Innovation - Konvention: Transdisziplinäre Beiträge zu einem kulturellen Spannungsfeld [1. Aufl.] 9783839424537

»The more things change, the more they stay the same.« Dieses Buch widmet sich dem Verhältnis von Innovation und Konvent

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German Pages 330 Year 2014

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Innovation - Konvention: Transdisziplinäre Beiträge zu einem kulturellen Spannungsfeld [1. Aufl.]
 9783839424537

Table of contents :
Inhalt
Einleitung – »The More Things Change«
MEDIALE DISPOSITIVE UND INNOVATIONSDISKURSE
»Quite of recent origin« Literatur und/als Raumpraxis um 1800
Innovation und Improvisation: Ken Adams Production Design für Dr. No und Dr. Strangelove
»The Odds of Improvement«: Zyklische Innovation am Beispiel US-amerikanischer Krankenhausserien
»It’s the future, Watson« Die Figur Sherlock Holmes in aktuellen filmischen Adaptionen
GESELLSCHAFTLICHE FORMATION, DISKURS UND DIALEKTIK DES NEUEN
What’s that »New Thing«? Free Jazz and New Black Poetry between Oral Tradition and Avant-Garde Impulse
Punk und die Innovation im Geschlechterverhältnis:Ethik und Ästhetik
Die Tragödie in/der Postmoderne:Innovation und Konvention bei Edward Albee
Of Unequal Immigrations: Adorno’s Transatlantic Intellectual Transfer
Die Renaissance konventioneller Strategien in postmoderner Theorie und Literatur: Ethik zwischen relativistischen und realistischen Tendenzen
STRUKTUR UND DEKONSTRUKTION VON INNOVATION UND KONVENTION: HYBRIDITÄT
Hybrid Presence: Der Erinnerungsraum in Bernardine Evaristos Soul Tourists
Profanisierung und (Re-)Sakralisierung: G.B. Shaws Saint Joan
Konvention und Innovation am Beispiel des Genres ›Science Fiction‹
Autorinnen und Autoren

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Dennis Büscher-Ulbrich, Stefanie Kadenbach, Martin Kindermann (Hg.) Innovation – Konvention

Dennis Büscher-Ulbrich, Stefanie Kadenbach, Martin Kindermann (Hg.)

Innovation – Konvention Transdisziplinäre Beiträge zu einem kulturellen Spannungsfeld

Veröffentlicht mit Unterstützung der Hamburgischen Wissenschaftlichen Stiftung

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: © Jack Zylkin und www.usbtypewriter.com Lektorat & Satz: Dennis Büscher-Ulbrich, Stefanie Kadenbach, Martin Kindermann Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-2453-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Einleitung – »The More Things Change«

Dennis Büscher-Ulbrich, Stefanie Kadenbach, Martin Kindermann | 7

MEDIALE DISPOSITIVE UND INNOVATIONSDISKURSE »Quite of recent origin« Literatur und/als Raumpraxis um 1800

Rebekka Rohleder | 23 Innovation und Improvisation: Ken Adams Production Design für Dr. No und Dr. Strangelove

Christian Vogel | 47 »The Odds of Improvement«: Zyklische Innovation am Beispiel US-amerikanischer Krankenhausserien

Stefanie Kadenbach | 65 »It’s the future, Watson« Die Figur Sherlock Holmes in aktuellen filmischen Adaptionen

Janina Wierzoch | 87

G ESELLSCHAFTLICHE FORMATION, DISKURS UND DIALEKTIK DES NEUEN What’s that »New Thing«? Free Jazz and New Black Poetry between Oral Tradition and Avant-Garde Impulse

Dennis Büscher-Ulbrich | 113 Punk und die Innovation im Geschlechterverhältnis: Ethik und Ästhetik

Claudia Heuer | 143 Die Tragödie in/der Postmoderne: Innovation und Konvention bei Edward Albee

Sophia Komor | 165

Of Unequal Immigrations: Adorno’s Transatlantic Intellectual Transfer

Jatin Wagle | 187 Die Renaissance konventioneller Strategien in postmoderner Theorie und Literatur: Ethik zwischen relativistischen und realistischen Tendenzen

Nina von Dahlern | 215

STRUKTUR UND DEKONSTRUKTION VON INNOVATION UND KONVENTION: HYBRIDITÄT Hybrid Presence: Der Erinnerungsraum in Bernardine Evaristos Soul Tourists

Martin Kindermann | 243 Profanisierung und (Re-)Sakralisierung: G.B. Shaws Saint Joan

Verena Keidel | 267 Konvention und Innovation am Beispiel des Genres ›Science Fiction‹

Lars Schmeink | 295

Autorinnen und Autoren | 325

Einleitung »The More Things Change«

D ENNIS B ÜSCHER -U LBRICH , S TEFANIE K ADENBACH , M ARTIN K INDERMANN The first step in winning the future is encouraging American innovation. None of us can predict with certainty what the next big industry will be or where the new jobs will come from. Thirty years ago, we couldn’t know that something called the Internet would lead to an economic revolution. What we can do – what America does better than anyone else – is spark the creativity and imagination of our people. We’re the nation that put cars in driveways and computers in offices; the nation of Edison and the Wright brothers; of Google and Facebook. In America, innovation doesn’t just change our lives. It is how we make our living. BARACK OBAMA, »STATE OF THE UNION ADDRESS«, 25.01.2011 Innovationen sind das Lebenselixier einer Gesellschaft. Innovationen, das sind neue Technologien, Produkte und technische Verfahren, mit denen wir neue Märkte erschließen und zukunftssichere Arbeitsplätze schaffen können. Innovationen schaffen Chancen für ein gutes, ja, ein besseres Leben. EDELGARD BULMAHN, »DEUTSCHLAND. DAS VON MORGEN.«, 26.01.2004

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Es muß sich alles ändern, damit es bleibt, wie es ist. G. T. DI LAMPEDUSA, DER GATTOPARDO, 1958 What does not change / is the will to change CHARLES OLSON, »THE KINGFISHERS«, 1949

»… the more they stay the same«: Die vorliegende Aufsatzsammlung ist aus einer Vortragsreihe Hamburger Literatur-, Kultur- und MedienwissenschaftlerInnen hervorgegangen und über einen Zeitraum von drei Jahren zu einem transdisziplinären Forschungsprojekt gewachsen, an dem nicht länger ausschließlich, wenngleich vorrangig, wissenschaftliche MitarbeiterInnen des Hamburger Instituts für Anglistik und Amerikanistik beteiligt sind. Ausgehend von der Einsicht, dass ein dichotomes und positivistisches Verständnis der – wie den oben zitierten Redebeiträgen zu entnehmen ist – auch im gegenwärtigen hegemonialen Diskurs zentralen Begriffe von Innovation und Konvention notwendigerweise zu kurz greift, begreifen die Autoren das Verhältnis von Innovation und Konvention als ein wechselseitig vermitteltes, das es stets zu konkretisieren gilt. Der Band versammelt daher Forschungsbeiträge, die sich kritisch-theoretisch mit diesem Verhältnis auseinandersetzen, indem sie es jeweils unterschiedlich als historisch kontingente und medial disponierte Differenzierung, Dialektik, oder Hybridität denken und an (kulturellen) Texten, Medien und Praxen von der Romantik bis in die Gegenwart explizieren. Zur allgemeinen Begriffsklärung vorab: Der Begriff »Innovation« wurde dem lateinischen innovatio entlehnt (»Erneuerung«, »Veränderung«).1 Der Duden definiert »Innovation« folglich als »Erneuerung; Neuerung [durch Anwendung neuer Verfahren und Techniken]«.2 Als Synonym führt der entsprechende Duden-Band den Begriff »Neubelebung«.3 So mag zwar etymologisch bereits eine »Veränderung« als »Innovation« durchgehen, aber damit eine bloße Veränderung tatsächlich konsensuell als »innovativ« betrachtet wird, müssen in der Regel noch weitere Kriterien erfüllt sein. Als solches Kriterium legt das Metzler: Lexikon Literatur- und Kulturtheorie einen Systembezug an: der Be-

1

Kluge: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, 24. Auflage, Berlin: de Gruyter, 2002.

2

Duden: Die deutsche Rechtschreibung, 24. Auflage, Mannheim: Dudenverlag, 2006.

3

Duden: Die sinn- und sachverwandten Wörter, 2. Auflage, Mannheim: Dudenverlag, 1997.

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griff »Innovation«, der sich im deutschen Sprachraum erst im Laufe des 20. Jahrhunderts allgemein durchsetzte, richtet sich, im Gegensatz zum Begriff der »Originalität«, der vom autonom schaffenden Subjekt ausgeht, auf die Wirkung einer Neuerung auf ein entsprechendes System, eine Struktur, eine diskursive Formation oder ein soziokulturelles Feld. Innovation bedeutet dabei immer eine Abweichung von oder eine Änderung der herrschenden Norm, eines kulturell Dominanten. Grundsätzlich lassen sich zwei Arten von Innovation differenzieren: 1.) Innovation im etymologischen Wortsinn »Veränderung«; diese kann ohne qualitative Bewertung des Phänomens festgestellt werden und ist empirisch zu belegen. Dies könnte als ›schwache Innovation‹ bezeichnet werden. 2.) Innovation im Wortsinn »Erneuerung«; zusätzlich zur ›schwachen Innovation‹ wird hier Bezug auf einen zweiten, ontologischen und/oder epistemologischen und/oder moralischen Rahmen genommen. Dies könnte als ›starke Innovation‹ bezeichnet werden. Literatur- und kunstgeschichtlich beispielsweise wird Innovativität erst mit der Frühromantik zu einem entscheidenden produktionsästhetischen Distinktionsmerkmal, welches nicht nur zur Differenzierung von Literatur und Belles Lettres, der Kunst und den (schönen) Künsten (samt ihrer Regelpoetiken), sondern auch der Konstruktion und Distinktion verschiedener Subjektivitäten dient. In der Moderne kommt es gewissermaßen zu einer derartigen kulturellen Innovationsverdichtung, dass sich das Qualitätsmerkmal »Innovation« erschöpft und vielfach von der »postmodernen« Aufhebung der Differenz von Innovation und Variation gesprochen wird, wie es etwa John Barth – um nur ein einflussreiches Beispiel zu nennen – mit dem Begriff einer »literature of replenishment« ungeachtet spätmodernistischer und neo-avantgardistischer Entwürfe für die Literatur proklamiert.4 Eine Konvention hingegen (lat. conventio »Übereinkunft, Zusammenkunft«; lat. convenire »zusammenkommen, passen«)5 ist zunächst eine nicht formal festgeschriebene Regel, die von einer Gruppe von Akteuren aufgrund eines Konsens eingehalten wird. Die Übereinkunft kann stillschweigend zustande gekommen oder auch ausgehandelt worden sein. Zum selben Wortstamm gehören auch die Begriffe Konvent und Konventionalismus. Das Adjektiv konventionell hat neben der Bedeutung den (soziokulturellen) Konventionen zu entsprechen auch die von »herkömmlich« oder »hergebracht«, wie an den polemisch gewählten Beispielen »konventionelle Kriegsführung« (in Abgrenzung zu atomarer, biologischer,

4

Vgl. Metzler: Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, 3. Auflage, Stuttgart: J.B. Metzler, 2004.

5

Duden: Die deutsche Rechtschreibung, 2006.

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chemischer oder psychologischer) und »konventionelle Landwirtschaft« (in Abgrenzung zur ökologischen und biologisch-dynamischen Landwirtschaft) besonders deutlich wird. Die Soziologie, von Durkheim und Elias über Parsons und Goffman bis Bourdieu und Giddens, versteht Konventionen vornehmlich als soziale Codes und Normen bzw. »soziale Skripte«, die Handlungsmöglichkeiten strukturieren.6 Diese definieren mögliche Verhaltensweisen in einer gesellschaftlichen Situation und zeigen Verhaltensregelmäßigkeiten an. Konventionen sind sozial und kulturell spezifisch und historisch kontingent, weshalb sie nicht nur niemals natürlich, sondern auch mit der gesellschaftlichen Entwicklung wandelbar sind. Dabei können soziale und kulturelle Konventionen sowohl ermächtigend als auch repressiv auf gesellschaftliche Akteure und kulturelle Praxen wirken. Kulturelle Konventionen wirken sowohl auf subjektiver und intersubjektiver als auch auf struktureller und strukturierender Ebene. Sie sind beteiligt bei Prozessen der Kommunikationsbildung, d.h. der Produktion, Aushandlung und Zuordnung einer Bedeutung zu einem für kulturell gehaltenen Gegenstand, der Textualisierung und Diskursivierung von Kultur, sowie der Regelung der Teilnahme im soziokulturellen Feld.7 In diesem Zusammenhang erscheint es außerdem sinnvoll, sich Raymond Williams’ Argument der »Gewöhnlichkeit« von Kultur zu vergegenwärtigen (»Culture is ordinary: that is the first fact«), um zu herauszustellen, dass das Spannungsfeld »Innovation – Konvention« ein kulturimmanentes ist bzw. es eine Dialektik kultureller Innovation gibt. A culture has two aspects: the known meanings and directions, which its members are trained to; the new observations and meanings, which are offered and tested. These are the ordinary processes of human societies and human minds, and we see through them the nature of a culture: that it is always both traditional and creative [Herv. d. Hg.]; that it is both the most ordinary common meanings and the finest individual meanings. We use the word culture in these two senses: to mean a whole way of life – the common meanings; to mean the arts and learning – the special processes of discovery and creative effort. Some

6

Vgl. hierzu Norbert Elias, Society of Individuals, London: Continuum, 2001, 182, sowie Erving Goffman, Frame Anaylsis: An Essay on the Organization of Experience, Boston: Northeastern UP, 1974, 53.

7

Vgl. Metzler: Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, 2004; Clifford Geertz definiert diesbezüglich in The Interpretation of Cultures: Selected Essays, New York: Basic, 1973, 89: »[Culture is] a system of inherited conceptions expressed in symbolic forms by means of which people communicate, perpetuate, and develop their knowledge about and attitudes toward life.«

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writers reserve the word for one or other of these senses; I insist on both, and on the significance of their conjunction. […] Culture is ordinary, in every society and in every mind.8

Grundsätzlich besitzen kulturelle Konventionen eine gewisse Verbindlichkeit, verweisen jedoch gleichzeitig auf den Status der Ungewissheit und Offenheit möglicher Entwicklungen (insb. zum Zeitpunkt ihrer Entstehung) und damit auf die eigene Kontingenz. Entscheidend ist dabei, dass kein Mitglied der Gruppe, in der die Konvention gültig ist, unmittelbaren »regulierenden Zugriff« auf diese Kontingenz hat, was zugleich eine politische Dimension eröffnet, nämlich in Form der Frage nach den gesellschaftlichen Ein- und Ausschlüssen von Subjekten. Dabei ist ein Ignorieren oder Unterlaufen von kulturellen Konventionen, zumindest im Bereich formal-ästhetischer Konventionen, meist unproblematisch, hebt jedoch keineswegs die Konvention auf. Im Gegensatz zu »Verletzungen« sozialer Codes und Normen hat die Unkonventionalität der Innovationen künstlerischer Formen und fiktionaler Inhalte in der Regel keine negativen Sanktionen zufolge, solange eine Veränderung der Wahrnehmung nicht in radikaler Praxis mündet. Es erscheint daher sinnvoll, ähnlich wie im Fall des Innovationsbegriffs, zwischen ›starken‹ und ›schwachen‹ Konventionen zu unterscheiden, die sich auf verschiedene Rahmen beziehen und unterschiedliche Handlungsmöglichkeiten und Unmöglichkeiten im Kulturellen strukturieren. Eine philosophische Diskussion des Begriffs des Neuen, wie er beispielsweise von Hegel oder Whitehead, Benjamin oder Ahrendt, Adorno oder Rorty sowie gegenwärtig von Alain Badiou vertreten wird, und dessen Fruchtbarmachung für die Kulturtheorie, kann dabei an dieser Stelle nicht geleistet werden und verbleibt als ein kulturwissenschaftliches Desiderat. Im ersten Teil des Bandes, »Mediale Dispositive und Innovationsdiskurse«, widmen sich REBEKKA ROHLEDER, CHRISTIAN VOGEL, STEFANIE KADENBACH und JANINA WIERZOCH in ihren Beiträgen den vielfältigen historischen Wechselwirkungen zwischen technologischen und kulturellen Innovationen sowie dem inhärenten Innovationsdruck der Kulturindustrie. Ausgehend von der Prämisse, dass Innovation kein isolierter Prozess sein kann, der in hermetischen Räumen stattfindet, zeigen die Autorinnen anhand ausgewählter Beispiele von der Romantik bis zur Gegenwart, dass Innovation stets einen Austausch zwischen kul-

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Raymond Williams, »Culture is Ordinary«, Resources of Hope: Culture, Democracy, Socialism, London: Verso 1989, 4.

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turellem Feld und Gesellschaft erfordert. Die Innovation selbst kann dabei ganz unterschiedliche Gestalt und Stoßrichtung aufweisen. Das Kapitel versammelt daher Aufsätze, die sich mit solchen Kulturprodukten befassen, die entweder eine technische Innovation aufgreifen und vereinnahmen, oder aufgrund des beständigen Bedürfnisses nach Selbsterneuerung medialer Produkte innerhalb eines der Verwertungslogik unterworfenen Kulturbetriebes entstehen. Häufig wird in den in diesem Abschnitt des Bandes behandelten Themenbereichen eine Erneuerung, Veränderung oder Weiterentwicklung kultureller Produkte vom Auftauchen neuer technischer Produkte angestoßen, begünstigt oder gar erst ermöglicht. Dabei gilt es insbesondere die medialen Dispositive kultureller Innovationen zu bestimmen und spezifische Innovationsmomente diskursiv zu verorten. REBEKKA ROHLEDER formuliert in ihrem Text »›Quite of recent origin‹: Literatur und/als Raumpraxis um 1800« William Wordsworths Forderungen nach einer frühen Einbindung des Künstlers in technische Entwicklungsprozesse pointiert: »[Der Künstler] wird damit aus den Erfindungen der Wissenschaftler überhaupt erst Innovationen im eigentlichen Sinne machen«. Rohleder zeigt auf, wie Romantische Dichter die veränderte Raumwahrnehmung thematisieren und mitbestimmen, die durch Erfindungen wie Dampfschiff, Eisenbahn und Heißluftballon ermöglicht wird. Dabei wird klar, dass die Wahrnehmung des uns umgebenden Raumes keineswegs natürlich und fix ist, sondern in Abhängigkeit von technischen Möglichkeiten und durch den Diskurs der Moderne konstruiert wird, was sich nicht zuletzt auch in literarischen Sujets, lyrischer Subjektivität und Erzählperspektiven zeigt. Das Romantische Subjekt zu Beginn des 19. Jahrhunderts – und das merkt man den von Rohleder ausgewählten Primärtexten deutlich an – reagiert auf den Innovationsreichtum im Bereich von Transport- und Kommunikationsmedien mit einer Mischung aus fortschrittsgläubiger Affirmation und kulturpessimistischer Ablehnung. Auch CHRISTIAN VOGEL kommt in seinem Beitrag »Innovation und Improvisation: Ken Adams Production Design für Dr. No und Dr. Strangelove« auf technische Erfindungen zu sprechen, allerdings nur am Rande. Es handelt es sich im Gegensatz zu den historischen technischen Innovationen Eisenbahn und Dampfschiff hier um die imaginierten technischen Spielereien eines Geheimagenten oder die Kommandozentralen größenwahnsinniger Verbrecher und Militärs. Im Zentrum des Aufsatzes steht Ken Adams Szenenbild für zwei stilprägende Kinofilme der (frühen) 1960er Jahre: den ersten James-Bond-Film und Stanley Kubricks Kalter-Krieg-Satire. Der Aufsatz zeigt, wie Adam aus oft ganz pragmatischen Gründen mit sehr einfachen Mitteln eindrucksstarke Räume schafft, die gerade in ihrer reduzierten Stilisierung ein Innovationsmoment konstituieren. Mehr oder weniger bewusst greift Adam in der Konzeption seiner

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Räume auf die Formensprache des expressionistischen deutschen Kinos zurück und macht sich die subtile Verunsicherung des Zuschauers durch die Verweigerung von Möglichkeiten zur Orientierung im Raum sowie durch die Kombination asymmetrischer Formen mit scharfen Schattenwürfen und kontrastreicher Geometrie zu Nutze. In Kombination mit Sujets und Figuren der Filme entstehen vielschichtig innovative Raumkonzepte, die mit den dominanten Rezeptionsgewohnheiten des zeitgenössischen Mainstream-Kinos brechen. Der Aufsatz von STEFANIE KADENBACH trägt den Titel »›The Odds of Improvement‹: Zyklische Innovation am Beispiel US-amerikanischer Krankenhausserien« und schildert ebenso wie Christian Vogels Beitrag Innovationsprozesse im Kontext kulturindustrieller Produktion. Da auch in der »Kreativwirtschaft« eine hochfrequente und grundlegende Erneuerung kultureller Produkte nicht zu bewerkstelligen ist, wird hier die Empfindung des Neuen im »Immergleichen« (Horkheimer und Adorno) nicht selten durch eine schlichte Andersartigkeit, durch Varianz zum Gewohnten erreicht. Der Beitrag zeichnet nach, wie es im Bereich US-amerikanischer Dramaserien Mitte der 90er Jahre zu einer Fülle technischer und narrativer Innovationen kam und rund 15 Jahre später zu beobachten ist, wie diese nun in vielen Bereichen Konvention gewordenen Entwicklungen durch Rückgriff auf zuvor als überholt geltende Erzählstrukturen und Darstellungsformen erneuert werden. Während also in bestimmten Phasen weitreichende Veränderungen in Form neuartiger Erzählstrukturen und visueller Darstellungsformen gefunden wurden, die nicht selten durch die Verfügbarkeit neuer technischer Mittel ermöglicht und/oder begünstigt wurden, ist in anderen Phasen zu beobachten, wie dem Bedürfnis der Fernsehproduzenten, dem Konsumenten beständig Anreize durch das Versprechen von etwas Neuem zu liefern, mit einer Art Schein-Innovativität begegnet wird. Die Neuerung geschieht zumindest zeitweise vorrangig durch einfache Veränderung. Das Thema der Variation bekannter kultureller Topoi greift auch Janina Wierzoch in ihrem Aufsatz »›It’s the future, Watson‹: Die Figur Sherlock Holmes in aktuellen filmischen Adaptionen« auf. Sie zeigt hier am Beispiel zweier aktueller Holmes-Adaptionen, wie ein literatur- und kulturgeschichtlich ›autonom‹ gewordenes Motiv auf sehr unterschiedliche Weise neu interpretiert und präsentiert werden kann. Wierzoch schildert, wie einerseits der Hollywoodfilm Sherlock Holmes mit Robert Downey Jr. in der Titelrolle die Detektivfigur zwar im viktorianischen London belässt, ihn aber in die Bildsprache des Actionfilms transportiert, während die BBC-Serie Sherlock (2010) als Schauplatz das moderne London mit allen Möglichkeiten moderner Informationstechnologie und Telekommunikation wählt, die Adaption aber inhaltlich den literarischen Vorlagen Conan Doyles in weiten Teilen sehr treu bleibt und häufig nur subtil, wenn-

