozialen Netzwerk ihrer Gruppe entscheidend dafür zu sein, wie effektiv dieser Puffer ist. So können besonders enge soziale Beziehungen dazu beitragen, dass Individuen mit Unterstützung ihrer Partner ihren sozialen Rang verteidigen oder sogar verbessern können, was bei Weibchen in der Regel mit verbessertem Zugang zu Nahrung einhergeht. Einen ähnlichen Effekt hat die gemeinsame Verteidigung von Ressourcen. Makaken-Männchen profitieren von der Existenz einiger guter Freunde, indem sie weniger anfällig für Stress sind oder aufgrund der dadurch höheren sozialen Position mehr Gelegenheiten haben, Nachkommen zeugen.88 Schließlich haben sozial besser integrierte Individuen bei kühlen Temperaturen auch mehr potentielle Kuschelpartner zur Verfügung und sparen dadurch Stoffwechselenergie.89 Die physiologischen Konsequenzen solch einzelner Situationen und Interaktionen haben auch kumulative Effekte, die sich letztendlich in inter-individueller Variation im Überlebens- und Fortpflanzungserfolg von wilden Primaten niederschlagen. So hat beispielsweise die Intensität sozialer Bindungen einen Einfluss auf die Überle-

85 Markham / Gesquiere 2017. 86 Hennessy / Kaiser / Sachser 2009; Young et al. 2014; Wittig et al. 2016; Crockford / Deschner / Wittig 2017. 87 Ostner / Schülke 2018. 88 Schülke et al. 2010. 89 McFarland et al. 2015.

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benswahrscheinlichkeit von Jungtieren90 sowie die Langlebigkeit der Mütter.91 Auch männliche Primaten mit schlechterer sozialer Integration leben durchschnittlich kürzer92 und hinterlassen weniger Nachkommen.93 Ähnliche Zusammenhänge wurden inzwischen auch bei anderen Säugetieren nachgewiesen.94 Soziale Position und Interaktionen nicht-menschlicher Primaten haben also sowohl unmittelbare Konsequenzen für physiologische Anpassungen und Verhaltensreaktionen als auch kumulative, langfristige Konsequenzen für die individuelle Wahrscheinlichkeit, zu überleben und sich fortzupflanzen. Diese korrelativen Studien deuten zudem an, dass sowohl vor- und nachteilige soziale Faktoren gleichzeitig wirken. Neuere Studien mit experimentellen Rangänderungen haben gezeigt, dass die Änderung des sozialen Faktors kausale Effekte auf die Immunkompetenz betreffender Merkmale bzw. der dieser zugrundeliegenden Genregulation hat.95 Verhalten und Physiologie sind also eng verzahnt und die induzierten Effekte sind eigentlich darauf ausgerichtet, die Situation des betroffenen Tiers zu verbessern.

[9] Schlussfolgerungen Soziale Ungleichheit und ihre Folgen stellen ein massives Problem für die Stabilität und den Zusammenhalt moderner menschlicher Gesellschaften dar. Obwohl Gleichheit seit den Zeiten der Aufklärung ein anerkanntes, explizites Ziel der meisten heutigen Gesellschaften darstellt, existieren zum Teil massive Gefälle in Bezug auf Einkommensunterschiede, Zugang zu Bildung und Gesundheit und damit insgesamt im sozio-ökonomischen Status, etwa zwischen den Reichsten und Ärmsten einer gegebenen Gesellschaft. Zudem unterscheiden sich heute entwickelte Gesellschaften nicht nur darin, wie durchschnittlich wohlhabend sie sind, sondern sie unterscheiden sich auch in der Steilheit des Gefälles der Ungleichheit innerhalb der jeweiligen Gesellschaft. Unterschiede im Maß sozialer (Un-)gleichheit innerhalb und zwischen Gesellschaften haben nicht nur Konsequenzen für zahlreiche Merkmale, die persönliche Zufriedenheit und Gesundheit beeinflussen, sondern sie generieren wohl auch weiterhin neue Probleme. So ist Ungleichheit unter anderem vermutlich auch die Hauptursache der aktuellen Flüchtlingsströme und sie 90 91 92 93 94 95

Silk / Alberts / Altmann 2003; Kalbitzer et al. 2017. Silk et al. 2010; Archie et al. 2014; Brent / Ruiz-Lambides / Platt 2017. Lehmann / Majolo / McFarland 2016. Brent et al. 2013. So z. B. Ellis et al. 2017. Snyder-Mackler et al. 2016; Snyder-Mackler et al. 2018; Lea et al. 2018.

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gefährdet durchzunehmende Polarisierung in extreme politische Lager auch den jeweiligen inneren Frieden. „America first!“ ist daher letztendlich eine Reaktion auf beide Formen der sozialen Ungleichheit – und diese Reaktion ist bekanntermaßen nicht nur auf die Vereinigten Staaten beschränkt. Etliche der beschriebenen Konsequenzen sozialer Ungleichheit haben eine mittelbare verhaltens-physiologische Komponente. Vermehrte Konkurrenz um die begrenzten Positionen sozialer Privilegierung sowie physiologische Reaktionen auf psychosoziale Stressoren, beispielsweise geringer sozialer Status und Vereinsamung, führen größtenteils zu Konsequenzen mit individuellen oder gesellschaftlichen Nachteilen. Unsere Übersicht der vergleichenden relevanten Literatur zu entsprechenden Phänomenen bei nicht-menschlichen Primaten hat gezeigt, dass soziale Beziehungen sowohl positive als auch negative physiologische Konsequenzen haben können, wobei die beschriebenen Korrelationen zwei Seiten derselben Medaille beleuchten: Ein überdurchschnittliches Maß an sozialer Bindung und Integration erhöht beispielsweise die Lebenserwartung, wohingegen unterdurchschnittliche Kennzahlen den gegenteiligen Effekt haben. Soziale Ungleichheit existiert bei Primatenarten mit unterschiedlichsten Sozialsystemen, wohingegen es keine uns geläufigen Beispiele für Äquivalente sozialer Vereinsamung und Isolierung gibt. Falls soziale Isolierung experimentell herbeigeführt wird, wirkt sie – genauso wie geringer sozialer Status – als sozialer Stressor, der die allen Wirbeltieren gemeinsame physiologische Kaskade zur akuten Stressbewältigung auslöst, die aber bei chronischer Belastung Immunsystem, Energiehaushalt und Nervensystem nachhaltig beeinträchtigt. Es wird häufig von Sozial- und Naturwissenschaftlern übersehen, dass moderne menschliche Gesellschaften mit ihren sozialen Strukturen aus evolutionärer Sicht sehr rezente Entwicklungen repräsentieren. Die Form des Zusammenlebens, die heute die Mehrzahl der Menschen charakterisiert, ist erst vor gut 12.000 Jahren entstanden und repräsentiert erst seit wenigen Jahrhunderten die modale soziale Struktur. Unsere Vorfahren haben vor der Sesshaftigkeit in ganz anderen sozialen Strukturen gelebt, die durch enge soziale Kontakte und Bindungen, Hilfsbereitschaft und Prosozialität gekennzeichnet waren. Genau unter diesen Bedingungen wird soziale Gleichheit gefördert und gelebt. Unsere Schlussfolgerung und These lautet daher: Moderne Menschen leiden an einem mismatch zwischen psychischen Anpassungen an eine ursprünglich egalitäre Lebensweise und der Wahrnehmung neuer sozialer Stressoren bzw. einer Reduzierung sozialer Puffer, auf die unsere Physiologie mit stammesgeschichtlich sehr alten Mechanismen reagiert. Mit anderen Worten: Unsere Lebensbedingungen haben sich in wenigen Jahrtausenden so rasant geändert, dass unsere Psyche und Physiologie noch nicht ausreichend Zeit hatten, darauf mit Anpassungen zu reagieren, die nicht zu individuellen Nachtei-

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len führen. Die negativen Effekte sozialer Ungleichheit setzen sich dabei aus zwei Komponenten zusammen: Den negativen Effekten chronischer sozialer Stressoren sowie der zunehmenden Verringerung der Vorteile sozialer Pufferung, da sich die soziale Kohäsion im letzten Jahrhundert insbesondere in westliche Gesellschaften rasant verringert hat (zunehmende Urbanisierung, Abkehr von der Lebensform der Großfamilie etc.). Bei den beobachteten Konsequenzen sozialer Ungleichheit handelt es sich nach unserer Auffassung daher nicht um ein Beispiel für Maladaptationen,96 sondern um weitere Beispiele für die Trägheit der Evolution im Vergleich zur Rasanz der sozio-ökologischen Veränderungen, die menschliche Kultur möglich machte.97 Neue gesellschaftliche Herausforderungen durch die rasante Entwicklung sozialer Medien und der damit verbundene, weitere Rückgang direkter sozialer Kommunikation werden Mediziner und Sozialwissenschaftler in den kommenden Jahren zunehmend beschäftigen. Für ein Verständnis der biologischen Grundlagen der sich aus der Entwicklung moderner westlicher Gesellschaften ergebenden Probleme sind weitere vergleichende und experimentelle Studien von Primatologen und evolutionären Anthropologen notwendig. Nur durch eine ganzheitliche Betrachtung werden sich Ursachen und Konsequenzen sozialer Ungleichheit – letztendlich durch entsprechende politische und ökonomische Maßnahmen – zäumen lassen.

Danksagung Wir danken den Mitgliedern der Forschergruppe Sozialität und Gesundheit bei Primaten für Diskussion und Inspiration und der Deutschen Forschungsgemeinschaft für deren Förderung (FOR 2136).

96 Crespi 2000. 97 Richerson / Boyd / Henrich 2010.

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Kontakt Prof. Dr. Peter Kappeler Georg-August-Universität Göttingen Abteilung Soziobiologie/Anthropologie Kellnerweg 6 37077 Göttingen E-Mail: [email protected] Dr. Claudia Fichtel Georg-August-Universität Göttingen Abteilung Soziobiologie/Anthropologie Kellnerweg 4 37077 Göttingen E-Mail: [email protected]

I Diskurs 2 Kommentare

Immo Fritsche / Philipp Jugert

Weshalb Ungleichheit zu Stresserleben, aber nicht notwendigerweise zu Vereinzelung führt: Ein Blick in die psychologische Black Box Ein Blick in die psychologische Black Box

Vorrede | Die Besonderheit der menschlichen Art scheint auf zwei scheinbar entgegengesetzten Polen zu ruhen: Dem elaborierten Erkennen des Selbst und einer ausgeprägten Sozialität.1 Unsere kognitiven Fähigkeiten bedingen nicht nur ein komplexes Bewusstsein unser Selbst, sondern auch die ausgereifte Simulation eines möglichen Selbst, mit all ihren Auswirkungen auf selbstbezogene Bedürfnisse, Ziele, aber auch Enttäuschungen (z. B. die existenzielle Erkenntnis der Begrenztheit persönlicher Kontrolle2). Gleichzeitig organisieren und definieren Menschen sich über soziale Systeme hoher Komplexität und Effektivität. Insbesondere dieses hohe Maß an sozialer Koordination ermöglicht unserer Art Umweltkontrolle in beispiellosem Ausmaß. Sesshaftigkeit, Ackerbau und Viehzucht sowie Staatenbildung haben dies noch beschleunigt. Wie Peter Kappeler und Claudia Fichtel (insbesondere in Kapitel [6]) diskutieren, vollzog sich mit diesen artgeschichtlich sehr jungen Entwicklungen gleichzeitig eine bedeutsame Veränderung in der Organisation menschlicher Gesellschaften. Weitgehend egalitäre Jäger- und Sammlergemeinschaften wurden durch stark stratifizierte Gesellschaften ersetzt, möglicherweise aus Gründen der Nützlichkeit oder als Epiphänomen einer neuen, effizienteren Lebensweise. Dies bedeutete – und bedeutet noch heute – ein hohes Maß an sozialer Ungleichheit zwischen Gruppen in der Gesellschaft. Zunehmend werden jedoch die negativen Folgen dieser Ungleichheit für die menschliche Gesundheit und für die soziale Kohäsion in Gesellschaften deutlich3 und zu einem Gegenstand gesellschaftlicher Debatten (siehe [2]). Es steht

1 Pinker 2010, S. 8993–8999. 2 Becker 1971. 3 Wilkinson / Pickett 2017, S. 11–24. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 G. Hartung und M. Herrgen (Hrsg.), Interdisziplinäre Anthropologie, Interdisziplinäre Anthropologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28233-2_2

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zur Diskussion, ob Ungleichheit eine gelungene Zivilisationsleistung ist oder aber Mechanismen auslöst, die den Erfolg menschlicher Gemeinschaften in Frage stellen. Möglicherweise trifft aber auch beides zu. Diese These formulieren Kappeler und Fichtel im Target-Artikel dieses Bandes. Demnach ist die menschliche Psyche und Biologie für ein Leben in egalitären sozialen Systemen ausgelegt, welche die Vergangenheit unserer Art geprägt haben. Daher mag eine ungleiche Gesellschaft für den Erfolg sesshafter menschlicher Gesellschaften zwar Vorteile gehabt haben. Gleichzeitig aber führt die mangelnde Passung heutiger Menschen zu diesem Gesellschaftssystem zu hohen psycho-sozialen Kosten, welche die möglichen Vorteile reduzieren oder gar umkehren. Gleichfalls diskutieren Kappeler und Fichtel in den Kapiteln [3], [7] und [8] mögliche Erklärungen für die problematischen Effekte von Ungleichheit auf Gesundheit und gesellschaftliches Zusammenleben, nämlich Stress und Einsamkeit. In unserem kritischen Kommentar mahnen wir eine differenziertere (sozial) psychologische Analyse von Ungleichheitseffekten und vermittelnden wie moderierenden Faktoren dieser Effekte in menschlichen Gesellschaften an. Hierzu diskutieren wir zunächst, weshalb und wann Ungleichheit eigentlich zu Stress führen sollte. Dann stellen wir die Annahme in Frage, dass Ungleichheit zwangsläufig zu erhöhter Einsamkeit führt. Im Gegenteil könnte es sein, dass Menschen sich gerade unter Bedingungen eines geringen oder gefährdeten persönlichen, sozio-ökonomischen Status eigenen Gruppen in verstärktem Maße zuwenden. Abschließend weisen wir darauf hin, dass Menschen keineswegs passive „Opfer“ von Ungleichheitseffekten sind, sondern vielmehr auch aktive Gestalter, die Ungleichheit verändern können. Deshalb ist es wichtig, nicht nur negative Effekte zu erklären, sondern auch Einstellungen und Handlungsintentionen gegenüber ungleichen Lebensverhältnissen zu untersuchen. Nicht zuletzt kann auf diese Weise anwendbares Interventionswissen darüber gewonnen werden, wie negative Effekte abgemildert und persönliche Engagementbereitschaft gestärkt werden können. Öffnen wir die psychologische Black Box der Ungleichheitseffekte! Zu [2] | Epidemiologische Studien4 rütteln tatsächlich auf: In entwickelten Industrienationen entscheidet das Ausmaß gesellschaftlicher Ungleichheit mit darüber, wie gesund und harmonisch ihre Bürgerinnen und Bürger (miteinander) leben. Diese Befunde haben dazu beigetragen, dass soziale Ungleichheit in den vergangenen Jahren zunehmend als soziales Problem identifiziert wurde und regelmäßig kommen Befunde ähnlicher Art hinzu. Schleppender voran geht es mit der Erklärung dieser 4 Wilkinson / Pickett 2009.

Ein Blick in die psychologische Black Box

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Effekte und schnell finden sich in der öffentlichen Diskussion stark ideologisch eingefärbte Positionen. Daher ist es sehr wichtig, sich dieser Frage wissenschaftlich zu nähern; und insbesondere die Verhaltenswissenschaften sind hier gefragt. Zu [5] und teilweise zu [7] | Perspektiven aus der Forschung zum Verhalten von Primaten, wie Kappeler und Fichtel sie in ihrem Artikel beitragen, können anregen, die Entstehung und Aufrechterhaltung von Ungleichheit und die grundlegenden Formen des Umgangs mit dieser in menschlichen Gesellschaften besser zu verstehen. Dennoch erscheinen die berichteten, bisherigen Befunde bisweilen eher indirekt mit Ungleichheitseffekten verknüpft und sicherlich lassen sich nur ausgewählte Prozesse aus dem Tierreich auf menschliche Gesellschaften übertragen. So ist der Vergleich mit nicht-menschlichen Primaten beispielsweise insofern problematisch, als dass die Primaten-Gesellschaften eher vergleichbar mit den stärker egalitären menschlichen Jäger- und Sammlergemeinschaften sind. Daher sollten sich analoge Effekte von sozialer Ungleichheit im Tierreich nur schwer finden lassen. Und auch wenn sich Primatengesellschaften, wie von Kappeler und Fichtel dargestellt, im Ausmaß sozialer Ungleichheit unterscheiden, so fehlen in deren Überblickskapitel doch Forschungen dazu, ob sich diese Gesellschaften auch hinsichtlich negativer Auswirkungen (z. B. Stresserleben) – analog zu menschlichen Gesellschaften – unterscheiden. Derartige Forschung wäre im Sinne eines Artvergleichs extrem wertvoll. In den vergangenen zehn Jahren hat sich innerhalb der experimentell orientierten Sozialpsychologie eine rege Forschung zu den Folgen sozialer Ungleichheit zu entwickeln begonnen. Hier wird untersucht, wie Effekte sozialer Ungleichheit über Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Copingprozesse vermittelt werden. Zunehmend stehen hier auch die Mechanismen im Vordergrund, die sozio-ökonomische Ungleichheit erhalten und über Generationen fortschreiben5 oder die zu ihrer Veränderung führen können (z. B. über soziale Bewegungen6). Diese Forschungen können dazu beitragen, die psychologische „Black Box“ der Ungleichheitseffekte zu erhellen. Weshalb und wann erhöht Ungleichheit Stress? Zu [2], [3], [6] und [8] | Kappelers und Fichtels Beitrag liegt ein implizites Kausalmodell von Ungleichheitseffekten zugrunde. Es beruht auf mehreren, aufeinander bezogenen Annahmen. Wie in Abb. 1 dargestellt, sollte demnach soziale Ungleichheit psycho-physiologisch repräsentierten Stress auslösen, welcher wiederum die 5 Piff / Kraus / Keltner 2018, S. 53–124. 6 Van Zomeren / Postmes / Spears 2008, S. 504–535.

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Gesundheit von Menschen reduziert. Der Stresseffekt auf die Gesundheit kann jedoch dadurch gepuffert werden, dass Menschen in hinreichendem Maße sozial eingebunden sind. Diese soziale Einbindung ist aber laut Modell unter den Bedingungen sozialer Ungleichheit reduziert, weshalb ungleichheitsinduziertes ungleichheitsinduziertes Stresserleben ungebremst auf menschliches Wohlbefinden Stresserleben ungebremst auf menschliches Wohlbefinden durchschlagen kann. Der kann. Der Artikel adressiert also Ungleichheitseffekte Gesundheit, nicht Artikeldurchschlagen adressiert also Ungleichheitseffekte auf Gesundheit, nichtauf aber zwingend zwingend jene beispielsweise auf soziale Konflikte, beispielsweise ausgedrückt in erhöhten jene aufaber soziale Konflikte, ausgedrückt in erhöhten Verbrechensraten Verbrechensraten odergeneralisierten einem reduzierten,Vertrauen generalisierten Vertrauen in Andere. oder einem reduzierten, in Andere.

Ungleichheit





Soziale Einbindung Stress



Gesundheit

Abbildung 1 Kappelers und Fichtels implizites Modell der Ungleichheitseffekte auf Gesundheit; der Effekt von Ungleichheit auf soziale Abb. 1: Kappelers und Fichtels implizites Modell der Ungleichheitseffekte auf Gesundheit; der Effekt von Einbindung erscheint aus Sicht Ungleichheit auf soziale Einbindung erscheint ausunserer unserer Sicht unklar.unklar. Die Annahme, dass soziale Ungleichheit Stress bzw. wahrgenommene Bedrohung erhöht,

Die Annahme, Ungleichheit Stress bzw. wahrgenommene entsprichtdass den soziale Befunden der sozio-epidemiologischen Forschung, dass Bedrohung Statusangst in erhöht,ungleichen entspricht den Befunden der sozio-epidemiologischen Forschung, Gesellschaften in allen Einkommensgruppen erhöht ist.7 Aber weshalb unddass  Statusangst in ungleichen Gesellschaften in allen Einkommensgruppen erhöht ist.7 Aber weshalb und wann ist dies der Fall? Sozio-ökonomische Ungleichheit ist zunächst lediglich eine soziostrukturelle Variable. Deren Wahrnehmung und Selbstrelevanz gibt aber den Ausschlag dafür, welche Auswirkungen Ungleichheit für Individuen hat. Oder anders gesagt: Ein wahrgenommener Konflikt zwischen menschlicher Sozialität (in Form einer hierarchischen Gesellschaftsstruktur) und menschlichem Selbst (in Form selbstbezogener Motive bzw. Bedürfnisse) beschreibt den Ausgangspunkt für negative Effekte auf Stress und Gesundheit. Drei relevante Quellen persönlicher Bedrohung sind dabei denkbar: ein geringer eigener sozio-ökonomischer Status, die Befürchtung (oder Erfahrung) sozio-ökonomischen Abstiegs und wahrgenommene sozio-ökonomische Ungleichheit an sich.8 Wahrgenommene Ungleichheit an sich, also unabhängig von der eigenen Statusposition und deren Sicherheit, sollte eher indirekt für Stresserleben verantwortlich sein. So sollte Ungleichheit beispielsweise die subjektive Relevanz 7 Layte / Whelan 2014, S. 525–535. 8 Fritsche / Jugert 2017, S. 31–36. 

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Layte / Whelan 2014, S. 525-535.

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des eigenen sozio-ökonomischen Status‘ erhöhen und dadurch mögliche Effekte des eigenen Status‘ verstärken. Auch könnten Gerechtigkeitsvorstellungen und Weltsichten von Personen durch die Wahrnehmung hoher sozialer Ungleichheit erschüttert und dadurch Unsicherheitsgefühle erhöht werden. Stärkere Effekte auf individuelles Bedrohungserleben sollten hingegen von sehr selbstrelevanten „ökonomischen Bedrohungen“ ausgehen, wie eigenem geringen Status oder (Furcht vor) Statusverlust. Doch weshalb sollte ein geringer oder gefährdeter sozio-ökonomischer Status eigentlich bedrohlich sein und daher zu Stresserleben führen? Sicherlich ist dies – wie Kappeler und Fichtel zeigen – grundsätzlich eine plausible Annahme. Erklärungen hierfür bleiben aber in den meisten verfügbaren Modellen (auch in jenem von Kappeler und Fichtel) höchstens implizit. Aus einer motivationspsychologischen Perspektive entsteht Bedrohung dann, wenn Personen wahrnehmen, selbstrelevante Grundbedürfnisse nicht befriedigen zu können.9 Neben biologischen Bedürfnissen nach Nahrung oder Sicherheit erweisen sich psychologische Grundbedürfnisse, wie jene nach Selbstwert und Kontrolle, ebenfalls als höchst gesundheitsrelevant. Diese beiden letztgenannten Bedürfnisse werden durch einen geringen oder gefährdeten Status bedroht.10 Ein geringer sozio-ökonomischer Status gefährdet demnach einerseits die wahrgenommene Wertschätzung, die Menschen sich selbst gegenüber erfahren.11 Andererseits bedroht ein geringer Status die wahrgenommene Kontrolle von Menschen über die eigenen Lebensumstände und deren allgemeine Einflussmöglichkeiten.12 Dass Selbstwert und Kontrolle zwei prinzipiell unabhängige Eigenschaften sind, zeigt das Beispiel einer Hochstatusposition. So genießt etwa das Amt eines Bundespräsidenten zwar höchste Wertschätzung, ist aber mit einem Minimum an Kontrollfähigkeiten ausgestattet. Alternativ ist die reiche Erbin denkbar, die zwar einen hohen Rang genießt, gleichzeitig aber daran zweifelt, selbst etwas zu ihrem Vermögen beigetragen zu haben. Auch könnte eine sehr wohlhabende Person zwar hohe Kontrollmöglichkeiten haben, aber gleichzeitig sozial eher gering geschätzt sein. Für das Verständnis von Statuseffekten auf Stresserleben und für mögliche Interventionen ist es wichtig, zu wissen, wie stark das jeweilige Motiv involviert ist. Während statusniedrige oder -bedrohte Menschen der Furcht vor Selbstwertverlust durch das Streben nach erhöhter sozialer Anerkennung und Sympathie durch andere begegnen könnten, würde dies nicht ausreichen, auch deren Bedürfnis nach Kontrolle zu befriedigen. Hier sind 9 10 11 12

Fritsche / Jonas / Kessler 2011, S. 101–136. Fritsche / Jonas / Kessler 2011, S. 101–136; Fiske 2010, S. 941–982. Ridgeway 2014, S. 1–16. Kraus / Piff / Keltner 2009, S. 992–1004. Siehe auch Marmot 2004.

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gerade persönliche Unabhängigkeit und Selbstwirksamkeit wichtig. Eine nach relevanten Grundmotiven differenzierte Analyse von Ungleichheitseffekten auf Stresserleben wäre auch in artvergleichenden Studien hoch interessant. Könnte sie doch helfen, grundlegende Prozesse zu identifizieren und gleichzeitig klären, ob sich Ungleichheitseffekte in menschlichen Gesellschaften qualitativ von jenen im Tierreich unterscheiden (z. B. durch eine Dominanz materieller Ressourceninteressen in nicht-humanen Spezies). Ungleichheitsbedrohungen aktivieren den „sozialen Puffer“. Zu [3] | Kappeler und Fichtel nehmen an, dass gesellschaftliche Ungleichheit zu sozialer Vereinsamung und daher zu einer Schwächung des „sozialen Puffers“ führt. Dies leiten sie aus Befunden ab, die als allgemeine Anzeichen reduzierter sozialer Kohäsion in ungleichen Gesellschaften interpretiert wurden, wie z. B. abnehmendes Vertrauen in Andere oder erhöhte Kriminalitätsraten. In ähnlicher Weise könnte man reduziertes bürgerschaftliches Engagement in Gegenden hoher Ungleichheit und erhöhte Segregation von Einkommensgruppen in homogenen Siedlungen anführen, wie sie beispielsweise in den USA zu beobachten sind,13 oder auch das reduzierte Sozialkapital (im Sinne ökonomisch-instrumenteller sozialer Verbindungen) von Menschen mit geringerem sozio-ökonomischen Status.14 Allerdings sagen diese Befunde zu sozio-strukturellen Indikatoren wenig darüber aus, ob sich Menschen in stärker ungleichen Gesellschaften auch tatsächlich in erhöhtem Maße einsam oder nicht zugehörig fühlen. Tatsächlich gibt es in der Psychologie zahlreiche Befunde und Modelle, die an dieser Annahme zweifeln lassen. Im Gegenteil scheinen Menschen unter ökonomischer Bedrohung (geringer oder bedrohter ökonomischer Status) vielfach gerade in höherem Maße Verbundenheit zu anderen – ähnlichen – Menschen zu empfinden und herzustellen. Beispielsweise zeigen Angehörige unterer Einkommensschichten in der Regel stärkeres gemeinschaftsdienliches Handeln.15 Auch ist es vermutlich voreilig, anzunehmen, ökonomische Bedrohung würde zu einem generellen Vertrauensverlust in Andere führen. So gaben in einer spanischen Studie gerade solche Personen ein erhöhtes Vertrauen in Mitglieder ihrer eigenen sozialen Klasse an, die vorher im Zuge der europäischen Wirtschaftskrise einen persönlichen sozialen Abstieg erlebt hatten (im Gegensatz zu jenen, deren ökonomischer Status sich nicht geändert hatte).16 13 14 15 16

Neckerman / Torche 2007, S. 335–357. Piff / Kraus / Keltner 2018, S. 53–124. Piff / Kraus / Keltner 2018, S. 53–124. Fritsche et al. 2017, S. 117–137.

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Die sozialpsychologische Forschung kennt verschiedene empirisch gut validierte Modelle, die erwarten lassen, dass sich Menschen unter den Bedingungen einer persönlichen Bedrohung in verstärktem Maße über ihre Mitgliedschaft in sozialen Gruppen definieren und im Sinne von Kollektiven handeln. Dies zeigt beispielsweise die Forschung zum sogenannten Rejection-Identification-Modell.17 Demnach puffern Angehörige diskriminierter gesellschaftlicher Gruppen die negativen Effekte wahrgenommener Alltagsdiskriminierung auf ihr persönliches Wohlbefinden durch eine erhöhte Identifikation mit ihrer eigenen Gruppe. In ähnlicher Weise zeigen die Arbeiten zum Modell gruppenbasierter Kontrolle,18 dass Personen unter wahrgenommener bedrohter persönlicher Kontrolle sich in erhöhtem Maße mit eigenen, als kollektiv handlungsfähig wahrgenommenen Gruppen identifizieren19 und im Sinne wahrgenommener Gruppenziele und -normen handeln.20 Diese Befunde sprechen indirekt durchaus für Kappelers und Fichtels Vermutung, dass soziale Eingebundenheit dazu genutzt werden kann, die negativen Effekte von Stress abzumildern. Allerdings legen sie ebenfalls nahe, dass durch soziale Ungleichheit ausgelöste Bedrohungen eher zu einer Stärkung denn zu einer Schwächung dieses sozialen Stresspuffers (im Sinne kollektiver Reaktionen) bei Menschen führen können. Fazit und weiterführende Perspektiven | Die im vorangegangenen Abschnitt beschriebenen Mechanismen zur Aktivierung eines „sozialen Puffers“ bedrohender Effekte von Ungleichheit eröffnen die Denkmöglichkeit, dass Menschen keineswegs nur passive „Opfer“ von Ungleichheit sind, sondern deren Folgen – und auch die Ungleichheit selbst – aktiv gestalten. Diese Perspektive fehlt in dem Artikel von Kappeler und Fichtel, was sich möglicherweise durch die Fokussierung auf Gesundheitsfolgen und die eingenommene „Außenperspektive“ auf das Verhalten nicht-menschlicher Arten erklärt. Um die Konsequenzen sozialer Ungleichheit in menschlichen Gesellschaften jedoch umfassend zu verstehen und auch Interventionen zur Reduktion negativer gesundheitlicher und gesellschaftlicher Effekte oder sogar der Ungleichheit selbst vorschlagen zu können, ist die Perspektive auf den Menschen als Akteur unabdingbar. Neben seiner Funktion als möglicher sozialer Stresspuffer wird menschliches Handeln gegen Ungleichheit insbesondere in Form kollektiven Handelns sichtbar und gesellschaftlich relevant. Um gesellschaftliche Ungleichheit und ihre potenziellen, selbstbedrohenden Effekte (z. B. geringer Status der eigenen Gruppe) strukturell zu verändern, ist in17 18 19 20

Branscombe et al., 1999. Fritsche et al. 2013, S. 19–32; Fritsche et al. 2017, S. 117–137. Stollberg / Fritsche / Bäcker 2015, S. 649. Stollberg / Fritsche / Jonas 2017, S. 374–394.

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dividuelles Handeln in der Regel ungeeignet. Erst wenn dieses Handeln Teil einer kollektiven Bewegung wird, gibt es hier Aussicht auf Erfolg. Die oben beschriebenen automatischen kollektiven Reaktionen auf Bedrohung21 bereiten menschliche Organismen darauf vor, im Sinne kollektiver Ziele zu handeln. Dies kann die Bildung sozialer Bewegungen gegen Ungleichheit begünstigen. Allerdings kann es ebenfalls dazu kommen, dass Menschen, die von den negativen Effekten der Ungleichheit betroffen sind, ihr gesteigertes Bedürfnis nach Kollektivität im Rahmen von Gruppen umsetzen, die für die Lösung des Ausgangsproblems bzw. der Ungleichheit selbst irrelevant sind. So ließe sich extremistisches gruppenbasiertes Verhalten unter Bedingungen von Ungleichheit erklären, das sich in der sozialen Diskriminierung Andersartiger oder gar in gewaltsamen Konflikten zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen äußert und auf diesem Wege die gesamtgesellschaftliche Kohäsion in Frage stellt.

Literaturhinweise Becker, Ernest: The Birth and Death of Meaning, Second Edition, New York 1971. Fiske, Susan T.: Interpersonal Stratification: Status, Power, and Subordination, in: Handbook of Social Psychology, herausgegeben von Susan T. Fiske, Daniel T. Gilbert und Gardner Lindzey, Hoboken (2010), S. 941–982. Fritsche, Immo / Jonas, Eva / Kessler, Thomas: Collective Reactions to Threat: Implications for Intergroup Conflict and Solving Societal Crises, in: Social Issues and Policy Review 5 (2011), S. 101–136. Fritsche, Immo et al.: The Power of We: Evidence for Group-Based Control Restoration, in: Journal of Experimental Social Psychology 49 (2013), S. 19–32. Fritsche, Immo / Jugert, Philipp: The Consequences of Economic Threat for Motivated Social Cognition and Action, in: Current Opinion in Psychology 18 (2017), S. 31–36. Fritsche, Immo et al.: The Great Recession and Group-Based Control: Converting Personal Helplessness Into Social Class In-Group Trust and Collective Action, in: Journal of Social Issues 73 (2017), S. 117–137. Jonas, Eva et al.: Threat and Defense: From Anxiety to Approach, in: Advances in Experimental Social Psychology 49 (2014), S. 219–286. Kraus, Michael W. / Piff, Paul K. / Keltner, Dacher: Social Class, Sense of Control, and Social Explanation, in: Journal of Personality and Social Psychology 97 (2009), S. 992-1004. Layte, Richard / Whelan, Christopher T.: Who Feels Inferior? A Test of the Status Anxiety Hypothesis of Social Inequalities in Health, in: European Sociological Review 30 (2014), Issue 4, S. 525–535. Marmot, Michael: The Status Syndrome: How Social Standing Affects Our Health and Longevity, New York 2004. 21 Jonas et al. 2014, S. 219–286.

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Kontakt Prof. Dr. Immo Fritsche Universität Leipzig Institut für Psychologie, Arbeitsgruppe Sozialpsychologie Neumarkt 9–19 04109 Leipzig E-Mail: [email protected] Prof. Dr. Philipp Jugert Universität Duisburg-Essen Fakultät für Bildungswissenschaften Institut für Psychologie Professur für Interkulturelle Psychologie – Migration und Integration Universitätsstraße 2 45141 Essen E-Mail: [email protected]

Christoph Meißelbach

Das Problem mit der Ungleichheit: Interdisziplinäre Perspektiven auf einen komplexen Begriff Das Problem mit der Ungleichheit

Vorrede | Peter Kappeler und Claudia Fichtel analysieren in ihrem Aufsatz die Kausalmechanismen hinter der Korrelation zwischen Ungleichheit und allerlei negativen Konsequenzen für Menschen und deren Gemeinwesen. Sie tun dies unter Rückgriff auf Befunde aus der evolutionären Anthropologie. Im Folgenden wird dieser Beitrag kritisch aus der Perspektive eines Politikwissenschaftlers diskutiert, der selbst solche interdisziplinär-humanwissenschaftliche Theorieintegration gleichsam ‚von der anderen Seite her‘ betreibt.1 Dabei wird sich zeigen, dass der gewählte Forschungsansatz gerade dann zur handlungstheoretischen Mikrofundierung der Sozialwissenschaften enorm beitragen kann, wenn deren theoretischer und empirischer Forschungsstand zielgenau adressiert wird. Zu [1] | Vollkommen zutreffend führen die Autoren vor Augen, dass die Idee der Gleichheit in ganz verschiedenen Facetten seit jeher eine wichtige Rolle in der menschlichen Kulturgeschichte gespielt hat und Debatten über Ungleichheit auch heute noch von größter Virulenz sind. Die theoretische und empirische Erkundung von Gleichheit fiel lange Zeit in den exklusiven Zuständigkeitsbereich erst der klassischen politischen Philosophie und später der modernen Sozialwissenschaften. Der zentrale Mehrwert eines politikwissenschaftlichen Kommentars wird deshalb wohl in der kritischen Reflexion des Gleichheitsbegriffs liegen, welcher dem Aufsatz von Kappeler und Fichtel zugrunde liegt. Im Folgenden werden deshalb drei diesbezügliche Beobachtungen festgehalten und anschließend deren Implikationen für die Argumentation der Autoren diskutiert. So soll deutlich gemacht werden, dass eine komplexe Konzeptualisierung des Gleichheitsbegriffs hilft, verschiedene

1 Meißelbach 2019. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 G. Hartung und M. Herrgen (Hrsg.), Interdisziplinäre Anthropologie, Interdisziplinäre Anthropologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28233-2_3

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Formen der Gleichheit typologisch zu fassen und deren psychosozialer Kausalmechanik nachzuspüren. Erstens sind mindestens die folgenden Typen von Gleichheit 2 zu unterscheiden: politische Gleichheit, soziale Gleichheit, Chancengleichheit und wirtschaftliche Gleichheit. Politische Gleichheit meint die Gleichheit vor dem Gesetz und ist ein republikanisches Ideal, dessen Wurzeln sich bis zu den antiken Philosophen zurückverfolgen lassen. Erst auf der Grundlage solcher Rechtsgleichheit lassen sich liberaldemokratische Forderungen nach sozialer Gleichheit und Chancengleichheit erheben. Jene richten sich vor allem auf die gleichen Möglichkeiten zur Teilhabe am gesellschaftlichen und politischen Leben. Soziale Gleichheit bezeichnet die Abwesenheit von Diskriminierung, etwa aufgrund der Zugehörigkeit zu einem Stand, einer sozialen Klasse, einer Religion oder einem Geschlecht und ist augenscheinlich ein zutiefst demokratisches Ideal. Chancengleichheit im liberalen Sinne meint hingegen ‚nur‘ Fairness im Hinblick auf Aufstiegsmöglichkeiten, also gleiche Chancen für jedes Individuum, von den eigenen Stärken profitieren zu können. Eine dezidiert demokratische Lesart solcher Fairness mahnt darüber hinaus an, dass Chancengleichheit auch durch gleiche (materielle) Ausgangsbedingungen herzustellen ist. Wirtschaftliche Gleichheit hingegen bezeichnet die Abwesenheit herausgehobener ökonomischer Macht für irgendwen und ist ein radikal egalitaristisches Ideal. Zweitens ist es analytisch fruchtbar, zwischen Gleichbehandlung und Ergebnisgleichheit zu unterscheiden. So sind politische und soziale Gleichheit Formen der Gleichbehandlung im Hinblick auf Vorteile und Lasten. Ergebnisgleichheit herrscht hingegen überall dort, wo entweder alle dasselbe haben oder – wie es ein zentrales sozialistisches Diktum ist – jeder nach seinen Bedürfnissen bekommt. Schon diese einfache Gegenüberstellung macht eine hier wichtige Pointe deutlich: „Gleichbehandlung führt nicht zu gleichen Ergebnissen, und gleiche Ergebnisse erfordern ungleiche Behandlung“,3 nämlich beispielsweise Umverteilung durch ungleiche Besteuerung, sozialpolitische Transferleistungen oder Verstaatlichung privater Besitztümer. Gleichheitsideale können demnach niemals auf die Beseitigung sämtlicher realer Ungleichheiten hinauslaufen. Nicht nur erfordern wirtschaftliche Gleichmachung und gleiche Bedürfnisbefriedigung ungleiche Behandlung. Auch Chancengleichheit lässt sich angesichts faktisch ungleicher Startbedingungen nur über (ungleiche) Ausgleichsleistungen herstellen. Chancengleichheit – und erst recht soziale sowie 2

Die folgenden Reflexionen zum Gleichheitsbegriff basieren im Wesentlichen auf Sartori 1997, S. 334 ff. 3 Sartori 1997, S. 342.

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politische Gleichheit – kann aber auch implizieren, dass sich die Anteile an materiellen oder immateriellen Ressourcen ungleich verteilen, und zwar aufgrund von relevanten Unterschieden in Fähigkeiten oder Handlungsweisen. Leistungsbereite und Kompetente erhalten mehr als andere, Regelbrecher werden schlechter gestellt als Gesetzestreue usw. Gleichheit meint also nicht notwendigerweise die Abwesenheit von Unterschieden und Hierarchien, solange jene auf sozialem Status oder Kompetenz basieren. Drittens stellen sich im Hinblick auf das Streben nach Ergebnisgleichheit zwei nicht-triviale Fragen: Hinsichtlich welcher Merkmale und Bedürfnisse soll eine solche Gleichheit der Ergebnisse hergestellt werden? Und wer entscheidet darüber? Auf diese Fragen sind noch keine in einem umfassenden Sinne überzeugenden Antworten gefunden worden. Zwar ist einerseits schon plausibel, dass insbesondere materielle Ungleichheiten die Fairness bei Aufstiegs- und Teilhabemöglichkeiten unterminieren. Dennoch bleibt die Betonung gerade ökonomischer Ungleichheit angesichts ganz unterschiedlicher menschlicher Bedürfnislagen in gewisser Weise arbiträr. Welche Ergebnisgleichheit also gleichsam ‚letztlich und eigentlich‘ anzustreben wäre, ist keinesfalls offensichtlich; und eine politische Entscheidung darüber zeitigt enorme gesellschaftliche Konsequenzen. Gleichbehandlung – von der politischen über die soziale Gleichheit bis hin zur liberal verstandenen Chancengleichheit – ist hingegen ein vergleichsweise leicht normativ begründbares und praktisch umsetzbares Ideal. Diese Differenzierungen des Gleichheitsbegriffs sind für die Argumentation von Kappeler und Fichtel wiederum in mindestens zweifacher Weise wichtig. Offenkundig betrifft ein erstes Bündel solcher Implikationen die theoretischen Überlegungen zu Ungleichheit als unabhängiger Variable. Im Abschnitt [1] werden zwar alle sozialtheoretisch wichtigen Dimensionen dieser Kategorie gestreift: von Kleisthenes‘ und Lockes Vorstellung der Rechtegleichheit (‚politische Gleichheit‘) über Hobbes und den Verweis auf ungleiche Lebensbedingungen (‚Chancengleichheit‘) sowie Diskriminierung und politische Teilhabe (‚soziale Gleichheit‘) bis hin zu wirtschaftlicher Ungleichheit und ungleicher Bedürfnisbefriedigung. Es wären jedoch explizite Erörterungen dazu hilfreich, ob und aus welchen Gründen diese Phänomene aus evolutionär-anthropologischer Sicht tatsächlich als Aspekte eines Gesamtzusammenhangs behandelt werden sollten und mithin auf den Proxy der Einkommensungleichheit heruntergebrochen werden können. Wie deutlich geworden sein dürfte, wäre die politiktheoretische Nullhypothese nämlich, dass es sich im Gegenteil um qualitativ ganz unterschiedliche Gegenstände handelt. Im Zentrum dürfte hierbei wohl die Frage nach der psychosozialen Kausalmechanik stehen. Wenn sich zeigen ließe, dass theoretisch ganz verschiedene Formen der Ungleichheit empirisch von den gleichen kognitiven Modulen mit ähnlichen

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Ergebnissen prozessiert werden, wäre das von größter politiktheoretischer Relevanz; und das Gleiche gilt natürlich auch für gegenläufige Befunde und Argumente.4 So greifen Kappeler und Fichtel für die Analyse der Folgen von Einkommensungleichheit etwa auf Befunde zu Statusungleichheiten und Hierarchien in Primaten- und Menschengesellschaften zurück. Im Text wird aber nicht restlos überzeugend geklärt, ob diese Formen der Ungleichheit wirklich dahingehend zur selben Klasse von Phänomenen gehören, dass ihre psychosozialen Folgen von gleichen oder zumindest familienähnlichen kausalen Mechanismen hervorgebracht werden. Die Beantwortung dieser Frage würde viel zur Klärung der handlungstheoretischen Grundlagen der sozialwissenschaftlichen Ungleichheitsforschung beigetragen. Das zweite Bündel von Implikationen erlaubt es, die normativen Anschlusskontexte der Untersuchung zu schärfen. Die Formulierungen im Text erwecken bisweilen den Eindruck, die Autoren leiteten aus dem Bestehen realer Ungleichheiten in westlichen Demokratien ab, dass jene ihrem formalen Anspruch auf Gleichheit letztlich nicht gerecht würden. Formale Gleichheit meint aber nichts anderes als Gleichheit vor dem Gesetz (also: politische Gleichheit). Sie impliziert gerade nicht eine Gleichheit der Ausgangsbedingungen oder gar der Ergebnisse – und kann an deren (Nicht-)Bestehen demnach nicht gemessen werden. Zwar stimmt freilich auch, dass politische Gleichheit allein noch keine im umfassenden Sinne gerechte Ordnung gewährleistet. Jedoch ist sie nicht nur in dem Sinne „formal“, dass sie „nur auf dem Papier“ bestünde. Vielmehr ist solche formale Rechtstaatlichkeit historisch und logisch das Fundament jeder über sie hinausreichenden, sozialen und chancenbezogenen Fairness. Dem Streben nach Ergebnisgleichheit steht politische Gleichheit hingegen durchaus im Wege. Daraus aber ist zu folgern, dass egalitaristische Bestrebungen nur mit größtem Bedacht und keinesfalls unter leichtfertiger Einschränkung politischer Gleichheit zu verfolgen sind. Das gilt umso mehr, als die Entstehung und Verfestigung von (Ergebnis-)Ungleichheiten in der belebten Natur nachgerade unausweichlich zu sein scheint. Wie die Autoren in den Kapiteln [4] und [5] vor Augen führen, lässt sich die Bildung von Rangordnungen und Hierarchien mit großer Plausibilität bis zu gemeinsamen Vorfahren mit anderen Primaten zurückverfolgen. Weil in den Sozialwissenschaften auf solche „sozialen Tatsachen“ meist noch immer als spezifisch menschliche (oder gar: neuzeitliche) soziale Konstruktionen geblickt wird, dürfte der ergänzende Hinweis lohnen, dass die Naturgeschichte von Hierarchien und der mit ihnen einhergehenden Ungleichheiten wohl noch viel weiter zurückreicht: Rangordnungen eignen sich als Lösung für eine ganze Reihe adaptiver Probleme von sozialen Lebewesen aller 4 Siehe dazu auch die im nächsten Abschnitt benannten psychologischen Befunde zur handlungsleitenden Unterscheidung von wirtschaftlicher Gleichheit und Fairness.

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Art.5 Aber auch schon bei nicht sozial lebenden Spezies stellen sie sich im Zuge der Konkurrenz um knappe Ressourcen zwangsläufig ein. Das regelmäßige faktische und moralische Scheitern antihierarchischer Gesellschaftsentwürfe ist vor diesem Hintergrund keine Überraschung. Zu alledem passt ferner ein aktueller Befund zur Geschichte der ökonomischen Gleichheit: Wie eine breite historische Analyse über die gesamte dokumentierte Kulturgeschichte hinweg gezeigt hat, war nennenswerte wirtschaftliche Ungleichheit allenthalben eine prägende Eigenschaft menschlicher Gesellschaften. Wo sie sich dennoch effektiv und nachhaltig abschwächte, gelang dies nicht durch politische Arrangements. Vielmehr waren dafür regelmäßig gewaltige Heimsuchungen verantwortlich: Kriege, Revolutionen, Staatszerfall und Seuchen.6 Zwar stehen weder die Ursachen für Ungleichheit noch Handlungsempfehlungen zu deren Beseitigung im Fokus der Argumentation von Kappeler und Fichtel. Jedoch liegen gerade dort die relevanten Anschlussstellen nicht nur zur sozialwissenschaftlichen Literatur, sondern auch zu wichtigen gesellschaftspolitischen Diskursen. Denn selbst wenn sich der Befund als robust erweisen sollte, dass wirtschaftliche Ungleichheit mancherlei negative Konsequenzen hat, so sind diese gegen die wahrscheinlichen Folgen ihrer Bekämpfung abzuwägen. Es sei aber ausdrücklich betont, dass sich diese kritischen Argumente nicht gegen die Studie selbst richten, sondern vielmehr zu deren sorgfältiger Einordnung beitragen sollen. Zu [2] und [3] | An der in diesen Abschnitten unternommenen Plausibilisierung und Spezifikation des kausalen Zusammenhangs zwischen sozialer Ungleichheit als unabhängiger (Makro-)Variable und einer ganzen Reihe von abhängigen Variablen auf der Individual- und Aggregatebene sind vor allem zwei Aspekte diskussionswürdig: Zum einen erscheint mir der einschlägige Forschungsstand weit weniger eindeutig. Zum anderen dürfte diese unterschiedliche Wahrnehmung auch mit meiner oben dargestellten Kritik am zugrundeliegenden unterspezifizierten Konzept von Gleichheit in Verbindung stehen. Die Argumentation der Autoren basiert wesentlich auf den Befunden von Richard Wilkinson und Kate Pickett. Jene haben Daten vorgelegt, die klar für einen deutlich negativen Effekt von Einkommensungleichheit u. a. auf den Gesundheitszustand zu sprechen scheinen.7 Jedoch ist dieser Befund in der Forschungsliteratur längst noch nicht allgemein akzeptiert. Ausweislich aktueller Überblicksartikel ist der Forschungsstand bei weitem nicht eindeutig genug, um alternative Hypothesen 5 Sapolsky 2005; Mazur 1985. 6 Scheidel 2017. 7 Wilkinson / Pickett 2009a; Wilkinson / Pickett 2009b.

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zu dieser und zu anderen unterstellten negativen Konsequenzen von Ungleichheit für Individuen und Kollektive auszuschließen.8 Was die Individualebene angeht, ist zwar die im Artikel dargestellte Vermutung zunächst plausibel, dass (wahrgenommene) Ungleichheit zumindest bei den Benachteiligten zu Stresssymptomen führt, die ihrerseits gesundheitsschädliche Wirkung entfalten. Jedoch ist die Befundlage zu den Auswirkungen von ökonomischer Ungleichheit auf der Basis von Individualdaten weder in Bezug auf die Lebenserwartung noch auf mentale Gesundheit oder auch nur die Selbsteinschätzung der Gesundheit in der Gesamtschau eindeutig genug, um die Nullhypothese verwerfen zu können. Im Gegensatz dazu gibt es robuste empirische Unterstützung für die umgekehrte Kausalrichtung – dass nämlich Unterschiede im Gesundheitszustand sich in differenzielle Leistungsfähigkeit umsetzen und mithin für Einkommensungleichheit verantwortlich sind. Auf der Aggregatebene ist der Befund eines korrelativen Zusammenhangs zwischen Ungleichheit und dem mittleren Gesundheitszustand von Gemeinwesen zwar in ländervergleichenden Studien zumindest für relativ wohlhabende Staatengruppen repliziert worden. Jedoch konnte er bisher in Zeitreihendaten einzelner Länder nicht nachgewiesen werden. Auch die von Wilkinson und Pickett referierten Zusammenhänge auf der Ebene subnationaler Regionen haben sich außerhalb der USA so nicht gezeigt. Es leuchtet ferner nicht unmittelbar ein, dass sozialer Kohäsion in diesem Zusammenhang die vermutete Rolle als Mediatorvariable zukommt. Einerseits steht nicht in Zweifel, dass sich Vereinsamung negativ auf die Gesundheit von Individuen auswirkt. Andererseits fehlen noch Argumente, wie und warum ausgerechnet die ökonomische Form der Ungleichheit (und nicht etwa vorrangig Verletzungen der sozialen oder politischen Ungleichheit) zu sozialer Vereinsamung führen sollte. Zudem ist hinsichtlich der Kausalbeziehung zwischen Ungleichheit und gesellschaftlichem Zusammenhalt die umgekehrte Vermutung ebenso plausibel, dass nämlich ökonomische Ungleichheit ihrerseits – mindestens teilweise – eine Funktion von sozialer Kohäsion ist. Vor diesem Hintergrund wäre es wünschenswert, die Theoriespezifikation dahingehend zu konkretisieren, dass solche im Forschungsstand geborgenen Befundmuster samt den jeweils plausiblen Kausalpfaden noch klarer benannt und diskutiert würden. Hilfreich dafür erscheint ferner eine stärkere Reflexion des Verhältnisses von faktischer (ökonomischer) Ungleichheit und individuellen Wahrnehmungen solcher Ungleichheiten. Die implizite Annahme der Autoren 8 Die nachstehenden Ausführungen zum Forschungsstand basieren auf Leigh / Jencks / Smeeding 2011 sowie auf O’Donnell / Van Doorslaer / Van Outri 2015, dort vor allem S. 1436 ff. und S. 1566 ff.

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scheint zu sein, dass reale Ungleichheiten auch als solche wahrgenommen werden. Dagegen sprechen aber empirische Befunde – unter anderem dazu, dass Menschen ökonomische Ungleichheiten eher unterschätzen.9 Hinzu kommt, dass sie durchaus bereit sind, solche Ungleichheiten zu akzeptieren, wenn sie unter fairen – oder besser: ihnen fair erscheinenden – Bedingungen zustande gekommen sind.10 Mehr noch: Chancengleichheit einerseits und ökonomische Ergebnisgleichheit andererseits werden von Menschen nicht nur kognitiv differenziert, sondern die erstere ist für sie auch von viel größerer handlungsleitender Bedeutung als die letztere.11 Die oben getroffene Unterscheidung verschiedener Formen der Gleichheit ist also anscheinend bei weitem nicht nur theoretischer Natur. Zu [4] bis [9] | Grundsätzlich ist der von den Autoren gewählte Forschungsansatz nicht nur höchst plausibel. Es dürfte auch ein erheblicher Mehrwert für die Humanwissenschaften darin liegen, in Zukunft mehr interdisziplinäre Studien dieser Art hervorzubringen. Da zwischen Natur- und Sozialwissenschaften nach wie vor viel konzeptionelles Niemandsland liegt, braucht es solche explorativ und erkundend angelegten Versuche der Theorieintegration. Gegen dergestalt angelegte Unterfangen lassen sich ohnehin keinerlei gute Gründe vorbringen.12 Soweit ich es beurteilen kann, sind ferner alle von den Autoren referierten Wissensbestände aus dem Bereich der evolutionären Anthropologie höchst einschlägig für die Fortentwicklung des sozialwissenschaftlichen Verständnisses von Hierarchien, samt deren ultimaten und proximaten Kausalmechaniken. Vor diesem Hintergrund wäre es für Sozialwissenschaftler höchst instruktiv zu erfahren, was die Autoren von Wilkinsons und Picketts eigenen Versuchen halten, ihre Erklärungen mit einer evolutionär-anthropologischen Mikrofundierung zu versehen.13 Fruchtbar für die Weiterentwicklung dieses Ansatzes wäre es ferner, das Verhältnis der Ungleichheiten in Primaten- und Menschengesellschaften genauer zu ergründen. Mein auf die obigen Ausführungen gestützter Verdacht ist, dass die Dominanzhierarchien von Primatengesellschaften in den Besitz-Ungleichheiten menschlicher Gemeinwesen nicht ihre unmittelbare funktional äquivalente Entsprechung finden. Damit ist freilich nicht gesagt, dass die von den Autoren in Stellung gebrachten Theorie- und Befundbestände nicht sinnvoll gewählt wären. 9 Davidai 2018. 10 Clark / D’Ambrosio 2015. Siehe zu alledem ferner Chen Chen / Tam / Chiang 2019 sowie Mijs 2019. 11 Starmans / Sheskin / Bloom 2017. 12 Zu den Gründen siehe Meißelbach 2019 und dort insbesondere das Kapitel 2. 13 Wilkinson / Pickett 2017.

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Nur wäre eben genauer zwischen Fairness und Gleichheit zu differenzieren, ferner zwischen Dominanz- und Status- bzw. Kompetenzhierarchien. Zum Schluss führen Kappeler und Fichtel vor Augen, dass das evolutionäre Erbe unserer Spezies die modernen Gesellschaften dergestalt prägt, dass menschliche Wahrnehmungs- und Informationsverarbeitungsstrukturen nicht an solch komplexe Sozialfigurationen angepasst sind. In dieser evolutionären Perspektive sind im Übrigen auch die oben referierten Befunde vollständig plausibel, nach denen Menschen die tatsächliche ökonomische Ungleichheit in modernen Gesellschaften in der Regel unterschätzen und ihnen Fairness wichtiger ist als Ergebnisgleichheit. Die riesigen ökonomischen Gefälle moderner Gesellschaften gehörten schlicht nicht zu jenen sozialen Umwelten, an welche sich unser Gehirn über Jahrmillionen angepasst hat. Anders als konkrete Verletzungen von Regeln des fairen Zusammenlebens in einem Gemeinwesen sprengen sie deshalb schlicht unsere Vorstellungskraft. Infolgedessen fallen die von wahrgenommener Ungleichheit induzierten Stressreaktionen samt ihren gesundheitsschädlichen Folgen unverhältnismäßig milde aus. Ausgehend von dieser Beobachtung und aufbauend auf die Kernargumente des vorliegenden Kommentars erscheint der folgende Schlussgedanke nicht unplausibel: Die Fehlwahrnehmungen von und Unterreaktionen auf ökonomische Ungleichheit lassen sich ihrerseits durchaus als adaptiv ansehen. Schließlich generieren moderne Gesellschaften vergleichsweise große Wohlfahrt auch für Unterprivilegierte, gerade auf der Grundlage ihrer multiplen und teils steilen Status-, Kompetenz- und Verteilungshierarchien. Anscheinend handelt es sich bei den negativen Konsequenzen von ökonomischer Ungleichheit gemessen an den denkbaren und realen Alternativen um ein geringeres Übel: Denn einerseits ist der von wirtschaftlicher Ungleichheit ausgehende Problemdruck gerade groß genug, um begrüßenswertes politisches Handeln zu dessen Abschwächung zu motivieren – etwa durch Umverteilung und Sozialstaatlichkeit. Andererseits wird das Problem aber im Schnitt nicht als virulent genug wahrgenommen, um staatlich verfasste und liberal organisierte Massengesellschaften überhaupt unmöglich zu machen. Im Gegenteil: Solche politischen Ordnungen werden individuell anscheinend dann als legitim empfunden, wenn sie für Fairness sorgen. Ihr Mehrprodukt im Hinblick auf politische und soziale Gleichheit, Chancengerechtigkeit und eben auch materiellen Wohlstand dürfte die individuellen Nachteile von ökonomischer Ungleichheit möglicherweise also aufwiegen – und mithin zumindest teilweise rechtfertigen.14

14 Vgl. hierzu etwa Pinker 2011.

Das Problem mit der Ungleichheit

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Literaturhinweise Chen Chen, Jacqueline / Tam, Tony / Chiang, Yen-Sheng: The Rise of Merit-based Inequality Acceptance After Exposure to Competition. Experimental Evidence among Chinese University Students, in: Social Indicators Research 144 (2019), Issue 2, S. 707-728. Clark, Andrew E. / D’Ambrosio, Conchita: Attitudes to Income Inequality. Experimental and Survey Evidence, in: Handbook of Income Distribution, herausgegeben von Anthony B. Atkinson und Francois Bourguignon, Bd. 2a, Amsterdam [u. a.] 2015, S. 1147–1208. Davidai, Shai: Why do Americans Believe in Economic Mobility? Economic Inequality, External Attributions of Wealth and Poverty, and the Belief in Economic Mobility, in: Journal of Experimental Social Psychology 79 (2018), S. 138–148. Leigh, Andrew / Jencks, Christopher / Smeeding, Timothy M.: Health and Economic Inequality, in: The Oxford Handbook of Economic Inequality, herausgegeben von Brian Nolan, Wiemer Salverda und Timothy M. Smeeding, Oxford 2011, S. 384–405. Mazur, Allan: A Biosocial Model of Status in Face-to-Face Primate Groups, in: Social Forces 64 (1985), Heft 2, S. 377–402. Meißelbach, Christoph: Die Evolution der Kohäsion. Sozialkapital und die Natur des Menschen, Wiesbaden 2019. Mijs, Jonathan J. B.: The Paradox of Inequality. Income Inequality and Belief in Meritocracy Go Hand in Hand, in: Socio-Economic Review 0 (2019), S. 1–29. O’Donnell, Owen / Van Doorslaer, Eddy / Van Ourti, Tom: Health and Inequality, in: Handbook of Income Distribution, herausgegeben von Anthony B. Atkinson und Francois Bourguignon, Bd. 2b, Amsterdam [u. a.] 2015, S. 1419–1533. Pinker, Steven: The Better Angels of Our Nature. Why Violence Has Declined, New York 2011. Sapolsky, Robert M.: The Influence of Social Hierarchy on Primate Health, in: Science 308 (2005), S. 648–652. Sartori, Giovanni: Demokratietheorie, Darmstadt 1997. Scheidel, Walter: The Great Leveler. Violence and the History of Inequality from the Stone Age to the Twenty-First Century, Princeton und Oxford 2017. Starmans, Christina / Sheskin, Mark / Bloom, Paul: Why people prefer unequal societies, in: Nature Human Behaviour 1 (2017), Article number 0082. Wilkinson, Richard G. / Pickett, Kate E.: Income Inequality and Social Dysfunction, in: Annual Review of Sociology 35 (2009a), S. 493–511. Wilkinson, Richard G. / Pickett, Kate E.: The Spirit Level. Why More Equal Societies Almost Always Do Better, London 2009b. Wilkinson, Richard G. / Pickett, Kate E.: The Enemy Between Us. The Psychological and Social Costs of Inequality, in: European Journal of Social Psychology 47 (2017), Heft 1, S. 11–24.

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Kontakt Dr. Christoph Meißelbach Technische Universität Dresden Institut für Politikwissenschaft Professur für Politische Systeme und Systemvergleich 01062 Dresden E-Mail: [email protected]

Christoph Meißelbach

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Ungleiche Ungleichheiten: Dimensionen (der Ungleichheit) und deren normative Bewertung Ungleiche Ungleichheiten

Vorrede | Als Ökonom bekommt man nur selten die Gelegenheit, einen anthropologischen Text über Primatengesellschaften zu lesen, was in diesem Fall zu einem großen Erkenntnisgewinn bei uns geführt hat. Entsprechend freuen wir uns, den Beitrag von Peter Kappeler und Claudia Fichtel kommentieren zu dürfen. In der öffentlichen Debatte ist das Thema der (sozialen) Ungleichheit derzeit allgegenwärtig. Das betrifft nicht zuletzt auch die Frage, welche politischen Handlungsempfehlungen aus der aktuellen Entwicklung der Ressourcenverteilung folgen.1 Dass das Thema nun auch in der evolutionären Anthropologie auf Interesse stößt und der Vergleich unserer Gesellschaft mit Primatengesellschaften gesucht wird, verdeutlicht, wie relevant und weitreichend das Thema inzwischen ist. Da wir keine Experten auf dem Gebiet der Anthropologie sind und wir zu den einzelnen Punkten nur wenig Konstruktives beitragen können, werden wir im Folgenden die Kernaussagen des Beitrages aus ökonomischer Perspektive diskutieren. Zu [1] und [3] | In der zentralen, im Leitartikel aufgestellten These, dass moderne Menschen an einem mismatch zwischen psychischen Anpassungen an eine ursprüngliche, egalitäre Lebensweise und der Wahrnehmung neuer sozialer Stressoren leiden, sehen wir einen spannenden Ansatzpunkt für die Debatte über soziale Ungleichheit. Die Sichtweise, dass Menschen nicht für das Leben des 21. Jahrhunderts geschaffen sind, sondern deren Psyche und Physiologie noch primär auf ein Leben als Jäger und Sammler ausgelegt ist, hat sich in der wirtschaftswissenschaftlichen Forschung durchaus etabliert. So haben die Arbeiten von Daniel Kahneman und Amos Tversky, den Wegbereitern der Verhaltensökonomik, eindrücklich gezeigt, wie stark unser vermeintlich rationales Denken durch kognitive 1 Vgl. Peichl / Stöckli 2018, S. 18–22 und Hufe / Peichl / Stöckli 2018, S. 185–199. Siehe auch Klasen 2018. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 G. Hartung und M. Herrgen (Hrsg.), Interdisziplinäre Anthropologie, Interdisziplinäre Anthropologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28233-2_4

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Verzerrungen beeinträchtigt wird.2 Diese systematischen, fehlerhaften Neigungen des Denkens haben ihre Ursprünge vermutlich darin, dass sie unseren Vorfahren einen evolutionären Vorteil verschafft haben und sich somit im Genpool bewähren konnten. In der modernen Welt führt dieses an eine frühere Zeit angepasste Denken jedoch zu Fehlverhalten und zu falschen Überzeugungen. Für die Entdeckung dieser cognitive biases erhielt Kahneman, eigentlich Psychologe, daher auch den Wirtschaftsnobelpreis.3 Spannend finden wir zudem auch die weitergehende Frage, welche Faktoren das Entstehen von sozialer Ungleichheit im Verlauf der Menschheitsgeschichte überhaupt erst ermöglicht haben. Peter Kappeler und Claudia Fichtel liefern hierfür spannende Hinweise. Die sozialen Strukturen unserer Vorfahren vor 12.000 Jahren verdeutlichen, welche Voraussetzungen hierfür notwendig gewesen sein mussten. Insbesondere wird klar, dass den Jägern und Sammlern mit ihrer nomadischen Lebensweise die Grundvoraussetzungen gefehlt haben müssen, um materielle Reichtümer überhaupt anhäufen zu können. Dies allein schon deshalb, weil ein Medium der Wertaufbewahrung gefehlt hat. Aber auch Nahrungsmittel waren beispielsweise nur bedingt konservierbar und mussten in kurzer Zeit konsumiert werden. Zudem hätten materielle Reichtümer bei Nomaden stets mitgeführt werden müssen, was deren Anhäufung nicht zuletzt auch aus logistischen Gründen unattraktiv machte. Erst durch die Entstehung von Staaten und das Aufkommen von ökonomischen Institutionen wurde es möglich, dass sich eine Elite bilden und soziale Ungleichheit entstehen konnte. Es würde jedoch zu kurz greifen, wenn nur die Entstehung der sozialen Ungleichheit hervorgehoben werden würde. Darüber hinaus kommt es beispielsweise zu einer massiven Reduktion der Armut sowie zu einem starken Anstieg der Lebenserwartung. Noch nie war die Kindersterblichkeitsrate so niedrig wie im 21. Jahrhundert; ebenso die Wahrscheinlichkeit, Opfer eines Gewaltdelikts zu werden.4 Selbst Personen am unteren Ende der Einkommensverteilung haben heute eine höhere Lebensqualität als jeder Höhlenbewohner und jede Höhlenbewohnerin. Die wenigsten Menschen wären bereit, ihr Leben mit dem unserer Vorfahren zu tauschen, selbst wenn zu jener Zeit soziale Ungleichheit nahezu unbekannt war. Dies widerspricht natürlich nicht der zentralen These der Autoren. Nichtsdestotrotz ist 2 Siehe Kahneman / Tversky 1972, S. 430–454; Kahneman / Tversky 1973, S. 237–251; Kahneman / Tversky 1979, S. 263–291; Kahneman / Tversky 1996, S. 582–591 und Kahneman 2013. 3 Tversky war zum Zeitpunkt der Verleihung bereits verstorben. Es ist jedoch davon auszugehen, dass Tversky und Kahneman den Preis gemeinsam erhalten hätten. 4 Rosling / Rosling / Rosling Rönnlund 2018.

Ungleiche Ungleichheiten

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es wichtig, hervorzuheben, dass wir im 21. Jahrhundert in einer deutlich besseren Welt leben – trotz oder eventuell auch wegen sozialer Ungleichheit. Aus ökonomischer Sicht ist ein gewisses Maß an Ungleichheit zudem durchaus wünschenswert, um beispielsweise Anreize für effizientes Wirtschaften mit knappen Ressourcen oder auch Innovationen zu setzen. Die Beispiele des real existierenden Sozialismus (sowie dessen Scheitern) zeigen, dass ohne Recht auf Privateigentum und der damit zusammenhängenden Vermögensungleichheit eine Wirtschaft langfristig nicht zu funktionieren scheint. Aus philosophischer Sicht ist zudem fraglich, ob eine absolute Gleichverteilung von Ressourcen überhaupt erstrebenswert ist.5 Die meisten Gerechtigkeitstheorien berücksichtigen daher die Idee der persönlichen Verantwortung, nach der Personen verantwortlich für das eigene Handeln sind und zumindest einen gewissen Anspruch auf die Früchte eigener Leistung haben. In diesem Kontext ist auffallend, dass in der Arbeit der Begriff der Ungleichheit äußerst flexibel verwendet wird und eine klare Definition fehlt. So wird in Kapitel [1] teilweise von Einkommensungleichheit gesprochen, aber auch von ungleicher Lebenserwartung oder sozialer Hierarchie. In Kapitel [3] beziehen sich die Autoren überdies auf soziale Vereinsamung. Dies sind alles unterschiedliche (soziale) Ungleichheiten mit unterschiedlichen Gründen, Auswirkungen und normativen Implikationen. Vereinsamung ist beispielsweise vor allem in Ländern mit hohen Einkommensunterschieden zu finden. Daraus kann jedoch nicht geschlossen werden, dass ausschließlich oder vor allem Personen mit niedrigen Einkommen geringe soziale Kontakte haben. Es wäre ebenso denkbar, dass Managerinnen und Manager aufgrund ihrer Arbeit Schwierigkeiten (oder kein Interesse daran) haben, Kontakte zu Freunden und zur Familie zu pflegen. Gleiches gilt für Unterschiede in der Lebenserwartung. Korrekt ist, dass es global deutliche Unterschiede gibt. Es ist jedoch unklar, inwiefern dies für die weiteren diskutierten Aspekte der (sozialen) Ungleichheit relevant ist. Es wäre daher wünschenswert gewesen, wenn die Autoren klar abgegrenzt hätten, worauf sie sich konkret beziehen und präzise formuliert hätten, welche Form der Ungleichheit sie an welcher Stelle untersuchen und wie diese Formen zusammenhängen. In der ökonomischen Literatur geschieht dies in der Regel durch die Beantwortung der Frage „inequality of what among whom“6, also zwischen was (z. B. Ländern oder Regionen, Individuen oder Haushalten, Beziehern von Kapital- oder Arbeitseinkommen, Generationen, Männern und Frauen, usw.) und worin (z. B. Einkommen – vor oder nach Steuern und Transfers; zu einem Zeitpunkt oder über den Lebenszyklus verteilt, Vermögen, Konsum, Gesundheit

5 Arneson 1989, S. 77–93; Cohen 1993. 6 Atkinson / Bourguignon 2001; Osberg 2001.

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oder Lebenserwartung, Chancen oder Möglichkeiten, usw.) man Ungleichheit analysieren möchte. Zu [2] | Einhergehend mit der unpräzisen Formulierung fällt auf, dass in Kapitel [2] Studien zitiert werden, die problematische Zusammenhänge von Aspekten der (sozialen) Ungleichheit auf das Wohlbefinden von Menschen verdeutlichen sollen. Diesbezüglich ist jedoch zu bedenken, dass hauptsächlich korrelative Studien zitiert werden. Es bleibt unklar, inwiefern sich soziale Ungleichheit kausal auf die menschliche Psychologie auswirkt. Diesen Kritikpunkt nehmen die Autoren in Kapitel [2] zwar bereits vorweg und stellen klar, dass sie von Korrelation nicht auf Kausalität schließen. Dennoch wird aus unserer Sicht die Problematik nicht ausreichend gewürdigt und diskutiert. Es wird lediglich auf experimentelle Studien verwiesen, die einen vermeintlich kausalen Zusammenhang zwischen sozialen Faktoren und individueller Gesundheit belegen sollen. Auch hier erschwert die unpräzise Begriffsverwendung die Interpretation der Ergebnisse, denn soziale Ungleichheit kann man nicht ohne Weiteres mit diesen sozialen Faktoren gleichsetzen. Daher kann, unabhängig vom Ergebnis der experimentellen Studien, von diesen nicht auf soziale Ungleichheit oder Ungleichverteilung von Ressourcen geschlossen werden, da dort jeweils nur Teilaspekte untersucht werden. Diese Aspekte können vielleicht durch soziale Ungleichheit beeinflusst werden oder umgekehrt diese beeinflussen. Das bleibt jedoch unklar und ein übergeordneter Modellrahmen der angenommenen Wirkungskanäle wäre hilfreich gewesen. Des Weiteren werden in der Arbeit an gewissen Stellen Aussagen getroffen, von denen man zumindest vermuten muss, dass ein direkter, kausaler Wirkungskanal unterstellt wird. So wird ebenfalls in Kapitel [2] angedeutet, dass Ungleichheit zu einer geringeren Lebenserwartung oder sogar zu einer höheren Mordrate führt. Eine klare Abgrenzung von Korrelation und Kausalität wäre auch hier besonders wichtig gewesen, da die zentrale These des Artikels davon ausgeht, dass es einen kausalen Zusammenhang zwischen sozialer Ungleichheit (wie auch immer definiert) und dem psychologischen Wohlbefinden der Menschen gibt. Wichtig ist eine klare Abgrenzung der Begrifflichkeit zudem, wenn Ungleichheit normativ bewertet werden soll. Einkommensunterschiede müssen zum Beispiel nicht zwangsläufig ungerechterweise zustande gekommen sein. Wenn eine Person es vorzieht, das Arbeitspensum zu reduzieren, um mehr Freizeit genießen zu können, ist ein geringeres Bruttoeinkommen am Ende des Monats durchaus gerechtfertigt. Ein Blick auf die Verteilung der Brutto- oder Nettoeinkommen ist daher nicht ausreichend, um Rückschlüsse auf die Verteilungsgerechtigkeit ziehen zu können. Für die normative Bewertung von Ungleichheit ist der Verweis auf historische oder internationale Referenzpunkte zudem nur bedingt zielführend.

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Es kann zwar festgestellt werden, dass sich die Ungleichheit in eine bestimmte Richtung entwickelt hat oder dass sie in zwei Ländern unterschiedlich groß ist. Es lässt sich jedoch daraus nicht ableiten, ob die weniger gleiche Verteilung auch die ungerechtere ist. Deshalb gilt es im Kontext der normativen Ungleichheitsbewertung Kriterien zu definieren, die eine Verteilung aufweisen muss, damit sie als gerecht bezeichnet werden kann. Diese Kriterien können sich auf die beobachtete Ressourcenverteilung oder auf soziale Hierarchien beziehen, müssen es aber nicht. In der politischen Philosophie ist beispielsweise die Chancengerechtigkeit als notwendiges Kriterium weitgehend anerkannt. Damit ist gemeint, dass auf der einen Seite Erfolgsaussichten, beispielsweise auf schulische Bildung, Einkommen oder ein gesundes Leben, nicht von Faktoren abhängen dürfen, die sich dem persönlichen Einfluss entziehen. Hierzu gehört unter anderem das Elternhaus.7 Auch die vieldiskutierten geschlechtsspezifischen Einkommensunterschiede sind ein Beispiel dafür. Da Menschen ihr Geschlecht zum Zeitpunkt der Geburt nicht frei wählen können, widersprechen Gender-pay-gaps dem Prinzip der Chancengerechtigkeit.8 Ebenso wenig können sich Kinder das Einkommensniveau oder die Nationalität der Eltern aussuchen. Die Quasi-Vererbung des Bildungserfolgs9 oder die strukturelle Benachteiligung von Menschen mit Migrationshintergrund10 sind daher mit einer chancengerechten Gesellschaft nicht vereinbar. Auf der anderen Seite folgt aus dem Konzept aber kein Anspruch auf Ergebnisgleichheit. Vielmehr gelten Unterschiede zwischen Individuen als gerechtfertigt, wenn sie auf die jeweilige persönliche Anstrengung zurückzuführen sind. Ausgehend von den Arbeiten von John Roemer11 hat das Konzept der Chancengerechtigkeit in der ökonomischen Literatur an Aufmerksamkeit gewonnen.12 Abgesehen von diesen sprachlichen Ungenauigkeiten sowie den Problemen mit den zitierten Studien sind wir aber der Ansicht, dass zumindest für gewisse Formen der Ungleichheit die zentrale These des Artikels ihre Gültigkeit behält. Wir erachten es beispielsweise als plausibel, dass sich soziale Hierarchien negativ auf die psychologische Gesundheit von Personen am unteren Ende der Verteilung auswirken. So gesehen ist es auch nur bedingt relevant, inwiefern Hierarchie und Ungleichheit überhaupt zusammenspielen. Die spannendere Frage ist vielmehr, inwiefern die 7 8 9 10 11 12

Siehe Black / Devereux 2011 für einen Überblick über die Literatur zu intergenerationeller Mobilität. Blau / Kahn 2017, S. 789–865. Black / Devereux / Salvanes 2005, S. 437–449. Lüdemann / Schwerdt 2013, S. 455–481. Roemer 1998. Vgl. Roemer / Trannoy 2015 für einen Überblick.

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psychologische Reaktion auf wahrgenommene Statusunterschiede aus evolutionärer Sicht erklärt werden kann. Ein Querverweis auf soziale Ungleichheit ist in diesem Zusammenhang gar nicht nötig und möglicherweise sogar eher verwirrend. Fazit | Wir stimmen den Autoren zu, dass soziale Ungleichheit im Vergleich zu unseren Vorfahren ein verhältnismäßig rezentes Phänomen ist. Ebenso sind wir der Ansicht, dass der evolutionäre Erklärungsansatz für den Zusammenhang zwischen Aspekten der sozialen Ungleichheit und psychologischen Problemen einen wichtigen Beitrag zu leisten vermag. Uneinig sind wir darüber, inwiefern dieser Zusammenhang mit Ungleichheit generell zu vereinbaren ist. Wir befürchten, dass aufgrund der unpräzisen Begriffsverwendung Äpfel mit Birnen verglichen werden. Dennoch bleibt die zentrale These der Autorin und des Autors bestehen, auch wenn wir vorsichtig wären, die Schlüsse auf soziale Ungleichheit zu verallgemeinern.

Literaturhinweise Arneson, Richard: Equality and equal opportunity for welfare, in: Philosophical Studies 56 (1989), S. 77–93. Atkinson, Anthony / Bourguignon, François: Income distribution, in: International encyclopedia of the social & behavioral sciences, herausgegeben von Neil Smelser und Paul Baltes, Oxford 2001, S. 7265–7271. Black, Sandra / Devereux, Paul: Recent developments in intergenerational mobility, in: Handbook of Labour Economics, herausgegeben von David Card und Orley Ashenfelter, Amsterdam 2011, S. 1487–1541. Black, Sandra / Devereux, Paul / Salvanes, Kjell: Why the apple doesn’t fall far: Understanding intergenerational transmission of human capital, in: American Economic Review 95 (2005), Nr. 1, S. 437–449. Blau, Francine / Kahn, Lawrence: The gender wage gap: Extent, trends, and explanations, in: Journal of Economic Literature 55 (2017), Nr. 3, S. 789–865. Cohen, Gerald Allan: Equality of what? On welfare, goods, and capabilities, in: The Quality of Life, herausgegeben von Martha Nussbaum und Amartya Sen, Oxford 1993, S. 9–29-. Hufe, Paul / Peichl, Andreas / Stöckli, Marc: Ökonomische Ungleichheit in Deutschland – Ein Überblick, in: Perspektiven der Wirtschaftspolitik 19 (2018), Nr. 3, S. 185–199. Kahneman, Daniel / Tversky, Amos: Subjective probability: A jugment of representativeness, in: Cognitice Psychology 3 (1972), Nr. 3, S. 430–454. Kahneman, Daniel / Tversky, Amos: On the psychology of prediction, in: Psychological Review 80 (1973), Nr. 4, S. 237–251. Kahneman, Daniel / Tversky, Amos: Prospect Theory: An analysis of decision under risk, in: Econometria 47 (1979), S. 263–291. Kahneman, Daniel / Tversky, Amos: On the reality of cognitive illusions, in: Psychological Review 103 (1996), S. 582–591.

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Kahneman, Daniel: Thinking fast and slow, New York 2013. Klasen, Stephan: Economic inequality and social progress, in: Rethinking society for the 21st century: report of the international panel on social progress, Cambridge 2018, S. 10–13 (Kapitel 3). Lüdemann, Elke / Schwerdt, Guido: Migration background and educational tracking: Is there a double disadvantage for second-generation immigrants?, in: Journal of Population Economics 26 (2013), Nr. 2, S. 455–481. Osberg, Lars: Inequality, in: International encyclopedia of the social & behavioral sciences, herausgegeben von Neil Smelser und Paul Baltes, Oxford 2001, S. 7371–7377. Peichl, Andreas / Stöckli, Marc: Ungleichheit und Umverteilung in Deutschland: Trends und Handlungsoptionen, in: ifo Schnelldienst 71 (2018), Nr. 15, S. 18–22. Roemer, John: Inequality of opportunity, Cambridge 1998. Roemer, John / Trannoy, Alain: Equality of opportunity, in: Handbook of income distribution, herausgegeben von Anthony Atkinson und François Bourguignon, Elsevier 2015, S. 217–300. Rosling, Hans / Rosling, Ola / Rosling Rönnlund, Anna: Factfulness: Ten reasons we’re wrong about the world – and why things are better than you think, Flammarion 2018.

Kontakt Prof. Dr. Andreas Peichl ifo Institut Poschingerstraße 5 81679 München E-Mail: [email protected] Marc Stöckli ifo Institut Poschingerstraße 5 81679 München E-Mail: [email protected]

Thomas Schwinn

Von Affen und Menschen Über anthropologisch-soziale Passförmigkeit

Vorrede | Der Soziologie fällt es schwer, Theorien und Erkenntnisse aus der Biologie und den Lebenswissenschaften zu importieren. Die Grenzziehungen zwischen den Disziplinen gleichen den geographisch und politisch gezogenen Mauern des Kalten Krieges: Sprachlosigkeit und gegenseitige Vorwürfe herrschen vor: „Few things provoke sociologists as easily or strongly as the perceivedly improper invocation of ‚biology‘ as an explanatory device, especially when done on sociologists’ own turf“.1 Die Tabuisierung dieser Art von Interdisziplinarität verdankt sich der relativ jungen Entstehungsgeschichte meines Faches. Im 19. Jahrhundert entstanden, hat es zunächst viele Denkfiguren aus der Biologie bezogen und es gab Versuche, dieses als Unterdisziplin in die Lebenswissenschaft einzugliedern. Die Soziologie gewann ihre wissenschaftliche Selbständigkeit deshalb in Absetzung, durch Emanzipation von der Biologie. Das war und ist für das disziplinäre Gedächtnis prägend. Das erklärt auch den beachtlichen Erfolg der „Philosophischen Anthropologie“ in der deutschen Soziologie: Legitimierte diese doch die Sozialwissenschaften, da die Biologie des Menschen auf Sozialität hin angelegt ist – ein Phänomenbereich mit eigenständigen Konstruktions- und Erkenntnisprinzipien. Angestoßen durch die öffentlichkeitswirksam dargestellten Entwicklungen der Genetik in den letzten beiden Jahrzehnten mehren sich die Stimmen in den Sozialwissenschaften, die „hostilities along the biology-culture boundary“ fallenzulassen und die Möglichkeiten einer crossfertilization zu sondieren.2 Diese jüngeren Versuche haben durchaus Vorläufer bei den Klassikern. So zeigte sich bereits Max Weber3 aufgeschlossen gegenüber den biologischen Erkenntnissen seiner Zeit und

1 Freese et al. 2003, S. 234. 2 Smith 2013, S. 106. Vgl. auch Freese et al. 2003, Guo 2008, Bearman 2008, Diewald 2010. 3 Weber 1978, S. 15 f. Siehe auch Schluchter 1996. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 G. Hartung und M. Herrgen (Hrsg.), Interdisziplinäre Anthropologie, Interdisziplinäre Anthropologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28233-2_5

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war sich bewusst, dass die sinnhaften Momente menschlichen Handelns auf einem unverstehbaren, mit naturwissenschaftlichen Methoden erschließbaren Substrat, der „Psychophysik“, aufruhen. Grundsätzlich ist der Versuch zweier Anthropologen und Primatenforscher, Kappeler und Fichtel, zu begrüßen, den interdisziplinären Austausch mit der Soziologie zu suchen. Sie machen es dem Leser allerdings nicht leicht, nachzuvollziehen, was die zentrale These ist, die ihren Argumentationsgang anleitet. Bevor ich die einzelnen Abschnitte kommentiere, möchte ich deshalb in der Vorrede die Grundstruktur des Artikels so skizzieren, wie ich sie verstanden habe. Soziale Ungleichheit erzeugt Stress und körperlich-psychische Beschwerden sowie Folgen für die davon Betroffenen, wie Einsamkeit und mangelnder Zusammenhalt in Gesellschaften. Dazu gibt es eine Menge sozialwissenschaftlicher Literatur, von der die Autoren einen Ausschnitt anführen. Warum der Bezug auf Primatengesellschaften? Sie möchten damit eines „der grundlegenden Probleme der evolutionären Anthropologie“ klären, „die Dynamik der Koevolution zwischen kultureller Veränderung und evolutionärer Anpassung“ (siehe die einleitende Zusammenfassung). Sie arbeiten dabei mit der Annahme einer Ungleichzeitigkeit: Die sozialen Lebensbedingungen wandeln sich schneller als die Psyche und Physiologie der Menschen, die von den veränderten Gesellschaftsstrukturen betroffen sind.4 Das führe zu Fehlanpassungen: Der Mensch habe eigentlich nicht die passende genetische und psychophysische Ausstattung, um mit dem Ausmaß an sozialer Ungleichheit zurechtzukommen, das sich, beginnend mit der Sesshaftigkeit, bis heute entwickelt hat. Der Überprüfung dieser These dient nun ein mehrfacher Vergleich, der im Text mehr implizit bleibt. Es werden zwei innerartliche Vergleiche vorgenommen: Menschliche Gesellschaften mit einfachen, egalitären Sozialverhältnissen werden solchen mit komplexen und ausgeprägten Ungleichheitsverhältnissen gegenübergestellt; Primatengesellschaften mit eher flachen Hierarchien werden mit solchen ausgeprägter Dominanzverhältnisse kontrastiert. Diesen beiden innerartlichen wird ein interartlicher Vergleich beiseite gestellt: Die Autoren versprechen sich offensichtlich einen Erkenntnisgewinn von der tierischen Form sozialer Ungleichheit für die menschliche Form mitsamt dessen Konsequenzen – welchen, das gilt es noch zu klären. Zu [1] | Die Überschrift des Abschnittes verspricht „Formen sozialer Ungleichheit in menschlichen Gesellschaften“ zu thematisieren. Es bleibt allerdings unklar, an welche „Formen“ die Autoren denken. Soziologisch unterscheidet man „Klasse“, 4 Vgl. Richerson et al. 2010.

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„Stand“, „Kaste“, askriptive und erworbene Ungleichheit, Chancengleichheit und Ergebnisungleichheit. Zentral ist dabei das Verhältnis von ideellen und materiellen Dimensionen sozialer Ungleichheit. Die Autoren sprechen dies implizit auf der ersten Seite an. Erstaunlicherweise spielt dies im Rest des Aufsatzes keine Rolle mehr. Soziologisch macht es nur Sinn, von sozialer Ungleichheit zu reden, wenn es das Ideal sozialer Gleichheit und Gerechtigkeit gibt. Sehr dezidiert warnt etwa Niklas Luhmann, mit der modernen Idee der Gleichheit der Menschen, die Kappeler und Fichtel erwähnen, vormoderne Sozialverhältnisse zu begreifen. Für letztere „darf man nicht davon ausgehen, daß die Schichten ihr Verhältnis zueinander als Ungleichheit wahrgenommen hätten; denn das würde ja voraussetzen, daß Angehörige verschiedener Schichten sich gegenseitig vergleichen, dem Vergleich gemeinsame Kriterien zugrunde legen und im Ergebnis zur Feststellung von Ungleichheit kommen […]. Für die alltäglichen Verständigungsmöglichkeiten jener Zeit handelt es sich aber einfach um verschiedenartige, um andersartige Menschen und Anderssein ist eine Qualität, nicht eine Relation […]. Die Unterschiede der Menschen werden nicht im Schema gleich/ungleich wahrgenommen […]. Die Angehörigen einer anderen Schicht sind anders als man selbst; sie sind von anderer Geburt und anderer Qualität. Nicht zuletzt lehrt dies die damals so beliebte Metapher des Organismus. Denn selbst heute würde niemand auf die Idee kommen, Kopf und Magen als ‚ungleich‘ zu bezeichnen.“5 Zu [2] | Unklar bleibt in diesem Abschnitt, in welchem Gesellschaftstyp und für welchen historischen Zeitraum die negativen Konsequenzen sozialer Ungleichheit thematisiert werden. Vermutlich haben die Autoren die heutige Gesellschaft im Blick. Schwankend ist ihr Urteil bezüglich der kausalen Richtung des Zusammenhangs. Körperliche und gesundheitliche Nachteile können durchaus zu sozialer Ungleichheit führen6 – nicht nur umgekehrt. Und entgegen ihren Annahmen kann soziale Ungleichheit mit zunehmender vertikaler Mobilität auch zunehmen. Das gilt für die letzten Jahrzehnte, während für die Nachkriegsjahrzehnte blockierte vertikale Mobilität mit abnehmender sozialer Ungleichheit einherging.7 Zu [3] | Um die physiologischen Reaktionen auf soziale Ungleichheit zu klären, ist es erforderlich, die sozialen Zusammenhänge genau zu bestimmen. Das gilt etwa für soziale Ungleichheit und Vereinsamung. Nicht selten sind sehr stark negativ privilegierte Gruppen und Schichten, beispielsweise ethnische Minderheiten, be5 Luhmann 1997, S. 693–695. 6 Vgl. Klein 2016, S. 89 ff. 7 Vgl. Kaelble 2017.

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sonders stark binnenintegriert, also nicht vereinsamt. Das angesprochene social buffering und soziale Ungleichheit stehen also in variablen Bezügen zueinander. Auch verändert sich mit Aufwärtsmobilität und privilegierter Schichtzugehörigkeit die Art der sozialen Beziehungen, in die man eingebunden ist. Große Aufmerksamkeit hat dabei die Bedeutung von weak und strong ties gefunden, insbesondere der Vorteil von weak ties, deren Verfügbarkeit von unten nach oben zunimmt. Die Autoren präsentieren nur ein holzschnittartiges, oberflächliches Bild der sozialen Welt. Die hauptsächlichen sozialen Strukturen, die zur Vereinzelung führen, haben kaum etwas mit sozialer Ungleichheit zu tun, sondern mit einem anderen Strukturmerkmal moderner Gesellschaften: der Differenzierung in verschiedene Ordnungen oder Systeme.8 Zu [4] | Hier wird die eigentliche Forschungsfrage formuliert: Sind die in den vorhergehenden Abschnitten thematisierten physiologischen Reaktionen auf soziale Ungleichheit in heutigen menschlichen Gesellschaften ein Fall von Fehlanpassung, da die biologische Natur des Menschen dem schnelleren sozialen Wandlungstempo hinterherhinkt?9 Oder sind es unvermeidbare Folgen, wo immer sich soziale Ungleichheit zeigt und unabhängig davon, wie die biologische Ausstattung der darin Lebenden aussieht? Dafür dient der mehrfache, in der Vorrede skizzierte Vergleich der Autoren. Können sie damit ihre Frage beantworten? Zu [5] | Der innerartliche Vergleich bei Primaten eröffnet ein ganzes Spektrum sozialer Strukturen, die von ausgeprägten Dominanzhierarchien bis hin zu kompletter Egalität reichen. Erklärt werden diese Unterschiede durch ökologische Bedingungen: Nahrungskonkurrenz und das Verhältnis von Männchen und Weibchen. Wie sich diese unterschiedlichen sozialen Strukturen in Primatengesellschaften auf deren Physiologie auswirken, wird in Abschnitt [8] thematisiert. In experimentell hergestellter Isolation sind Stress-Reaktionen feststellbar. Allerdings ist der Aussagewert dieses Experiments äußerst begrenzt: Weder ist Isolation bei Primaten eine Folge von sozialer Ungleichheit, wie die Autoren feststellen, noch kann damit die Frage „Fehlanpassung oder unvermeidbarer Zusammenhang?“ beantwortet werden. Zu [6] | Der innerartliche Vergleich von menschlichen Gesellschaften sieht bei Jäger- und Sammlergesellschaften eine weitgehende egalitäre Struktur verwirklicht. Dieser durch die Autoren etwas verklärte Zustand zerbricht mit der Sesshaftigkeit. Führungsdominanzen, Ressourcenakkumulation, Bürokratien, zurückgehende 8 Vgl. Schroer 2001 und Schwinn 2019. 9 Vgl. Richerson et al. 2010.

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Bedeutung von face-to-face-Beziehungen führen zu ausgeprägter sozialer Ungleichheit. Kulturelle Faktoren fehlen völlig in den Darlegungen. Weder ist die Struktur einfacher Gesellschaften noch der Übergang zu komplexeren, stratifizierten Gesellschaften ohne religiöse Entwicklungen zu verstehen. Soziale Gleichheit wie Ungleichheit müssen legitimiert sein und können nicht als bloße Anpassungen an natürliche und/oder „soziale“ Bedingungen verstanden werden. Die Autoren vermuten nun eine Fehlanpassung, da das psychophysiologische Profil der Menschen immer noch auf die lange Zeit vor der Sesshaftigkeit zugeschnitten sei und nicht zur neuen sozialen Struktur passe. Die Autoren nehmen hier eine kaum nachvollziehbare Scheidung in menschliche Ausstattung und soziale Entwicklung vor, die zu einem Mismatch führe. Dagegen muss aber betont werden, dass die rapide Veränderung sozialer Strukturen nur erklärbar ist, wenn sie durch die spezifisch anthropologische Konstitution möglich gemacht wird. Die „Gesellschaft“ ist kein eigenständiges Wesen jenseits des Menschen, sondern menschlich-biologische Ausstattung und soziale Strukturen, auch ihr Wandel, müssen immer schon in einer gewissen Passung zueinander stehen. In der Gen-Kultur-Koevolution muss letztere durch ersteres ermöglicht werden. Das betont die Philosophische Anthropologie. Zu [7] | Soziologische Theorien interessieren sich dafür, welche Bewusstseinsleistungen bei den menschlichen Subjekten mit den sozialen Ordnungen, in denen sie leben, korrespondieren. Da die menschlichen Akteure als Konstrukteure an der Errichtung und Reproduktion der Regeln und Institutionen mitwirken, sind Gesellschaften zwar kein Spiegelbild, aber durchaus auch Ergebnis einer gedanklichen Konstruktion. Sinn ist der Grundbegriff und Ausgangspunkt aller elaborierten soziologischen Theorien. Auch Kappeler und Fichtel interessieren sich für die Bewusstseinsprozesse der Primaten. Kognitiv werden soziale Rangunterschiede erkannt und das Verhalten entsprechend angepasst. Moralisch-ethische Beurteilungsstandards sind dagegen umstritten. Während Frans de Waal10 moralisierende Fähigkeiten bereits bei den Primaten entdeckt, konnte dies durch Experimente nicht bestätigt werden. Es fehlt dafür die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen. Die Kooperation unter Primaten wird geprägt durch „eigennützige, rationale Maximierer“,11 die menschliche Kooperation durch das, was Tomasello „geteilte Intentionalität“ nennt. Erst diese macht das Spezifikum menschlicher Sozialität aus. „Die menschliche Art von Kooperation hat jedoch einzigartige Merkmale, die sich am deutlichsten in den kulturellen Institutionen des Menschen manifestieren, angefangen bei der Ehe 10 De Waal 1997, S. 157 ff. und S. 256 ff. 11 De Waal 1997, S. 17. Vgl. auch Fischer 2013, S. 38.

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über das Geld bis hin zur Regierung, die einzig wegen der kollektiven Praktiken und der Überzeugungen menschlicher Gruppen existieren“.12 Menschliches Leben, individuelles wie soziales, reproduziert sich nicht primär nach biophysiologischen Standards, sondern nach soziokulturellen Mustern. Zu [8] und [9] | Mit dieser Einsicht ist eine prinzipielle Grenze für die Möglichkeit eines interartlichen Vergleichs formuliert. Das Mensch-Welt-Verhältnis ist ein kulturell vermitteltes; ihm unterliegen kognitive, moralische und ästhetische Bewertungsstandards. Über diese sind physiologische Reaktionen auf äußere Bedingungen vermittelt. Bei den Primaten scheint mir das Verhältnis zur Welt „kurzgeschlossen“, d. h. äußere Bedingungen wirken sich nach einem für die ganze Spezies gleichen Mechanismus und Muster auf psycho-physiologische Reaktionsmuster aus. Menschen müssen dagegen äußere Bedingungen bewerten und dieser kulturelle Filter moderiert körperliche Reaktionen. Die kulturellen Konstruktions-, Wahrnehmungs- und Bewertungsmuster sozialer Ungleichheit sind äußerst vielgestaltig. Es gibt daher auch nicht eine Passform, welche die menschlich angemessene und verträglichste wäre. Diese durch einen Vergleich mit Primatengesellschaften gewinnen zu wollen, setzt Unvergleichbares voraus. Das gilt auch für den intraartlichen Vergleich menschlicher Gesellschaften. Die ursprünglich egalitäre Lebensweise einfacher Gesellschaften als die für den Menschen passende Gesellschaftsform auszuzeichnen, unterschlägt die kulturelle Dimension menschlichen Lebens. Das Argument, Menschen hätten stammesgeschichtlich die längste Zeit in dieser Gesellschaftsform gelebt, vergisst, dass ihre anthropologischen Eigenschaften rapiden Wandel ihrer Sozial- und Lebensbedingungen möglich machen. Der Mensch ist nicht auf eine bestimmte Sozialform hin angelegt. Es dürfte schwierig sein die Stressoren, mit denen egalitäre Jäger- und Sammlergesellschaften konfrontiert waren, mit jenen moderner, auch durch Ungleichheit geprägter Gesellschaften zu verrechnen. Lebenserwartung und Gesundheit erreichen in letzteren historisch unbekannte Niveaus. Soziale Ungleichheit ist nur eine Dimension menschlicher Gesellschaften und sie hat in ihrer existentiellen Bedeutung im Übergang von der feudalen zur modernen Gesellschaft ab- und in ihrer kulturellen Bedeutung zugenommen. Das kann man sich mit dem sogenannten Tocqueville-Paradoxon klarmachen: Alexis de Tocqueville nahm an, dass mit dem Abbau gravierender Ungleichheiten im Modernisierungsprozess die sozialen Verhältnisse nicht befriedeter werden, sondern die Menschen nun viel empfindlicher für noch verbleibende und bisher noch nicht thematisierte Formen sozialer Ungleichheit werden. 12 Tomasello 2011, S. 254.

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Auch hier sind physiologische Reaktionen auf gesellschaftliche Veränderungen kulturell vermittelt und weniger träge als von den Autoren vermutet. Das ließe sich z. B. am Zusammenhang von Medizin und Religion veranschaulichen.13 Schon semantisch verweisen „Heil“ und „Heilung“ aufeinander. Heilung ist in der Moderne aber plausibler geworden als Heil. Galten Schmerzen vormodern durchaus als religiöse Passion oder Bewährungsprobe, werden sie in einem säkularen Leben, das als Selbstzweck gesehen wird, sinnlos. Aber auch in das heutige Verhältnis zum eigenen Körper sowie in die medizinisch-diagnostischen und therapeutischen Verfahren fließen ideelle, spirituelle Momente mit ein. Die sogenannte Alternativmedizin bewegt sich ins institutionelle Zentrum des Gesundheitswesens vor. Wir sprechen hier über stammesgeschichtlich vernachlässigbar kurze Zeiträume, über Jahrhunderte oder über Jahrzehnte, in denen sich das Verhältnis zum Körper grundlegend geändert hat. Wer traut sich zu, hier eine anthropologisch-soziale Passform für den Menschen auszuzeichnen?

Literaturhinweise Bearman, Peter: Exploring Genetics and Social Structure, in: American Journal of Sociology 114 (2008), S. V-X. De Waal, Frans: Der gute Affe. Der Ursprung von Recht und Unrecht bei Menschen und anderen Tieren, München 1997. Diewald, Martin: Zur Bedeutung genetischer Variation für die soziologische Ungleichheitsforschung, in: Zeitschrift für Soziologie 39 (2010), S. 4–21. Fischer, Julia: Affengesellschaft, Berlin ³2013. Freese, Jeremy / Li, Jui-Chung Allen / Wade, Lisa D.: The Potential Relevances of Biology to Social Inquiry, in: Annual Review of Sociology 29 (2003), S. 233–256. Guo, Guang: Introduction to the Special Issue on Society and Genetics, in: Sociological Methods & Research 37 (2008), S. 159–163. Kaelble, Hartmut: Mehr Reichtum, mehr Armut. Soziale Ungleichheit in Europa vom 20. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Frankfurt am Main und New York 2017. Klein, Thomas: Sozialstrukturanalyse, Weinheim ²2016. Lüddeckens, Dorothea: Religion und Medizin in der europäischen Moderne, in: Religionswissenschaft, herausgegeben von Michael Stausberg, Berlin 2012, S. 233–256. Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1997. Richerson, Peter J. / Boyd, Peter / Henrich, Joseph: Gene-cultural coevolution in the age of genomics, in: Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America 107 (2010), S. 8985–8992.

13 Lüddeckens 2012.

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Schluchter, Wolfgang: Physis und Kultur. Max Weber über Psychophysik, in: Unversöhnte Moderne, herausgegeben von Wolfgang Schluchter, Frankfurt am Main 1996, S. 71–143. Schroer, Markus: Das Individuum der Gesellschaft, Frankfurt am Main 2001. Schwinn, Thomas: Soziale Ungleichheit in differenzierten Ordnungen. Zur Wechselwirkung zweier Strukturprinzipien, Tübingen 2019. Smith, Eric Alden: Agency and Adaptation: New Directions in Evolutionary Anthropology, in: Annual Review of Anthropology 42 (2013), S. 103–120. Tomasello, Michael: Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation, Frankfurt am Main 2011. Weber, Max: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, Tübingen 71978. Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, Tübingen 5 1980.

Kontakt Prof. Dr. Thomas Schwinn Universität Heidelberg Max-Weber-Institut für Soziologie Bergheimer Straße 58 69115 Heidelberg E-Mail: [email protected]

Christian Thies

Der Begriff der Gleichheit

Vorrede | Humanwissenschaftliche Forschungen und anthropologische Reflexionen sind wichtige Ergänzungen für philosophische und soziologische Diskurse. Eine interdisziplinäre Anthropologie kann auch politische Debatten bereichern, sogar bei einem brisanten Thema wie das der sozialen Ungleichheit. Deshalb ist Peter Kappeler und Claudia Fichtel für ihren inhaltsreichen Aufsatz sehr zu danken. Zu [3] | Kappeler und Fichtel interessieren sich für die Frage, ob mit sozialer Ungleichheit auch Phänomene von Stress und Einsamkeit korreliert sind. Das scheint beispielsweise die Studie von Richard Wilkinson und Kate Pickett nahezulegen, in der eine Korrelation zwischen Stress und sozialer Ungleichheit festgestellt wird.1 Neuere Studien kommen jedoch zu gegenläufigen Ergebnissen.2 Auch ich möchte eine andere Vermutung äußern: Was uns Menschen ärgert, ja wütend macht (also irgendwie Stress auslöst), ist nicht die soziale vertikale Ungleichheit an sich. Wir sehen gern hinauf zu den Genies und Stars, leider auch zu den zahlreichen neuen Autokraten. Insbesondere akzeptieren wir, dass bessere Leistungen eine entsprechende Wertschätzung erfahren sollten. In den komplexen Sozialgefügen der Gegenwart sind die Zurechnungen jedoch unklar und die Verfahren intransparent. Nehmen wir den Bereich, um den es hauptsächlich geht, den Reichtum an materiellen Gütern: Die Ideologie der bürgerlichen Gesellschaft war, dass Reichtum auf Arbeit beruhe, auf Bildung und Anstrengung. Aber das bürgerliche Zeitalter ist vorbei. In den meisten Fällen zählt heutzutage nicht mehr die Leistung, sondern nur noch der Erfolg, wie auch immer er zustande kommen mag.3 Reichtum scheint bedingt zu

1 Wilkinson / Pickett 2009, S. 53 ff. und S. 105 ff. 2 Kelley / Evans 2017. 3 Vgl. Neckel 2008. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 G. Hartung und M. Herrgen (Hrsg.), Interdisziplinäre Anthropologie, Interdisziplinäre Anthropologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28233-2_6

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sein durch Erbschaften, Aktiengewinne, Eindrucksmanagement, günstige Gelegenheiten, tragfähige Netzwerke oder geografische Lagen. Aber wie dem auch sei: Die moralische Empörung, begründet auf einem tief verankerten Gerechtigkeitssinn, richtet sich nicht auf Ungleichheit, sondern auf nicht legitimierte Ungleichheiten. Zur empirischen Forschung kann ich mich als Philosoph bestenfalls indirekt äußern. Deshalb beschränke ich mich hier weitgehend auf Anmerkungen zum Begriff der Gleichheit. Zunächst ist zwischen dessen normativer und deskriptiver Verwendung zu unterscheiden. Zu den normativen Debatten über soziale Gleichheit können anthropologische Studien, selbst wenn sie interdisziplinär sind, wenig beitragen, weil immer die Gefahr eines Sein-Sollens-Fehlschlusses (oder eines naturalistischen Fehlschlusses) droht. An dieser Stelle sei nur daran erinnert, dass soziale Gleichheit kein absolutes normatives Prinzip ist. Würde und Freiheit sind Gleichheit vorzuordnen; zumindest darf Gleichheit nicht erzwungen werden. Vor allem ist festzuhalten, dass es sehr wohl gerechtfertigte Ungleichheiten gibt, insbesondere aufgrund von Verdienst und Bedürfnis. Schon Karl Marx hat sich entschieden gegen das verbreitete Missverständnis gewandt, die Kommunisten wären für absolute Gleichheit. Stattdessen solle gelten: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!“.4 Seit John Rawls 1971 sein bahnbrechendes Werk A Theory of Justice vorlegte, wird heftig und auf hohem Niveau über das Verhältnis von Gleichheit und Gerechtigkeit diskutiert.5 Was den deskriptiven Gebrauch des Begriffs Gleichheit in sozialwissenschaftlichen Diskursen betrifft, wäre zwischen einer horizontalen und einer vertikalen Variante zu unterscheiden. Horizontale Ungleichheiten sind Differenzen in Lebensstilen, Weltsichten und Handlungsweisen, aus denen kein Machtgefälle resultiert. Ob der fortlaufende Modernisierungsprozess solche individuellen Verschiedenheiten in unserer Gesellschaft fördert oder, ganz im Gegenteil, die Verhaltensweisen und Gewohnheiten immer stärker nivelliert, ist empirisch wohl eine offene Frage. Weil wir als Individuen alle unsere Besonderheiten haben, ist horizontale Ungleichheit auf jeden Fall normativ gegenüber horizontaler Gleichheit zu bevorzugen. Letztere ist typisch für totalitäre Gesellschaften, wenngleich nur für deren Ideologie, ob nun für die Nazi-Volksgemeinschaft oder das kommunistische China der 1960er Jahre. Übrigens vermute ich, dass bei den großen Affen die horizontalen Ungleichheiten größer sind als bei anderen Primaten, dass also beispielsweise die Schimpansen individualisierter sind als Lemuren, sowohl im eigenen Verhalten als auch in ihren Reaktionen auf andere Artgenossen. 4 Marx 1875, S. 21. 5 Zum Beispiel in Krebs 2000.

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Bei der vertikalen Ungleichheit ist in der Moderne zwischen den verschiedenen sozialen Sphären zu differenzieren. Im Bildungssystem führen die verschiedenen Abschlüsse zu Hierarchisierungen, in der Kunst gibt es Meister-Schüler-Verhältnisse und besonders steil sind die Rangordnungen in der katholischen Kirche. Im politischen Sektor gibt es eine einfache Gleichheit im Wahlrecht, nicht jedoch bei den realen Macht- und Einflussmöglichkeiten. Im Mittelpunkt der öffentlichen Debatten stehen vor allem die sozialen Ungleichheiten in der ökonomischen Sphäre, die man an Einkommen und/oder Vermögen misst. Hier lässt sich, analog zum Begriff der Armut, zwischen absoluter und relativer Ungleichheit unterscheiden. Absolute Ungleichheit ist die quantitative Differenz zwischen der reichsten und der ärmsten Person – und diese ist nicht nur enorm gewachsen, sondern derzeit gewiss auf dem höchsten Stand der Menschheitsgeschichte. Relative Ungleichheit wird von den quantitativen Sozialwissenschaften mit dem Gini-Koeffizienten gemessen. Dieser liegt zwischen 1 (eine Person hat alles) und 0 (alle haben gleich viel). Aber es gibt verschiedene Statistiken und die ganze Verfahrensweise ist umstritten. Ein grundsätzlicher Einwand lautet, dass das polare Schema durch ein Dreier-Schema ersetzt werden müsse: Neben „oben“ und „unten“ gebe es jetzt als dritte Kategorie „außen“. Pointiert gesagt wären diejenigen gut dran, die wenigstens unten sind und nicht außen. Zu den „Ausgeschlossenen“, die oft auch noch „unsichtbar“ bleiben, gehören illegal Beschäftigte, Flüchtlinge, ethnische Minderheiten, Obdachlose, alleinerziehende Mütter, verwilderte junge Männer und Frührentner.6 Wenn ich richtig sehe, fehlen genau solche Exklusionsmechanismen bei Primaten. Zu [6] | Eine weitere prinzipielle Frage richtet sich auf den sozialen Bezugsrahmen, für den von vertikaler Ungleichheit gesprochen wird. Die Ausführungen von Kappeler und Fichtel zu den Sozialstrukturen in Primatengesellschaften, mit denen frühere Publikationen fortgeführt werden,7 gehören für mich zu den interessantesten Passagen des Textes. Das Autorenpaar verweist auch auf die unterschiedlichen „Muster sozialer Strukturen in menschlichen Gesellschaften“ [6]. Die klassische Soziologie der sozialen Ungleichheit von Marx über Weber bis Dahrendorf beschäftigte sich immer mit komplexen Gesellschaften, die sich in Nationalstaaten organisiert hatten. Ein solcher methodologischer Nationalismus ist heute überholt. Erforderlich ist ein Themenwechsel zu vertikalen sozialen Ungleichheiten im Weltsystem des globalen Kapitalismus.8 Die Primatensozietäten gleichen aber, wie von Kappeler und Fichtel festgestellt, weder dem gegenwärtigen Weltsystem noch den neuzeitlichen 6 Vgl. Bude 2008. 7 Vgl. Kappeler 2017, Kapitel 12: Sozialsysteme. 8 Kreckel 2006.

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Gesellschaften. Es handelt sich vielmehr um mikrosoziale Verbände bzw. – in einer etwas veralteten soziologischen Terminologie – um Gemeinschaften. Die paradigmatische Gemeinschaft ist die Familie. Wie hat sich deren Struktur verändert? Nehmen wir als Orientierungspunkt das aristotelische oikos-Modell, das wohl über viele Jahrhunderte und Jahrtausende der schlechten Wirklichkeit entsprach. Gemäß diesem gibt es in einem Haushalt eindeutige Herrschaftsbeziehungen: Mann über Frau, Vater über Kinder (dabei Söhne vor Töchtern), Herr über Sklaven. Diese vertikalen Ungleichheiten haben sich in den letzten Jahrzehnten stark reduziert: Frauen haben sich viele Rechte erkämpft, Kinder dürfen nicht mehr geschlagen werden, die Sklaverei ist abgeschafft. Erfreulicherweise sind diese Tendenzen weltweit zu beobachten. Die mikrosoziale Ungleichheit hat also nicht zu-, sondern abgenommen. Familien werden egalitärer. Nachrede | Noch eine letzte Bemerkung begrifflicher Art. Der Ausdruck Einsamkeit scheint mir unpassend zu sein. Als soziale Pathologie zu kritisieren ist nicht die Einsamkeit, sondern die mangelnde Einsamkeitsfähigkeit. Denn nach klassischer Auffassung, die Wilhelm von Humboldt überzeugend formulierte, gehört Einsamkeit – gleichrangig mit Freiheit – zu den wichtigsten Voraussetzungen für einen gelingenden Bildungsprozess. Einsamkeit und Freiheit sind zwar vor allem für die Universitätsgelehrten wichtig, auch wenn im Zeitalter der Drittmittelprojekte, Konferenzkalender und Gremiensitzungen davon leider nicht mehr viel übrig ist. Aber grundsätzlich sind Phasen der Einsamkeit für alle Menschen wichtig, insbesondere für Selbstbesinnung und Kreativität, für Entspannung und Entschleunigung. Ganz in dieser Tradition unterscheidet Hannah Arendt zwischen Einsamkeit und Verlassenheit.9 Der einsame Mensch ist nie allein, sondern immer mit sich und anderen Menschen in einem virtuellen Dialog. Wer jedoch verlassen sei, der ist wirklich allein. Statt von Verlassenheit kann man, wie im vorliegenden Text, deshalb auch von sozialer Isolation sprechen.

Literaturhinweise Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft [engl. 1951], München und Zürich 1986. Bude, Heinz: Die Ausgeschlossenen. Das Ende vom Traum einer gerechten Gesellschaft, München 2008. Kappeler, Peter: Verhaltensbiologie [2006], Berlin und Heidelberg 42017. 9 Arendt 1986, S. 757 ff.

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Kelley, Jonathan / Evans, Mariah D. R.: Societal inequality and individual subjective well-­ being: Results from 68 societies and over 200,000 individuals, 1981–2008, in: Social Science Research 62 (2017), S. 1–23. Krebs, Angelika: Gleichheit oder Gerechtigkeit. Texte der neuen Egalitarismuskritik, Frankfurt am Main 2000. Kreckel, Reinhard: Soziologie der sozialen Ungleichheit im globalen Kontext, Halle 2006. Marx, Karl: Kritik des Gothaer Programms [1875], in: Werke, von Karl Marx und Friedrich Engels, Bd. 19, Berlin-Ost 1982, S. 11–32. Neckel, Sighard: Flucht nach vorn. Die Erfolgskultur der Marktgesellschaft, Frankfurt am Main und New York 2008. Wilkinson, Richard / Pickett, Kate: Gleichheit ist Glück. Warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind, Berlin 2009.

Kontakt Prof. Dr. Christian Thies Universität Passau Philosophische Fakultät Innstraße 40 94030 Passau E-Mail: [email protected]

Carel P. van Schaik / Judith M. Burkart

Probleme aufgrund sozialer Ungleichheit: Ein Mismatch-Phänomen Probleme aufgrund sozialer Ungleichheit

Vorrede | In diesem charakteristischerweise hervorragend recherchierten Beitrag erörtern Kappeler und Fichtel die Konsequenzen sozialer und einkommensbedingter Ungleichheit für die individuelle Gesundheit und die empfundene Einsamkeit aus einer evolutionären Perspektive. Das zentrale Argument der Autoren ist, dass sich die modernen Großgesellschaften, in denen fast alle Menschen heutzutage leben, grundsätzlich von den egalitären Kleingesellschaften unterscheiden, in denen wir evolviert sind und in denen wir bis vor lediglich 20.000 Jahren alle gelebt haben (und an vielen Orten noch viel länger). Diese Zeitspanne war gemäß den meisten Schätzungen viel zu kurz, als dass sich durch die Evolution notwendige Anpassungen in der menschlichen Natur an das Leben in modernen Großgesellschaften hätten etablieren können. Aus diesem Grund ist es wahrscheinlich, dass einige der negativen Konsequenzen, die aus dem Leben in Großgesellschaften mit hoher sozialer Ungleichheit resultieren, ein Mismatch (d. h. ein Anpassungsversagen) darstellen: Ursprünglich sinnvolle Antworten von Organismen werden unangepasst und nicht-adaptiv, weil sich die gegenwärtigen Bedingungen stark von jenen unterscheiden, in denen das entsprechende Merkmal durch die Evolution geformt wurde. Diese ursprünglichen Bedingungen für die Menschwerdung waren die hoch egalitären Kleingesellschaften von nomadischen Jägern und Sammlern. Die Schlüsselbotschaft des vorliegenden Beitrags ist unserer Einschätzung nach, dass die dramatischen Veränderungen in der menschlichen Sozialorganisation während der letzten paar Jahrtausende bedeuten, dass wir vorsichtig sein müssen, unser Wissen über hierarchisch organisierte Tiere direkt anzuwenden, um die Bedingungen zu verstehen, die bei Menschen zu sozialem Stress und zu Gesundheitsbeeinträchtigungen führen. Das Ziel von diesem Kommentar ist es deshalb, Kappelers und Fichtels Argumentation weiterzuentwickeln, und die Rolle von Tierstudien als Modelle von menschlichen Phenomena klarer herauszuarbeiten. Unzulängliche Vergleiche und deshalb auch Schlussfolgerungen können © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 G. Hartung und M. Herrgen (Hrsg.), Interdisziplinäre Anthropologie, Interdisziplinäre Anthropologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28233-2_7

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entstehen, wenn ursprüngliche menschliche Gesellschaften als dominanzbasierte, individualistische Gruppen betrachtet werden, wie dies bei den meisten anderen Primaten der Fall ist, und nicht als egalitäre und interdependente Gruppen, die durch starke gegenseitige Abhängigkeit bei der Nahrungssuche und der Jungenaufzucht charakterisiert sind. In unserem Kommentar werden wir speziell auf zwei Punkte eingehen: Erstens erläutern wir, weshalb Reaktionen von Individuen aus dominanzbasierten Tiergesellschaften wahrscheinlich nicht zweckdienlich sind, um Vorhersagen und Erklärungen für die Verhaltensantworten moderner Menschen zu formulieren. Die physiologischen und Verhaltens-Antworten dieser Tiere können als adaptiv angeschaut werden, um in solchen Gesellschaften zurecht- und voranzukommen. Bei den Menschen hingegen können Antworten auf soziale Konstellationen, die sich neu in den modernen Großgesellschaften ergeben, durchaus das Resultat eines Mismatches und deshalb pathologisch sein. Tiergesellschaften, die auf gegenseitige Abhängigkeit anstelle von Dominanz bauen, wie dies bei Tieren mit gemeinschaftlicher Jungenaufzucht der Fall ist, sollten deshalb einen besseren Referenzpunkt für menschliches Verhalten darstellen. Ausgehend von diesem Referenzpunkt lässt sich extrapolieren, welchen Einfluss die rezenten Änderungen in der menschlichen Sozialorganisation weg von solchen hochkooperativen Gesellschaften hatten, und welche Mismatch-Phänomene dadurch potentiell induziert wurden. Der zweite Punkt, auf den wir spezifischer eingehen werden, bezieht sich auf den nachteiligen Einfluss von Einsamkeit, welcher bezugnehmend auf unsere ursprüngliche Lebensform und Sozialorganisation viel besser verstanden werden kann, und welcher einen klassischen Fall von Mismatch darstellt. In diesem Zusammenhang werden wir auch die oft vernachlässigte Frage der Kausalität in Studien, die einen Zusammenhang zwischen Geselligkeit und Gesundheit aufzeigen, hinterfragen und diskutieren. Zu [5] | Die Bedeutung eines adäquaten Modellsystems lässt sich gut an der Rolle von chronischem sozialem Stress demonstrieren, welcher ausführlich dokumentierte, negative Konsequenzen für die Gesundheit mit sich bringt. Manche Tierarten, darunter insbesondere die meisten Primaten, Karnivoren, Equiden und Meeressäuger, leben in Gruppen mit stabiler Zusammensetzung und individueller Erkennung. Diese Gesellschaften sind in der Regel durch Dominanzhierarchien geprägt, häufig separat nach Geschlecht, und der Dominanzrang in dieser Hierarchie ist durch die individuelle Kampffähigkeit gegeben. Der Dominanzrang ist normalerweise unter den Männchen stärker umstritten und instabiler als unter Weibchen, zweifelsohne aufgrund des höheren Fitnessgewinns der bei ersteren mit einem höheren Rang einhergeht. Wenn wir davon ausgehen, dass auch bei Tieren das Wohlbefinden

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mit dem endokrinen Status korreliert, wie das bei Menschen der Fall ist, dann beeinträchtigt das Vorliegen von Dominanzhierarchien das Wohlbefinden in diesen Arten nicht oder kaum, denn in stabilen Hierarchien gibt es in der Regel keinen Zusammenhang zwischen Kortisolspiegel und Rang.1 Es gibt jedoch vorhersagbare Ausnahmen, wie von Kappeler und Fichtel zusammengefasst. So findet man zwar oft deutliche Zusammenhänge in Situationen mit akutem Risiko für eskalierende Rangkämpfe, wenn z. B. ein ranghohes Individuum herausgefordert wird aufgrund des im Falle von Erfolg hohen potentiellen Fitnessgewinns,2 oder wenn die Rangfolge per se instabil ist und es deshalb vermehrt herausgefordert wird.3 Normalerweise ist diese Art von Stress jedoch vorübergehend und nicht chronisch. Die Schlussfolgerung muss deshalb sein, dass das Leben in einer hierarchischen Gesellschaft nicht per se stressvoll sein muss und dass auch ein niederer Rang nicht unausweichlich mit erhöhtem Stress einhergehen muss. Wenn dem jedoch so ist, weshalb erwarten wir denn, dass das Leben in einer hierarchischen Gesellschaft sowie ein tiefer Sozialstatus für Menschen stressvoll sind? Die plausibelste Erklärung ist, dass wir hier mit einer Mismatch-Situation konfrontiert sind. Wenn nomadische Jäger und Sammler tatsächlich unseren Lebensstil bis zum Beginn der Sesshaftigkeit und auch in der darauf folgenden Phase des Ackerbaus vor zirka 20.000 Jahren reflektieren,4 dann lebten Menschen historisch gesehen den allergrößten Teil ihrer evolutionären Vergangenheit in hoch egalitären Gesellschaften, in welchen Machtunterschiede höchstens auf Unterschiede in Ansehen oder Führungsqualitäten beruhten, nicht aber auf erzwungener Dominanz. Erst einige Jahrtausende nach der Erfindung und graduellen Intensivierung der Landwirtschaft entstanden die ersten Staaten, in welchen sich despotische Dominanzhierarchien bei Menschen etablierten. Gemäß dem Mismatch-Szenarium hat unsere Art während der Zeit als Jäger und Sammler eine Präferenz für egalitäre Sozialstrukturen entwickelt, weshalb es ihr schwer fällt, als untergeordnetes Mitglied in einer Hierarchie zu leben. Damit einhergehend scheint also die allgemein bei vielen Primaten verbreitete Fähigkeit verloren gegangen zu sein, ein Leben in einer auf Zwang basierten Dominanzhierarchie führen zu können, ohne dabei chronischem Stress ausgesetzt zu sein. Dies würde plausibel erklären, weshalb menschliche Individuen mit niedrigem sozialen Status in modernen, dominanzbasierten Gesellschaften chronischem Stress und allen damit zusammenhängenden, negativen Konsequenzen ausgesetzt sind. Wenn 1 2 3 4

Van Schaik et al. 1991; Weingrill et al. 2004. So z. B. das Alpha-Männchen in einen Paviangruppe, vgl. Gesquiere et al. 2011. Creel 2001. Viele Fakten unterstützen diese Annahme, vgl. Flannery / Marcus 2012.