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gleich effektiv variiert, um auch Zuschauern, die mit dem Original sehr vertraut sind, noch ein ›frisches Rezeptionserlebnis‹ bieten zu können. Gerade im Spiel mit den Stereotypen, die der Zuschauer von einer Detektivgeschichte um die ikonische Figur Sherlock Holmes erwartet, liegen hier der Reiz und das Innovationsmoment – für Produzenten wie Zuschauer gleichermaßen. Die im zweiten Teil des Bandes, »Gesellschaftliche Formation, Diskurs und Dialektik des Neuen«, versammelten Beiträge von DENNIS BÜSCHER-ULBRICH, CLAUDIA HEUER und SOPHIA KOMOR verstehen das Verhältnis von Innovation und Konvention im soziokulturellen Feld allgemein sowie in jeweils spezifischen (gegen-)kulturellen Feldern als ein dialektisches. Gemeinsam ist den Aufsätzen zur »neuen schwarzen« Musik und Dichtung (Büscher-Ulbrich), zum Geschlechterverhältnis im frühen Punk (Heuer) und zu Edward Albees postmodernisiertem Konzept der Tragödie (Komor) ein kulturmaterialistisches Verständnis sowohl des Innovations- wie des Autonomiebegriffs. Das heißt zunächst, dass kunst- und kulturgeschichtliche Innovation nicht ohne materielle und ideengeschichtliche Dispositive (Gesellschaftsformation, Technologien, Medien, Diskurse, Traditionen, usw.) zu denken ist, die es zu spezifizieren gilt. Darüber hinaus geht ein kulturmaterialistischer Forschungsansatz davon aus, dass auch (oder besser gerade) die kulturellen Texte, Artefakte und Praxen, die als innovativ, autonom, oder avantgardistisch gelten oder erscheinen – und damit Veränderung markieren – gesellschaftliche Formationen stets dialektisch vermitteln. Das bedeutet aber auch, dass sie diese nicht einfach ›abbilden‹, die sozioökonomische Totalität das kulturelle Feld eben nicht determiniert. Dies zu zeigen, gelingt den Beiträgen nicht zuletzt deshalb besonders anschaulich, weil sie sich inhaltlich den diskursiven und performativen Schnitt- und Bruchstellen von Politik, Ästhetik und Ethik widmen. Der politisierte Diskurs über die kulturelle und soziale Bedeutung der »New Black Music« (Archie Shepp) und der »New Black Poetry« (Clarence Major) bildet den Ausgangspunkt des Beitrags von BÜSCHER-ULBRICH, der sich einer für die Free Jazz Avantgarde und das Black Arts Movement der 1960er und 1970er Jahre konstitutiven Dialektik von avantgardistischem Impuls (im Sinne einer Hinwendung zur Euroamerikanischen Avantgarde und ›AvantgardeTradition‹) und ›Rückgriff‹ auf die Afroamerikanische Oraltradition widmet. Dabei stellt Büscher-Ulbrich heraus, dass die diskursiven Strategien der Etablierung, Kanonisierung und Institutionalisierung sowohl einer Jazz Tradition als auch einer Tradition Afroamerikanischer Literatur allzu häufig die Brüche innerhalb der historischen Entwicklung dieser Kunstformen ignorieren, die sich ebenso sehr durch sozioökonomische und politische Verhältnisse wie gemäß einer

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(relativen) Autonomie der musikalischen bzw. literarischen Form entwickeln. Der Aufsatz versucht anhand verschiedener Beispiele aus Free Jazz und New Black Poetry sowie der formal-ästhetischen und performativen Zusammenführung dieser Formen im ›Werk‹ Amiri Barakas sowohl die Vorteile einer kulturmaterialistischen Immanentkritik, als auch das ästhetisch-politische Innovationsmoment dieser afroamerikanischen Nachkriegsavantgarden herauszustellen. Dabei wird unter anderem verdeutlicht, wie die Akteure dieser Bewegungen im Bewusstsein der Verdinglichung Schwarzer Musik und Literatur durch Kulturindustrie im Kontext eines institutionalisierten Rassismus versuchen, »neue Anfänge« zu schaffen, die mit einer anti-Adornitischen Hinwendung zu einer Praxis kollektiver Improvisation und dem Konzept einer populären Avantgarde einhergehen. Einem gegenkulturellen Phänomen auf der ›anderen‹ Seite des »Black Atlantic« (Paul Gilroy), deren Akteure überwiegend weiß, innovativ weiblich und vor allem ›Punk!‹ sind, widmet sich der Beitrag von CLAUDIA HEUER. Gemeint ist die Londoner Punkszene der ausgehenden 1970er Jahre, die nach Heuer im Unterschied zu früheren Gegenkulturen die eigene Auffassung vom Scheitern anderer gegenkultureller Projekte gleich mitreflektiert, weshalb sich Punk nicht nur in Opposition zum kulturellen Mainstream, sondern auch zu anderen Subund Gegenkulturen befindet – allen voran den Hippies – und mit einem »bis heute exemplarische[n] Grad an Selbstreflexivität« ausgestattet ist. Der Beitrag verortet das Innovationsmoment des Punk in einem neuen Grad an »Freiheit von individuellem Ausdruck und semantischem Spiel« innerhalb der englischen Kulturgeschichte. Auf gendertheoretischer Grundlage unternimmt der Aufsatz zunächst eine kritische Bestandsaufnahme der Lage von Frauen in der populären Musik vor der Herausbildung der Punkszene, um anschließend nach solchen Veränderungen im Geschlechterverhältnis zu fragen, die sich als direkte Auswirkung von Punk feststellen lassen. Dabei widmet sich die Analyse drei für eine emanzipatorische Genderforschung entscheidenden Ebenen des Phänomens Punk: den »Körperinszenierungen«, der »Signifikanz einer Punkästhetik für Neukonstitutionen von Weiblichkeit« und der »inhaltliche[n] Ebene konkreter Artefakte«. Abschließend widmet sich Heuer der Frage nach der gesamtgesellschaftlichen Durchdringung innovativer Genderinszenierungen, insbesondere im Bezug auf die Dialektik von Subkultur und popkulturellem Mainstream. Sophia Komor erweitert in ihrem Beitrag den kulturmaterialistischen Teil des Buches um den Begriff der (späten) Postmoderne und stößt mit ihrem Aufsatz zu Edward Albees entschieden postmodernisierter Tragödie unweigerlich zu Fragen der Ethik vor. Während die Postmoderne die Doxa des modernistischen »Make it new!« verwirft, so Komor, verschafft sie sich durch Dekonstruktion des traditio-

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nellen (dichotomischen) Innovationsbegriffs die Freiheit, »frei von Kategorien wie ›neu‹ und ›alt‹ denken und schaffen zu können« – und In dieser Freiheit liegt zugleich ein Innovationsmoment. Anhand von Albees The Goat or Who Is Sylvia (2002) zeigt Komor dann, wie sich Albee der Tragödie als einer der »am stärksten konventionalisierte[n], zugleich aber auch für Innovationen attraktivsten« Dramenformen bedient. Der Beitrag zeigt, wie Albee die klassische Tragödie um die Ansprüche der Jahrtausendwende zu erweitern sucht, indem er keine absolute Lösung der im Drama aufgerufenen moralischen Konflikte anbietet, sondern gerade im Verweigern dieser absoluten Lösung die Kontingenz moralischer Werturteile aufzeigt, die das Publikum jedoch keinesfalls von diesen entbindet. Der Beitrag macht deutlich, dass Albees postmoderne Tragödie keinesfalls relativistisch ist, sondern die ethische Kontingenz als konstitutiv versteht. Wie Komor pointiert formuliert: »Der Leser kann sie nicht einer Gottheit zuteilen, sondern wird mit ihr allein gelassen und mag sich mitunter selbst schuldig fühlen – schließlich sind die im Drama aufgerufenen Konventionen auch Bestandteil der sozialen und kulturellen Umwelt des Publikums«. Eine gewisse Sonderstellung innerhalb des zweiten Teils des Bandes nehmen die Beiträge von JATIN WAGLE und NINA VON DAHLERN ein, die sich dem Spannungsfeld von Innovation und Konvention innerhalb der Theoriebildung widmen und Innovation hier respektive als negativ-dialektisches Moment von Theorie als Praxis in der Kritischen Theorie Adornos und als Dekonstruktion der Dekonstruktion in der postmodernen Ethik verorten. Beides ist nicht isoliert von Exil, Krieg und Vernichtung, der kulturellen Logik des Spätkapitalismus sowie der normativen Kraft der ethischen Kontingenz zu denken und macht einen im allgemeinen Sinne kulturmaterialistischen Deutungsrahmen notwendig. JATIN WAGLE beginnt seinen Beitrag mit der Feststellung, dass die transatlantische Rezeption der Exilerfahrung Adornos und deren Bedeutung im Kontext seiner Philosophie häufig in den reaktionären »mirroring frames« von antiAmerikanismus und anti-Intellektualismus bis zur Unkenntlichkeit verzerrt wird. Wagle sieht in der notorisch unterstellten Unübersetzbarkeit von Adornos Schreiben und Denken eine Fetischisierung, die den Blick darauf verstellt, dass die Frage der Übersetzbarkeit des kritischen Theoretikers eine politische ist. Entsprechend diskutiert der Aufsatz die Politik des intellektuellen Transfers Adornos im Kontext von dessen Erfahrungen und englischsprachigen Arbeiten als Intellektueller im US-amerikanischen Exil. Wagle verwendet die Trope einer notwendig ungleichzeitigen oder asynchronen »immigration of thought«, um die Wechselfälle des intellektuellen Transfers begrifflich zu fassen. Der Aufsatz argumentiert dafür, die Erfahrung der Zwangsemigration und des intellektuellen Transfers als als (un-)mittelbare Erfahrung des Nicht-Identischen zu verstehen,

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einem zentralen Begriff in Adornos Denken, und fordert eine substantielle Auseinandersetzung (nicht nur) mit Adornos intellektuellem Transfer als Möglichkeit des Nicht-Identischen, und damit auch des Neuen. NINA VON DAHLERN thematisiert in ihrem Beitrag die Renaissance konventioneller Strategien des Erzählens und des ethischen Erkennens in der (späten) postmodernen Theorie und Literatur. Von Dahlern erklärt diese Renaissance aus dem »generellen Wettstreit zwischen relativistischen und realistischen Tendenzen« in der Epistemologie und Ethik des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts erklären, »der auch die bestimmende intellektuelle Auseinandersetzung der Postmoderne ist«. Der Beitrag führt exemplarisch die Renaissance konventioneller Erzählformen in der zeitgenössischen US-amerikanischen Literatur mit der gegenwärtigen Renaissance theoretischer Diskurse über Ethik eng und fragt, was diese parallelen Entwicklungen über einander aussagen können. Dabei verortet sie den Kern des Konflikts zwischen »realistischen« (konventionalisierten) und »relativistischen« (kontingenzbetonenden) Positionen im Normativen. In dem Bestreben nicht hinter die Epistemologiekritik der Postmoderne zurückzufallen, argumentiert von Dahlern, dass der Fokus der Theoriebildung zu sehr auf eine kontingenzbetonende Innovation gerückt ist und Konventionen oder Normen einseitig als negatives, unterdrückendes Moment verstanden werden. Vor diesem Hintergrund plädiert der Beitrag nicht nur für einen strategischen Universalismus, sondern versucht diesen mit einem theoretisch-metaphysischen Begriff ethischer Vernunft zu untermauern. Dem Spannungsfeld von Innovation und Konvention als Raum des Aufeinandertreffens scheinbar distinkter Bedeutungsfelder widmen sich die Beiträge von VERENA KEIDEL, MARTIN KINDERMANN und LARS SCHMEINK im dritten und letzten Teil des Bandes, »Struktur und Dekonstruktion von Innovation und Konvention: Hybridität«. Das Moment der Innovation konstituiert sich hier als konflikthafte Durchdringung, die Prozesse der Hybridisierung in Gang setzt. Diese sind nun nicht als Auflösung im Sinne einer Synthese von oppositionellen semantischen Feldern zu verstehen, denn oft ist gerade die in der Bruchhaftkeit des Aufeinandertreffens fortbestehende Spannung der Ausgangspunkt, von dem aus semantische Prozesse in hoher Dynamik eine stete Neuverhandlung der Struktur des Bedeutungsraums ermöglichen. Allen Beiträgen ist gemein, dass die innovative Neugestaltung nicht als Bruch zum Bezugsrahmen beschrieben werden kann, sondern dass diese sich vielmehr innerhalb der fortlaufenden Aufrufung des semantischen Relationsgefüges vollzieht, in dessen Peripherie Prozesse wechselseitiger Durchdringung neue, hybride Formen zulassen. Diese Hybridisierungsdynamik nehmen die Autorinnen und Autoren zum Anlass, diese in

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ihren Beiträgen semantisch wie strukturell zu beschreiben. So werden Genrekategorien, Gattungskonventionen, Konstitutionsbedingungen gesellschaftlicher Diskurse und semantische Verortung der untersuchten Texte in ihrer Bedeutung innerhalb des Rezeptions- und Interpretationsprozesses kenntlich gemacht. Darüber hinaus wird deutlich, dass die Konvention, die stets den Hintergrund bildet, zugleich aufgerufen und artikuliert wird, auch immer wieder hinterfragt und unterlaufen wird. Dabei beinhaltet das entstehende Spannungsfeld die Option, mit der wahrnehmbar werdenden Polyvalenz eine kreative Neubewertung und fortlaufende Neuverhandlung im Text zu artikulieren. Die Beziehung von Innovation und Konvention als Konflikt, als Ineinandergreifen, das Brüche erzeugt und in einem Durchdringungsprozess Hybridisierung bedingt, ist der Ausgangspunkt, von dem aus MARTIN KINDERMANN in seinem Beitrag »Hybrid Presence: der Erinnerungsraum in Bernardine Evaristos Soul Tourists« sowohl die diskursive Konstruktion von Historiographie als auch die narrative Verfasstheit des Textes selbst beschreibt. Dabei zeigt er, dass Evaristos Text zum einen durch die wiederholte Re-Evaluation deutungsmächtiger Diskurse von europäischer Geschichte einen Gegenentwurf formuliert, der marginalisierte Erinnerungsdiskurse artikuliert, die vor der Folie des Mehrheitsdiskurses formuliert werden. Zum anderen entwickelt der Text auch auf der formalen Ebene im Aufeinandertreffen verschiedener literarischer Gattungskonventionen eine Hybridität, die die innerhalb des Sujets entworfenen Brüche auf der Rezeptionsebene am Text konkret erfahrbar macht. Innovation erscheint dabei als das Produkt jenes Aufeinandertreffens von scheinbar disparaten semantischen Bedeutungsräumen, in dem Hybridisierungsprozesse eine Dynamik innerhalb der Verfasstheit der semantischen Struktur auslösen. VERENA KEIDEL konzentriert sich in ihrem Beitrag »Profanisierung und (Re)Sakralisierung: G. B. Shaws Saint Joan« auf die semantische Ausgestaltung des Begriffs des Heiligen im Kontext der literarischen Moderne. Am Beispiel der Figur der Jeanne d’Arc wird der Konventionsbruch, den Shaws Text vornimmt, vor dem Hintergrund einer gleichzeitigen Neuverhandlung der Position der Heiligen vorgenommen. Religiöse Kanonisierungsprozesse werden dabei einer Brechung unterzogen und konventionalisierte Vorstellungen von Heiligkeit werden dekonstruiert. Die zugleich formulierte Neuinterpretation erfolgt jedoch unter Bezugnahme auf die Kategorie des Heiligen, deren feste Einbindung in einen Konventionsgebundenen Hintergrund dabei sowohl unterlaufen als auch dabei wieder aufgerufen wird. An der Verhandlung von Diskursen um Heiligkeit zeigt sich, dass Innovation eben auch als Bezugnahme verstanden wird, die Ausdruck von Durchdringungsprozessen ist. Im Aufeinandertreffen von Bedeutungsräumen erzielt der Text eben nicht nur eine Entsakralisierung vor dem Hinter-

E INLEITUNG: »THE M ORE T HINGS CHANGE «

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grund konventioneller Glaubensdiskurse, vielmehr etabliert er eine ReSemantisierung in der Neuverhandlung der Interpretation der Heiligenfigur. In seinem Beitrag »Konvention und Innovation am Beispiel des Genres ›Science Fiction‹« betrachtet LARS SCHMEINK das beschriebene Spannungsverhältnis von Konvention und Innovation vor dem Hintergrund des Grenzübertritts bzw. der Grenzverwischung hinsichtlich der Genreverortung. Er zeigt auf, dass innerhalb der genretheoretischen Auseinandersetzung in der Science Fiction gerade das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Genrekonventionen zum Ausgangspunkt wird, von dem aus hybride Texte gestaltet werden. Dieser hybride Text vollzieht eine Grenzüberschreitung, indem die Bestandteile der Genrekonstruktion hinterfragt, unterlaufen und neu verhandelt werden. Am Beispiel von Audrey Niffeneggers The Time Traveler’s Wife und William Gibsons Pattern Recognition beschreibt Schmeink die Durchdringung unterschiedlicher Genres, innerhalb derer Innovation als Bruch der Konvention erscheint, diese jedoch zugleich in der Sichtbarmachung des Bruchs bestätigt. Innovation gestaltet sich demnach als Aufeinandertreffen unterschiedlicher semantischer Felder, aus dem heraus sich eine Entwicklung als Prozess der Hybridisierung vollzieht, der innerhalb des Schaffens den Texten ein kreatives Spiel mit Motiven des Genres vor dem Hintergrund von deren gleichzeitigen Dekonstruktion ermöglicht.

L ITERATUR Duden: Die deutsche Rechtschreibung. 24. Auflage. Mannheim: Dudenverlag, 2006. Duden: Die sinn- und sachverwandten Wörter. 2. Auflage. Mannheim: Dudenverlag, 1997. Elias, Norbert. Society of Individuals. London: Continuum, 2001. Geertz. Clifford. The Interpretation of Cultures: Selected Essays. New York: Basic, 1973. Gilroy, Paul. The Black Atlantic: Modernity and Double Consciousness. London: Verso, 1993. Goffman, Erving. Frame Anaylsis: An Essay on the Organization of Experience. Boston: Northeastern UP, 1974. Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W. »Kulturindustrie – Aufklärung als Massenbetrug«. Dialektik der Aufklärung: Philosophische Fragmente. 2. Ausgabe. Frankfurt: Suhrkamp, 1984. Kluge: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. 24. Auflage. Berlin: De Gruyter, 2002.

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Mediale Dispositive und Innovationsdiskurse

»Quite of recent origin« Literatur und/als Raumpraxis um 1800 R EBEKKA R OHLEDER

E INLEITUNG : T ECHNIK

ALS POETISCHES

P ROGRAMM

1837 veröffentlicht William Wordsworth ein Sonett mit dem Titel »Steamboats, Viaducts and Railways« – oder auch, in der hier zitierten Version von 1844, »Steamboats and Railways«. Motions and Means, on sea & land at war With old poetic feeling, not for this Shall ye, by poets even, be judged amiss! Nor shall your presence, howsoe’er it mar The loveliness of nature, prove a bar To the mind’s gaining that prophetic sense Of future good, that point of vision, whence May be discovered what in soul ye are. In spite of all that Beauty must disown In your harsh features, Nature doth embrace Her lawful offspring in man’s Art; and Time, Pleased with your triumphs o’er his brother Space Accepts from your bold hands the proffered crown Of hope, and welcomes you with cheer sublime.1

1

William Wordsworth, »Kendal and Windermere Railway. Two Letters Re-Printed from the Morning Post«, in: The Prose Works of William Wordsworth, hg. W.J.B. Owen und Jane Worthington Smyser, Bd. 3, Oxford: Clarendeon, 1974, 329-66 (355).

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Was hier programmatisch gefordert wird, die literarische Auseinandersetzung mit technischen Innovationen nämlich, steht in einem aufschlussreichen Spannungsverhältnis zu dem, was das Sonett mit diesen Innovationen anfängt: Bereits die im Titel noch sehr genau bestimmten Verkehrsmittel werden im Text selbst nicht mehr benannt. Auf der metaphorischen Ebene wird das scheinbar gefeierte Auftauchen der neuen Verkehrsmittel am Anfang und am Ende des Sonetts zu einer martialischen Angelegenheit: Sie führen nicht nur Krieg gegen das »old poetic feeling«, die Zeit unterstützt auch ihren Kampf gegen den Raum. Noch dazu werden Zeit und Raum, die sich da unter anderem bekämpfen, als Brüder angesprochen, und das ist nicht der einzige Fall von problematischen Familienverhältnissen zwischen abstrakten Konzepten: »[M]an’s Art«, die Technik also, wird zwar von der Natur als ihr eheliches Kind akzeptiert aber von der Schönheit nicht. – »[Wordsworth’s] tone is one of forced cheer«, wie Michael Wiley es zusammenfasst.2 Trotzdem fordert das Gedicht, die Literatur solle sich mit technischen Innovationen, in diesem Fall spezifisch mit neuen Verkehrsmitteln – also, mit David Harvey gesprochen, mit dem sich beschleunigenden Prozess der »time-spacecompression«3 –, auseinandersetzen. Technische Innovationen sollen zu (zumindest thematischen) literarischen Innovationen führen, so wie Wordsworth es bekanntermaßen schon viel früher in eher allgemeiner Form im programmatischen »Preface« zu den Lyrical Ballads formuliert hatte: If the labours of Men of Science should ever create any material revolution, direct or indirect, in our condition, and in the impressions which we habitually receive, the Poet will sleep then no more than at present, but he will be ready to follow the steps of the Man of Science, not only in those general indirect effects, but he will be at his side, carrying sensation into the midst of the objects of the Science itself. […] If the time should ever come when what is now called Science, thus familiarized to men, shall be ready to put on, as it were, a form of flesh and blood, the Poet will lend his divine spirit to aid the transfigura-

2

Michael Wiley, Romantic Geography: Wordsworth and Anglo-European Spaces, Houndmills: Macmillan, 1998, 177.

3

Laut Harvey »a radical readjustment in the sense of time and space in economic, political and cultural life« im frühen 19. Jahrhundert. David Harvey, The Condition of Postmodernity: An Enquiry into the origins of Cultural Change, Oxford: Blackwell, 1989, 260f.

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tion, and will welcome the Being thus produced, as a dear and genuine inmate of the household of man.4

Hier ist die Verbindung zwischen Dichter und Wissenschaftler sogar noch enger als im Sonett: Der Dichter soll nicht die Auswirkungen technischer Innovationen erst im Nachhinein daraufhin befragen »what in soul ye are«, sondern er soll bereits ihren Entstehungsprozess, Seite an Seite mit dem Wissenschaftler, aktiv mitgestalten: »[H]e will be at his side, carrying sensation into the midst of the objects of the Science itself«. Der Vorgang läuft nicht einseitig ab; die Literatur bekommt nicht von der Wissenschaft die Aufgabe zugewiesen, mit den von ihr geschaffenen Innovationen irgendwie umzugehen – im Gegenteil. »[T]he Poet will lend his divine spirit to aid the transfiguration«. Das heißt, er wird damit aus den Erfindungen der Wissenschaftler überhaupt erst Innovationen im eigentlichen Sinne machen. Denn eine Innovation bedeutet »immer eine Abweichung von oder eine Änderung der herrschenden Norm«, wie es im Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie heißt.5 Eine Norm benötigt aber kulturelle Bedeutungszuweisungen, um zu funktionieren. Ohne diese ist eine neue Erfindung folglich nicht als Innovation wahrnehmbar. Was Wordsworth also für sich und seinesgleichen in Anspruch nimmt, ist die Fähigkeit Neuerungen Bedeutung zuzuweisen und sie damit in ein Verhältnis zur herrschenden Norm zu setzen. Angewandt auf den Fall der neuen Verkehrsmittel, mit denen das oben zitierte Sonett es zu tun hat und um die es im Folgenden gehen soll, heißt das: Ein Dampfschiff ist im frühen 19. Jahrhundert erst einmal einfach ein weiteres Mittel, um von A nach B zu gelangen. Wie alle Fortbewegungsarten ist seine Benutzung aber auch mehr als das. Es verändert die bestehenden Möglichkeiten der Fortbewegung und das damit verbundene Erleben, und es gewinnt dabei symbolische Bedeutung in Relation zu den bisher bestehenden Verkehrsmitteln und deren symbolischer Bedeutung – die dadurch ebenfalls verändert wird. Das Segelschiff bedeutet etwas anderes als vorher, sobald es als Alternative dazu das Dampfschiff gibt. Die Dampflok, die in Wordsworths Sonett als Symbol des Fortschritts funktioniert, steht heute als relativ langsames und veraltetes Gefährt – im Vergleich zu einem ICE zum Beispiel – möglicherweise als Museumslo-

4

William Wordsworth, »Preface to Lyrical Ballads, with Pastoral and Other Poems (1802)«, in: William Wordsworth: The Major Works, hg. Stephen Gill, Oxford: Oxford UP, 2000, 595-619 (606-07).

5

Klaudia Seibel, »Innovation«, in: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, hg. Ansgar Nünning, Stuttgart: Metzler, 2004, 289-90 (289).