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dieses Szenarium zutrifft, dann bedeutet dies auf konzeptueller Ebene, dass Modelle, die auf Primatenarten mit zwangsbasierten Dominanzhierarchien basieren, unzulänglich sind für die Situation von Menschen in modernen Großgesellschaften. Denn Menschen hatten im Gegensatz zu den Primaten keine Zeit, sich an diese Gegebenheiten anzupassen. Jene Modelle unterschätzen folglich systematisch die stressauslösenden Effekte des Lebens in solchen dominanzbasierten hierarchischen Strukturen für Menschen. Wenn diese Deutung zutrifft, bestünde die bessere Lösung für Stress-Phänomene in der modernen Gesellschaft also nicht darin, Hierarchien irgendwie erträglicher zu machen, sondern diese so weit wie möglich zu glätten und den Teamgeist zu stärken. Zu [6] | Der zweite Punkt, auf den wir eingehen möchten, betrifft die Einsamkeit. Nichtmenschliche Primaten, die in sozialen Gruppen leben, sind niemals einsam (abgesehen von den Individuen, welche die Gruppenmitgliedschaft wechseln und dann in einigen Arten vorübergehend alleine umherziehen). Sie können für eine Zeit lang Zeichen von Depression zeigen, wenn sie einen Rangkampf verloren haben (was normalerweise nur unter den höchsten Rängen vorkommt, wo der potentielle Gewinn groß genug ist, damit es sich lohnt, ein solches Risiko einzugehen), aber mit der Zeit fangen sie sich wieder, genesen von allfälligen Verletzungen und kehren zu ihrem natürlichen Verhalten zurück.5 Menschen können jedoch einsam sein – selbst dann, wenn sie in einem sozialen Setting leben, sofern dieses mehr oder weniger anonym ist. Mismatch scheint auch hier wieder am Werk zu sein. Menschen entwickelten sich in der Evolution während einer langen Periode hoher gegenseitiger Abhängigkeit: wir alle waren immer wieder davon abhängig, dass andere sich um uns kümmerten. Auf einer alltäglichen Basis geschah dies, weil der Erfolg von Jägern und Sammlern großen Schwankungen in Bezug auf die Qualität und die Quantität der produzierten bzw. der ins Camp gebrachten Nahrung unterlag. Diese Schwankungen wurden durch systematisches Teilen von Nahrung abgefedert. Auf einer längerfristigeren Basis kam es zu gegenseitiger Abhängigkeit, weil Jäger und Sammler gelegentlich verletzt oder krank waren und für längere Zeit darauf zählen können mussten, dass sie von anderen mit ausreichend Nahrung versorgt wurden. Schließlich, und vielleicht am wichtigsten, konnte gezeigt werden, dass Paare in den mittleren Jahren unmöglich ausreichend Nahrung beschaffen konnten, um all ihre heranwachsenden Kindern zu ernähren.6 Um das Überleben der 5

Ausnahmen davon gibt es manchmal in Gefangenschaft, wenn temporärer Rückzug für die Genesung nicht möglich ist. Vgl. Von Holst 1977. 6 Kaplan et al. 2009.

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Kinder zu sichern, sind sie über längere Zeit auf die Hilfe von jüngeren und älteren Gruppenmitgliedern angewiesen. Insgesamt bestand also ein essentielles Geben und Nehmen von Nahrung und anderen Fürsorgeleistungen auf verschiedenen Zeitskalen, vom täglichen Austausch bis hin zu Jahrzehnten. Dieses System kann natürlich nur funktionieren, wenn alle etwas beitragen, wann immer das möglich ist, und man nicht nur opportunistisch Nahrung oder andere Hilfe annimmt, wenn man das gerade nötig hat, ohne selbst je etwas beizusteuern. In all den oben genannten Fällen ist es deshalb so, dass man als Jäger und Sammler nur dann von anderen Hilfe und Nahrung erwarten kann, wenn man einen guten Ruf erworben hat – den Ruf, verlässlich zu sein, die Not anderer zu erkennen und zu lindern wie auch proaktiv einzugreifen, wenn Hilfe gebraucht werden könnte. Ein Weg, um das zu erreichen, besteht darin, das Verhalten der anderen gut zu beobachten und deren Hilfsbereitschaft kontinuierlich zu evaluieren. Darum geht es bei Reputation: Andere kontinuierlich zu bewerten und selbst konstant darum bemüht zu sein, in den Augen der anderen so gut wie möglich dazustehen. Sowohl das Bewerten wie auch das Sich-in-ein-gutes-Licht-Stellen kann bewusst, aber häufig auch unbewusst erfolgen. Diese gegenseitige Abhängigkeit kann unser großes Bedürfnis danach erklären, uns umsorgt zu fühlen und uns zu versichern, dass andere sich um uns kümmern. Wenn wir das Gefühl haben, keiner sorgenden Gemeinschaft anzugehören, fühlen wir uns einsam und verlassen – auch in der Mitte einer Menschenmenge und auch dann, wenn wir aufgrund ausreichend anhäufbarer Ressourcen gar nicht mehr im gleichen Maß wie früher voneinander abhängig sind. Nicht Teil einer sorgenden Gemeinschaft zu sein, kam zur Zeit der Jäger und Sammler einem Todesurteil gleich. Folglich ist es nicht verwunderlich, wenn wir auch heute noch höchst sensibel darauf reagieren, von anderen ignoriert zu werden, und dass uns das zutiefst unglücklich macht. Gleichermaßen unverwunderlich ist es, dass wir glücklich sind, wenn wir uns in einem Kreis von Freunden und Familienmitgliedern aufgehoben fühlen – der von Kappeler und Fichtel erwähnte social buffering Effekt. Genau genommen sind diese Reaktionen in den modernen Gesellschaften aber nicht mehr überlebenswichtig oder rational: Individuen können ihren Lebensunterhalt alleine bestreiten und falls das nicht gelingt, existieren institutionalisierte, regierungsbasierte, materielle Sicherheitsnetze sowie monetäre Unterstützungsformen zur Deckung unserer physischen Grundbedürfnisse. Trotzdem verhält sich unsere Psyche immer noch so, als ob wir in gegenseitig abhängigen Jäger- und Sammlergesellschaften leben würden. Wir sind nach wie vor besessen von unserer Reputation und Arbeitslosigkeit oder Arbeitsunfähigkeit erweckt Emotionen des Von-der-Gesellschaft-ausgestoßen-Seins, mit der ganzen Palette an physiologischen Korrelaten.

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Aus diesen Gründen möchten wir den Nutzen von Separationsstudien mit Tieren als Modell für die Physiologie menschlicher Einsamkeit hinterfragen. In diesen Studien werden Tiere explizit aus ihrer sozialen Gruppe herausgenommen und von Partnern getrennt, mit denen sie spezifische, enge Bindungen pflegen. Der Vorteil sozialer Bindungen in solchen Gruppen liegt in der größeren Sicherheit gegenüber Raubfeinden, in der Unterstützung in Konflikten durch Koalitionsbildung, in Thermoregulation oder dem gegenseitigen Entfernen von Parasiten – also nicht im Futterteilen oder anderen Fürsorgeleistungen. Es ist deshalb eine legitime Frage, ob die Auslöser und Symptome in solchen Studien mit der Situation des Menschen vergleichbar sind, weil der kritische Faktor beim Menschen nicht die physische Separation ist, sondern das Gefühl des Verlustes des Sicherheitsnetzes. Eine Alternative zu Separationsstudien mit Arten aus individualistischen Gesellschaften mit dominanzbasierten Hierarchien können Studien an Arten mit gemeinschaftlicher Jungenaufzucht sein,7 die ebenfalls auf systematischer gegenseitiger Abhängigkeit beruhen, obwohl auch diese Modelle ihre Einschränkungen aufweisen. Effekte der sozialen Isolation beim Menschen werden häufig auch im Kontext mit Tierstudien diskutiert, welche einen Zusammenhang zwischen sozialer Integration (z. B. Anzahl starker sozialer Bindungen, Zentralität im sozialen Netzwerk) und Gesundheitsparametern (z. B. Überleben) aufzeigen, übrigens immer in Arten, welche in großen, hierarchisch organisierten Gruppen leben. Dieser Zusammenhang wird typischerweise kausal interpretiert: Personen, die eine größere Anzahl an Freundschaften pflegen und der Familie zugewandter sind, lebten deswegen glücklicher und sogar auch länger. Allerdings kann man sich fragen, ob das die einzig denkbare Richtung der Kausalität ist und ob nicht auch andere kausale Faktoren involviert sind. Beispielsweise haben Studien mehrfach gezeigt, dass Individuen, die experimentell von spezifischen Infektionskrankheiten geheilt wurden, nachfolgend besser sozial integriert waren.8 Dieser Befund könnte bedeuten, dass kranke Tiere lediglich weniger Energie haben, um zu sozialisieren, dass sie von anderen gemieden werden oder beides. Falls dem so ist, geht die Richtung der Kausalität nicht von der Geselligkeit aus, die Gesundheit verursachen würde, sondern vielmehr würde Gesundheit zu mehr Geselligkeit führen. Eine andere wichtige Studie mit Pavianen hat gezeigt, dass sich die Anzahl früher widriger Umstände aufaddiert und eine Art Risikoindex ergibt, der vorhersagt, wie gut das Tier als erwachsenes Wesen sozial eingebettet ist und wie lange es überlebt.9 Wiederum geht hier die Kausalität in die entgegengesetzte Richtung und es scheint, dass konstitutive Faktoren – in diesen 7 Burkart / Hrdy / Van Schaik 2009. 8 So z. B. Poirotte et al. 2017. 9 Tung et al. 2016.

Probleme aufgrund sozialer Ungleichheit

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Studien experimentell manipuliert durch frühe Widrigkeiten und Krankheiten – zu reduzierter Geselligkeit führen, und nicht umgekehrt. Weitere Studien sind sicher notwendig, um das Netzwerk der Kausalität vollständig zu verstehen, aber aus der Perspektive des gegenwärtigen Wissenstandes ist es sicherlich angezeigt, der Annahme, dass Geselligkeit einseitig kausal verantwortlich ist für Gesundheitseffekte mit einem gewissen Maß an Skepsis zu begegnen. Wir schlagen vor, dass dieselbe Skepsis auch angezeigt ist, wenn wir Resultate von Menschen interpretieren, sogar solche, die einen Zusammenhang zwischen Ungleichheit und sozialem Leiden beschreiben. Diese Überlegung darf nicht als Form von Sozialdarwinismus missverstanden werden, sondern als potentieller Ansatz, um den effektivsten Weg zu finden, chronischen Stress und die damit verbundenen Krankheiten zu verstehen und zu beheben.

Literaturhinweise Burkart, Judith M. / Hrdy, Sarah B. / Van Schaik Carel P.: Cooperative breeding and human cognitive evolution, in: Evolutionary Anthropology 18 (2009), S. 175–186. Creel, Scott: Social dominance and stress hormones, in: Trends in Ecology & Evolution 16 (2001), S. 491–497. Flannery, Kent / Marcus, Joyce: The Creation of Inequality: How our prehistoric ancestors set the stage for monarchy, slavery, and empire, Cambridge/Massachusetts 2012. Gesquiere, Laurence R. et al.: Life at the top: rank and stress wild male baboons, in Science 333 (2011), S. 357–360. Kaplan, Hillard / Hooper, Paul L. / Gurven, Michael: The evolutionary and ecological roots of human social organization, in: Philosophical Transactions Royal Society of London B 364 (2009), S. 3289–3299. Poirotte, Clémence et al.: Mandrills use olfaction to socially avoid parasitized conspecifics, in: Science Advances 3 (2017), e1601721. Tung, Jenny et al.: Cumulative early life adversity predicts longevity in wild baboons, in: Nature Communications 7 (2016), 11181. Van Schaik, Carel P. et al.: A pilot study of the social correlates of levels of urinary cortisol, prolactin, and testosterone in wild long-tailed macaques (Macaca fascicularis), in: Primates 32 (1991), S. 345–356. Von Holst, Dietrich: Social stress in tree shrews: problems, results, and goals, in: Journal of Comparative Physiology 120 (1977), S. 71–86. Weingrill, Tony et al.: Fecal cortisol levels in free-ranging female chacma baboons: relationship to dominance, reproductive state and environmental factors, in: Hormones and Behavior 45 (2004), S. 259–269.

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Kontakt Prof. Carel P. Van Schaik Universität Zürich Anthropologisches Institut und Museum Winterthurerstrasse 190 CH-8051 Zürich E-Mail: [email protected] PD Dr. Judith Burkart Universität Zürich Anthropologisches Institut und Museum Winterthurerstrasse 190 CH-8051 Zürich E-Mail: [email protected]

Carel P. van Schaik / Judith M. Burkart

I Diskurs 3 Replik

Peter M. Kappeler / Claudia Fichtel

Soziale Ungleichheit Ein Paradebeispiel für interdisziplinäre anthropologische Forschung

[1] Vorrede Zunächst ist es uns ein Bedürfnis, Gerald Hartung und Matthias Herrgen für die hervorragende Auswahl der Kommentatoren unseres target-Artikels zu danken. Die disziplinäre Vielfalt der fundierten Kommentare war für uns nicht nur überwältigend in Bezug auf die Wahrnehmung der eigenen disziplinären Scheuklappen, sondern auch im Hinblick darauf, dass sie die Faszination und Möglichkeiten einer interdisziplinären Anthropologie verdeutlicht haben. Von daher gilt unser Dank auch den Kommentatoren aus Psychologie, Philosophie, Politikwissenschaften, Ökonomie, Soziologie, Anthropologie und Primatologie für konstruktive Anmerkungen aus dem Blickwinkel ihrer jeweiligen Perspektiven und Expertisen. Zweifelsohne wäre es zudem möglich gewesen, zusätzliche Kommentare u. a. aus der Medizin, Humanökologie, Geschichte, Ethologie oder Zoologie einzuladen. Die Ursachen und Konsequenzen von (Un-)Gleichheit sind also ein Thema, das aus verschiedensten Perspektiven wissenschaftlich interessant und von praktischer Bedeutung ist, und wir freuen uns über die breite Würdigung unseres Versuchs, durch einen Überblick über dieses Thema aus der Perspektive der evolutionären Anthropologie einen Dialog anzustoßen. In unserem target-Artikel wollten wir keinesfalls den Eindruck erwecken, dass wir mit der umfangreichen Literatur aus allen erwähnten relevanten Disziplinen vertraut wären. Von daher verstehen wir die kritischen Anmerkungen auch als Gelegenheit, diese Replik für eine Betonung der Chancen und Möglichkeiten der Interdisziplinären Anthropologie zu nutzen. Die wichtigen und kritischen Punkte sind in den einzelnen Kommentaren klar und prägnant dargestellt und bedürfen daher keiner weiteren Kommentierung. Deshalb konzentrieren wir uns in unserer Replik auf Aspekte, die in mehreren Kommentaren angesprochen wurden. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 G. Hartung und M. Herrgen (Hrsg.), Interdisziplinäre Anthropologie, Interdisziplinäre Anthropologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28233-2_8

Peter M. Kappeler / Claudia Fichtel

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[2]

Unabhängige soziale Variablen

Gleichheit und Einsamkeit sind die zentralen unabhängigen Variablen in unserem target-Artikel. Deren Definition, Operationalisierung und Beziehung zueinander werden in mehreren Kommentaren thematisiert. Die berechtigte Beobachtung, dass wir Gleichheit als undifferenzierten Begriff verwendet haben, kann damit erklärt werden, dass in der uns vertrauten ethologischen Forschung an Primaten und anderen Tieren soziale (Un-)Gleichheit als eindimensionales Phänomen betrachtet und untersucht wird. Dementsprechend enthält der Kommentar von Meißelbach den überaus wichtigen Hinweis darauf, dass es in den Human- und Sozialwissenschaften möglich und notwendig ist, zwischen politischer, sozialer und wirtschaftlicher Gleichheit zu differenzieren. Peichl und Stöckli machen dieselbe berechtigte Anmerkung und skizzieren den gängigen operationalen Ansatz der ökonomischen Forschung („inequality of what among whom?“), während Schwinn die unterschiedlichen Formen der Ungleichheit diskutiert, die in der Soziologie Verwendung finden. Zusätzlich wird von Thies die Unterscheidung zwischen absoluter und relativer Ungleichheit ins Spiel gebracht. Offenbar besteht also zwischen anderen Disziplinen auch kein allgemein gültiges Gleichheitskonzept. Die Formulierung einer umfassenden Charakterisierung aller erwähnten Aspekte erscheint uns daher als eine wichtige Grundlage für den zukünftigen interdisziplinären Dialog. Aus einer differenzierteren Herangehensweise ergeben sich auch wichtige und interessante Fragen über die Interdependenzen verschiedener Formen der Gleichheit sowie ihrer qualitativen Äquivalenz, die von Meißelbach klar herausgearbeitet werden. Diese Fragen sind von fundamentaler Bedeutung für das Verständnis der vermittelnden Mechanismen, die auch von Fritsche und Jugert sowie von van Schaik und Burkart aus anderer Perspektive bzw. in Bezug auf Einsamkeit erhellend diskutiert werden. Die Beziehung zwischen Ungleichheit und Einsamkeit bedarf ebenfalls einer Klärung. So haben Schwinn sowie Fritsche und Jugert unsere Darlegungen so verstanden, dass Ungleichheit zu Einsamkeit führt. Nach unserem Verständnis stellt zunehmende Einsamkeit – genau wie Ungleichheit – aber eine Konsequenz der Veränderung des menschlichen Sozialsystems in Verbindung mit der Sesshaftigkeit dar. Sie ist – genau wie Ungleichheit – eine Variable des Sozialsystems, die Wohlbefinden, Physiologie und Gesundheit beeinflusst,1 aber aus unserer Sicht nicht notwendigerweise eine exklusive Konsequenz sozialer Ungleichheit darstellt. Vielmehr können die mit der Sesshaftwerdung verbundenen, massiven Veränderungen der sozialen Organisation hinreichend dafür gewesen sein, mehr 1 Vgl. Cacioppo / Cacioppo 2018.

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Einsamkeit zu erzeugen, da die Auflösung familiärer Strukturen und der Übergang von ursprünglich etwa 30 Mitglieder umfassenden sozialen Grundeinheiten2 zu immer größeren Organisationsformen sozial isoliertere Lebensformen befördert. Dies ist natürlich – wie Schwinn betont – ein Prozess, der stark kulturell geprägt wird. Thies weist auf die assoziierte Dynamik in der Struktur von Familien hin. Einsamkeit ist aus Gründen, die auch von van Schaik und Burkart erläutert werden, kein Phänomen, für das in der Primatenwelt sinnvolle vergleichende Modelle existieren. Hier sind alle Individuen per Definition lebenslang in das Gruppenleben eingebunden. Extreme Formen sozialer Isolation, die in modernen menschlichen Gesellschaften auftreten, sind bei Primaten nicht existent und können dementsprechend nicht untersucht werden. Es gibt – wie Thies passend formuliert – keine Ausgeschlossenen. Thies findet es daher auch angemessener, von sozialer Isolation statt von Einsamkeit zu sprechen. Gleichwohl gibt es bei nicht-menschlichen Primaten interindividuelle Variation in der Natur und Häufigkeit sozialer Interaktionen, z. B. als Funktion des sozialen Rangs3 oder des Alters4, sodass es möglich ist, die Konsequenzen unterschiedlicher sozialer Integration zu untersuchen.5 Zudem werden die physiologischen Mechanismen sozialer Isolation in experimentellen Tierstudien untersucht.6 Die meisten Studien über Beziehungen zwischen Sozialität und Gesundheit, die wir in unserem target-Artikel zusammengefasst haben, gehen davon aus, dass soziale Variablen physiologische Konsequenzen haben. Van Schaik und Burkart betonen aber korrekterweise, dass es auch kausale Beziehungen in die entgegengesetzte Richtung gibt. Zahlreiche Studien haben nämlich u. a. gezeigt, dass vor allem mit ansteckenden Parasiten infizierte Tiere von Artgenossen gemieden werden7 und das experimentelle Entfernen von Parasiten die anschließende soziale Integration der betroffenen Tiere wieder verbessert.8 Ähnliche Phänomene und Mechanismen finden sich auch bei Menschen.9 Sowohl bei Menschen als auch bei Tieren sind dabei Aspekte der sozialen Integration betroffen, die als ein Maß für Einsamkeit betrachtet werden können. Die Beziehung zwischen Sozialität und Gesundheit sollte also besser als ein Nexus von Beziehungen betrachtet werden, 2 3 4 5 6 7 8 9

Vgl. Hill et al. 2010. Vgl. Schino 2001. Vgl. Almeling et al. 2016. Vgl. Wittig et al. 2008. Vgl. Cacioppo et al. 2015. So z. B. Müller-Klein et al. 2018. Vgl. Poirotte et al. 2017. Vgl. Curtis 2014.

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der durch Beziehungen von sozialen Faktoren untereinander, zwischen sozialen und physiologischen Variablen sowie durch Kausalität in verschiedene Richtungen charakterisiert ist, wobei zahlreiche Beziehungen wahrscheinlich noch gar nicht abschließend untersucht worden sind. In Anlehnung an die Illustration von Fritsche und Jugert könnte eine immer noch unvollständige und vereinfachende graphische Repräsentation dieses Nexus‘ so aussehen:

Ungleichheit Dominanzsystem Einsamkeit Soziale Integration

Motivation Emotion

Gesundheit

Physiologie

Einbindung Soziale Unterstützung

Abbildung 1 Schematisches Modell der wichtigsten bekannten Zusammenhänge zwischen Sozialität und Gesundheit. Soziale Faktoren, die in den Human- und Sozialwissenschaften gebräuchlich sind, sind fett dargestellt und mit funktionalen Äquivalenten aus der Ethologie gepaart.

[3] Erkenntnisansätze Die Chancen und Limitationen verschiedener Untersuchungsansätze werden von Schwinn ausführlich thematisiert. Die Ursachen und Muster ökonomischer Ungleichheit können (natürlich) nur durch vergleichende Untersuchungen der diesbezüglichen Vielfalt in Raum und Zeit variabler menschlicher Populationen erforscht werden. In Bezug auf die Erforschung der Konsequenzen von Ungleichheit gibt es potentiell zusätzliche Vergleichsmöglichkeiten, sofern Konsens darüber existiert, dass es bei anderen Arten funktionale Äquivalente wahrgenommener Ungleichheit gibt. Wie wir in unserem target-Artikel ausführlich dargestellt haben, kommen dafür nur soziale Rangunterschiede zwischen Individuen in Frage. Sowohl van Schaik und Burkart als auch Fritsche und Jugert werfen die wichtige Frage auf, welche nicht-menschlichen Arten sich als sinnvolle Modelle für Vergleichsstudien

Soziale Ungleichheit

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eignen. Grundsätzlich gibt es gute Gründe, in diesem Zusammenhang aufgrund ihrer phylogenetischen Nähe zum Menschen sowie ihrer sozialen Komplexität vorrangig nicht-menschliche Primaten zu betrachten, wobei aber auch Studien an anderen Säugetieren – von Klippschliefern10 bis Delfinen11 – wichtige vergleichende Beiträge liefern können. Zudem sollten diese Arten in permanenten Gruppen und nicht in Paaren oder als Einzelgänger leben und es ist ebenfalls zu bedenken, welche Erkenntnisse aus gruppenlebenden Arten mit unterschiedlichen Sozialstrukturen überhaupt zu erwarten sind. In Bezug auf zwischenartliche Variation in der Dimension der Dominanzsysteme (von egalitär bis despotisch) argumentieren van Schaik und Burkart überzeugend für den Einsatz von Krallenaffen und anderen Arten mit einem kooperativen Fürsorgesystem als gutes Modell für ursprüngliche, egalitäre menschliche Gesellschaften. Andere Primatologen und Primatologinnen haben dagegen die Struktur der Sozialbeziehungen zwischen erwachsenen Männchen, die z. B. bei manchen Pavianen12 und Schimpansen13 auffällig ausgeprägt sind, als Kriterium für sinnvolle Vergleiche mit Menschen erachtet. Aus unserer Sicht gibt es zwei sich sinnvoll ergänzende Ansätze: Der Vergleich zwischen Arten mit möglichst diversen Sozialsystemen für das Verständnis der großen Zusammenhänge sowie die gezielte, nach bestimmten Kriterien erfolgende Auswahl einzelner Arten für spezifische Fragestellungen oder Experimente. In der Praxis stellt sich dabei die Frage der Verfügbarkeit und Machbarkeit, da nicht alle 450 Primatenarten beliebig für Freiland- und/oder Gefangenschaftsstudien zur Verfügung stehen. In diesem Zusammenhang sollten wir auch noch einmal betonen, dass die von uns im target-Artikel erwähnten Beispiele im Wesentlichen den aktuellen Forschungsstand zu Fragen der Zusammenhänge zwischen Sozialität und Gesundheit repräsentieren – und nicht, wie es beispielsweise im Kommentar von Meißelbach anklingt, unsere selektive Auswahl reflektieren.14 In jedem Fall begrüßen wir die Reflexion unseres Anliegens, Bewusstsein und Interesse sowohl für mehr vergleichende empirische Forschung über die Zusammenhänge zwischen Sozialität und Gesundheit als auch für die begleitende Theorieentwicklung zu erwecken. Wir können uns dem entsprechenden expliziten Appell von Meißelbach daher nur anschließen. Unterschiedliche methodische Ansätze und Limitierungen sind möglicherweise auch dafür verantwortlich, dass die Zusammenhänge zwischen Ungleichheit und 10 11 12 13 14

Vgl. Barocas et al. 2011. Vgl. Frère et al. 2010. Vgl. Patzelt et al. 2014. Vgl. Mitani 2009. Siehe auch Ostner / Schülke 2018.

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Einsamkeit einerseits sowie Gesundheitskonsequenzen andererseits als nicht einheitlich betrachtet werden. So weist Meißelbach darauf hin, dass die postulierten Hauptzusammenhänge in der einflussreichen Arbeit von Wilkinson und Pickett15 von manchen Autoren in Frage gestellt werden. Auch Thies verweist auf neuere Arbeiten, die sogar einen positiven Zusammenhang zwischen Ungleichheit und subjektivem Wohlbefinden postulieren.16 Das mag damit zu tun haben, dass Gesundheitsparameter sehr undifferenziert quantifiziert werden (können), dass Einkommensdaten oft als einziger verfügbarer Indikator für Ungleichheit verwendet werden, dass Gesundheitseffekte indirekt und subjektiv abgefragt werden und dass es natürlich auch kausale Beziehungen in die andere Richtung gibt. So haben z. B. (chronisch) kranke Menschen im Durchschnitt geringere Einkommen, wodurch das Maß an wirtschaftlicher Ungleichheit beeinflusst wird; ein Argument, das sich auch in Schwinns Kommentar findet. Außerdem wirft Meißelbach die berechtigte Frage auf, warum gerade wirtschaftliche Ungleichheit die skizzierten Effekte erzeugt und über welche Mechanismen diese vermittelt werden könnten; ein motivationspsychologischer Aspekt, der auch von Fritsche und Jugert thematisiert wird. Eine ähnliche Kritik wird von Peichl und Stöckli geäußert, die zu Recht betonen, dass Ungleichheit differenzierter operationalisiert werden sollte und dass die Unterscheidung zwischen Korrelation und Kausalität vorangetrieben werden sollte. Hier ist ebenfalls die von Meißelbach angemahnte Theorieentwicklung gefordert, überprüfbare Vorhersagen zu generieren. Wir können die Tragweite der Kritik an der empirischen Validität der besprochenen Hauptzusammenhänge aufgrund praktischer und fachlicher Zwänge nicht bewerten – gibt es Parallelen zur Klimawandeldiskussion? – , aber wir interpretieren sie als Aufforderung für zusätzliche, idealerweise interdisziplinäre Forschung. Forschung über die Ursachen und Konsequenzen von Ungleichheit und Einsamkeit in den verschiedensten Disziplinen finden nicht in einem Vakuum statt, sondern sie bergen eine seltene und wertvolle Gelegenheit, Grundlagenforschung mit angewandten Empfehlungen für herausragende gesellschaftliche Herausforderungen zu verbinden. Diese Schnittstellen werden im Kommentar von Meißelbach deutlich, der zu Recht vor einem verklärten oder gar dogmatischen Blick auf idealisierte egalitäre Gesellschaftsstrukturen warnt. Falls implizit ein anderer Eindruck aufgekommen sein sollte, schließen wir uns hier explizit dieser Einschätzung von Meißelbach an. Peichl und Stöckli weisen in ihrem Kommentar ebenfalls darauf hin, dass die Gleichheitsdiskussion aus ökonomischer Sicht keinen normativen Aspekt enthalten sollte, da die Lebensbedingungen in modernen Gesellschaften im 15 Vgl. Wilkinson / Pickett 2009. 16 Vgl. Kelley / Evans 2017.

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Durchschnitt besser sind und zentrale ökonomische Prozesse durch ein gewisses Maß an Ungleichheit befeuert werden.

[4] Mechanismen Ganz offensichtlich besteht kein Dissens darüber, dass Ungleichheit zu nachteiligen sozialen und gesundheitlichen Konsequenzen führt. Wie Fritsche und Jugert aber korrekterweise betonen, wissen wir über die vermittelnden Mechanismen solcher Effekte – oder wie Wilkinson und Pickett prägnant formulieren: „How inequality gets under the skin“17 – noch vergleichsweise wenig. Diese Black Box der Ungleichheitseffekte enthält sowohl die von Fritsche und Jugert dargestellten psychologischen Mechanismen, aber auch physiologische Mechanismen, die letztendlich die Effekte auf die Gesundheit vermitteln. Ob, wie von Schwinn argumentiert, kulturelle Faktoren eine modulierende Rolle spielen, ist eine überprüfbare Hypothese. Hier wird nochmals deutlich, dass eine Vielzahl von methodischen Ansätzen notwendig ist, um Licht in die Black Box zu bringen. Obwohl die Methoden der Humanmedizin hochentwickelt sind, existieren klare Grenzen für experimentelle und invasive Untersuchungen relevanter Fragestellungen. Hier können vergleichende Tierstudien zusätzliche Beiträge beisteuern, zumal die hardware der Stressreaktion bei allen Säugetieren evolutionär konserviert ist. Aufgrund der Diversität der Sozialsysteme sollte es möglich sein, geeignete Arten für gezielte Beobachtungen oder intelligente Experimente zu wählen. Existierende vergleichende Untersuchungen zur interspezifischen Variabilität in der Stressreaktivität haben bislang nur den Einfluss der sozialen Organisation (gruppenlebend, paarlebend oder einzelgängerisch) auf Glukokortikoid-Titer untersucht und – bei einer Metaanalyse über alle Daten von Landwirbeltieren – keinen starken Effekt gefunden.18 Die von Fritsche und Jugert gewünschte vergleichende Information ist also derzeit noch nicht verfügbar. Die psychologischen Mechanismen, welche Ungleichheitserfahrungen und subjektives Stresserleben vermitteln, werden von Fritsche und Jugert skizziert und stellen ein wichtiges Thema motivationspsychologischer Forschung dar. Analoge empirische Untersuchungen dieser Fragestellung an Primaten oder anderen Tieren erscheinen uns als methodisch sehr schwierig, u. a. deshalb, weil Verhaltensbiologen und Verhaltensbiologinnen nur Verhaltensreaktionen oder physiologische Parameter quantifizieren können. Aber im Unterschied zu Schwinn halten wir artvergleichende Untersuchungen nicht für grundsätzlich ungerechtfertigt. Ein möglicher 17 Wilkinson / Pickett 2017, S. 18. Hervorhebung durch die Autoren. 18 Vgl. Vitousek et al. 2019.

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Anknüpfungspunkt betrifft spezifischere Untersuchungen der wahrgenommenen Vorhersehbarkeit und Kontrolle über die eigene Situation, die allerdings bislang vor allem auf Messungen an einzeln getesteten Ratten beruhen.19 Van Schaik und Burkart gehen auch auf die psychologischen Mechanismen ein, die in modernen Gesellschaften die subjektiv empfundenen Konsequenzen von sozialer Isolation und Einsamkeit auslösen. Hier sehen wir uns wieder mit Fragen nach adäquaten und aussagekräftigen Tiermodellen konfrontiert. Obwohl soziale Isolationsexperimente in diesem Kontext eingesetzt werden,20 führen van Schaik und Burkart gute Gründe an, die Äquivalenz der Auslöser von Stressreaktionen kritisch zu hinterfragen. In diesem Kontext wäre es sicher auch interessant, die von Peichl und Stöckli betonte Chancengleichheit in der interdisziplinären Humanforschung expliziter in den Fokus zu nehmen. Die von Schwinn betonte notwendige Verknüpfung zwischen Ungleichheit und dem Ideal der sozialen Gleichheit und Gerechtigkeit unterstreicht die Bedeutung dieses Punktes aus soziologischer Sicht.

Literaturhinweise Almeling, Laura et al.: Motivational shifts in aging monkeys and the origins of social selectivity, in: Current Biology 26 (2016), S. 1744–1749. Barocas, Adi et al.: Variance in centrality within rock hyrax social networks predicts adult longevity, in: PLoS ONE 6 (2011), e22375. Cacioppo, John T. / Cacioppo, Stephanie: Loneliness in the modern age: An evolutionary theory of loneliness (ETL), in: Advances in Experimental Social Psychology 58 (2018), S. 127–197. Cacioppo, John T. et al.: Loneliness across phylogeny and a call for comparative studies and animal models in: Perspectives on Psychological Science 10 (2015), S. 202–212. Curtis, Valerie A.: Infection-avoidance behaviour in humans and other animals, in: Trends in Immunology 35 (2014), S. 457–464. Frère, Celine H. et al.: Social and genetic interactions drive fitness variation in a free-living dolphin population, in: Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America 107 (2010), S. 19949–19954. Hill, Kim R. et al.: Co-residence patterns in hunter-gatherer societies show unique human social structure, in: Science 331 (2011), S. 1286–1289. Kelley, Jonathan / Evans, Mariah D. R.: Societal Inequality and individual subjective wellbeing: Results from 68 societies and over 200,000 individuals, 1981–2008, in: Social Science Research 62 (2017), S. 1–23.

19 Vgl. Koolhaas et al. 2011. 20 Vgl. Cacioppo et al. 2015.

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Koolhaas Jaap M. et al.: Stress revisited: a critical evaluation of the stress concept, in: Neuro­ science and Biobehavioral Reviews 35 (2011), S. 1291–1301. Mitani, John C.: Male chimpanzees form enduring and equitable social bonds, in: Animal Behaviour 77 (2009), S. 633–640. Müller-Klein, Nadine et al.: Physiological and social consequences of gastrointestinal nematode infection in a nonhuman primate, in: Behavioral Ecology 30 (2018), S. 322–335. Ostner, Julia / Schülke, Oliver: Linking sociality to fitness in primates: A call for mechanisms, in: Advances in the Study of Behavior 50 (2018), S. 127–175. Patzelt, Annika et al.: Male tolerance and male-male bonds in a multilevel primate society, in: Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America 111 (2014), S. 14740–14745. Poirotte, Clémence et al.: Mandrills use olfaction to socially avoid parasitized conspecifics, in: Science Advances 3 (2017), e1601721. Schino, Gabriele: Grooming, competition and social rank among female primates: a metaanalysis, in: Animal Behaviour 62 (2001), S. 265–271. Vitousek, Maren N.: Macroevolutionary patterning in glucocorticoids suggests different selective pressures shape baseline and stress-induced levels, in: The American Naturalist 193 (2019), S. 866–880. Wilkinson, Richard / Pickett, Kate: The Spirit Level: Why Equality is Better for Everyone, London 2009. Wilkinson, Richard / Pickett, Kate: The enemy between us: The psychological and social costs of inequality, in: European Journal of Social Psychology 47 (2017), S. 11–24 Wittig, Roman M. et al.: Focused grooming networks and stress alleviation in wild female baboons, in: Hormones and Behavior 54 (2008), S. 170–177.

Kontakt Prof. Dr. Peter Kappeler Georg-August-Universität Göttingen Abteilung Soziobiologie/Anthropologie Kellnerweg 6 37077 Göttingen E-Mail: [email protected] Dr. Claudia Fichtel Georg-August-Universität Göttingen Abteilung Soziobiologie/Anthropologie Kellnerweg 4 37077 Göttingen E-Mail: [email protected]

II Beiträge (peer reviewed)

Matthias Schloßberger

Anthropologie des Tastsinns: Bewegung – Leibkonstitution – Wirklichkeit

Anthropologie des Tastsinns

Lebewesen orientieren sich durch ihre Sinne in der Umwelt. Dies gilt auch für den Menschen. Wie viele andere Säugetiere verfügt der Mensch über verschiedene Sinne. Auch wenn die Abgrenzung bzw. Bestimmung einzelner Sinne nicht ganz leicht ist, werden in der Regel auch heute noch fünf Sinne unterschieden: Wir sehen, hören, tasten, riechen und schmecken. Viele Wahrnehmungsleistungen sind exklusiv an einen Sinn gekoppelt. Wir riechen nur mit der Nase, wir schmecken nur mit der Zunge, wir hören nur mit den Ohren, wir sehen Farben nur mit den Augen, wir ertasten bzw. fühlen die Festigkeit eines Gegenstandes nur mit unseren Händen oder anderen Teilen unseres Körpers. In ontogenetischer Perspektive korrespondiert der Entwicklung der verschiedenen Sinne die Entwicklung der Fähigkeit, sich in einer Umwelt zu orientieren. Aber welche Sinne sind an dieser Entwicklung notwendig beteiligt? Sind die verschiedenen Sinne, über die Menschen und Säugetiere verfügen, alle mehr oder weniger austauschbar? Fragen wir zunächst ganz allgemein: Welche Wahrnehmungsleistungen müssen notwendig erbracht werden, um sich in einer Umwelt zu orientieren? Das Sehen von Farben, das Riechen oder Schmecken mag in bestimmten Situationen einen Vorteil oder auch Lustgewinn bringen, aber es ist entbehrlich. Ein Lebewesen muss sich von seiner Umwelt unterscheiden, es muss sich in einem rudimentären vorreflexiven Sinn von der Welt unterscheiden können. Dies gilt vermutlich für alle Lebewesen, also für Pflanzen und Tiere. Schränken wir unsere Perspektive nun ein: Was ist für diejenige Lebensform notwendig, an der auch wir Menschen teilhaben, die Lebensform der Säugetiere? Hier muss noch etwas hinzukommen: Säugetiere bewegen sich qua Bewusstsein im Raum. Das ist nur möglich, wenn sie den Raum, der sie selbst sind, von ihrer Umwelt, d. h. von dem sie umgebenden Raum unterscheiden und sich irgendwie als in diesem Raum wirkend erfahren. Wie ist diese Lebensform möglich? Gibt es einen oder mehrere Sinne, die notwendig an dieser Wahrnehmungsleistung beteiligt sind? © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 G. Hartung und M. Herrgen (Hrsg.), Interdisziplinäre Anthropologie, Interdisziplinäre Anthropologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28233-2_9

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Matthias Schloßberger

Schon Aristoteles hat in De anima auf die besondere Bedeutung eines Sinnes, nämlich des Tastsinns hingewiesen: Ein Lebewesen, so Aristoteles, das beim Berühren keine Wahrnehmung habe, sei nicht in der Lage zu fliehen und es könne nicht greifen. Unter diesen Bedingungen könne sich kein Lebewesen erhalten. Aristoteles kann sich nicht vorstellen, dass es irgendein Lebewesen ohne Tastsinn gibt.1 Nehmen wir diese These zunächst als Hypothese und fragen: Aus welchen Gründen könnte der Tastsinn den Status haben, eine singuläre, unersetzbare Leistung zu erbringen? Nun bieten sich verschiedene Fragestellungen an, die sich im Hinblick auf einen Vergleich verschiedener Sinne stellen lassen: Man kann zunächst fragen, ob bestimmte Erfahrungsmöglichkeiten eines Sinnes auch von einem anderen Sinn geleistet werden können, und dabei zunächst empirisch vorgehen. Dabei können wir von einer einfachen Wahrnehmungsleistung ausgehen, die, vorsichtig formuliert, irgendwie sinnlich vermittelt ist, und zunächst fragen, welche Sinne an dieser Erfahrung beteiligt sein können. Fragen wir, welche Sinne des Menschen notwendig sind, um die erste Erfahrung von Räumlichkeit zu machen, so lautet die Antwort mit Aristoteles: Vermutlich der Tastsinn. In Psychologie und Medizin sind nämlich nur Menschen bekannt, denen Augen, Ohren, Geschmackssinn und Geruchssinn abgehen. Menschen ohne Tastsinn gibt es nicht. Blindgeborene kompensieren durch Hören und Sprechen. Sie haben vermutlich eine andere Raumwahrnehmung, aber sie leben in Räumen.2 Könnte es sein, dass sich Menschen ohne Tastsinn gar nicht im Raum bewegen können? Ist Verkörperung als eine Grundeigenschaft von Lebewesen nur für Wesen denkbar, die sich fühlend und tastend in ihrer Umwelt orientieren? In der Geschichte der Philosophie ist es eher die Ausnahme, anzunehmen, dass diejenigen Konstitutionsleistungen, die als Minimalbedingung für die Fähigkeit, sich in der Welt zu bewegen, in Frage kommen, nur durch einen Sinn erbracht werden sollen. Erstaunlicherweise ist in der philosophischen Anthropologie, d. h. derjenigen Disziplin, die traditionell ein Gespräch zwischen den verschiedenen Naturwissenschaften und der Philosophie herstellt, das Interesse an einer Beschäftigung mit dem Tastsinn nicht besonders ausgeprägt. Gegenwärtig gibt es in der Physiologie, der Psychopathologie und der Philosophie der Wahrnehmung ein neues Interesse an der Bedeutung des Tastsinns, das für sich genommen schon Grund genug ist, das Thema in die anthropologische Forschung einzubringen.3

1 Aristoteles: De anima, in: ders., Philosophische Schriften, Band 6, S. 88. 2 Vgl. Saerberg, Siegfried: „Geradeaus ist einfach immer geradeaus“, 2006. 3 Vgl. v. a. Plessner, Helmuth: Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes, 1923 sowie Strauss, Erwin: Vom Sinn der Sinne. Ein Beitrag zur Grundlegung der Psychologie, 1956.

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Aus physiologischer Perspektive hat jüngst Martin Grunwald nachdrücklich auf die Besonderheit des Tastsinns hingewiesen. Seine wichtigsten Beobachtungen und Thesen seien hier kurz zusammengefasst: Der Tastsinn ist der in evolutionsgeschichtlicher und in ontogenetischer Hinsicht erste Sinn. Noch in der 12. Schwangerschaftswoche verfügt der Fötus nur über den Tastsinn. Er entwickelt sich zunächst ganz eigenständig ohne die Unterstützung anderer Sinne. Sensorische und motorische Entwicklung greifen ineinander. Zunächst ist die Tastsensibilität noch auf den Bereich der Lippen beschränkt, aber schon in der 14. Schwangerschaftswoche dehnt sie sich auf alle Körperbereiche aus. Der Tastsinn ist von Beginn an auf Bewegung angelegt, denn jede „Bewegung, auch schon im fötalen Stadium, erfordert ein zeitlich perfektes Zusammenspiel der tastsensiblen Rezeptoren der Haut und der sensiblen Strukturen innerhalb der Muskulatur, der Sehnen, des Bindegewebes sowie der Gelenke. Die Sensibilität der Muskeln, Sehnen, der Gelenke ist nicht auf äußere Reize gerichtet, sondern bildet einen nach innen gerichteten Teil des Tastsinnsystems.“4 Der Tastsinn ermöglicht so schon sehr früh die erste Ausbildung eines Körperschemas, also eines präreflexiven Bewusstseins des eigenen Körpers. „Mit Sicherheit können wir davon ausgehen, dass seine größte Tastsinneslernerfahrung darin besteht, den eigenen Körper und sich selbst wahrzunehmen und zu erkunden. Damit ist gemeint, dass der Fötus sowohl durch seine Bewegungsaktivität als auch durch die begleitenden Tastsinnereignisse ein neuronales Konzept seiner Körperlichkeit entwickelt. Dieses Konzept wird in der Wissenschaft als Körperschema bezeichnet.“5 Grunwald betont aber noch zwei weitere fundamentale Aufgaben des Tastsinns: Eine weitere seiner „hervorragenden Leistungen“ besteht darin, dass wir uns dank seiner „jederzeit unserer körperlichen Existenz bewusst sein können.6 Schließlich ist der Tastsinn kein neutraler Sinn: Unser psychisches Wohlbefinden ist – zumindest in der frühen Ontogenese scheint dies noch für alle Menschen zu gelten – auf ständige Tasterfahrungen angewiesen. Der Fötus berührt sich häufig selbst im Gesicht und der Säugling entwickelt sich nur durch engen körperlichen Kontakt mit anderen Menschen. Irritierend ist die Formulierung Grunwalds, dass durch den Tastsinn ein ‚neuronales Konzept der Körperlichkeit‘ entwickelt werde. Vermutlich handelt es sich bei Formulierungen dieser Art – manchmal ist auch von neuronaler Repräsentation des eigenen Körpers die Rede – um eine problematische Verwechslung bzw. Vermischung von Perspektiven. Gemeint ist vermutlich der 4 5 6

Grunwald, Martin: Homo hapticus. Warum wir ohne den Tastsinn nicht leben können, 2017, S. 27. Ebd., S. 42. Ebd., S. 10.

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Sachverhalt, dass sich ein Körperschema entwickelt, und diesem Körperschema (also dem Bewusstsein, wie der eigene Körper funktioniert) korrespondieren bestimmte neuronale Strukturen. Im Folgenden möchte ich nun aus einer philosophischen Perspektive prüfen, welche Besonderheiten den Tastsinn auszeichnen. Dabei möchte ich zeigen, dass der Tastsinn in der Tat (mindestens) zwei ursprüngliche Konstitutionsleistungen erbringt, die durch keinen anderen Sinn erbracht werden können und die fundierend für viele andere Erfahrungen sind: Gemeint ist die Erfahrung bzw. Konstitution des (Eigen)Leibes und die Erfahrung der Wirklichkeit. Verglichen mit dem Sehsinn und dem Hörsinn ist der Tastsinn ausgesprochen schwierig zu bestimmen. Das deutsche Wort Tasten ist im umgangssprachlichen Sinn viel enger als das englische touch oder das französische Wort toucher: In der deutschen Umgangssprache denkt man beim Tasten v. a. an das willentliche Berühren mit den Händen oder Füßen. Eigentlich sollte man daher besser von einem Berührungssinn sprechen, der alle Körperteile umfasst, aber auch das wäre noch zu eng für die vielen Wahrnehmungsformen, die in der wahrnehmungspsychologischen und philosophischen Literatur als Tasten bezeichnet werden, nämlich in der Regel nicht nur alle Berührungen, die an der Körperoberfläche (Haut, Mund, Geschlechtsteile, After etc.) stattfinden, sondern auch die inneren sinnlichen Wahrnehmungen, also Propriozeptionen, Interozeptionen, Kinästhesen, Muskel-Sehnenempfindungen etc.7 Die These, die ich entwickeln möchte, lautet also: Der Tastsinn ist der Sinn, der als erster eine Leib-Umwelt-Unterscheidung ermöglicht und damit gleichursprünglich zur Überzeugung bzw. zum Haben von Realität führt. Es wäre undenkbar, dass ein Wesen, das keinen Tastsinn hat, diese ersten Wahrnehmungsleistungen durch einen anderen Sinn kompensiert. Der Tastsinn hat diese Potentiale also nicht nur zufällig, d. h. weil er zufällig der Sinn ist, der sich ontogenetisch als erster entwickelt, sondern er hat sie notwendigerweise. Ich möchte also zeigen, dass die beiden Konstitutionsleistungen, die in der Geschichte der Philosophie sporadisch

7 So z. B.: Katz, David: Aufbau der Tastwelt, 1925; Jonas, Hans: Der Adel des Sehens. Eine Untersuchung zur Phänomenologie der Sinne, in: ders., Organismus und Freiheit, S. 198–225. Was spricht dafür, von einem Sinn zu sprechen, der die genannten Erfahrungen ermöglicht? Man kann sich an einfachen Beispielen klarmachen, dass es nicht zwei Sinne sind, die sich ergänzen oder irgendwie verflochten sind (wie z. B. der Tast- und der Sehsinn), wenn wir bei anstrengender Armbewegung den rechten Bizeps mit der linken Hand anfassen und diese Berührung im Muskel spüren: Es ist ein Sinn, der die Bewegung empfindet (Kinästhese) und zugleich den Druck, der von außen auf den Muskel ausgeübt wird. Daher erscheint es mir nicht sinnvoll, den Tastsinn in einem engeren Sinn, also z. B. die mit den Fingerspitzen ertastete Rauheit, von Tastsinnerfahrungen in einem weiteren Sinn, also z. B. Kinästhesen zu trennen.

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dem Tastsinn zugesprochen worden sind, zusammenhängen und letztlich nur vor dem Hintergrund einer umfassenden Theorie der Tasterfahrung zu verstehen sind: Allen Tasterfahrungen gemeinsam ist, dass sie mit der Erfahrung von Druck, d. h. von Widerstand verbunden sind. Druck bzw. an Körpern erlebte Widerstandserfahrung ist nur möglich, wenn ein Gegenüber erfahren wird, und notwendig mit der Erfahrung der Wirklichkeit eines Körpers verbunden. Diese These ist notwendig mit einer Einbeziehung der Perspektive der ersten Person verbunden. Fragen wir: Was wird beim Tasten erlebt, erfahren, gefühlt? Es kann alles Mögliche erfahren und gefühlt werden; notwendig mitgegeben ist aber bei jeder Tastempfindung immer auch eine Widerstandserfahrung. Dieser Widerstand muss kein unangenehmer sein. Stellen wir uns einen Uhrmacher vor: Er muss den sehr geringen Widerstand der Schraube spüren, um sie einzustellen. Spürt er nichts, kann er ohne besondere Apparaturen nichts einstellen. Es gibt kein Tasten, bei dem das Ertastete nicht als widerständig gefühlt würde. Wahrnehmen und als widerständig erfahren fallen beim Tasten zusammen. In der visuellen und der akustischen Wahrnehmung ist das anders. In der Regel wird hier nicht das, was sinnlich erfahren wird, als widerständig erfahren (sondern nur irgendein Inhalt), weil abgesehen von Sonderfällen Visuelles und Akustisches gar nicht den Charakter von sinnlicher Empfindung hat. Nur in Fällen extremer Blendung oder bei besonders lautem Lärm und sehr hohen Tönen wird das mit den Augen Gesehene und den Ohren Gehörte zur Empfindung – und indem es Empfindung ist, ist es ein Fall von Tastwahrnehmung: Das geblendete Auge schmerzt, das Auge als ein ausgedehnter Teil des Körpers wird hier gespürt und nicht gesehen. Analoges gilt für das Hören und den erlebten Schmerz. Zwar ist in der wissenschaftlichen und auch der philosophischen Literatur häufig von Farbempfindungen die Rede, aber der Begriff ist eigentlich unsinnig: Eine Empfindung muss sich irgendwie anfühlen, eine Farbempfindung fühlt sich aber sicher (solange es sich nicht um Synästhesie handelt) nicht irgendwie an. Man sieht eine Farbe bzw. einen farbigen Gegenstand. Der physiologische Prozess, der dazu führt, dass man eine Farbe sehen kann, ist hier vollkommen uninteressant, denn von diesem Prozess ist im Erleben nichts gegeben. Die erste Annahme, dass die Entwicklung des Körperschemas zunächst nur durch den Tastsinn möglich ist, ist in der Geschichte der Philosophie v. a. von Condillac und dann in der Phänomenologie u. a. von Edmund Husserl und Maurice Merleau-Ponty vertreten worden. In die gegenwärtige Diskussion ist die These sehr nachdrücklich von Thomas Fuchs eingebracht worden: „Die Körperlichkeit des Leibes ist nicht etwas aus der äußeren Erfahrung erst Erschlossenes. Der Leib

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konstituiert sich selbst als materielles Ding, als Körper durch eine spezifische seiner Funktionen, das Tasten.“ Fuchs nennt Berührung ein „leibliches Existenzial“.8 Die zweite Annahme, dass der Tastsinn eine besondere Beziehung zur Wirklichkeit hat, findet sich in der Geschichte der Philosophie weit verstreut, z. B. bei Jean-Jacques Rousseau, bei Hans Jonas, bei Hans Blumenberg.9 Allerdings können zwei Varianten der These unterschieden werden. In einer ersten, schwachen Variante lautet die These, dass wir dann, wenn wir uns fragen, ob etwas tatsächlich existiert, dem Tastsinn eine größere Autorität als dem Sehen oder einem anderen Sinn zusprechen. Bei Blumenberg etwa heißt es, dass die taktilen Erlebnisse „eine engere Beziehung zu unserem Wirklichkeitsbewußtsein“ 10 hätten als die optischen. Sehr einflussreich war vermutlich der Gestaltpsychologe David Katz, der die Bedeutung des Tastsinns für die Erfahrung der Realität in seiner klassischer Arbeit „Über den Aufbau der Tastwelt“ als eine der bedeutendsten Leistungen des Tastsinns herausgestellt hat: „Der Tastsinn – dem wir in dieser Betrachtung der Einfachheit der Darstellung wegen das Kinästhetische zurechnen wollen – erreicht zwar nicht in jeder Hinsicht die Leistungen des Gesichtssinns an subtiler Feinheit, auch finden sich bei ihm nur schwache Ansätze zum Fernsinn, die beim Gesichtssinn zur vollen Entwicklung gekommen sind, und doch müssen wir dem Tastsinn den erkenntnispsychologischen Vorrang vor allen anderen Sinnen geben, weil seine Erkenntnisse den tragfähigsten Realitätscharakter haben. Der Tastsinn hat eine weit größere Bedeutung für die Entwicklung des Glaubens an die Realität der Außenwelt als die anderen Sinne. Nichts überzeugt uns so sehr von ihrer Existenz wie auch von der Realität unseres eigenen Leibes wie die, manchmal vom Schmerz nuancierten, Zusammenstöße, die zwischen dem Leib und seiner Umgebung erfolgen. Das Getastete ist das eigentlich Wirkliche, das zu Wahrnehmungen führt; das Spiegelbild, die Fata Morgana wendet sich an das Auge, ihnen entspricht keine Realität.“11

Katz spricht davon, dass Tasterfahrungen eine Bedeutung für die Entwicklung unseres Glaubens an die Außenwelt hätten. Noch stärker wäre die These, dass 8 Fuchs, Thomas: Leib, Raum, Person. Entwurf einer phänomenologischen Anthropologie, 2000, S. 111. Vgl. auch aus den letzten Jahren die Arbeiten von: Noë, Ratcliffe und Fulkerson: Noë, Alva: Action in Perception, 2004; Ratcliffe, Matthew: What is Touch?, 2012, S. 413–432; Fulkerson, Matthew: The First Sense. A Philosophical Study of Human Touch, 2013. 9 Rousseau, Jean-Jacques: Emile oder über die Erziehung, 1998. Die Nachweise für die anderen Autoren folgen weiter unten. 10 Blumenberg, Hans: Tastsinn und Wirklichkeitsbewußtsein, in: ders., Zu den Sachen und zurück, 2002, S. 231–236, hier S. 231. 11 Katz, David: Der Aufbau der Tastwelt, a. a. O., S. 256.

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uns ineins mit der im Tasten gemachten Erfahrung von Druck und Widerstand Realität in einem vorreflexiven Sinn immer schon mitgegeben ist. Dies wäre auch ein Grund dafür, warum wir dem Tastsinn mehr vertrauen, wenn wir in einer konkreten Situation daran zweifeln, ob der gesehene Gegenstand auch existiert. Es gibt also noch eine stärkere Variante der These, dass die Tastwahrnehmung auf besondere Weise mit der Realität verbunden ist. Sie lautet: Unsere Überzeugung von der Wirklichkeit der physischen Welt gründet in der Tasterfahrung bzw. der in der Tasterfahrung gegebenen Widerständigkeit.12 Der volle Gehalt dieser These, die ich im Folgenden stark machen möchte, wird allerdings nur verständlich, wenn man sich klar macht, was für ein Typ von Akt der Akt der Erfahrung der Realität überhaupt ist. Die Erfahrung der Realität der physischen Welt ist schließlich nur ein Fall verschiedener möglicher Realitätserfahrungen. Um diese Frage zu beantworten, ist daher eine etwas ausführlichere hermeneutische Auseinandersetzung mit Schelers Lehre von der Erfahrung der Realität durch die Erfahrung von Widerstand notwendig. Dabei wird sich zeigen, dass Scheler die Erfahrung der Wirklichkeit sehr treffend beschreibt, dass er aber die Bedeutung des Tastsinnes unterschätzt. Ich werde in zwei Schritten vorgehen: Zunächst soll in einem ersten Schritt der Zusammenhang von Tastwahrnehmung und Leibkonstitution und dann in einem zweiten Schritt die Bedeutung der Tasterfahrung für die Erfahrung von Wirklichkeit untersucht werden.

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Leibkonstitution und Entwicklung eines Körperschemas durch Doppelempfindungen

Den einzelnen Sinnen ist in der Geschichte der Philosophie häufig keine besondere Erkenntnisleistung zuerkannt worden.13 Descartes meinte, dass man einen Körper nicht erkennt, indem man ihn sieht oder betastest, sondern mit dem Verstand

12 Sowohl Thomas Fuchs als auch Olivier Massin und Frederik de Vignemont haben diese These unter Verweis u. a. auf Wilhelm Diltheys und Max Schelers Lehre von der Erfahrung der Realität durch Widerstand stark gemacht. Siehe unten. 13 Erstaunlicherweise ist das Interesse der Philosophiehistoriker an einer Geschichte der Auffassungen über den Tastsinn gering. Das „Historische Wörterbuch der Philosophie“ verzeichnet keinen Eintrag. Einen kurzen, sehr informativen Überblick, in dem die Phänomenologie allerdings zu kurz kommt, gibt John, M.: Historisch-philosophischer Exkurs über den Tastsinn, in: Martin Grunwald und Lothar Beyer (Hg.): Der bewegte Sinn. Grundlagen zur haptischen Wahrnehmung, 2001, S. 15–24.

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erfasst (sed a solo intellectu percipi).14 Virulent wird die Frage, ob das, was wahrgenommen wird, von bestimmten Sinnen abhängig ist, aber erst bei John Locke. Er behandelt die an ihn gerichtete Anfrage des Arztes William Molyneux, ob Blindgeborene, wenn sie auf einmal sehen könnten, sich im Raum, der vom Tasten bekannt ist, orientieren könnten. Molyneux wollte wissen, ob der gesehene und der ertastete Raum ohne wechselseitige Verschränkung von Seh- und Tastsinn als der gleiche Raum wahrgenommen werden können.15 Locke verneinte die Frage, aber erst George Berkeley spitzte die Fragestellung zu, indem er in Erwägung zog, dass der Sehsinn von sich aus gar nicht mit dem Raum bekannt sei. Berkeley vertrat in seinem „Versuch über eine neue Theorie des Sehens“ (1709) die Ansicht, dass der Sehsinn von sich aus keine Tiefe vermitteln könne. Nur durch die Empfindung der Augendrehung seien wir in der Lage, Entfernung zu sehen. Erst Étienne Bonnot de Condillac führte in seiner „Abhandlung über die Empfindungen“ (1754) ein Gedankenexperiment durch, das die Besonderheit und Eigenständigkeit der Tastwahrnehmung herausstellt. Er variiert den Pygmalionmythos, indem er fragt, welche Sinne denn notwendig seien, um einer Statue menschliches Leben einzuhauchen. Es ist eine Art sinnliche Epoché, die Condillac empfiehlt. Sein Vorschlag lautet: Prüfen wir doch einmal, wie es wäre, wenn wir nur je einen unserer fünf Sinne hätten. Er kommt dabei zu dem Ergebnis, dass die verschiedenen Sinne zwar zu verschiedenen Wahrnehmungen der Statue führen, dass aber der Sehsinn, der Geruchssinn, der Geschmackssinn und das Gehör der Statue nicht ermöglichen, sich selbst als Ausgangspunkt dieser Wahrnehmungen zu erleben. Er unterscheidet daher Sehen, Hören, Riechen und Schmecken als die Sinne, welche an sich nicht über Aussendinge urtheilen vom Tastsinn oder dem einzigen Sinn der durch sich selbst Aussendinge erkennt. Condillac argumentiert: Ein auf den Geruchssinn beschränkter Mensch würde nur Duft sein, ein auf den Geschmackssinn beschränkter nur Geschmack, ein auf das Gehör beschränkter nur Geräusch oder Ton, und ein auf den Sehsinn Beschränkter nur Licht und Farbe. Es würde diesen Sinnen je für sich genommen nicht gelingen, irgendein lokalisiertes Ich, von dem aus dann das in der Welt Wahrgenommene verschieden wäre, als Ausgangspunkt der Wahrnehmungen zu erfahren: „Wirklich erscheint es sehr befremdlich, dass man mit Sinnen, die nur in sich selbst etwas erfahren, und die keine Ursache haben, draussen einen Raum zu vermuthen, seine Empfindungen auf Objekte beziehen könne, welche sie veranlassen. Wie kann sich die Empfindung über das Organ, das sie erfährt und das sie begrenzt, hinaus erstrecken? Allein wenn man die Eigentümlichkeiten des Tastsinns bedächte, so 14 Descartes, René: Meditationes de prima philosophia, II/16, 1959, S. 59. 15 Locke, John: Ein Versuch über den menschlichen Verstand, 2006.