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komotive für die ›guten alten Zeiten‹. Die Fortbewegung im Raum ist also konzipierbar als ein Zeichensystem, in dem es konventionell festgelegte Bedeutungen gibt, von denen Abweichungen – und damit Innovationen – möglich sind. Wie wir sehen werden, wird, wenn sich literarische Texte, besonders Gedichte, um 1800 mit Fortbewegungsmitteln befassen, gern eine Gleichsetzung dieses Zeichensystems mit dem der Literatur vorgenommen, woraus sich dann die Forderung ergibt, dass auf neue Verkehrsmittel literarische Innovationen zu folgen hätten. Allerdings bleibt diese Gleichsetzung problematisch, und das nicht nur in »Steamboats and Railways«.

D ER F USSGÄNGER

ALS

»S ILENT P OET «

Wordsworths Gedicht »When first I journeyed hither« (veröffentlicht 1815) kann als Beispiel für eine solche Gleichsetzung von Fortbewegung im Raum mit Literatur, aber auch für die damit verbundene Problematik dienen. Denn in diesem Gedicht wird eine Äquivalenz behauptet zwischen dem Akt des Gehens und dem Akt des Dichtens; es wird jedoch auch die Widersprüchlichkeit dieser Äquivalenzbehauptung vorgeführt. Das – deutlich als autobiographisch markierte – Gedicht erzählt die Geschichte eines Trampelpfades: Wordsworth selbst habe lange keinen Gefallen daran gefunden in einem nahe gelegenen Wäldchen spazieren zu gehen, da die Bäume dort so nah beieinander stünden, dass er keinen gangbaren Spazierweg habe finden können. Nach einem Besuch seines Bruders John habe er das Wäldchen doch wieder einmal aufgesucht und dort zu seiner Überraschung einen Weg vorgefunden, und zwar »one of [John’s] own deep paths« (70), die Spur nämlich, die Johns Spaziergänge in dem Wäldchen während seines Besuchs in Grasmere auf dem Boden hinterlassen hätten: there I found A hoary pathway traced around the trees And winding on with such an easy line Along a natural opening that I stood Much wondering at my own simplicity That I myself had ever failed in search Of what was now so obvious. (56-62)6

6

W. Wordsworth, »When first I journeyed hither«, The Major Works, 220-23. Versangaben in Klammern beziehen sich im Folgenden auf diese Ausgabe.

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Der Pfad erscheint als völlig natürlich – nicht als etwas, das John erfunden hat, sondern als etwas, das er nur finden musste: Eigentlich war der Weg immer schon da. Andererseits ist er aber auch eine Art Kunstwerk, denn für Wordsworth beweist die Fähigkeit zum Finden dieses Weges, dass sein Bruder, ein Seemann, auch ein Dichter ist, ein »silent Poet« (88) nämlich. Das Gehen wird hier zur Äußerung erklärt, und zwar auf ähnliche Weise wie Michel de Certeau das Gehen (in der Stadt) beschreibt: Es stellt eine »Aneignung des topographischen Systems durch den Fußgänger« dar, aber auch eine »räumliche Realisierung des Ortes« (für de Certeau »ist der Raum ein Ort, mit dem man etwas macht«), und wird dabei zu einem Akt der Kommunikation.7 Wie de Certeaus Fußgänger in der Stadt bewegt sich John in einem von anderen gestalteten und geplanten Raum. Das Wäldchen ist ein künstlich angepflanztes, wie Wordsworth betont: »[T]he trees / Had by the planter been so crouded each / upon the other« (31-33). Dadurch jedoch, dass der Pfad hinzugekommen ist, hat sich John das Wäldchen nicht nur selbst angeeignet, sondern auch seinem Bruder ermöglicht, sich seinerseits den von anderen geschaffenen Ort durch eine neue Benennung – und durch das Schreiben des Gedichtes selbst – anzueignen:8 »[A]nd now I call the path-way by thy name« (93). Dieser Name fällt im Gedicht allerdings nicht:9 Der Sprechakt des Benennens selbst bleibt aus dem Text ausgeschlossen.10 Erst durch die Benennung und das Gedicht selbst jedoch bekommt der Weg, der zuvor in das Wäldchen eingeschrieben wurde, Bedeutung als Äquivalent eines Schreibvorgangs zugeschrieben. Der Weg wird im Gedicht zu etwas, das von Wordsworth wie ein Text behandelt werden kann: Der von John in dem Wäldchen hinterlassene Trampelpfad wird durch seinen Bruder quasi gelesen und interpretiert. Schon die Annahme, dass John diesen Weg geschaffen bzw.

7

Michel de Certeau, Kunst des Handelns, Berlin: Merve, 1988, 189, 218. (Hervorhebungen im Original).

8

Vgl. Donna Landry, The Invention of the Countryside: Hunting, Walking and Ecology in English Literature, 1671-1831, Houndmills: Palgrave, 2001, 214-16.

9

W. Wordsworth, »John’s Grove«, in: The Major Works, 700, Anm. 220.

10 Im auffallenden Gegensatz zu den anderen ›Poems on the Naming of Places‹, unter denen Wordsworth 1815 die erste veröffentlichte Version dieses Gedichtes (»When to the attractions of the busy world«) eingruppiert hat, und in denen der Name, dessen Entstehung jeweils erklärt wird, sonst immer – abgesehen von einer anderen Ausnahme – auch mit genannt wird. Die andere Ausnahme betrifft Wordsworths eigenen Namen (»She who dwells with me […] / […] Hath said this lonesome Peak shall bear my name« in »There is an Eminence«, in: The Major Works, 203, 14-17.

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gefunden hat, ist im Gedicht eine Deutung des Vorgefundenen von Seiten Wordsworths, und ebenso gilt das für die Schlussfolgerungen über John, die er daraus zieht. Wordsworth treibt seine Gleichsetzung von Gehen und Dichten dabei scheinbar sehr weit, wenn er sich ausmalt, wie, während er auf den Spuren Johns spazieren geht, dieser seine Verse rezitiert: Nor seldom, if I rightly guess, when Thou, Muttering the verses which I muttered first Among the mountains, through the midnight watch Art pacing to and fro’ the Vessel’s deck In some far region, here, while o’er my head At every impulse of the moving breeze The fir-grove murmurs with a sea-like sound, Alone I tread this path, for aught I know Timing my steps to thine (105-13)

Das Schiffsdeck und das Wäldchen werden einander scheinbar angenähert: Nicht nur dass dieselben Verse und die gleiche Art zu gehen an beiden Orten zu finden sind, das Wäldchen rauscht im Wind sogar wie das Meer. Beide stehen einander durch ihre abwechselnde Behandlung in dieser Passage und durch die diversen Enjambements zwei Mal sogar im selben Vers direkt und suggestiv – aber irreführend – gegenüber: in »which I muttered first / Among the mountains, through the midnight watch / Art pacing« und in »the Vessel’s deck / In some far region, here, while o’er my head / […] The fir-grove murmurs«. Im zweiten Beispiel sorgt die Inversion der Wortstellung noch dazu dafür, dass das »here«, das sich logisch nur auf Grasmere, wo die Geschichte sich abspielt, und nicht auf »some far region« beziehen kann, syntaktisch trotzdem zunächst auf die »far region« bezogen zu sein scheint. Die Äquivalenz der Aufenthaltsorte und damit auch der Beschäftigungen der beiden Brüder wird auf jeder nur möglichen Ebene suggeriert. Dabei bleibt die Gleichsetzung unausgewogen. Bereits die Annahme, dass John zur selben Zeit auf dem Schiffsdeck auf und ab geht – und dabei Wordsworths Verse spricht – wie Wordsworth seinem Weg durch das Wäldchen nachgeht, ist deutlich als bloße Annahme gekennzeichnet, die dem Leser sehr wohl recht unwahrscheinlich vorkommen kann: »[I]f I rightly guess«; »for aught I know«. Die beiden Verse, in denen die Orte und Tätigkeiten einander direkt gegenübergestellt werden, demonstrieren ebenfalls vor allem die Problematik

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dieser Gleichsetzung. Eine Auswechselbarkeit wird kurz suggeriert, wird aber in beiden Fällen sofort wieder zurückgenommen. So gibt es wie gesagt für den Leser jeweils einen Moment der Irritation bei »Among the mountains, through the midnight watch« und »in some far region, here«, da die »midnight watch« und das »here« da wo sie syntaktisch zunächst hinzugehören scheinen inhaltlich offensichtlich deplatziert wären. Die Irritation löst sich jedoch bereits im nächsten Vers, bzw. im zweiten Beispiel sogar noch im selben Vers, in Wohlgefallen auf, wenn klar wird, dass die deplazierten Satzteile sich auf das beziehen, was danach kommt: »through the midnight watch« wird als tatsächlich zugehörig zu »Art pacing to and fro the vessel’s deck« erkennbar und »here« zu »while o’er my head«. Die Gleichsetzung erweist sich als Irreführung. Und das mit gutem Grund. Schließlich sind die der Fortbewegung im Raum zugeschriebenen Bedeutungen letztendlich genau nur das: zugeschrieben. Das heißt: Auch wenn die verschiedenen Fortbewegungsweisen im Raum, wie oben erläutert, Zeichenfunktion haben, ist es doch, wie »When first I journeyed hither« zeigt, eine nichtsprachliche, die innerhalb eines literarischen Textes nur vermittelt durch eben diesen Text auftauchen kann. Dennoch wird nicht nur das Gehen, dessen Neubewertung um 1800 durchaus eine Innovation darstellt, sondern werden auch die damals neuen Verkehrsmittel, hier die Eisenbahn und der Heißluftballon, immer wieder in einen direkten Zusammenhang zur Literatur gesetzt. Das geschieht, wie wir im Folgenden sehen werden, auf drei Arten, die direkt mit dem kulturellen Kapital zu tun haben, das mit der jeweiligen Fortbewegungsweise assoziiert wird: Der Ballon wird in Anna Letitia Barbaulds »Washing-Day« auf spielerische Weise mit dem Gedicht gleichgesetzt, wobei die zweckfreie Künstlichkeit von Gedicht und Ballon herausgestellt wird; die Eisenbahn wird von Wordsworth in dem bereits zitierten Sonett, noch deutlicher aber in seiner gegen die Kendall and Windermere Railway gerichteten Polemik, als bloß nützliches und unnatürliches Gegenbild zum als natürlich gedachten »old poetic feeling« kritisiert; das Gehen dagegen erscheint bei Wordsworth, aber auch bei Thomas de Quincey, als natürlich und poetisch.

D IE

ÄSTHETISCHE

AUTONOMIE

DES

B ALLONS

Am Ende von Anna Letitia Barbaulds »Washing-Day« taucht sehr kurz, aber an privilegierter Stelle, nämlich am Schluss, scheinbar unvermittelt ein Heißluftballon auf:

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Sometimes thro’ hollow bole Of pipe amused we blew, and sent aloft The floating bubbles, little dreaming then To see, Mongolfier, thy silken ball Ride buoyant through the clouds – so near approach The sports of children and the toils of men. Earth, air, and sky and ocean hath its bubbles, And verse is one of them – this most of all. (79-86)11

Bis dahin hat das Gedicht in der Tradition des mock-heroic mit Hilfe der »domestic Muse« detailreich das Bild eines Haushalts am Waschtag gezeichnet, und zwar aus der rückblickend eingenommenen Perspektive eines Kindes. Die letzten Verse jedoch führen den Blick des Lesers wieder aus dem beschriebenen Haushalt heraus und beenden gleichzeitig den Rückblick, indem angedeutet wird, dass Ballonflüge entweder erst während des Erwachsenenlebens des lyrischen Ichs stattgefunden haben oder ihm als Kind zumindest noch unbekannt waren. Das 1796 veröffentlichte Gedicht verweist damit außerdem auf die relative Neuheit dieser Erfindung, da die ersten Ballons tatsächlich erst 13 Jahre zuvor in Frankreich aufgestiegen waren.12 Dabei bieten diese letzten Verse auf dem Umweg über die Gleichsetzung von Seifenblase, Ballon und Versen eine Außenperspektive nicht nur auf den Waschtag sondern auch auf das gerade beendete Gedicht: With this last transformation – of child’s soap bubble into the »silken ball« of the balloonist – the poem lifts off into the stratosphere, a realm of wonder and pure joy. The shift in perspective is dizzying – almost playfully post-modern – yet an exquisite testament to the creative imagination.13

11 Der Text von, »Washing-Day« wird hier zitiert nach: Elizabeth Kraft, »Anna Letitia Barbauld’s ‘Washing Day’ and the Montgolfier Balloon«, in: Literature and History 3 (1995): 25-41, hier: 38-40, Fußnote 1. 12 Zur Geschichte der ersten Ballonflüge vgl. Wolfgang Behringer und Constance OttKoptschalijski, Der Traum vom Fliegen: Zwischen Mythos und Technik, Frankfurt a. M.: S. Fischer, 1991, 305-54. 13 Terry Castle, »Unruly and Unresigned«, TLS (November 10-16, 1989) 1227-28 (1228).

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Wieder wird damit eine Fortbewegungsweise im Raum mit dem Dichten gleichgesetzt – in diesem Fall jedoch, anders als in »When first I journeyed hither«, nicht nur allgemein mit dem Dichten sondern genau mit dem Gedicht, in dem die Gleichsetzung vorgenommen wird – aber auch mit den Seifenblasen, mit denen sich die Kinder am Waschtag die Zeit vertreiben. In Lektüren dieses Gedichtes nimmt diese Gegenüberstellung – und damit der Ballon – häufig eine Schlüsselfunktion ein, indem danach gefragt wird, was der Schluss von »Washing Day« über den relativen Wert des Waschens, des Seifenblasenmachens, des Ballonfahrens und des Verseschreibens aussagt: Wird das Thema des Gedichts, also die Arbeit im Haushalt, damit aufgewertet oder wird der Ballon als Seifenblase, als bloße letztendlich unnütze Spielerei abgewertet?14 Ich möchte hier jedoch Elizabeth Kraft Recht geben, wenn sie argumentiert, dass es irreführend ist, die Frage auf diese Art zu stellen. Barbauld spielt den Ballon und ihr Gedicht über den Waschtag nicht gegeneinander aus.15 Sie setzt sich vielmehr spielerisch mit den literarischen Möglichkeiten des Ballons auseinander, die letztendlich gerade in dessen weitestgehender Nutzlosigkeit begründet sind. Hier ist ein Vergleich mit einem früheren Ballon-Gedicht, Mary Alcocks »The Air-Balloon« (1784), aufschlussreich. Alcock befasst sich darin satirisch mit den hohen Erwartungen, die die neue Erfindung zunächst geweckt hatte. Das lyrische Ich in »The Air-Balloon« sieht mit großer Begeisterung die Möglichkeit voraus mit dem Ballon regulär zu reisen: No more the terrors of the deep I fear; Alike to me, if friend be far or near; This sea-girt isle I distant leave behind, Visit each kingdom and survey mankind; For now with ease in Air Balloon I ride, No more compell’d to wait for wind or tide. (43-48)16

Dabei werden die geäußerten Erwartungen deutlich als übertrieben gekennzeichnet: Dass eine Ballonreise nicht von der Flut abhängig ist, ist klar, aber wie soll man sie unabhängig von der Windrichtung machen, wenn man den Ballon nicht

14 Zur Forschungsdiskussion vgl. Kraft, »Balloon«, 25-26. 15 Vgl. Kraft, »Balloon«, 25-26 und 38. 16 Mary Alcock, »The Air Balloon«, in: Poems by the late Mrs. Mary Alcock, London: C. Dilly, 1799, 107-111. Versangaben im Folgenden nach dieser Ausgabe.

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selbst steuern kann? Noch aufschlussreicher wird die Diskrepanz zwischen Erwartung und Möglichkeit aber, wenn das lyrische Ich am Schluss des Gedichtes meint, nun jeder Verantwortung und jedem Unglück davonfliegen zu können: In vain may party rage assail mine ear; If war or peace, alike I’m free from care; Should plague or pestilence infect the land, The purest regions are at my command […] No more of judge or jury will I hear, The laws of land extend not to the air […] Should fire, or water, spread destruction drear Or earthquake shake this sublunary sphere, In Air-Balloon to distant realms I fly, And leave the creeping world to sink and die. (55-71)

Die Erwartungen an den Ballon werden damit nicht nur als vollkommen überzogenen karikiert, sondern sie werden auch als potenziell außerhalb gesellschaftlicher Normen stehend und damit als bedrohlich hingestellt. Die Luft wird zum rechtsfreien Raum, der es dem lyrischen Ich ersparen soll, in auf dem Boden geführten Kriegen Partei zu ergreifen oder im Fall von Katastrophen Verantwortung für seine Mitmenschen zu übernehmen. Der Einzelne ist in der Luft nicht mehr Teil der Gesellschaft. Die vom lyrischen Ich an das Fliegen herangetragenen Erwartungen aber auch die implizite aber deutliche Kritik daran weisen sichtbare Ähnlichkeiten mit dem heutigen Diskurs über den »Cyberspace« auf – ein Diskurs, der wieder, wie Margaret Wertheim gezeigt hat, unter anderem christliche Heilserwartungen aufgreift.17 Durch die nun möglich werdende Erkundung des Luftraums findet hier jedoch vor allem auch eine Entzauberung statt, etwa wenn das lyrische Ich sich ausmalt, wie es ihm von nun an möglich sein wird zu den Sternen zu fliegen: No longer, now, at distance need I try To trace each planet with perspective eye; […]

17 Vgl. Margaret Wertheim, Die Himmelstür zum Cyberspace: Von Dante zum Internet, Zürich: Ammann, 2000.

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For up or down with equal ease I steer, And view with naked eye the splendid sphere. (31-36)

Denn nicht nur rückt das Entfernte dabei näher, es verliert durch seine Erkundung auch seinen Status als mythischer Ort – wiederum mit Folgen auch für die Literatur: Nor will I now the Muses favour court To shew me Pindus’ Hill, their chief resort; To these fair realms in Air Balloon I go, And leave the grov’ling multitude below. (21-24)

Das ist offensichtlich eine absurde Vorstellung; es wird außerdem angedeutet, dass eine solche Expedition nach dem Sitz der Musen, abgesehen davon, dass sie nichts finden würde, dem lyrischen Ich gerade nicht die gewünschte elitäre Position über der »grov’ling multitude« einbringen würde, oder jedenfalls nicht lange. Ballonfahren kann schließlich – im Gegensatz zum Dichten – potenziell jede/r. In Barbaulds Gedicht dagegen ist die Welt durch den Ballon nicht entzaubert. Schließlich wurde es erst 1799 veröffentlicht, und der Status dieser Innovation hatte sich inzwischen stark verändert: von einem neuen Verkehrsmittel mit großen zukünftigen Möglichkeiten zu einer Jahrmarktsattraktion. Denn die tatsächliche Brauchbarkeit der neuen Erfindung hielt sich, wie man mittlerweile festgestellt hatte, stark in Grenzen: Es ließ sich kein Weg finden, den Ballon zu steuern, was ihn als Verkehrsmittel praktisch unbrauchbar machte.18 Für den Seifenblasen-Ballon-Gedicht-Vergleich, den Barbauld anstellt, wird der Ballon dadurch jedoch nur umso interessanter: Alle drei sind nicht nützlich, wohl aber schön. Zu dieser Gleichsetzung trägt auch die Magie-Assoziation mit bei, die mit »Earth, air, and sky and ocean hath its bubbles« aufgerufen wird – auf dem Umweg über ein Shakespeare-Zitat. »The earth has bubbles, as the water has, / And these are of them« sagt in Macbeth (1.3.77-78) Banquo über die Hexen, die soeben ihre erste Prophezeiung verkündet haben und wieder verschwunden sind.19

18 Vgl. Behringer / Ott-Koptschalijski, Der Traum vom Fliegen, 345. 19 William Shakespeare, The Complete Works, hg. Stanley Wells und Gary Taylor, Oxford: Clarendon, 1994, 978.

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Das Assoziationsfeld »Hexerei/Magie«, das mit dieser Anspielung aufgerufen wird, gehörte zunächst durchaus zum Ballon, und zwar im negativen Sinne. Dass Hexen und Dämonen fliegen können war schließlich ein grundlegender Bestandteil des frühneuzeitlichen Hexenglaubens gewesen – und der wiederum war noch längst nicht aus der Welt, wie bei den ersten Versuchen, Heißluftballons aufsteigen zu lassen, erkennbar wurde. Nicht nur wurde 1783 der erste (unbemannte) Ballon, als er in der Umgebung von Paris wieder auf der Erde landete, von den dortigen Bauern für ein teuflisches Geschöpf gehalten und mit Mistgabeln erlegt:20 Auch Teile der Londoner Stadtbevölkerung verfolgten im Jahr darauf den von Vincent Lunardi unternommenen ersten englischen Ballonflug offenbar aus ähnlichen Gründen mit sehr großem Misstrauen, wie ein 1784 über dieses Ereignis veröffentlichter Bericht im Gentleman’s Magazine nahe legt, in dem die Menge der Zuschauer folgendermaßen beschrieben wird: The notions and opinions of this motley multitude were certainly as various as their situations in life were different. The populace, who composed the far greater part of the company, were sure the thing could not be done by day-light, for no Christian could fly through the air, and Goblins and Spirits were not permitted to ramble abroad till the dead hour of night. The next class to these had very little more faith than their fellows; »they could not think as how it could be that a bubble could carry a man, and they feared the whole story was but a bubble« and so they divin’d it would prove in the end. The middle ranks were doubtful, but not without hope. The more enlightened were anxious for the event, and were not without sharing in that concern which every sensible mind could not but feel for the issue of so hazardous an enterprize. Men of real science were otherwise affected; they were at rest as to the practicability of the expedition; but they could not help expressing, by their looks, the sympathetic concern they entertained, lest some untoward circumstance should intervene, to defeat, or even to delay the execution, either of which would have been equally fatal to the adventurer.21

»[N]o Christian could fly through the air, and Goblins and Spirits were not permitted to ramble abroad till the dead hour of night«: Der Bericht im Gentleman’s Magazine setzt sich deutlich von der Gesellschaftsschicht ab, die so unaufgeklärte Ansichten vertritt – ebenso wie andererseits auch von den adeligen Zuschauern, die laut diesem Bericht ebenfalls zugegen waren, und die den Ballonflug nur als Amüsement betrachtet hätten, bei dem es ihnen letztendlich egal gewesen sei, ob der Ballonfahrer heil wieder auf der Erde ankomme oder nicht.

20 Vgl. Behringer / Ott-Koptschalijski, Der Traum vom Fliegen, 317. 21 »Historical Chronicle«, in: Gentleman’s Magazine 54,3 (1784), 710-13 (712).

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In dieser Passage findet sich jedoch nicht nur die Magie wieder, sondern auch die Seifenblase: »[T]hey could not think as how it could be that a bubble could carry a man, and they feared the whole story was but a bubble«: Beides, die über den Umweg über die Macbeth-Anspielung aufgerufene MagieAssoziation und die Absurdität der Vorstellung eine Luftblase könne einen Menschen durch die Luft tragen, ist offensichtlich zehn Jahre später für die bürgerlichen Leser des Monthly Magazine, in dem »Washing-Day« veröffentlicht wurde, genauso wenig als ernst gemeinter Einwand gegen das Ballonfliegen zu verstehen wie schon für die Leser des Artikels im Gentleman’s Magazine 1784. Man wusste, dass es funktionierte, und man wusste auch in etwa, wie es funktionierte, und dass Magie keineswegs im Spiel war. Dementsprechend ruft Barbauld den Ballon-als-Seifenblase und die Magie-Assoziation zwar auf, wertet damit aber den Ballon nicht ab, sondern benutzt beides um eine Parallele zum Gedicht zu ziehen. Letztendlich funktioniert der Ballon hier gerade wegen seiner praktischen Nutzlosigkeit als ein, wie Jürgen Link es (für die Literatur der deutschen Romantik) bezeichnet, Kollektivsymbol für die poetische Imagination und den wissenschaftlichen Fortschritt.22 Dazu passend bleibt der Nutzen des Ballons sogar in einem Roman relativ beschränkt, in dem er eigentlich genau deshalb sehr emphatisch als Symbol für wissenschaftlichen Fortschritt eingesetzt wird, weil er in der Welt des Romans – im späten 21. Jahrhundert – mittlerweile doch gesteuert werden kann: in Mary Shelleys The Last Man (1826). Hier entschließt sich der Erzähler zu einer eiligen Reise, die er der Schnelligkeit halber mit dem Ballon unternimmt: ›And I go today,‹ I cried; ›this very hour I will engage a sailing balloon; I shall be there in forty-eight hours at furthest, perhaps in less, if the wind is fair. […]‹ Everything favoured my journey. The balloon rose about half a mile from the earth, and with a favourable wind it hurried through the air, its feathered vans cleaving the unopposing atmosphere. […] The pilot hardly moved the plumed steerage, and the slender mechanism of the wings, wide unfurled, gave forth a murmuring noise, soothing to the sense. […] The machine obeyed the slightest motion of the helm; and, the wind blowing steadily, there was no let or obsta-

22 Vgl. Jürgen Link, »›Einfluß des Fliegens! – Auf den Stil selbst!‹: Diskursanalyse des Ballonsymbols«, in: Bewegung und Stillstand in Metaphern und Mythen: Fallstudien zum Verhältnis von elementarem Wissen und Literatur im 19. Jahrhundert, hg. Jürgen Link und Wulf Wülfing, Stuttgart: Klett-Cotta, 1984, 149-63.