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würde man erkennen, dass er jenen Raum entdecken und die anderen Sinne lehren kann, ihre Empfindungen auf die Körper zu beziehen, die darin verbreitet sind.“16 Warum aber ist der Tastsinn zu dieser Leistung in der Lage? Folgen wir Condillacs Beschreibung, dann muss sich die Statue bewegen, um dem Tastsinn die Möglichkeit zu geben, sich zu verwirklichen: Es muss also notwendig quasi eine Zusatzannahme gemacht werden. Noch weiß die Statue ja nichts von sich selbst, d. h. von der Beschaffenheit ihrer Glieder, sie muss daher auch mit dem Drang sich zu bewegen ausgestattet werden: „Die Natur muß also den Anfang machen, sie muß die ersten Bewegungen in den Gliedern der Statue hervorbringen.“17 Im Folgenden beschreibt Condillac nun ein Ineinander verschiedener Erfahrungsleistungen: Die Statue bewegt ihre Glieder. Das Bewegen der Glieder ist begleitet von Empfindungen des Angenehmen und des Unangenehmen. Der wechselseitige Übergang von Lust und Schmerz führt dazu, dass die Statue sich stets bewegt. Auf diese Weise kommt es zu Selbstberührungen, die dazu führen, dass sie zwischen sich und der Umwelt unterscheidet: „Wenn sie sich nun wiederholen und mannigfaltig werden, so wird es notwendigerweise geschehen, daß sie wiederholt ihre Hände auf sich selbst und die nahekommenden Gegenstände bewegt. Legt sie dieselben auf sich, so wird sie erst dann entdecken, daß sie einen Körper hat, wenn sie seine verschiedenen Teile unterscheidet und sich in jedem als dasselbe empfindende Wesen widererkennt; und daß es andere Körper gibt, wird sie nur darum entdecken, weil sie sich in den von ihr berührten nicht wiederfindet.“18 Condillac beschreibt hier genau das Phänomen, das später als Doppelempfindung bezeichnet wird: Eine Hand berührt eine Stelle des eigenen Körpers. Berührtes und berührendes Organ treffen sich. Zugleich beschreibt er so, wie sich die Unterscheidung eigener Körper-Außenwelt konstituiert. Denn dasjenige, was ich berühre, das nicht selbst mit Empfindung reagiert, das ist Außenwelt, d. h. von mir unterschieden. Mit dieser Beschreibung ist aber nur angezeigt, was der Tastsinn leistet. Wie der Tastsinn diese Leistung erbringt, lässt sich nur klären, wenn man sich fragt, was das eigentlich für Empfindungen sind, die wir machen, wenn wir etwas berühren. Wenn wir Körper als Körper wahrnehmen, so Condillac, dann ist gefordert, dass wir sie als undurchdringlich wahrnehmen. Etwas als undurchdringlich wahrzunehmen heißt also, einen Körper wahrzunehmen: „Vor allem ist die Festigkeit die Empfindung, aus der wir die Folgerung ziehen, weil wir an zwei festen Körpern, die sich drücken, in besonders deutlicher Weise den Widerstand bemerken, den sie gegeneinander ausüben, um sich gegenseitig auszuschließen. Könnten sie sich 16 Condillac, Étienne Bonnot de: Abhandlung über die Empfindungen, 1983, S. 69. 17 Ebd., S. 74. 18 Ebd., S. 76f.

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durchdringen, so würden beide zusammenfließen, aber da sie undurchdringlich sind, sind sie notwendigerweise gesondert und immer zwei.“19 Condillac vergleicht diese Empfindung mit den Empfindungen anderer Sinne, z. B. den Farbempfindungen, und stellt fest, dass diese möglich sind ohne ein Gegenüber. Die Tastempfindung hingegen brauche ein Gegenüber: Das „Eigenartige dieser Empfindung“ besteht darin, „daß sie zwei Dinge vorstellt, die einander ausschließen“.20 Indem Condillac die Bewegung der Statue als eine erste notwendige Handlung beschreibt, damit sich der Tastsinn realisieren kann, nimmt er im Grunde die im 20. Jahrhundert von Viktor von Weizsäcker auf den Begriff „Gestaltkreis“ gebrachte Einheit von Handlung und Bewegung vorweg.21 Condillac beschreibt, so könnte man sagen, die Minimalbedingungen lebendiger Selbstbewegung – zumindest derjenigen Lebensform, die wir Menschen kennen, weil wir selbst Teil dieser Lebensform sind, der Lebensform der Säugetiere. Man findet aber bei Condillac nicht nur die Annahme einer Einheit von Handlung und Bewegung und die Beschreibung der Doppelempfindung in nuce, sondern auch die These, dass das Besondere der Tastwahrnehmung darin bestehe, dass sie notwendig Druck- bzw. Widerstandserfahrung sei. Bei Condillac sind beide Analysen bereits so miteinander verbunden, dass man ihm die Entdeckung der unzerreißbaren Struktur von Bewegung/Leib-Welt-Unterscheidung/Widerstandserfahrung zuerkennen kann. Eine Schwierigkeit hat Condillac allerdings vollkommen übersehen: Die kognitiven Prozesse, die er analysiert, verlaufen alle unbewusst ab. Es sind durchweg Erfahrungsleistungen, die nicht nur Menschen, sondern auch andere Säugetiere vollziehen. Was die menschliche von der animalischen Tasterfahrung unterscheidet, wird bei ihm noch nicht deutlich. In der Literatur des 19. Jahrhunderts, insbesondere in der Blindenpsychologie, wird die Bedeutung der Bipolarität des Tastsinns von verschiedenen Seiten anerkannt, insbesondere auch in der Physiologie. Schon Ernst Heinrich Weber hat in seiner klassischen Untersuchung über den Tastsinn auf den Umstand aufmerksam gemacht, dass beim Betasten eines Körperteils durch ein anderes Körperteil der die Bewegung ausführende Körperteil den ruhenden Körperteil als Objekt fühlt. Die Idee einer wechselseitigen und gleichursprüngliche Konstitution von Leib und Körper durch ein Doppelempfinden findet sich nicht erst bei Husserl, sondern schon bei Melchior Palágyi. Bei ihm heißt es, dass jede Tastempfindung ein „Doppelempfinden“ sei, das aus einer direkten Empfindung und einer Gegenempfindung 19 Ebd., S. 77. 20 Ebd. 21 Von Weizsäcker, Viktor von: Der Gestaltkreis. Theorie der Einheit von Wahrnehmen und Bewegen, 1973.

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bestehe: „Wir finden durch das Tasten nicht nur den fremden Körper, sondern auch den eigenen Leib, und dieses Doppelempfinden ist es, was den Charakter des Tastsinns ausmacht. Man kann die zwei Komponenten der Tastempfindung dadurch anschaulich machen, wenn wir uns vorstellen, daß wir nach einem Körper greifen, und umgekehrt jemand Anderer nach unserem Körper greift, oder auch wenn wir gegen etwas stoßen und umgekehrt etwas gegen uns stößt. Beide Arten von Tastfunktionen enthalten eine Doppelempfindung, aber in der einen herrscht das direkte Empfinden des fremden Körpers, in der anderen hingegen die Gegenempfindung des eigenen Leibes vor.“22 Die berühmten Beschreibungen, die Edmund Husserl im zweiten Buch der „Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie“ gegeben hat, und die an diesen Beschreibungen entwickelten Analysen zeigen die entscheidende Leistung des Tastsinnes im Hinblick auf die Leibkonstitution freilich noch deutlicher. Husserl geht von Beispielen dieser Art aus: Wenn ich einen Gegenstand hochhebe, dann spüre ich seine Schwere, aber neben der Schwere, die dem hochgehobenen Gegenstand zukommt, spüre ich Schwereempfindungen in meinen Muskeln, die in meinem Leib lokalisiert erlebt werden. Die beiden Wahrnehmungen können nebeneinander bestehen, aber sie hängen auch stark von meiner bewussten Zuwendung ab. Husserl betont die Bedeutung der Richtung der Aufmerksamkeit. Die Möglichkeit, die Richtung zu wechseln, ermöglicht nämlich erst die zweifache Wahrnehmungsleistung: „Dieselbe Empfindung des Druckes bei der auf dem Tisch liegenden Hand ‹wird› aufgefaßt einmal ‹als› Wahrnehmung der Tischfläche […] und ergibt bei ‚anderer Richtung der Aufmerksamkeit‘, in Aktualisierung einer anderen Auffassungsschicht, Fingerdruckempfindungen.“23 Die Verbindung zwischen den beiden Wahrnehmungen, so Husserl, ist eine notwendige, d. h. die eine existiert nicht ohne die andere. Der Zusammenhang zwischen der taktuellen Tischwahrnehmung und der ihr zugehörigen Berührungsempfindung ist ein Notwendigkeitszusammenhang. Bei der visuellen Wahrnehmung, so Husserl, fehlt dieses Analogon. Das Auge könnte diese Leistung nicht erbringen, ein bloß augenhaftes Subjekt könnte gar keinen Leib haben, so Husserl in Übereinstimmung

22 Palágyi, Melchior: Die Logik auf dem Scheidewege, 1903, S. 329. Zu Palágyi, der heute kaum bekannt ist, vgl. Toepfer, Georg: Biologie und Anthropologie der Wahrnehmung, in: Interdisziplinäre Anthropologie, Jahrbuch 4/2016: Wahrnehmung, S. 3–49, hier S. 13f. 23 Husserl, Edmund: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, 1952, S. 146.

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mit Condillac: „Der Leib kann sich als solcher ursprünglich nur konstituieren in der Taktualität.“24 Die Beschreibungen und Analysen, die Husserl hier auf wenigen Seiten gibt, haben in der Geschichte der Phänomenologie nach 1945 eine ausgesprochen breite Wirkung entfaltet.25 Sowohl in systematischer als auch in historischer Perspektive stellen sie uns vor große Schwierigkeiten: Zum einen ist sehr irritierend, dass Husserl hier dem Tastsinn eine so fundamentale Bedeutung zuerkennt – diese These aber in den von ihm selbst zum Druck freigegebenen Arbeiten nicht zu finden ist. Zum anderen erstaunt, dass Husserl zwar in seiner Beschreibung auf Druckempfindungen hinweist, er aber nicht auf die Erfahrung von Druck als einer notwendigen Bedingung für das Tasten hinweist. Noch bemerkenswerter aber ist, dass nicht immer klar ist, ob es sich bei den beschriebenen Prozessen um reflexiv vollzogene Akte handelt, die einen Einstellungswechsel gegenüber dem sich in Gewohnheiten vollziehenden Lebensvollzug zur Voraussetzung haben. Einige seiner Beschreibungen treffen sicher auf alle Lebewesen zu, andere verlangen die Möglichkeit eines instrumentellen Verhältnisses zum eigenen Körper. Hier bietet es sich an, mit den Begriffen von Helmuth Plessner zwischen zentrischen und exzentrischen Lebensvollzügen zu unterscheiden: Sofern Doppelempfindungen nicht bewusst sind, werden sie von allen Säugetieren (und vielleicht auch vielen anderen Lebewesen) vollzogen. Sofern sie bewusst vollzogen werden, sind sie an die Struktur exzentrischer Positionalität 26 gebunden: Sie sind ein Fall spezifisch menschlichen Bewusstseins, das sich bereits im Sinnlichen, d. h. in einer vorsprachlichen Sphäre, realisiert. Die Bedeutung der Doppelempfindung ist daher für den Menschen eine zweifache: Sie ist für den Menschen (wie für alle anderen Säugetiere) die sinnliche Bedingung der Möglichkeit, sich qua Bewegung im Raum zu orientieren. Und sie ist für den Menschen die sinnliche Bedingung der Möglichkeit, ein bewusstes Verhältnis zu seinem Leibkörper zu haben, d. h. den Körper als Werkzeug zu verwenden. Die Entwicklung von menschlichem Selbstbewusstsein ist vermutlich notwendig an diese Fähigkeit geknüpft. 24 Husserl, Edmund: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, 1952, S. 150. Vgl. zur Bedeutung des Tastsinns bei Husserl: Diemer, Alwin: Edmund Husserl. Versuch einer systematischen Darstellung seiner Philosophie, 1965, S. 178. Diemer hat an weiteren bis heute nicht publizierten Stücken aus Husserls Nachlass die fundamentale Bedeutung, die Husserl dem Tastsinn zuerkannt hat, herausgearbeitet und bezeichnet ihn als „Ur-Sinn“ unter Verweis auf folgende Passage aus Husserls Nachlass: „Die Wahrnehmungswelt ist unter allen Umständen haptisch konstituiert.“ (D 12 III S. 2). 25 Vgl. v. a. Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, 1966. 26 Vgl. Plessner, Helmuth: Die Stufen des Organischen und der Mensch, 1928.

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Druck, Widerstand: Wirklichkeit

Von den wenigen Philosophen, die eine besondere Bedeutung des Tastsinnes für die Erfahrung der Realität behauptet haben, wird in der Regel auf die Bedeutung von Druck- bzw. Widerstandserfahrungen hingewiesen. Eine der eindringlichsten Beschreibungen dieses Zusammenhangs findet sich bei Hans Jonas: „Realität bezeugt sich primär im Widerstand, der ein Bestandteil der Tast-Erfahrung ist. Denn physischer Kontakt ist mehr als geometrische Berührung; er involviert Zusammenstoß. Mit anderen Worten: der Tastsinn ist derjenige Sinn – und der einzige – in dem die Wahrnehmung von Qualität normalerweise mit der Erfahrung von Kraft gemischt ist; und da diese reziprok ist, gestattet sie dem Subjekt nicht, passiv zu bleiben. So ist Tasten der Sinn, in dem die ursprüngliche Begegnung mit der Wirklichkeit qua Wirklichkeit stattfindet. Das Tasten bringt die Realität seines Objekts mit in die Sinneserfahrung hinein und zwar kraft dessen, wodurch es die bloße Sinnlichkeit übertrifft, nämlich der Kraftkomponente in seiner ursprünglichen Zusammensetzung. Der Wahrnehmende kann diese Komponente seinerseits durch willentlichen Gegendruck gegen das affizierende Objekt vergrößern. Aus diesem Grunde ist Tasten die wahre Probe der Realität: ich kann jeden Verdacht einer Illusion dadurch zerstreuen, daß ich das verdächtige Objekt anfasse und seine Realität an dem Widerstand prüfe, den es meinem Verdrängungs-Versuch entgegensetzt. Anders ausgedrückt: äußere Wirklichkeit kommt zur Evidenz im gleichen Akt mit der Evidenz meiner eigenen Wirklichkeit – nämlich in transitiver Aktion meinerseits. Im Fühlen meiner eigenen Realität durch irgendwelche Art von Anstrengung, die ich mache, fühle ich die Realität der Welt. Und eine Anstrengung mache ich in der Begegnung mit einem Andern-als-ich-selbst.“27

Bemerkenswert an Jonas’ Beschreibung ist der Hinweis darauf, dass unsere Überzeugung von der Wirklichkeit nicht in einem Urteil gründet, sondern gefühlt wird. Was aber kann das bedeuten? Realität kann ja keine Eigenschaft sein, die man erfühlt – so wie z. B. die Härte eines Gegenstandes. Wenn ich richtig sehe, dann ist zwar in der Geschichte der Philosophie wiederholt auf diese Besonderheit hingewiesen worden (Sein ist kein Prädikat, Realität ist keine Eigenschaft), aber die naheliegende Konsequenz, zu fragen, wie denn dann Realität gegeben sein kann bzw. erfahren wird, wurde bisher nur von Max Scheler gezogen. Wie bereits angekündigt möchte ich daher nun die wichtigsten Aspekte von Schelers Realitätsauffassung rekonstruieren. Ich werde im Folgenden keine streng an einem Text entlanggehende Interpretation leisten, sondern versuchen, aus verschiedenen Schriften der Spätphase Schelers die wichtigsten Argumentationsschritte herauszustellen: Konkret aus „Erkenntnis und 27 Jonas, Hans: Der Adel des Sehens. Eine Untersuchung zur Phänomenologie der Sinne, in: ders., Organismus und Freiheit, 1973, S. 198–225, hier S. 213 ff.

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Arbeit“ (1926), „Die Stellung des Menschen im Kosmos“ (1927/28) und der Fragment gebliebenen Abhandlung „Idealismus – Realismus“ (1927).28 Scheler vertritt die Annahme, dass das Realitätsproblem falsch gestellt ist, wenn man nach einem Beweis oder einer Begründung für die Realität der Außenwelt fragt. Der Grund der Zurückweisung ist ein zweifacher: Ein solcher Beweis oder eine solche Begründung nimmt erstens an, dass das eigentliche Problem darin bestehe, aufzuklären, in welchen Akten wir die Erfahrung der Realität machen. Bevor wir nach Kriterien fragen können, ob etwas wirklich ist, müssen wir aber mit der Wirklichkeit vertraut sein. Wie sind wir mit der Realität vertraut? Eine erste allgemeine Antwort lautet: Wir machen dann die Erfahrung von Wirklichkeit, wenn ein X unserem Willen gegenübersteht. Einen Widerstand zu erfahren, bedeutet, die eigene Wirkmächtigkeit zu erfahren. Zweitens nimmt ein solcher Beweis an, dass das Problem für alle möglichen sogenannten Sphären gilt: d. h. die Realität der uns umgebenden Welt, die Realität der sozialen Welt etc. Das bedeutet, die Erfahrung der Realität der Außenwelt ist nur ein Fall der Erfahrung von Realität.

28 1925 schreibt Scheler: Dass Bewusstsein nur eine Art des Wissens sei, dass es auch vorbewusstes ekstatisches Wissen gebe und dass das Haben von Dasein als Daseiendem überhaupt nicht auf intellektualen Funktionen (sei es der Anschauung oder des Denkens) beruhe, „sondern allein auf dem im Akte des Strebens und der dynamischen Faktoren der Aufmerksamkeit allein ursprünglich erlebten Widerstand des Seienden“, trage er „seit 7 Jahren als das erste Fundament“ seiner Erkenntnistheorie vor. Vgl. Scheler, Max: Die Formen des Wissens und die Bildung, 1976, S. 85–119, hier S. 112. Diese Selbsteinschätzung ist mit Vorsicht zu betrachten. Denn schon in der ersten Hälfte des „Formalismus“ schreibt Scheler 1913: Widerstand sei ein Phänomen, das unmittelbar nur in einem Streben gegeben sei, dieses wiederum sei nur einem Wollen gegeben, und nur im Wollen sei das „Bewußtsein praktischer Realität“ gegeben. Ging Scheler 1913 also noch von zwei verschiedenen Realitätserfahrungen aus, einer praktischen und einer theoretischen? Es scheint so, als ob er die spätere Lösung schon im Blick gehabt hat, wenn er in einer Anmerkung zu der eben angeführten Passage schreibt: „Die Frage, ob das phänomenale ‚Realitäts-‘ und ‚Wirklichkeitsbewußtsein‘ überhaupt auf dem erlebten ‚Widerstande‘ beruht, und ob eine Welt bloßer ‚Bildgegenstände‘ überhaupt des Unterschiedes von ‚Wirklichkeit‘ und ‚Unwirklichkeit‘ entbehrte, lassen wir hier dahingestellt.“ Scheler, Max: Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, 1913, S. 150. Die erste Beschäftigung mit dem Thema reicht schon in seine Jenaer Phase zurück: Vgl. Dathe / Mancuso: Max Scheler e la ‚Philosophische Gesellschaft‘ [und] Quaderno dei Verbali della ‚Philosophische Gesellschaft‘ di Jena 26 Maggio 1903–29 Maggio 1906, in: Rivista di Storia della Filosofia 64/3 (2009), S. 567–581 und S. 583–602; dort ist die Diskussion im Anschluss an einen Vortrag des Jenaer Physikers Felix Auerbach verkürzt wiedergegeben, der auf die Schwierigkeit der Verwendung des Begriffs Widerstand hinweist, die darin gründe, dass der Begriff Widerstand an den Tastsinn gebunden sei!

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Als Ausgangspunkt einer eingehenderen Betrachtung kann zunächst Schelers Unterscheidung nach dem Was und dem Wie der Erfahrung der Realität dienen: In den klassischen Diskussionen zum Thema habe man übersehen, dass das Realitätsurteil nur auf dem Boden vorgängiger Erfahrung von Realität möglich sei. Den Grund für diesen Irrtum sieht Scheler darin, dass man nicht zwischen den Gegebenheitsweisen von Dasein (=Wirklichkeit) und Sosein (=Wesen) unterschieden habe. Das gegenstandsfähige Sein müsse scharf unterschieden werden vom nichtgegenstandsfähigen Sein, einer Art des Seins, die nur im Vollzug eines Aktes ihre Seinsweise besitze. Dasein (=Wirklichkeit) sei, so Scheler, wesensnotwendig wissens- und bewusstseinstranszendent. Wenn die Erfahrung von Wirklichkeit (Scheler nennt sie eine Form des Wissens, die allem möglichen Be-wusstsein notwendig vorhergeht) nur im Vollzug gegeben ist und sich insofern von allen möglichen anderen Formen des Wissens unterscheidet, dann stellt sich die Frage nach der spezifischen Gegebenheit dieser Erfahrung, d. h. die Frage nach dem Wie und dem Was der Realitätserfahrung. Scheler formuliert diese Frage so: „Erstens: was ist Realitätsgegebenheit; was wird erlebt, wenn irgend etwas als real erlebt wird? Das ist die Frage der Phänomenologie des Realitätserlebnisses. Zweitens: was sind es für Akte oder Verhaltungsweisen des Menschen, in denen das Realitätsmoment ursprünglich gegeben ist?“

Schelers Vorgehen ist durchweg quasi-transzendental. Stets begleitet seine Ausführungen die Überlegung, in welchem Fundierungsverhältnis verschiedene Wahrnehmungsleistungen stehen. Er fragt also: Was sind je die Bedingungen, die Voraussetzungen, die gemacht werden müssen, um eine bestimmte Wahrnehmungsleistung zu erbringen? Insofern Scheler daran interessiert ist, die Abhängigkeiten der verschiedenen Wahrnehmungsleistungen zu bestimmen, ergibt sich das Programm einer Fundierungsordnung: Welche Wahrnehmungsleistung hat notwendig welche andere zur Voraussetzung? Geht man so vor, dann leuchtet unmittelbar ein, dass als Erstes geklärt werden muss: Was ist die erste mögliche denkbare Erfahrung eines Subjekts? Schelers Antwort auf die Frage, was wir erfahren, wenn wir die Erfahrung der Wirklichkeit machen, lautet: die Erfahrung von Widerstand. Durch die Erfahrung der Widerständigkeit machen wir die Erfahrung des „Realitätsmoments“. Diese Erfahrung sei als eine ursprüngliche, nicht ableitbare Erfahrung zu denken, die jedem Realitätsurteil notwendig vorausgehen muss: „Wir erfassen das Realsein eines unbestimmten Etwas also in der Folgeordnung der Gegebenheiten, bevor wir sein Sosein sinnlich wahrnehmen oder denken.“29

29 Scheler, Max: Erkenntnis und Arbeit, a. a. O., S. 372.

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Ein erster Einwand liegt auf der Hand: Nur ein, sei es auch noch so unbestimmtes, Etwas, das zunächst irgendwie wahrgenommen wurde, kann sich doch als ‚widerständig‘ erweisen! Schelers Antwort auf diesen Einwand würde lauten: Auch dieses unbestimmte Etwas kommt zu Gegebenheit nur dann, wird nur dann erlebt, wenn irgendeine Form von strebendem Wollen dieses Etwas, auf das es stößt, wahrnehmen kann, weil dieses Etwas sich als widerständig erweist: „Ohne irgendeinen Grad und irgendeine Richtung triebartiger Aufmerksamkeit, ohne Werterfassung, ferner ohne den Anfang eines motorischen Prozesses kann also eine Wahrnehmung, wie einfach sie auch sei, überhaupt nicht stattfinden.“ Damit ist eine Antwort auf die Frage gegeben, wie, d. h. in welchen Akten die Erfahrung der Wirklichkeit gemacht wird. Sie lautet: Nicht in bewussten perzeptiven Akten, sondern „in einem triebhaft voluntativen Verhalten zur Welt, in weiterem Sinne in einem dynamisch-praktischen Verhalten“.30 Da sich Scheler bei der Entwicklung seiner Argumente immer wieder intensiv mit einem Aufsatz Wilhelm Diltheys auseinandersetzt, gebe ich nun eine kurze Zusammenfassung von Diltheys Thesen, um dann Schelers Kritik zu diskutieren. Dilthey wendet sich in seiner Arbeit „Beiträge zur Lösung der Frage vom Ursprung unseres Glaubens an die Realität der Außenwelt und seinem Recht“ (1890) gegen jede Theorie, die die Erfahrung der Außenwelt denkend, d. h. durch irgendeine Begründung oder einen Schluss herleiten will. Er nimmt an, dass die Erfahrung längst gemacht worden ist, bevor sie begründet werden kann. Nicht der Verstand, sondern Sinne, Trieb, Wille und Gefühl und die dadurch ermöglichte Erfahrung von Impuls und Widerstand führten zur Erfahrung von Realität. Die ersten Erfahrungen von Impuls und Widerstand mache ein Embryo schon vor der Geburt und erlange so ein erstes „unvollkommenes Bewußtsein des Eigenlebens und eines äußeren Etwas“. Die Erfahrung der Realität machen wir, so Dilthey, in jenen Momenten, „in denen ein sinnlicher Impuls einen Widerstand erfährt, den wir als Hemmung unserer Absicht erleben. Dann entsteht nun in diesem System von Trieben, welches der Mensch ist, in welchem ringsum nach allen Seiten Strebungen ausgehen und Gefühle untrennbar mit ihnen verwoben sind, ein neuer Willenszustand, eine neue Erfahrung: die Erfahrung der Hemmung der Intention. Willensbestand und Gefühlsbestand sind in dieser Tatsache nicht trennbar. Sie ist als Tatbestand unmittelbar in der Erfahrung auftretend und durch alle Erfahrungen des Lebens immer neu bestätigt, ganz wie der Impuls. Sie ist der Kern der Widerstandsempfindung.“31

30 Scheler, Max: Idealismus – Realismus, 1976, S. 255–324, hier S. 209. 31 Dilthey, Wilhelm: Beiträge zur Lösung der Frage vom Ursprung unseres Glaubens an die Realität der Außenwelt und seinem Recht (1890), 1924, S. 90–138, hier S. 98.

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Dilthey wendet sich explizit gegen Helmholtz’ Theorie der unbewussten Schlüsse: Die Erfahrung der Wirklichkeit durch Schlüsse zu erklären, sei zirkulär, weil so das, was erklärt werden soll, immer schon vorausgesetzt werden müsse. Aber Dilthey wendet sich auch gegen die These einer unmittelbaren Erfahrung der Wirklichkeit der Außenwelt, da der Widerstandserfahrung andere Erlebnisse vorausgehen würden. Dilthey beschreibt den Prozess in folgenden Schritten: Zunächst gibt es einen Bewegungsimpuls; dieser erfährt einen Widerstand; daher wird er verstärkt, und dann treten anstelle der erwarteten Bewegung Druckempfindungen auf. „Wir erkennen also: in der Widerstandsempfindung ist ein von mir Unabhängiges nicht in einer unmittelbaren Willenserfahrung gegeben. Die Lehre von der unmittelbaren Gegebenheit der Realität der Außenwelt erweist sich zunächst an diesem Punkte nicht als stichhaltig. Andrerseits ist aber auch – und das möchten wir eben feststellen – die Realität der Außenwelt nicht aus den Datis des Bewußtseins erschlossen, d. h. durch bloße Denkvorgänge abgeleitet. Vielmehr wird durch die angegebenen Bewußtseinsvorgänge eine Willenserfahrung, die Hemmung der Intention vermittelt, welche nun im Widerstandsbewußtsein enthalten ist und die kernhafte lebendige Realität des von uns Unabhängigen erst aufschließt.“32

Scheler setzt in seinen Arbeiten, in denen er die These vertritt, dass Wirklichkeit in Widerständigkeit gründet, unmittelbar an Dilthey an. Er betont die Stärke von Diltheys Ausgang bei einem wollenden strebenden Ich und die Bedeutung der Widerstandserfahrung für die Erfahrung von Realität. Aber er hat auch grundlegende Einwände: Er ist mit verschiedenen Beschreibungen, die Dilthey gibt, nicht einverstanden, und er bestreitet die von Dilthey angegebene Reihenfolge der Konstitutionsleistungen. Dilthey bemerke nicht, so Scheler, dass das Realitätserlebnis zunächst ein ekstatisches sei (sich also ohne erlebten Ichbezug einstelle), nicht ein ‚Wissen von‘, sondern ekstatisches ‚Haben von‘ Realität. Bei Dilthey sehe man daher nicht, wie denn die Widerstandserfahrung aus dem Sein der Bewusstseinsimmanenz herausführen soll. In Wirklichkeit sei das Verhältnis von Widerstandserfahrung und Sein des ‚Bewusstseinsimmanenten‘ ein umgekehrtes: „Nicht ein Triebbewußtsein führt zum erlebten Widerstande, oder ein Hemmungsbewußtsein des gehemmten Triebimpulses, sondern der primär ekstatisch erlebte Widerstand ist es, der den actus der Re-flexio erst herbeiführt, durch den der Triebimpuls erst bewußtseinsfähig wird. Das Bewußtwerden (und der mit ihm verknüpfte Ich-Bezug) ist in allen den mannigfaltigen Stufen und Graden, in denen es erfolgt, immer erst die Folge unseres Erleidens des Widerstandes der Welt. Realsein ist uns also

32 Dilthey, Wilhelm: Beitrage zur Lösung der Frage vom Ursprung unseres Glaubens an die Realität der Außenwelt und seinem Recht, a. a. O., S. 103f.

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immer schon mitgegeben, wenn irgendetwas Bewußtseinsimmanentes vorhanden ist. Realitätserlebnis und Werden vom Sein des Bewußtseinsimmanenten sind von gleicher Ursprünglichkeit.“33 Außerdem will Scheler Diltheys Begriff der „Widerstandsempfindung“ nicht anerkennen. Widerstandserlebnisse, so Scheler, seien nicht an Sinnesempfindungen gebunden. In Sinneserlebnissen könne sich das Sosein des Widerstehenden höchstens darstellen: „Nicht Empfindungen widerstehen, sondern die Dinge selbst.“ Dilthey sei sich „nicht klar darüber, daß der erlebte Widerstand überhaupt keine periphere sinnliche Erfahrung ist, sondern eine echte zentrale Erfahrung unseres Drängens und Strebens selbst. Diese Erfahrung – die Widerstandserfahrung – ist also von allen sie etwa begleitenden Empfindungen, zum Beispiel allen Tast- und Gelenkempfindungen, aufs schärfste zu trennen.“34 An dieser Kritik lassen sich zwei Aspekte unterscheiden. Zum einen hält Scheler Empfindungen für Rechenpfennige. Er glaubt nicht daran, dass reine Empfindungen irgendwie zusammengenommen plötzlich eine Wahrnehmung konstituieren. Die Wahrnehmung sei, so argumentiert er mit dem Gestaltpsychologen Wolfgang Köhler, zunächst immer ganzheitlich: „Schöpferische Dissoziation“, nicht Assoziation oder Synthese einzelner Stücke, sei der Grundvorgang der psychischen Entwicklung. Empfindungen können daher, so der eine Aspekt von Schelers Einwand, nicht Ausgangspunkt der ersten Konstitutionsleistungen sein, weil die Wahrnehmung einer Empfindung ja einen vorgängigen spontanen Akt passiver Aufmerksamkeit erfordert, damit überhaupt etwas zur Wahrnehmung kommt: „Empfindung ist kein Phänomen, sondern nur ein nie ganz herauszuschälender Bedingungsfaktor X für das Zustandekommen von Wahrnehmung.“35 Aber es gibt noch einen zweiten Aspekt der Kritik. Widerstandserfahrungen seien, wie Scheler wiederholt betont, überhaupt nicht an Sinnesempfindungen gebunden. Das zeige z. B. das psychische Widerstandserlebnis: „Bei Hemmung der triebhaften Aufmerksamkeit, speziell ihrer dynamischen Seite, kann das Hemmungsund Widerstandserlebnis sowohl auftreten in Begleitung von optischen als von akustischen und sonstigen sinnlichen Perzeptionen, und es kann, wie wir zeigen werden, auch an Erinnerungs- und Denkgegenständen (zum Beispiel ‚der nur dem Gedanken gegebene Staat widersteht meinem Willen‘) gegeben sein. Widerstand ist also ein zentrales Erlebnis der Stufe meines ‚Selbst‘, die vorläufig als ‚triebhaftes Lebenszentrum‘ bestimmt sei.“36 33 34 35 36

Scheler, Max: Idealismus – Realismus, a. a. O., S. 214. Ebd., S. 210. Scheler, Max: Erkenntnis und Arbeit, a. a. O., S. 364. Scheler, Max: Idealismus – Realismus, a. a. O., S. 211. Vgl. auch: Scheler, Max: Die Stellung des Menschen im Kosmos, a. a. O., S. 43. „Es gibt für den Wirklichkeitseindruck

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Es ist zunächst nicht ganz klar, was Scheler hier genau sagen will: Dass nicht alle Widerstandserlebnisse an Sinnesempfindungen gebunden sind, ist unmittelbar einleuchtend – auch ein Gedanke kann sich als widerständig erweisen. Aber sind nicht bestimmte Widerstandserfahrungen, z. B. die der körperlichen Gegenstände, an bestimmte Sinneserfahrungen gebunden? In der Reihenfolge der Konstitutionsleistungen stellt sich das Problem der Urerlebnisse, des Urerlebnisses der Zeit, der Räumlichkeit, der Kausalität etc. 37 Wenn, wie Scheler argumentiert, das Ineinander der ursprünglichsten Zeit-, Raum- und Kausalitätserfahrung nur durch Bewegung eines triebhaft-wollenden Subjekts möglich ist, müssen dann diese Urerfahrungen nicht sinnlich vermittelt sein? Nur ein sich qua seiner Sinne irgendwie orientierendes Subjekt kann sich bewegen. Will Scheler also lediglich sagen, dass es nicht auf bestimmte sinnliche Wahrnehmungen angewiesen ist? Würde er diesen Standpunkt vertreten, dann müsste er die verschiedenen Sinne als mehr oder weniger austauschbar ansehen. Scheler radikalisiert Diltheys Argument dahingehend, dass schon die denkbar erste bewusste Erfahrung als Widerstandserfahrung gedacht werden muss. Er versucht, sein Argument durch ein Gedankenexperiment stark zu machen, das hilfreich sein könnte, um die Frage nach der Rolle der Empfindungen bzw. sinnlicher Wahrnehmungen im Aufbau der Wahrnehmung zu klären: „Allem anderen, das da in der natürlichen Weltanschauung gegeben ist – sowohl allen Sinnesqualitäten, Beziehungen, Zeit, Raum, soseinsbestimmten Dingen, Ereignissen, ja selbst den Sphärenunterschieden der Außenweltlichkeit, Innenweltlichkeit, Leibsphäre, psychischer und geistiger Mitwelt, Daseinsformen (Kategorien) ist vorgegeben die noch unqualifizierte Realität der Welt überhaupt und die ihr entsprechende Generalthesis: ‚Es gibt realiter eine Welt‘. Denkt euch Stück für Stück den ganzen nicht eine besondere angehbare Sensation (hart, fest, etc.). Auch die Wahrnehmung, die Erinnerung, das Denken und alle möglichen perzeptiven Akte vermögen uns diesen Eindruck nicht zu verschaffen: was sie geben, ist immer nur das (zufällige) Sosein der Dinge, niemals ihr Dasein.“ 37 Scheler nimmt an, dass das „Urerlebnis der Räumlichkeit“ und das „Urerlebnis der Zeitlichkeit“ „gemeinsam im Erlebnis der Macht der Selbstbewegung, respektive der Selbstveränderung eines lebendigen Wesens“ wurzeln. Sie kommen zur Gegebenheit nur für ein Wesen, für „das Wechsel, Bewegung und Veränderung Phänomene sind, die in der Gegebenheitsordnung allem nicht wechselnden, unveränderlichen und unbeweglichen Sein vorgehen“. Die Tatsache ist „von der Konstruktion unserer Sinnlichkeit, ihrer Organe und ihrer Funktionen völlig unabhängig“ und stellt ein „wenn auch nur biologisches, Apriori für alle Sinnesperzeptionen“ dar. Erst aus den Urbegriffen Wechsel, Bewegung, Veränderung kann also der Ursprung der Raum- und Zeitmannigfaltigkeit seinen Sinn gewinnen und nicht umgekehrt. Vgl. Scheler, Max: Idealismus – Realismus, a. a. O., S. 222.

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Gehalt der natürlichen Weltanschauung abgebaut, lasset alle Farben verbleichen, alle Töne verhallen, Leibbewußtseinssphäre und ihren gesamten Inhalt verschwinden, Raum- und Zeitform, und alle Seinsformen (Kategorien) der Dinge sich in ein unbestimmtes Sosein nivellieren, dann bleibt als das Nichtabbaubare ein einfacher Eindruck der Realität überhaupt: der Eindruck eines gegen die spontane – sei es willkürliche, sei es unwillkürliche, sei es schon als Wollen oder nur als Triebimpuls charakterisierte – Tätigkeit, die unser Bewußtsein in dauerndem Vollzug unterhält schlechthin ‚Widerständigem‘, aber nicht den Eindruck der Realität: Realsein ist nicht Gegenstandsein, d. h. das identische Soseinskorrelat aller intellektiven Akte – es ist vielmehr Widerstandsein gegen die urquellende Spontaneität, die in Wollen, Aufmerken jeder Art ein und diesselbe ist. […] [D]iese vage, undifferenzierte, soseinsbestimmte Realität – dieses Real-sein von ‚etwas‘ in irgendeiner der gleichfalls allem empirischen Erlebnisinhalt ‚vorgegebenen‘ Seinssphären kann oder braucht selber nicht erdacht zu werden, erschlossen zu werden.“38

Dieses Gedankenexperiment scheint die Annahme nahezulegen, dass prinzipiell auch ein Subjekt denkbar wäre, das über andere Sinne als der Mensch verfügt und z. B. keinen Tastsinn hat. Dagegen könnte man einwenden: Sinnlich vermittelte Wahrnehmung und Erfahrung muss notwendige Bedingung für ein wollendes Subjekt sein. Schelers Gedankenexperiment stößt an eine Grenze, wenn wir uns vorstellen, dass Schelers verarmtes Subjekt keine Erfahrungen mehr machen kann, sich also auch nicht wollend zur Welt verhalten kann. Scheler betont ja, dass irgendeine Form von triebhaftem Verhalten notwendige Bedingung dafür ist, dass ein Subjekt Erfahrungen macht. Triebhaftes Verhalten kann man sich nicht anders vorstellen als ein Verhalten, das sich in Bewegung verwirklicht. Sich bewegen kann aber nur ein Wesen, das etwas spürt. Auch Scheler müsste also anerkennen, dass das Tasten/Berühren (in einem weiten Sinne des Begriffs) der erste notwendige Sinn ist, ohne den kein Kontakt mit der Wirklichkeit zustande kommen kann. Schelers Begründung dafür, dass kein Sinn eine ausgezeichnete Funktion habe, dass Widerständigkeit im Psychischen nicht an sinnliche Erfahrung geknüpft ist, kann nicht überzeugen. Denn aus der Tatsache, dass sie es nicht ist, folgt nicht, dass die Erfahrung der Wirklichkeit in anderen Sphären – konkret in der Sphäre der Welt der Körper, der physischen Welt – ebenfalls ohne sinnliches Vermögen auskommt. Das Problem wird noch deutlicher, wenn man Schelers Begriff des Apriori im Unterschied zu Kants Begriff des Apriori bedenkt: Scheler grenzt sich gegenüber 38 Scheler, Max: Erkenntnis und Arbeit, a. a. O., S. 363 f. Ähnlich eine Passage in: Scheler, Max: Die Stellung des Menschen im Kosmos, a. a. O., S. 41: „Lasset für ein Bewußtsein alle Farben und sinnlichen Materien verbleichen, alle Gestalten und Beziehungen zergehen, alle dinglichen Einheitsformen verschweben – das, was schließlich gleichsam nackt und von jeder Art der Beschaffenheit frei und ledig noch bleiben wird, das ist der machtvolle Eindruck der Realität, der Wirklichkeitseindruck der Welt.“

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Kant ab, indem er die Notwendigkeit von Erfahrung für die Herausbildung von Anschauungsformen betont, da diese „erst durch Funktionalisierung ursprünglich an einem Exemplar gewonnener Wesenseinsichten am Seienden selbst entspringen“. Die Anschauungsformen sind also nicht aller Erfahrung vorgelagert. Gilt, was hier für die Erfahrung von Sosein behauptet wird, nicht auch für die Erfahrung von Dasein? Muss nicht mindestens eine Erfahrung angenommen werden – die dann nur als sinnlich vermittelte gedacht werden kann? Immerhin stehen wir am Beginn der Weltkonstitution. Schließlich hat Scheler noch einen weiteren grundsätzlichen Einwand. Dilthey habe die Frage nach dem Realitätserlebnis in eine viel zu einseitige Verbindung gebracht mit dem sogenannten Problem der ‚Realität der Außenwelt‘. Das Realitätsproblem tritt aber, so Scheler, in allen möglichen Sphären auf, nicht nur in der Außenweltsphäre. So z. B. in der Sphäre des psychischen Seins. Andererseits habe ‚Sein in der Sphäre der Außenwelt‘ noch keinerlei Anspruch auf Realität: Ein Raum habe für sich genommen keine Realität, wenn er nicht wirken kann; Schatten, Spiegelbilder, virtuelle Bilder, der Regenbogen, eine Fata Morgana, Flächenfarben usw. seien zwar durchaus Beispiele für Gegenstände der Außenwelt, aber keineswegs darum bereits wirklich. Schließlich gebe es, was Dilthey irrtümlich leugne, auch in der Innenweltsphäre den Unterschied von real und irreal. Ein Gefühl, das ich habe, kann real oder nur vorgestellt sein. Man versteht also die Frage nach der Realität falsch, so Scheler, wenn man sie mit der Frage nach der Realität der Außenwelt gleichsetzt, denn das würde bedeuten, dass die Sphäre der Innenwelt der Sphäre der Außenwelt vorgegeben ist. Beide seien aber gleichursprünglich. Die Frage nach der Realität der Außenwelt sei aber, so Scheler, eine von der Erfahrung des Realitätsmoments abkünftige Frage nach dem Realitäts- oder Daseinsurteil: „Das Daseinsurteil ist nicht aufzuklären, wenn man nicht vorher weiß, worin das Realitätsmoment besteht, das dem Prädikat ‚Dasein‘ im Existenzialsatz ja erst seine Erfüllung gibt.“ 39 Fassen wir die bisherigen Überlegungen zusammen und fragen noch einmal: Was genau bedeutet Widerständigkeit? Zunächst könnte man annehmen, dass der Begriff so zu verstehen ist, wie es die Redeweise der Widerständigkeit von Körpern nahelegt; ein körperlicher Gegenstand wird als widerständig erfahren, d. h. man stößt sich, es geht nicht weiter, da ist irgendein Hindernis, das überwunden werden muss. Es kann nur überwunden werden, wenn es aufgrund seiner Widerständigkeit als wirklich erfahren wird: Der Feinmechaniker muss, wenn er sein Werkzeug anlegt, noch einen ganz leichten Widerstand spüren. Wenn ihm kein Widerstand gegeben ist, kann er nichts wahrnehmen und den Apparat nicht reparieren. Das 39 Scheler, Max: Erkenntnis und Arbeit, a. a. O., S. 280.

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Phänomen des Widerstands ist aber nicht auf die tatsächliche bzw. mögliche Konfrontation mit Körpern begrenzt. Alle möglichen Sphären der Welt sind notwendig nur für ein strebend-wollendes Wesen wirklich: Ein Wollen muss notwendig einen Widerstand erfahren, um sich zu realisieren. Einen Widerstand zu erfahren, heißt, die Tatsache oder zumindest die Möglichkeit von Wirkung zu erfahren. Nur was wirken kann, ist wirklich. Schon die denkbar einfachste Form von Subjektivität muss sich wollend in der Welt verhalten. Einen Widerstand zu erleben, heißt ein Wollen zu erleben, das als ein gegen etwas gerichtetes Streben erfahren wird. Was bedeutet dieses ‚gegen‘? Dieses ‚gegen‘ ist kein wertendes. Was es bedeutet, kann man sich vielleicht veranschaulichen, indem man sich fragt, ob es ein Wollen gibt, das sein Ziel sofort erreicht. Ist es denkbar, ein Ziel zu erreichen, ohne irgendwelche Widerstände zu erfahren? Die Welt würde einem seltsam leer erscheinen, wenn das Wollen keine Reibung, keinen Kontakt, keinen Widerstand, keine Möglichkeit zu wirken erfahren würde: Die Welt wäre nicht wirklich.40 Was also für die Welt der Körper gilt, gilt analog für die psychische Wirklichkeit: „Auch hier ist überall das phänomenale Erlebnis der psychischen Realität der Widerstand.“41 Nur wer seine Gefühle als wirksam erfährt, erlebt seine Gefühle als wirklich. In Phantasie und Halluzination können wir Gefühle erleben, ohne sie zu haben; wo dies der Fall ist, sprechen wir von Scheingefühlen bzw. unechten Gefühlen.42

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Abschließende Bemerkungen

Kommen wir nun noch einmal auf die These zurück, dass die besondere Form der Erfahrung der Wirklichkeit der physischen Welt einen sinnlichen vermittelten Widerstand verlangt, der als Druckempfindung bezeichnet werden kann. Katz, der die wohl umfänglichste Analyse des Tastsinnes geliefert hat, verbindet eine ausführliche Analyse der Doppelempfindung mit der Tatsache, dass jede Tastempfindung mit einer Druckempfindung einhergeht. Ähnlich wie Husserl 40 Vermutlich hat Jaspers diesen Gedanken Schelers in seine Psychopathologie aufgenommen: Ab der 4. Aufl. finden sich folgende Ausführungen: „Wirklich ist, was Widerstand leistet. Widerstand ist, was die Bewegung unseres Leibes hemmt, und Widerstand ist alles, was die unmittelbare Verwirklichung unseres Strebens und Wünschens verhindert. Gegen Widerstände ein Ziel erreichen, ebenso wie an den Widerständen scheitern bedeutet Erfahrung der Wirklichkeit.“ Vgl. Jaspers, Karl: Allgemeine Psychopathologie, 1946, S. 70. 41 Scheler, Max: Idealismus – Realismus, a. a. O., S. 214. 42 Vgl. hierzu: Vendrell Ferran, Íngrid: Die Emotionen. Gefühle in der realistischen Phänomenologie, 2008.

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sieht er eine unausweichlich subjektive, auf den Leib bezogene Komponente mit einer anderen, auf Objekte zielenden verbunden. Er nennt diese Besonderheit die Bipolarität des Tastsinnes. Er gibt anschauliche Beispiele für das Phänomen, das Husserl als Richtungsänderung bezeichnet hat: Eine leichte kitzelnde Berührung mit einer Feder an einer Stelle des Handrückens könne einer rein subjektiven Empfindung sehr nahe kommen, aber auch in Fällen dieser Art sei der Hinweis auf den auslösenden Reiz nicht ganz zu unterdrücken. Daneben gebe es Tastphänomene, die ausschließlich Hinweis auf Objektives zu sein scheinen, aber eine Änderung der Einstellung würde leicht die Bezogenheit auf einen Ort an unserem Leib hervorrufen: „Wenn auch aktuell entweder die subjektive oder die objektive Seite der Tastwahrnehmung nahezu unmerklich werden kann, ihre Bipolarität bleibt doch wenigstens anschaulich realisierbar.“43 In jeder Tastempfindung lässt sich Katz zufolge eine Druckempfindung ausmachen. Er gibt verschiedene Beispiele: „Der Unterschied zwischen hart und weich ist hauptsächlich ein Unterschied des der Hand begegnenden Widerstandes; und das bedeutet einen Unterschied in der Stärke des Druckes, den eine Gelenkfläche auf die andere ausübt. […] Der Eindruck des Spitzen besteht in der Empfindung eines räumlich beschränkten Druckes. […] Bei Glätte und Rauhigkeit, Härte und Weichheit kombinieren sich verschiedenartige Druckempfindungen mit Bewegungs- und Widerstandsempfindungen.“44 Was Katz hier sagen möchte, lautet in anderen Worten: Es gibt keine Berührung ohne Druck. Druck und Widerstandserfahrung sind wesensnotwendig mit dem Tastsinn verbunden. In den gegenwärtigen Diskussionen ist diese Position v. a. von Thomas Fuchs45 und von Olivier Massin und Frédérique de Vignemont klar formuliert worden.46 Beide betonen – nach unseren Ausführungen zu Recht – die 43 Katz, David: Der Aufbau der Tastwelt, a. a. O. 44 Ebd. 45 Vgl. Fuchs, Thomas: „Berührung bedeutet Widerstand und damit immer auch latente Aktivierung innerleiblicher Spannung: In jeder Berührung ist eine leise Druckempfindung enthalten, die mit zunehmendem Widerstand zu einer Kraftanstrengung anschwellt.“ Weil bzw. indem wir beim Tasten die Körperlichkeit des Leibes ineins mit der Außenwelt erfahren, so Fuchs, zeige sich die „konstitutive Funktion des Tastsinns für die Wirklichkeitserfahrung“, die in der Geschichte der Philosophie von Dilthey, Scheler und Jaspers erkannt worden sei. Fuchs, Thomas: Leib, Raum, Person. Entwurf einer phänomenologischen Anthropologie, a. a. O., S. 111 f. 46 „Pressure, we shall now argue, is the proper and primary object of touch. On the one hand, pressure cannot be directly seen or heard, although its causes and effects can. On the other hand, one can never perceive by touch without feeling some pressure or tension. Touch is by nature the direct perception of pressure and tension.“ Massin und Vignemont variieren bzw. spezifizieren Schelers These der Erfahrung der Wirklichkeit durch Widerstand: In Bezug auf die physische Welt bedeutet die Erfahrung von Wirk-

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enge Verbindung von durch Druck und Widerstand erfahrenen Körpern und der Erfahrung von Realität.47 Fassen wir die besonderen Leistungen der Tastwahrnehmung nun abschließend zusammen: Im Tasten kann uns qua Druck- und Widerstandserfahrung ineins unser Körper und der Körper des Betasteten gegeben sein. Diese Rückkopplung und Selbstvergewisserung ist einmalig. Das Auge kann sich nicht beim Sehen sehen, das Ohr sich nicht beim Hören zuhören. Das Auge ist beim Sehen auch nur dann als Tastorgan gegeben, wenn man etwa spürt, wie sich das Auge bei fixierter Kopfhaltung in der Augenhöhle bewegt, um die Sehrichtung zu ändern. Manchmal heißt es, die Tastwahrnehmung sei direkter als z. B. die visuelle Wahrnehmung. Was genau kann damit gemeint sein? Schließlich kann man auch die visuelle Wahrnehmung als unmittelbar bezeichnen. Die pauschale Rede ist ungenau: Wenn von direkter Wahrnehmung die Rede ist, dann ist häufig nur gemeint, dass die Wahrnehmungsleistung nicht vermittelt ist, d. h. ohne Schluss stattfindet. Um es an einem Beispiel zu illustrieren: Wenn ich einen Anderen beobachte und unmittelbar an seinem Lächeln verstehe, dass er fröhlich ist, d. h wenn mein Verstehen keinen Umweg über die Wahrnehmung eines Körpers nimmt, sondern unmittelbar am Ausdruck ansetzt, dann ist diese Wahrnehmung auf eine ganz bestimmte Weise sinnlich vermittelt. Auch die Wahrnehmung einer Oase am Horizont ist zunächst unmittelbar (weil nicht auf einem Schluss beruhend). Wenn ich mich der Oase dann nähere, kann es sein, dass ich feststellen muss: Da ist gar nichts. Anders die Tastwahrnehmung. Auch sie kann irren, was das Sosein eines Gegenstandes betrifft. Aber die Tastwahrnehmung irrt nur in seltenen Fällen, wenn es um die Wirklichmächtigkeit die Erfahrung von physischer Kraft. Dort, wo wir physische Kraft erfahren, ist Wirklichkeit, und physische Kraft ist uns sinnlich nur durch den Tastsinn gegeben; ergo ist der Tastsinn derjenige Sinn, der uns die Unabhängigkeit der Wirklichkeit erfahren lässt: „Touch is the only sensory modality essential to the experience of the physical world as existing independently from us.“ Vgl. Vignemont / Massin: Touch, in: Mohan Matthen (Hg.), The Oxford Handbook of the Philosophy of Perception, 2013, S. 294–313, hier S. 295. 47 Die These ist nicht unumstritten. Ratcliffe hält sie für falsch und führt als Gegenbeispiele Fälle an, in denen uns Berührungen bzw. Tasterfahrungen fehlen, so z. B. wenn wir fühlen, dass ein Ring, den wir normalerweise tragen, fehlt: „So there is no straightforward relationship between the content of tactual perception and the deception of contact and pressure.“ Ich halte die Schlussfolgerung für falsch. Denn wir spüren ja nur deshalb, dass etwas fehlt, weil eine Druckempfindung natürlich geworden ist. Das nun als unnatürlich empfundene Fehlen ist im Grunde aber auch nichts anderes als eine Druckempfindung. Vgl. Ratcliffe, Matthew: Perception, Exploration, and the Primacy of Touch, in: Oxford Handbook of 4E Cognition, ed. by Newen / Bruin / Gallagher, 2018, S. 4.

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keit eines wahrgenommenen Körpers geht, z. B. im Falle von Phantomschmerzen, die infolge einer Amputation auftreten. Sie ist auch sinnlich unmittelbar; daher kann man zu Recht sagen, sie sei wirklicher. Ihr Realitätsgrad ist sozusagen höher. Tastend sind wir bei den Gegenständen, die wir berühren. Anders der Gegenstand, den wir sehen. Er ist weit weg. Was zu nah ist, sehen wir nicht mehr. Der Tastsinn ermöglicht einerseits den direkten Kontakt: Die intimste Form erotischer Verschmelzung ist nur durch unmittelbaren Körperkontakt möglich, die intensivste Form der Zurückweisung durch am Körper erfahrene Zurückweisung. Die am Sehen orientierte erkenntnistheoretische Position des Repräsentationalismus, der zufolge wir von der Wirklichkeit nur Abbilder haben, scheitert schon phänomenologisch, wenn man versucht sich vorzustellen, was es bedeuten würde, Vorstellungen von Tasterfahrungen zu haben. Das Getastete lässt sich nicht in der Weise vorstellen wie das Gesehene. Was ertastet wurde, kann tastend wiedererkannt werden, aber es kann nicht im Modus der Tasterfahrung vorgestellt werden. Wenn es richtig ist, dass der Tastsinn eine besondere Rolle im Aufbau der Realitätserfahrung spielt, dann könnte dies dafürsprechen, dass bestimmte Formen der Wirklichkeitsentfremdung zunächst von unten her therapiert werden, d. h. durch die elementaren Formen leiblichen Kontaktes mit der Welt und den Anderen. Der Psychopathologe Thomas Fuchs beschreibt das Phänomen emotionaler Entfremdung bzw. Derealisierung durch den Verlust der Gefühlsresonanz, den Patienten mit der Umwelt erleben. Gefühlsresonanz, so Fuchs, bedeutet, dass Wahrnehmen immer auch Selbstempfindung, Affiziertsein ist. Der Verlust affektiver Resonanz, so eine seiner Grundthesen, führt daher zu Realitätsverlust und Entfremdung. Das starke Verlangen nach unmittelbaren Widerstandserfahrungen des Körpers erklärt sich so vor dem Hintergrund der Annahme, dass leibliche Widerstandserfahrungen einen hohen Realitätsgrad haben.48 Was tun wir also, wenn wir versuchen, jemandem zu helfen, der daran leidet, dass er die ihn umgebende Umwelt als unwirklich erfährt? Wir werden ihm besser kein Handbuch der Erkenntnistheorie in die Hand drücken, in dem sich ein überzeugender Beweis für die Existenz der Außenwelt findet, sondern wir müssen ihm helfen, bestimmte Widerstandserfahrungen wieder zu machen. Dieser Aufsatz entstand im Rahmen meines im Heisenbergprogramm von der DFG geförderten Projekts „Die Erfahrung der Realität durch Widerstand“.

48 Fuchs, Thomas: Wirklichkeit und Entfremdung. Eine Analyse der Mechanismen der Derealisierung, in: Thomas Buchheim u. a. (Hg.), Die Normativität des Wirklichen. Über die Grenze zwischen Sein und Sollen, 2002, S. 155–171.

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Kontakt PD Dr. Matthias Schloßberger Humboldt Universität zu Berlin Institut für Philosophie Unter den Linden 6 10099 Berlin E-Mail: [email protected]

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Wahrnehmungsgehalte und begriffliche Kapazitäten Eine enaktiv-anthropologische Forschungskontroverse

Einleitung Seit der Begründung des Enaktivismus durch Francisco Varela, Eleanor Rosch und Evan Thompson hat der starke verkörperungstheoretische Ansatz eine vielfältige Weiterentwicklung erfahren.1 So gibt es neben dem autopoetischen Enaktivismus, der in seiner naturphilosophischen Fundierung maßgeblich von Hans Jonas’ Theorie des Organismus beeinflusst ist, auch den sensomotorischen Enaktivismus, bei dem die wechselseitige Verbindung von Handeln und Wahrnehmen im Zentrum der Untersuchung steht.2 Diese enaktiven Ansätze sind sowohl strukturlogisch miteinander verbunden als auch immer wieder faktisch aufeinander bezogen worden. Nichtsdestoweniger werden sie aber auch häufig unabhängig voneinander vertreten. Dies gilt auch für die Einbeziehung der Phänomenologie, deren Stellenwert im Enaktivismus höchst unterschiedlich bewertet wird. Für die Vertreter des in den letzten Jahren immer stärker in den Vordergrund getretenen radikalen Enaktivismus lässt sich z. B. festhalten, dass phänomenologischen Forschungsansätzen nur geringe bis gar keine Bedeutung beigemessen wurde. Wie gezeigt werden soll, basieren diese Unterschiede keineswegs auf kontingenten Voraussetzungen oder Präferenzen. Gemeinsam ist den Theorieansätzen die Ablehnung des Repräsentationalismus in den klassischen Kognitionswissenschaften und der Philosophie des Geistes. Doch könnten die daraus gezogenen Konsequenzen kaum unterschiedlicher sein. Im Rahmen dieses Aufsatzes soll jener Sachverhalt an den unterschiedlichen 1

Vgl. Varela / Thompson / Rosch 1991. Der Ausdruck „starker verkörperungstheoretischer Ansatz“ bedeutet, dass mentale Vorgänge oder Prozesse nicht einfach nur im Gehirn realisiert sind, sondern dass weitere Bereiche des Körpers hierzu nicht nur einen kausalen Beitrag leisten, sondern auch eine konstitutive Rolle spielen. Siehe Menary 2015, S. 2. 2 Vgl. Barandiaran 2017. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 G. Hartung und M. Herrgen (Hrsg.), Interdisziplinäre Anthropologie, Interdisziplinäre Anthropologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28233-2_10

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Bestimmungen des Wahrnehmungsgehaltes im sensomotorischen und radikalen Enaktivismus aufgezeigt werden. Meine These lautet, dass die divergierenden Zugänge zum Gehalt der Wahrnehmung letztendlich zu ganz unterschiedlichen Auffassungen im Hinblick auf das Wahrnehmungs- und Begriffsvermögen des Menschen führen. In einem ersten Schritt wird deshalb die Kritik des radikalen Enaktivismus an versteckten Formen des Repräsentationalismus im klassischen (sensomotorischen) Enaktivismus erläutert und dessen Gegenentwurf einer Theorie der basalen menschlichen Wahrnehmung ohne Gehalt eingeführt. Im Anschluss daran wird diese Konzeption einer kritischen Bewertung unterzogen und geprüft, ob Alva Noës Entwicklung des sensomotorischen Ansatzes unter besonderer Einbeziehung des Begriffsvermögens und unterschiedlicher Begriffsverwendungen die Bestimmung des basalen Wahrnehmungsgehalts befriedigender zu lösen vermag. Abschließend werde ich dafür argumentieren, dass zwar Begriffe Perzeptionen viel umfassender mit konstituieren als häufig zugestanden wird. Eine angemessene anthropologische Spezifikation der gesamten Wahrnehmungskonstitution muss aber die mögliche Existenz nicht-begrifflicher Perzeptionsgehalte umfassender erforschen als dies bisher geleistet worden ist.

I

Kritik am (sensomotorischen) Repräsentationalismus

Der Repräsentationalismus geht in seiner allgemeinsten Fassung in den Kognitionswissenschaften davon aus, dass mentale Operationen wie Propositionen, Vorstellungen, Wahrnehmungen oder Planungen interne Vorgänge sind, die zueinander in Beziehungen stehen und stellvertretend (z. B. als ein Symbol) auf ein externes Objekt, eine Tatsache oder einen Sachverhalt gerichtet sind.3 Der Ausgangspunkt enaktiver Theorien ist hingegen die Überzeugung, dass es nicht möglich ist, die inhärenten Probleme zu lösen, welche aus den implizit-dualistischen repräsentationalistischen Annahmen resultieren. So muss unter den begrifflichen Voraussetzungen des Repräsentationalismus grundsätzlich unklar bleiben, wie überhaupt ein Zugang zu ex hypothesi externen Aspekten der Welt möglich ist, wenn die angenommenen Referenzobjekte grundsätzlich nur mit internen Mitteln wie z. B. interkonnektiven Gehirnzuständen abgebildet und rekonstruiert werden könnten.4 Wieso gehen die Vertreter des radikalen Enaktivismus (im Folgenden RE) jedoch davon aus, dass der ursprüngliche sensomotorisch-enaktive Ansatz den Repräsentationalismus der klassischen Kognitionswissenschaften (ungewollt) 3 Johnson 2007, S. 114 f. 4 Tewes 2014, S. 220.

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perpetuiert? Die Kritik des RE am sensomotorischen Enaktivismus entzündet sich letztendlich an zwei Gesichtspunkten, die letzterer für Perzeptionen geltend macht. Der erste besteht darin, dass perzeptuelle Erfahrungen in implizitem praktischem Wissen gründen: “Visual experience is a mode of activity involving practical knowledge about currently possible behaviours and associated sensory consequences. Visual experience rests on know-how, the possession of skills.”5

Das hier in Anschlag gebrachte Know-how, welches der visuellen Wahrnehmung und ihren unterschiedlichen Modi als Fähigkeit zugrunde liegt, scheint zunächst nicht „repräsentationsanfällig“ zu sein. Denn es gehört zur definitorischen Spezifikation dieses Wissenstyps, dass es in keinem propositionalen oder symbolisch expliziten Format vorliegt. Die Fundierung dieses praktischen Wissens beruht nach Auffassung des frühen sensomotorischen Ansatzes auf sensomotorischen Zusammenhängen oder Gesetzen („laws of sensorimotor contengencies“), die ein Akteur beherrschen muss. Ein Beispiel ist die Fähigkeit, die visuell-perspektivische Erscheinungsform eines Gegenstandes im Raum in Abhängigkeit zur Relation und Lage des eigenen Leibes korrekt einzuschätzen.6 Unterschieden wird zudem zwischen personalen und subpersonalen Realisierungen derartiger sensomotorischer Zusammenhänge, wobei erstere sich durch die aufmerksame intentionale Realisierung der sonst subpersonal ablaufenden Gesetze auszeichnen.7 Insbesondere Daniel D. Hutto hat in verschiedenen Publikationen aufzuzeigen versucht, dass eine genauere Explikation dieses praktischen Wissens und seiner Gesetze einen kognitivistischen Repräsentationalismus der Wahrnehmung impliziert, der mit dem enaktiven Ansatz nicht im Einklang stehe. Es ist offensichtlich, dass die sprachliche Analyse vielfältiger Textpassagen früherer Arbeiten auch kaum einen anderen Schluss zulässt, wenn es z. B. heißt: “The question nevertheless arises of how the brain is able to accurately judge whether an object is stationary. […] if retinal sensation were not to change dramatically when an object falls into the blind spot, then the brain would have to conclude that the object was not being seen, but was being hallucinated.”8

5 O’Regan / Noë 2001, S. 946. 6 O’Regan / Noë 2001, S. 942. 7 Myin / O’Regan 2002, S. 35. Erik Myin war somit ein Vertreter des frühen sensomotorischen Ansatzes bevor er gemeinsam mit Daniel D. Hutto in den letzten Jahren begonnen hat, den radikal enaktiven Ansatz weiter auszuarbeiten. 8 O’Regan / Noë 2001, S. 949 und S. 951.