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cle to our course. Such was the power of man over the elements; a power long sought, and lately won.

23

Trotz dieser Begeisterung des Erzählers für die Macht der Wissenschaft, für die der Ballon hier steht, bleibt er in The Last Man ein selten genutztes Verkehrsmittel für die besonders schnelle Beförderung einzelner Personen, und der zweite Teil der Reise wird selbst dann noch in einer Kutsche zurückgelegt, während eine andere spätere ebenfalls sehr eilige Reise sogar ganz mit dem Schiff absolviert wird (die nicht mehr eilige Rückreise dagegen mit dem Ballon). Der Ballon wird in diesem Roman selbst für die Zukunft nicht als gangbares Massentransportmittel imaginiert.

D IE L ANDSCHAFT

IM Z EITALTER IHRER MECHANISCHEN E RREICHBARKEIT Anders in Edgar Allan Poes satirischer Kurzgeschichte »Mellonta Tauta«. Dort ist ein riesiger Ballon zum Massenverkehrsmittel für den schnellen Transport großer Menschenmassen über den Atlantik geworden – im Jahr 2848. Über Land dagegen fährt man mit der Eisenbahn, und zwar mit »fully three hundred miles the hour«: Do you remember what an odd sensation was experienced when, by chance, we caught a glimpse of external objects while the cars were in full flight? Everything seemed unique – in one mass. For my part, I cannot say but that I preferred travelling by the slow train of a hundred miles the hour. Here we were permitted to have glass windows – even to have them open – and something like a distinct view of the country was attainable.24

Die Landschaft wird hier nicht einmal mehr wahrgenommen, so wenig wie man erfährt, wohin und warum die Briefschreiberin in der Geschichte überhaupt reist. Reisen ist nicht nur keine Anstrengung mehr, sondern hat auch nichts mehr mit der Gegend zu tun, die durchquert wird; der Zug und der Ballon werden hier zu Nicht-Orten im Sinne Marc Augés, zu austauschbaren Durchgangsorten ohne eigene Geschichte.25

23 Mary Shelley, The Last Man, Ware: Wordsworth Editions, 2004, 55. 24 Edgar Allan Poe, »Mellonta Tauta«, in: Spirits of the Dead: Tales and Poems, London: Penguin, 1997, 232-46 (240). 25 Vgl Marc Augé, Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit, übers. von Michael Bischoff, Frankfurt a.M.: Fischer, 1994, 90ff.

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Im Gegensatz zum Ballon steht die Eisenbahn also von Anfang an für einen Verlust an Landschaftserfahrung – für eine Art zu reisen, die bestenfalls noch »something like a distinct view of the country« erlaubt. Diese Feststellung geht, wie wir sehen werden, gut mit einem gewissen Kulturpessimismus zusammen, muss das aber nicht unbedingt tun. Bei Mary Shelley zum Beispiel tut sie es dezidiert nicht. 1842 beschreibt sie in einem Reisebericht sehr ausführlich die Umstände einer Eisenbahnfahrt von Leipzig nach Berlin: The distance from Leipsig to Berlin is 105 miles; the greater part an arid sandy plain. […] The sense the eye received of nakedness was in no way relieved – no hedge, no tree, no meadow, no bush. […] I read »The Heart of Mid-Lothian« during the journey, which occupied six or seven hours, and the time passed rapidly. […] The pace we went, when going, was very great, so that I heard passengers call out from the windows imploring that the speed might be lessened.26

Sie selbst empfindet die Geschwindigkeit, die einige der Mitreisenden so erschreckt, jedoch hauptsächlich als nützlich, da sie von der Landschaft zwischen Berlin und Leipzig – »naked, monotonous plains«27 – so nicht viel sehen muss und in verhältnismäßig kurzer Zeit verhältnismäßig bequem von einem Ort, den sie wirklich besuchen will, zum anderen kommen kann, ohne sich mit der uninteressanten Gegend dazwischen aufhalten zu müssen. In ihrem Reisebericht, genauso wie, laut Hans Ulrich Seeber, in Straßenballaden, überwiegen die praktischen Vorzüge der Eisenbahn – eine in der Literatur eher seltene Einstellung: »[D]ie hohe Lyrik« nämlich unterwirft »den neuen Gegenstand der ästhetischen Einstellung des lyrischen Ichs gebildet-bürgerlicher Herkunft«, das »erkundet […] wie die erregende Erfahrung der Geschwindigkeit das gemächliche RaumZeit-Kontinuum herkömmlicher romantischer Landschaftsdichtung in abrupt wechselnde Momentaufnahmen und Impressionen zerteilt«.28 Um ähnlich gelagerte Fragen der Landschaftswahrnehmung und -ästhetik geht es auch Wordsworth 1844 in seiner Kampagne gegen die Kendal and Windermere Railway. Denn als Wordsworth erfuhr, dass im Lake District eine

26 Mary Shelley, Rambles in Germany and Italy, The Novels and Selected Works of Mary Shelley, Bd. 8: Travel Writing, hg. Jeanne Moskal, London: Pickering, 1996, 49-386 (187). 27 Shelley, Rambles, 186. 28 Hans Ulrich Seeber, »Der Ballonaufstieg als Spektakel und Metapher: Zur Assimilierung neuen Wissens in die englische Versdichtung des 19. Jahrhunderts«, in: Bewegung und Stillstand, 165-200 (177).

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weitere Eisenbahnlinie geplant war, nämlich, wie der Name schon sagt, eine Verbindung zwischen den Orten Kendal und Windermere, begann er eine regelrechte Pressekampagne gegen das Projekt, die von der Gegenseite wiederum eine Kampagne gegen ihn zur Folge hatte. Die Kritik stieß sich daran, dass er nicht wolle, dass »the lower classes« in großer Anzahl in den Lake District kämen – er gönne den Armen ihren Wochenendausflug nicht. Wordsworth widersprach dem heftig und führte als Beweis seiner tendenziell nicht gegen die Eisenbahn gerichteten Einstellung das oben zitierte »Steamboats and Railways«Sonett an. Es war jedoch sehr wohl der Status der Eisenbahn als Verkehrsmittel für die Massen, den er unter anderem gegen das Projekt ins Feld führte. Laut Wordsworth wird nämlich in diesem Fall eine einzigartige Landschaft durch die neue Eisenbahn gefährdet – und zwar nicht dadurch, dass sie durch die Schienen, Bahnhöfe und Züge selbst verunstaltet würde, sondern durch die Menschen, die diese Eisenbahn in den Lake District bringen wird, und die es seiner Ansicht nach gar nicht zu schätzen wissen können, denn: It is benignly ordained that green fields, clear blue skies, running streams of pure water, rich groves and woods, orchards, and all the ordinary varieties of rural nature, should find an easy way to the affections of all men, and more or less so from early childhood till the senses are impaired by old age […]. But a taste beyond this, however desirable it may be that every one should possess it, is not to be implanted at once; it must be gradually developed both in nations and individuals.29

Damit wendet er sich gegen das Argument der Eisenbahngesellschaft, die neue Linie wäre deshalb nützlich, weil sie mehr Menschen den Besuch des Lake District ermögliche. Dessen Landschaft erfordert aus Wordsworths Sicht unbedingt »a taste beyond this«, und die ästhetischen Prinzipien, denen dieser Geschmack folgt, sind ihm zufolge selbst so neu, dass die Menschen, die durch die Eisenbahn in den Lake District kommen würden, einen solchen Geschmack noch gar nicht entwickelt haben könnten: Elaborate gardens, with topiary works, were in high request, even among our remote ancestors, but the relish for choice and picturesque natural scenery (a poor and mean word which requires an apology, but will be generally understood), is quite of recent origin. Our earlier travellers […] who had crossed the Alps, or lived some time in Switzerland, are silent upon the sublimity and beauty of those regions.30

29 Wordsworth, »Kendal and Windermere Railway«, 343. 30 Wordsworth, »Kendal and Windermere Railway«, 341.

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Nun war der Sinn für »erhabene« Gebirgslandschaften 1844 längst nicht mehr so neu wie Wordsworth es hier darstellt. Edmund Burke hatte sein Philosophical Enquiry into the Origin of Our Ideas of the Sublime and Beautiful immerhin bereits 1756 veröffentlicht, und die erhabene Landschaft war in der Romantik schon geradezu zum literarischen Gemeinplatz geworden. Die Beispiele, die Wordsworth für »earlier travellers« anführt, die keinen Sinn für solche Landschaften gehabt hätten, entstammen dementsprechend auch sämtlich noch der Zeit vor der Romantik. Der seiner Aussage nach innovative Blick, der die Landschaft des Lake District für schön befindet, ist jedoch zentral für Wordsworths Argumentation gegen die Eisenbahnlinie. Denn es geht ihm um zwei verschiedene Arten des Landschaftserlebens. Für den Kenner wäre das Sicherarbeiten der Landschaft durch eine Fahrt mit der Kutsche, oder noch besser durch einen Fußweg von mehreren Kilometern von der nächsten schon existierenden Eisenbahnstation aus, nicht zu viel verlangt: What can, in truth, be more absurd, than that either rich or poor should be spared the trouble of travelling by the high roads over so short a space, according to their respective means, if the unavoidable consequence must be a great disturbance of the retirement, and in many places a destruction of the beauty of the country, which the parties are come in search of?31

Mit »either rich or poor« tritt Wordsworth dabei den erwähnten Vorwürfen entgegen, die bereits gleich nach seinen ersten öffentlichen Äußerungen gegen die Bahnlinie in der Presse gegen ihn erhoben wurden, er gönne dem Volk seinen wohlverdienten Sonntagsausflug nicht.32 Für alle, die die Einzigartigkeit dieser Landschaft wirklich zu schätzen wüssten, hält er dem entgegen, wäre es schon jetzt kein Problem in den Lake District zu gelangen. Wenn jedoch die Bahn gebaut würde, würde diese Einzigartigkeit gerade gefährdet, noch bevor die Mehrheit Gelegenheit gehabt hätte, Geschmack daran zu entwickeln, denn: The directors of railway companies are always ready to devise or encourage entertainments for tempting the humbler classes to leave their homes. Accordingly, for the profit of the shareholders and that of the lower class of innkeepers, we should have wrestling matches, horse and boat races without number, and pot-houses and beer-shops would keep

31 Ebd. 346. 32 Vgl. John Edwin Wells, »Wordsworth and Railways in 1844-1845«, MLQ 6 (1945), 35-50 und James Mulvihill, »Consuming Nature: Wordsworth and the Kendal and Windermere Railway Controversy«, MLQ 56,3 (1995), 305-26.

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pace with these excitements and recreations, most of which might too easily be had elsewhere. The injury which would thus be done to morals, both among this influx of strangers and the lower class of inhabitants, is obvious; and supposing such extraordinary temptations not to be held out, there cannot be a doubt that the Sabbath day in the towns of Bowness and Ambleside, and other parts of the district, would be subject to much additional desecration.33

Nicht nur wird also der innovative Geschmack von Menschen mit hohem kulturellem Kapital, wie der des poet laureate selbst, dem konventionellen Massengeschmack entgegengestellt, der über die Freude an grünen Wiesen, blauem Himmel und Amüsement nicht hinausgeht. Sondern die einen erarbeiten sich auch den Zugang zu einer Landschaft, deren Wert gerade in ihrer Exklusivität liegt; die anderen würden diesen Wert nicht zu schätzen wissen bzw. zerstören, indem sie dort die selbe Unterhaltung erwarten würden, die sie anderswo auch bekommen könnten. Mit der leichten Erreichbarkeit schwindet potenziell außerdem die Einzigartigkeit eines Ortes. Neue Umgangsweisen mit dem geographischen Raum führen also laut Wordsworth notwendig zu Veränderungen in dessen Konzeptionalisierung, und diese Veränderungen sind für ihn ganz und gar nicht wünschenswert. Das wird auch in seinem zweiten, zusammen mit den Briefen veröffentlichten Sonett deutlich: Is then no nook of English ground secure From rash assault? Schemes of retirement sown In youth, and mid the busy world kept pure As when their earliest flowers of hope were blown, Must perish; – how can they this blight endure? And must he too the ruthless change bemoan Who scorns a false utilitarian lure Mid his paternal fields at random thrown? Baffle the threat, bright Scene, from Orrest-head Given to the pausing traveller’s rapturous glance: Plead for thy peace, thou beautiful romance Of nature; and, if human hearts be dead, Speak, passing winds; ye torrents, with your strong And constant voice, protest against the wrong.

33 Wordsworth, »Kendal and Windermere Railway«, 346.

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Wieder, wie schon in dem anderen Sonett, kommen hier Kriegs-Metaphern zum Einsatz, diesmal jedoch bezogen auf die von der Eisenbahn hergebrachten Massen: Deren gewaltsamer »rash assault« steht im pointierten Gegensatz zum »rapturous glance« des einzelnen »pausing traveller«, der innehält und sich umschaut, statt in der Eisenbahn nur vorbeizufahren, und dessen Blick vielleicht seinen eigenen Landschafts-Geschmack zum Besseren verändern aber nicht den Lake District selbst negativ beeinflussen kann. Dem entgegen stehen »ruthless change« und Utilitarismus. Hier wird noch nicht, wie in den später verfassten Briefen für die Morning Post, irgendeine Art von Innovation für die eigene Seite verbucht. Die Veränderung ist rücksichtslos und ist daher zwar eine Innovation, aber keine, der Wordsworth gute Seiten abgewinnen könnte. Im Gegensatz dazu werden die Dinge, die diese Innovation seiner Ansicht nach zerstört, als naturgegeben dargestellt: Die Aussicht auf den friedlichen Lebensabend in der Zurückgezogenheit keimt als praktisch von selbst wachsende »flower of hope«, und die Eisenbahn wird mitten durch die ererbten »paternal fields« der Bauern verlegt. Der naturgegebene, schon immer da gewesene Umgang mit dem Raum wird durch einen unnatürlichen ersetzt, denn wo einmal die bis dahin bestehende Situation als natürlich konzeptionalisiert wird, erscheint die Innovation als unnatürlich und damit per se schlecht – eine Veränderung, gegen die sich die Naturgewalten selbst zur Wehr setzen müssen.

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PEDESTRIAN METHODS «

Der »pausing traveller« dagegen, der als Gegenmodell vorgestellt wird, wäre wohl ein Fußgänger, jemand, der »could he afford by any means to travel as far as Kendal, would not grudge a two hour’s walk across the skirts of the beautiful country that he was desirous of visiting«.34 Auch die positive Bewertung des Gehens, die hier deutlich wird, stellt aber um 1800 noch eine Innovation dar. Um die noch bis ins späte 18. Jahrhundert in England herrschende Einstellung gegenüber dem Zufußgehen zu charakterisieren, wird meist Karl Philip Moritz zitiert, der 1782 anlässlich einer Reise England als ein Land der »Pferde und Karossen« beschrieb, in dem ein Fußgänger »ein Wundertier zu sein [scheint], das von jedermann, der ihm begegnet, angestaunt, bedauert, in Verdacht gehalten und geflohen wird.«35 Moritz’ Darstellung wird zwar von einigen

34 Wordsworth, »Kendal and Windermere Railway«, 345. 35 Hier zitiert nach: Peter Borscheid, Das Tempo-Virus: Eine Kulturgeschichte der Beschleunigung, Frankfurt/New York: Campus Verlag, 2004, 99. Vgl. dazu auch Anne Wallace, Walking, Literature, and English Culture: The Origins and Uses of Peripa-

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Autoren in Zweifel gezogen als möglicherweise übertrieben oder auf noch andere Faktoren als das bloße Zufußgehen zurückzuführen – man könnte Moritz mehr als Fremden beargwöhnt haben als als Fußgänger.36 Ähnliches berichtet jedoch auch Thomas De Quincey in seinen Confessions of an English Opium Eater über eine 1802 unternommene Reise: [I]n the possible event of fair weather lasting over four or five days, what should prevent me from traversing the whole distance on foot? It is true, that the aristocratic scowl of the landlord might be looked for as a customary salutation at the close of each day’s journey; but unless at solitary posting-houses, this criminal fact of having advanced by base pedestrian methods, known only to patriarchs of older days and to modern ›tramps‹ (so they are called in solemn acts of Parliament), is easily expiated and cleansed, by distributing your dust, should you fortunately have any to show, amongst the streets that you have invaded as a stranger. […] Else, as a general imputation, undoubtedly pedestrianism, in the estimate of English landlords, carries with it the most awful shadow and shibboleth of the pariah.37

Wer zu Fuß und nicht zu Pferd oder in einer Kutsche ankommt, muss seine Fortbewegungsweise verheimlichen, oder er wird als Landstreicher behandelt – als jemand jedenfalls, der zu arm ist, um sich wenigstens einen Platz in der Postkutsche leisten zu können.38 Die Ironie, mit der De Quincey hier die Vorurteile der englischen Wirte gegen zu Fuß reisende Gäste beschreibt, weist jedoch bereits auf eine neue Entwicklung hin. Denn De Quincey selbst, im Gegensatz zu den Engländern, denen Moritz auf seiner Reise 20 Jahre zuvor begegnet war, sieht den Sachverhalt offensichtlich schon völlig anders. Und damit stand er nicht allein da. Denn in der Zwischenzeit, in den 1780er und 90er Jahren, hatte das Wandern begonnen, sich von einer Notwendigkeit für diejenigen, die sich keinen Platz in der Postkutsche leisten konnten, zu einer zunächst unkonventionellen, später aber immer üblicheren Form der Bildungsreise für Teile des Bürgertums zu entwickeln. 1821 schließlich, im selben Jahr, in dem De Quinceys Confessions erstmals erschienen, wurde bezeichnenderweise auch ein Guidebook für Wales veröffentlicht, das sich bereits im Titel (was bis dahin

tetic in the Nineteenth Century, Oxford: Clarendon, 1993, 30-33; Robin Jarvis, Romantic Writing and Pedestrian Travel, Houndmills: Macmillan, 1997, 24 und Rebecca Solnit, Wanderlust: A History of Walking, London/New York: Verso, 2001, 83. 36 Vgl. Jarvis, Romantic Writing, 25; Solnit, Wanderlust, 83. 37 Thomas De Quincey, Confessions of an English Opium-Eater, London: Penguin, 1997, 138 (Hervorhebung im Original). 38 »[W]alking was an almost unmistakable index of poverty« (Jarvis 21).

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nicht üblich war) als Instructions to Pedestrian Tourists zu erkennen gab. Robert Newell, der Autor dieses Reiseführers, bezeichnet das Wandern darin als die nicht nur sparsamste, der Gesundheit zuträglichste und unabhängigste Reisemöglichkeit, sondern sogar als die sicherste, sowie als den besten Weg, ein Land tatsächlich kennen zu lernen.39 War das Wandern zu Beginn der 1780er Jahre also noch »Reisen für Arme« – für Landstreicher, Arbeiter und sonst bestenfalls ein paar Exzentriker – wurde es bis Anfang des 19. Jahrhunderts zu einem Teil des Habitus bestimmter Teile des Bürgertums, und das obwohl im selben Zeitraum das Reisen mit der Postkutsche aufgrund verbesserter Straßen und besser gefederter Kutschen sehr viel schneller, bequemer und sicherer als früher geworden war.40 – Oder auch gerade wegen der so begonnenen (und bald darauf durch die ersten Eisenbahnlinien weitergeführten) »transport revolution«: Ab dem Punkt, wo zu Fuß gehen keine Notwendigkeit mehr darstellt sondern eine Wahl, steigt das mit dieser Fortbewegungsweise verbundene kulturelle Kapital genau deshalb an und wird sie in literarischen Texten auch selbst als Prozess dargestellt, während vorher ausschließlich das Erreichen des Ziels von Bedeutung war.41

S CHLUSSBETRACHTUNG : D AS G EDICHT

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W OLKEN

Im Rückblick auf seine Reise wiederum liest De Quincey das eigene Zusammentreffen mit der durchwanderten Umgebung als literarisch und auch dabei hochinnovativ: The clouds passed slowly through several arrangements, and in the last of these I read the very scene which six months before I had read in a most exquisite poem of Wordsworth’s, extracted entire into a London newspaper (I think the St James Chronicle). […] The scene of this poem (›Ruth‹), that had been originally mimicked by the poet from the sky, was here re-mimicked and rehearsed to the life, as it seemed, by the sky from the poet. Was I, then, in July 1802, really quoting from Wordsworth? Yes, reader; and I only in all Europe.42

De Quincey auf seiner ersten Fußreise sieht so die Natur selbst seine Wordsworth-Lektüre bestätigen – und zwar eine Lektüre, die ihn im Nachhinein ebenso

39 Vgl. Jarvis, Romantic Writing, 13. 40 Vgl. Jarvis, Romantic Writing, 20-21. 41 Vgl. Wallace, Walking, 61-66. 42 De Quincey, Confessions, 95-96.

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als besonders gebildet und literarisch instinktsicher kennzeichnet, wie seine Fortbewegung mit vermeintlich niederen »pedestrian methods« ihn, was kulturelles Kapital angeht, über die Wirte hebt, die sich dem Fußgänger überlegen fühlen. Eine innovative literarische Praxis – in diesem Fall die Lektüre eines zu diesem Zeitpunkt noch nicht, zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der Confessions aber sehr wohl bekannten Gedichtes – verbindet sich einmal mehr mit einer innovativen Fortbewegungsweise. Hier schließt sich der Kreis, und die (innovative) Fortbewegungsweise bringt tatsächlich in gewissem Sinne den (innovativen) Text hervor: De Quinceys Text findet Wordsworths Text in der erwanderten Landschaft wieder, und zwar als Aufführung, die die Wolken dem Gedicht nachempfinden. Wurde in Wordsworths eingangs zitiertem Sonett noch die Notwendigkeit postuliert, dass neue Umgangsweisen mit dem Raum in die Literatur eingreifen, so greift hier das Gedicht in die Realität des Raumes ein. Wie in den anderen hier behandelten literarischen Texten inszeniert sich der Text selbst als eine Praxis, die etwas mit dem Raum tut. Durch das Schreiben über eine Fortbewegungspraxis wird Raumwahrnehmung nicht nur dargestellt sondern auch konstituiert und inszeniert: quasi »rehearsed to the life«.

L ITERATUR Alcock, Mary. »The Air Balloon«. Poems by the Late Mrs. Mary Alcock. London: C. Dilly, 1799. 107-111. Anon. »Historical Chronicle«, Gentleman’s Magazine 54,3 (1784): 710-13. Anon. »Impartial and Critical Review of New Publications«, Gentleman’s Magzine 54:4 (1784): 770-73. Augé, Marc. Orte und Nicht-Orte: Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit. Übers. von Michael Bischoff. Frankfurt: S. Fischer, 1994. Behringer, Wolfgang und Constance Ott-Koptschalijski. Der Traum vom Fliegen: Zwischen Mythos und Technik. Frankfurt: S. Fischer, 1991. Borscheid Peter. Das Tempo-Virus:. Eine Kulturgeschichte der Beschleunigung. Frankfurt: Campus Verlag, 2004. Castle, Terry. »Unruly and Unresigned«. TLS (November 10-16, 1989): 122728. De Certeau, Michel. Kunst des Handelns. Berlin: Merve, 1988. De Quincey, Thomas. Confessions of an English Opium-Eater. London: Penguin, 1997. Harvey, David. The Condition of Postmodernity: An Enquiry into the origins of Cultural Change. Oxford: Blackwell, 1989.