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Die Analyse derartiger Textpassagen, die sich beliebig ausweiten ließe, ergibt, dass das vermeintlich implizite, praktische Wissen von sensomotorischen Zusammenhängen auf neuronaler Ebene in einem propositionalen inferenziellen Format vorzuliegen scheint. Wenn das Gehirn „korrekt urteilt“ („accurately judge“), dass das Objekt stationär ist, oder das Gehirn die retinalen Erregungen im Hinblick auf den blinden Fleck und das Wahrnehmungsobjekt interpretiert („the brain would have to conclude that the object was not being seen“), dann wird dem Gehirn und seinen Leistungen eine repräsentationale Funktion zugeschrieben.9 Überdies handelt es sich bei solchen Zuschreibungen um „Homunkulus-“ oder „mereologische“ Fehschlüsse, weil dem Gehirn fälschlicherweise urteilende oder schlussfolgernde, also personale Fähigkeiten zugesprochen werden.10 Es stellt sich aufgrund dieser berechtigten Kritik die Frage, wie stark der gesamte sensomotorische Ansatz von solchen Einwänden betroffen ist. Denn die Annahme, dass Wahrnehmungsleistungen auch etwas mit implizitem praktischem Wissen auf der bewussten personalen Ebene zu tun haben, ist zumindest prima facie nicht unplausibel. Wie Hutto ganz korrekt bemerkt, ist es nach Auffassung des sensomotorischen Enaktivismus erst das praktische Wissen auf der personalen Ebene, das zu erfahrungsbasierten Perzeptionen führt. Hutto hält diesen Erklärungsansatz der Wahrnehmung allerdings für grundsätzlich defizitär. Perzeptionsleistungen basieren nach seiner Überzeugung auf keinerlei praktischem Wissen, sofern dies, wie das Zubinden von Schuhen oder ein handwerkliches Können, auf erlernten Fähigkeiten beruht. Für ihn ist der Sehvorgang deshalb auch nicht anders zu bewerten als z. B. das Atmen, bei dem es sich letztendlich um einen biologisch erklärbaren, subpersonalen Vorgang handele.11 Diese Position muss überraschen, denn sie übersieht den z. B. von Hans Jonas phänomenologisch pointiert ausgeführten Zusammenhang von Sehen und Bewegung: „Die grundlegende Tatsache ist natürlich, dass das Sehen die Teilfunktion eines ganzen Leibes ist, der seine dynamische Verstrickung in die Umwelt im Fühlen seiner Position und seiner Positionsänderung erlebt […] und ohne die akkumulierte Erfahrung vollzogener Bewegung würden die Augen allein nicht die Kenntnis des Raumes verleihen, trotz der immanenten Ausdehnung des Gesichtsfeldes selber.“12

Es ist auffällig, dass diese Interdependenz von Sehen und Bewegung im RE weder zur Kenntnis genommen noch eingehender, aufgrund phänomenologischer oder 9 10 11 12

Hutto 2005, S. 392 f. Siehe auch Hutto / Myin 2013. Vgl. Bennett / Hacker 2003. Hutto 2005, S. 397. Jonas 1997, S. 261 (Hervorhebung durch C. T.).

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kognitionswissenschaftlicher Forschung, reflektiert wird. Noë führt selbst eine Fülle von Beispielen an, warum nicht nur die Tiefendimension des Raumes, sondern die konkreten Objektwahrnehmungen ohne die von Jonas bemerkte „akkumulierte Erfahrung“ vollzogener Bewegungen unmöglich sind. Er verweist in diesem Zusammenhang auf die von ihm sogenannten „sensomotorischen Profile“ von Objekten, die Husserl bereits unter dem Begriff der Kinästhesen phänomenologisch untersucht hat.13 Die Perzeption einer Scheibe kann aufgrund der sich dynamisch verändernden Lage des Betrachters im Raum von einer ‚runden‘ zu einer ‚elliptischen‘ Erscheinungsweise wechseln, oder ein Würfel ändert fortwährend sein Erscheinungsprofil, wenn ich ihn drehe, um nacheinander seine verschiedenen Seiten zu betrachten.14 Konkrete perspektivische Wahrnehmungserfahrungen sind somit das Ergebnis vielfältiger integrierter sensomotorischer Leistungen. Wie Noë in The Varieties of Presence betont, ist der wahrgenommene Gegenstand damit sogar auch präsent in seiner (sinnlichen) Absenz („present as absent“).15 Dies bedeutet, dass es eine – mit Husserl gesprochen – protentionale Ko-Präsenz (oder auch Appräsentation) möglicher Perspektiven auf einen Gegenstand gibt, die anzeigen, wie dieser infolge anderer Wahrnehmungen auch zugänglich sein könnte. Diese Ausführungen implizieren, dass vollständig konstituierte Objektwahrnehmungen von vielfältigen Lernprozessen abhängen. Entwicklungspsychologische Forschungen zu Objektwahrnehmungen bei Kleinkindern bestätigen diesen Sachverhalt. So deuten Elizabeth Spelkes bedeutende entwicklungspsychologische Arbeiten in diesem Feld zwar darauf hin, dass Kleinkinder bereits in einem sehr frühen Alter über die Fähigkeit verfügen, die Anordnungen von Oberflächen kohäsiven und bewegbaren Objekten zuzuordnen. Allerdings haben Versuche mit drei Monate alten Kindern ergeben, dass die Zusammengehörigkeit oder Distinktheit von Objekten noch nicht wie bei Erwachsenen den Gestalteigenschaften der homogenen Form, Farbe oder Strukturbeschaffenheit folgt. Wenn zwei stationäre Objekte mit unterschiedlichen Formen, Farben oder auch Struktureigenschaften direkt aneinander angrenzen, erkennen drei Monate alte Säuglinge, anders als Erwachsene, keine unterschiedlichen Objekte.16 Aufgrund ihrer zunächst stark limitierten (Bewegungs-)Möglichkeiten ist deshalb anzunehmen, dass, wenn Kleinkinder mit vier oder fünf Monaten langsam in der Lage sind, Objekte selbständiger zu erreichen, gestaltpsychologische Eigenschaften als „Richtschnur“ für die weitergehende Konstitution der sich ausdifferenzierenden Objektwahrnehmung 13 14 15 16

Husserl 1991, S. 154 ff. Noë 2004, S. 75 ff. Noë 2012, S. 58. Spelke 1990, S. 38.

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dienen.17 Weitere Beispiele, wie die Entwicklung multimodaler Objekt- und Ereigniswahrnehmungen, würden sich als Beleg für die entwicklungspsychologisch fundierte Theorie anführen lassen, dass eine volle ausgereifte Objektwahrnehmung auf enkulturierten Lernprozessen beruht.18 Daneben deutet der oben eingeführte Ausdruck „protentionale Ko-Präsenz möglicher Perspektiven“ bereits an, inwiefern der (personale) sensomotorische Enaktivismus das von den Vertretern des RE so stark kritisierte Konzept des praktischen Wissens mit einem strikten Anti-Repräsentationalismus zu verbinden sucht. Der entscheidende Gesichtspunkt lässt sich auf phänomenologischer Grundlage mit Husserl folgendermaßen bestimmen: Eine Repräsentation wie beispielsweise eine explizite (deklarative) Erinnerung ist ein eigenständiger Akt, der nicht an die aktuelle Präsenz des in der Erinnerung repräsentierten Gehaltes gebunden ist. Bei der Wahrnehmung sind hingegen mit dem konkret perzipierten Objekt oder Wahrnehmungsszenario vielfältige Möglichkeiten bzw. ganze Bedeutungshorizonte mit-gegenwärtig. Ein Sachverhalt, den Husserl auch als „Appräsentation“ bezeichnet, ohne dass es sich bei diesem Vorgang um einen zweiten, zur Wahrnehmung hinzukommenden Akt handeln würde.19 Noë selbst bezieht sich auf James Gibsons ökologische Theorie der Perzeption, um diesen Gesichtspunkt zu verdeutlichen. Auch Gibson nimmt in seiner Theorie der Perzeption Abstand von der Idee, dass Perzepte das Ergebnis interner Repräsentationen dreidimensionaler Objekte sind. Vielmehr handelt es sich bei der Wahrnehmung seiner Auffassung nach weder um einen inferenziellen noch um einen computationalen Vorgang, sondern um einen Prozess, bei dem aus der Erkundung der Umwelt direkt Informationen aufgenommen werden. Die Funktion der Perzeption besteht dann darin, adaptive Handlungen durchzuführen.20 Im Zentrum dieses Ansatzes steht das Konzept der Affordanz. Dies sind Handlungsmöglichkeiten, welche Objekte der Umwelt Akteuren „gewähren“ („afford“).21 In ihrer Analyse sind Affordanzen auf der Ebene der Organismus-Umwelt-Interaktion angesiedelt, was bedeutet, dass Treppenstufen z. B. nicht bezüglich ihrer Höhe in

17 Spelke 1990, S. 52. 18 Vgl. Bahrick / Lickliter 2009. 19 Husserl 1991, S. 109. Dieser Unterschied wird leicht übersehen. Hubert L. Dreyfus geht z. B. davon aus, dass sich Husserl auf eine repräsentationalistische Konstruktion der Dingwahrnehmung verpflichtet, wenn er bei der Wahrnehmung eines Gegenstandes auf die Ko-Präsenz der von ihm gerade nicht sichtbaren Seiten eingeht. Siehe Dreyfus 2002, S. 373. 20 Chemero 2011, S. 109 21 Vgl. Gibson 1979.

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Zentimetern wahrgenommen werden, sondern ob Akteure die Fähigkeiten haben, sie zu betreten.22 Affordanzen wahrzunehmen bedeutet deshalb für Gibson, ihre ökologische Bedeutung zu perzipieren. Wie dies weitergehend einzuschätzen ist, ob Affordanzen z. B. auch einen normativen Gehalt haben, Dispositionen sind oder als Funktionen betrachtet werden sollten, ist in der gegenwärtigen Forschung umstritten.23 Im sensomotorischen Enaktivismus wird ganz analog davon ausgegangen, dass Wahrnehmungen einen direkten Zugang zu Handlungsmöglichkeiten beinhalten, welche nicht aufgrund repräsentationaler Vorgänge zunächst intern abgebildet werden. Auch in diesem Zusammenhang verweist Noë darauf, dass derartige Perzeptionen das Ergebnis vielfältiger Lernprozesse sind, was erneut die Frage aufwirft, mit welchen Mitteln dieses praktische Wissen überhaupt zugänglich und erworben wird. In direkter Anlehnung an John McDowell lautet Noës grundsätzliche Antwort auf diese Frage, dass es begriffliche Kapazitäten sind, die eine enkulturierte Ausdifferenzierung der Wahrnehmungsaffordanzen überhaupt erst ermöglichen. Bevor ich auf diesen Gesichtspunkt näher eingehe, ist noch zu klären, welchen zusätzlichen Einwand die Vertreter des RE gegen den sensomotorischen Ansatz geltend machen, der ihrer Auffassung nach den Rückfall in den kognitivistischen Repräsentationalismus verdeutlichen soll. Dies führt uns zur Frage nach dem Gehalt der Wahrnehmung und dessen Erfüllungsbedingungen.

II

Die Konstitution des Wahrnehmungsgehaltes

Wenn Perzeptionen entgegen der klassischen Auffassung des Enaktivismus nicht auf praktischem Wissen basieren, dann stellt sich im Gegenzug die Frage, wie die Konstitution der Wahrnehmung stattdessen erklärt werden kann. “[A]n organism’s current sensorimotor expectation might be accounted for by appealing to its history. And, in line with a strong reading of the Embodiment-Thesis, it is not knowledge (embodied know-how) that gives perceptual experiences their intentionality and phenomenal character; rather, it is the concrete way in which organisms, actively engage with their environment. But in so engaging with their environment there is not a set of facts that organisms know, or need to know, at any level.”24

22 Lobo / Heras-Escribano / Travieso 2018, S. 7 f. 23 Siehe Chemero 2011, Kapitel 7. Vgl. auch Lobo / Heras-Escribano / Travieso 2018, S. 7. 24 Hutto / Myin 2013, S. 30.

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Wenn im Zitat davon gesprochen wird, dass perzeptuelle Erfahrungen nicht auf einem praktischen Wissen basieren, dann ist insbesondere der Hinweis auf die (evolutionäre) Geschichte sensomotorischer Interaktionen bedeutsam, um zu verstehen, wie und warum Daniel D. Hutto und Erik Myin versuchen, einen alternativen Erklärungsansatz für die Existenz phänomenaler Wahrnehmungen und ihre Einbettung in dynamische sensomotorische Interaktionen zu entwerfen. Bevor dieser alternative Ansatz kurz skizziert wird, ist festzuhalten, wie ebenfalls aus dem Zitat hervorgeht, dass auch dem RE zufolge basale Wahrnehmungen intentionaler Natur sind und ihnen ein qualitativer bzw. phänomenaler Charakter nicht abgesprochen wird. Umso überraschender mag es deshalb erscheinen, dass der „radikale“ Ansatz des RE nach Aussage ihrer Vertreter darin besteht, die Behauptung zu verteidigen, dass zumindest einigen perzeptiven Prozessen überhaupt keine Gehalte zukommen.25 Bei der Rekonstruktion und Frage nach der Validität dieser Aussage ist jedoch zunächst zu berücksichtigen, dass der von Hutto und Myin vertretene Anti-Repräsentationalismus in einer Argumentationslinie vom späten Ludwig Wittgenstein bis Huw Price steht.26 Fragen nach dem intentionalen Gehalt werden dabei gerade nicht mehr so aufgefasst, dass erklärt werden müsste, wie eine mentale Bedeutung überhaupt eine externe Tatsache korrekt abbilden kann. Man kann diesen Gesichtspunkt auch so reformulieren, dass die Begründungsbedürftigkeit einer korrespondenztheoretischen Auffassung der Wahrheit zurückgewiesen wird.27 Nichtsdestotrotz lautet im Rahmen der phänomenologischen Tradition der direkte Einwand gegen eine mögliche gehaltslose Form der Ur-Intentionalität in RE, dass intentionale Zustände – wie auch immer das Verhältnis zwischen intentionalem Akt, Gehalt und Realität letztendlich aufzufassen ist – nicht ohne Gehalte auftreten können. Wenn sensomotorische Interaktionen intentional strukturiert sind und phänomenale Aspekte aufweisen, dann sind sie bewusst auf etwas gerichtet, sodass bereits analytisch (bzw. definitorisch) folgt, dass intentionale Zustände einen Gehalt haben müssen.28

25 Hutto / Myin 2017, S. 10 ff. 26 Diese Traditionslinie wird bei Hutto und Myin nicht immer deutlich, erschließt sich aber z. B. durch die Referenzen auf Huw Price in Hutto / Myin 2017, z. B. auf S. 119 f. 27 Price 2011, S. 11 und S. 26. 28 Diesen Einwand macht auch Evan Thompson in seiner Rezension von Evolving Enactivims. Basic Minds Meet Content geltend, doch geht er nicht weiter darauf ein, dass, anders als in vorhergehenden Publikationen, Hutto und Myin auf diesen Gesichtspunkt eine sich zum Naturalismus bekennende Antwort geben. Vgl. Thompson 2018.

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Die Antwort auf derartige Einwände lautet, dass phänomenalen Wahrnehmungsszenarien kein Gehalt im klassischen Sinne der analytischen Philosophie zukommt.29 Damit rekurrieren sie auf eine Philosophietradition, die den Inhalt intentionaler Zustände als propositionale Gehalte auffasst. Ein Merkmal solcher propositionalen Gehalte besteht u. a. darin, dass sie semantisch bewertbar sind, also Wahrheits- bzw. Erfüllungsbedingungen haben. Ein weiteres Merkmal besteht darin, dass sie intensionale Kontexte erzeugen. Sätze wie „Peter glaubt, dass der Abendstern die Venus ist“ und „Peter glaubt, dass der Morgenstern die Venus ist“, sind sinnverschieden, besitzen also einen unterschiedlichen Gehalt, obwohl sie jeweils extensionsgleich sind, also die gleiche Objektreferenz aufweisen.30 Erst die Entwicklung und Enkulturation in soziokulturelle Systeme führt für die Vertreter des RE zur Entwicklung von intentionalen Gehalten im oben beschriebenen Sinne und den damit einhergehenden inferenziellen kognitiven Fähigkeiten. Die These ist diesbezüglich, dass nicht nur Wahrnehmungen von Tieren und Kindern vor dem Spracherwerb in diesem Sinne „gehaltlos“ sind, sondern auch vielfältige interaktive sensomotorische Vorgänge bei Erwachsenen.31 Daran schließt sich direkt die Frage an, wieso der Maßstab für die Existenz von intentionalen Wahrnehmungsgehalten im RE eigentlich durch eine bestimmte (und eben keinesfalls unumstrittene) Forschungstradition der analytischen Wahrnehmungsphilosophie vorgegeben sein soll. Immerhin könnte der Gehalt der Wahrnehmung sich auch am Konzept des phänomenalen Gehaltes der Wahrnehmung orientieren, der in der phänomenologischen Forschungstradition gerade nicht auf sprachliche bzw. propositionale Entitäten reduziert wird.32 Man könnte den Eindruck gewinnen, dass der Streitpunkt, welcher philosophische Ansatz zur Bestimmung des perzeptuellen Gehaltes dienen soll, lediglich um Definitionen kreist. Es geht jedoch um einen weitaus fundamentaleren Zusammenhang. Wie Hutto und Myin ausführen, verwerfen sie deshalb die Annahme, dass basale mentale Zustände grundsätzlich auf intentionalen Gehalten basieren, weil dies einer naturalistischen Erklärung kognitiv-mentaler Gehalte entgegenstehen würde.33

29 Hutto / Myin 2017, S. 10 ff. Was Hutto und Myin unerwähnt lassen, ist die deutliche Tendenz in der analytischen Wahrnehmungsphilosophie der letzten zwanzig Jahre, neben einem propositional strukturierten begrifflichen Wahrnehmungsgehalt auch einen nicht-begrifflichen Perzeptionsgehalt zu verteidigen. Vgl. dazu Bermúdez / Cahen 2015. 30 Beckermann 2001, S. 271. 31 Vgl. Hutto / Satne 2017. 32 Vgl. Dreyfus 2002. 33 Hutto / Myin 2017, S. 16.

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Um einen solchen naturalistischen Theorierahmen zu entwickeln, integrieren sie deshalb Ruth Millikans teleosemantischen Funktionsbegriff und das Konzept des intentionalen repräsentationalen Zeichens in den RE-Ansatz. (Eigen-)Funktionen sind dabei nach Millikan Merkmale von Entitäten, die zu ihrer eigenen Reproduktion wie z. B. im Fall des Herzens unter selektiven Bedingungen kausal beitragen.34 Intentionale repräsentationale Zeichen sind diesbezüglich Funktionen wie z. B. die wiederkehrende repräsentationale Wahrnehmung (Detektierung) von Schlangen, die deshalb vom Wahrnehmungssystem reproduziert werden, weil sie ihre Nutzer (z. B. Erdmännchen) anleiten, zu fliehen, und so positiv selektioniert worden sind (helfen dem Erdmännchen beim Überleben).35 Da Millikans teleosemantische Theorie sowohl repräsentational als auch darauf ausgerichtet ist, die Erzeugung von Zeichen für intentionale Gehalte zu bestimmen, stellt sich die Frage, inwiefern sie überhaupt geeignet sein könnte, die ihr im RE zugedachte, naturalistische Erklärungsfunktion zu übernehmen. Die Antwort lautet, dass der von Millikan angegebene Selektionsmechanismus nicht ausreicht, einen semantisch spezifizierbaren Gehalt hervorzubringen. Es gibt auf dieser Beschreibungs- und Erklärungsebene deshalb auch keine Repräsentationen, da kausale Vorgänge, aus denen die basalen Formen intentionaler Repräsentationen nach Auffassung der Teleosemantik hervorgehen, extensionaler Natur seien. Intensionale Gehalte lassen sich demnach auf dieser Grundlage für basale Wahrnehmungen nicht angeben.36 Hutto und Myin reinterpretieren ihren Ansatz deshalb auch als Teleosemiotik, um ihn in den genannten Hinsichten von Millikans eigener Theorie abzugrenzen.37 Auch wenn Hutto und Myin das Gegenteil behaupten, müssen sie sich der Frage stellen, ob dieser nahezu physikalistische Ansatz nicht insbesondere unter anthropologischen Gesichtspunkten die Natur und Funktion der Wahrnehmung grundlegend verfehlt. Anders als im eliminativen Materialismus leugnen die Vertreter eines RE zwar nicht die Existenz der phänomenalen Struktur und Dynamik 34 Vogel 2010, S. 915. 35 Millikan 2008, S. 101 ff. Intentionale Zeichen sind gleichzeitig natürliche Zeichen, die aufgrund einer kausalen Kovarianz, etwa das Glucken der Henne und das Anzeigen von Futter, im Rahmen einer lokalen Domäne (Bereich möglicher Signifikate) in einer Isomorphiebeziehung stehen. Nur besteht der Unterschied beim intentionalen Zeichen nach Millikan darin, dass intentionale Zeichen als natürliche Zeichen aufgrund bestimmter Merkmale (das Glucken dient den Küken als Zeichen für eine Futterquelle) positiv selektioniert worden sind. Vgl. dazu insbesondere Millikan 2008, S. 110 und S. 118. 36 Hutto / Myin 2013, S. 79. 37 Hutto / Myin 2013, S. 81.

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der Wahrnehmung selbst. Aufgrund ihrer extensionalistischen, oben skizzierten Teleosemiotik kann jene aber nichts anderes als ein Epiphänomen sein, weil in diesem Theorierahmen derartige Perzeptionsgehalte als solche keine Erklärungsfunktionen für menschliche Interaktionen übernehmen können. Das wird an folgenden Überlegungen deutlich. Wie die Ausführungen zum sensomotorischen Enaktivismus ergeben haben, ist die Wahrnehmung aufgrund ihrer spezifischen Perspektivität immer auf konkrete Merkmale von sich verändernden Objekten und Wahrnehmungsszenarien gerichtet. In ihrer temporalen Entfaltung erscheint das Wahrnehmungsprofil eines Gegenstandes, beispielsweise von einem Geldstück, manchmal kreisförmig oder auch elliptisch je nach Lage des Beobachters zum Gegenstand. Man kann diesen Gesichtspunkt mit Liliana Albertazzi auch so verallgemeinern, dass das Wahrnehmungserleben eben nicht einen direkten Zugang zu einem (extensional verstandenen) mathematisch-physikalisch homogenen Raum beinhaltet, sondern der dem Subjekt erscheinende Raum mit seinen Gegenständen, Qualitäten, affektiven Komponenten und Atmosphären davon unterschieden werden muss.38 So hat auch die Zusammenfassung der entwicklungspsychologischen Untersuchungen deutlich gemacht, dass es gar nicht möglich ist, das menschliche Perzeptions- und Interaktionsverhalten im Hinblick auf die Zuordnung von Gestalteigenschaften und Affordanzen korrekt zu erklären und zu verstehen, wenn die perspektivischen Erscheinungsweisen von Gegenständen und ihre Relationen zum restlichen phänomenalen Wahrnehmungsraum des Subjekts in basalen Interaktionen außer Acht gelassen werden. Daraus ergibt sich einerseits, dass die Teleosemiotik des RE dem subjektzentrierten phänomenalen Gehalt der Wahrnehmung keinerlei Wirksamkeit für die menschlichen Erlebnis-, Erkenntnis- und Verhaltensweisen einräumen kann, woraus ihr implizit epiphänomenaler Status im RE folgt. Andererseits verdeutlicht dies, dass die anthropologische Bestimmung der Wahrnehmung im RE grundlegend verfehlt wird, weil die Bedeutung von phänomenalen Gestaltqualitäten für basale sensomotorische Interaktionen und ihre soziale Ausdifferenzierung weder Berücksichtigung finden noch gar geklärt werden. Deshalb stellt sich die Frage, welche alternativen Theorieansätze sich anbieten, um eine Anthropologie der Wahrnehmung weiter auszuarbeiten, welche die menschliche Perzeption als Vollzug einer Verschränkung von Leib und Geist in einer sozial-kulturell geteilten Welt mit zu berücksichtigen sucht.39 Im Folgenden gehe ich noch einmal näher auf die sensomotorische Konzeption ein, um zu prüfen, ob sich dieser enaktive Ansatz in entsprechender Weise weiterentwickeln lässt. 38 Albertazzi 2013, S. 269. 39 Schlette 2017, S. 33.

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III

Das Begriffsvermögen als Bedingung von Perzeptionen

Dass ein zentrales Explanans humaner Perzeptionsleistungen insbesondere in der Erklärung ihrer sozial-kulturellen Konstitution liegt, ist offensichtlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass die enkulturierte Wahrnehmung von technischen Geräten, Bildern oder Schriftzeichen direkt zu einer Ko-Präsenz ihrer Funktionen oder unterschiedlichen Bedeutungshorizonte führen kann. Auf diesen Sachverhalt weist Alva Noë hin, um dafür zu argumentieren, dass die Verwendung von Begriffen für die Evokation von Perzeptionen grundsätzlich unverzichtbar ist. Damit stellt sich allerdings die Frage, ob Noë den Wahrnehmungsgehalt nicht letztendlich auf eine Spielart von Propositionen reduziert, die den perzeptiven Prozessen in vielen sensomotorischen Interaktionen nicht gerecht wird. Denn die Verwendung von Begriffen wird in der Forschung häufig so aufgefasst, dass sie als Konstituenten propositionaler Gehalte fungieren, über die ein Subjekt verfügen muss, um einen solchen Gehalt denken oder verbalisieren zu können.40 Noë selbst charakterisiert die vorherrschende Theorietradition der Begriffsverwendung, die er bis auf Immanuel Kant und Friedrich L. G. Frege zurückführt, deshalb so, dass sie ihr Augenmerk auf explizites Verstehen richtet. Begriffe sind in diesem Kontext eng mit Urteilsformen verbunden, die in kategorialen Explikationen, inferenziellen Schlussverfahren oder begrifflichen Subsumtionen angewendet werden und sich von Wahrnehmungen zumindest prima facie stark unterscheiden.41 So hat Hubert L. Dreyfus in einflussreichen Publikationen und in Anlehnung an Maurice Merleau-Ponty seine Position zu begründen versucht, dass wahrnehmungsbasierte Fähigkeiten mit zunehmender Kompetenz bis hin zum Expertentum – anders als beim Anfänger – gerade nicht mehr auf inferenziellen oder reflexiven Prozessen beruhen: “The expert driver, generally without any awareness, not only feels when slowing down on an off-ramp is required, he or she knows how to perform the appropriate action without calculating and comparing alternatives. What must be done, simply is done.”42

Es ist fraglich, ob Dreyfus mit seiner Beschreibung das Phänomen des habitualisierten, fähigkeitsbasierten Autofahrens vollständig korrekt erfasst, wenn er das praktische Wissen des Fahrers, wie genau die Handlungsabläufe zu vollziehen sind, 40 Bermudez / Cahen 2015, S. 5. 41 Noë 2015, S. 2. 42 Dreyfus 2002, S. 372.

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als bewusstlosen Vorgang bewertet („generally without any awareness“). Darauf wird noch einzugehen sein. Trotzdem ist es sicherlich für die personale Beschreibungsebene zutreffend, dass das reflexive Abwägen von alternativen Handlungsmöglichkeiten in derartigen sensomotorischen Interaktionen nicht vorkommt. Die Verteidigung eines durchgängigen begrifflichen Gehaltes der Wahrnehmung muss deshalb der phänomenologischen Tatsache Rechnung tragen, dass Perzeptionen häufig nicht das Resultat reflexiv-deliberativer oder urteilender Prozesse sind. Aus diesem Grund argumentiert Noë dafür, dass Begriffe in unterschiedlichen Modi des Verstehens ihre Anwendung finden, von denen der Urteilsmodus nur einer unter mehreren möglichen ist und z. B. vom perzeptiven Modus unterschieden werden muss. Wie lässt sich eine solche Binnendifferenzierung in unterschiedliche Begriffsverwendungen überzeugend begründen? Ausgangspunkt von Noës Überlegungen sind die bereits erwähnten, begrifflich-symbolisch enkulturierten Wahrnehmungsleistungen des Lesens: Wenn man einmal eine bestimmte Schriftsprache wie die des Englischen beherrscht, dann ist in der Betrachtung der Schriftzeichen die Bedeutung eines Wortes oder Satzes beim Lesen direkt ko-präsent, ohne dass dieser Vorgang auf expliziten Abwägungen oder Urteilsformen der Art ‚X bedeutet, dass p‘ beruhen würde.43 Die symbolischen Ausdrucksqualitäten von Gegenständen, die in Wahrnehmungsszenarien eingebettet sind, zeigen sich, so die zentrale Idee, aufgrund phylo- und ontogenetischer Enkulturationsprozesse im praktischen Umgang mit den Dingen immer schon als mit-bewusst an. Diese Überlegungen werden von Noë auf die gesamten alltäglichen Wahrnehmungsleistungen erweitert. In der Wahrnehmung gibt es einen direkten verstehenden Zugang zu Entitäten, die wir als diese oder jene Gegenstände, Eigenschaften oder Prozesse wahrnehmend erkennen, ohne dass dies auch nur ein demonstratives Urteil der Art wie „Diese Farbe dort“ erfordern würde. Dementsprechend führt Noë zu diesem Punkt aus: „Concepts are geared in before we are even in a position to ask what something is or to make a judgement about it.“44 Begriffe im perzeptiven Modus des Verstehens haben diesem Ansatz gemäß keine urteilende oder repräsentierende Funktion. Vielmehr ermöglichen sie überhaupt erst alltägliche Wahrnehmungen; sie sind also, wie schon ausgeführt, in ihren symbolischen Dimensionen der protentionalen Ko-Präsenz der Wahrnehmung immer schon „eingeschrieben“.

43 Noë 2015, S. 3. 44 Noë 2015, S. 3.

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IV

Weitere anthropologische Gesichtspunkte in der Kontroverse um den Wahrnehmungsgehalt

Die Besonderheit von Noës sensomotorischem Ansatz besteht darin, dass er Perzeptionen als eine spezielle Form des begrifflichen Verstehens zu bestimmen sucht; dabei wird dieses Vermögen keinesfalls auf den begrifflichen Urteilsmodus reduziert, sondern eine deutliche Unterscheidung von Anwendungen vorgenommen, wie sie in der Mathematik und Logik zu finden sind. Auf dieser Grundlage stehen sich Begriffs- und Perzeptionsvermögen nicht einfach dichotomisch gegenüber, sondern es soll verständlich werden, inwiefern Begriffe Konstituenten von perzeptiven Affordanzen im sozio-kulturellen Raum sein können und beide Arten des Verstehens zugleich in einem engen Wechselverhältnis stehen. Das Begriffsvermögen wird in diesem Zusammenhang deshalb auch nicht als eine zusätzliche Fähigkeit angesehen, die der Mensch im Zuge der Enkulturation neben anderen Fähigkeiten auch noch erwirbt. Vielmehr wird sein gesamtes Weltund Selbstverhältnis dadurch transformiert, dass es den verstehenden Zugang zur kulturell vermittelten Wahrnehmung oder auch zu sozialen Interaktionen überhaupt erst ermöglicht. In dieser Hinsicht kann man dafür argumentieren, dass sich diese Transformation bis in die Konstitution des menschlichen Leibes hinein nachweisen lässt, was in verkörperungstheoretischen Ansätzen – zu denen der sensomotorische Enaktivismus eindeutig gehört – einen besonderen Schwerpunkt der gesamten anthropologischen Untersuchungen bildet.45 Der forschungstheoretische Vorteil eines derartigen Ansatzes besteht darin, dass der Übergang vom begrifflichen Gehalt der Wahrnehmung zu einer rein begrifflichen Explikation eines Sachverhaltes besser nachvollziehbar erscheint, als wenn man diesen Übergang von einem nicht-begrifflichen Gehalt der Wahrnehmung oder gar gehaltlosen Perzeptionen aus – wie im RE – zu erörtern sucht. Anders als z. B. der naturalistische Ansatz des RE entzieht sich diese Konzeption allerdings einem reduktiven Forschungsprogramm, das begriffliche Gehalte in kognitiven Prozessen auf nicht-begriffliche Funktionen zu reduzieren bzw. semantische Gehalte aus ihnen mithilfe weiterer Zusatzannahmen abzuleiten versucht. Dies muss aber nicht als Nachteil verstanden werden, wenn man bedenkt, dass der vom RE präferierte, naturalistische Erklärungsansatz damit erkauft wird, dem phänomenalen Gehalt der Wahrnehmung (den qualitativen Strukturen und Prozessen der Erfahrung) die kausale Relevanz in basalen Perzeptions- und Interaktionsprozessen abzusprechen. Deshalb muss sich der reduktive Ansatz im RE mit der Frage auseinandersetzen, ob er die zu erklärenden Phänomene an diesem Punkt 45 Etzelmüller / Tewes 2016, S. 4 ff.

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nicht unzulässig reduziert und aus dem radikal enaktiven Forschungsprogramm letztendlich eliminiert. Die Frage, welche alternativen ontologischen Ansätze gegenüber einer solchen physikalistischen Position bestehen, habe ich an anderer Stelle untersucht; sie kann hier nicht weiter vertieft werden.46 Abschließend wende ich mich einigen zentralen Einwänden gegen bzw. Fragen an die sensomotorische Konzeption zu, welche die Interpretation sensomotorischer Interaktionen und die Natur der Wahrnehmung insgesamt betreffen.

V

Intellektualismus, Wahrnehmungsillusionen und die Feinkörnigkeit der Wahrnehmung

Ein Einwand gegen die oben skizzierte Deutung des sensomotorischen Ansatzes könnte unter Bezugnahme auf Dreyfus lauten, dass sie auf einer unzulässigen intellektualistischen Auffassung von Perzeptionen bzw. dem Begriffsvermögen des Menschen beruht. Nach Dreyfus sind begriffliche Kapazitäten zwar wichtig für die Enkulturation neuer fähigkeitsbasierter Wahrnehmungen und können auch eine bedeutende Rolle für jene Perzeptionsleistungen spielen, die auf einer Unterbrechung von automatisierten Routineabläufen beruhen. Bereits automatisierte Handlungs- und Wahrnehmungsschemata werden jedoch unbewusst vollzogen, wie das Autofahrerbeispiel zeigen sollte.47 Sie kommen also ohne begriffliche und aufmerksamkeitsgesteuerte Leistungen von Akteuren aus. Gegenüber dieser Position ist z. B. von John Sutton et al. geltend gemacht worden, dass sie auf einer antiintellektualistischen Verkürzung habitualisierter und fähigkeitsbasierter sensomotorischer Handlungsvollzüge beruht. Fähigkeitsbasierte Handlungen, wie sie im Leistungssport zu finden sind, schließen gerade nicht aus, dass sie aufmerksam und flexibel vollzogen werden, da es dadurch erst möglich wird, sich auf sich ständig verändernde dynamische Spielabläufe situationsadäquat einzustellen.48 Diese Form der Aufmerksamkeit ist jedoch weder reflexiv noch erfordert sie repräsentationale Akte, sondern der Akteur reagiert aufgrund der situationsabhängigen Ko-Präsenz habitualisierter Handlungsschemata, die er bewusst aufgrund einer kohärenten Erfassung der Gesamtsituation anwendet. Da dieser Vorgang somit die aktive Bestimmung der Situation und die dazu passende (angemessene) Anwendung eines bewusst selektierten Handlungsschemas erfordert, wird deutlich, dass es sich um eine synthetische Leistung handelt, die ohne eine 46 Vgl. Tewes 2014. 47 Dreyfus 2002, S. 372. 48 Vgl. Sutton et al. 2011.

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begriffliche Erschlossenheit des Wahrnehmungsfeldes nicht möglich erscheint. Zudem ist es keinesfalls plausibel, davon auszugehen, dass zum Beispiel ein Autofahrer selbst bei fast vollständig automatisierten Abläufen gänzlich unbewusst sein Fahrzeug lenkt. Vielmehr ist zur Vermeidung von Unfällen und für die notwendige Anpassung an den Verkehr zumindest eine minimale Form des prä-reflexiven Bewusstseins erforderlich.49 Dass derartige sensomotorische Interaktionen und Anpassungsleistungen auch auf einem perzeptiven Begriffsmodus basieren, stellt dann gerade keinen Widerspruch dar, sondern erklärt erst die situationsangemessene Reaktion des Fahrers. Auf den Erwägungen zu den unterschiedlichen Modi der Begriffsverwendung basieren dann auch die Antworten des sensomotorischen Enaktivismus zu sogenannten „Wahrnehmungsillusionen.“

Abbildung 1 Müller-Lyer-Illusion (Grafik: Interdisziplinäre Anthropologie)

Bereits Gareth Evans hat dafür argumentiert, dass z. B. die Müller-Lyer-Illusion (siehe Abb. 1) die Annahme eines nicht-begrifflichen Gehaltes der Wahrnehmung erforderlich mache. Eine Linie, die von zwei spitzen Winkeln links und rechts eingeschlossen ist, die mit den Linienenden zusammenfallen, erscheint kürzer als eine gleich-lange Linie, die jeweils rechts und links von stumpfen Winkeln eingeschlossen wird. Der Effekt ist somit, dass die Linien für den Betrachter unterschiedlich lang erscheinen, obwohl sie eine identische Länge aufweisen. Aus diesem Grund könne aber der perzeptuelle und urteilende Gehalt nicht jeweils begrifflicher Natur sein, da sie sonst in einem direkten Widerspruch zueinander stehen würden.50 Dazu ist aus enaktiv-phänomenologischer Sicht zu bemerken, dass die Erscheinungsweisen von Mustern, Formen und Gestalten vom holistischen Gesamtzusammenhang der Perzeption abhängen, von der die rein begriffliche Spezifikation 49 Vgl. Tewes 2018. 50 Evans 1982‚ S. 123. Diese Position vertritt in der Philosophie der Wahrnehmung insbesondere auch Crane 2000, S. 150 f.

Wahrnehmungsgehalte und begriffliche Kapazitäten

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– wie bei der Längenbestimmung der Linie – gerade abstrahiert. Deshalb gibt es zwischen den beiden Gehaltsformen auch keinen Widerspruch. Die im perzeptiven Modus involvierten Begriffe beziehen sich auf die holistische Gesamterscheinung einer Wahrnehmung, wohingegen im rein begrifflich-mathematischen Urteilsmodus der Längenbestimmung von der konkreten Erscheinungsweise der Linien gerade abgesehen wird. Die in beiden Fällen involvierten begrifflichen (Gesamt-) Gehalte differieren deshalb genauso wie die Form ihrer Instantiierung.51 Die Wahrnehmungserscheinung der Müller-Lyer-Figur enthält deshalb auch noch keinen inhärenten Wahrnehmungsirrtum; erst wenn von dem perzeptiven Modus der Gesamterscheinung auf die rein begrifflich-geometrische Relation einiger ihrer Elemente geschlossen wird (die Linien sind gleich lang), kann es zu einem Fehlurteil kommen.52 Eine zusätzliche und maßgebliche Motivation, perzeptuelle Gehalte gegenüber begrifflichen Gehalten in der Wahrnehmung abzugrenzen, besteht in der Annahme, dass die Reichhaltigkeit und Feinkörnigkeit der perzeptuellen Erfahrung sich nicht darin erschöpft, über welche Begriffe oder Überzeugungen ein Akteur verfügt. Wenn wir auf eine in voller Blüte stehende Blumenwiese schauen oder auf eine hochdifferenzierte Farbskala blicken, dann, so das Argument, verfügen wir über eine Reichhaltigkeit und Feinkörnigkeit des Wahrnehmungsgehaltes, die das begriffliche Vermögen der Betrachter weit übersteigt.53 Diese Schlussfolgerung wird auch nicht dadurch als ungültig erwiesen, wenn man wie John McDowell betont, dass auch bei jeder Farbnuancierung, für die dem Betrachter kein Name zur Verfügung steht, ein demonstrativ-begriffliches Urteil der Art „Diese Farbe dort“ gebildet werden könne.54 Denn man kann die Pointe des Argumentes auch so verstehen, dass lediglich gezeigt werden soll, dass Menschen Zugang zu vielfältigen nicht-begrifflichen Gehalten in der Perzeption haben. Die stärkere These, dass die Feinkörnigkeit der Wahrnehmung sich der begrifflichen Spezifizierbarkeit ontologisch entzieht, wäre hingegen weitergehend zu begründen.

51 Eine Möglichkeit, diesen Sachverhalt weiter zu begründen, besteht in der Unterscheidung von intersubjektiven oder universalen Eigenschaften bzw. Abstrakta und instantiierten Eigenschaften. Während erstere nach George Bealer einem Intuitionsvermögen zugänglich sind, z. B. im mathematischen Vollzug, sind letztere in sensomotorischen Interaktionen erfahrbar. Vgl. Bealer 1999, S. 246 ff. 52 Entscheidend ist, dass es zu einer Abweichung beider Gehaltsformen kommen kann, aber selbstverständlich nicht muss. Eine grundsätzliche Inkommensurabilität der Inhalte unterschiedlicher begrifflicher Modi liegt deshalb nicht vor. 53 Peacocke 1992, S. 68; Bermudez 2000, S. 50. Vgl. auch Bermudez / Cahen 2015. 54 Vgl. McDowell 1994.

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Anders als McDowell, der ebenfalls davon ausgeht, dass Wahrnehmungsgehalte immer schon begrifflich konstituiert sind, zweifelt Noë bereits an der existierenden Feinkörnigkeit des Wahrnehmungsgehaltes. Perzeptuelle Gehalte seien grundsätzlich viel weniger ausdifferenziert, als es Vertreter eines nicht-begrifflichen Wahrnehmungsgehaltes behaupten. Vielmehr hält er sie für unbestimmt, obwohl sie sich aufgrund nachfolgender sensomotorischer Interaktionen immer umfassender bestimmen lassen.55 Diese Antwort lässt jedoch Fragen offen: Beruht die angenommene Feinkörnigkeit der Wahrnehmung tatsächlich auf einer Illusion, wie Noë zu glauben scheint, oder ist sie nicht schlichtweg eine phänomenologische Tatsache?56 Welches argumentative Gewicht haben hier überdies die empirischen Belege, die Noë zur Stützung seiner These heranzieht, wie z. B. kognitionswissenschaftliche Wahrnehmungsexperimente? Diese Fragestellungen, denen im Rahmen dieses Aufsatzes nicht mehr weiter nachgegangen werden kann, weisen darauf hin, dass eine umfassende anthropologische Bestimmung des Wahrnehmungsgehaltes im Enaktivismus noch geleistet werden muss.

Fazit Wie an den vorangegangenen Ausführungen deutlich wurde, gibt es innerhalb des enaktiven Theorierahmens nahezu diametrale Ansätze, den Gehalt von Wahrnehmungen näher zu bestimmen. Dabei zeigte die Analyse auf, dass zwar der Anti-Repräsentationalismus eine gemeinsame Ausgangslage des sensorischen wie auch des radikalen Enaktivismus bildet, aber die jeweiligen anthropologischen Grundannahmen und Konsequenzen nicht miteinander kompatibel sind. Für Vertreter des klassischen Enaktivismus wie Evan Thompson und Alva Noë ist der phänomenale Gehalt von Perzeptionen eine irreduzible Tatsache, die selbst als Explanans für sensomotorische Interaktionen und den sinnhaften Zugang des Menschen zur Welt fungiert, wohingegen im RE ein rein funktionalistischer Erklärungsansatz präferiert wird. So impliziert der RE letztendlich eine „hybride“ Auffassung vom Menschen. Denn sowohl der Übergang (phylo- und ontogenetisch) wie auch das Nebeneinander von Intentionen mit und ohne Gehalt in der Perzeption bleiben im RE unklar und ihre Integration in die menschliche Existenz erläuterungsbedürftig. Für den sensomotorischen Enaktivismus von Noë ist dieser integrierende Faktor das Begriffsvermögen. Zwar geht Noë von vielfältigen Kontexten der Begriffsverwendung aus, doch hat seine Konzeption den Vorzug, dass sowohl der Übergang 55 Noë 2004, S. 183 und S. 191 f. 56 Vgl. Jonas 1997.

Wahrnehmungsgehalte und begriffliche Kapazitäten

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vom begrifflichen Gehalt der Wahrnehmung zu rein begrifflichen Inhalten wie auch die symbolisch-sozialen Transformationen des Wahrnehmungsgehaltes besser erklärbar sind als im RE. Allerdings bleibt zu erörtern, ob es nicht auch Perzeptionsgehalte gibt, die vom Menschen zwar erlebt, aber eben nicht begrifflich erfasst werden. Wie auch immer dieser in der Forschung strittige Gesichtspunkt letztendlich zu bewerten ist, bleibt grundsätzlich die Ausbildung und Entwicklung von Begriffen im Hinblick auf Perzeptionen klärungsbedürftig und es ist die weitergehende systematische Frage zu stellen, welcher Stellenwert dabei zum Beispiel sensomotorischen Schemata oder auch präverbalen Protobegriffen zukommt.57

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57 Vgl. zu diesen Aspekten Mandler 2004.

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Kontakt PD Dr. Christian Tewes Universität Heidelberg Sektion für Phänomenologie Voßstrasse 4 69115 Heidelberg E-Mail: [email protected]

III Berichte

Annika Hand et al.

(mit Giovanna Caruso, Camilla Croce, Kathrin Franz, Franziska Neufeld, Chiara Pasqualin, Danka Radjenović, Anne Kirstine Rønhede, Agustina Sforza und Sihan Wu)

Graduiertenschule Herausforderung Leben an der Universität Koblenz-Landau – Entwicklungen1 Graduiertenschule Herausforderung Leben – Entwicklungen

Herausforderung Leben – der Titel der seit nunmehr 2011 bestehenden Graduiertenschule (GS) ist Programm für die in den vielfältigen Forschungsprojekten analysierten philosophischen und interdisziplinären Inhalte ebenso wie für die in der GS aktiven Protagonisten. Im Sinne der experientia bedeutet die Herausforderung eine Erfahrung, die das Leben an jene stellt, die es vollziehen. Es sind die Lebenserfahrungen, die die Persönlichkeit eines Menschen prägen, die ihn zum mitteilsamen Ratgeber für Andere machen können, die es ihm ermöglichen, Herausforderung auch im Sinne der provocatio zu verstehen: Seine aktive Herausforderung des Lebens selbst, in der er nicht lediglich auf die vom Leben gebotenen Erfahrungen reagiert. Ganz im Geiste Heraklits wird hier die spannungsreiche Herausforderung Ursprung der Gedanken, die Widersprüchlichkeit, das Widersetzende, die Entzweiung zum Ort neuer kreativer Einfälle und Lösungen, die stets Handschrift und Stil derjenigen Person haben, welche das Leben aktiv herausfordert, sich in all seinen Möglichkeiten und Dissonanzen zu zeigen. Diesen zwei Seiten der Medaille Herausforderung Leben widmen sich internationale Nachwuchswissenschaftlerinnen aus der Philosophie und angrenzenden Disziplinen im Rahmen der GS am Campus Landau der Universität Koblenz-Landau. Die GS unter der Leitung von Prof. Dr. Christian Bermes (Sprecher) und Dr. Annika Hand (Koordination) wird dankenswerterweise auch in der zweiten Förderphase von 2016–2020 aus Mitteln des Hochschulpakts 2020 für die Frauenförderung finanziert und konnte mit dieser umfänglichen Unterstützung ihr Konzept verfestigen, durch zahlreiche Tagungen, Workshops und Werkstattgespräche Kooperationen pflegen und erweitern und 1  Der Bericht schließt sich an jenen im Jahrbuch Interdisziplinäre Anthropologie 5/2017: Lebensspanne 2.0 (S. 205–216) an, in dem die inhaltliche Ausrichtung der beiden Förderphasen 2011–2015 und 2016–2020, die Strukturen der Graduiertenschule sowie deren bis dato ausgerichtete Veranstaltungen ausführlich thematisch wurden. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 G. Hartung und M. Herrgen (Hrsg.), Interdisziplinäre Anthropologie, Interdisziplinäre Anthropologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28233-2_11

Annika Hand et al.

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kann es hochmotivierten und zielstrebigen Doktorandinnen und Habilitandinnen ermöglichen, ihre Forschungsanliegen auf höchstem wissenschaftlichen Niveau in einer Atmosphäre kreativen und offenen Austauschs zu verwirklichen.

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Konzeption der Graduiertenschule

Insgesamt sind seit Bestehen der GS 2011 in ihr 18 Promotionsprojekte sowie 2 Habilitationsvorhaben verortet worden; auch eine Anschubfinanzierung für ein Drittmittelprojekt in der PostDoc-Phase wurde neben den beiden Habilitationsstipendien nun in der zweiten Förderphase vergeben. Der Erfolg der Konzeption der GS gründet nicht zuletzt in der hohen Internationalität, die sich sowohl in der Herkunft und der früheren Wirkungsstätten der Stipendiatinnen (so etwa Argentinien, China, Dänemark, Israel, Italien und Serbien) und der Gäste der GS (bspw. Belgien, Brasilien, China, Italien, Norwegen, Österreich) zeigt, als auch darin, dass die Stipendiatinnen rege und mit großem Erfolg an internationalen Tagungen teilnehmen und die Möglichkeiten des internationalen Austauschs mit großem Gewinn für ihre Forschungen nutzen (u. a. Burkina Faso, Norwegen, Italien, Serbien). Einen Schwerpunkt der GS bildet das Anliegen, es den Stipendiatinnen zu ermöglichen, innerhalb der Philosophie wie auch in weiteren Geisteswissenschaften, den Kultur- und angrenzenden Lebenswissenschaften tragfähige Netzwerke zu knüpfen. Im Verlauf der nun bald zehn Jahre, in denen die GS ihre Strukturen weiter ausbauen und etablieren konnte, zeigt sich zudem, dass der Zusammenhalt, die Freude am Austausch und die freundschaftlichen Verbindungen, die sich aus den langjährigen gemeinsamen Forschungsinteressen ergeben haben, auch weit über die aktive Zeit der Nachwuchswissenschaftlerinnen bestehen bleiben. Ein sich selbst gestaltendes Alumni-Konzept, das sich zudem inzwischen über weitere universitäre Netzwerkorte freuen darf, sind doch nicht wenige der ehemaligen Stipendiatinnen inzwischen in renommierten Positionen etwa in der Theoretischen Soziologie an der Universität Hannover, an den Universitäten Eichstätt, Marburg sowie Würzburg wie auch an der Universität Koblenz-Landau selbst. Die Offenheit im Austausch und die Diskussionsfreude der ehemaligen und aktuellen Mitglieder der GS findet ihren Raum nach wie vor in den vielfältigen Foren, wie etwa Tagungen, Workshops, Werkstattgesprächen, zu denen sowohl weitere Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler eingeladen werden als auch renommierte Fachvertreterinnen und Fachvertreter; aber auch in den internen Kollegsitzungen und dem intensiven Austausch zwischen den Stipendiatinnen wie auch in Einzelgesprächen mit der Leitung der GS spiegelt sich das anhaltende Interesse aller Mitglieder, die GS gemeinsam zu gestalten.

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Aktuelle Forschungsprojekte

Den besten Einblick in das Wirken der GS geben freilich die einzelnen Forschungsprojekte, die derzeit in der zweiten Förderphase seit 2016 unter dem gemeinsamen Motto Dynamiken der Pluralisierung und Normalisierung als Dissertationen, Habilitationen und in Form eines durch Anschubfinanzierung geförderten Drittmittelantrags entstehen bzw. sich derzeit bereits anschicken, publiziert zu werden. Sie zeigen den Facettenreichtum der Zugriffe auf die Thematik, die insgesamt nach den Optionen gelingender Lebensführung und nach Strategien der Konfliktbewältigung in den nicht selten widerstreitenden Vorstellungen dieser Lebensführung innerhalb einer Gesellschaft fragt und nicht zuletzt die Entwicklungen und Ursprünge historisch innerhalb der Gesellschaft wie auch im individuell biographischen Lebensvollzug in den Blick zu nehmen versucht. In Auseinandersetzung mit Martin Heidegger befassen sich gleich mehrere Stipendiatinnen mit einem Apriori in seiner Philosophie, aber auch mit Heideggers Ansätzen lebenspraktischer Vollzüge. Franziska Neufeld nimmt in ihrer Dissertation zur Philosophie als Urwissenschaft. Der Begriff der Ursprünglichkeit und die Destruktion der Tradition in den Frühschriften Martin Heideggers dessen frühe Freiburger Vorlesungen (1919–1923) in den Blick, in denen dieser sich in immer neuen Such- und Denkbewegungen um die Fragestellung nach dem Gegenstand und der Aufgabe der Philosophie bemüht. Dabei entfaltet Heidegger einen radikal neuen Begriff der Philosophie als Urwissenschaft bzw. Ursprungswissenschaft, mit dem er sich von der traditionellen Philosophie als strenge Wissenschaft abzugrenzen versucht. Die Philosophie als Urwissenschaft ist vor-theoretischen Charakters und verfolgt das Ziel, hermeneutisch-phänomenologisch die faktische Lebenserfahrung zu erhellen. Unter „erhellen“ versteht Heidegger die Freilegung der Phänomene in ihrer Ursprünglichkeit und Echtheit anhand einer radikalen Destruktion der philosophischen Tradition. Vor diesem Hintergrund betont Neufeld, dass Heidegger ein Philosoph des Ursprungs und der Ursprünglichkeit ist und schließt daran folgende Fragen an: Was verbirgt sich hinter den Begriffen „ursprünglich“ und „echt“, die Heidegger so zahlreich in den frühen Freiburger Vorlesungsschriften verwendet? Können wir angesichts der von Heidegger selbst aufgeworfenen Vorgriffsproblematik überhaupt zu den Wurzeln und ursprünglichen Phänomenen gelangen? Was ist das Kriterium der Ursprünglichkeit? Wie echt ist der Ursprung? Auf Basis einer systematischen Untersuchung der genannten Begriffe zeigt Neufeld in ihrem Forschungsprojekt die Genese des Ursprünglichen sowie die der Destruktion in Heideggers frühen Denkbewegung auf. Diese Entwicklung, die sich in der ontologischen Wende

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vom Leben zum Dasein äußert, wird im Rahmen dieses Dissertationsprojektes als Rückschritt von der Ursprünglichkeit in die Eigentlichkeit begründet werden. Ebenso grundsätzlich befasst sich Anne Kirstine Rønhede mit den Wahrheitsformen der Seinsweisen bei Heidegger: Die Vielfalt neu entdecken, wobei es ihr zentrales Anliegen ist, herauszuarbeiten, inwiefern Heideggers Wahrheitskonzeption neue Wege eröffnet, um über Wahrheit nachzudenken. In der Rezeption dieses Konzepts wird bezweifelt, dass das Neue an Heideggers Denken über Wahrheit einer Überprüfung anhand von Kriterien für Wahrheit im traditionellen Sinne standhalten kann. Anstelle einer solchen Prüfung steht als Ausgangspunkt dieses Projektes eine Auseinandersetzung mit Heideggers Wahrheitskonzeption vor dem Hintergrund seiner bahnbrechenden Beschreibungen unterschiedlicher Seinsweisen. Die Annahme dabei ist, dass „der Grund“ für das Auftauchen einer neuen Wahrheitsauffassung bei Heidegger darin liegt, dass er bemüht ist, den Boden für die Frage nach dem Sinn von Sein zu bereiten. Dabei werden zunächst den Seinsweisen, die Heidegger in Sein und Zeit ausführlich beschreibt (Vorhandenheit, Zuhandenheit und Dasein), unterschiedliche Wahrheitsformen zugeordnet. Auf dieser Basis wird die Frage gestellt, wie sich diese Konzeption zu der engeren, traditionellen Wahrheitsauffassung verhält. Daraufhin kann in einem weiteren Schritt deutlich werden, welche Begrenzungen Heideggers Wahrheitskonzeption innewohnen, bzw. welche Implikationen in Kauf genommen werden müssen, wenn die Struktur der den Seinsweisen zugehörigen Wahrheitsformen beibehalten werden soll. Dabei wird auch nach einem gemeinsamen Nenner der Wahrheitsformen gefragt. Letztlich wird versucht, die Wahrheitskonzeption, so wie sie in der Arbeit ausgelegt wurde, in Bezug auf zusätzliche Seinsweisen zu entfalten. Exemplarisch wird die Seinsweise der Musik beschrieben, die sich von Zuhandenheit, Vorhandenheit und Dasein unterscheidet, um die Frage stellen zu können, welche Wahrheitsform ihr zugehören könnte gemäß Heideggers Konzeptionen von Wahrheit. Dass die Erörterung der Heidegger’schen Grundlagen letztlich zu Fragen der Lebenspraxis führt, zeigt sich auch im Forschungsprojekt von Agustina Sforza zur Tierfrage im Denken Heideggers anhand der Grundbegriffe von Welt, Sprache und Tod. Die Frage nach dem Tier steht seit einigen Jahren im Zentrum philosophischer Debatten. Mit dem Ziel, die im westlichen Denken dominierenden Diskurse über das Tier zu hinterfragen, gelangt die Tierphilosophie zu einer kritischen Rezeption von Heidegger. Den Anstoß für diese Auseinandersetzung gab Derrida, der sich in seinem Spätwerk intensiv mit der Frage nach dem Tier beschäftigte und in der Philosophie Heideggers ein klassisches Tierbild reproduziert sah, das ein gewaltsames Herrschaftsverhältnis des Menschen gegenüber den Tieren legitimiere. Im letzten Jahrzehnt sind zahlreiche Texte entstanden, die sich Derridas Kritik an Heidegger anschließen und den Vorwurf eines „verdeckten metaphysischen

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Humanismus“ bekräftigen. Dieser abschlägigen Rezeption Heideggers stellt sich die Forschungsarbeit von Sforza entgegen. Die Arbeit nimmt eine systematische Rekonstruktion von Heideggers Konzeption der Mensch-Tier-Unterscheidung vor und rehabilitiert diese für die gegenwärtige tierphilosophische Diskussion. Anhand der Grundbegriffe „Welt“, „Sprache“ und „Tod“ geht sie der Frage nach den grundlegenden Strukturen nach, welche die menschliche und die tierische Erfahrung ausmachen. Grundlage für diese Untersuchung bildet die These, dass der entscheidende Unterschied zwischen dem Menschen und dem Tier nicht allein in einem theoretischen (objektivierenden) Erfassen des Gegebenen liegt, sondern bereits in seiner vorprädikativen Aneignung im Modus der Zuhandenheit, d. h. in der Art und Weise, wie Tiere und Menschen Seiendem im Gebrauch begegnen. Diese neue Auslotung der Mensch-Tier-Differenz wird es schließlich erlauben, im Tier Fähigkeiten auszumachen, die sich zwar von denjenigen des Menschen unterscheiden, jedoch nicht lediglich deren verstümmelte Form darstellen, wie es in der westlichen Philosophietradition von der Antike bis ins 20. Jahrhundert geläufig war. Dynamiken einer Ausdifferenzierung, wie sie die GS thematisch macht, zeigen sich auch, vielleicht sogar zunächst, in der Sprache. Danka Radjenović konstatiert in ihrer Dissertation Wittgensteins spätere Philosophie als Grammatik des Lebens, dass sich in Wittgensteins Werken, Schriften und Vorlesungen zahlreiche Bezugnahmen auf das Leben finden. Diese kommen in verschiedenen Zusammenhängen und Konstellationen vor, wie beispielsweise „unser Leben“, „das Leben dieser Menschen“, „inneres Leben“, „Leben des Zeichens“ oder auch „Lebensmuster“, „Band des Lebens“ – um hier nur einige zu nennen. Mit Blick auf diese vielfältigen Aspekte erarbeitet Radjenović zunächst eine systematische Übersicht dieser verschiedenen Verwendungen. Davon ausgehend schlägt sie eine Lektüre der mittleren und späteren Arbeiten Wittgensteins vor, die sich nicht an Sprachspiel und Regel orientiert, sondern Leben und Grammatik in den Mittelpunkt rückt. Es stellt sich heraus, dass Verweise auf das Leben wie ein roter Faden weit auseinanderliegende Themenfelder verbinden: Von Wittgensteins kritischer Lektüre der Arbeiten des Anthropologen George Frazer bis zu seinen Bemerkungen über die Farben. Doch es ist nicht nur interessant, dass die Rede vom Leben eigene Grammatik hat. Die Verbindung zwischen Grammatik (Regeln der Begriffsbildung und -verwendung) und dem Leben ist tiefgreifender. Das wird u. a. dann deutlich, wenn Wittgenstein seine Leser einlädt, sich fiktive menschliche Gemeinschaften vorzustellen, die über bestimmte Begriffe nicht verfügen oder ein mitunter vollkommen anderes Begriffssystem verwenden. Doch kann man sich dies vorstellen, ohne sich gleichsam eine andere Lebensweise vorzustellen? Als Bestandteil einer grammatischen Untersuchung führen solche Szenarien die Voraussetzungen und Grenzen der eigenen Begriffsverwendung vor Augen. Und sie stellen heraus, dass unsere Begriffe und unser Leben aufs Engste

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miteinander zusammenhängen. Mit diesen Überlegungen soll jedoch nicht nahegelegt werden, dass Leben bei Wittgenstein ein terminus technicus sei. Ein solcher ist in der späteren Philosophie bekanntlich mit dem Konzept der Lebensform gegeben. Im Anschluss an die Ausarbeitung einer Grammatik des Lebens geht es Radjenović letztlich um eine Neubewertung dieses Konzepts, welche die Diskussionen im Feld der Lebensform erheblich weiterführen kann. Der Interdisziplinarität der Forschungsthemen im Rahmen der GS kommt auch nach der ersten Förderphase (so z. B. Germanistik, Mathematik, Musik, Umweltsoziologie) nach wie vor große Bedeutung zu. Dies zeigt sich einerseits darin, wie die Thesen der Philosophie Eingang finden in weitere Lebenswissenschaften, andererseits in der Eingliederung weiterer Fachgebiete: Kathrin Franz befasst sich als Romanistin innerhalb der Linguistik mit Konversationsanalyse, die eine Weiterentwicklung des ethnomethodologischen Forschungsprogramms darstellt. Les diaspo in Burkina Faso, so der Arbeitstitel ihres Promotionsprojekts, analysiert die Konstitution von Gruppen im Gespräch mithilfe empirischer, interaktionslinguistischer Daten, die während zweier Aufenthalte in Ouagadougou (Frühjahre 2018 und 2019) gesammelt wurden. Die in diesem Fall untersuchte Gruppe ist die Gruppe der diaspo: In Côte d’Ivoire aufgewachsene und nach Burkina Faso zurückgekehrte Burkinabè. Zwischen Burkina Faso und Côte d’Ivoire bestehen intensive Migrationsbewegungen. Vor allem nach erfolgreichem Schulabschluss kommen viele burkinische Jugendliche (hier sind ökonomische und politische Gründe zu nennen) zum Studium nach Burkina Faso zurück. Der zu untersuchende Korpus besteht aus Aufnahmen von Studenten in Ouagadougou. In den Gesprächen wird schnell deutlich, dass sich zwei Gruppen herausbilden, nämlich die sogenannten diaspo und die sogenannten tenguistes. Tenguistes ist dabei die Bezeichnung der diaspo für diejenigen Burkinabè, die das Land nie verlassen haben, kommt aus dem Mooré tenga und bedeutet terre, also Erde. Vorausgesetzt, dass die Konstitution von Gruppen ein interaktiver Prozess ist, an dessen Ende eine intersubjektive Gruppendefinition steht, kann angenommen werden, dass das geteilte Wissen der Wir-Gruppen zur gesellschaftlichen Sichtweise der gebildeten Kategorien führt. Der Umgang mit diesem Wissen, mit welchen Mitteln dieses Wissen im Diskurs gekennzeichnet wird und die Konstitution der Kategorien werden anhand der gewonnenen Daten analysiert. So sollen am Ende die Strategien der Sprecher bei der Gruppenkonstitution offengelegt werden können. Fragt die GS nach den Ursprüngen von sich aktuell vollziehenden Entwicklungen, so darf eine editionsgeschichtliche Dissertation nicht fehlen, die in ihrem Kern sowohl eine wesentliche Quelle des europäischen Denkens wie auch einen damit verbundenen zentralen Begriff zum Thema macht und dessen Ursprünge und Wandlungen darlegt: Sympathie als eine „Möglichkeit“ bei Max Scheler mit

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einem Vergleich zwischen Zur Phänomenologie und Theorie der Sympathiegefühle und von Liebe und Haß (1913) und Wesen und Formen der Sympathie (1923) – so lautet der Titel der Dissertation von Sihan Wu. Lange Zeit herrschte in der Geschichte der Philosophie die Konzeption des Menschen als Vernunftwesen vor. Dies erscheint vor allem dann sinnvoll, wenn eine rein gegenständlich verfasste Welt angenommen wird. Sobald jedoch eine andere Person als solche ins Spiel kommt, erscheint diese traditionelle Konzeption als unzureichend. Auch wenn sich auf dieser Grundlage bereits viele Philosophen mit diesem Thema beschäftigt haben, besteht die Frage weiterhin, wie die fremde seelische Existenz überhaupt gegeben ist. Daher erscheint es sinnvoll, den bereits der Antike bekannten Begriff der Sympathie erneut zu betonen, der als Phänomen überall im menschlichen Alltag beobachtbar ist. Selbstverständlich ist dieser Begriff trotz seiner langen Geschichte jedoch nicht. Als Gefühl hat die Sympathie der theoretischen Erfassung immer Schwierigkeiten entgegenstellt, was sie stets mysteriös erscheinen ließ. In diesem Kontext soll Max Schelers Engagement als eine Entzifferung dieser Gefühlsart in den Vordergrund rücken. Er hat die feine Differenz zwischen verschiedenen, oft miteinander verwechselten Phänomenen entdeckt. Dadurch wird nicht nur die Möglichkeit des Fremdverstehens aufgeklärt, sondern auch die unentbehrliche Rolle erhellt, welche die Sympathie als Gefühl in der menschlichen Welt spielt. Scheler hat erstmals im Jahr 1913 seine damals nur 130 Seiten umfassende Schrift mit dem Titel Zur Phänomenologie und Theorie der Sympathiegefühle und von Liebe und Hass veröffentlicht. Doch bei der zweiten Auflage im Jahr 1923 verdoppelte das Werk sich nahezu im Umfang und erschien unter dem auch heute bekannten Titel Wesen und Formen der Sympathie. Inzwischen hatte sich bei Scheler eine Wendung von dem christlich geprägten Theismus zum sogenannten Pantheismus vollzogen. Darum versucht die vorliegende Arbeit durch den Vergleich beider Auflagen, den roten Faden in Schelers Gedankengang deutlich sichtbar zu machen. Ziel ist es, Schelers Philosophie in ihrer konsequenten Einheitlichkeit herauszustellen, in welcher somit auch der Mensch als eine Einheit auftreten kann. In der zweiten Förderphase ab 2016 wurden neben den bisherigen Promotionsstipendien auch zwei Habilitationsstipendien und eine PostDoc-Anschubfinanzierung für ein Drittmittelprojekt vergeben. Damit trägt die GS dem Umstand Rechnung, dass viele Nachwuchswissenschaftlerinnen die universitäre Laufbahn nach der Promotion bereits beenden. Um diesen Missstand aufzufangen, wurden explizit auch für diese Qualifikationsphase Stipendien in der Struktur der GS verankert. Das PostDoc-Stipendium zur Anschubfinanzierung eines Drittmittelprojekts befasst sich mit dem Wandel des Begriffs der Epoché, wie er sich in der Zeit nach Husserls Grundlegungen ergeben hat. Ausgehend von der grundlegenden Umdeutung der Husserl’schen transzendental- phänomenologischen Epoché, die Hei-

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degger mit der Betonung der Phänomenologie als Methodenbegriff unternommen hatte, untersucht das Forschungsprojekt Die Wirksamkeit der Epoché jenseits der Phänomenologie bei Lacan, Foucault und Agamben von Camilla Croce die Formen des Verhältnisses von Theorie und Praxis bei drei post-phänomenologischen Autoren: Jacques Lacan, Michel Foucault und Giorgio Agamben. Die Umdeutung der Epoché i. S. eines eröffnenden Akts der phänomenologischen Forschung erhielt mit Heidegger eine Fokussierung des Verhältnisses von Theorie und Praxis. Das philosophierende Dasein selbst wird damit Sache der Philosophie. Phänomenologische und natürliche Haltung bilden in der post-husserlschen Deutung einen Doppelaspekt der Epoché. Somit wird auch die Idee, dass das reine Bewusstsein als Feld der transzendentalen Phänomenologie und der Philosophie tout court gelten sollte, verabschiedet. Die Auswahl der drei Autoren des Forschungsprojekts ergibt sich entsprechend aus sachlich-systematischen Gründen: Es werden weder die Einflüsse Husserls auf Lacan, Foucault und Agamben historisch und philologisch herausgearbeitet, noch gilt es zu beweisen, dass die Epoché in ihrem klassischen phänomenologischen Sinn von diesen Autoren bewusst angewendet oder thematisiert worden wäre. Vielmehr geht es darum zu zeigen, inwiefern die Sache der Epoché, nämlich die eines Verhältnisses von Theorie und Praxis, das sich auf deren Einheit abzielt, die Haltung von Lacan, Foucault und Agamben mitgestaltet hat. In der Herausstellung dieser Doppelaspektivität der Epoché lässt sich ein historisches Apriori aufdecken, das sich als einzige unverzichtbare und unvermeidliche conditio jenes theoretischen Denkens zeigt. Das Projekt demaskiert die ungedachten Figuren der Epoché und fragt: Liegt sie bei Lacan dem analytischen Akt zugrunde, durch den von der eigenen Analyse aus die plurale Singularität der Position des Analytikers angesprochen wird? Implementiert sie Foucaults genealogische Archäologie, indem sie die kritischen Instanzen seiner historischen Ontologie in unserem Selbst verankert? Verbirgt sie sich bei Agamben in jener Subjekt-Position, die sich der herausfordernden Bio-Macht entzieht? Auch die zwei entstehenden Habilitationsprojekte richten ihre Aufmerksamkeit jeweils auf eine Begriffsentwicklung: Intentionalität und Transzendenz werden innovativ in neuer Perspektive diskutiert. Der Begriff Intentionalität im Sinne der kognitiven Bezugnahme umfasst ein facettenreiches Themengebiet, mit dem sich die Philosophie von der Antike bis heute auf vielfältige Weise konfrontiert sieht. In eben diesem Rahmen der aktuellen Debatte um die Intentionalität verortet sich das Habilitationsvorhaben Vernunft als Strukturform der Intentionalität von Giovanna Caruso, insofern es den systematischen Zusammenhang zwischen Vernunft und Intentionalität untersucht, um ihre Struktur zu erschließen. Dabei kommt der Intentionalitätsanalyse Husserls eine zentrale Bedeutung zu, da seine Verschränkung von Intentionalität und Vernunft

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eine historisch und systematisch entscheidende Wende in der Auffassung der beiden Begriffen darstellt: Indem er sich von einer psychologischen Auffassung der Vernunft distanziert (vgl. Hua XVIII, §58) und sie als „eine universale wesensmäßige Strukturform der transzendentalen Subjektivität überhaupt“ (Hua 1 §23) bzw. der Intentionalität definiert, wird die Vernunft zur Strukturform einer Intentionalität, deren relationale Struktur sich nicht nur anhand passiv aufnehmender Prozesse erläutern lässt, sondern die sich auch als konstitutiv erweist. Ausgehend von der Feststellung, dass es sich weder um eine ‚Cartesianische Vernunft‘, die mit dem Verstand zusammenfällt, noch um eine ,Kantische Vernunft‘, die ihre Ansprüche als theoretische nicht einlösen kann, handelt, soll zum einen verdeutlicht werden, wie Husserl ‚Vernunft‘ versteht. Zum anderen soll das Verhältnis zwischen der ‚einen‘ Strukturform der Intentionalität und deren ‚verschiedenen Fällen‘ (Wahrnehmung, Vorstellung, Denk- oder Sprechakt) verdeutlicht werden. Durch die Klärung dieser Fragestellung kann nicht nur die gängige Auffassung der Husserl’schen Intentionalität konstruktiv ergänzt werden. Auch in Bezug auf brisante Themen der aktuellen Intentionalitätsdebatte, wie etwa das Verhältnis von geistigen und materiellen Akten oder jenes von passiven und aktiven Intentionalitätsprozessen, kann dieses Forschungsvorhaben zu neuen Erkenntnissen führen. Außerdem kommt die vorliegende Betrachtung, indem statt einer genetischen eine strukturelle Frage ins Zentrum der Analyse gerückt wird, der Hauptforderung der Intentionalitätsforschung nach, welche bislang weder die mittelalterlichen Intentionalitätstheorien noch die aktuell naturalisierenden Tendenzen der Intentionalitätsforschung zu erfüllen scheinen. Die Transzendenz kann als ein Schlüsselbegriff in der phänomenologischen Tradition des 20. Jhs. ausgemacht werden. Im Habilitationsprojekt Pathische ‚Mit-Transzendenz‘ und Intersubjektivität. Zum pathischen und intersubjektiven Charakter der (Selbst-)Transzendenz des Menschen im Ausgang von Karl Jaspers, Emmanuel Lévinas und Martin Heidegger von Chiara Pasqualin geht es aber nicht darum, die Geschichte dieses Begriffes vollständig zu rekonstruieren, sondern vielmehr das Projekt einer Philosophie der Transzendenz zur Geltung zu bringen, so wie dieses sich in den denkerischen Ansätzen von Jaspers, Heidegger und Lévinas untersuchen lässt. Trotz der nicht zu verleugnenden Unterschiede, teilen die drei Autoren ein existenz-philosophisches Verständnis der Transzendenz, in dem dieses Thema sich als entscheidend erweist, nicht so sehr um erkenntnistheoretische Fragen zu beantworten (wie noch bei Husserl), sondern vielmehr um zu verstehen, was Existieren in seinen konkreten Vollzügen heißt und was uns als Menschen wesentlich definiert. Die Transzendenz macht bei den drei Autoren die Struktur und die lebendige Entfaltungsdynamik der menschlichen Subjektivität aus, welche durch eine ständige Tendenz zum Überschreiten geprägt ist – sowohl der eigenen Grenzen als auch der Grenzen der weltlich-gegenständlichen Sphäre in Richtung

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auf die Dimension des Seins und des anderen Menschen. Das Projekt beabsichtigt zunächst die, auch historisch begründbaren, formalen Analogien zwischen den drei Autoren hervorzuheben, welche nicht nur die Definition der Transzendenz betreffen, sondern auch die systematische Einordnung dieser Definitionsaufgabe innerhalb einer Philosophie, die sich als Metaphysik versteht. Bei der Hervorhebung der Analogien wird der Fokus insbesondere darauf gelegt, dass die Transzendenz einen wesentlichen intersubjektiven Charakter aufzeigt, einerseits weil das Transzendieren als jeweils existentiell entfaltetes Überschreiten kein solipsistischer Akt ist, sondern immer schon miteinander vollzogen wird (Heidegger, Jaspers), andererseits weil die Transzendenz des Subjekts nichts anderes als dessen ursprüngliches dem Anderen Ausgesetztsein bedeutet (Lévinas). Ausgehend von den drei Perspektiven strebt das Projekt letztlich an, ein neues Interpretationsmodel zu skizzieren, nach welchem die Transzendenz sich als eine transzendentale, pathische Struktur im Sinne einer ursprünglichen Affizierbarkeit des Subjekts durch die Alterität erweist.

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Begegnungen und Diskussionen

Die Reihe der inspirierenden jährlichen Tagungen, wie sie bereits im vorigen Bericht dargelegt wurde, riss auch nach 2017 nicht ab. Im Winter 2018 fanden sich die Stipendiatinnen und deren Co-Referenten in Landau zusammen, um im Rahmen des Themas Leben in Frage(n). Zwischen Vollzug und Reflexion ihre Forschungsanliegen zu erörtern. Diesem Konzept liegt die Idee zugrunde, dass Stipendiatinnen und externe Nachwuchswissenschaftler, die über ein ähnliches Thema, mitunter innerhalb eines andren Fachs forschen, das gemeinsame Themenfeld in zwei Vorträgen vorstellen und dabei die unterschiedlichen Methoden und Theorien herausstellen. So kann im Anschluss im Plenum insgesamt über beide Darlegungen diskutiert werden. Im Juni 2019 folgte in ähnlicher Konstellation die Tagung zum Phänomen Leben. Zugänge. Perspektiven. Ausblicke, die wiederum von den Stipendiatinnen und deren Co-Referentinnen maßgeblich gestaltet und zudem von drei Hauptvorträgen eingerahmt wurde, die jeweils einen für die Diskussion insgesamt zentralen Aspekt thematisierten: So führte Prof. Dr. Alois Pichler aus, wie sich mit Wittgenstein über den religiösen Glauben als ein ebenso nicht-kognitives wie kognitives Phänomen diskutieren ließe. Dr. Francesco Valerio Tommasi eröffnete anhand des Lebensweltmodells einen Blick auf die Geschichte der Philosophie aus phänomenologischer Perspektive. Prof. DDr. Markus Enders historischer Ansatz nahm zudem den Topos der Transzendenz en detail in den Blick. Auch zur Gelegenheit dieser Tagung wurde erfreulich sichtbar, dass Vielfalt und deren Dynamik nicht dazu führen, dass das Ganze eines thematischen Austauschs in seine Einzelaspekte zerbricht,

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die Mitglieder der Gemeinschaft einander verständnislos begegnen. Im Gegenteil wird Diskussionsfreude in diesem Rahmen stets von einer großen Lernbereitschaft begleitet, die fremden Inhalte und divergenten Interpretationen nachzuvollziehen und die eigenen Forschungsanliegen dadurch zu erweitern. In den Jahren seit 2011 haben sich viele erinnerungswürdige und erzählenswerte Geschichten ereignet, es sind hervorragende, anregende Forschungsarbeiten entstanden, es haben sich spannende und sehr individuelle Lebenswege entwickelt, Perspektiven und Freundschaften ergeben. Zum 10jährigen Bestehen der GS im nächsten Jahr ist daher eine festliche Tagung vom 28. bis 31. Oktober 2020 in Landau geplant, die von allen bisherigen Stipendiatinnen mitgestaltet werden und den zahlreichen ehemaligen Gästen der GS die Gelegenheit geben soll, dieses Jubiläum gemeinsam mit den Mitgliedern der GS zu feiern.

Kontakt Dr. Annika Hand Universität Koblenz-Landau, Campus Landau Institut für Philosophie Bürgerstraße 23 76829 Landau E-Mail: [email protected] Adressen und Profile der mitwirkenden Stipendiatinnen finden sich unter www.leben.uni-landau.de

Mina Wagener

Tagungsbericht: Die Ästhetiken der philosophischen Anthropologie

Vom 18. bis zum 20. Februar 2019 fand die interdisziplinäre Tagung Die Ästhetiken der Philosophischen Anthropologie in Frankfurt am Main statt. Sie wurde von Thomas Ebke (Potsdam) und Tatjana Sheplyakova (Frankfurt am Main) organisiert und in Kooperation zwischen dem Exzellenzcluster Die Herausbildung normativer Ordnungen der Goethe-Universität Frankfurt am Main, dem Institut für Philosophie der Universität Potsdam und der Helmuth Plessner Gesellschaft veranstaltet. Die Beiträge der Tagung werden im neunten Band des Internationalen Jahrbuchs für Philosophische Anthropologie erscheinen. Am Anfang stand, in guter philosophischer Tradition, das Staunen – hier das Staunen der beiden Veranstalter darüber, dass Fragen der Ästhetik trotz einer stark diversifizierten Forschung in der Philosophischen Anthropologie bislang wenig behandelt wurden. Diese Leerstelle in der Rezeption wurde damit in Verbindung gebracht, dass die Philosophischen Anthropologen selbst eher einen indirekten Zugang zur Ästhetik hatten. Dem eigenen Selbstverständnis gemäß ging es ihnen als Anthropologen in erster Linie um die Besonderheit des Menschen im Vergleich zu anderen Lebewesen. Reflexionen zur Ästhetik stehen bei ihnen entsprechend im größeren Kontext dieses Anliegens. Angesichts der Künstlichkeit oder Gegennatürlichkeit des Menschen zeigt sich, dass ästhetische Fragen implizit immer schon einbezogen sind, dass eine besondere Beziehung zu den Künsten vorgegeben ist, in denen die Produktivität des Menschen exemplarisch wird. Das Ziel der Tagung war eine über die Fachgrenzen hinausreichende Beleuchtung des Zusammenhanges von Ästhetik und Anthropologie. In drei Sektionen mit insgesamt zwölf Vorträgen1 wurde ein breites Spektrum an Forschungsansätzen deutlich.

1  Die Beiträge von Hans-Peter Krüger (Potsdam) und Marcus Düwell (Utrecht) mussten leider krankheitsbedingt entfallen. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 G. Hartung und M. Herrgen (Hrsg.), Interdisziplinäre Anthropologie, Interdisziplinäre Anthropologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28233-2_12

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Mina Wagener

Sektion 1: Zur Rekonstruktion der Ästhetiken der Philosophischen Anthropologie In der ersten Sektion sollte zunächst mittels historischer und systematischer Rekonstruktion der ästhetischen Ansätze ein Grundbestand herausgearbeitet werden. Den ersten Vortrag mit dem Titel Ausdruck und Darstellung. Annäherung an eine Anthropologie der Kunst nach Max Scheler hielt Nicholas A. Coomann (Jena). Zwar hat Scheler trotz ausdrücklicher Ankündigungen keine Ästhetik vorgelegt, doch ließen sich bei ihm, so Coomann, grundlegende Elemente einer Philosophie der Kunst rekonstruieren. Diese sei nicht deckungsgleich und daher nicht zu verwechseln mit der ästhetischen Wertlehre. Für die Philosophie der Kunst, auf die sich Coomann wegen ihrer systematischen Bedeutung für die Wesensbestimmung des Menschen konzentrierte, sei vor allem das Spätwerk Schelers einschlägig. Scheler begreife die Fähigkeit zu ästhetischer Empfindung und künstlerischer Darstellung als menschliches Monopol, da allein der Mensch durch diejenige Distanz, die Scheler als Ablösung von der vitalen Sphäre verstehe, in der Lage sei, frei aus sich heraus zu schaffen. Darin liege ihm zufolge ein qualitativer Unterschied zum Tier, das stets durch seine Triebbedürfnisse eingeschränkt sei. Coomann führte vier konstitutive Momente der Kunst auf, die sich bei Scheler finden: (1) Idee: Das Ziel des Künstlers bestehe darin, Wesenserkenntnisse, die er über einen Gegenstand gewonnen habe (Ideen), im Werk zur Darstellung und damit zur Anschauung zu bringen. (2) Darstellung: Anders als beim Ausdruck sei für die Darstellung ein Absehen von den Trieben erforderlich, die sich beim Tier unmittelbar artikulieren. (3) Überbiologische Wertgestalt: Ästhetische Werte und Kriterien, die unabhängig von Triebinteressen seien und einen eigenen Bereich beanspruchen (Selbstzweck), dienen dem Künstler als Orientierung bei der Darstellung. (4) Liebe: Mit der Liebe sei schließlich eine fundamentale geistige Haltung der Zuwendung zur und Hingabe an die Welt bezeichnet, die eine tiefere Erkenntnis des Wesens der Wirklichkeit ermögliche. Sie treten beim Künstler an die Stelle eines bloß vitalen Interesses am Gegenstand. Coomann brachte seine Befunde in Zusammenhang mit Schelers vieldiskutierter These von der Machtlosigkeit des Geistes. Da der Geist bloß eine hemmende Wirkung habe, sei die künstlerische Gestaltung angewiesen auf die Phantasie, die dem Triebleben angehöre. In der Kunst vereinigen sich nach Scheler Idee und Phantasie, Geist und Leben. Während es bei Scheler um Gedanken zur Philosophie der Kunst im Allgemeinen ging, traten im zweiten Vortrag von Thomas Dworschak (Leipzig) Musik und Gehör in den Vordergrund. Dworschak bezog sich unter dem Titel Musik als Schlüssel zum Menschen? auf Helmuth Plessners Schrift Die Einheit der Sinne von 1923 und auf thematisch passende Aufsätze aus den 1920er und 1930er Jahren.

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Die damit anvisierte, noch wenig rezipierte Ästhetik Plessners findet sich eingebettet in das Projekt einer Ästhesiologie des Geistes, einer „Kritik der Sinne“ auf phänomenologischer Grundlage. Plessner vertritt die These, dass den einzelnen Sinnen geistige Formen der Sinngebung entsprechen, die es als verschiedene Arten des Verstehens anhand einschlägiger Kulturleistungen herauszuarbeiten gilt. Er unterscheidet schematisches, syntagmatisches und thematisches Verstehen, die nicht aufeinander reduzierbar sind und in denen der Mensch jeweils eine Haltung einnimmt. Das thematische Verstehen in der reinen Musik erweist sich als fundamental und eigenständig. Es ist in seiner Bestimmtheit zugleich offen und kann nicht von der Erscheinung getrennt werden. Im Hören wird nichts repräsentiert, sondern etwas nachvollzogen. Dworschak zog eine Parallele zwischen Plessners Gedanken zur Musik und zu seiner Bestimmung des Menschen durch konstitutive Offenheit und Unabgeschlossenheit. In dem materialreichen Vortrag Konservatives Lob für eine Kunstrevolution am „Ende der Geschichte“: Arnold Gehlens Zeit-Bilder von Karl-Siegbert Rehberg (Dresden) rückte die bildende Kunst in den Fokus. In der erstmals 1960 veröffentlichten, kunstsoziologischen Schrift Zeit-Bilder finde Gehlens Interesse an der Kunst seinen monographischen Ausdruck. Mit ihr verschaffe er der modernen Malerei eine Legitimationsbasis. Zugleich zeige sich sein Pessimismus gegenüber der eigenen Gegenwart, in der eine neue Kunst kaum mehr vorstellbar sei. Mit seiner interdisziplinär angelegten Interpretation der Kunst leiste Gehlen, wie auch der Titel des Buches andeute, zugleich eine Zeitgeist-Diagnose der Industriegesellschaft, in der sie entstanden sei. Was die moderne Malerei aus Gehlens Sicht von den vorherigen zwei Phasen künstlerischen Schaffens (der ideellen Kunst der Vergegenwärtigung und der realistischen Kunst) unterscheide, sei ein Wechsel der Bildrationalität. Die kunstinterne Reflexion auf die künstlerischen Mittel, die gezielte Steigerung ihrer Wirkung eingeschlossen, führe zu einer starken Kommentarbedürftigkeit der „hochintellektuellen“ modernen Malerei. Es ist diese, gelegentlich auf Skepsis gestoßene Auffassung Gehlens, die auch in der Diskussion mit der Frage fortgesetzt wurde, ob damit wirklich ein Spezifikum der modernen Malerei getroffen oder ob nicht auch frühere Kunst schon in hohem Maße kommentarbedürftig gewesen sei. Laut Rehberg sei die von Gehlen behauptete Kommentarbedürftigkeit insofern etwas Neues, als dass in der Moderne der Kommentar zu einem Bild nicht schon vorher in thematisch einschlägigen Quellen präformiert sei, sondern im Horizont vielfältiger Deutungsmöglichkeiten zum konstitutiven Moment des Sehens selbst würde. Ebenfalls diskutiert wurde Rehbergs These, dass Gehlens starke Schätzung der Reflexionskunst als Korrektur der in der Rezeption häufig kritisierten Entgegensetzung von Handlung und Reflexion in seiner Anthropologie angesehen werden könne.

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Mina Wagener

Es sind die profunden Kenntnisse und der durchweg starke Einbezug der Literatur in die theoretische Auseinandersetzung, die den Gedanken aufkommen lassen, bei Hans Blumenberg ließe sich eine in den Schriften nur implizit enthaltene Ästhetik gewinnen. Diese Auffassung ist, wie Birgit Recki (Hamburg) in ihrem Vortrag über Hans Blumenbergs ungeschriebene Ästhetik zeigte, zwar naheliegend, aber falsch. Bei genauerer Lektüre müsse nämlich gerade eine Reserve Blumenbergs gegenüber der Ästhetik konstatiert werden, die sich auf einen grundsätzlichen Vorbehalt gegen die Vieldeutigkeit des Gegenstandes zurückführen lasse – gegen diejenige Vieldeutigkeit, die in der ästhetischen Erfahrung ihren Ort und ihre volle Berechtigung habe, die aber dem philosophischen Anspruch auf begriffliche Bestimmung entgegenzustehen scheine. Ausgehend von zwei Aufsätzen, in denen das ontologische Problem des Kunstwerks behandelt wird, wies Recki auf eine für die Einschätzung der Ästhetik aussagekräftige Interpretation Blumenbergs hin: Dass die Figur des Sokrates in Paul Valérys Eupalinos oder der Architekt das in seiner Vieldeutigkeit irritierende objet ambigu, das er am Strand findet, schließlich ins Wasser zurückwirft, stelle nach Blumenberg (und gegen Valérys philosophiekritische Auffassung) einen Vorzug der in Sokrates exemplarisch verkörperten philosophischen Haltung dar. Im Unterschied zum Künstler wolle sich der Philosoph nach dieser Lesart bewusst nicht länger bei der Vieldeutigkeit des rätselhaften Gegenstandes aufhalten. Damit werde, so Recki, letztlich nahegelegt, dass die Philosophie auf die Ästhetik verzichten könne, deren Gegenstand die lustvolle Erfahrung von Vieldeutigkeit sei. Mit Blick auch auf Blumenbergs Metaphorologie, die Theorie der Unbegrifflichkeit und die Vernachlässigung des Spiels wie auch der ästhetischen Distanz im Rahmen seiner Anthropologie sammelte sie weitere Indizien für ihre These. Blumenbergs Anthropologie sei dem Realismus verpflichtet – es sei die immer wieder zu leistende Selbstbehauptung des Menschen, auf die er seinen Fokus richte. Am künstlerischen Schaffen interessiere ihn vor allem dessen Funktion für das menschliche Leben und Überleben. Das Ästhetische in seiner Autonomie wird ihm deshalb nicht zum Gegenstand selbständiger Überlegungen. Der Vortrag von Recki gab ein gutes Beispiel für die positive Rolle der Enttäuschung in der theoretischen Erkenntnis: Aus der sicheren Vermutung einer ungeschriebenen Ästhetik war am Ende der Befund deren begründeten Fehlens geworden. Joachim Fischer (Dresden) warf in seinem Beitrag Homo pictor in der Moderne. Von der „ästhetischen Anthropologie“ der Philosophischen Anthropologie zur „anthropologischen Ästhetik“ der modernen bildenden Kunst (Jonas, Plessner, Gehlen) die Frage auf, inwiefern die Philosophische Anthropologie etwas zum Verständnis der heterogenen Bestände der bildenden Kunst vom 20. Jahrhundert bis zur Ge-

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genwart beitragen könne. Damit richtete sich sein Augenmerk vor allem auf die Aktualität der „ästhetischen Anthropologien“ von Hans Jonas, Helmuth Plessner und Arnold Gehlen – auf ihre erschließende Kraft und kritische Funktion für die moderne Ästhetik. Plessner stelle die Besonderheiten des Sehens und des Hörens hinsichtlich ihres geistigen Potenzials heraus. Die Differenzierung zwischen den beiden Sinnesmodalitäten mit ihren spezifischen Möglichkeiten sei relevant für die Beurteilung künstlerischer Projekte, die beanspruchen, die den Sinnesmodalitäten eigenen Grenzen zu überschreiten. Das künstlerische Bestreben Wassily Kandinskys, mit sichtbaren Elementen gleichsam zu musizieren, indem diese von ihrer Gegenstandsbindung befreit werden, erweise sich mit Plessner als eine Utopie, in der, so Fischer, das Freiheitspotenzial des Hörens in besonderer Weise erkennbar werde. Ausgehend von der Unterscheidung zwischen Bildfläche und „dahinter“ liegender gegenständlicher Bildschicht sehe Gehlen die Besonderheit der modernen Malerei darin, dass sie den Blick auf die Bildfläche in ihrer Eigenständigkeit lenke. Dies hat Einfluss auf die Erscheinung des Gegenstandes, der damit immer mehr in den Hintergrund trete. Aus soziologischer Perspektive hebe Gehlen an der modernen Malerei als „Reflexionskunst“ ihre entlastende Funktion hervor: Wo die Aufmerksamkeit nicht im Wesentlichen auf den Gegenstand gelenkt werde, wo dieser gar fehlen solle, befreie sich die Kunst von Tendenzen ideologischer Vereinnahmung. Die Erfordernis eines Kommentars, der das Bild verständlich mache, könne zudem in Form eines Wettstreits um die treffendste Deutung Geselligkeit stiften. Die von Plessner und Gehlen herausgearbeiteten sozialen Effekte der Freisetzung und Entlastung haben indes ihre Grenze an den elementaren wahrnehmungstheoretischen Strukturen, welche die beiden Autoren in ihren anthropologischen bzw. ästhesiologischen Studien geltend machen können. Die dem Sehen eigentümliche Gegenständlichkeit ließe sich prinzipiell nicht überwinden und solle daher auch von der Theorie nicht verabschiedet werden. Mit Blick auf die grundsätzlichen Möglichkeiten der Malerei werden Plessner und Gehlen zu Kronzeugen gegen einseitige Auslegungen im Diskurs über die Kunstentwicklung im 20. Jahrhundert, zu der nach wie vor auch die gegenständliche Kunst gehöre (Muralismo). Wenn, ausgehend von deren Erkenntnissen, eine Doppelbewegung der modernen Kunst (systematisch weg von und im Anspruch auf angemessene Erweiterung hin zum Gegenstand) sichtbar werde, so schloss Fischer, könne schließlich der Erfolg Gerhard Richters, der beide Tendenzen zur Darstellung bringt, nicht Wunder nehmen. Der Vortrag Menschwerdung ex negativo: Ästhetisches Denken und Wiederherstellung einer verlorenen Anbindung von Arantzazu Saratxaga Arregi (Karlsruhe) hatte die ästhetischen Elemente in Adolf Portmanns biologischen und anthropolo-

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gischen Forschungen zum Thema.2 Entscheidend sei für Portmann der Ansatz bei der Beziehung des Lebewesens zur Umwelt (bzw. zur Welt). Seine für eine Ästhetik relevanten Gedanken fänden sich im Kontext der Frage, wie diese Beziehung hergestellt werde. Anders als Darwin sehe Portmann die Gestaltungen des Organismus nämlich nicht allein als Anpassungsreaktionen auf die Umwelt (also als Reaktionen auf äußerliche Faktoren) an, sondern messe ihnen eine selbstständige Bedeutung bei: Sie seien das Ergebnis einer gestaltbildenden Kraft des Organismus; ein wesentliches Merkmal von Lebewesen sei ihre Selbstdarstellung. Portmann erinnere in diesem Kontext an die Grundvoraussetzung dafür, dass Lebewesen einander erkennen: das Licht. Im anthropologischen Interesse müssten seine Gedanken zur Selbstdarstellung und zur Erscheinung im Medium des Lichtes genauer betrachtet und graduelle Unterschiede herausgearbeitet werden, da sie nicht bloß auf den Menschen, sondern auf Lebewesen überhaupt bezogen seien. Während Saratxaga Arregi Portmanns kritische Stellung gegenüber der funktionalistischen Biologie betonte und seine Position in diesem Kontext so paraphrasierte, dass die Formen und Gestaltungen der Lebewesen bei ihm nicht funktional bestimmt sind, schlug Joachim Fischer unter Einbezug einer Anmerkung von Peter Berz in der Diskussion der Deutlichkeit halber Momente der Differenzierung vor, mit denen sowohl funktionale Aspekte als auch die für Portmann wichtige Erscheinungsqualität in den Blick genommen werden können. Er unterschied: (1) Organe als Phänomene, die nicht auf die Erscheinung, sondern auf ihre Funktionen angelegt sind, (2) unadressierte Erscheinungen des Organismus (z. B. die Farbenpracht einiger Schleimpilze) und (3) adressierte Erscheinungen des Organismus. Damit werde die Pointe Portmanns noch deutlicher, dass nicht alles am Organismus, wohl aber der Organismus als Ganzer auf Selbstdarstellung angewiesen sei.

Sektion 2: Rezeptionslinien der Ästhetiken der Philosophischen Anthropologie In der zweiten Sektion stand mit Blick auf die Rezeptionslinien die Frage nach dem expliziten und impliziten Einfluss der ästhetischen Gedanken der Philosophischen Anthropologen auf die Kunstwissenschaften im Vordergrund. Sandra Fluhrer (Erlangen) sprach sich in ihrem anregenden Beitrag „Lust und Schrecken der Verwandlung“: Theatralität und Erfahrung in Carl Schmitts politischer Anthropologie souverän gegen die Fortführung einer Faszinationslinie in der Rezeption von Schmitts Texten aus. Auch um die ästhetische Qualität der Texte zu überprüfen, schlug sie vor, Schmitt einmal versuchsweise als Theaterautor zu 2  Da er thematisch eine Ergänzung zur ersten Sektion darstellte, ziehe ich den eigentlich der zweiten Sektion zugeordneten Vortrag in der Beschreibung vor.

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lesen. Ein Vorteil der theatralen Lesart liege darin, dass in dieser die eigene Rezeptionshaltung einbezogen werde. Zudem ermögliche sie die Rekonstruktion von Schmitts Zeiterfahrung und beziehe die affektiven Züge in seinem Denken mit ein: Mit der theatralen Lesart rücke neben der Komposition des Materials vor allem das Pathische, der Leidensaspekt des Erlebens, in den Blick, der, auf die Bühne gebracht, zur Bearbeitung auffordere. Fluhrer thematisierte in ihrem Vortrag Schmitts Repräsentationsdenken, seine Gedanken zum Raum und zur Stellung und Gestalt des Menschen, in denen er sich stark von den geopolitischen und technologischen Veränderungen seiner Zeit impressioniert zeige. In der von Rassismus und Antisemitismus geprägten „Anthropologie des festen Stands“ unterscheide Schmitt den terranen (kontinentaleuropäischen, nicht-jüdischen) vom maritimen Menschen, den er einer eigenen Spezies zuzuordnen tendiere. Der „eigentliche“ Mensch sei für Schmitt verbunden mit der für Ortung und Ordnung offenen Erde, von der aus die Begriffsbildung erfolge. Das Sehen und die aufrechte Haltung seien in dieser Auffassung ausgezeichnet. Ohne eine feste Position, die durch klare völkerrechtliche Grenzziehungen gesichert werden könne, als raumloses Wesen, erleide der Mensch, so Schmitt, den Verlust seiner Menschlichkeit und sinke auf tierisches Niveau herab. Es sei eine Schreckensvision, die Schmitt mit solcher Degeneration des Menschen beschwören wolle. Hier und an anderer Stelle wies Fluhrer auf deutliche Differenzen zu Plessners Ansatz hin. Sie machte zudem einen stoischen Zug in Schmitts Denken sichtbar und zeigte sein Bemühen, dem Exponiertsein durch Fühlen und Spüren mittels Panzerung und durch das Pathos der Autorität zu entgehen. Nadezda Grigoryeva (Tübingen) verglich in ihrem Vortrag Literatur contra Anthropologie: Das „radikale“ Menschenbild in der sowjetischen Literatur der 1930–50er Jahre Positionen der Philosophischen Anthropologen mit der Darstellung des Menschen in der sowjetischen Literatur. Zwar lasse sich die Rezeption der Anthropologien nicht nachweisen, es werde aber in der Auffassung vom Menschen als einem grenzüberschreitenden und exzentrischen Wesen – worin Grigoryeva die Radikalität des Menschenbildes sieht – ein Einklang sichtbar. Sie setzte in ihrem Aufsatz vor allem Gedanken von Arnold Gehlen (der Mensch als „Mängelwesen“), Helmuth Plessner (Schauspiel und Rollenspiel) und Carl Schmitt (Freund-Feind-Unterscheidung) in Beziehung zum Menschenbild der sowjetischen Schriftsteller Leonid Leonow, Konstantin Fedin, Wasilij Iljenkow, Boris Polewoj und Petr Pavlenko. Vorgestellt von Ines Lindner (Berlin) rundete der 1926 uraufgeführte Film Das Blumenwunder mit seinen seinerzeit als Sensation aufgenommenen Zeitrafferaufnahmen von den Bewegungen der Pflanzen den zweiten Veranstaltungstag auf gelungene Weise ab. Mit Max Schelers Worten könnte man zu diesem Film prägnant

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zum Ausdruck bringen, dass man die Pflanzen atmen, wachsen und sterben sieht. Gewiss ist die Faszination bei allem, was das Kino inzwischen bietet, nicht mehr dieselbe wie damals, doch vermag die Lebendigkeit der Pflanzen in der Epoche der Klimakrise ein ganz neu motiviertes Interesse auf sich zu ziehen.

Sektion 3: Implizite Anthropologien in ästhetischen Produktionen und Diskursen Die dritte Sektion hatte einen stärker experimentellen Charakter. In ihr stellte sich die Frage nach rezeptionsunabhängigen systematischen Überschneidungen und Parallelen zwischen den Ästhetiken der Philosophischen Anthropologen und den Theorien des Künstlerischen. Gleich der erste Beitrag brachte eine Abweichung von der Programmankündigung: Peter Berz (Berlin/Luzern) überraschte mit einem spontanen Themenwechsel und wandte sich statt der angekündigten Bioanalyse des Mundes den Phänomenen des Wachsens und Wachstums zu, was ihm erlaubte, an die Filmvorführung, an Schelers und Plessners naturphilosophische Ansätze und an die ästhetische Komponente der Gestaltung und Gestaltwerdung anzuknüpfen. Er bezog sich in seinem Vortrag mit dem Titel „Vom Wachsen überhaupt“. Ein missing link von Philosophischer Anthropologie und Martin Heidegger auf die 1939 erschienene, noch wenig bekannte, nicht rein philologische Habilitationsschrift des Gräzisten Harald Patzer, der sich der Geschichte des Wortes „physis“ über deren „Grundbedeutung“ oder „Urerscheinung“ annähert. Blicke man bloß auf die Übersetzung mit „Natur“, entgehe einem die darin nicht mehr transportierte Grundbedeutung des pflanzlichen Wachstums als „vom Sein begrenzte“ und „zum Sein hinausstrebende Bewegung“. Eine Besonderheit der Schrift bestehe darin, dass Patzer von dort ausgehend Reflexionen über das Wachstum überhaupt entfalte, an denen sich u. a. Parallelen zu Schelers und Plessners Gedanken feststellen ließen. Zudem habe Patzer seine Gedanken zum Wachstum auf die Geschichte übertragen, wodurch eine Nähe zu Heideggers Ansatz erscheine. Aus diesem Grund schlug Berz vor, Patzer zwischen diesen beiden Ansätzen zu verorten, und wandte sich im letzten Teil seines Vortrags der Technik und ihrem Verhältnis zur physis zu, um von dort aus Schlaglichter auf moderne Techniken zur Unterstützung oder Manipulation des Wachstums zu werfen. Den Ausgangspunkt des Vortrags von Sulgi Lie (Basel), Keep smiling. Gesicht und Grimasse bei Adorno, bildete eine Anekdote, die sich in Theodor W. Adornos Text Zweimal Chaplin von 1964 findet. 1947 wurde Adorno zum Gegenstand von Charlie Chaplins Kunst der Persiflage: Nach einer Abendveranstaltung in Malibu gab Adorno dem kriegsversehrten Schauspieler Harold Russell zum Abschied geistesabwesend die Hand, erschrak jedoch bei der Berührung mit Russells Hand-Pro-

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these (einer „Klaue“) und suchte – vergeblich – seinen Schrecken zu verbergen. Der neben ihm stehende Chaplin spielte die Fehlleistung der diplomatischen Grimasse in einer grotesken Pantomime nach, was der Philosoph als Rettung empfand und wofür er sich in seinem Text bei Chaplin bedankte. Lie rekonstruierte die komplexe Begebenheit, von der Adorno erzählt, und schlug vor, den Text als eine Selbstkritik Adornos zu lesen. Dazu brachte er die Reaktion Adornos mit einigen seiner Begriffe und Theoreme in Verbindung: mit dem Materialismus, dem Begriff der Idiosynkrasie und dem herrschaftskonformen „keep smiling“ der Kulturindustrie. Der mit all seiner leiblichen Geistesgegenwart als Retter in Erscheinung tretende Chaplin, an dessen Reaktion Lie auch filmische und fotografische Elemente kenntlich machte, spiegele Adorno durch die pantomimische Nachahmung sein Fehlverhalten. Peter Remmers (Berlin) stellte in seinem Vortrag Der Mensch im Spiegelbild seiner (Bild-)Schöpfung. Zu leib- und geisttheoretischen Übertragungen der philosophischen Filmtheorie Verbindungen zwischen (1) dem Anspruch des Menschen auf Selbsterkenntnis und Selbstverständnis, (2) technischen Artefakten, in denen sich der Mensch entäußert und die ihm als Modell dienen, und (3) ästhetischen Darstellungsmitteln her, mit denen sich reflexive Momente erzeugen lassen. Im Fokus stand jeweils die Eigenart des Menschen, wie sie sich ihm im Spiegelbild der von ihm geschaffenen und ihm hinreichend ähnlichen, technischen Artefakte offenbare (z. B. Roboter, Cyborg, Kamera). Als theoretische Grundlage diente Remmers die Theorie der Organprojektion von Ernst Kapp. Anhand des Beispiels der Camera obscura, die René Descartes und John Locke als Modell der menschlichen Erkenntnistätigkeit dient, machte er die Relevanz technischer Artefakte für die frühneuzeitliche Erkenntnistheorie deutlich. Im Vergleich mit dieser frühen Projektion zeige sich, so die Annahme Remmers, eine spezifische Stärke des Films: In ihm könne das selbstreflexive Potenzial noch einmal gesteigert werden, wenn der Vorgang der Projektion selbst durch die Montage zum Gegenstand gemacht werde. Erst hier und nicht schon bei der Camera obscura, wie Descartes und Locke angenommen haben, lasse sich eine Subjektposition erfassen; erst hier im dynamischen Prozess werde die Aufmerksamkeit des Zuschauers unter Verwendung des filmischen Mittels der Montage nicht bloß auf ein Objekt gelenkt, sondern auch auf die Art und Weise, wie dieses Objekt gegeben sei. Diese Möglichkeit zeigte Remmers am Beispiel von Dziga Vertovs Film Der Mann mit der Kamera von 1929. Als zweites Beispiel, in dem sich durch das Zusammenspiel der drei oben genannten Aspekte eine andere anthropologische Konstellation ergebe, diente ihm Ridley Scotts Film Blade Runner von 1982. Während Vertov die Leistungen des Films und der Technik für das menschliche Selbstverständnis virtuos in Szene zu setzen verstünde, würde dieses positive Potenzial, das in der Projektion liege,

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in dem Science-Fiction-Film verkannt. In ihm gebe sich eine skeptische Position hinsichtlich der Unterscheidbarkeit des Menschen vom hergestellten Replikanten zu erkennen. Zumindest aus sich selbst heraus, das heißt in der Innenschau, lasse sich die Echtheit nicht mehr überprüfen. Gertrud Koch (Berlin) entwickelte in ihrem Vortrag über Die philosophische Anthropologie in Edgar Morins Filmtheorie grundsätzliche Überlegungen über die Sprache, die Technik und die Imagination (das Ästhetische, die Kunst). Zunächst befasste sich Koch mit dem auch in der Filmtheorie vertretenen, aus ihrer Sicht nicht einzulösenden Anspruch der Ästhetik, einen privilegierten Zugang zu einer noch vor der sprachlichen Vereinzelung des Menschen, der Abstraktion und dem arbiträren Zeichengebrauch verfügbaren expressiven Ursprache bieten zu können. Sie bezog dazu Gedanken von Claude Lévi-Strauss (der sich wiederum auf Rousseau bezog), Béla Balász und Edgar Morin aufeinander. Balász zufolge biete der Film (z. B. mit der Großaufnahme des menschlichen Gesichts) eine universell verständliche Sprache, die lyrisch-musikalische Züge trage. Mit Blick auf die Technik stellte Koch Parallelen zwischen der Ästhetik des Paläontologen André Leroi-Gourhan und den filmtheoretischen Ansichten Sergej Eisensteins her. Leroi-Gourhan betone an der Kunst nicht in erster Linie das expressive Moment, sondern die fundamentale Abstraktionsleistung (die Reflexion auf die Differenz von Formen). Die Abstraktion sei für die Kunst deshalb entscheidend, weil für deren Produktion die Reflexion auf Rhythmen und Werte, die das ästhetische Empfinden ansprechen, erforderlich sei. Dies lasse sich auf den Film und die Theorie Eisensteins übertragen: Die technische Beschaffenheit des Films, der mit Schnittfrequenz und Rhythmus arbeite und metrische Formen erzeuge, trage maßgeblich zur ästhetischen Wirkung bei. Unter dem Stichwort des Imaginären bezog sich Koch auf den französischen Philosophen und Soziologen Edgar Morin. Dieser beschrieb in der 1956 erschienenen Schrift Le Cinéma ou l’homme imaginaire die Möglichkeit einer wechselseitigen Erhellung von Film und Anthropologie. Entscheidend dabei sei die umbildende Kraft der Imagination und die Projektion eigener Ich-Anteile auf die Welt. In den filmischen Bildern würden sich die wirklichkeitsgetreue Wiedergabe der physischen Welt und die Kraft der Imagination durchdringen. Das Kino spiegele dem Menschen so sein eigenes imaginäres Wesen wider und werde für uns zum technisch produzierten Doppelgänger; die Technik vermenschliche die Welt geradezu. Ähnlich bedeutsam sei die Projektion für Jacques Lacan und in der lacanistischen Filmtheorie – hier lasse sich, so vermutete Koch, womöglich eine direkte Verbindungslinie von Morin aus herstellen. Angesichts der Vielfalt an Fragen und Akzentuierungen möchte ich abschließend nur einige wichtige Aspekte herausgreifen: Anthropologie und Ästhetik können sich,

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wie in den Beiträgen deutlich wurde, gegenseitig erhellen. Für die Anthropologie lassen sich folgende Ergebnisse festhalten: 1. Im Vergleich des Menschen mit anderen Lebewesen zeigten sich zwei Tendenzen: Mit der Konzentration auf die farbenprächtigen und harmonischen Gestaltungen innerhalb der Natur und auf den Aspekt der Selbstdarstellung wurde auf eine Kontinuität zwischen den Lebewesen hingewiesen. Im Großteil der Beiträge rückten die ästhetische Erfahrung und die künstlerische Gestaltung als Monopole des Menschen in den Fokus. Sie geben Zeugnis von der dem Menschen eigenen Möglichkeit, sich von seinen Triebinteressen zu distanzieren, von der gestaltenden Kraft seiner Phantasie Gebrauch zu machen und sich auf eine spielerische Weise der Vieldeutigkeit des ästhetischen Gegenstands hinzugeben, an dem sich in der Reflexion Lust oder Schrecken entzünden. 2. Ein weites Feld eröffnete sich mit Blick auf die kulturellen Schöpfungen, in denen sich der Mensch in diversen Kunstformen (Musik, bildender Kunst, Theater, Literatur und Film) entäußert. Je nach Erkenntnisinteresse lag der Fokus mal auf der Autonomie der Kunst, mal auf ihren sozialen, politischen oder epistemischen Funktionen. Für die Ästhetik erfüllt die Anthropologie schließlich eine kritische Funktion, wenn sie auf nicht einlösbare Ansprüche hinweist und mit der Analyse der Sinnesmodalitäten Grenzen und Möglichkeiten künstlerischer Darstellung kenntlich macht. So können zudem Einseitigkeiten aufgedeckt und zurückgewiesen werden. Wenn am Ende einer wissenschaftlichen Veranstaltung der Vorhang fällt und zwar nicht alle, aber doch viele Fragen offen sind, so ist das – zumindest aus der Sicht der Verfasserin – ein gutes Zeichen und eine Anregung für die noch zu leistende Arbeit.

Kontakt Mina Wagener, M.A. Universität Hamburg Philosophisches Seminar Überseering 35 22297 Hamburg E-Mail: [email protected]

IV Rezensionen

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Rezension zu Böhnert, Martin / Köchy, Kristian / Wunsch, Matthias (Hg.): Philosophie der Tierforschung (Bd. 1: Methoden und Programme, Bd. 2: Maximen und Konsequenzen, Bd. 3: Milieus und Akteure), Freiburg und München 2016–2018, 1095 Seiten. Rezension zu Bönert / Köchy / Wunsch 2016–2018 Standen bisher auf dem Gebiet der Tierphilosophie Fragen nach der Differenz von Mensch und Tier, dem Geist der Tiere sowie tierethische Aspekte im Vordergrund, so haben sich die Herausgeber dieser drei Bände eine strukturierte Untersuchung der Tier-Mensch-Verhältnisse zum Ziel gesetzt. Damit nähern sich alle drei Bände der Philosophie der Tierforschung aus einem innovativen Blickwinkel. Sie sind aus dem Kontext der Forschungen des LOEWE-Schwerpunkts Tier – Mensch – Gesellschaft: Ansätze einer interdisziplinären Tierforschung an der Universität Kassel entstanden, dessen Mitglieder die drei Herausgeber sind. Der erste Band trägt den Titel Methoden und Programme und widmet sich der „Geschichte und Systematik der biowissenschaftlichen Tierforschung und insbesondere der Verhaltensforschung“ (S. 10). Das Ziel besteht darin, die „theoretische Richtung der Tierphilosophie durch eine historisch-systematische Wissenschaftsphilosophie der Tierforschung zu erweitern“ (S. 10). Die meisten der Autorinnen und Autoren sind von der Philosophie geprägt, jedoch ist auch ein Vertreter der Zoologie und Neurobiologie als Beitragender beteiligt. Inhaltlich beschäftigen sich die Artikel mit der Beschreibung von Programmen einzelner Forscher, insbesondere des 19. Jahrhunderts. Die Spannweite reicht dabei von Klassikern der Biologie wie Charles Darwin bis hin zu unbekannteren Forschern wie Jean-Henri Fabres. Eve-Marie Engels beleuchtet mithilfe von Notizbüchern die wenig bekannte Seite des Evolutionstheoretikers Darwin. Diese erlauben ihr zufolge eine umfassendere Beurteilung der Radikalität seines Denkens und machen verständlicher, warum seine Theorie eine der drei Kränkungen der Menschheit darstellt. Engels bettet Darwins Erkenntnisse in ein allgemeines Wissenschaftsfeld ein und wirkt dadurch dem Eindruck entgegen, dass der Evolutionstheoretiker nur an rein biologischen Fragestellungen interessiert war. So lässt sich anhand der Notizbücher nachweisen, dass er sich u. a. mit David Hume beschäftigt hat. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 G. Hartung und M. Herrgen (Hrsg.), Interdisziplinäre Anthropologie, Interdisziplinäre Anthropologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28233-2_13

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Kristian Köchy stellt den Insektenforscher und „Frondeur in lebenslanger Einsamkeit“ (S. 85) Jean-Henri Fabres vor, der sein Arbeitszimmer als „kultürlichen Ort“ (S. 91) als Lebensraum sowohl für Insekten wie auch für ihn selbst eingerichtet hatte. Seine Vorstellung vom Freilandforscher mit einem unvermittelten Zugang zur Natur offenbart somit eine romantische Grundhaltung. Köchys Beitrag ist jedoch besonders aufschlussreich im Hinblick auf die Arbeitsweise eines Forschers, der mit geringen finanziellen Mitteln auskommen musste und den akademischen Jargon von sich wies. So konstatierte Farbres: „Das Ärmliche und Einfache steht dem Aufwendigen auf der Suche nach Wahrheit nicht nach“ (S. 95). Den Ausgangspunkt des Behaviorismus und zugleich die methodische Regel des Anti-Anthropomorphismus von Conwy Llyod Morgan stellen Martin Böhnert und Christopher Hilbert vor. Diese diskutieren das Problemfeld des Zugangs zum Fremdpsychischen sowie die Unhintergehbarkeit des anthropomorphen Blickwinkels. Die Vorstellung von Tieren als chemische Maschinen, die durch die Umwelt zu Handlungen gezwungen werden, vertrat Jacques Loeb. Der Autor des zugehörigen Beitrags, Heiner Fangerau, stellt diese mechanistische Auffassung, die von der Kontrollierbarkeit aller Naturvorgänge ausgeht, dem Vitalismus gegenüber. Loebs Haltung ist als dogmatisch zu bezeichnen. Wenn die Ergebnisse seiner Experimente seine Theorie in Frage stellten, dann suchte er die Ursache in den Versuchstieren und nicht innerhalb seiner eigenen Theorie. „Loebs Labor der Kontrolle, der Zwangsbewegung und der physikalisch-chemischen Lebensmaschinen war folglich angewiesen auf eine (Er-)duldung des Forschers durch den Versuchsorganismus, dessen Überleben im Kontext des Versuchs als kooperative Handlung im schwächsten aller möglichen Sinne verstanden werden kann“ (S. 203). Jakob von Uexküll, der 1926 das Institut für Umweltforschung in Hamburg gründete, und seine durch empirische Daten nur unzureichend gestützte, neovitalistische Handlungstheorie ist das Thema des Beitrags von Carlo Brentari. Trotz dieser handwerklichen Mängel lohnt sich dem Autor zufolge ein näherer Blick auf diese, da Uexküll ein Kenner der zeitgenössischen Debatte um die tierlichen Instinkte war. Uexkülls Ansicht zufolge ist das Protoplasma Träger der drei Eigenschaften Formbildung, Regeneration und Regulation. Mit seiner Auffassung steht er populären zeitgenössischen Theorien der Instinkthandlung wie der Reflexketten-Theorie entgegen. Uexkülls Anliegen war die Entwicklung einer anti-mechanistischen Verhaltenstheorie, die von der Plastizität der Instinkte und Reflexe ausgeht. Der Psychologe und Physiologe Wolfgang Köhler, der 1909 bei Carl Stumpf in Berlin promovierte, changiert mit seinen aus der Beobachtung von Schimpansen gewonnenen Erkenntnissen zwischen Philosophie und Psychologie. 1913 wurde er auf Empfehlung seines Doktorvaters von der Akademie in Berlin auf die Anthropoidenstation auf Teneriffa entsendet. Während dieser Zeit entwickelt er die These,

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dass Schimpansen zu einsichtigem Verhalten fähig seien. Die Gestalttheorie als Mittlerin zwischen Philosophie und Psychologie hat zum Ziel, den Nachweis für die Entstehung von Ordnungsmustern in Wahrnehmungsprozessen jenseits von Naturalismus und Idealismus zu finden. Gerald Hartung und Matthias Wunsch beleuchten in ihrem Artikel diesbezüglich die Frage, ob Köhler als Gestalttheoretiker und Verhaltensforscher vermittelbar sei. Denn Köhlers vertretener Kernthese der Gestalttheorie zufolge besteht ein „objektives Korrelat der Wahrnehmungseigenschaften in den realen physischen Vorgängen“ (S. 253). Köhlers Distanz zum Vitalismus läuft in der philosophischen Aufgabe zusammen, eine nicht-vitalistische Alternative zur Zufallstheorie zu entwickeln (S. 264). Matthias Wunsch widmet sich in seinem Beitrag der zwischen Konrad Lorenz und Daniel Lehrman geführten Debatte um angeborene versus erworbene Eigenschaften von Tieren. Laut Wunsch stellt Lorenz den „seltenen Falle eines Tierforschers dar, der einen eigenen Forschungsansatz begründet“ (S. 280) und zudem philosophischen Interessen nachgeht. Dabei greift Lorenz auf Erkenntnisse von Wilhelm Windelband zurück und unterscheidet drei Entwicklungsstadien induktiver Wissenschaft: das Idiographische als Sammlung des Bestands, das Systematische als Ordnung nach Gesichtspunkten der Ähnlichkeit und das Nomothetische als Formulierung von Gesetzen. Lorenz, „ein Tierliebhaber als Tierforscher“ (S. 286), wird von Lehrman für seine Annahme der physiologischen Erklärung von Instinktbewegungen kritisiert. Die über zwanzig Jahre geführte Debatte ist zwar ergebnislos geblieben, bewirkte jedoch eine Schärfung der eigenen Position bei beiden Kontrahenten. Wunsch beschreibt den Verlauf des vielschichtigen Diskurses in einem sehr ausführlichen und informativen Artikel. Der letzte Beitragende des ersten Bandes, Randolf Menzel, macht auf den Umstand aufmerksam, dass die objektive Datenerfassung der Verhaltensbiologie seit den Versuchen von Wilhelm von Osten, in denen die Rechenfähigkeit von einem Pferd („Kluger Hans“) bewiesen werden sollte, unter besonderer Beobachtung steht. Die philosophische Grundierung der Verhaltensbiologie durch Franz Brentano und Edmund Husserl mit ihrer Analyse der Intentionalität wird in dem Artikel genauer beleuchtet. Um dem Vorwurf des Anthropomorphismus zu entgehen, dem die Verhaltensbiologie häufig ausgesetzt ist, diskutiert Menzel die Verwendung des Begriffs Intentionalität, anstatt, wie es einem anderen Ansatz der Tierforschung entspricht, kognitive Erklärungen heranzuziehen und Tieren ein Bewusstsein zuzuschreiben. Der zweite Band trägt den Titel Maximen und Konsequenzen und widmet sich den ethischen, gesellschaftlichen und politischen Fragen im Zusammenhang der Human-Animal-Studies. Ein besonderes Augenmerk wird dabei dem Forschenden zuteil, der sich im Selbstverständnis von der Rolle des Zuschauers zu der eines Mitspielers entwickelt hat. Anders als im ersten Band liefern die Herausgeber in der