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Hg. W.J.B. Owen / Jane Worthington Smyser. Bd. 3. Oxford: Clarendeon, 1974. 329-66. ———. The Major Works. Hg. Stephen Gill. Oxford: Oxford UP, 2000.

Innovation und Improvisation: Ken Adams Production Design für Dr. No und Dr. Strangelove C HRISTIAN V OGEL

Werden Kostüme, Ausstattung und Filmarchitektur eines Kinofilms von den Zuschauern auch oft nicht bewusst wahrgenommen, sind diese Komponenten dennoch bestimmend für Struktur, Stil und die Stimmung eines Films. Hierfür entwickelt das Production Design Raumkonzepte und definiert den Schauplatz, das Millieu für Filmhandlung und –figuren. Ein Production Designer – die ungefähre Entsprechung in einer deutschen Filmproduktion wäre der Szenenbildner – ist somit für den ›Look‹ eines Films verantwortlich: für die im Film zu sehenden Gebäude, seien sie ›on location‹ oder nachgebaut, die Interieurs der Sets, sowie Requisiten und Kostüme. Nicht alles wird notwendigerweise vom Production Designer entworfen (etwa die Kostüme, für die die Kostümbildner zuständig sind), da eine Filmproduktion ein sehr arbeitsteiliger Prozess ist. Der Production Designer delegiert daher viele Aufgaben an das Art Department, gibt Vorgaben für die Gestaltung und sorgt für ein homogenes visuelles Ganzes. Ken Adam, um dessen Arbeit es in diesem Beitrag geht, fasst in einem Interview seine Aufgaben zusammen: Der Production Designer ist für alles verantwortlich, was Sie auf der Leinwand sehen. Er versucht, dem Drehbuch gewissermaßen einen ›visuellen Körper‹ zu geben, das heißt, er überlegt sich die Farbdramaturgie, wählt die Drehorte aus, bestimmt welche Sets gebaut werden müssen und entscheidet manchmal, wer für Kostüme und Kamera engagiert wird. Er entwickelt das optische Grundkonzept für den Film, kreiert damit also auch dessen Stil

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– das ist vielleicht das Wichtigste. Natürlich diskutiert er seine Vorstellungen mit dem Regisseur.

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Adam führt weiter aus, dass seine konkrete Arbeit – der Entwurf der Sets und das Suchen von Drehorten – zunächst allein passiert und der Regisseur oft erst später hinzugezogen wird. Ein Kameramann komme in der Regel erst kurz vor Drehbeginn zum Team, was wohl auch finanzielle Gründe habe, da dieser »wahnsinnig viel Geld» bekomme.2 Trotz der anfänglich geringen Budgets und dem Zwang zur Improvisation gelang es Ken Adam, mit seinen eleganten Filmsets den visuellen Stil der frühen James-Bond-Filme durch ein innovatives und futuristisches Design zu prägen. Bereits in im ersten Bond-Film Dr. No (1962) sollte darin die Zeit des Kalten Krieges und der Eroberung des Weltraums ihren Ausdruck finden. Dieser Artikel untersucht, wie Ken Adam in den Filmen Dr. No und Stanley Kubricks Dr. Strangelove or: How I Learned to Stop Worrying and Love the Bomb (1964), diese futuristischen Setdesigns mit tradierten filmischen Gestaltungsmitteln verband und damit einen eigenen innovativen visuellen Stil etablierte.

I M N ETZ DES D R . N O Das Szenenbild muss den Charakter präsentieren, bevor er erscheint, muss seine soziale Stellung verkünden, seine Gewohnheiten, seinen Lebensstil, seine Persönlichkeit. ROBERT MALLET-STEVENS

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In einer Szene des Films Dr. No erhält einer der Gegenspieler James Bonds, Professor Dent, vom geheimnisvollen Verbrechergenie Dr. No Anweisungen für einen Mordanschlag. Dent fährt zur geheimen Anlage des Doktors und wird dort von den Wachen zum Rapport in ein Vorzimmer begleitet. Der Zuschauer sieht Dent aus der Umgebung einer lauten Industrieanlage in diesen beinahe leeren, halbdunklen und komplett stillen Raum eintreten, beleuchtet nur durch ein gro-

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Jürgen Berger, »Ken Adam: Freiräume für die Phantasie. Gespräch mit Jürgen Berger am 06.02.1994 im ARRI-Kino, München«, Der Schöne Schein der Künstlichkeit, hg. Andreas Rost, Frankfurt: Verlag der Autoren, 1995, 17.

2

Vgl. ebd.

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Robert Mallet-Stevens, zit. n. Dietrich Neumann, Filmarchitektur von Metropolis bis Blade Runner, München: Prestel, 1996, 7.

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ßes vergittertes Oberlicht. Alle Winkel des Raums scheinen schief zu sein, die Decke ist in einem schrägen Winkel angebracht. Dieser Effekt, der durch die Untersicht der Kamera, die hier knapp über Bodenhöhe positioniert ist, verstärkt wird, ist typisch ist für Ken Adams Design, wie Georg Mannsperger in seiner Arbeit über die James-Bond-Filme anmerkt: Hier sieht man eine weitere Eigenart des architektonischen Verständnisses von Ken Adam: Die Decken seiner Räume sind nur selten flach. Er bevorzugt Giebel oder Schrägen, die von mächtigen Balken getragen werden. Auf diese Weise wirken die Räume immer leicht verzerrt und anormal.

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In der hinteren Ecke steht ein einsamer Stuhl. Die Weitwinkelaufnahme evoziert den Eindruck einer Aufnahme aus einer Überwachungskamera, wodurch das ganze Ensemble wie ein Verhörraum wirkt. Professor Dent ist offenbar das erste Mal in diesem Raum. Er schaut sich unsicher um, bis ihm eine Stimme über einen Lautsprecher befiehlt, sich hinzusetzen. Auf dem für ihn zu kleinen Stuhl sitzt er schließlich wie ein Schuljunge im Büro des Schuldirektors. Dr. No tritt in dieser Szene nicht in Erscheinung: Zusammen mit Professor Dent hört der Zuschauer nur seine körperlose Stimme. Dass Dr. No im Gegenzug Dent sehr wohl sehen kann, offenbar per Überwachungskamera, ist durch dessen Befehle an Dent sich zu setzen oder aufzustehen, offensichtlich. Schließlich fordert er den entsetzten Dent auf, einen Käfig mitzunehmen. Als er den Käfig aufhebt, sieht schließlich auch der Zuschauer darin eine große Vogelspinne krabbeln. Dent verlässt mit dem Käfig fluchtartig den Raum. Obwohl Dr. No nicht zu sehen ist, vermittelt diese kurze Szene einen Eindruck seiner Macht über Leben und Tod. Das Design des Verhörraums bildet diese Machtstrukturen ab: Dent kann den Raum verlassen, denn die Tür hat keinen Griff und wird ferngesteuert. Das Oberlicht ist vergittert. Somit wirkt der Raum wie ein Verlies. Die Lichtsetzung mit dem dominanten Schatten des Gitters, der überdimensional groß auf Wand und den Boden fällt, erinnert an die expressionistischen Filme Fritz Langs oder F. W. Murnaus aus den 20er- und frühen 30er Jahren. Die dramatischen Schatten und die schiefen, stürzenden Linien unterstreichen in der beschriebenen Szene die bedrohliche Atmosphäre und zitieren Filme wie Das Cabinet des Dr. Caligari (1920) oder Nosferatu (1922). Ebenso erinnert diese Szene an Fritz Langs Das Testament des Dr. Mabuse (1932), dessen Titelfigur über einen Großteil des Films nur über seine Stimme

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Georg Mannsperger, James Bond Will Return: Der serielle Charakter der JamesBond-Filme. Inaugural Dissertation, Mainz 2003, 186.

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(omni-)präsent ist. Der Käfig mit der Spinne führt dann gleichsam eine Doppelung der Symbolik ein. Das Gitter des Käfigs wiederholt das des Oberlichts: Wie das Insekt ist Professor Dent in der Falle, im Netz des Dr. No. Die Szene wurde erst am Ende der Dreharbeiten eingefügt, weshalb es für sie eigentlich kein Budget mehr gab. Daher musste das Set innerhalb weniger Stunden aus Resten, die sich im Studio anfanden, improvisiert werden und kostete schließlich nur 450 Pfund. Das Ergebnis ist schlicht, aber sehr effektiv und gibt einen Hinweis auf die traditionellen Einflüsse in Ken Adams Designs. So weist Christopher Frayling auf die Synthese von Elementen des Expressionismus und dem reduzierten Ken Adam-›Look‹ hin. There is a grille in the ceiling like a spider’s web and it throws a distorted Caligari-type shadow across the room. It’s only visible for a few moments, but it registers very strongly. It’s a very distinctive Ken Adam set […] the spider, the expressionism, the curve of the wall; it’s an extraordinarily economical way of introducing a super villain. It’s entirely visual.5

Auch Ken Adam selbst hält im Interview diese Szene für die visuell interessanteste des Films: » It was dressed with just one table, one chair and one tarantula, and it’s my favourite scene in the film - an example stylisation to achieve the desired effect.«6 Nicht nur in den Bond-Filmen kehrte Adam in seinen Sets immer wieder zu einer ähnlichen Formensprache zurück: große, sparsam eingerichtete Räume mit asymmetrischen Wänden und runden Oberlichtern und Lampen.

D R . N O ’ S B ACHELOR P AD Gegen Ende des Films werden James Bond und Honey Rider, das erste aus der langen Reihe der Bond-Girls, gefangen genommen. Sie werden in Dr. Nos Hauptquartier gebracht und zunächst scheinbar wie Gäste behandelt. Dieses Hauptquartier ist der Prototyp für die glamourösen Behausungen der SuperVerbrecher der James-Bond-Filme. Diese sind immer gleichzeitig sowohl Kommandozentrale als auch eine standesgemäße, repräsentative Unterkunft für den Manager einer Verbrecherorganisation. Jim Hoberman merkt hierzu an:

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Christopher Frayling, Ken Adam and the Art of Production Design, London: Faber and Faber, 2005, 99.

6

Ebd.

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Replete with colourful Third World atmosphere, Dr. No bespeaks a time when foreign travel was exotic and airports seemed glamorous. The half-German, half-Chinese villain may run his island ›like a concentration camp‹ but his white sand beaches are magnificently secluded and his palace a bachelor pad worthy of a six-page feature in Playboy.

7

So bietet das villain’s lair des Dr. No ein mondänes Ambiente mit offenem Kamin und Flokati-Teppichen. Die Räume sind aus dem Fels gehauen und mit einer Mixtur aus modernen Designer-Möbeln und Antiquitäten eingerichtet. Ein Panoramafenster zeigt die Aussicht auf eine Unterwasserwelt: »Eine Million Dollar!« habe der Einbau gekostet, wie der stolze Besitzer ungefragt gegenüber James Bond kommentiert. Mit Dr. Nos Apartment kreierte Ken Adam den Prototyp aller bis in die achtziger Jahre folgenden Hauptquartiere der Superverbrecher. Darüber hinaus könnte Dr. Nos Behausung als Blaupause für die zeitgenössischen »spaces of masculine consumption«8 dienen, die Bill Osgerby in seinem Artikel »The Bachelor Pad as Cultural Icon« beschreibt: A place where men could luxuriate in a milieu of hedonistic pleasure, the bachelor pad was the spatial manifestation of a consuming and masculine subject that became increasingly pervasive amid the consumer boom of the 1950s and 1960s. This ›swinging bachelor‹ was a man of means who had renounced the puritanical ideals of the traditional mid9

dle class.

Dass die Figur des Dr. No nicht den Vorstellungen eines typischen swinging bachelor entspricht, stört in diesem Zusammenhang nicht. Es genügt zunächst, dass er das Geld für eine solch schicke Behausung hat. Es ist jedoch bezeichnend, dass die Figur James Bonds, als Prototyp eines Playboys, diesen Luxus viel eher zu genießen wüsste. Dr. No wird hingegen, auch im Kontrast zu seinem gegensätzlich konnotierten bachelor pad, als impotent, gar asexuell charakterisiert – symbolisiert durch den Verlust seiner Hände, die durch unzulängliche mechanische Prothesen ersetzt werden müssen. Seine einzige (Ersatz-)Leidenschaft ist die Macht, die sein Plan ihm verspricht.

7

Jim Hoberman, »When Dr. No Met Dr. Strangelove«, Sight and Sound (3:12, Dec

8

Bill Osgerby, »The Bachelor Pad as Cultural Icon«, Journal of Design History (Vol.

9

Ebd. 100f.

1993): 18. 18, No. 1, 2005): 101.

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Am Ende des Films gelingt es James Bond, in Dr. Nos Kommandozentrale und Atomlabor einzudringen – die technische Seite des villain's lair. Von einigen aus realen Kernreaktoren übernommenen Details abgesehen, musste Ken Adam hier seine Phantasie spielen lassen. Dr. Nos Mannschaft sitzt und steht an Kontrolltafeln mit vielen Knöpfen, rotierenden Magnetbändern und blinkenden Lichtern und Skalen. Hierbei sind nicht die einzelnen Teile der Ausstattung bemerkenswert, sondern das Design der Halle, die im Grunde viel zu groß ist für die spärlichen Kontrollinstrumente und die wenigen Menschen, die sie bevölkern. Dennoch wirkt das Kontrollzentrum im Rahmen dieses Films plausibel, passend zum Größenwahn des Dr. No und dem Science-Fiction-Thema. Auch hier konnte Ken Adam trotz Geld- und Zeitmangel überzeugende und innovative Sets kreieren. So war etwa die Vorproduktionsphase durch das geringe Budget des Films recht kurz und es gab zu Drehbeginn weder ein visuelles Konzept noch eine Vorstellung vom konkreten Aussehen der Sets.10 Daher konnte Adam, während die wenigen (weil teuren) Außenaufnahmen auf Jamaica stattfanden, experimentieren. Für die Ausstattung wählte er bewusst Materialien, die in der Filmarchitektur bisher selten eingesetzt wurden, wie Kupfer, Messing, Stahl und Plastik. So erklärt Adam im Interview mit Boris Hars-Tschachotin: I felt that there had been a tremendous failure, in European as well as American cinema, to show our age, our electronic age and the start of computers and all that […] so I said I would start experimenting with materials which we had never seen on the screen until then, like copper, stainless steel, and slightly futuristic tongue-in-cheek designs to give the script a certain panache, and at the same time to express the age we were living in.

11

Ken Adam gab dem Film einen innovativen Look: futuristisch und schwungvoll übertrieben, jedoch mit dem Ziel, das Gezeigte durch die offensichtliche Übertreibung wiederum ironisch zu brechen. Das Ergebnis ist noch nicht so elaboriert

10 Verglichen mit großen Hollywoodproduktionen war Dr. No, gedreht in den Londoner Pinewood Studios, ein Low-Budget Film: Für den gesamten Film standen nur etwa 350.000 Britische Pfund zur Verfügung, was 1962 ca. 1 Million US-Dollar entsprach. Von dieser Summe waren nur 20.000 Pfund für die Ausstattung und das Szenenbild vorgesehen. Einige der Außenaufnahmen fanden auf Jamaica statt, der Großteil des Films wurde jedoch in London im Studio gedreht. Vgl. Christopher Frayling, Ken Adam and the Art of Production Design, London: Faber and Faber, 2005, 98f. 11 Boris Hars-Tschachotin, »Ken Adam – Film Sets Are Forever«, Interview mit Ken Adam beim Berlinale Talent Campus 2004.

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wie in späteren James-Bond-Filmen, etwa Goldfinger (1963) oder You Only Live Twice (1966), doch es weist bereits den Weg dorthin.

D R . S TRANGELOVE Nach Dr. No wird Ken Adam von Stanley Kubrick für Dr. Strangelove or: How I Learned to Stop Worrying and Love the Bomb engagiert. Wie in den Agentenfilmen werden auch hier der kalte Krieg und seine Begleiterscheinungen thematisiert. Unter dem Eindruck der Kubakrise dreht Stanley Kubrick 1963 die Satire Dr. Strangelove nach dem Roman Red Alert von Peter George: Der paranoide Colonel Jack D. Ripper, hat sich auf seinem Air-Force-Stützpunkt verschanzt und amerikanische Bomber in Richtung Sowjetunion geschickt. Er will den vermeintlichen Unterwanderungsversuchen der Kommunisten zuvorkommen und einen Atomkrieg mit der UdSSR auslösen, den er glaubt gewinnen zu können. Der Generalstab im Pentagon und der Präsident können die Bomber nicht zurückrufen, da ihnen der Rückrufcode fehlt. Schließlich schlagen alle Rückrufversuche und die Kommunikation mit dem Kreml fehl, was unwiderruflich die Vergeltung der Sowjetunion auslöst. Dr. Strangelove funktioniert im Gegensatz zu Dr. No vor allem über Dialoge, durch die sowohl die Handlung, als auch die groteske Komik transportiert werden. Jedoch spielen auch hier die Filmsets eine wichtige Rolle bei der Charakterisierung der Figuren. Die Schlüsselszenen finden in dem von Ken Adam designten War Room statt, der Kommandozentrale im Pentagon. Das Set des War Room unterscheidet sich kaum von den Villain’s Lairs der James-BondFilme. Die Ausmaße dieses riesigen Raums kann der Zuschauer nur erahnen. Kubrick enthält dem Zuschauer den Establishing Shot mit einer Totalen vor, die düstere Halle ist lange Zeit nicht in ihrer Gänze erfassbar. Sichtbare Elemente sind nur ein großer runder Tisch mit einem Lampenring darüber, sowie riesige Kontrolltafeln mit Weltkarte im Hintergrund. Die einzige Lichtquelle sind die Lampen über dem Tisch. Dieser wirkt – explizit in dieser Absicht von Stanley Kubrick und Ken Adam so gestaltet – wie ein Pokertisch, an dem die Mächtigen der Welt gegeneinander spielen: Kubrick insisted that the table in the war-room should be covered in green baize (although this refinement was invisible to the monochrome photography) because he wanted the actors to feel that they were playing a game of poker to the fate of the world.

12

12 Barry Curtis, »War Games: Cold War Britain in Film and Fiction«, Cold War Modern Design 1945-1970, hg. Jane Pavitt und David Crowley, London: V&A, 2008: 126.

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Der Spieleinsatz ist im Hintergrund auf den überdimensionalen Landkarten sichtbar: die ganze Welt. Ken Adam gelingt es, den »War Room« gleichzeitig riesig und klaustrophobisch wirken zu lassen. Hierfür schafft er in der Dunkelheit und der nicht zu erfassenden Größe der Halle mit dem Konferenztisch eine kleine Insel, die durch eine oberhalb angebrachte ringförmige Lampe und deren Lichtschein rundum begrenzt ist. Die riesigen Tafeln hingegen erinnern sowohl an Fotos aus dem britischen Cabinet War Room im Zweiten Weltkrieg als auch an die Panoramascheiben im Hauptquartier des Dr. No. Hier bleibt Adam seiner Formensprache aus Dr. No treu: die strengen asymmetrischen Linien des Raums werden durch ein markantes kreisrundes Element durchbrochen. Die Dreiecksform der Decke des War Rooms erinnert wiederum an eine Schanze oder einen Bunker und gibt somit bereits durch diese Grundform seine kriegerische Bestimmung preis. Neben dem Design des »War Room« ist auch die Gestaltung der anderen Schauplätze bemerkenswert: Hier wird mit dem Szenenbild auch jeweils ein Bruch in der Art der Inszenierung unterstrichen. Die Szenen im B52-Bomber wirken oft wie eine Dokumentation, der Kampf um Colonel Rippers Luftwaffenstützpunkt, manchmal unscharf und mit Handkameras gedreht, wie eine Reportage aus den Fernsehnachrichten.13 Im Falle des B52-Bombers wirkt Adams Design extrem realistisch. Das eigentlich geheime Innere eines solchen Flugzeugs wurde mithilfe von Fotos in Fliegerzeitschriften so genau nachgebaut, dass Offiziere der US Air Force beunruhigt waren, als sie bei einer Einladung an das Set ein so genaues Abbild ihrer Bomber vorfanden.14 Die Szenen im Flugzeug sind mit einer mobilen Kamera gedreht, mitten zwischen den Schauspielern in der engen Röhre des Flugzeugs. Reißschwenks und Lichtreflexe im Bild imitieren eine Spontaneität und Unmittelbarkeit, die eher zu einer Dokumentation als zu einem Spielfilm passt. Auf der Handlungsebene führt die Flugzeugcrew der Kamera exemplarisch die vorgeschriebenen Handlungen im Ernstfall eines atomaren Angriffs vor. Sie macht dabei fatalerweise – nach ihrem Instruktionshandbuch – alles richtig, und schafft es schließlich, die Atombombe über der UdSSR abzuwerfen. Zunächst wirken diese Szenen verwirrend, denn durch die Enge, die Naheinstellungen und die wackelige Kameraführung wird dem Zuschauer eine Orientierung im Raum versagt. Diese Form der unkontrolliert wirkenden Kamera ist eine für Stanley Kubrick typische Form

13 »Dr Strangelove is a collision of styles: the War Room is expressionistic, the B52 is like a documentary, and the siege of the Burpelson Air Base is hand-held and newsreel-like. Three different styles for three different sets.« (Frayling, Ken Adam, 115.) 14 Vgl. ebd. 113.

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der Inszenierung, ebenso wie seine extrem kontrollierten Szenen: streng designte, geordnete Räume stehen dem Chaos, zum Beispiel im militärischen Kampf, gegenüber.15 Somit, schreibt hierzu Kay Kirchmann, korrespondiere »Kubricks Ikonographie […] mit dem übergeordneten Grundthema, das sich durch sein Werk zieht, nämlich der Dialektik von präzise geplanter Ordnung und ungebändigtem, zerstörerischem Chaos«16. Durch seine strenge Bildästhetik zeige Kubrick »gesellschaftliche Realität als etwas künstlich Geordnetes, in das das ausgegrenzte Lebendig-Chaotische umso wirkungsvoller« einbreche: »Denn dem Register der geordneten und Ordnung thematisierenden Bilder steht jenes der instabilen, chaotischen Aufnahmen der Handkamera entgegen.«17 Dieser Bruch findet sich mehr oder weniger deutlich in vielen Filmen Kubricks, von Paths of Glory (1957) über Barry Lyndon (1975) bis zu Full Metal Jacket (1987). Speziell im letzteren steht der erste Teil des Films mit einer surreal anmutenden Symmetrie und Ordnung der Kaserne dem totalen Chaos im Häuserkampf in Vietnam entgegen. Dr. Strangelove erzeugt ebenfalls eine symbolische Dialektik von Ordnung und Chaos, von »rationalen« und »irrationalen« Räumen. Wie in der Kommandozentrale des Dr. No zeigt Ken Adams Design, dass im War Room Macht und Kontrolle ausgeübt werden. Das subversive Element und die Komik in Kubricks Film entstehen durch die Handlung, die die in diesen Räumen vorgeblich rational handelnden Akteure als irrational und wahnsinnig entlarvt. Sogar das (reale) Akronym MAD für Mutual Assured Destruction, das für die von den handelnden Personen vertretene Politik der Abschreckung mit Atomwaffen steht, legt hiervon Zeugnis ab. Am anderen Schauplatz der Handlung muss die Mannschaft im B52-Bomber hingegen annehmen, bereits im Krieg zu sein. Die Männer überwinden verschiedene Hindernisse, überleben einen Angriff der sowjetischen Luftwaffe und erfüllen schließlich ihre Mission mit dem Abwurf der Atombombe. Sie handeln in ihrer Situation rational, letztendlich jedoch für die Durchführung eines irrationalen Plans, der sich verselbständigt hat. Dadurch führt die Handlung von Dr. Strangelove das Konzept der atomaren Abschreckung und die Prozeduren des Militärs, die auf ein störungssicheres System hinauslaufen, ad absurdum. Es wird klar, dass dieses System nicht den Ausbruch eines Atomkriegs verhindern, sondern ihn zynischerweise in letzter Konsequenz auslösen soll. Durch das Ausschalten des menschlichen Faktors, soll die nukleare Vernichtung dem

15 Vgl. Kay Kirchmann, Stanley Kubrick: Das Schweigen der Bilder, Marburg: Hitzeroth, 1993, 43-45. 16 Ebd. 45. 17 Kirchmann, Stanley Kubrick, 45.