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Einleitung eine kurze Zusammenfassung der einzelnen Beiträge. Die Autorinnen und Autoren forschen in den Bereichen Philosophie, Psychologie, Evolutionäre Anthropologie, Theologie, Nutztierethologie und Ethik der Mensch-Tier-Beziehung. Herwig Grimm und Andreas Aigner widmen sich in ihrem klar strukturierten Artikel der Frage des moralischen Individualismus in der Tierethik. Sie diskutieren das Kriterium der Leidensfähigkeit im Zuge des Egalitarismus im Kontrast zu deontologischen Ansätzen. Tierversuche sind in der Bevölkerung hoch umstritten. Diesem Thema widmet sich Arianna Ferrari, die hierbei für die Einbeziehung des psychischen Aspekts plädiert und sich von der körperzentrierten Sichtweise mit ihrer Unterscheidung der invasiven und nicht-invasiven Eingriffe entfernen möchte. Sie diskutiert die Helsinki-Deklaration des Jahres 1964 mit der darin enthaltenen ethischen Begründung für die Notwendigkeit von Tierversuchen bei der Medikamentenherstellung. Dabei erörtert Ferrari das Problem der Quantifizierbarkeit von Leid. In diesem Kontext erläutert sie das innovative Potential, das von dem 2013 beschlossenen, EU-weiten Verbot von Tierversuchen für die Kosmetikherstellung ausgeht. Letztere betreffen zwar nur 0,3 % aller Tierversuche, die Initiation des Verbots hat jedoch die Entwicklung alternativer Methoden in Gang gesetzt. Beispielhaft führt sie die CRISPR/Cas9-Technik an. In ihrem kurzen Beitrag zu Methoden und Konzepten der angewandten Ethologie und Tierwohlforschung diskutiert Ute Knierim den Umstand, dass der Begriff „Natürlichkeit“ (S. 95) hierbei immer mitgedacht wird und erörtert die Problematik des Begriffs „Normalverhalten“ (S. 97). Peter Kunzmann geht in seinem Beitrag auf das Problem des Fremdpsychischen ein. Der Autor bestreitet, dass der tierliche Geist dem des Menschen strukturell ähnlich sei. Bedürfnisse zu haben ist Tieren und Menschen gemeinsam. Wünsche hingegen schreibt der Autor nur letzteren zu. Er bedient sich dabei der Definition von Tieren bei Tom Regan: „experiencing subjects of a life, with inherent value of their own“ (S. 112). Dirk Westerkamp geht in seinem anspruchsvollen Artikel der Frage nach, was nicht-menschliche von der menschlichen Sprache unterscheidet und kommt zu dem Fazit, dass Nicht-sprechen-zu-können eine genuin menschliche Fähigkeit sei. Dem Geist der Tiere geht Markus Wild in seinem Beitrag über die „kleinen Stars der Ethologie“ (S. 169), den Grünen Meerkatzen, nach. Er erörtert hierbei die Erkenntnisse der klassischen sowie kognitiven Verhaltensbiologie und spricht sich für die Annahme kognitiver Zustände von Tieren aus. Im Kontext des Begriffs der Intentionalität diskutiert Wild die verschiedenen Argumentationsgänge vom Agnostizismus („Im Geist der Tiere ist sozusagen niemals das Licht an“, S. 183), über John Locke, der das Tierbewusstsein nutzt, um das Abstraktionsvermögen des

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Menschen zu betonen, bis hin zu David Hume. Im Zuge dessen stellt der Autor das Verhalten des Regenpfeifers vor, der bei Gefahr eine Flügelverletzung imitiert. Von der naturalisierten Erkenntnistheorie wird ihm daher die Fähigkeit zugeschrieben, Wissen erwerben zu können. Das Great Ape Project, initiiert von Paola Cavalieri und Peter Singer im Jahr 1993, wirft die Frage auf, wie der Begriff „Person“ zu definieren und von dem der „Sache“ abzugrenzen sei. Personen können in einem ersten Schritt durch ihre Fähigkeit, ein Ich-Bewusstsein auszubilden und Wünsche zu haben, bestimmt werden. Demnach wären auch Große Menschenaffen sowie Wale Personen. Als Sache hingegen müsste man Wachkomapatienten ansehen, wie Peter Singer das auch tut. Hans Werner Ingensiep unternimmt „philosophische und wissenschaftstheoretische Streifzüge“ (S. 195) zu dem Projekt und diskutiert das Für und Wider der Aufnahme von Menschenaffen in den „ethischen Club“ (S. 217) der Personen. Volker Sommer, „ein bekennender Menschenaffe“ (S. 251), schließt den Band mit einer weiteren Auseinandersetzung des Great Ape Projects ab. Er wirbt offen für den Personenstatus von Großen Menschenaffen und setzt sich in diesem Kontext auch mit Internetkommentaren hierzu auseinander. Der dritte Band trägt den Titel Milieus und Akteure und reflektiert die leibliche Eingebundenheit der Forschenden im Forschungsprozess mit dem Ziel einer „materialen Wissenschaftsphilosophie der Tierforschung“ (S. 14). Wie im zweiten Band werden auch hier alle Artikel kurz zusammengefasst. Die Autorinnen und Autoren forschen in den Fächern Philosophie, Primatologie, Geschichte, Biologie, Angewandte Naturwissenschaft, Entwicklungspsychologie, Komparatistik sowie Sozial- und Kulturgeschichte der Human-Animal-Studies. Kristian Köchy beleuchtet im ersten Beitrag mit Hilfe eines ökologischen Ansatzes den Einfluss des Raumes auf die ethologische Forschung. Dabei skizziert er die Geschichte des Milieubegriffs und geht auf die Beeinflussung von Vertretern der philosophischen Anthropologie durch Uexkülls und Köhlers Erkenntnisse ein. Der Frage nach Tieren als Akteuren bzw. „Co-Workern“ (S. 94) in den Human-Animal-Studies geht Mieke Roscher in ihrem Beitrag nach. Sie bezieht sich auf die von Bruno Latour begründete Akteur-Netzwerk-Theorie, um die binäre Unterscheidung von Natur und Kultur aufzulösen. Roscher will das Verhältnis zwischen Tier und Mensch in den Human-Animal-Studies als performativen Akt begreifen und zieht hierzu ein Zitat von Latour heran: „Das Wort ‚Akteur‘ zu verwenden bedeutet, dass nie ganz klar ist, wer und was handelt, wenn wir handeln, denn kein Akteur auf der Bühne handelt allein“ (S. 112). Weiterhin diskutiert die Autorin subjektorientierte Handlungstheorien und den New Materalism. Ralf Becker beleuchtet das Verhältnis zwischen Forscherleib und Tierkörper und greift den Ausspruch von Alva Edison auf, „dass der Wissenschaftler seinen Körper

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nur braucht, um sein Gehirn damit herumzutragen“ (S. 125 f.). Unter Bezugnahme auf Helmuth Plessners „naturphilosophische Expansion des ‚Dilthey-Programms‘“ (S. 129) rekurriert Becker auf den Begriff der „Umweltintentionalität“ (S. 130). Den häufig artikulierten Verdacht des Anthropomorphismus sieht der Autor durch die Ausrichtung der Tierforschung als kritischen Forschungsgang entkräftet, wenn er transzendental, methodologisch sowie kriteriologisch angelegt ist. Auch Christopher Hilbert setzt sich mit dem Anthropomorphismus auseinander. Er bezieht bei seinen Überlegungen Uexküll und Morgan mit ein. Letzterer wird als Vertreter der komparatistischen Physiologie vorgestellt, der das Forschungsparadigma für die moderne Tierforschung in Form der objektiv beobachtbaren Physis, der physiologisch funktionalen Deutung sowie dem Vorrang der experimentellen Forschung gelegt hat. Der Behaviorismus John B. Watsons mit seiner psychologischen Verhaltenslehre, wird anstelle des Rekurses auf das Bewusstsein als weiterer Entwicklungsschritt der Methode beschrieben. André Krebber möchte die Wendung in der sprachprimatologischen Untersuchung weg von der Subjekt-Objekt-Trennung zugunsten der Akteurs-Netzwerk-Theorie Latours kritisch untersuchen. Als Beispiel führt er Versuche mit der Babyschimpansin Washoe an, die prüfen sollten, ob sie in der Lage sei, sich die menschliche Sprache anzueignen. Die Versuchsergebnisse sind umstritten. Krebber weist in diesem Zusammenhang auf die Differenz des Verstehens von Zeichen und Semantik hin. „Diese nachepistemologische Wende zum nicht-menschlichen Akteur soll die Autonomie eben dieser Akteure versichern. Damit entledigt sich Latour allerdings weder des Problems noch bietet er einen nachhaltigen Ausweg als seine Lösung an. Vielmehr liefert sein Erkenntnisprogramm die Rationalisierung der sich den menschlichen Gesellschaften immer deutlicher in Erinnerung drängenden Verbundenheit des menschlichen Subjekts mit und dessen Angewiesenheit auf das ihm Äußerliche (Natur, Materie, Körper, Tier, Ding, Objekt)“ (S. 209). Als einen Ausweg sieht der Autor die Vermittlung des Subjekts im Sinne der negativen Dialektik Theodor W. Adornos an. Mit der Interaktion von Mensch und Maus am Königlich Preußischen Institut für experimentelle Therapie (IET) sowie am Georg Speyer-Haus (GSH) in Frankfurt am Main in den 1910er Jahren, befasst sich Axel C. Hüntelmann. Er skizziert den Entwicklungsgang der Kellermaus (die „Maus ohne Eigenschaften“, S. 260) über die Passagiermaus hin zur Labormaus. Dabei interessiert ihn der Einfluss des Funktionswechsels des Versuchstiers auf die Interaktion mit den Versuchsdurchführenden. Robert Meunier befasst sich mit der Entwicklung von Zebrafischen in embryologischen und toxikologischen Studien hin zur Nutzung als Modellsystem der Genetik. „Das Aquarium als künstlicher Naturraum, der die vitalen Interessen

Rezension zu Bönert / Köchy / Wunsch 2016–2018

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des Fisches mit den ästhetischen oder epistemischen Interessen des Menschen vermittelt, spielte hier eine besondere Rolle“ (S. 298). Oliver Lubrich und Katja Liebal loten in ihrem Beitrag das Verhältnis von Wissenschaft und Populärkultur anhand des emotionalen Erlebens in der Begegnung mit Gorillas in dem Buch Gorillas in the Mist von Dian Fossey sowie im Film Kong Kong aus. Sowohl die „Sentimental Journey“ (S. 307) Fosseys als auch die filmische Umsetzung bedienen Lubrich und Liebal zufolge ein „koloniales Narrativ“ (S. 301). Dem Einfluss der Geschlechtlichkeit auf den Forschungsprozess gehen Martin Böhnert und Nina Kranke in ihrem Artikel nach. Sie decken stereotype Zuschreibungen aufgrund des Geschlechts sowohl bei der Versuchsleitung als auch bei den Versuchstieren auf. Die Überlegungen laufen auf eine feministische Wissenschaftstheorie hinaus. Dem Verhältnis von Emotionalität und Professionalität geht Sophia Efstathiou in einem sehr persönlichen und engagierten Beitrag nach. Sie fragt sich, was das Gesicht und der Blick des Versuchstiers im Inneren der forschenden Person auslöst. Efstathiou rekurriert auf Emmanuel Levinas sowie Pierre Bourdieu und plädiert für eine „humanimale Forschungsethik“ (S. 390). Der letzte Beiträger des Bandes, Christophe Boesch, setzt sich mit dem Sozialverhalten von Primaten auseinander. Er beleuchtet egoistische und altruistische Verhaltensweisen im Spiegel von Ökologie und Evolution. Insgesamt lässt sich festhalten, dass die Zielsetzung, eine strukturierte Untersuchung der Tier-Mensch-Verhältnisse zu bieten, erreicht worden ist. Den Herausgebern ist es gelungen, durch die Zusammenführung vielschichtiger Beiträge einen neuen Blick auf die Tierphilosophie werfen zu können. Die meisten Beiträge sind zugänglich, gut strukturiert und geben eine erste Orientierung auf dem Gebiet der Tierphilosophie. Andere Artikel richten sich eher an Fortgeschrittene und setzen einen Grundstock an Wissen in kleineren Spezialgebieten voraus. Alles in allem bieten die drei Bände sowohl Überblickswissen als auch Spezialthemen für versierte Forschende auf dem Gebiet der Tierphilosophie. Sie eröffnen durch den interdisziplinären Zugang ein Panorama der aktuellen Debatten und Forschungsbereiche, die diverse Anknüpfungspunkte für weitere Forschung bieten.

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Kontakt Anne Wilken, M.A. Bergische Universität Wuppertal Graduiertenkolleg 2196 „Dokument-Text-Edition“ Gaußstraße 20 42119 Wuppertal E-Mail: [email protected]

Anne Wilken

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Rezension zu Langthaler, Rudolf / Hofer, Michael (Hg.): Existenzphilosophie. Anspruch und Kritik einer Denkform, Wien 2014, 169 Seiten

Rezension zu Langthaler / Hofer 2014

Im aktuellen philosophischen Diskurs führt die Auseinandersetzung mit der Existenzphilosophie allenfalls ein randständiges Dasein. Ihre Blütezeit gehört spätestens seit Ende der 1960er Jahre und der Degeneration des Existenzialismus‘ zu einer Art Modeerscheinung der Vergangenheit. Ein philosophiehistorisches Interesse an ihr ist auch nur episodisch spürbar und geht häufig mit Jahrestagen ihrer Vertreter einher. Eine positive Ausnahme stellt der Band Existenzphilosophie. Anspruch und Kritik einer Denkform des Wiener Jahrbuchs für Philosophie dar. Das zurzeit marginale Interesse an der Existenzphilosophie nehmen die Herausgeber zum Anlass, diese Strömung wieder ins Bewusstsein des gegenwärtigen Philosophierens zu rücken. Der Untertitel deutet bereits an, dass es dabei um mehr als einen rein philosophiehistorischen Beitrag gehen soll, der bei einer Skizzierung diverser Existenzphilosophien stehenbleibt. Vielmehr legen die einzelnen Beiträge den Grundstein für eine kritische Diskussion der Relevanz des existenzphilosophischen Denkens sowie dessen möglichen Mehrwerts für kontemporäre Debatten. Ziele und Grenzen dieser philosophischen Tradition aufzuzeigen und in die Gegenwart zu projizieren umfasst das Vorhaben des Bandes. Dabei finden nicht nur klassische Repräsentanten wie Søren A. Kierkegaard, Martin Heidegger und Albert Camus, sondern auch weniger bekannte Denker wie Franz Rosenzweig oder Heinrich Barth Berücksichtigung. Perspektivisch wird auf Autoren wie Friedrich Nietzsche rekurriert, die nicht in erster Linie der Existenzphilosophie zuzuordnen sind. Komplettiert wird der Band durch zwei freie Beiträge sowie Rezensionen, die hier nicht besprochen werden. Der Titel des ersten Beitrags, Existenzialismus? Kritik und Restitution, lässt erkennen, dass es Wolfgang Janke um eine systematische, sprachlich innovative Weiterführung der Existenzphilosophie geht. Dieser Versuch der Wiederherstellung existenzphilosophischen Denkens möchte „nicht einfach repetieren oder konservativ reaktionär restaurieren, sondern eine umfassendere ,Ecsistenztheorie‘ © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 G. Hartung und M. Herrgen (Hrsg.), Interdisziplinäre Anthropologie, Interdisziplinäre Anthropologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28233-2_14

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in verwandelter Welt mitten im Angang des Europäischen Nihilismus entwickeln.“ (S. 9) Dies geschieht unter Rekurs auf Jean-Paul Sartres Theorie der totalen Freiheit des Menschen, Heideggers Fundamentalontologie sowie Kierkegaards Fokussierung auf den existierenden Geist. Im Anschluss an diese kritischen Analysen werden Prolegomena zu einer „restitutiven Ecsistentialontologie und Ecistentialtheologie“ (S. 27) umrissen. Im Primat der Existenz vor der Essenz ist für Janke das Scheitern der totalen Freiheitsbehauptung in Sartres atheistischem Existenzialismus grundgelegt. Der prima facie revolutionär wirkende Umkehrsatz bleibe eine Scheinrevolution, da beide Relata innerhalb des Verhältnisses nur ihre Stellung wechselten. Heideggers Sartre-Kritik, jede Umkehrung eines metaphysischen Satzes sei selbst wiederum ein metaphysischer Satz, wird damit zugestimmt. Janke nimmt zudem den Verdammnis-Charakter der Freiheit, mithin die Verantwortung der Wahl, die dem Anspruch nach an die ganze Menschheit gebunden ist, ins Visier der Kritik: „Endet die existenziale Totalisierung der Freiheit letztlich in der Entdeckung einer Qual des ewigen Umsonst der Urbegierde […] des Menschen danach, wie Gott werden zu wollen und es nicht zu können?“ (S. 13) In dieser anthropologischen Grundbegierde offenbare sich im Rahmen der Prämissen einer solchen Philosophie die Problematik des Menschen. „Es ist wohl das Scheitern der totalen Freiheit im Rahmen einer auf das Existieren des Einzelnen fixierten Intersubjektivität, welches zu deren Liquidierung geführt hat.“ (S. 14) Dagegen stehe Heideggers Begriff der „Ek-sistenz“, insofern Ek-sistenz im ursprünglichen Sinne als ein Hinaus-Stehen zu verstehen ist. Mittels der Kategorien des Einzelnen, des Interesses und der Verzweiflung widmet sich Janke dem Denken Kierkegaards, bevor er seine Prolegomena zur Restitution des Existenzialismus‘ formuliert. Angesichts des gegenwärtigen, postmetaphysischen und postnihilistischen Denkens sei eine „grundlegende Neufassung der ecsistentialen Seins- und Gottesfrage erforderlich.“ (S. 26) In Abgrenzung zu „existentia“ und „Ek-sistenz“ wird etymologisierend der Terminus „Ecsistieren“ als „geöffnet zu sein für eine Welt, in die man sich geschichtlich hineingeboren findet und zu der man sich fragend, verstehend, entwerfend verhält“ (S. 26) eingeführt. Wirklich seiend ist für uns in Ecsistenz nur das, was uns unmittelbar in unserem Dasein angeht. Dieses „Angehen“ nennt Janke „ecsistentiale Adienz“, das Annehmen „ecsistentiale Attinenz“ und das Abweisen „ecsistentiale Retinenz“ (S. 27). Folgende These vom Sein vereint gleichsam Elemente der Existenz Sartres, der Ek-sistenz Heideggers und der Verzweiflung Kierkegaards: „Keine Adienz ohne Attinenz – keine Anfangswirklichkeit ohne Annahmewahrheit und umgekehrt.“ (S. 27) In dem Beitrag Rosenzweigs neues, existentielles Denken schenkt Wolfdietrich Schmied-Kowarzik einem Autor Aufmerksamkeit, der kaum im Zentrum der Forschungsliteratur steht. Zu Beginn erfolgt eine gelungene philosophiehistorische Kontextualisierung der Existenzphilosophie. Als eine auf eine bestimmte Epoche

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begrenzte, geistesgeschichtliche Strömung lasse sie sich nur als Reaktion auf die Hegemonie der Philosophie Georg W. F. Hegels im 19. Jahrhundert verstehen – initiiert durch Friedrich W. J. Schelling,1 angetrieben von Kierkegaard und fortgeführt von Nietzsche. „Existenzphilosophie“ wird auf die Zeitspanne des 19.-20. Jahrhunderts begrenzt, wodurch Schmied-Kowarzik dem mitunter ausufernden Unterfangen entgeht, existenzorientiertes Denken überhaupt in der Philosophiegeschichte aufzuspüren.2 In Übereinstimmung mit dem common sense der Forschung heißt es: Ohne eine „kritische Durchdringung und Überwindung des Idealismus zerrinnt alles existentielle Denken zu bloßer Standpunktbehauptung.“ (S. 32) Rosenzweigs Denken wird nicht im Binnenbereich der existenzphilosophischen Strömung wirkungs- und rezeptionsgeschichtlich situiert, vielmehr kommt sein eigenes Existenzdenken zur Sprache. Bei ihm vollziehe sich ein mehrdimensionaler Ausbruch aus dem Idealismus: Ein metaethischer, ein metalogischer und ein metaphysischer. „Dreifach also durchbricht das Denken die ihm vom Idealismus gezogenen Grenzen auf Tatsächlichkeiten hin, denen es sich zu stellen hat: Dem Selbst des Menschen, dem Sinn der Welt und dem Sein Gottes.“ (S. 36) Das so skizzierte Denken Rosenzweigs erschafft wieder ein Sensorium für existenzerhellende Fragen. Anhand des Wahrheitsbegriffs wird ein existenzialistischer Topos bei Rosenzweig herauskristallisiert: Wahrheit sei nicht etwas, das wir erkennen, sondern etwas, das wir erfahren. Wahrheit selbst wird in das Werden gesetzt und Rosenzweig rückt in die Nähe Kierkegaards, für den die Subjektivität die Wahrheit ist, wie er es kontrastierend zum objektiven Wahrheitsbegriff formuliert. Auch bei Rosenzweig impliziere das ein Verständnis der Philosophie als Praxis, die sich im konkreten Lebens- und Existenzvollzug zu bewähren hat: „Hier nun beginnt eigentlich das, was Rosenzweig und Ehrenberg das ,neue Denken‘ oder ,neue Philosophieren‘ nennen. Dieses versteht sich […] als ein ,erfahrendes‘ und ,geschichtliches‘ Denken, das die ihm unvordenklich vorausliegende Wirklichkeit in ihrer Sinnhaftigkeit aufzuhellen versucht.“ (S. 43) Seine Philosophie lässt sich in überzeugendem Maße der Existenzphilosophie zuordnen, die darum bemüht ist, „jedem seinen eigenen existentiellen Weg der Bewährung in der Praxis zuzugestehen“ (S. 46), solange dieser auf die sittliche Menschwerdung des Menschen bezogen bleibt. Sandra Lehmann nähert sich aus einer ungewohnten Perspektive der Fundamentalontologie Heideggers in Was nicht existiert. Heideggers existenziale Analytik 1 Siehe auch Schmied-Kowarzik, Wolfdietrich: Existenz denken. Schellings Philosophie von ihren Anfängen bis zum Spätwerk, Freiburg und München 2015. 2 Susanne Möbuß hat in Existenzphilosophie, 2 Bände, Freiburg und München 2015, jüngst ein solch verdienstvolles Unterfangen vorgelegt. Sie geht dabei bis zu Augustinus zurück.

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und das Sein der nicht-menschlichen onta. Im Zentrum steht nicht das, was im Sinne Heideggers einzig und allein existiert, nämlich der Mensch, sondern dort stehen die unbelebten Dinge. Ziel ist es, „eine neue Seinsdimension zu entdecken, die es erlaubt, die Ontologie durch das menschliche Verstehen hindurch, aber über es hinaus zu führen.“ (S. 49) Das mag im Kontext existenzialistischer Philosophie verwundern, wird doch in ihr nahezu unisono die Unhintergehbarkeit des menschlichen Standpunktes betont. Das Defizit der Fundamentalontologie Heideggers bestehe im Mangel, die onta außerhalb eines menschlichen Zweckzusammenhangs zu betrachten. Fundamentalontologie gilt nur für ein Sein, so Lehmann, in das sich Menschen involviert wissen. Daher sei diese nicht imstande, „einen eigenständigen Begriff des Seins des nicht-menschlichen Seienden zu finden, denn auch das Dass des nicht-menschlichen Seienden gehört je schon in die verstehende Auslegung.“ (S. 59) Nach einem Exkurs zu Ernst Blochs Methode des „Eingedenkens“, die Walter Benjamin weiterentwickele, geht Lehmann verstärkt auf den „Dass-Gehalt“ (S. 59) aller Phänomene ein. Das Eingedenken lege den Primat auf den Dass-Gehalt des Seienden und nicht, wie die existenziale Analytik, auf das menschliche Seinsinteresse. Interpretiert man die Phänomene „unter der Prämisse des Dass-Gehalts […], ergeben sich drei wesentliche Bestimmungen“ (S. 60), die sich als zentrale Bestandteile einer neuen Metaphysik begreifen lassen, die das Sein des Seienden weder substanziell versteht noch es gänzlich in das zeitliche Erscheinen auflöst. Der Dass-Gehalt ermögliche allen Phänomenen als sie selbst zu erscheinen, wodurch die Phänomene aufgrund des inkommensurablen Charakters des Dass-Gehalts nicht mit ihren Auslegungen zusammenfallen. Schließlich verweise jener die Phänomene über sich hinaus auf ihren eigenen absoluten Charakter. Heidegger hingegen führe den Dass-Aspekt und die menschliche Seinsauslegung zusammen, was zu kurz greife, da hierdurch Fundamentalontologie auf das Endliche bezogen bleibe. Lehmann verleiht dem Dass-Gehalt dagegen eine metaphysische Dimension und plädiert, das Erscheinen, die Endlichkeit und die Geschichte für den Überschuss zu öffnen, „der die Phänomene aus der Zeit und durch die Zeit hindurch über die Zeit hinausführt“ (S. 63). Eine daran anschließende Existenzphilosophie müsse über Heideggers Existenzbegriff hinausgehen und auf das „Dass-etwas-ist“ zielen, dem etwas Inkommensurables innewohnt. Aus philosophiehistorischer Perspektive lässt sich fragen, inwiefern schon Kierkegaards Verständnis des Einzelnen, der für den allgemeinen Begriff ebenso inkommensurabel bleibt, dem im Ansatz Rechnung trägt. In Christian Grafs Beitrag wird zum einen mit Heinrich Barth auf einen wenig rezipierten Denker eingegangen, zum anderen überrascht der Untertitel Existenzphilosophie als Zentrum einer umfassenden philosophischen Systematik, da die Existenzphilosophie üblicherweise als Gegenentwurf zur Systemphilosophie verstanden wird. Mit Barth erscheint es hingegen plausibel, existenzialistisches und

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systematisches Philosophieren zu verknüpfen, denn eines seiner späteren Werke heißt Erkenntnis und Existenz. Grundlagen einer philosophischen Systematik. Graf skizziert Barths angestrebte, zweifache Horizonterweiterung der Existenzphilosophie: Die Anschlussfähigkeit an die Tradition der philosophischen Systeme muss betont und zugleich die Frage nach der Existenz aus systematischer Sicht um einen umfassenden kosmologischen und ontologischen Rahmen erweitert werden, um dem Vorwurf des Anthropozentrismus zu entgehen. Barth halte am Systemgedanken seiner eigenen philosophischen Bildung fest und unterscheide sich darin von klassischen Vertretern der Existenzphilosophie. Dennoch scheint Barths Systembegriff eine gewisse Offenheit zu implizieren, die der Abgeschlossenheit der idealistischen Systementwürfe entgegensteht. Der für seine Philosophie zentrale Begriff der Existenz ist in zweifacher Weise zu typisieren: Erstens als ein „In-die-Erscheinung-Treten“ (S. 73), womit die Existenz in die Bewegung gesetzt wird, zweitens als ein praxisbezogenes Erkennen. Barth selbst bedient sich des Terminus‘ „existentielle Erkenntnis“ (S. 74). Insbesondere vor dem Hintergrund seiner tiefgründigen Kierkegaard-Exegese klingen Parallelen zu dessen subjektivem Denken an: „Die nicht wirksam werdende Erkenntnis nimmt sich, als bloß theoretische Erkenntnis, gleichsam selbst aus dem Rennen.“ (S. 79 f.) Das erinnert an Kierkegaards Devise, eine Wahrheit zu finden, die für den Einzelnen im hic et nunc relevant ist. Bei Barth handele es sich um eine „vérité à faire“ (S. 80), worin sich eine Nähe zu Kierkegaards Verlagerung der Wahrheit in die prozesshafte Existenz zeigt. Die Existenz sei zum In-die-Erscheinung-Treten aufgerufen, d. h. zu ihrem „Ek-sistere“ (S. 82). Jener Aufruf eignet sich laut Graf nicht nur dazu, Barths Ansatz zu charakterisieren, sondern ihn darüber hinaus von anderen Existenzphilosophien abzugrenzen. Sie kämen zwar in dem Appell überein, sich der konkreten Lebensrealität zu stellen, jedoch enthalte dieser oft eine Drohung – so etwa in Sartres Terminologie des Zur-Freiheit-Verdammt-Seins. Barths Forderung zum „Aufgerufensein“ (S. 82) wird hingegen als Ermutigung verstanden, „dass die Existenz im Horizont der existentiellen Wahrheit existiert, […] dass es keinen guten Grund gibt, uns den Zusammenhang von Entscheidung und Erkenntnis ausreden zu lassen.“ (S. 82) Für Graf entspricht das der Alternative: Entweder ist der Mensch zur Freiheit verurteilt oder zur Freiheit befreit. Allerdings lässt sich rückfragen, ob dieser Unterschied ein inhaltlich-basaler oder nicht ein rein terminologischer ist. Eine klassische Verbindungslinie rekonstruiert Annemarie Pieper in Absurdes Dasein. Albert Camus auf der Spur von Kierkegaard und Nietzsche. Camus teilt mit den Existenzialisten den gemeinsamen Ausgangspunkt der Absurdität des Daseins und den drohenden Sinnverlust, zugleich distanziert er sich von ihren Lösungsansätzen. Piepers Interesse gilt primär den Gemeinsamkeiten, zwischen Kierkegaard und Camus überwiegen jedoch auch ihr zufolge die Unterschiede. Kierkegaard

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versucht bekanntlich das Absurde durch den Glauben zu überwinden, Camus wirft ihm einen Sprung ins Irrationale vor, der die menschliche Vernunft diffamiert. Für Camus sei dies der Stein des Anstoßes, da er der Vernunft eine zentralere Rolle zuerkenne als Kierkegaard: „Camus ist Cartesianer und der Mensch konstituiert sich für ihn als Mensch durch das ego cogito.“ (S. 89) Die auf Sartre zurückgehende Typisierung Camus’ als „Cartesianer des Absurden“ bedarf allerdings einer eigenen Analyse. Zwar bezieht sich Camus seinerseits auf das Cogito, das für ihn zentrale Motiv des Absurden jedoch entspringt nicht der Ratio, sondern einem Gefühls- und Empfindungszustand.3 Er beharrt auf der Aufrechterhaltung der Vernunft bezüglich des Sinn- und Orientierungsverlangens des Menschen, bei Pieper scheint jedoch eine zu starke Akzentuierung der Vernunft bei Camus vorzuliegen. Die Ratio sei die einzige Basis, auf der sich denken und handeln lässt, ohne dass der Mensch sich verliert. Für Camus hat aber bekanntermaßen das Urteil des Körpers ebenso viel Gewicht wie das des Geistes, und so fragt sich, ob der Unterschied zu Kierkegaard nicht vorrangig in seiner strikten Ablehnung jeglicher Transzendenz liegt, die seinem Empfindungsvermögen fremd bleibt. Parallelen zwischen Nietzsche und Camus betont Pieper in deren anthropologischen Reflexionen anhand eines Vergleichs zwischen dem Sisyphos-Mythos und den drei Verwandlungen des Geistes aus Also sprach Zarathustra. In diesen Texten komme die Selbstwerdung des einzelnen Menschen als Anspruch und Aufgabe zum Vorschein. Gemeinsame Prämisse sei die Zurückweisung transzendenter Sinnstiftungen. Sinn ist demnach etwas, das nur der Mensch selbst jeweils für sich generieren kann. Die Verwandlungen des Geistes (Kamel, Löwe, Kind) werden mit den Etappen des Sisyphos assoziiert: Sisyphos im Strafvollzug der Götter entspricht dabei dem Geist auf der Stufe des Kamels, der rebellierende Löwe dem Sisyphos, der die Götter aus seinem Weltbild eliminiert, und schließlich das Kind dem sich seine eigenen Ziele setzenden Sisyphos. Camus kritisiere Nietzsches Identifizierung des Kindes mit dem Übermenschen, der zum Sinn der Erde wird. Er wirft ihm eine Vergöttlichung des Schicksals vor, wodurch ein wenn auch säkularisierter Sinn wieder in die Welt hineinprojiziert wird. Dem Nietzsche-Bild Camus’ liegt ein Missverständnis zugrunde, so Pieper, denn Sisyphos im Sinne einer „horizontalen Transzendenz“ (S. 95), der das alte von den Göttern oktroyierte Menschenbild überwunden hat, kann ebenso als Übermensch beschreiben werden. Zudem stilisiert Camus, so ließe sich ergänzen, seinerseits oft im nahezu emphatischen Sinne die diesseitige Welt zur Gottheit und rückt in die 3

Zur rezeptionsgeschichtlichen Charakterisierung Camus’ als „Cartesianer des Absurden“ siehe Kann, Christoph: Albert Camus – Ein Cartesianer des Absurden?, in: Albert Camus oder der glückliche Sisyphos – Albert Camus ou Sisyphe heureux, herausgegeben von Willi Jung, Bonn 2013, S. 53–72.

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Nähe eines radikalen amor fati. Abschließend werden rhapsodisch Überschneidungen in der Ästhetik zwischen Nietzsches Dionysos-Interpretation und Camus’ Sisyphos erwähnt. Fundamentaler Unterschied sei, dass Nietzsches Dionysos ein einsamer Künstler bleibt, während Camus in L’homme révolté zum Gedanken der Solidarität übergeht. Dort schließen solitaire und solidaire einander nicht aus.4 Mit Hans Schelkshorns Beitrag Revolte und Dialog. Albert Camus und die Diskursethik wird die Spur des französischen Existenzialismus‘ weiter verfolgt und die Themenschwerpunkte werden um ethische Dimensionen angereichert. Die Frage, ob eine existenzphilosophische Ethik überhaupt möglich ist,5 reicht bis zu Kierkegaard zurück. Indem Camus’ moralphilosophische Überlegungen mit der Diskursethik assoziiert werden, gerät eine kaum erforschte Verbindungslinie in den Blick. Camus’ Moral der Revolte enthalte Aspekte, die in den 1970er Jahren von der Diskursethik Karl-Otto Apels und Habermas’ entwickelt worden seien sowie für deren Weiterentwicklung bedeutsame Momente. Die Vorwürfe der Diskursethik, der Existenzialismus bliebe methodisch eine Bewusstseinsphilosophie und moraltheoretisch ein normfreier Dezisionismus, greifen in Bezug auf Camus zu kurz, so Schelkshorn. Das Absurde sei für Camus nur Ausgangspunkt. Er erkenne den Selbstwiderspruch der absoluten Negation, ebenso wesentlicher Baustein der Diskursethik Apels, der die Basis seiner Moralbegründung bilde: Die Ablehnung des Selbstmordes impliziert diejenige des Mordes. Wie dargelegt wird, tritt der Dialog als zentrales Medium hervor und enthält „wie Camus rund zwanzig Jahre vor der Diskursethik herausarbeitet, normativ gehaltvolle Voraussetzungen, vor allem Gewaltfreiheit, Wahrhaftigkeit und die Möglichkeit, neue Argumente einzubringen“ (S. 114). Im Gegensatz zur Diskursethik konstituiere jedoch für Camus der Dialog nicht das letzte Kriterium für Moral. In ersterer sei das Universalisierbarkeitsprinzip nur noch eine Argumentationsregel für praktische Diskurse. Für Schelkshorn geht Camus über Habermas hinaus und schließt bei aller Metaphysikskepsis die Opferbereitschaft nicht per se aus, da für ihn „der Widerstand gegen totalitäre Gewalt, in dem eine ,civitas des Dialogs‘ allererst aufgebaut werden muss, die zentrale Herausforderung für die Suche nach rationalen Begründungen der Moral“ (S. 116) ist. In der Zurückweisung einer Wesensbestimmung des Menschen sei er keineswegs so strikt wie Sartre. Camus spricht tatsächlich, jedoch mit Vorsicht, von einer Natur des Menschen. Es gibt für ihn zwar keine überzeitlichen Ideale, auch 4

Der Übergang vom „ich“ zum „wir“ nimmt eine zentrale Rolle in der Camus-Forschung ein. Siehe u. a. Lauda, Karl-Heinz: Die Entwicklung vom ich- zum gemeinschaftsbezogenen Denken bei Albert Camus, Frankfurt am Main 2011. 5 Der Band Existenzphilosophie und Ethik, herausgegeben von Hans Feger und Manuela Hackel (Berlin und Boston 2014), versammelt dazu Beiträge.

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nicht im Bereich der Moral. „Aber sie sind zugleich, während wir sind.“6 Existenz und Essenz konstituieren sich im Gleichschritt. Camus und die Diskursethik, so das Resümee, konfrontieren die moralische Orientierung mit einer argumentativen Prüfung im Dialog. Bei Camus habe allerdings der universelle Konsens nicht das letzte Wort. „In einer totalitären Herrschaft muss nach Camus abgewogen werden zwischen den Opfern, die durch das Weiterbestehen des Regimes produziert werden, und den Opfern eines gewaltsamen Widerstandes.“ (S. 119) Hier stellt sich die Rückfrage, wie sich diese These zu anderen Aussagen Camus’ verhält, wie: „Wenn ein einziger Mensch tatsächlich getötet wird, verliert der Revoltierende auf gewisse Weise das Recht, von der Gemeinschaft der Menschen zu sprechen, von der er indes seine Rechtfertigung ableitete.“7 Eine gegenwärtige Ungerechtigkeit mittels einer in der Zukunft liegenden Gerechtigkeit zu legitimieren, kommt für ihn nicht infrage, wie u. a. seine Kritik am Kommunismus zeigt. Indem der Band Klassiker sowie weniger bekannte Vertreter der Existenzphilosophie nicht nur aus rein historischem Interesse wieder ins Bewusstsein ruft, sondern insbesondere die Potenziale existenzialistischer Philosophie für gegenwärtige Diskurse, sei es auf dem Terrain der Anthropologie, der Metaphysik/Ontologie oder der Ethik, auslotet, stellt er eine positive Ausnahme dar. Grenzen bestehender Konzepte werden aufgezeigt und zugleich um einen konstruktiven Vorschlag ergänzt. Ähnlich angelegte Projekte zu weiteren Autoren wie Simone de Beauvoir, Karl Jaspers oder Gabriel Marcel könnten sich den vorliegenden Band zum Vorbild nehmen und sicherlich zu einer weiteren Bereicherung der Forschung beitragen.

Kontakt Oliver Victor, M.A. Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Institut für Philosophie Universitätsstraße 1 40225 Düsseldorf E-Mail: [email protected]

6 Camus, Albert: Der Mensch in der Revolte, Reinbek bei Hamburg 2011, S. 370. 7 Camus, Albert: Der Mensch in der Revolte, Reinbek bei Hamburg 2011, S. 367.

Jan G. Michel

Rezension zu Magnus Schlette, Thomas Fuchs, Anna Maria Kirchner (Hg.): Anthropologie der Wahrnehmung, Schriften des MarsiliusKollegs Bd. 16, Heidelberg 2017, 564 Seiten

Rezension zu Schlette / Fuchs / Kirchner 2017

Dreh- und Angelpunkt des vorliegenden Bandes ist der Begriff der Wahrnehmung. Für die anthropologische Forschung handelt es sich dabei um einen Begriff von besonderer Bedeutung, da er mit weiteren Begriffen verwoben ist, die in der Auseinandersetzung mit Kernfragen mit Blick auf die sog. conditio humana unerlässlich zu sein scheinen. So ist der Begriff der (menschlichen) Wahrnehmung im Allgemeinen wohl auch immer eng mit den Begriffen des Körpers (oder des Leibes), des Geistes und der Welt des Menschen verknüpft sowie mit zumindest einigen der vielfältigen und vielschichtigen Verschränkungen dieser Begriffe untereinander. Für die anthropologische Auseinandersetzung mit dem Begriff der Wahrnehmung ist es dabei nicht nur von Bedeutung, dass es die Sinneswahrnehmung dem Menschen ermöglicht, sich zur Welt in Beziehung zu setzen, sondern dass sie ihm außerdem „sein In-der-Welt-sein auf genuine Weise bezeugt“ (S. 33). Dass aber der Begriff der Wahrnehmung für die anthropologische Forschung von großer Bedeutung ist, heißt noch nicht, dass er auch ausschließlich für die anthropologische Forschung von Bedeutung oder Interesse ist. Eher das Gegenteil ist der Fall, spielt doch der Begriff der Wahrnehmung in einer Reihe ganz unterschiedlicher Disziplinen eine tragende Rolle, beispielsweise in den Kognitions- und Neurowissenschaften, in den Kultur- und Medienwissenschaften oder auch in der Soziologie und der Naturphilosophie. Anhand dieser kurzen Auflistung lässt sich bereits ersehen, dass das Gebiet der Wahrnehmungsforschung keineswegs an eine Disziplin gebunden ist, sondern vielmehr mehrere Disziplinen umspannt, und zwar sowohl natur- als auch geisteswissenschaftliche. Angesichts dieser disziplinären Vielfalt könnte man sich nun fragen, worin denn eigentlich noch der eigene Beitrag der Anthropologie zum Verständnis des Begriffs der Wahrnehmung bestehen kann und soll. Auf diese Frage liefert der vorliegende Band in der ausführlichen Einleitung der Herausgeber (Schlette und Fuchs) eine wohlbegründete Antwort: Der Anthropologie wird im Zusammenhang © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 G. Hartung und M. Herrgen (Hrsg.), Interdisziplinäre Anthropologie, Interdisziplinäre Anthropologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28233-2_15

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des vorliegenden Bandes die Funktion einer „Brückendisziplin“ zugesprochen, der die Aufgabe zukommt, die unterschiedlichen Perspektiven, Herangehensweisen und Ergebnisse der natur- und geisteswissenschaftlichen Wahrnehmungsforschung miteinander in Beziehung zu setzen und auf diese Weise – um im Bilde zu bleiben – etwaige disziplinäre Gräben zu überbrücken und so einen besseren Zugang zu und einen fruchtbaren Austausch mit der jeweils anderen Disziplin zu ermöglichen. Dass gerade die Anthropologie die Funktion einer so verstandenen Brückendisziplin besonders gut erfüllen kann, wird von den Herausgebern des Bandes dadurch begründet, dass sie die Anthropologie als ein interdisziplinäres und komprehensives Unterfangen mit Blick auf die wissenschaftliche Erforschung der Natur des Menschen verstehen. Eben dieses Verständnis von Anthropologie wurde auch in der Zusammenarbeit des Marsilius-Kollegs der Universität Heidelberg und der Heidelberger Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST), einem interdisziplinären Forschungsinstitut, zugrunde gelegt, aus deren Sommerakademie 2015 der vorliegende Sammelband zwei Jahre später als Ergebnis hervorgegangen ist. Neben dem Kernziel der interdisziplinären Zusammenarbeit mit Blick auf den Begriff der Wahrnehmung zielte die Sommerakademie darauf, angesehene Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in einen Austausch mit dem sog. wissenschaftlichen Nachwuchs zu bringen, und zwar mit der Maßgabe, „ihre eigenen Forschungsarbeiten im Lichte der Fragestellung einer Anthropologie der Wahrnehmung zu reflektieren“ (S. 9). Diese beiden Zielsetzungen spiegeln sich im Aufbau des vorliegenden Sammelbandes wider, der nach der oben bereits angesprochenen Einleitung in drei Teile gegliedert ist, die wiederum überschrieben sind mit „Annäherungen“, „Erwiderungen“ und „Ergänzungen“. Jeder dieser drei Teile beginnt mit einer kurzen Einführung durch die Herausgeber (immer Schlette und Kirchner), die auch einen Überblick über die im jeweiligen Teil des Bandes versammelten Beiträge enthält. Gerade mit Blick auf den Gesamtumfang des vorliegenden Bandes sind sowohl die ausführliche allgemeine Einleitung als auch die drei kürzeren Einführungen in die Teile des Bandes sehr hilfreich: zum einen für das Verständnis der Grundidee und der Zielsetzung des Bandes, zum anderen für eine Übersicht über die Beiträge und die Struktur des Bandes. Im ersten Teil des Bandes, „Annäherungen“, sind die verschriftlichten und ausgearbeiteten Hauptbeiträge der genannten Sommerakademie versammelt. Es handelt sich dabei um neun Beiträge zur Anthropologie der Wahrnehmung, deren Verbindung nach Auskunft der Herausgeber in der „Überzeugung von der intrinsischen Verbundenheit des Sinnlichen und des Geistigen, von Rezeptivität und Spontaneität in der Welthaltigkeit der menschlichen Wahrnehmung“ besteht (S. 49). Entsprechend der Grundidee des Bandes sind die disziplinären Zugänge

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unterschiedlich und liegen zum Teil sogar weit auseinander; sie reichen von der Beschäftigung mit der Psychophysik des 19. Jahrhunderts über psychologische Entwicklungsforschung, Symbol- und Emotionsforschung und Medientheorie bis hin zu einer wissenschaftsphilosophischen Auseinandersetzung mit Goethes Kritik an Newtons Theorie des Lichts. Auch wenn es mir im Rahmen dieser kurzen Buchbesprechung nicht möglich ist, auf alle Beiträge detailliert einzugehen, möchte ich doch in aller Kürze versuchen, die Inhalte sowie die Spannweite der Beiträge mithilfe einer Übersicht über einige Fragen zu illustrieren, die in diesem umfangreichsten der drei Teile des vorliegenden Bandes berührt oder verhandelt werden. Zu diesen Fragen zählen die folgenden: Inwiefern ergänzen die Ansichten Hermann von Helmholtz’ zur Wahrnehmung diejenigen Gustav Theodor Fechners? Und wie hängt das wiederum mit aktuellen Debatten zusammen, insbesondere über Wahrnehmung als aktivem dynamischen Schätzvorgang? (Stefan Glasauer und Frederike Petzschner) Wie gelingt es bereits Neugeborenen, die komplexe Aufgabe zu bewältigen, Gesichter wahrzunehmen, zu kategorisieren und verschiedene Individuen voneinander zu unterscheiden? Und inwiefern lässt das Rückschlüsse auf die soziale Natur des Menschen zu? (Stefanie Höhl) Was spricht gegen naturalistische und (neuro-)konstruktivistische Wahrnehmungstheorien, denen zufolge Wahrnehmung, grob gesagt, nichts als eine aus Sinnesdaten erzeugte interne Repräsentation oder Simulation der Außenwelt ist (Stichwort „Kopfkino“)? Und was spricht für einen lebensweltlichen Realismus, demzufolge Wahrnehmung Kontakt mit der Wirklichkeit darstellt? (Thomas Fuchs) Inwiefern sind Wahrnehmungen Teil eines Interaktionszusammenhang zwischen einem Organismus und seiner Umgebung? Und worin besteht ihr Handlungscharakter? (Matthias Jung) Wie lässt sich im Zusammenhang von Sprache, Handlung und Kultur Wahrnehmung als intersubjektiv charakterisieren? (Jürgen Trabant) Was ist der Unterschied zwischen sinnlicher Wahrnehmung und moralischer Wahrnehmung? (Sonja Rinofner-Kreidl) Worin besteht die kulturgeschichtliche Prägung des Sehens? (Peter Bexte) Und wie lassen sich Sehen und Raumwahrnehmung im Computerspiel charakterisieren? (Stephan Günzel) Wie ist Goethes wissenschaftsphilosophische Leistung im Kontext seiner Auseinandersetzung mit Newtons Theorie des Lichts zu bewerten? (Olaf L. Müller) Diese Übersicht illustriert, wie verschieden und vielfältig die Zugänge zum Thema des vorliegenden Bandes sind. Wie das bei Sammelbänden nicht selten so ist, variiert zwar die Qualität der Beiträge, es ist aber im Fall des vorliegenden Bandes erfreulich, dass die meisten Beiträge gut geschrieben und so auch für Leser zugänglich sind, die nicht über das andernorts zuweilen vorausgesetzte Hintergrundwissen verfügen. Ein gutes Beispiel ist der Beitrag über Goethe und Newton

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von Olaf Müller, der ohne die bewusste Beibehaltung des „kolloquialen Stil des Vortrags“ (S. 303, Fußnote 53) wohl nicht so gut zugänglich und unterhaltsam wäre. Der zweite Teil des Bandes ist mit „Erwiderungen“ überschrieben. Das trifft es zwar nicht immer ganz genau, da einige der sog. Erwiderungen eher Ergänzungen oder sogar Vertiefungen sind, es ist aber klar, was gemeint ist: Jeder der Beiträge im zweiten Teil ist mit einer der „Annäherungen“ des ersten Teils befasst und stellt insofern eine Erwiderung darauf dar (zum Beitrag von Thomas Fuchs gibt es sogar zwei Erwiderungen). In der Zusammenführung des ersten und zweiten Teils des Bandes werden die Auseinandersetzungen deutlich, die zwischen den Referenten und den Teilnehmern der Sommerakademie geführt worden sind, und es entsteht – soweit man das rein anhand der Texte beurteilen kann – der erfreuliche Eindruck einer offenen, angeregten und kooperativen Diskussionsatmosphäre bei der zugrunde liegenden Sommerakademie. Zwar nicht an allen, aber doch an mehreren Stellen der Beiträge des zweiten Teils finden sich nicht nur kritische, sondern auch bemerkenswert detaillierte Ausarbeitungen oder gar Richtigstellungen in den Auseinandersetzungen mit den Beiträgen des ersten Teils, so dass ein differenziertes Bild mit Blick auf die jeweils behandelte Fragestellung entsteht. Im dritten Teil des Bandes finden sich „Ergänzungen“, denn „schließlich ist die Aneignung und Verarbeitung des erarbeiteten Wissens in wiederum nachfolgenden: ergänzenden und weiterführenden Untersuchungen wichtig für die fortschreitende Erschließung des Forschungsfeldes“ (S. 389). Die Beiträge im dritten Teil sind Fragestellungen gewidmet, die sich bei der zugrunde liegenden Sommerakademie 2015 ergeben hatten. Nach Auskunft der Herausgeber kommt das Projekt damit „zu einem vorläufigen Zwischenstand, dessen Arbeitsschritte der Erschließung, Geltungsprüfung und produktiven Aneignung theoretischer Zugänge zum Gegenstandsfeld menschlicher Wahrnehmung – im interdisziplinären Austausch der Referenten mit den Teilnehmern der Sommerakademie – von den drei Teilen des Bandes erprobt werden“ (S. 389). Wie aus dem Vorangegangenen deutlich geworden sein sollte, verbirgt sich hinter dem recht schlichten Titel des vorliegenden Bandes, Anthropologie der Wahrnehmung, eine Vielfalt an zum Teil und in verschiedener Hinsicht (thematisch, quantitativ, qualitativ) sehr unterschiedlichen Beiträgen. Den Herausgebern ist es aber gut gelungen, den Band auf eine Weise zu konzipieren, dass man in dieser Vielfalt nicht den Überblick verliert, was sich aus meiner Sicht vor allem auf zweierlei zurückführen lässt: Zum einen ist da die ausführliche Einleitung zu nennen, in der ein Grundverständnis von Anthropologie als Brückendisziplin präsentiert wird. Auf dieser Grundlage lassen sich Grundidee und Konzeption des Bandes erschließen. Zum anderen sind die Einführungen in die drei Teile des Bandes hilf-

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reich, vor allem weil sie mit ihren Kurzzusammenfassungen der jeweiligen Beiträge einen Überblick bieten und thematische Überschneidungen oder Anschlüsse kurz benennen. Das ermöglicht eine systematische und fokussierte Lektüre des Bandes. Der vorliegende Band stellt somit das Ergebnis eines ambitionierten Projekts dar, zu dessen (vorläufigen) Abschluss eine Vielzahl von Schritten erforderlich war. Abgesehen von einer offensichtlich erfolgreichen Sommerakademie ist es den Herausgebern mithilfe dieses Sammelbandes gelungen, das Thema „Anthropologie der Wahrnehmung“ einer breiteren Leserschaft zugänglich zu machen und in seiner Komplexität zu präsentieren. Der Band illustriert zudem, dass eine Annäherung sowie ein vertieftes Verständnis der menschlichen Sinneswahrnehmung ein multibzw. interdisziplinäres Vorgehen erfordert (vgl. S. 321). Ich halte eine Fortsetzung des Projekts für wünschenswert.

Kontakt Dr. Jan G. Michel Ruhr University Bochum (RUB) Emmy Noether Research Group „Theologie als Wissenschaft?!“ Chair of Philosophy of Religion & Science Building GA 7/143 Universitätsstraße 150 44801 Bochum E-Mail: [email protected]

Eberhard Schockenhoff

Rezension zu Tewes, Christian: Libertarismus. Willensfreiheit und Verursachung, Frankfurt am Main 2017, 412 Seiten

Rezension zu Tewes 2017

Im Mittelpunkt der dieser Rezension zugrundeliegenden Studie steht die Frage, wie der klassische und moderne Libertarismus weiterentwickelt werden muss, damit er als eine dem Determinismus überlegene Erklärung der menschlichen Willensfreiheit gelten kann. Dabei bezweckt Christian Tewes, den explanatorischen Beitrag aufzuzeigen, den eine akteurskausale Theorie der Willensfreiheit zum Verständnis der Vorbereitung, Abwägung und Instantiierung von Handlungen durch den Menschen als moralisch verantwortliche Person bzw. als personales Selbst leisten kann. Er möchte die kausale Rolle eines Akteurs bei der Hervorbringung einer Handlung, die in dem Begriff der Akteurskausalität durch die Gleichsetzung mit einem unbewegten Beweger noch unterbestimmt bleibt, einer weiteren Klärung zuführen und zugleich die klassischen Einwände gegen den Libertarismus zurückweisen. Häufig wird dieser als eine obskurantistische Position diskreditiert, die mit dem gegenwärtigen naturwissenschaftlichen Forschungsstand unvereinbar sei und obendrein dubiose metaphysische Prämissen wie eine Durchbrechung des Kausalprinzips, den Dualismus oder die Konzeption einer ontologisch offenen Welt voraussetze. Indem Tewes kognitionswissenschaftliche Forschungsansätze mit (leib)phänomenologischen Analysen über die leibliche und soziale Konstitution des Selbst verbindet, leistet er einen weiterführenden Beitrag zum Verständnis moralisch relevanter Phänomene wie Freiheit, Schuld und Verantwortung, mit dem er einerseits die Engführungen einer kausal-deterministischen Handlungstheorie vermeidet, andererseits aber auch die unzulänglichen Erklärungsversuche bisheriger libertaristischer Positionen überwindet. Die vorgetragenen Analysen bewegen sich durchweg auf einem hohen Niveau, da sie die jeweiligen Forschungsansätze, deren Fragestellungen und Ergebnisse sie aufgreifen, zunächst umfassend rekonstruieren, um dann genau den Punkt zu bestimmen, an dem sie als unzureichend zurückgewiesen, korrigiert oder weitergeführt werden sollen. Auf diese Weise gewinnt der Leser einen Überblick über das verminte Gelände, das die Diskurslandschaft zwischen © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 G. Hartung und M. Herrgen (Hrsg.), Interdisziplinäre Anthropologie, Interdisziplinäre Anthropologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28233-2_16

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Befürwortern und Gegnern des Libertarismus gegenwärtig prägt. Zugleich führt ihm Tewes vor Augen, wie sich im Hin und Her von Argumenten und Einwänden eine akteurskausale Verursachung freier Handlungen durch ein personales Selbst denken lässt, ohne den klassischen Einwänden des Determinismus – vor allem dem Zufallsargument und dem Vorwurf einer dualistischen Weltsicht – eine offene Flanke zu bieten. Das erste Kapitel unternimmt den Versuch, für ein anspruchsvolles Verständnis der Willensfreiheit Raum zu schaffen, indem in diesem die entgegenstehenden Annahmen des Determinismus‘ problematisiert werden. Zunächst weist Tewes den Standardvorwurf des zeitgenössischen Kompatibilismus‘ zurück, dass die Annahme einer eigenverantwortlich aufgrund von Wahl und Entscheidung handelnden Person mit unserem naturwissenschaftlichen Weltbild unvereinbar sei, da solche Wesen von außen in den Weltverlauf eingreifen müssten und daher nicht Teil der natürlichen Welt seien. Zu Recht spricht er diesem Einwand den logischen Status einer metaphysischen Annahme zu, die keineswegs aus unmittelbaren naturwissenschaftlichen Forschungsergebnissen hervorgeht, sondern zunächst als begründungsbedürftige Hypothese zu gelten hat. Ein universaler Determinismus folgt zwar aus den Prämissen eines kausal geschlossenen Universums, doch sind diese keineswegs empirisch begründet. Vielmehr setzen die meisten Diskreditierungsversuche der Willensfreiheit ohne weitere argumentative Zwischenschritte einfach voraus, dass der bekannte Laplace’sche Dämon aufgrund seiner Kenntnis des gesamten Naturverlaufs alle freien Entscheidungen und Handlungen eines Menschen sicher vorhersagen könne. Nicht nur der Hinweis auf die Quantenphysik, sondern auch vielfältige Prozesse nicht-linearer Natur, die sowohl im anorganischen wie auch im organischen Bereich auftreten, zeigen jedoch die Grenzen dieser Annahme bereits in naturwissenschaftlicher Hinsicht auf. Aufgrund ihrer zirkulären Argumentation weist Tewes die pauschale Beanspruchung einer naturwissenschaftlichen Denkweise durch die meisten Kritiker des Libertarismus‘ zurück: „Vielmehr ist an deterministische Theorien selber die Anforderung zu stellen, dass sie im Rahmen empirischer Resultate und argumentativer Schlussfolgerungen entwickelt werden, wenn mit ihnen ein Anspruch auf Plausibilität erhoben werden soll“ (S. 30). Dass sich ein durchgängiger universaler Determinismus nicht beweisen lässt, impliziert jedoch keineswegs die Behauptung, dass die Verantwortung des Handelnden für sein Tun und Lassen an keine seiner Entscheidung vorangehende und diese beeinflussende Faktoren wie Wünsche, Neigungen, Charaktereigenschaften und habitualisierte Gewohnheiten zurückgebunden sei. Auch wenn die Instantiierung einer Handlung sich von Gründen leiten lässt, die sich in einem vernünftigen Deliberationsprozess als anderen überlegen erweisen, hängt die Auswahl der Gründe, die der Handelnde als Motive seines Handelns bestimmt, indem er

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ihnen Handlungswirksamkeit verleiht, neben ihrer rationalen Überzeugungskraft auch von seiner mentalen und charakterlichen Disposition ab. Als Voraussetzung freier und verantwortlicher Handlungen kann daher nicht verlangt werden, dass der Handelnde vollkommen souverän und unabhängig von seinen mentalen Vorprägungen entscheidet. Vielmehr genügt das Kriterium der Letzt-Urheberschaft des Handelnden, um die Funktion des freien Willens im Aufbau einer Handlung zu erläutern. Er kann für seine Handlungen nur dann letztgültig verantwortlich sein, wenn er für die seiner Handlung unterlegten Gründe und Motive selbst die letzte und hinreichende Ursache ist. Die aus seinen (rationalen) Gründen und (auch emotionalen, charakterlichen und habituellen) Motiven resultierenden Handlungen dürfen nur nicht vollständig von psychischen Vorgängen oder neuronalen Ereignissen abhängen, auf die er keinen steuernden Einfluss nehmen kann. Zur Klärung dieses Sachverhaltes übernimmt Tewes von Robert Kane den Begriff der „selbstformierenden Willensakte“, der erklärt, warum man einem Akteur zu Recht eine letztgültige Urheberschaft für seine Handlungen zuschreibt, obwohl diese durch vorangehende Dispositionen und Motive beeinflusst sind. Als Luther auf dem Reichstag zu Worms vor dem päpstlichen Delegaten ausrief: „Hier stehe ich und kann nicht anders!“ impliziert dies nicht notwendigerweise, dass er sich dabei als unfrei empfand. Sein „nicht anders können“ verweist vielmehr auf die Stärke der religiösen Überzeugungen, von denen er sich leiten ließ, also auf das Gewicht der Handlungsgründe, die ihn dazu bestimmten, den geforderten Widerruf zu unterlassen. Hätte es überhaupt nicht in Luthers Vermögen gestanden, zu widerrufen, ließe sich nicht mehr einsehen, warum wir ihn ob seiner Standfestigkeit willen bewundern sollen. Im nächsten Schritt zeigt Tewes in der Auseinandersetzung mit den verschiedenen Varianten des Laplace’schen Determinismus auf, warum eine Handlung nur dann als „frei“ bezeichnet werden kann, wenn es dem Akteur zum Zeitpunkt der Entscheidung und Ausführung seiner Handlung ebenso möglich ist, diese zu unterlassen oder eine andere Handlung auszuführen. Nur wenn sich die ontologischen und naturphilosophischen Implikationen dieses Prinzips alternativer Handlungsmöglichkeiten (PAP) den im Determinismus vorausgesetzten Annahmen als überlegen erweisen, behält die Rede von der Willensfreiheit ihren vollen Sinn. Wenn diese mit der Fähigkeit verbunden ist, aufgrund von Abwägungsprozessen, Motiven, Überzeugungen und Gründen dem Handeln Wirksamkeit zu verleihen oder Handlungsimpulse umgekehrt zu suspendieren, erfordert Willensfreiheit schon aus analytischen Gründen die Möglichkeit alternativer Handlungsvollzüge. Zu einer vollständigen Erklärung der Willensfreiheit und der Fähigkeit eines Akteurs, unter Gründen und Motiven selbst auszuwählen, um seine Handlungen

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zu instantiieren, gehört neben dem PAP das Urheberschaftsprinzip und das mit ihm einhergehende Kontrollprinzip. In seiner Analyse der ontologischen Voraussetzungen des Anders-Könnens bzw. der Suspendierung von Handlungsimpulsen zeigt Tewes, dass beides nicht als Durchbrechen von Naturgesetzen oder nachträgliches Falsifizieren nomologischer Erwartungen gedeutet werden muss. Dies erscheint nur dann zwingend, wenn man mit einem stärkeren oder schwächeren Determinismus davon ausgeht, dass alle Ereignisse im gesamten Weltverlauf durch die Reihe ihrer Antezedenz-Bedingungen fixiert und aufgrund der Kenntnis der Naturgesetze sicher vorhersehbar sind. In subtilen Überlegungen zur Wirkung physikalischer Störfaktoren im Rahmen der Gravitation und zur empirischen Begründbarkeit sogenannter ceteris-paribus-Gesetze (CP-Gesetze) zeigt Tewes in einem ersten Schritt, warum das Prinzip des Anders-Handeln-Könnens im Sinne des Libertarismus‘ keine Durchbrechung von Naturgesetzen voraussetzt. Dies ist schon deshalb nicht der Fall, weil es keine strikten deterministischen Verlaufsgesetze gibt bzw. weil deren Postulat metaphysischer Art ist, aber nicht durch erfahrungsbasierte naturwissenschaftliche Erkenntnisse gestützt wird (vgl. S. 89 ff.). Zum gleichen Ergebnis gelangt Tewes durch die Deutung des Phänomens der Instabilität dynamischer Prozesse sowie der nicht-linearen Dynamik von Entwicklungsverläufen, die zu einer weiteren Problematisierung der Determinismus-Hypothese beitragen. Im Einzelnen erläutert er dabei den sogenannten Schmetterlingseffekt, durch den anfangs nur leicht variierende Bewegungsverläufe von Körpern immer stärkere Differenzen in ihren Bewegungsbahnen aufweisen, die Benard-Konvektionen in Strömungsflüssigkeiten sowie die sogenannte Wasserscheiden-Instabilität, nach der zwei Wassertropfen, die sich an einer Wasserscheide trennen, zwar zu ähnlichen, aber niemals wieder zu ihren exakten Ausgangspunkten zurückkehren können. Die Vorstellung einer strukturellen Instabilität naturwissenschaftlicher Gesetze ist jedoch mit der Annahme unvereinbar, dass diese künftige Naturverläufe exakt determinieren. Wenn Gesetze als Ordnungsmuster nicht-linearer Systeme instabil sind, können sie die Verläufe solcher Systeme nicht deterministisch festlegen. Die Probleme der Berechenbarkeit instabiler Dynamiken, die sich nicht nur in der Quantenphysik, sondern auch im mesokosmischen Bereich zeigen, erweisen sich als so erheblich, dass sie aus der Sicht von Tewes eine „Umkehr der Beweislast, was die Wahrheit der Determinismus-Hypothese insgesamt anbelangt“ (S. 107) nahelegen. Das erste Kapitel schließt mit Überlegungen zu „Rationalität, Verursachung und Zufall“. Neben Handlungsalternativen, von denen eine moralisch von vornherein vorzugswürdig ist – diskutiert wird die Alternative, einen vereinbarten Termin zu einem Vorstellungsgespräch wahrzunehmen oder einem verletzten Kind zu helfen –, gibt es zahlreiche Entscheidungssituationen, in denen mehrere Optionen

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gleichermaßen begründet und rational sein können. Dennoch führt dieses Verständnis einer pluralen Rationalität nicht zu der bereits im Mittelalter diskutierten Problematik einer „Freiheit der Indifferenz“, bei der kein stärkeres Motiv und kein besserer Handlungsgrund, sondern allein der Zufall am Ende die faktisch gewählte Handlung bestimmt. Auch wenn die gewählte Handlungsweise nicht auf einer zwingenden Überlegung beruht, die nur zu diesem einzigen Ergebnis führen konnte, muss die schließlich erfolgte Wahl weder zufällig noch irrational sein. Die meisten Entscheidungen im Leben folgen vielmehr bestimmten Vorzugsregeln, die sich aus den Erfahrungen und Lebensplänen der Akteure ergeben. Sie finden „im Licht der Vernunft“ statt und sind somit „weder irrational noch arational, ohne dass jedoch jede einzelne Entscheidung durch einen abschließenden Kriterienkatalog […] als eindeutig rationaler oder eben weniger rational ausgezeichnet werden könnte“ (S. 128). Auf diese Weise lässt sich das für den Libertarismus unverzichtbare PAP mit der für ihn ebenso wesentlichen Annahme vereinbaren, dass rationale Akteure die von ihnen verantworteten Handlungen durch die Auswahl eines bestimmenden Grundes in Gang setzen. Das zweite Kapitel bietet eine detaillierte Auseinandersetzung mit unterschiedlichen libertarischen Positionen anhand der Frage, wieweit es ihnen gelingt, den Zufallseinwand überzeugend zurückzuweisen. Exemplarisch für die Auseinandersetzung mit indeterministisch-ereigniskausalen Theorien wird von Tewes wiederum das Gespräch mit dem Libertarismus von Kane aufgegriffen. Ihm attestiert Tewes das Verdienst, den Libertarismus im zeitgenössischen Diskurs über die Willensfreiheit wieder als eine philosophisch und auch naturwissenschaftlich ernst zu nehmende Position formuliert zu haben. Dabei hebt er drei Theoreme besonders hervor, die ihm für das Verständnis freier Handlungsvollzüge unverzichtbar erscheinen: die Annahme selbstformierender Akte, die Rede von den Urheberschaftsbedingungen freier Handlungen und die Konzeption einer pluralen Rationalität (S. 178). Das letztgenannte Argument, dem er sich grundsätzlich anschließt, scheint Tewes aber noch nicht ausreichend dafür zu sein, den Zufallseinwand begründet zurückweisen zu können. Denn auch wenn die Entscheidung für jede der beiden Handlungsalternativen auf rational nachvollziehbaren Gründen beruht, bleibt noch offen, worin der entscheidende Faktor besteht, der am Ende den Ausschlag dafür gibt, dass sie in die gewählte Richtung geht (S. 151). Die von Kane versuchte Antwort darauf, dass hierfür eine besondere Willensanstrengung notwendig sei, wie sie die Annahme selbstformierender Akte postuliert, ist für Tewes keine überzeugende Widerlegung des Zufallseinwandes. Denn bei Kane bleibt seiner Ansicht nach ungeklärt, wie die kausalen Wirkungen einer Willensanstrengung gegenüber der Wirksamkeit von Gründen, Motiven und Emotionen abgegrenzt werden sollen, ohne dass dies auf die Einführung von „Kräften“ oder weitere kausale Faktoren hinausläuft, die Kane

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als mit dem naturwissenschaftlichen Weltbild unvereinbar ablehnt (S. 159). Obwohl er ihm entscheidende Anregungen für seine eigene Konzeption der Willensfreiheit verdankt, sieht Tewes die Achillesferse in Kanes Konzeption darin, dass sie eine offene Flanke gegenüber dem stärksten Argument des Kompatibilismus‘, dem Zufallseinwand, aufweist. Ein ähnlicher Vorbehalt trifft Geert Keil, einen weiteren prominenten Vertreter des Libertarismus. Indem dieser das geforderte Anders-Können in einer Patt-Situation rationaler Gründe als ein Weiterüberlegen deutet, verweist er zwar auf das Problem der kontinuierlichen Handlungsdurchführung und der fortlaufenden Handlungskontrolle (S. 170). Doch der Zufallseinwand wird damit nur zeitlich verschoben, nicht aber widerlegt. Diese Begründungslücke erscheint Tewes als notwendiger Preis für die ontologische Sparsamkeit, durch die der indeterministische Libertarismus seine naturwissenschaftliche Akzeptanz erkaufen möchte (S. 186). Deshalb schließt sich die Untersuchung in ihrem weiteren Verlauf dem akteurskausalen Paradigma an, das die aktive Hervorbringung einer Handlung als eigenständige Leistung des Handelnden deutet, die nicht durch externe Kausalfaktoren bewirkt ist. Vielmehr muss die Aktualisierung des Handlungsvermögens als ein spontaner Vorgang gedacht werden, der als Realisierung eigener Überlegungen, Motive und Entscheidungen beschreibbar ist und als „direkte Ausübung einer Kraft“ (S. 200) beschrieben werden muss, die den Akteur als Initiator seines Handelns ausweist. Die Rede von einer „Kraft“, die eine spontane Initiierung der Handlung oder auch den Abbruch eines Handlungsvollzuges erlaubt, übernimmt Tewes sowohl aus Thomas Reits Theorie der Willensfreiheit, die ihm als die bislang überzeugendste libertarische Position erscheint, wie auch von O’Connors Explikation der Akteurskausalität. Da die Ausübung einer solchen Kraft oder die Manifestation des Willens selbst einer Ursache bedarf, wenn die akteurskausale Deutung des Libertarismus sich nicht in einem infiniten Regress verlieren soll, muss eine solche exekutive Intention dem Akteur unmittelbar zugeschrieben werden. Nur so lässt sich auch das Problem der zeitlichen Terminierung einer Handlung lösen, wie Tewes am Beispiel eines Telefonats erläutert. Der Handelnde entschließt sich zu einem bestimmten Zeitpunkt t, die geplante Handlung zu realisieren, wobei dieser Entschluss zur Initiierung entweder das Ergebnis eines Abwägungsprozesses oder einer präreflexiven motorischen Intentionalität des Handelnden ist. Hinter der spontanen Aktualisierung des Handlungsvermögens durch den Akteur, der dadurch als Person oder Substanz zur letzten Ursache seiner Handlungen wird, lassen sich keine weiteren Kausalfaktoren mehr identifizieren. Die Einführung des Substanzbegriffes mag an dieser Stelle überraschen, da dieser die Handlungstheorie mit weiteren Schwierigkeiten befrachten kann. Tewes versteht unter „Substanzen“ diachrone, mit sich identische Entitäten oder „autonome Systeme“, die über die

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Fähigkeit zur aktiven und zielgerichteten Selbstdetermination verfügen (S. 221; vgl. auch S. 283). Als auffällige Lücke der beiden letztgenannten Varianten akteurskausaler Theorien wird angemahnt, dass sie dem leiblichen Vollzug willentlicher Handlungen und der Einbettung des Organismus in seine Umwelt keine Bedeutung schenken. Entsprechend vermisst Tewes in den anthropologischen Ausführungen O’Connors zur emergenztheoretischen Wirksamkeit der Person in ihren Handlungen eine Erläuterung der geistig-sozialen Dimension des Menschen. Der Preis für die Ausblendung der leiblich-phänomenalen Dimension des Handlungsvollzuges ist, dass am Ende erneut der Eindruck eines Dualismus von Körper und Geist entsteht und unklar bleibt, was eigentlich durch den Akteur genau verursacht wird. Diesen Erklärungsabbruch möchte Tewes vermeiden, indem er im letzten Kapitel den Forschungsansatz des Enaktivismus zur weiteren Explikation einer akteurskausalen Theorie der Willensfreiheit heranzieht und phänomenologische Ansätze mit kognitionswissenschaftlichen Deutungsversuchen verbindet. Die originellsten Beiträge dieser Studie liegen in der Erarbeitung eines erweiterten Geistbegriffs, in der Annahme präreflexiver Orientierungsleistungen des Organismus im Anschluss an den Aufweis geistgeprägter Strukturen auf der Ebene einfacher Organismen durch Hans Jonas und in der Deutung des Gehirns als eines Beziehungsorgans durch Thomas Fuchs. Der Enaktivismus, dessen Analysen Tewes an dieser für seinen Ansatz zentralen Stelle aufgreift, beruht auf der Annahme, dass es eine Kontinuität von Leben und Geist gibt, so dass dieser bereits in organischen Strukturen präfigurativ wirkt. Dadurch deutet sich eine Lösung an, wie die Entgegensetzung von Körper, Bewusstsein und Geist, die dem Libertarismus den Dualismus-Vorwurf einträgt, überwunden werden kann. Auch die Lokalisierung des Mentalen im Gehirn oder in einzelnen punktförmigen neuronalen Ereignissen erweist sich dann als haltlose Abstraktion, die für zahlreiche Homunkulus-Fehlschlüsse in den Kognitionswissenschaften verantwortlich ist. Die Forschungsrichtung des Enaktivismus, der nach der Verkörperung des Bewusstseins im gesamten Organismus fragt und seinen Ursprung in dessen sensomotorischen Erfahrungen aufdeckt, führt zu der Einsicht, dass „das Gehirn nicht der Sitz des Geistes sein kann, sondern vielmehr als eines seiner zentralen Organe anzusehen ist“ (S. 298). Entsprechend einer erweiterten Theorie des verkörperten Geistes sind Bewusstseinsleistungen nicht nur als ereigniskausale Vorgänge zu sehen, die im Gehirn lokalisierbar sind (wie Wasser im Glas; vgl. S. 340). Vielmehr müssen sie dem gesamten Organismus – oder auf der Ebene eines personalen Selbst: dem gesamten Akteur – auf unterschiedlichen Systemebenen zugeschrieben werden. Das akteurskausale Vermögen, auf das sich der Libertarismus zur Explikation der Willensfreiheit bezieht, tritt deshalb nicht erst auf der personalen Ebene auf. Wie

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die Phänomene der Selbstregulation und der Homöostase belegen, lässt es sich in analoger Weise bereits auf der Ebene einfacher Organismen (Bakterien) und im Tierreich beobachten, weshalb sinnvoller Weise in dieser Sphäre von „Protohandlungen“ (S. 338) gesprochen werden kann, die ein biologisches Selbst (im Gegensatz zu einem personalen Selbst) vollzieht. Beachtet man den relational-prozesshaften Vollzug des Bewusstseins, der sich auf die funktionale Ganzheit des Organismus‘ bezieht, so wird die Standardauffassung der akteurskausalen Kraft des Handelnden, nach der freie Handlungen nur durch eine deliberativ herbeigeführte Entscheidung, also auf einem rein intra-mentalen Weg, initiiert werden, als eine unangemessene Verkürzung erkennbar. Nimmt man hingegen die Verkörperung der akteurskausalen Kraft im Gesamtsystem des Organismus‘ und die Leiblichkeit der Handlungsvollzüge ernst, kann deren Ursprung nicht mehr allein im Gehirn verortet werden: „Das Gehirn ist eben kein Akteur und kann deshalb auch nicht als Träger von Entscheidungen oder als Initiator von Handlungen fungieren“ (S. 328 mit Verweis auf G. Keil). Wesentliche Voraussetzungen freier Handlungen sind vielmehr bereits auf einer basalen präreflexiven Stufe der systemischen Ganzheit des leiblichen Organismus‘ anzutreffen und können in ihrer Bedeutung für das Wirksam-Werden der notwendigen Urheberschaft des Akteurs kaum überschätzt werden. Zieht man die Ergebnisse der leibphänomenologischen Forschung zur Deutung der Akteurskausalität heran, so zeigt sich, dass auch das handelnde Ich kein punktförmiges Ego ist, das „von außen“ auf seinen Körper einwirkt. Vielmehr sind auch die reflexiven Fähigkeiten des Ichs von einem präreflexiven leiblichen Selbstbewusstsein getragen, das bei vielen einfachen Handlungen und Bewegungsvorgängen im Alltag (Zähneputzen, Händewaschen, Bewegungen während des Tennisspiels, usw.) auch ohne bewusste Aufmerksamkeit wirksam ist. Als Ergebnis der Einbeziehung leibphänomenologischer Analysen in die Deutung der akteurskausalen Kraft, auf die diese Form des Libertarismus zur Erklärung der Willensfreiheit rekurriert, lässt sich festhalten: Der freie Wille ist keine Chimäre und kein metaphysisches Gespenst, dessen Annahme zwangsläufig den Vorwurf des Dualismus provozieren muss. Vielmehr kann in der dargestellten Konzeption eines verkörperten personalen Selbst der Handelnde als ein autonomes System betrachtet werden, dem in sinnvoller Weise Handlungen als Ganzem zugeschrieben werden können, ohne dass man diese auf ihre Teilkomponenten reduzieren könnte. Ebenso lässt sich die Entgegensetzung von Emotionen, Stimmungen und Affekten auf der einen und rationalen Handlungsgründen auf der anderen Seite überwinden, die einem Verständnis der Urheberschaft des Akteurs an seinen Handlungen im Wege steht. Die Erkenntnis triftiger oder besserer Handlungsgründe ist weder an die kurze Leine unserer Gefühle gebunden noch verläuft sie einfach quer zu ihnen.

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Den letzten Schritt zum Aufweis der Möglichkeit freier Willensentscheidungen und daraus resultierender Handlungen vollzieht die Arbeit von Tewes, indem sie den Übergang von einem präreflexiven leiblichen Selbstbewusstsein, das in der Eigenmotorik des individuellen Körpers erlebt wird, zu reflektiven Bewusstseinsleistungen analysiert. Damit gerät die soziale und kulturelle Dimension der Genese des Geistes in den Blick, wie Tewes anhand der phylogenetischen und ontogenetischen Vorgänge des Spracherwerbs aufzeigt. Durch die Koevolution von biologischen und kulturellen Faktoren kommt es zur Emergenz eines personalen, zu Reflexion und Deliberation fähigen Selbstbewusstseins, das sich als Zentrum und somit als tätiges „Ich“ seiner Handlungen erlebt. Da bereits der fühlende Leib über ein präreflexives Selbstbewusstsein verfügt, impliziert diese Annahme keine dualistische Anthropologie, sodass diesbezügliche Vorwürfe gegenüber dem Libertarismus ins Leere laufen. Man muss nicht die obskure Vorstellung eines aus einer extra-mundanen Position auf den Weltverlauf einwirkenden Geistes bemühen, um die Möglichkeit selbstformierender Akte und freier Handlungen eines menschlichen Akteurs zu erklären. Vielmehr ist es „dieses personale verkörperte Ich […], das als Träger für akteurskausale, freie Handlungen im Rahmen des Liberartismus infrage kommt“ (S. 354). Im Anschluss an die Überlegungen von Fichte, Husserl und Henrich zur Konstitution des menschlichen Selbstbewusstseins erfährt dabei auch der Begriff der „Spontaneität“ eine weitere Aufklärung, indem er als akteurskausale Kraft zur Selbstdetermination verstanden wird (S. 367). Die Selbstsetzung des Ichs, die alle Bewusstseinsleistungen begleitet, meint nicht die ontologische Erzeugung einer dubiosen geistigen Entität, sondern das „Mit-Bewusstsein einer Tätigkeit“, das alle Denkakte und Handlungen begleitet. Der Vollzug einer freien Handlung wird daher als „Betätigung einer Kraft erlebt […], deren Initiierung, Steuerung, Aufrechterhaltung und Durchführung meine Vollzugsleistung ist“ (S. 368). Die Auswahl eines zureichenden Handlungsgrundes geschieht dabei keineswegs willkürlich, da die Akteure ihre Entscheidungen „im Rahmen ihrer jeweiligen psychischen Verfasstheit und leiblichen Konstitution zu treffen und mit ihren charakterlichen Anlagen und Fähigkeiten, wie auch ihren mittel- und langfristigen Lebensplänen abzustimmen“ (S. 366) haben. Freiheit lässt sich nicht angemessen verstehen, wenn man ihr Wirksamwerden anhand einer isolierten Handlung aufzeigen möchte. Vielmehr ist sie angemessen nur im Kontext der gesamten Persönlichkeitsentwicklung und der biographischen Einbettung in die Lebensgeschichte des Handelnden zu deuten. Durch die Einbeziehung wichtiger Einsichten der Leib-Phänomenologie, der kulturellen Evolution des Menschen und des sozialen Interaktionismus gelingt Tewes eine integrative Theorie des Libertarismus, in deren Rahmen nicht nur die Vollzugsweisen freien Handelns schlüssig aufgezeigt, sondern auch die wichtigsten

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Einwände gegen den Libertarismus, insbesondere der Zufalls- oder Willkürverdacht und der Dualismus-Vorwurf, begründet zurückgewiesen werden können. Die Standardvorwürfe des Determinismus‘ gegen libertarische Konzeptionen der Willensfreiheit lassen sich zumindest in ihrer bisherigen Form nicht aufrechterhalten, ohne hinter das hier erreichte Problembewusstsein zurückzufallen. Mit diesem Ergebnis stellt das eindrucksvolle Buch eine überaus respektable Weiterführung und Vertiefung gegenwärtiger Freiheitsphilosophien dar.

Kontakt Prof. Dr. Eberhard Schockenhoff Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Institut für Systematische Theologie Platz der Universität 3 79098 Freiburg Email: [email protected]

V Kalender

Paul Ziche

Ernst Haeckel (1834–1919): Radikale Wissenschaft, breite Bürgerlichkeit und pazifistische Polemik1

Abbildung 1 Ernst Haeckel mit Gorilla im Phyletischen Museum in Jena. (Alamy Stockfoto) 1

Die einleitende Abbildung auch als Titelillustration in Preuß / Hoßfeld / Breidbach 2006.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 G. Hartung und M. Herrgen (Hrsg.), Interdisziplinäre Anthropologie, Interdisziplinäre Anthropologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28233-2_17

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Paul Ziche

Ernst Haeckel, vor 100 Jahren am 9. August 1919 in Jena verstorben und im Garten seines Hauses beigesetzt2 (er hätte gesagt: seine Asche wurde in die Einheit der Natur zurückgegeben, der er als Person und Wissenschaftler angehört hatte und die er in allen seinen Aktivitäten zelebrierte), hat als Wissenschaftler und Person so polarisierend gewirkt wie kaum eine andere Figur des ausgehenden 19. und des frühen 20. Jahrhunderts. Es ist unmöglich, sich der Figur Haeckel zu bemächtigen, ohne sofort inkompatibel auftretende Beschreibungen zu gebrauchen: In seiner zoologischen Forschung war er mit größter Hingabe mit der mikroskopischen Erforschung kleinster Meereslebewesen befasst. Dies betraf insbesondere einzellige Radiolarien, von denen er hunderte neuer Arten erstmals beschrieb und klassifizierte. Dabei kombinierte er die klassisch-biologische, auf das Kleinste fixierte, taxonomische Forschung allerhöchsten Ranges beinahe unmittelbar mit den denkbar umfassendsten Theorieentwürfen, beginnend mit der Evolutionsbiologie von Charles Darwin. Haeckel ist einer der ersten, der Darwin auf dem Kontinent bekannt macht und er wird der mit Abstand einflussreichste Exponent der Evolutionsbiologie – jedenfalls im deutschen Sprachraum, da er unmittelbar und viel früher als Darwin selbst die Implikationen von dessen Origin of Species für das Verständnis der Position des Menschen in der Natur herausarbeitet.3 Ultimative Detailarbeit und umfassende Theorieperspektiven kommen zusammen; die im Detail erhobene, mikroskopisch präzise Evidenz tausender Beobachtungen trifft die große Theorie, die dann auch spekulative Hypothese sein darf. Ähnlich spannungsvoll ist Haeckels Auftreten als öffentliche Figur. Haeckel positioniert sich als ätzend-polemischer Anti-Klerikalist und Fortschrittsdenker, der eine biblische Schöpfungsgeschichte vor allem deshalb abweist, weil hier der Mensch, abfallend von einem idealen Anfangszustand, eine retrograde Entwicklung genommen habe. Zugleich aber übersetzt er sein „biogenetisches Grundgesetz“ (dazu unten) ohne jede Not – außer dem Ausweis seiner Kompatibilität mit klassischen Bildungstraditionen – auch ins Lateinische,4 zitiert überall Goethe, selbst in Texten wie seinem chauvinistischen Weltkriegstraktat Ewigkeit. Weltkriegsgedanken über Leben und Tod, Religion und Entwicklungslehre von 1915, ist stolz darauf, sein Haus in Jena an einem Ort gebaut zu haben, von dem aus er Schillers Gartenhaus überbli-

2 Zur Biographie vgl. Krauße / Nöthlich 1990; DiGregorio 2005; Richards 2008 und Uschmann 1983. 3 Breitenwirksam in seiner Rede „Über die Entwicklungstheorie Darwins“ auf der Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte in Stettin 1863. Darwin erwähnt er bereits in seiner Monographie über die Radiolarien von 1862; Origin of Species hatte Haeckel bereits 1860 gelesen. Vgl. DiGregorio 2005, S. 77–85. 4 Haeckel 1891, S. 866.

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cken kann, und lässt sich als Adlatus Goethes in einem von klassischen Triptychen inspirierten Gemäldezyklus verewigen, den er in seinem Museum präsentierte.5 Goethe funktioniert in Haeckels Selbstpräsentation als eine ikonische, messianische Zentralfigur, aber genauso als inhaltlicher Gesprächspartner, als Begründer einer Tradition morphologischer, auf Formprinzipien und ästhetische Sensibilität bezogener Forschung. Als Kirchenkritiker gibt er doch die Rituale der Kirche nicht preis, er lässt naturwissenschaftlich begründete Initiationsrituale entwickeln und sich 1904 auf einem internationalen Freidenkerkongress in Rom zum Gegenpapst ausrufen. Er bezeichnet sich selbst als „Pazifist“,6 vertritt aber zugleich massiv nationalistische Positionen, in denen er den europäischen (vor allem den deutschen) Kulturmenschen von den Naturvölkern abgrenzt und insbesondere England eine „Blutschuld“ am Beginn des Ersten Weltkriegs zuschreibt, da England mit dem Verrat an Deutschland ein naturwissenschaftlich begründetes Naturgesetz verletzt habe.7 Weitere Illustrationen dieser Doppelgesichtigkeit der Person und des Phänomens Haeckel lassen sich leicht finden. Aufgrund seiner sozialdarwinistischen Ansichten wird er immer wieder in Bezug zur nationalsozialistischen Ideologie gebracht,8 aufgrund seines Szientismus und seiner kirchenkritischen Haltung war er aber auch eine Anlaufstelle für die Jugendweihen in der DDR, zu deren Vorbereitung ein Besuch in dem von Haeckel zur Vermittlung seiner Ideen begründeten Phyletischen Museum in Jena gehörte, das unterhalb seines Wohnhauses gelegen war.9 Überhaupt sein Haus, von ihm selbst „Villa Medusa“ getauft, war an einem Ort klassischer Reminiszenzen gebaut und, wie Haeckel immer wieder betont hat, in einer besonders ansprechenden Landschaft gelegen. In italianisierendem Stil gestaltet, entspricht sein Haus in der Ausstattung und Dekoration auf den ersten Blick geradezu allen Stereotypen des bürgerlichen Interieurs, aber gerade die bürgerlichsten Elemente der Wohnkultur in seinem Haus – Sofakissen, Häkeldeckchen, Deckenbemalungen, Bücherkästen und Kaffeetassen – sind doch mit den Insignien seiner wissenschaftlichen Forschung verziert: Mit niederen Meerestieren.

5 Heute im Ernst-Haeckel-Haus in Jena. Der Maler, Karl Bauer, hat neben zahlreichen Goethe-Portraits auch Portraits der Größen des Dritten Reichs geliefert. 6 Haeckel 1915, S. 120. 7 Haeckel 1915, S. 112. 8 Vgl. vor allem Gasman 1971. Siehe auch Harrington 2002 zu Verbindungen zwischen Ganzheits-Theorien und totalitärem Denken. Kritisch nuanciert zu einer eindeutigen Vereinnahmung Haeckels für nationalsozialistische Ideologie vgl. Stewart / Hoßfeld / Levit 2019, S. 200. 9 Vgl. Eidner 2009.

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Abbildung 2 Haeckels Arbeitszimmer in seinem Wohnhaus in Jena, der „Villa Medusa“ (Bildquelle: https://www.jenaer-nachrichten.de/ stadtleben/8021-haeckel-haus-in-jena-schließt, letzter Zugriff: 18.08.2019).

Insbesondere Quallen wurden in ihrer Konnotation umbesetzt von schleimig-nesseligen Wesen zu Inkunabeln natürlicher Schönheit. So konnte Haeckel einer verehrten Frau keine größere Würdigung zuteilwerden lassen als eine von ihm neu entdeckte Quallenart nach ihr zu benennen: Seine erste Frau, seine Kusine Anna Sethe, deren Tod ihn im Jahr 1864 schwer traf10, findet in der ikonischen Desmonema Annasethe ihre Verkörperung im Medusenreich.11 Frida von Uslar-Gleichen, mit der ihn eine

10 Haeckel kompensierte seine Trauer mit besonders intensiver radiolarischer Mikroskopierarbeit in Italien. 11 Dies war bereits sein zweiter Anlauf, ein Medusenäquivalent für sie zu finden. Schon zuvor benannte Haeckel eine Mitrocoma Annae. Vgl. Richards 2008, S. 109.

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späte und intensive Beziehung verband,12 wird als Rhopilema Frida verewigt, die sich, wieder übersetzt in Innendesign, auch als Glaslüster im ozeanographischen Museum in Monaco findet.13

Abbildung 3 Desmonema Annasethe und Rhopilema Frida, abgebildet in Haeckels Kunstformen der Natur (Quelle: Haeckel 1998).

Dieses Tableau der zu idealer Schönheit gesteigerten menschlichen Person in Verbindung mit den ebenso idealisierten einfachen Lebensformen zieht sich als Motiv durch Haeckels Werk. Die prominenten Tafeln in den Frontispices seiner Anthropogenie und Natürlichen Schöpfungsgeschichte, in denen Haeckel unterschiedliche Arten, in der Anthropogenie auch unterschiedliche Entwicklungsstadien von Individuen einer Art vergleicht, folgen ähnlichen Mustern (vgl. unten): 12 Richards 2008, S. 392–398. Der Briefwechsel zwischen Haeckel und Frida van UslarGleichen ist ediert bei Elsner 2000. 13 Richards 2008, S. 411. Haeckel hat beispielsweise auch den Lithographen seiner Kunstformen der Natur, Adolf Giltsch, auf diese Weise verewigt.

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Abbildung 4 Titelseiten von Haeckels Natürlicher Schöpfungsgeschichte (1868) und Anthropogenie (1874). (Foto H.-P. Haack)

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Selbst Haeckels körperliche Erscheinung entzieht sich einer eindeutigen Bewertung. Sein Auftreten wird beschrieben als ein Konflikt widerstreitender Erwartungen und Wahrnehmungen: „Man dachte sich diesen modernen Prometheus auf zuchtwählerischer Grundlage auch körperlich als einen Mann, der es unternehmen könnte, gegen den bisherigen Himmel Sturm zu laufen. Wer malt daher das Erstaunen aller derer, welche Haeckel noch nicht von Angesicht kannten, als ein schmächtiger, hoch aufgeschossener Mann mit dem gutmütigsten Antlitz von der Welt und in dem gemütlichsten sächsischen Dialekt (?) seine neue Botschaft verkündete.“14

Wieder ist das Gegenbild ebenso anwesend: Haeckel wird auch als durchtrainierter Athlet beschrieben, dessen Weitsprungrekord aufgezeichnet ist – von welchem anderen großen Naturwissenschaftler kennen wir einen solchen Sportrekord?15 – und im Vorzimmer zu seinem Arbeitszimmer liegen stets noch die Hanteln, mit denen er regelmäßig trainierte. Frida von Uslar-Gleichen nannte ihn noch 1898 ausdrücklich einen „schöne[n] Mann“ und die große Tänzerin Isadora Duncan zeigte sich nicht nur mit ihm auf den Bayreuther Festspielen, sondern schickte ihm auch sehr vertrauliche Briefe.16 Haeckel selbst arbeitete intensiv an seinem Bild im Medium des Gemäldes und der Photographie und stilisierte sich in einer ganzen Reihe von Rollen, die er kraft seiner Persönlichkeit zusammenhielt: Als Wissenschaftler (mit Mikroskop oder Skelett), als Abenteurer und Entdeckungsreisender, als Künstler mit Schlapphut, Staffelei und Klapphocker, und sowohl in Dialog mit wie auch in Abgrenzung von einem Gorilla in seinem Phyletischen Museum. Wissenschaftler und Weltanschauungsdenker, polemisch und pazifistisch, Selbstdarsteller in der Bescheidenheit des Wissenschaftlers und in all diesen Aktivitäten vollständig ironiefrei: Haeckel stellt uns vor die große Herausforderung, eine Perspektive auf Wissenschaft und Anthropologie zu entwickeln, in der diese dualistischen Beschreibungsmuster gerade nicht auseinanderfallen, sondern zusammengebracht werden können. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass Haeckel selbst auf allen Ebenen seines Werks, beginnend mit den allerkleinsten Elementen seiner textuellen Präsentation bis hin zu seinen immer wieder angeführten theoretischen Überzeugungen und seinem Umgang mit einem immer größeren Publikum, nach Formen einer solchen Einheit sucht – reduplikativ ausgedrückt am Ende seines Buches über die Lebenswunder von 1904 als die „Harmonie des Monismus“:17 Innerhalb 14 15 16 17

Schmidt 1914, Bd. 1, S. 140. DiGregorio 2005, S. 28 und S. 101. Zu Haeckel und Isadora Duncan vgl. Richards 2008, S. 420. Haeckel 1904, S. 557.

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einer monistischen und damit von selbst bereits einheitlichen und also auch der Möglichkeit des spannungsvollen Auseinanderfallens entzogenen Weltauffassung will er nochmals den Harmoniecharakter eines solchen Monismus herausarbeiten.

Im ganz Kleinen und im ganz Großen: Pole von Haeckels Werk Haeckel arbeitet selbst genau an den beiden extremen Polen eines als einheitlich aufgefassten Naturganzen: Einerseits im mikroskopisch Kleinen der Radiolarien, im schwer Greifbaren der Quallen, in den ersten Entwicklungsstufen der Embryonalentwicklung; andererseits im ganz Großen einer Generellen Morphologie (so der Titel seines systematischen Hauptwerkes von 1866) und einer biologisch fundierten Weltanschauung, in Titeln wie Natürliche Schöpfungsgeschichte, Welträthsel, Lebenswunder. Neue Daten produziert er im Kleinen, in der Taxonomie der Radiolarien und in embryologischen Studien. Seine theoretischen Perspektiven entnimmt er Darwin, aber auch der morphologischen Tradition, wobei er immer wieder auf Goethe verweist. Die Interaktion dieser Ebenen exemplifiziert seine Anthropogenie oder Entwicklungsgeschichte des Menschen. Gemeinverständliche wissenschaftliche Vorträge über die Grundzüge der menschlichen Keimes- und Stammesgeschichte von 1874 in aller Deutlichkeit. Haeckel stellt sich auf vertrauten Fuß mit den evolutionären Vorfahren des Menschen bis hin zu den einfachsten Einzellern, wenn er beispielsweise „unsere[…] einzelligen Amoeben-Ahnen“ oder „unsere Protisten-Ahnen“ anspricht.18 In derselben Diktion spricht er immer wieder gerade die in ihren taktilen Konnotationen unappetitlichen „Ahnen“ des Menschen an – das beste Beispiel findet sich im 17. Vortrag der Anthropogenie: Die Ahnen-Reihe des Menschen. II. Vom Urwurm bis zum Schädelthier. Der Wurm wird hier nicht nur aufgrund eines umfassenden Stammbaums der Lebensform, sondern einleitend wiederum mit einem Goethe-Zitat aus dem Faust palpabel gemacht („dem Wurme gleich“, wobei Fausts Verzweiflung in dieser Szene von Haeckel nicht thematisiert wird). Diese Vertrautheit mit elementaren Lebensformen erlaubt es zugleich, eine entwicklungsgeschichtliche Perspektive auf den Menschen zu einem mächtigen Kampfmittel zu machen (der selbsterklärte Pazifist Haeckel bedient sich hier einer massiv militaristischen Begrifflichkeit!), wenn Haeckel Kritik an der „Glaubensherrschaft der Kirche“ übt:

18 Haeckel 1874, S. XIII; Haeckel 1891, S. 473.

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„In diesem gewaltigen, weltgeschichtlichen ‚Culturkampfe‘, in welchem mitzukämpfen wir uns glücklich preisen dürfen, können wir nach unserem persönlichen Ermessen der ringenden Wahrheit keine bessere Bundesgenossin zuführen, als die ‚Anthropogenie‘! Denn die Entwicklungsgeschichte ist das schwere Geschütz im ‚Kampf ‘ um die Wahrheit!“19

Im ersten Satz des Textes hatte er noch ganz nüchtern die Vermittlung von „Thatsachen“ angekündigt: Er wolle „die Thatsachen der menschlichen Keimesgeschichte einem grösseren Kreise von Gebildeten zugänglich zu machen und diese Thatsachen durch die menschliche Stammesgeschichte zu erklären“20 – genau diese Nüchternheit wird nun zum Kampfmittel. Zwei der gewichtigsten Theorievorschläge Haeckels haben ihren Ort genau in diesem komplexen Feld, in dem Elementarstes (auch Unappetitliches) und Höchstes zusammengeführt werden. Haeckel weitet den Entwicklungsbegriff, den er bislang vornehmlich als ontogenetischen, auf die Entwicklung eines Individuums fokussierten Begriff eingesetzt fand, mit Darwin zu einem phylogenetischen, die Entwicklung der Arten beschreibenden und erklärenden Begriff aus. Sein entscheidender Schritt besteht nun darin, diese beiden Entwicklungsbegriffe selbst noch einmal zu verbinden: Die Entwicklung eines Individuums rekapituliert in zeitlich geraffter Form die Entwicklung der Arten (von der einzelligen Eizelle über die Entwicklungsstufen des Embryos zum adulten Menschen) und, mehr noch, „Die Phylogenese ist die mechanische Ursache der Ontogenese“.21 Diese These der Rekapitulation der gesamten natürlichen Entwicklung des Lebens in jeder Individualentwicklung benennt Haeckel als das „Biogenetische Grundgesetz“. Der hier gebrauchte Begriff „mechanischer“ Erklärung ist aufschlussreich: Ist der Begriff des Mechanismus in biologischen Kontexten zunächst reduktionistisch konnotiert, so wertet Haeckel diesen Begriff auf und verallgemeinert ihn, indem er die strikte Gesetzmäßigkeit des Organischen im Großen wie im Kleinen betont. Die extremste Version einer derartigen Argumentation findet sich in seinem späten Text zu Kristallseelen von 1917: Ausgehend vom ästhetischen Argument spontaner Ordnungsentstehung im noch relativ neuartigen Phänomen der Flüssigkristalle schreibt Haeckel nun, affirmativ anschließend an Autoren wie Giordano Bruno und Baruch de Spinoza, allen Ebenen des Natürlichen eine Beseeltheit zu. Nicht nur komplexe Individuen, sondern auch Zellen und sogar Kristalle (und mithin auch Atome) sind beseelt. Eine Zurückführung selbst mentaler Phänomene auf das Atom bedeutet in dieser Sichtweise dann keine eliminative Reduktion mehr. 19 Haeckel 1874, S. XIV. 20 Haeckel 1874, S. XI. 21 Haeckel 1874, S. 7.

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Auch in seinen Studien zur Embryonalentwicklung findet sich eine Verbindung von traditionell ‚höheren‘ und ‚niederen‘ Perspektiven. Haeckel benennt Stadia in der Embryonalentwicklung unterschiedlichster Tiersorten, die sich in identischer Weise in unterschiedlichen Arten aufweisen lassen.22 Zugleich aber identifiziert er in seiner „Gastraea-Theorie“ in der becherförmigen Gastrula, entstanden aus der Einstülpung einer kugelförmigen Stufe der Embryonalentwicklung und bestehend aus zwei, in ihrer Funktion erstmals wirklich differenzierten Zellschichten, die „denkbar einfachste Form der Person“.23 Begrifflichkeiten vom ‚höchsten‘ Pol komplexer, philosophisch, religiös und im Selbstverständnis des Menschen sehr positiv konnotierter Begrifflichkeiten – hier der Begriff der Person – werden bereits im Elementarsten gefunden.24 Aufschlussreich ist Haeckels Fußnote zu dieser Passage, in der er zurückverweist auf einen früheren Text über die Biologie der Kalkschwämme: „den festen Individualitäts-Begriff der Person“ erläutert er hier im Rückgriff auf seine generell-morphologische Terminologie „als des Morphon oder des morphologischen Individuums dritter Ordnung“ – der vertraute Personsbegriff wird hier in einen taxonomischen Kontext gesetzt und mit neuen Fachbegriffen belegt. Der mit essentiellen menschlichen Werten besetzte Begriff und die systematische Erschließung einer niederen Lebensform verschmelzen.

Verrätselung, Verfachsprachlichung, populäre Bildung Was die letztere Passage zum Begriff der Person so sperrig macht, ist die Prominenz zunächst unverständlicher neologistischer Fachterminologie. Solche Terminologie gebraucht Haeckel auch in Texten für ein wirklich breites Publikum, etwa in seinem Weltkriegstraktat Ewigkeit – wer möchte in einem Text für ein solches Publikum einen Satz lesen wie „Diese Coenobien der Protisten leiten die Gewebebildung der Histonen ein“?25 Oder, aus demselben Text: „Die vergleichende Biologie und die darauf gegründete monistische Entwicklungslehre führt uns zu der Erkenntnis, daß der historische Fortschritt der Organisation – ebenso im Tierreich wie im Pflanzenreich – hauptsächlich einerseits auf der Vermehrung, der Assozion und zunehmenden Arbeitsteilung der konstituierenden Individuen, anderseits

22 Vgl. die vergleichenden Embryonenabbildungen in der bereits vorgeführten Titelillustration seiner Anthropogenie. 23 Haeckel o. J. [1877], S. 17. 24 Vgl. auch Rieppel 2019. 25 Haeckel 1915, S. 105.

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auf der stärkeren Integration oder Zentralisation, auf der zunehmenden Macht einer Zentralgewalt, die das Ganze regiert (Nervensystem der höheren Tiere), beruht.“26

Neologismen spielen eine große Rolle in Haeckels Œuvre. Er war ein großer Künstler im Kreieren neuer Begriffe und „Ökologie“ ist nur die erfolgreichste seiner Begriffskreationen.27 Auch Haeckels Begriffsprägungen präsentieren eine doppelte Strategie. Als Zoologe, der neue Arten entdeckt und beschreibt, muss Haeckel immer wieder den Adamitischen Akt der Benennung neuer Lebensformen ausführen und dieselbe Kompetenz beansprucht er für Theorien, Disziplinen, Erklärungsbegriffe: Er kann auf diese Weise seine theoretische Arbeit auf dem höchsten Abstraktionsniveau verbinden mit seiner Praxis in klassisch-biologischer Entdeckungsarbeit. Im Benennungsakt werden beide Praktiken verbunden, sodass beide wechselseitig voneinander profitieren. Der Radiolarien-Entdecker kann sich zugleich als Theoretiker präsentieren und der Theoretiker direkt an die konkrete Entdeckungspraxis anschließen. In einer brillanten, die Goethe-Topik durchgehend aufgreifenden Satire von 1912 wird diese Neologistik als das Spiel Haeckels mit schillernden, aber instabilen Seifenblasen karikiert:28

Abbildung 5 Karikatur: Haeckel bläst schillernde Begriffs-Seifenblasen. (aus Reymond, Laien-Brevier)

In der Interaktion mit seinen Lesern hat diese neologisierende Praxis noch eine weitere Funktion: Jeder Leser seiner Texte, der nur der Diktion des Textes selbst 26 Haeckel 1915, S. 104. 27 Vgl. hierzu Schaller 1998. 28 Reymond 1912, S. 19.

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folgt, erhält das Gefühl, Experte und Teilhaber an einem progressiv-innovierenden Projekt zu sein, ohne als Fachwissenschaftler ausgebildet zu sein. Die Kreation neuer Begrifflichkeiten baut das Selbstbewusstsein des Publikums auf und reißt die Schranken zwischen Experten und Laien ein. In seiner Anthropogenie, aufgebaut aus „gemeinverständlichen“ und zugleich „wissenschaftlichen“ Vorträgen, kodifiziert Haeckel diesen Anspruch bereits im Titel. Identische Strategien finden sich in Haeckels Bildpraktiken, allerdings in einer interessanten Brechung. Haeckel sucht nach einer Angleichung unterschiedlicher Lebensformen im Elementaren, denn die Embryonalstadia unterschiedlicher Tierarten – wie prominent illustriert am Anfang seiner Anthropogenie – ähneln sich enorm. Auf der Ebene adulter Wesen hingegen kombiniert er in komplexer Weise eine Angleichung mit einer distanzierenden Geste. In der bereits präsentierten, vergleichenden Abbildung aus der Natürlichen Schöpfungsgeschichte hat Nummer 7 – laut der Bildlegende am Ende des Buches ein „Gorilla (Weib) von Westafrika“ – fein gezupfte Augenbrauen, während der „Chinese (Mann)“ (Nummer 2) oder „Tasmanier oder Vandiemensländer (Weib)“ (Nummer 6) in karikierender Weise vertierlicht werden. Nummer 1, das Idealbild, der „Indogermane (Mann)“, ist, wie auch in der Tafel der Anthropogenie, zur antiken Göttergestalt erhoben. In einer kontroversen Auseinandersetzung um Gabriel von Max‘ Gemälde einer prähistorischen Menschenfamilie, das prominent in Haeckels Arbeitszimmer in Jena hing, wurde gerade die komplexe Emotionalität dieser Familie zum Stein des Anstoßes.29 Haeckels Embryonen können lächeln, seine ausgewachsenen Menschen sind griechische Götter, „Tasmanier“ sind affenähnlich, Gorillas stehen auf gleicher Höhe wie der Mensch.30 Im Konvolut der Tafeln in Haeckels Kunstformen der Natur fallen die wenigen Wirbeltiere (Vögel, Frösche, Schildkröten, Antilopen) aus dem Rahmen, der hier durch Radiolarien und Quallen vorgegeben wird.31 Das Vertraute wird hier zum Exoticum. Auch diese Strategie kann wieder karikiert werden, wenn die visuelle Überzeugungskraft von Haeckels vergleichenden Embryonenbildern durch eine morphologische Ähnlichkeit von Embryo und deutschem Michel kritisch beleuchtet wird:32

29 Vgl. u. a. Morton 2009. 30 Auf dem eingangs präsentierten Haeckel-Portrait mit Gorilla steht Haeckel, aber auch der Gorilla auf einem Sockel! 31 Die Tafeln zu den nach Frauen benannten Quallen in Abb. 3 geben einen Eindruck von diesem Werk. 32 Reymond 1912, S. 18.

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Abbildung 6 Gabriel von Max: Pithecanthropus alalus (1894), Ernst-HaeckelHaus, Jena

Abbildung 7 Karikatur: Morphologische Verwandtschaft zwischen Embryo und deutschem Michel. (aus Reymond, Laien-Brevier; eigener Scan)

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Durchgehend argumentiert Haeckel visuell mit ästhetischen Argumenten, nicht nur in der vielfältig variierten Symmetrie seiner Radiolarien- und Medusenabbildungen, sondern auch in seinen Abbildungen von Primaten und Affen. Auch diese Argumentation kann unterschiedliche Wendungen nehmen. Kann es nicht sein, so fragt er in seiner Anthropogenie, dass der Widerstand gegen die These von der

Abbildung 8 Haeckel und Gabriel von Max: Apotheose des Entwicklungsgedankens.33 (Quelle: Haeckel-Haus, Jena)

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33 Richards 2008, S. 418

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Abstammung des Menschen vom Affen vor allem auf ästhetischen Vorbehalten beruht?34 Und ist es dann nicht erforderlich, gerade mit ästhetischen Argumenten gegenzuhalten – so in seiner Charakterisierung des Nasenaffen (Nummer 11 in der Tafel aus der Natürlichen Schöpfungsgeschichte), „der eine schön gebogene lange Nase besitzt“?35 Zusammen mit Gabriel von Max adaptiert Haeckel dann einen klassischen Topos religiöser Ikonographie, durch Peter P. Rubens und Pieter Breughel perfektioniert, wenn er das Ideal (weiblicher) Schönheit in einem Kranz anderer Lebensformen präsentiert: Haeckels Bilder haben viel Aufmerksamkeit erhalten, einerseits aufgrund seiner genialen Fähigkeit, Ikonen wissenschaftlicher Abbildung zu schaffen, die universell breitenwirksam werden können, andererseits aber auch wegen des Vorwurfs betrügerischer Verfälschung von Daten. Extremstes Beispiel seiner Strategie der Angleichung: In der ersten Auflage seiner Natürlichen Schöpfungsgeschichte verwendet er dreimal denselben Druckstock für drei nebeneinander stehende Abbildungen der Embryonen von Hund, Huhn und Schildkröte (aufgrund der rasch vorgebrachten Kritik modifiziert Haeckel seine Abbildungen in den Folgeauflagen). Auch die vergleichenden Embryonenabbildungen in seiner Anthropogenie werden wegen zu großer Stilisierung kritisiert. Haeckel hat eine doppelte Antwort: Er möchte gerade die Ununterscheidbarkeit im Embryostadium illustrieren und muss also Abbildungen wählen, die wenig voneinander abweichen. Zudem hält er die Rekonstruktion und Abbildung eines Typus, eine „schematische“ Abbildung, für ein legitimes Darstellungsmittel.36

Naturalistisches Regime der Anführungszeichen Im Allerkleinsten verwendet Haeckel die elementarsten Text- bzw. Schriftbestandteile. Interpunktion – das textliche Äquivalent zu Radiolarien im Naturbereich? – als komplexes und mehrfach belegtes Ausdrucksmittel. Insbesondere das Anführungszeichen erfüllt gleichzeitig eine Vielzahl von Funktionen: Ausweis eines Zitats, Markierung eines Buchtitels, Hinweis auf einen neugeprägten Begriff, Betonung von Begriffen, und insbesondere auch das auffällige, kritische Herausheben eines 34 Haeckel 1891, S. 844. 35 Haeckel 1891, S. 607. 36 Haeckel 1868, S. 248. Haeckel geht im Apologetischen Schlußwort in Haeckel 1891 auf die Vorwürfe gegen seine Abbildungen ein. Vgl. z. B. auf S. 859. Eingehend zur Diskussion um betrügerische Fälschungen seitens Haeckels vgl. vor allem Hopwood 2006; Hopwood 2015.

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Begriffs oder einer Wendung, die Haeckel zurückweisen möchte. In dieser Funktion kann das Anführungszeichen noch kombiniert werden mit dem Ausrufezeichen – auch vielfach als polemisch-kritisches Mittel gebraucht – und mit der Sperrung. Für einige typische Beispiele kann Haeckels Antwort auf einen Text Rudolf Virchows, den Haeckel unter dem Titel Freie Wissenschaft und freie Lehre scharf kritisiert, ausgewertet werden. Haeckel setzt hier den „Kampf um’s Dasein“ in Anführungszeichen, ebenso wie seine eigene Idee einer „automatischen Beweglichkeit“ des Protoplasmas und den Terminus der „Zellseele“, der auch Publikationstitel Haeckels ist, und darüber hinaus auch die von ihm kritisierte, „liberale“ Tendenz der Presse oder das „Monopol der Erkenntnis“, das sich in Frankreich durch zentralisierende Tendenzen ergeben habe.37 In diesem Text kritisiert Haeckel (mit einem wiederum durchaus nationalistischen Argument) die Stilistik Emil DuBois-Reymonds, dem er vorwirft, „die Schwächen der Beweisführung und die mangelnde Tiefe der Gedanken höchst geschickt durch glänzende Thesen und Antithesen, durch treffende Bilder und blumenreiche Gleichnisse, kurz durch all‘ jenes rhetorische Phrasen-Werk zu verstecken […], in welchem der gewandte französische Nationalgeist plumpen deutschen so sehr überlegen ist.“38

Haeckel möchte Nüchternheit, er möchte den „harten Kern“39 herausarbeiten und will hierzu anti-rhetorisch, mit einfachen Mitteln, anti-französisch formulieren. Sein Regime der Anführungszeichen ist ein besonders elementares Beispiel hierfür: Im Nebeneinanderstellen von Buchtitel, (neologistischer) Fachterminologie und den von ihm kritisierten Positionen vertraut Haeckel darauf, dass sich die von ihm abgewiesenen Ideen von selbst desavouieren. Er enthebt sich der Argumentation und trägt seine Kritik, bei aller Schärfe, in einem Gestus der Selbstverständlichkeit vor. Wie in seiner Fachterminologie erlaubt sich Haeckel eine große Naivität, die versucht, überall durchschimmern zu lassen, dass diese naive Haltung sich durchgehend berufen kann auf eine bis in alle Details ausgearbeitete fachwissenschaftliche Grundlage.

37 Haeckel 1878, S. 76, S. 83 und S. 92. 38 Haeckel 1878, S. 78 f. 39 Haeckel 1878, S. 79.

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„Wollen Sie mich uzen?“ Randbemerkung zu Haeckel und Dilthey Pazifismus und Polemik, gleichzeitig und in Verbindung, durchziehen auch eine kleine, randständige, aber doch interessante Auseinandersetzung zwischen Haeckel und dem großen philosophischen Theoretiker der Geisteswissenschaften, Wilhelm Dilthey. In seiner Einleitung in die Geisteswissenschaften von 1883 geht auch Dilthey auf DuBois-Reymond ein und spricht einem Naturalismus à la Haeckel ab, in den Grundlegungsdebatten zur Unterscheidung zwischen Geistes- und Naturwissenschaften eine neue Perspektive einzubringen. Die entsprechende Passage liest sich so, als ob Dilthey den Haeckelschen Einsatz entschärft und seiner eigenen Analyse unterschiedlicher Wissenschaftskonzeptionen unterordnet: „Wird, wie von Häckel und anderen Forschern geschieht, ein Versuch vorgelegt, durch die Annahme eines psychischen Lebens in den Bestandteilen, aus denen der Organismus sich aufbaut, eine solche Einordnung der geistigen Tatsachen unter den Naturzusammenhang herzustellen, dann besteht zwischen einem solchen Versuch und der Erkenntnis der immanenten Schranken alles Erfahrens schlechterdings kein Verhältnis der Ausschließung.“

Versuche zur „Feststellung der bestimmten Art von Unvergleichbarkeit“ zwischen „geistigen Tatsachen“ und „materiellen Vorgängen“ sind, Dilthey zufolge, „alt“, „so alt beinahe, als das strengere Nachdenken über die Stellung des Geistes zur Natur“.40 Diese Passagen sind deutlich von der Überzeugung getragen, dass Dilthey selbst, mit seinen Mitteln lebensphilosophisch-geisteswissenschaftlicher Argumentation, einen vollgültigen Beitrag zu diesem Problem leisten kann. Vor diesem Hintergrund ist bemerkenswert, dass Dilthey schärfstens ins Gericht geht mit einem Haeckelsch inspirierten Monismus, wenn er Haeckels Schüler Max Verworn in Berlin in dessen philosophischer Doktorprüfung befragt.41 Verworn konstatiert vorab: „Nicht immer war es in jener Zeit in Berlin eine Empfehlung, wenn man sich zu Haeckels Anschauungen bekannte“. Nach seinen philosophischen Interessen befragt, nannte Verworn den „modernen Monismus“, was bei Dilthey auf Abwehr gestoßen sei: „‚Monismus? Monismus kenne ich nicht.“ In der eigentlichen Prüfung, zu Gottfried W. Leibniz thematisierte, stellte Verworn in Harmonie mit monistischer Lehrweise dar, „in welcher Weise Leibniz durch Giordano Bruno und Spinoza beeinflußt wäre“. Dilthey reagiert aufgebracht – das Bild eines über den Tisch springenden Dilthey, der aus der gepflegten professoralen 40 Dilthey 1923, S. 12. 41 Schmidt 1914, Bd. 2, S. 331 f.

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Haltung in Akrobatik und aus der akademischen Sprache in die Umgangssprache verfällt, verändert unser Bild dieses Philosophen sicherlich, wenn es denn wörtlich zu nehmen ist! – und bringt dann auch den ganzen Saal in Aufruhr: „Kaum waren die ersten Worte meinen Lippen entflohen, da sprang Dilthey mir über den Tisch entgegen mit blaurotem Gesicht und schrie mich an: ‚Wollen Sie mich uzen?“42 Angesichts der durchgehenden Betonung von „Einheit“ und „Leben“ bei Dilthey, angesichts seiner eigenen Überzeugung, dass die Abgrenzung des Natürlichen vom Geistigen nicht unbedingt im kontroversen Konflikt von Forschern beider Richtungen ausgetragen werden muss, ist diese impulsive Schärfe Diltheys auffällig. Ebenso bemerkenswert ist Haeckels anti-philosophische Stellungnahme in seinen Lebenswundern, wieder unter Berufung auf akademische Prüfungen, denen er beiwohnen konnte. Er verurteilt die – wieder in Anführungszeichen gesetzte – ‚Begriffs-Akrobatik‘ der Philosophen; und die integrative Naivität, die Haeckel bereits mehrfach zu empfehlen und begründen suchte, kehrt auch hier zurück:43 „Nach meiner Ansicht ist jeder gebildete denkende Mensch, der nach einer bestimmten Weltanschauung strebt, ein ‚Philosoph‘.“44

Harmonie des Monismus – Haeckel als pazifistischer Polemiker Wer Haeckel folgt, ist gebildet, ist denkend, ist Philosoph und findet Anschluss beim Fortschritt der Wissenschaft. Die Schlüsselbegriffe, mit denen Haeckel diesen Anspruch zu unterbauen sucht, sind die Begriffe der „Harmonie“ und des „Monismus“, die er am Ende der Lebenswunder auch programmatisch verbindet,45 immer wieder im Rückgriff auf Goethe, Giordano Bruno und Spinoza: Ein Monist muss sich nicht für die Materie oder für den Geist, oder gegen Materie oder Geist entscheiden, nicht für die Wissenschaft und gegen die Philosophie oder Kunst. Ein konsequent durchgeführter Monismus nimmt eine Perspektive ein – Spinozas 42 Grimms Wörterbuch nennt u. a. „foppen“, „vexieren“, „necken“, „verächtlich machen“ als Äquivalente für „uzen“. 43 Haeckel 1904, S. 532. 44 Zu Haeckels Verbitterung angesichts der ablehnenden Haltung der Fachphilosophie zu seinen Ideen und seiner Person vgl. Ziche 2000. 45 Haeckel 1904, S. 557. DiGregorio 2005 bietet eine Dreiheit von Begriffen an, die Haeckels Werk durchgehend bestimmten: Entwicklung, Einheit, Ewigkeit. Interessant ist auch das Werk Heinrich Schmidts, eines Schülers und Verehrers von Haeckel, bezüglich einer monistisch begründeten Ethik unter dem Titel Harmonie. Vgl. hierzu Stewart / Hoßfeld / Levit 2019.

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Einheit von Natur, Materie und Geist ist das philosophiehistorisch prominenteste Beispiel –, die jegliche einseitige Festlegung, jeglichen Dualismus abweist. Haeckels Darstellungsstrategie inkorporiert diese Ideen in die Feinstruktur seiner Texte, bis hinein in die Interpunktion; seine Aktivitäten in der Massenorganisation des „Deutschen Monistenbundes“, dessen erster Ehrenpräsident er war, tragen diese Ideen in die breite Öffentlichkeit einer sehr aktiven Weltanschauungsorganisation.46 Haeckels Monismus und sein Harmoniestreben führen direkt zu einem großen Problem: Haeckel möchte Fachpublikum und breite Leserschaft zusammenbringen, glaubt an Fortschritt und klassische Kulturwerte – wie aber ist dann die ubiquitäre Polemik zu begreifen, in seinem eigenen Werk und in der Rezeption? Haeckel sucht überall Grenzbestimmungen von Wissenschaft auf – eine verantwortliche Weltanschauung muss auf wissenschaftlicher Basis errichtet werden. Andererseits sucht er überall nach Grenzüberschreitungen: Ein Monismus erkennt innerhalb des wissenschaftlich-monistisch erschlossenen Bereiches gerade keine Grenzen mehr an und argumentiert gegen alle Versuche, Abgrenzungen und mithin Dualismen zu introduzieren. Haeckel möchte den Menschen feiern und zugleich naturalisieren, Natur im ganz Großen und im ganz Kleinen durch die gleichen Prinzipien erfassen. Diese Haltung versucht, Rezepte zu liefern für den Umgang mit radikalen Materialisten: Haeckel möchte kein Materialist (im Sinne einer Entscheidung für die Materie, und gegen den Geist) sein, aber er möchte den traditionellen Materialismus auf der Ebene eines umfassend durchgeführten Szientismus und Naturalismus noch links überholen. Bietet Haeckel also ein Rezept für einen Umgang mit Wissenschaft und Verwissenschaftlichung, der sich den Gefahren einer vorschnellen und einseitigen Elimination ebenso entzieht wie einem naiven Vertrauen auf übergreifende Einheit und Zugänglichkeit? Diese Frage kann auch mehr ad personam formuliert werden: Finden wir in Haeckel ein durchdachtes Konzept, das den Eindruck der Naivität, Undifferenziertheit, Verquastheit, der Skurrilität von Haeckels ironiefreien Überlegenheitsgesten und der von ihm propagierten Selbstbilder in positiver Weise zu lesen gestattet? Zwei Linien fallen durchgehend auf in Haeckels Argumentation. Haeckel möchte einerseits stets die einfachste Lösung propagieren: einfach im Sinne von monistisch-einheitlich, einfach im Sinne von breitenwirksam präsentabel. Andererseits will Haeckel progressiv sein, ohne exkludierend avantgardistisch zu sein. Wenn er sich selbst als apolitisch bezeichnet,47 passt das in dieses Muster. Natürlich legt er sich vielfältig in politischer Hinsicht fest, aber möchte das Politische nicht als 46 Zum Monistenbund vgl. z. B. Weber / Breidbach 2006 und Ziche 2000; zum Monismus z. B. Weir 2012. 47 Haeckel 1878, S. 75.

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Zusatzdimension betrachten, sondern als unmittelbar mitgegeben in seinen wissenschaftlichen Aktivitäten, die er zugleich gemeinverständlich darstellt. Zugleich aber muss Haeckel sich gegen Vorwürfe wehren, wie sie beispielsweise Rudolf von Virchow auf der Naturforscherversammlung von 1877 gegen ihn lancierte: Er habe einer „vorzeitigen Synthese“ das Wort geredet und sei also unkritisch und mithin auch unwissenschaftlich vorgegangen.48 Haeckel sucht sich auf allen Ebenen seiner Texte und Bilder hiergegen zu verwehren: Der Übergang zu immer höheren, allgemeineren Ebenen muss durchgehend konkret unterbaut sein. Haeckel versucht, sich genau dieses Unterbaus zu versichern, indem er, wie ausgeführt, überall die Kombination, sogar die Identität einer naiven Zugänglichkeit und strikter Wissenschaftlichkeit einfordert. Dieses Programm kann als eine implizite Definition von Haeckels Monismus verwendet werden. Ein Monismus muss Naivität und große Ambitionen verbinden. Dann wird es sogar möglich, wie im Falle Haeckels, wesentliche Beiträge zur Anthropologie zu liefern, ohne selbst wirklich am Menschen zu forschen. Dass Haeckel in seinen Buchtiteln von der „Anthropogenie“ spricht, bezeichnet sehr genau, dass für ihn der genetische Aspekt ermöglicht, Forschungen zusammenzuführen, die nicht spezifisch für eine bestimmte Art sind. Man kann, wenn man Haeckel folgt, den Menschen erforschen, indem man die symmetrische Schönheit von Radiolarien untersucht. Zu den Überraschungen und interessanten Spannungen des Haeckelschen Werkes gehört daher auch, dass er zentrale Beiträge zur modernen Anthropologie liefert – im Sinne einer wissenschaftlich fundierten und umfassenden Analyse der Position des Menschen und aller seiner Leistungen –, ohne doch den Menschen direkt zu untersuchen. Die typischen Anthropologien des 20. Jahrhunderts wie Arnold Gehlens Der Mensch oder Helmuth Plessners Stufen des Organischen zitieren ihn dann jedoch auch nicht.

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Kontakt Prof. Dr. P. G. Ziche Utrecht University Department for Philosophy and Religious Studies Janskerkhof 13a NBL-3512BL Utrecht Email: [email protected]