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Programm eines unaufhaltsamen, automatisch funktionierenden Räderwerks folgen. Dies gilt in Dr. Strangelove auch für das »Doomsday Device«, das vollautomatisch den Vergeltungsschlag der Sowjetunion auslöst. So bekommen diese vorgeblich rationalen Mechanismen ein irrationales Eigenleben, da jede Möglichkeit der Intervention, die zur Verhinderung einer Eskalation führen könnte, konsequent ausgeschaltet wurde. Der Inszenierung gelingt es hier, mithilfe von Ken Adams Filmsets, die groteske Diskrepanz zwischen vorgeblichem Zweck und der Wirklichkeit des Konzepts der Mutual Assured Destruction zu entlarven.

K EN ADAMS R ÄUME

UND DIE

T ECHNOLOGIE

Am Abend des 4. Oktober 1957 sendete der erste künstliche die Erde umkreisende Satellit über Funk seine ersten Signaltöne zur Erde. Dieser überraschende Vorsprung der UdSSR in der Weltraumtechnik versetzte dem Westen einen Schock, war doch die Raketentechnik ein Indikator für eine technologische und militärische Überlegenheit. Das Space Race der beiden Supermächte um die Dominanz im Weltraum, das zwölf Jahre später den ersten Menschen auf den Mond bringen sollte, war eröffnet. Doch in der Wahrnehmung der Menschen bedeutete der Sputnik damals weit mehr, wie David Crowley in »The Hi-Tech Cold War« anmerkt: The Sputnik represented the transformation of science from fantasy to fact, accelerated by Cold War competition.18

Ken Adams Production Design, insbesondere für die James Bond-Filme und für Dr. Strangelove, nahm diese Faszination für Technologie auf und transformierte sie in Filmsets und Ausstattungen. Somit schuf Adam für die Filme, so Thomas Hengartner in einem Vortrag über James Bond und Technik, »technologisch durchsetzte Räume«, in denen zwei unterschiedliche Arten von Technologie gegeneinander ausgespielt werden.19 Auf der einen Seite sind die Gegenspieler James Bonds ausgerüstet mit Großtechnologie: fantastischen und meist verborgenen Gebäudekomplexen sowie einer High-Tech-Maschinerie mit eigenen Atomreaktoren oder einer Raketenabschussrampe. Dem gegenüber steht 007 mit seinen, übrigens ebenfalls oft von Ken Adam erdachten, Spionage-gadgets: multifunktionale Agentenkoffer,

18 Pavitt und Crowley 2008, 164. 19 Vgl. Thomas Hengartner, »Back to the Future: James Bond als modernes TechnikMärchen«, Vorlesung an der Universität Hamburg am 12.11.2009.

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Minisender, Sportwagen mit verborgenen Waffen und Schleudersitzen oder der Fähigkeit, sich in ein U-Boot zu verwandeln. Die Räume der Bösewichte sind, wie bei Dr. No, von großen Maschinen und einer anonymen Technologie geprägt. Atomreaktoren, (damalige) Computer und Raketenabschussbasen sind der Erfahrungswelt der Zuschauer entzogen. Sie werden in Ken Adams Design einer »heightened reality«20 als Räume der Macht inszeniert und wirken bei aller Eleganz einschüchternd.21 Die gadgets James Bonds dagegen sind meist alltägliche Gegenstände mit besonderen Funktionen, die man ihnen nicht ansieht. Sie sorgen für Überraschungen und die komischen Momente der Filme, etwa der Aston Martin DB5 in Goldfinger mit seinem Schleudersitz, den ausfahrbaren Rammspornen und Maschinengewehren. Dennoch entspringen die gadgets und ihre Funktionen alltäglichen Phantasien. So merkt Ken Adam zum Aston Martin an: Ich bin immer Sportwagen gefahren und habe mich oft fürchterlich über andere Autofahrer geärgert. Das waren ganz naive gadgets, die overriders, die wie Boxhandschuhe vorschnellen. Die Speichengeschichte habe ich aus Ben Hur geklaut. Doch vieles entsprang persönlichem Frust.

22

James Bonds Technologie hat Witz und trotz ihrer oft letalen Wirkung einen positiven Charakter. Sie ist zugänglich, persönlich und hilft 007 verlässlich aus der Klemme.23 In der realen Welt sind die wesentlichen Teile der Computer- und Kommunikationstechnologien auch den Weg dieser gadgets gegangen. Mit steter Miniaturisierung und Personalisierung, sei es beim Personal Computer, MP3Player oder Mobiltelefon, ist die Kommunikationstechnologie inzwischen allgegenwärtig und nicht mehr wegzudenken. Die Kommunikationsgeräte der jeweils neuesten Generation sind als Konsumartikel hoch begehrt.24 Im Gegensatz dazu richtet sich die Technologie der Gegenspieler am Ende gegen sie selbst. So kommt Dr. No im eigenen Kernreaktor ums Leben. Er rutscht mit seinen künstlichen Roboterhänden am Metall eines Gerüsts ab und versinkt im Kühlwasser der Brennstäbe. Dies passt zum Topos des größenwahnsinnigen Wissenschaftlers, dessen Schöpfung sich schließlich gegen ihn wendet. Ebenso stehen in Dr. Strangelove sowohl die B52-Bomber und Ken Adams War

20 Vgl. Mannsperger, James Bond, 183. 21 Vgl. Hengartner, »Back to the Future«. 22 Berger, »Ken Adam: Freiräume für die Phantasie«, 46. 23 Vgl. Hengartner, »Back to the Future«. 24 So waren und sind James Bonds Armbanduhren, Sportwagen, etc. gleichzeitig auch immer Lifestyle-Produkte, die perfekt zu seiner Playboy-Attitüde passen.

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Room mit den überdimensionalen Weltkarten für eine Technologie, die nur die Illusion der Kontrollierbarkeit einer Situation bietet. Diese Kontrolle wurde jedoch längst an die automatischen Mechanismen des MAD-Apparates übergeben, der jegliche menschliche Intervention gerade verhindern soll. So merkt Georg Mannsperger über das Set des War Room an: Adams Set verdeutlicht die Monstrosität einer Kriegstechnologie, die bar jeder Vernunft in einem tödlichen Mechanismus jederzeit außer Kontrolle geraten kann. Das Allmachtsgefühl der amerikanischen Supermacht und der Glaube, man könne jeden Widersacher in jedem Moment beobachten und nötigenfalls zur Strecke bringen, manifestieren sich in der schieren Größe des Überwachungsmonitors, dessen Absurdität im Kontrast zur Blindheit 25

des wahnwitzigen Militärapparates deutlich wird.

Im Falle der James Bond-Filme wird durch den Gegensatz der verwendeten Technologien und Ken Adams Setdesign ein wichtiger Unterschied zwischen 007 und seinen Gegenspielern offenbar. Die Bösewichte verschanzen sich in ihren weitläufigen Verstecken. Die Eleganz und die weltläufige sophistication ihrer Behausungen können letztendlich nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie zu in ihrer »Befehlshaberposition erstarrten«26 Gefangenen ihrer eigenen Technologien werden. James Bonds gadgets sind dagegen so auf seine Fähigkeiten und die Bedürfnisse seines Auftrags zugeschnitten, dass sie ihn unterstützen. Bonds Intelligenz, seine Fähigkeit zur Improvisation und nicht zuletzt seine körperliche Kraft verhelfen ihm zum Sieg.27 Anders als seine Gegner ist James Bond vor allem mobil. Seine flexible Ausrüstung ermöglicht ihm die Bewegung im Raum, so dass die Abenteuer auch jeweils an weltweit mehreren exotischen Schauplätzen stattfinden. Seine Agilität befreit ihn, wie einen Comic-Superhelden, von physischen und letztlich auch moralischen Restriktionen. Er ist es, der sich ungezwungen durch den Raum bewegen kann, sich notfalls über die Befehle seiner Vorgesetzten hinwegsetzt und schließlich auch in die abgeschotteten Räume seiner Gegenspieler eindringt. Er wird somit nicht nur im übertragenen Sinn zu einem free agent. [Das] Reich, das sich die Bösewichter geschaffen haben, um sich unangreifbar von der Welt abzunabeln, stellt sich am Schluss als Illusion heraus, die den realen Kräfteverhältnissen nicht standhalten kann. Das Hauptquartier geht jeweils förmlich in Rauch auf. […]

25 Mannsperger, James Bond, 192. 26 Ebd. 188. 27 Vgl. ebd.

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So wird die auf der narrativen Ebene implizierte Überlegenheit Bonds gegenüber einem beeindruckenden Aufgebot der Gegenseite visuell nachvollzogen.

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Hier wird Ken Adams Design nicht nur für die Verbrechergenies der JamesBond-Filme, sondern auch für die Charakterzeichnung des Helden selbst konstitutiv, trotz oder gerade durch das Weglassen eines ihm zugedachten Filmsets.

F AZIT Ein wichtiger Aspekt des Set Designs und der Filmarchitektur ist deren inhärente Immaterialität: »Der wesentliche Unterschied zwischen Filmarchitektur einerseits und Architektur und Bühnenbild anderseits, liegt im Verzicht auf ein materielles Dasein vor dem Publikum: Sie kann nicht begangen werden, man kann sie weder begreifen noch ergründen.«29 Durch diesen Umstand braucht sich ein Set Designer nicht den üblichen Zwängen der Architektur zu unterwerfen. Es kommt nicht auf die tatsächliche Funktionalität und Haltbarkeit der Bauten an. Ebenso wenig spielen Praktikabilität oder Baukosten eine Rolle, da teure Materialien imitiert werden können und von Gebäuden nur die im Film sichtbaren Fassaden gebraucht werden. Das Set muss nur für die geplanten Kameraeinstellungen funktionieren, nicht darüber hinaus. Dadurch braucht das Set-Design sich nur nach ästhetischen und dramaturgischen Vorgaben zu richten. Ken Adam nutzt diese Freiheit für die Gestaltung einer fiktionalen, filmischen Welt, die nicht versucht, die Realität abzubilden, sondern diese für die Zuschauer neu zu erschaffen. Zum Zwang zur Improvisation bei der Entstehung von Dr. No merkt Ken Adam an: »Ich konnte also experimentieren und die Gelegenheit nutzen, dem Thrillergenre, das aus der Mode war, einen neuen Look zu geben, eine Larger-than-Life Atmosphäre mit gelegentlichen ironischen Einschüben.«30 Hierbei verwendet er in den genannten Beispielen Elemente der realen, zeitgenössischen Welt der frühen sechziger Jahre und reichert sie mit futuristischen Elementen an. Gleichzeitig greift Adam für die Wirkung seiner Filmsets auf tradierte filmische Gestaltungsmittel des deutschen Expressionismus zurück. Ungewöhnliche Lichtführung und dramatische Schatteneffekte erinnern an Fritz Langs M – Eine Stadt sucht einen Mörder (1931) oder Robert Wienes Das Cabinet des Dr. Caligari.

28 Ebd. 29 Alexandra Maringer, film_architektur, Diplomarbeit, Technische Universität Wien, 2001, 7. 30 Berger/Adam 1994. 54.

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Das Ergebnis ist eine alternative, überhöhte Realität, die den Zuschauern manchmal »hyperrealistisch«31 erscheint, realer als die Wirklichkeit. So kolportiert eine oft genannte Anekdote, dass Ronald Reagan nach seiner Amtseinführung als Präsident der Vereinigten Staaten bei einer Führung durch das Pentagon nach dem »War Room« aus Dr. Strangelove gefragt habe, den er offenbar für einen realen Ort hielt. Auch wurden die Innenansichten der amerikanischen Goldlager von Fort Knox, die Ken Adam für den Showdown im Film Goldfinger (1964) imaginierte, von vielen Zuschauern für real gehalten. Da nach seiner Meinung die Realität oft zu uninteressant fürs Kino sei, versucht Ken Adam dagegen mit seinen Entwürfen eine Theatralisierung der Szene zu erreichen. Mit Bezug auf den visuellen Stil von Robert Wienes Das Cabinet des Dr. Caligari merkt Adam an: »To me Caligari was exaggerated, but it showed me what one day I was hoping to achieve in film design, in other words, a theatricalisation; using film to create a reality that was not.«32 Somit entwarf er die Sets nicht unbedingt realitätsgetreu, sondern vor allem nach seinen eigenen Vorstellungen, passend für den Kontext eines Kinofilms, der Schauwerte liefern muss. Zu seinen Einflüssen erklärt Ken Adam an anderer Stelle: »Wenn man mich früher nach dem Einfluss des deutschen Expressionismus fragte, sah ich keinen Zusammenhang, aber heute finde ich meine Entwürfe schon recht expressionistisch, was die schiefen Linien und Decken betrifft.«33 Dieser Einfluss erklärt sich auch aus Adams Biographie: 1921 geboren als Klaus Hugo Adam, wuchs er zunächst im Berlin der Weimarer Republik auf, wo er in seiner Jugend auch Dr. Caligari und die Filme Fritz Langs im Kino sah.34 Diese Motive verschränkt Adam in seiner eigenen Arbeit für die James-Bond-

31 Albrecht 1994, 12. 32 Frayling, Ken Adams, 1. 33 Jürgen Berger und Ken Adam, »Notizen zu einer Karriere«, Production Design: Ken Adam. Meisterwerke der Filmarchitektur, München: S/F/K, 1994, 29. 34 Adams Vater war Mitinhaber der Firma S. Adam, einem Warenhaus, das sich auf Sportartikel spezialisiert hatte und auch einige der damals populären Bergsteigerfilme ausstattete. Die jüdische Familie Adam floh schließlich Mitte der dreißiger Jahre aus Deutschland nach Großbritannien. Noch vor dem Krieg hatte Adam ein Architekturstudium begonnen, das er nach seiner Zeit als Kampfpilot bei der Royal Airforce in den vierziger Jahren fortsetzte. Zum Film kam er schließlich zunächst als Illustrator, dann ab den fünfziger Jahren als Set Designer. Unter anderem arbeitete Adam an The Crimson Pirate (1952) und Ben Hur (1959). Für seine Arbeit als Production Designer an Around the World in 80 Days (1956) wurde er zum ersten Mal für einen Oscar nominiert. Vgl. Berger/Adam, »Notizen zu einer Karriere«, 33-41.

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Filme und in Dr. Strangelove konsequent mit der Darstellung moderner Technologie – sowohl der Segnungen als auch der Gefahren. So waren die Menschen zu Beginn der sechziger Jahre sowohl mit phantastischen technischen Innovationen und futuristischen Visionen als auch der Gefahr eines apokalyptischen Atomkriegs konfrontiert. In Barry Curtis’ Artikel »War Games: Cold War Britain in Film and Fiction« steht hierzu: In Dr Strangelove Ken Adam’s sets contribute a link to earlier manifestations of mad and megalomaniac science, Adam admitting that he had been influenced by German Expressionism and in particular by the film Metropolis. His sets for the earlier Dr No (1962) and for other James Bond films knowingly referenced the technological optimism that sustained fantasies of underwater cities […] hollowed-out volcanoes and space stations. In Dr Strangelove, the baroque war-room was consistent with a real ›stealth landscape‹ that involved hollowing out mountains for command centres, and practising ›dispersal‹ and con35

cealment on a nationwide scale.

Somit stellt diese spezielle Mischung aus optimistischem Fortschrittsglauben und der Angst im Kalten Krieg den Kontext, in dem Ken Adam in den sechziger Jahren mit seinen Entwürfen einen neuen, innovativen visuellen Stil kreiert. Hierfür nimmt er scheinbar unvereinbare Motive in sein Set Design auf. Wie zuvor gezeigt, kombiniert er hierbei Stilelemente des deutschen Expressionismus mit der Darstellung moderner, zum Teil futuristischer Technologie. Hinzu kommt in den James-Bond-Filmen die Präsentation eines mondänen JetSet Lifestyle, personifiziert durch den Protagonisten 007 und seine Gegenspieler. Dies wird visuell umgesetzt in den Set-Designs der Hotels, Casinos und vor allem der villain’s lairs, den kombinierten Playboy-Apartments und Kommandozentralen der Superverbrecher.36 Ken Adam erreicht in diesen Set Designs somit eine Synthese dieser so unterschiedlichen Elemente, die nicht nur, wie vom (Film-)Architekten Robert Mallet Stevens gefordert, den Charakter der Figuren repräsentiert, sondern mit seinem distinkten visuellen Stil etwas Neues schafft: Seine »heightened reality« wird zur Projektionsfläche für die Hoffnungen (technologischer Fortschritt), Ängste (Gefahren der Technologie) und Wünsche (Selbstverwirklichung und hedonistischer Konsum) der Zuschauer.

35 Curtis, War Games, 126. 36 In diesem Kontext verweisen sowohl die Figuren der Superverbrecher der JamesBond-Filme, als auch die der Figur des Dr. Strangelove auf prominente filmische Vorbilder wie Fritz Langs geheimnisvolles Verbrechergenie Dr. Mabuse oder den tradierten Topos des (größen-)wahnsinnigen Wissenschaftlers.

62 | CHRISTIAN V OGEL

L ITERATUR Albrecht, Donald. »Die Cabinets des Dr. Caligari«. Production Design: Ken Adam. Katalog zur Ausstellung ‚Ken Adam – Meisterwerke der Filmarchitektur‹. Geiselgasteig: S/F/K-Verband, 1994, 14-33. Berger, Jürgen. »Ken Adam: Freiräume für die Phantasie. Gespräch mit Jürgen Berger am 06.02.1994 im ARRI-Kino, München«. In: Andreas Rost (Hg.), Der Schöne Schein der Künstlichkeit. Frankfurt am Main: Verlag der Autoren, 1995: 15-70. ——— und Ken Adam. »Notizen zu einer Karriere«. Production Design: Ken Adam. Meisterwerke der Filmarchitektur. Hg. Jürgen Berger. München: S/F/K, 1994. 33-118. Curtis, Barry. »War Games: Cold War Britain in Film and Fiction«. Cold War Modern Design 1945-1970. Hg. Jane Pavitt und David Crowley. London: V&A, 2008: 122-127. Dr. No [James Bond 007 jagt Dr. No], 1962. Regie: Terence Young. Laufzeit: 105 Minuten. Dr. Strangelove or: How I Learned to Stop Worrying and Love the Bomb [Dr. Seltsam, oder wie ich lernte, die Bombe zu lieben], 1964. Regie: Stanley Kubrick. Laufzeit: 95 Minuten. Frayling, Christopher. Ken Adam and the Art of Production Design. London: Faber and Faber, 2005. Hars-Tschachotin, Boris. »Ken Adam – Film Sets Are Forever.« Interview mit Ken Adam beim Berlinale Talent Campus 2004. . (01.11.2010) Hengartner, Thomas. »Back to the Future: James Bond als modernes TechnikMärchen.« Vorlesung an der Universität Hamburg am 12.11.2009. . (30.10.2010) Hoberman, Jim. »When Dr. No Met Dr. Strangelove«. Sight and Sound (3:12, Dec 1993): 16-22. Kirchmann, Kay. Stanley Kubrick: Das Schweigen der Bilder. Marburg: Hitzeroth, 1993. Mannsperger, Georg. James Bond Will Return: Der serielle Charakter der James-Bond-Filme. Inaugural Dissertation, Mainz 2003. (01.04. 2010) Maringer, Alexandra. film_architektur. Diplomarbeit, Technische Universität Wien, 2001. . (15.12.2010)

I NNOVATION UND I MPROVISATION : K EN A DAM

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Neumann, Dietrich. Filmarchitektur von Metropolis bis Blade Runner. München: Prestel, 1996. Osgerby, Bill. »The Bachelor Pad as Cultural Icon«. Journal of Design History (Vol. 18, No. 1, 2005): 99-113. Pavitt, Jane und David Crowley. »The Hi-Tech Cold War«. Cold War Modern Design 1945-1970. Hg. Jane Pavitt und David Crowley. London: V&A, 2008. 163-192.

»The Odds of Improvement«: Zyklische Innovation am Beispiel US-amerikanischer Krankenhausserien S TEFANIE K ADENBACH

E INLEITUNG Serien gelten als eine, wenn nicht sogar die Kerngattung des Fernsehens. Durch ihre episodische Struktur lassen sie sich gut in den Programmablauf einbinden und begünstigen die Zuschauerbindung. Bereits seit Beginn des Fernsehens sind neben Krimi- speziell Krankenhausserien ein fester Bestandteil der Programmplanung und gelten bei den Verantwortlichen als verlässliche Quotenlieferanten. Die Begeisterung sowohl von Publikum als auch von Produzenten für das Genre ist bis heute ungebrochen, wobei Krankenhausserien und Fernsehärzte ebenso einem Evolutions- oder Innovationsdruck unterliegen wie andere Genres und Gattungen. Wie in anderen Bereichen ist aber auch hier die Erneuerung nie absolut, sondern stets partiell. Es zeigt sich immer wieder, dass manche Fernsehproduktionen aus unterschiedlichen Gründen vorteilhafter altern als andere und manche aufgrund verschiedener Ursachen zeitweise zu neuer Popularität gelangen. Grundsätzlich sind im Bereich des Fernsehens häufig zyklische Entwicklungen zu beobachten, da nicht laufend massive Innovationen erfolgen können und deshalb ältere Formen oder Bestandteile wieder aufgegriffen werden, die in Vergessenheit geraten waren und deshalb nach einer gewissen Zeit wieder als neu oder zumindest anders als die jeweils vorherrschende Mehrheit des Programmangebotes erscheinen.

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Kann sich die Nachrichtensendung auf den ständigen Anfall neuer Informationen stützen, die den Programmfluß als Fluß der Nachrichten für den Zuschauer speisen, so wird bei den fiktionalen Formen aus schon vorhandenen Repertoires geschöpft, werden diese zugleich durch Variation, Kombination und Transformation weiterentwickelt. Der Fluß der Erzählungen lebt von den anderen kulturellen Erzählströmen; muß das Vorgefundene jedoch ständig den Bedingungen des Mediums, den Produktionsstandards und den Zuschauererwartungen neu anpassen.1

Dies möchte ich anhand verschiedener Krankenhausserien2 illustrieren, wobei nach einem kurzen Abriss der Genregeschichte und den speziellen Aspekten des Genres der Fokus auf jüngeren, extrem erfolgreichen Produktionen liegen wird. Speziell werde ich die Entwicklung von Emergency Room zu House, M.D. nachzeichnen.

G ENREGESCHICHTE

DER

K RANKENHAUSSERIE

Wenn ich in diesem Beitrag von Krankenhausserien spreche, meine ich damit Fernsehserien. Nichts desto trotz soll aber klargestellt sein, dass Krankenhausserien keine Neuentwicklung für das Fernsehen waren, sondern ihre Wurzeln – genau wie andere Seriengenres des Fernsehens auch – in den vorangegangenen Roman-, Kino-, und Radioserien haben. Die Genrekonventionen der Arzt-, bzw. Krankenhausserie bilden sich bereits seit den 30er Jahren durch Arztfilme im Kino und Arztromane, speziell Groschenromane, heraus. Während Kinoserien, wie sie in den frühen Jahren des Kinos populär waren, heute in dieser Form (zumindest im westlichen Kino) nicht mehr oder nur noch sehr selten existieren, werden Groschenromane bis in die Gegenwart entweder als direkte Stofflieferanten (Dr. Stefan Frank) oder als Negativfolie für anspruchsvollere Produktionen verwendet. Genrekonventionen betreffen das Mise-en-Scène (medizinisches Gerät, piepende medizinische Monitore, Personal mit Stethoskop usw.) sowie bestimmte Narrationsmuster, wie etwa Krankenschwestern als comic relief, roman-

1

Knut Hickethier, Die Fernsehserie und das Serielle des Fernsehens: Kultur, Medien, Kommunikation, Lüneburg: Lüneburger Beiträge zur Kulturwissenschaft 2, 1991, 13.

2

Da der überwiegende Teil der Serienproduktion US-amerikanischer Herkunft ist, liegt mein Hauptaugenmerk auf diesem Bereich. Fast alle in diesem Beitrag genannten Serien wurden auch in Deutschland erfolgreich ausgestrahlt. Zudem orientieren sich gerade jüngere deutsche Produktionen häufig sehr stark an US-amerikanischen Vorbildern und bieten visuell und narrativ nur sehr wenig oder nichts Neues.

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tische Beziehungen zwischen Ärzten und Schwestern, überforderte junge Ärzte in der Ausbildung, exzentrische Koryphäen, usw. Ein Beispiel für eine frühe Krankenhausserie ist Dr. Kildare, die von 196166 auf NBC ausgestrahlt wurde, nachdem von 1937-42 bereits zehn Kinofilme und von 1950-51 eine Radioserie produziert worden waren. In 190 Episoden verkörperte Richard Chamberlain den jungen Arzt James Kildare, der mit den Herausforderungen der medizinischen Ausbildung, den Patienten, sowie um den Respekt seines älteren Mentors Dr. Leonard Gillespie (Raymond Massey) zu kämpfen hat. Beide sind tätig am fiktiven Blair General Hospital, über das es in der Einleitung zur Kildare-Radioserie heißt: One of the great citadels of American medicine -- a clump of gray-white buildings planted deep in the heart of New York. A nerve center of medical progress, where great minds and skilled hands wage men’s everlasting battle against death and disease. Blair General Hospital -- where life begins, where life ends, where life goes on.3

Hier zeigt sich eine weitere Konvention des Genres: gewöhnlich ist die Handlung in einem von zwei Krankenhaustypen angesiedelt, entweder dem renommierten Vorzeige-Hospital, dem großzügige finanzielle Mittel zur Verfügung stehen und in dem die besten Ärzte ihrer Fachrichtung mit Aufsehen erregenden neuen Methoden die medizinische Entwicklung vorantreiben, oder dem beständig am Rande des finanziellen Ruins stehenden, von Gemeinde oder Stadt finanzierten Krankenhaus, in dem engagierte, aber unterbezahlte und überarbeitete Ärzte auch Patienten ohne gültige Krankenversicherung behandeln. Beispiele für hochmoderne Luxuskrankenhäuser in Serien sind etwa das Chicago Hope aus der gleichnamigen Serie, Seattle Grace Hospital aus Grey’s Anatomy oder das Princeton Plainsboro Teaching Hospital aus House, M.D. Das Chicago County General Hospital, Schauplatz von ER, dagegen ist ein typischer Vertreter der zweiten Kategorie. Dieses Setting bietet sich an, auch sozialkritische Fragen zum Gesundheitssystem zu thematisieren sowie Patienten, die den unteren sozialen Schichten angehören als Protagonisten einzubinden. Da die Verbreitung des Fernsehens als häusliches Unterhaltungsmedium in den USA in den 50er Jahren mit einem großen Fortschritt in der medizinischen Forschung zusammenfällt, verwundert es nicht, dass frühe Krankenhausserien eben diesen medizinischen Fortschritt als große (amerikanische) Errungenschaft feiern und Ärzte meist den heute als Klischee empfundenen Halbgott in Weiß darstellen.

3

Vgl. »Dr. Kildare«, .

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Jason Jacobs macht für die Genregeschichte der Krankenhausserie drei maßgebliche Entwicklungsphasen aus.4 Die 50er bis Mitte der 60er Jahre sind bestimmt von einem Stadium, welches er als »paternal« bezeichnet. Hier steht meist ein einzelner Arzt im Mittelpunkt, der sein Wissen als gütige Vaterfigur an einen jungen Kollegen weitergibt. Es liegt gewöhnlich eine abgeschlossene Episodenstruktur mit festem Personal vor. Die späten 60er bis Mitte der 80er Jahre bezeichnet Jacobs als »conflict«-Stadium, in dem die Jugend ihren Platz in der Gesellschaft beansprucht und ein junger Arzt einem älteren gleichberechtigt gegenüber steht. Soziale Probleme wie Drogen, Abtreibung oder Homosexualität werden thematisiert und die Besetzung wird von einem zentralen Protagonisten zu einem Ensemble ausgeweitet, um komplexere Problematiken aus unterschiedlichen Perspektiven darstellen zu können. Die wohl prominenteste Serie dieses Stadiums ist M*A*S*H, die von 1972-83 auf CBS ausgestrahlt wurde und während des Koreakrieges in einem »Mobile Army Surgical Hospital« spielt. Der Zeitraum seit den 90er Jahren, als das Genre durch Serien wie ER nachhaltig neu belebt wurde, ist bei Jacobs das »apocalypse«-Stadium, in dem ein neuer, von Action-Kino und Reality-TV beeinflusster Stil sich durchsetzt, den er als roh, explizit, zynisch und teilweise verzweifelt beschreibt. Das »traditionelle« Genre der Krankenhausserie dient dabei als Referenz und Ausgangspunkt, in den neuen Produktionen werden Innovation und traditionelle Genre-Elemente kombiniert und schnelle Action und eine observierend-realistische Darstellung ergänzt sich mit Charakterentwicklung über lange Zeiträume, wie es in Soap Operas der Fall ist. Es findet eine Synthese von Spektakel, Realismus und Melodram statt, die sich für ambitionierte Primetime-Serien als stilbildend erweist. Das Setting ist nun häufig ein Lehrkrankenhaus, da sich hier gute Identifikationsfiguren für den Zuschauer mit hoher Dramatik verbinden lassen. Die Patientengeschichten dienen oftmals der Selbstreflexion des Personals und Verletzungen und Tod werden expliziter gezeigt als zuvor. Das Genre der Krankenhausserie hat langfristig nicht zuletzt wegen seiner großen Flexibilität Bestand und Erfolg. Es lässt sich mit anderen Genres verbinden (z.B. in House, M.D. mit dem Krimi oder in Scrubs mit Comedy) und erlaubt eine große stilistische Bandbreite, die von einem dokumentarischen Stil bis hin zur überdrehten Komödie reichen kann. Auch formal sind Variationen möglich, 30minütige Daily Soaps wurden ebenso erfolgreich produziert wie knapp einstündige PrimetimeFormate. In den letzten Jahren zeigte sich besonders das Krimi-Genre, von jeher sowohl in der Literatur als auch in Film und Fernsehen das erfolgreichste Genre,

4

Vgl. Jason Jacobs, Body Trauma TV: The New Hospital Dramas, London: British Film Institute, 2003, 4-16.

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empfänglich für Einflüsse aus anderen Genres. Neben Vermischungen mit Fantasy- und Mystery-Elementen herrschen insbesondere Genremixes mit Arzt- und Krankenhausserie vor. So lösen etwa im Krimi Mediziner den Polizisten oder Kommissar als Rätsellöser ab und es entstanden zahlreiche Serien um Pathologen und Kriminalpsychologen, allen voran das extrem erfolgreiche CSIFranchise. Wie ich später noch eingehend darstellen werde, stellt auch House, M.D. eine Mischform aus Krimi- und Krankenhausserie dar.

K RANKENHAUS -D RAMEN

SEIT

1994

Mitte der 90er Jahre fand sowohl auf technischer als auch narrativer Ebene eine nachhaltige Neubelebung des Genres statt. Nachdem M*A*S*H 1983 eingestellt worden war, war das Genre der Krankenhausserie etwas in Vergessenheit geraten, zumindest was den Primetime-Bereich angeht. Im Bereich Daily Soap war General Hospital nach wie vor ein solider Quotengarant. M*A*S*H, nach Jacobs eine Serie der »conflict«-Phase, ist wegbereitend für Produktionen wie ER, obwohl es sich nicht um eine knapp einstündige Drama-Serie handelt, wie die anderen Serien, die in diesem Beitrag behandelt werden, sondern M*A*S*H eine halbstündige Sitcom ist, wenn auch durch das Setting begründet mit dramatischen und für eine Sitcom ungewöhnlich zynischen Inhalten. Jacobs stellt fest: M*A*S*H is probably the most influential show in terms of the thematic tone of the 1990s hospital dramas since, like them, it used the hospital setting as a means to explore existential issues that went beyond healthcare and into ›sickness‹ at the heart of America. […] The most obvious similarity between M*A*S*H and the 1990s hospital dramas was the ensemble cast. Instead of the single-doctor star (supported by older parental figures such as Dr. Gillespie) in the 1970s and 80s we begin to see ward-based ensemble dramas. It is as if the impact of particular medical crises and their moral ramifications could no longer be healed by one figure, so multiple characters oiled the wheels of multi-tiered narrative structures that were used to weave more complex dispersals of viewpoint between patients and doctors.5

Mit Emergency Room beginnt 1994 das Stadium, welches Jacobs als »apocalypse«-Phase der Krankenhausserie bezeichnet und für das in den Medienwissenschaften genreübergreifend bislang keine allgemein anerkannte Bezeichnung ge-

5

Jacobs, Body Trauma TV, 8f.

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funden werden konnte. Einige sprechen von »Quality Television«6 oder »highend TV drama«7, ohne eine klare Definition für den Qualitätsbegriff liefern zu können, andere von »TV3« oder »TV III«, ausgehend von einer Kategorisierung nach technischen Entwicklungsphasen (»network«-, »post-network«- und »digital global context«-Ära),8 andere schlicht von »Contemporary Television Series«9. Robert J. Thompson definiert ein »Second Golden Age« des Fernsehens in den Jahren 1981 bis 1994, da hier Serien von ähnlicher hoher Qualität zu sehen gewesen seien wie von 1947-1960 während des ersten »Golden Age of Television«10, man könnte unter Unständen also auch von einem dritten goldenen Zeitalter für die Phase seit Mitte der Neunziger Jahre sprechen. In Emergency Room gelangten diverse erzählerische Mittel zur Reife, die in Produktionen wie M*A*S*H und Hill Street Blues bereits ansatzweise erkennbar waren. ER baute sie konsequent weiter aus und fügte neue Elemente hinzu, was als Gesamtprodukt eine so erfolgreiche, innovative Serie ergab, dass viele der Techniken von ER zum neuen Standard wurden. Hickethier beschreibt eine solche Entwicklung am Beispiel von Dallas: »Der Erfolg von Dallas Ende der siebziger Jahre läßt sich auch als Ergebnis einer Serieninnovation verstehen, die sich gegenüber tradierten Serienmodellen durchsetzte und damit zur Herausbildung einer neuen Seriengeneration beitrug.«11

6

Vgl. etwa Janet McCabe und Kim Akass, hg., Quality TV: Contemporary American

7

Vgl. Robin Nelson, State of Play: Contemporary »High-End« TV Drama, Manches-

Television and Beyond, New York: I.B. Tauris, 2007. ter: Manchester UP, 2007. 8

Steve Behrens prägt 1985 die Begriffe »TV I« für die »network era«, die ca. von 1948 bis 1975 andauert und »TV II« für die »post-network era«, ca. von 1975-95. Rogers, Epstein und Reeves entwickeln daraus den Begriff »TV III« für den Zeitraum ab 1995, den sie als »global digital context« bezeichnen. Vgl. Steve Behrens, »Technological convergence: towards a united state of media«, Channels of Communication 1986 Field Guide, 1986, 8-10 und Mark C. Rogers, et al., »The Sopranos as HBO Brand Equity: The Art of Commerce in the Age of Digital Reproduction«, This Thing of Ours, hg. David Lavery, New York: Columbia UP, 2002, 42-59.

9

Vgl. Michael Hammond und Lucy Mazdon, hg., The Contemporary Television Series, Edinburgh: Edinburgh UP, 2005.

10 Vgl. Robert J. Thompson, Television’s Second Golden Age: From Hill Street Blues to ER, New York: Syracuse UP, 1996. 11 Hickethier, Die Fernsehserie, 33.

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Visuelle Innovationen Wohl die auffälligste Innovation in visueller Hinsicht, von der Emergency Room starken Gebrauch macht, ist die häufige Verwendung eines Steadicam-Systems, das Einstellungen mit langen track shots ermöglicht. Eine spezielle Variante des track shot sind walk and talk-Szenen, bei denen mehrere Figuren ein Gespräch führen, während sie von einem Ort zu einem anderen gehen. Diese Technik illustriert, wie beschäftigt und dynamisch die Figuren sind. Regisseur Thomas Schlamme und Produzent Aaron Sorkin verwendeten sie häufig in der Serie The West Wing, die sich um einen fiktiven demokratischen Präsidenten der USA und seine engsten Mitarbeiter dreht, und auch in House, M.D. unterhält House sich häufig mit seinen Assistenten, während er die Krankenhausgänge entlang geht. Steadicam-Systeme waren zunächst extrem aufwändig und entsprechend kostenintensiv. Als die benötigte Technik preisgünstiger wurde, entwickelten Fernsehschaffende großes Interesse, da so dynamische und flüssige Szenen möglich wurden, ohne mehrere Kameras einsetzen und Schienen für Kamerafahrten verlegen zu müssen. Die track shots in ER zeigen meist Ärzte auf dem Weg zu Patienten oder eilige Transporte der eingelieferten Notfallpatienten in Behandlungsräume. Dabei werden meist die wichtigsten Informationen über den Patienten und den Unfallhergang oder Krankheitsverlauf ausgetauscht, was eine komprimierte Exposition für den Zuschauer darstellt. Das hohe Tempo dieser Einstellungen erhöht die Dramatik, ohne die Sequenzen zu hektisch wirken zu lassen, da man Dank der Steadicam keine schnellen Schnitte benötigt, sondern die Bewegung unterbrechungsfrei verfolgen kann. Für den Zuschauer erzeugt dies ein Gefühl der Unmittelbarkeit, da die Kamera am Körper des Kameramanns befestigt ist und sich so tatsächlich als weitere Person mit den Darstellern im Raum bewegt. Die Episode »Ambush«12 von 1997, bei der der schon erwähnte Thomas Schlamme Regie führte, macht sich dies in besonderem Maße zu Nutze. In dieser Folge ist ein Team von Dokumentarfilmern in der Notaufnahme des County General Hospital zu Gast. Der Zuschauer sieht das Material, das das Team mit Handkameras und mehreren stationären Kameras in der Notaufnahme aufnimmt. Die Folge wurde live ausgestrahlt, was zwar für die Sitcoms und Seifenopern der 50er Jahre üblich war, heute aber für drehbuchbasierte Serien eine kleine Sensation darstellt. Schauspieler und Team waren gezwungen, ähnlich wie bei einer Theateraufführung zu agieren, da ein nachträgliches Bearbeiten des Materials vor der Ausstrahlung nicht möglich war. Für den Zuschauer erzeugte dies insbe-

12 ER 401.

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sondere während der Erstausstrahlung ein starkes Gefühl der Unmittelbarkeit und des »dabeiseins«. Auch optisch unterscheidet sich die Folge stark von anderen ER-Episoden. Die Kamera bewegt sich wesentlich unruhiger, in einer Szene spricht der Kameramann erst mit dem Mann vom Reinigungspersonal, den er filmt, anschließend geht er von einem Raum zum anderen und senkt dabei die Kamera ab, so dass seine Füße zu sehen sind. Die Regisseurin des Filmteams ist immer wieder zu sehen, wie sie Anweisungen gibt oder mit den Ärzten und Schwestern spricht. Die stationäre Kamera im Aufenthaltsraum ist mit einem Fischaugenobjektiv ausgestattet, so dass der gesamte Raum erfasst werden kann, was teilweise zu ungewohnten perspektivischen Verzerrungen führt. Am auffälligsten ist aber wohl das veränderte Verhalten der Darsteller von Ärzten und Pflegepersonal. Fiktionale Film- und Fernsehproduktionen achten gewöhnlich sehr stark auf Konventionen zur Illusionserhaltung. So wird üblicherweise Wert darauf gelegt, dass Darsteller niemals direkt in die Kamera schauen oder die Kamera direkt ansprechen. In »Ambush« verkörpern die Darsteller dagegen bewusst den Umgang ihrer Figuren mit der Anwesenheit des Kamerateams. Einige agieren nervös, andere übereifrig oder ablehnend. Während sonst also großer Aufwand betrieben wird, den Zuschauer vergessen zu lassen, dass die gezeigten Ereignisse für die Kamera inszeniert werden, wirken in dieser Episode von ER Schauspieler und Kameraführung zusammen, um dem Zuschauer die Präsenz des Filmteams beständig bewusst zu machen. Für den Rezipienten entsteht so ein starker Eindruck von Realismus, da ein dokumentarischer Stil imitiert wird. In »Ambush« sind Szenen zu sehen, wie sie sich sonst abspielen, während die Kameras nicht laufen, oder die wiederholt und nicht für die fertige Fassung der Produktion verwendet werden. Mitwirkende versprechen sich oder erhalten Regieanweisungen, Material wie Videobänder oder Batterien für die Kameras muss beschafft werden oder der Kameramann wird angerempelt, weil er im Weg stand. Es bleibt festzustellen, dass sich der visuelle Stil von ER nur mithilfe kostengünstiger, transportabler Kameratechnik realisieren ließ. Die technische Innovation der Steadicam bereitet also den Weg für einen innovativen visuellen Stil der Serie. Auch visuelle Effekte13, die mit Hilfe von Computern erstellt werden, gewinnen für Fernsehproduktionen an Bedeutung, während sie zunächst wegen ex-

13 Im Gegensatz zu Spezialeffekten, die vor Ort während der Dreharbeiten eingesetzt werden, werden visuelle Effekte erst im Nachhinein während der Postproduktion eingefügt. Beispiele für Spezialeffekte sind etwa Stunts und Pyroeffekte, während ein visueller Effekt beispielsweise wäre, wenn die Darsteller vor einem Blue- oder Green

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orbitanter Kosten Kinoproduktionen mit hohem Budget vorbehalten waren. Als aber immer leistungsfähigere Computersysteme zu immer günstigeren Preisen erhältlich wurden, setzten auch immer mehr Fernsehserien verstärkt visuelle Effekte ein. In Serien wie Heroes, Battlestar Galactica oder Terminator: The Sarah Connor Chronicles sind zu Beginn des 21. Jahrhunderts Effekte zu sehen, die man sonst aus Blockbuster-Kinofilmen wie eben Terminator oder den The Lord of the Rings-Filmen gewohnt war. In Science Fiction- und Fantasy-Serien nehmen visuelle Effekte oft eine sehr zentrale Stellung ein, aber auch andere Drama-Serien wie Krimis oder eben auch Krankenhausserien setzen visuelle Effekte ein, wenn auch punktueller. So ist beispielsweise ab der zwölften Staffel von ER eine auffällige und für die Serie bis dahin untypische Häufung von Spezial- und visuellen Effekten feststellbar. Beispielsweise wird eine Ärztin vom Hubschrauber aus zu einer Unfallstelle abgeseilt und rettet Verletzte aus einem am Rand einer Klippe hängenden Bus. In letzter Sekunde gelingt es ihr, über das Dach des Busses zu entkommen, bevor dieser in den Abgrund stürzt und explodiert.14 In der finalen Episode der zwölften Staffel15 ist eine lange Sequenz zu sehen, die eine Schießerei in der Notaufnahme zeigt. Kurze Verzögerungs- und Zeitlupeneffekte sowie Hintergrundmusik und Soundeffekte entstammen unmittelbar dem modernen Hollywood-Actionkino und lassen vorübergehend vergessen, dass es sich hier um eine TV-Krankenhausserie handelt. Narrative Innovationen Viele der erzähltechnischen Neuerungen von ER und anderen Serien seit Mitte der 90er Jahre lassen sich in Ansätzen bereits in früheren Produktionen wie Hill Street Blues16 oder M*A*S*H nachweisen. Mit ER beginnt 1994 aber eine Entwicklung, die diese Innovationen stark erweitert und zum zentralen Aspekt der Erzählweise macht. Steven Johnson spricht von einer Entwicklung weg vom »Least Objectionable Programming« hin zum »Most Repeatable Programming«.17 Vor der Zweitverwertung von Fernsehsendungen durch DVD, bzw. BluRay, und Internet war für die Sender allein die Quote während der Ausstrahlung

Screen agieren und das Bild später durch einen, möglicherweise digital erzeugten, Hintergrund ergänzt wird. 14 ER 1309 »Scoop and Run«. 15 ER 1222 »21 Guns«. 16 NBC, 1981-87. 17 Vgl. Steven Johnson, Everything Bad is Good for You: Why Popular Culture is Making Us Smarter, London: Penguin, 2006, 160-175.

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relevant. Dies galt sowohl für die Erstausstrahlung als auch für die Zweitverwertung in Form von Wiederholungen, teils auf kleineren, lokalen Sendern. Das Hauptaugenmerk lag dementsprechend darauf, dem Zuschauer keinen Anlass zu geben, das Programm zu wechseln. Einerseits versuchte man dies durch einen möglichst attraktiven Programmfluss zu erreichen, der den Zuschauer für den gesamten Abend an einen Sender band. Bis heute gestalten Sender deshalb »Themenabende«, bei denen sie Programme aneinanderreihen, die dieselben Zuschauer ansprechen sollen. Beispielsweise werden mehrere Krankenhausserien nacheinander ausgestrahlt oder ein Abendprogramm vollständig mit Krimi- oder Mystery-Serien bestückt. Zusätzlich waren die Verantwortlichen bemüht, alle potenziell anstößigen Inhalte aus den Programmen fernzuhalten und die Handlung stets so übersichtlich zu gestalten, dass auch ein Zuschauer, der zufällig in das laufende Programm geschaltet hatte, den Geschehnissen folgen konnte. Hier liegt auch der Grund für die Konvention, bei Comedy- sowie einem Großteil der Dramaserien darauf zu achten, dass die Handlung am Ende der Episode abgeschlossen und der Ausgangszustand wieder hergestellt war. So war es für den Zuschauer möglich, jederzeit in eine laufende Serie »einzusteigen« und bei einer Zweitverwertung in Form von Wiederholungen musste keine Rücksicht auf die ursprüngliche Reihenfolge der Episoden genommen werden. Für die Sender wurde im Lauf der 90er Jahre aber die Zweitverwertung auf DVD, BluRay oder als Download immer lukrativer und somit wurde es auch interessanter, dem Rezipienten Anreize zu geben, Episoden mehrfach und in größeren Blöcken anzusehen. Die technische Innovation, die die Speicherung und Übertragung großer Datenmengen auf geringem Raum ermöglichte, hatte direkten Einfluss auf den Inhalt des Medienprodukts, das gespeichert oder übertragen werden sollte. Ähnlich wie die Möglichkeiten des Buchdrucks die schriftliche Ausdrucksform nachhaltig veränderten, entwickelten sich durch digitale Speichermedien neue Ansprüche an das Produkt Fernsehserie. Ein langer Roman mit komplexer Handlung benötigt die Buchform, da einer oralen Erzählung in solchem Umfang kaum ein Zuhörer hätte folgen können. Das Buch als Medium zog eine ganze Kultur der Produktion und Rezeption nach sich, bei der Autoren über Monate und Jahre an einem Werk feilen und epische Geschichten erdenken konnten, in die sich die Leser wiederum später ganz nach Belieben versenken und die Geschichte in ganz eigenem Tempo rezipieren konnten. Viele Romane werden eben deshalb als besonders kunstvoll angesehen, weil sich ihre Bedeutung nicht unmittelbar erschließt, sondern mehrmalige Lektüre und unter Umständen zusätzliche Recherche vonnöten ist. Eine ähnliche Entwicklung vollzog sich im Bereich der Fernsehserie durch digitale Speicher- und Übertragungstechnik. Zwar war es auch vorher für Rezipienten schon möglich, Programme

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auf Video aufzuzeichnen und wiederholt anzusehen, der im Vergleich zur DVD aber sehr geringe Speicherplatz, den eine Videocassette bietet, schloss eine breite Vermarktung kompletter Staffeln, wie sie heute auf DVD üblich ist, aus. Mit der DVD wurde die Staffel zur gängigen Verkaufseinheit für Serien. Da dies von den Konsumenten bereitwillig angenommen wurde, stellte der Handel immer mehr Fläche für das Angebot von Fernsehserien auf DVD zur Verfügung und es gab schnell eine Entwicklung weg von sperrigen Kästen, in denen jede DVD einzeln in einer als Keep Case bezeichneten Plastikhülle verpackt war, hin zu Platz sparenden und eleganteren Verpackungen. Bei Digipacks etwa werden Plastikträger auf bedruckte Pappe aufgebracht, in so genannten Overlap-Hüllen aus Kunststoff kommen auf einer Fläche von knapp 20x30cm je zwei Disks leicht überlappend zu liegen. Solche Verpackungen können von einer einzelnen bis zu zwölf DVDs aufnehmen, wobei selbst die Packungen mit zwölf DVDs nicht größer und nur wenig tiefer sind als eine einzelne Keep Case Hülle. Im Handel konnten dadurch auf gleicher Fläche deutlich mehr Titel präsentiert werden und selbst große Boxsets, die alle Episoden einer Serie – teils bis zu 15 Staffeln – enthalten, sind meist nur so groß wie ein Schuhkarton. Für den Rezipienten bedeutete dies, dass nicht mehr nur eine einzige Folge einer Serie pro Woche angesehen werden konnte, wie dies traditionell während der Ausstrahlung im Fernsehen der Fall ist. Stattdessen gab es immer mehr Zuschauer, die sich eine gesamte Staffel einer Serie an einem einzigen Wochenende ansahen. Diese Veränderung der Rezeptionsumstände hat direkten Einfluss auf die narrative Konzeption von Fernsehserien. Die Rezeption wird weder durch die einwöchige Pause zwischen der Ausstrahlung der Episoden noch durch Werbeblöcke unterbrochen. Zudem kann der Zuschauer die Wiedergabe stoppen, wenn etwa der Raum zwischenzeitlich verlassen wird. Serien wie Lost18 illustrieren deutlich, wie verdichtet Erzählungen unter diesen Umständen gestaltet werden können. Während traditionelle, nach der Maßgabe des Least Objectionable Programming gestaltete, Serien stets darauf bedacht sind, dem Zuschauer größtmögliche Hilfestellung bei der intellektuellen Verarbeitung des Inhalts zu geben und die Handlung von vornherein möglichst überschaubar zu gestalten, fordern Serien wie Lost den Zuschauer heraus, sich ein möglichst vollständiges Rezeptionserlebnis zu erarbeiten. Auf flashing arrows, also sehr auffällige visuelle und narrative Hinweise auf bedeutende Aspekte der Erzählung19 wird ver-

18 ABC, 2004-2010. 19 Ein klassischer flashing arrow ist etwa die in Horrorfilmen gern verwendete Großaufnahme auf eine unverschlossene Tür oder ein Fenster, das von dem jungen, meist weiblichen Opfer übersehen wurde. Die Großaufnahme stellt sicher, dass der Zu-

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zichtet und auch bedeutende Ereignisse für die Handlung der aktuellen Folge, die sich bereits einige Episoden zuvor zugetragen haben, werden nicht immer nochmals thematisiert. Dem Zuschauer wird also ein wesentlich höheres Engagement abverlangt, um allen Details der verschachtelten Handlung zu folgen. Während sich eine beliebige, einzelne Folge M*A*S*H oder Hill Street Blues recht problemlos konsumieren lässt und es keine größeren Verständnisprobleme geben dürfte, ist die Rezeption einer einzelnen Folge Lost oder The Sopranos20 ohne Vorkenntnis der vorangegangenen Handlung problematisch. Handlungsstränge verlaufen in diesen Serien über mehrere Episoden oder sogar über mehrere Staffeln und es werden bis zu einem Dutzend Handlungsstränge parallel verhandelt. Klassische Serien wie etwa Cagney & Lacey21 waren stets so konzipiert, dass die Handlung der Episode am Ende der Folge abgeschlossen war und die Ausgangssituation der Serie wieder hergestellt wurde. Der Reiz für den Zuschauer lag hier darin, neue Abenteuer mit den vertrauten Charakteren zu sehen. In Krimiserien wurde also meist ein Fall pro Episode verhandelt, in Krankenhausserien stand jeweils ein Patient im Mittelpunkt. Dabei gab es entweder einen einzelnen Protagonisten oder eine kleine Gruppe von maximal vier Hauptcharakteren. Serien wie Dallas22 oder Hill Street Blues erweiterten diese Setzung. Hier war die Zahl der Protagonisten bereits deutlich erhöht, je nach Handlungsstrang standen unterschiedliche Mitglieder des Ensembles im Vordergrund. Die Handlungsstränge erstreckten sich oft über mehrere Episoden, teilweise sogar über mehrere Staffeln. Es erfolgte eine Verschmelzung der narrativen Techniken von Primetime-Drama und Daily Soap. Bei Daily Soaps waren umfangreiche Ensembles sowie ausschweifende Handlungsstränge von jeher ein Kernmerkmal der Gattung, wobei gewöhnlich ein Handlungsstrang in einer einzelnen Episode eingeführt und abgeschlossen wurde, um auch neuen Zuschauern oder Zuschauer, die nur gelegentlich zusahen, einen Anreiz zum Einschalten zu bieten. Parallel wurden aber mehrere fortlaufende Handlungsstränge oder Metaplots vorangetrieben, die für regelmäßige Zuschauer wohl den größten Reiz des Formats ausmachen. Daily Soaps werden aber fast immer unter großem Zeitdruck und mit geringem Budget produziert, was man den meisten dieser Serien auch deutlich anmerkt.

schauer dieses Detail wahrgenommen hat und sich bewusst ist, dass der Mörder/das Monster/die Bedrohung sich durch eben diese Tür oder dieses Fenster Zugang verschaffen wird. 20 HBO, 1999-2007. 21 CBS, 1982-88. 22 CBS, 1978-91.

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Primetime-Serien dagegen verfügen meist über ein deutlich höheres Budget bei geringerem Ausstoß. Üblich ist die Ausstrahlung von einer Folge pro Woche und der Produktion von einer Staffel mit 22 bis 24 Folgen pro Jahr. Daily Soaps dagegen laufen ganzjährig an fünf Tagen pro Woche. Dementsprechend versuchten Serien wie Dallas oder Hill Street Blues, das Ensemble-Drama und die Plotstruktur der Soaps mit der höherwertigen Optik der Primetime-Dramen zu verknüpfen. Auf diese Weise konnte der Zuschauer noch stärker an das Programm gebunden werden, da der Metaplot einen Anreiz bot, keine Episode zu versäumen. Zusätzlich erhöht die Ensemble-Besetzung die Identifikationsmöglichkeiten für den Zuschauer enorm, da viel mehr unterschiedliche Charaktere und Standpunkte dargestellt werden können, als dies in einer Serie mit Fokus auf einem einzelnen oder einer kleinen Gruppe von Protagonisten möglich ist. Serien wie Emergency Room, Lost oder Heroes23 nutzen diesen Aspekt stark für sich aus. In Emergency Room beispielsweise können Konflikte durch die abweichende persönliche Einstellung zweier Ärzte ausgelöst werden, ebenso aber auch durch verschiedene Stellungen in der Krankenhaus-Hierarchie (Verwaltung vs. praktizierende Ärzte; verschiedene Abteilungen, z.B. Notaufnahme vs. Chirurgie; junge Ärzte vs. ältere, erfahrenere Ärzte; Ärzte vs. Pflegepersonal) oder romantische Verstrickungen innerhalb des Personals. Zudem wurde und wird darauf geachtet, unterschiedliche ethnische und soziale Gruppen darzustellen. Das Ensemble von Emergency Room umfasste beispielsweise Schwarze, Weiße, Asiaten, Inder, osteuropäische Immigranten, Briten, Homosexuelle, Drogensüchtige, Alkoholiker, HIV-Infizierte, alleinerziehende Mütter, ehemalige GhettoBewohner, Soldaten, usw. usf. Neben den genretypischen Klischeecharakteren des fachlich brillanten Exzentrikers und des jungen, enthusiastischen Philanthropen lässt ein Ensembledrama auch ausreichend Raum für Zwischentöne und kann die Erwartungen des Zuschauers sowohl erfüllen als auch Überraschungen bieten. Zudem können die Figuren sich innerhalb der langen Laufzeit einer Serie wie Emergency Room auch weiterentwickeln und nachhaltig verändern. Die Figur Abby Lockhart (Maura Tierney) beispielsweise war bei ihrem Auftauchen in der Serie Krankenschwester und hatte immense Alkohol- und Finanzprobleme. Neben ihrem geschiedenen Mann bereitete auch ihre manisch-depressive Mutter ihr immer wieder Probleme. In Staffel 13 hatte Abby ihr Medizinstudium erfolgreich absolviert und war als Ärztin im County General tätig. Sie trank nicht mehr, war mit einem der Ärzte des Krankenhauses verheiratet und hatte ein Kind mit ihm und auch das Verhältnis zu ihrer Mutter hatte sich entspannt. Zudem

23 NBC, 2006-2010.

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war die Figur Abby mittlerweile eine der zentralsten Figuren der Serie, nachdem viele der anderen langjährigen Ensemblemitglieder sich aus der Serie verabschiedet hatten. Da die Figur der Abby nun eine so zentrale Rolle einnahm, wurde auch ihr Charakter insgesamt zugänglicher für den Zuschauer gestaltet. Die junge Mutter und engagierte Ärztin bot sich als Identifikationsfigur weitaus stärker an als die labile, schwermütige Alkoholikerin, die Abby zu Beginn ihres Auftretens in Emergency Room war. Insgesamt verband Emergency Room, ebenso wie das zeitgleich gestartete, aber weit weniger erfolgreiche Chicago Hope24, erzählerische Elemente der Soap Opera mit der aufwändigen Produktionsweise des Primetime-Dramas. Zwei Aspekte, die ER stark von Chicago Hope unterscheiden, sind meines Erachtens maßgeblich für den weit größeren Publikumszuspruch von ER. Zum einen verkörpert das Setting der beiden Serien die bereits genannten zwei generischen Krankenhaustypen: das Chicago Hope ist das bestens ausgestattete Elitekrankenhaus, während das County General, in dem ER spielt, stets mit mangelnden Finanzen und somit mangelhafter Ausstattung und zu wenig Personal zu kämpfen hat. Die meisten Zuschauer neigen dazu, dem sympathischen, aber (zu Unrecht) benachteiligten Außenseiter ihre Sympathien zuzuwenden.25 Analog fällt es womöglich auch leichter, Sympathien für die Angestellten im finanzschwachen County General zu entwickeln, anstatt für die brillanten und erfolgsverwöhnten Ärzte des Chicago Hope. Zusätzlich wartet ER mit einer zuvor bereits beschriebenen innovativen Optik auf, die die Erzählung effektiv unterstützt und ein Gefühl von hohem Tempo und großer Dramatik generiert. In Emergency Room wurden also bewährte narrative Strukturen eines anderen Formats, eben der Daily Soap, mit einem etablierten Genre, der Krankenhausserie, verbunden und auf innovative Weise präsentiert. So entstand ein Produkt, welches sich als deutlich zugkräftiger und nachhaltiger herausstellte, als die Konkurrenzproduktion Chicago Hope. Offenbar wurde hier eine Mischung aus konventionellen und innovativen Elementen gefunden, die dem Zuschauer das Gefühl gibt, etwas Neues und Aufregendes zu sehen, ohne dabei über Gebühr gefordert zu werden. Somit legt Emergency Room den Grundstein für Serien wie The Sopranos, Lost

24 CBS, 1994-2000. 25 Viele Ratgeber für Drehbuchautoren betonen dies im Zusammenhang mit der Sympathielenkung innerhalb einer Geschichte und raten dazu, Geschichten um Underdogs und Außenseiter zu konzipieren, anstatt über den gut aussehenden und erfolgsverwöhnten »golden boy«. Vgl. etwa Christopher Vogler, Die Odyssee des Drehbuchschreibers: Über die mythologischen Muster des amerikanischen Erfolgskinos, Frankfurt: Zweitausendeins, 2004, 98f.

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oder Heroes, die die in ER etablierten Elemente deutlich ausweiten, nachdem der Zuschauer sich an sie gewöhnen konnte und sie sich als neuer Standard durchgesetzt haben.

»P OST - INNOVATIVES « K RANKENHAUS -D RAMA Nach der 15. Staffel endete ER im April 2009 mit einer narrativen Klammer, in der Dr. Carter (Noah Wyle) nun die Rolle des erfahrenen Notfallmediziners innehatte und als Mentor für eine junge Ärztin im Praktikum fungierte, so wie Dr. Benton (Eriq LaSalle) und Dr. Greene (Anthony Edwards) es in der Pilotfolge »24 Hours« für ihn getan hatten. Die innovative Optik und die multiple threadErzählweise, die ER 1994 so außergewöhnlich erscheinen ließen, waren mittlerweile vertraut und teils sogar zur Konvention geworden. Das Fernsehen mit seinem unausgesetzten Innovationsdruck ist also gefordert, dem Zuschauer Abwechslung zu bieten, sobald eine erfolgreiche neue Formel erste Abnutzungserscheinungen zeigt. Long-running television series, no matter how brilliant they once were, invariably suffer creative declines. Some are capable of rebounding for at least one good season, but most are not. Worse, they lose their relevance. […] Five or seven seasons is right about the time most shows should shut down. They will have already peaked, and the odds of improvement dive perilously. […] Yet a good argument could be made that less-is-more applies to pretty much every series that passes the five-season mark. That’s where trouble creeps in – the nagging sameness, the pointless need to add spark to characters with actions that are not in keeping with their personalities […]. Aging series often sag, period.26

Auch den kreativsten Fernsehschaffenden gelingt es eben nicht, ständig grundlegende Innovationen zu erdenken, daher begnügt man sich häufig mit einer schwachen Innovation, also einer bloßen Veränderung des status quo. Dies führt dazu, dass sich Fernsehserien meist zyklisch entwickeln, eine bedeutende Innovation also von verschiedenen Serien und unterschiedlichen Genres nachgeahmt wird, bis ein Sättigungseffekt eintritt und darauf folgend ein Rückschritt gemacht wird, bei dem auf die charakteristischen Merkmale der letzten Innovation bewusst verzichtet wird. Das entstehende Produkt unterscheidet sich dadurch stark von seinen Vorgängern und wird durch seine Andersartigkeit als »neu« wahrgenommen.

26 Tim Goodman, »ER, at 15, is way past its sell-by date«, San Francisco Chronicle 11.4.2008: E-1.

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Die von 2004 bis 2012 ausgestrahlte Serie House, M.D. kann als nächste Generation der Krankenhausserie nach ER betrachtet werden und stellt einen solchen Innovationsverzicht dar. Die Narration der Serie bedient sich eines übersichtlichen Stabes aus einem zentralen Charakter, Hugh Laurie als Dr. Gregory House, und fünf Nebencharakteren: Houses drei Assistenten sowie ein Kollege und eine Vorgesetzte. Während das Personal bei ER aus über einem Dutzend Kerncharakteren bestand, die je nach dem aktuell im Vordergrund stehenden Handlungsstrang unterschiedlich prominent dargestellt wurden, besteht bei House kein Zweifel, dass Greg House Dreh- und Angelpunkt der Serie ist und die anderen Charaktere weniger um ihrer selbst willen von Interesse sind, denn vielmehr als Resonanzkörper, an denen House seine Theorien testen kann. Auch House selbst ist nicht als übermäßig komplexer Charakter gezeichnet. Seine wichtigsten Eigenschaften sind sein überragender Intellekt und die damit einhergehende fachliche Brillanz, die seine Umwelt seinen demonstrativ zur Schau getragenen Zynismus tolerieren lassen. Seine gelegentlichen Anflüge von Philanthropie lassen sich leicht als Kunstgriff erkennen, ihn trotzdem als validen Sympathieträger zu gestalten. Im Gegensatz zu ER bedient sich House einer sehr traditionellen Episodenstruktur mit weitgehend abgeschlossener Episodenhandlung und stets gleichem Aufbau. Eine solche Strukturierung verbindet man eher mit Krimiserien vor Hill Street Blues, im Falle von House gibt der Erfolg den Produzenten aber Recht. Matthias Huber geht sogar so weit, diese Rückkehr zur traditionellen Struktur als Verzicht auf unnötiges Beiwerk und Besinnung auf die eigentlichen Kernelemente der Serie zu loben: Die Andersartigkeit der Serie ergibt sich bereits nach wenigen Folgen aus der PlotStruktur. Diese ist (fast) immer gleich […]. Und es ist genau dieses sichere Vertrauen, welches man als Zuschauer dem Episodenplot entgegenbringen kann, welches überhaupt ermöglicht, sich auf die detaillierte Figurenzeichnung und die subtil angelegten Subtexte zu konzentrieren. Obwohl House aber auf billige Cliffhanger verzichtet, verbindet die reziprok-reflexive Rahmenerzählung, in dessen [sic] Verlauf das Innenleben und die Vorgeschichte aller Figuren aufgedeckt wird, die Anti-Arztserie mit der Robinsonade Lost. Nur dass das Aufdecken der Hintergründe weniger vordergründiger Effekt als vielmehr hauptsächlicher Motor der Serie ist. […] Und die unverhohlen zentrale Rolle, die der Titelheld der Serie einnimmt, ist wohl beispiellos.27

27 Matthias Huber, »Sherlock Holmes mit Persönlichkeitsstörung«, Telepolis 5.10.2008.

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Statt Vereinfachung erkennt Huber hier den Verzicht auf Effekthascherei und eine Konzentration auf das wesentliche, nämlich »detaillierte Figurenzeichnung und die subtil angelegten Subtexte«. Es wäre interessant zu wissen, ob dies Tugenden sind, die Huber auch Serien wie Quincy, M.E.28 oder Columbo29 bescheinigen würde, denn tatsächlich weisen diese strukturell große Ähnlichkeit mit House auf. Die abgeschlossene Episodenhandlung und stets gleiche Plot-Struktur sowie die Fokussierung auf einen zentralen Titelhelden diente hier jedoch nicht der Betonung etwaiger subtil angelegter Subtexte, sondern waren schlicht dem Konzept des Most Repeatable Programming geschuldet. Durch diese Art des Episodenaufbaus wurde sichergestellt, dass einzelne Folgen auch losgelöst vom Gesamtkontext der Serie rezipiert werden und so als Wiederholung zweitverwertet werden konnten. Zudem sollte der Zuschauer keinesfalls durch ein Übermaß agierender Figuren verwirrt werden. Ebenso wie im Falle von Quincy oder Columbo kann auch eine einzelne Episode von House problemlos außerhalb des Serienkontextes rezipiert werden. Und tatsächlich weist House auch inhaltlich diverse Parallelen mit einer Krimiserie auf, da Greg House sich weniger für die tatsächliche Behandlung von Patienten interessiert, als vielmehr für die logischdeduktive Diagnose ihrer Krankheiten. Dabei empfindet er den Patienten selbst eher als störend, bestenfalls als lästig, und überlässt die Interaktion mit dem Patienten nach Möglichkeit seinen Assistenten. House selbst stellt dabei in vielerlei Hinsicht eine Sherlock Holmes-Figur dar. Beide verfügen über herausragenden Intellekt und ebensolche deduktiven Fähigkeiten, sind höchst musikalisch und konsumieren Drogen. In einer Detektivgeschichte oder eben Krimiserie ist es einleuchtend, dass der Ermittler seine Schlüsse aus Fakten ziehen muss, die er Verhören von Zeugen und Verdächtigen sowie der Untersuchung des Tatorts entnimmt sowie den Aussagen der Befragten häufig mit Skepsis begegnet. Ärzte dagegen befragen den Patienten gewöhnlich mit der Prämisse, dessen Aussagen für glaubwürdig zu halten und stützen sich auf Resultate medizinischer Tests. House bevorzugt jedoch eine kriminalistische Vorgehensweise, da er den Patienten entweder unterstellt, ihn bewusst anzulügen oder aber schlicht nicht kompetent genug zu sein, um seine Fragen zu beantworten. Also instrumentalisiert er seine Assistenten, um den Patienten zu »verhören« sowie dessen Wohnung oder Haus als »Tatort« einer gründlichen – und meist illegalen – Untersuchung zu unterziehen. Auch visuell bedient sich House deutlicher Anleihen bei Krimiserien wie CSI, die sich auf die Ermittlungsarbeit von Forensikern und Pathologen speziali-

28 NBC, 1976-83 29 NBC, 1971-78.

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siert haben. Gregory House stellt ebenfalls eine Art medizinischen Detektiv dar, den nur die ungewöhnlichsten Fälle interessieren und dem an der Aufklärung des medizinischen Mysteriums mehr gelegen ist als am Wohl des Patienten. Folgerichtig verwendet House so genannte »CSI shots«30, um beispielsweise Infarkte darzustellen. Dabei werden computergenerierte Bilder verwendet, um eine Kamerafahrt in das Innere des Körpers darzustellen. Ein Schlaganfall wird dann etwa durch elektrische Entladungen innerhalb des Gehirns dargestellt. In den darauf folgenden Einstellungen ist wieder der Patient und seine Reaktion auf das zuvor mittels CGI dargestellte Ereignis zu sehen. Der Zuschauer bekommt so sehr schnell einen Eindruck davon, woran der Patient leidet. Da House, im Gegensatz zu ER, nur marginal Wert auf medizinischen Realismus legt, ist dies eine sehr effektive Methode, den Sachverhalt unkompliziert darzustellen. ER mit seinem erhöhten Realismusanspruch bedient sich einer Stellvertretermethode, um dem Zuschauer verständlich zu machen, in welcher medizinischen Situation sich der jeweilige Patient befindet. Dabei erklärt der behandelnde Arzt Angehörigen oder einem Arzt in der Ausbildung die Sachlage und die Details der Behandlung. Wird beispielsweise ein Patient als Notfall per Krankenwagen eingeliefert, würde die Besatzung des Rettungswagens den Ärzten und Schwestern in der Notaufnahme knapp den Zustand des Patienten, die Umstände der Erkrankung oder Verletzung sowie die soweit erfolgte Behandlung schildern. Hierbei würden sie sich medizinischen Fachvokabulars bedienen, welches für den Laien nicht vollständig verständlich ist. Sofern bestimmte Informationen für das Verständnis der Geschichte erforderlich sind, würde anschließend einer der Ärzte einem Angehörigen des Patienten in einfachen Worten erklären, was dem Patienten fehlt und wie die Behandlung aussehen wird. House komprimiert dies durch die Verwendung der CSI-shots sowie durch Houses Vorliebe für Metaphern. Zwar benutzen natürlich auch die Figuren in House medizinische Fachausdrücke, allerdings in deutlich geringerem Umfang als es in ER der Fall ist. Auch ist das medizinische Vokabular relativ begrenzt, so dass regelmäßige Zuschauer nach einiger Zeit mit den Begriffen vertraut werden. Zudem bedient sich die Serie eines ironisch überzogenen Voyeurismus bei der Darstellung von Schmerzen (schwallartige Blutungen des Patienten aus allen denkbaren Körperöffnungen, Untersuchungen, bei denen dem Patienten unter großen Schmerzen lange Nadeln etwa ins Auge eingeführt werden usw.), der in dieser Form in ER undenkbar gewesen wäre. Der Fokus der Erzählung ist hier

30 Vgl. Barbara Hollendonner, »Der Blick nach Innen,« Medien in Raum und Zeit: Maßverhältnisse des Medialen, hg. Ingo Köster und Kai Schubert, Bielefeld: transcript, 2009, 108f.

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weniger die Dramatik durch lebensgefährliche Verletzungen oder Krankheiten und Empathie, die der Zuschauer für die Betroffenen (Patienten und Angehörige als auch Ärzte und Pflegepersonal) entwickelt, als viel mehr die zynische Komik, die sich in den geistreichen und witzigen Dialogen entfaltet. House legt als Setting also ein Krankenhaus zu Grunde, bedient sich einer Struktur, wie sie vor ER die Konvention darstellte, konzipiert die Erzählung der Folie des Krimi-Genres folgend und verbindet all dies mit Dialogen, wie sie sonst eher in guten Comedy-Serien zu finden sind. Durch Variation und Kombination wird hier also Innovation erzeugt, deren maßgeblicher Eindruck der Erneuerung durch den bewussten Verzicht auf die stilbildenden Merkmale der letzten großen Innovation entsteht.

AUSBLICK Insgesamt wurden acht Staffeln von House ausgestrahlt. Tim Goodman zufolge hatte die Serie ihren Zenit also bereits deutlich überschritten. Da House aber noch durchaus zufrieden stellende Quoten erreichte, ließ der Sender noch weitere Episoden produzieren, auch wenn immer mehr Stimmen laut wurden, die ein Absinken der Qualität bemängelten.31 Eine andere Krankenhausserie, die sich kurz nach House erfolgreich im Markt durchsetzen konnte, ist Grey’s Anatomy.32 Von ihrer narrativen Konzeption her in der Nachfolge ERs stehend, werden in dieser Serie die melodramatischen Soap-Elemente weit stärker betont und die amourösen Verwicklungen der Ensemblemitglieder sind das tragende Element der Serie. Teilweise sind Anleihen aus Serien wie Sex and the City33 erkennbar, wo ebenfalls die Liebesbeziehungen der Protagonistinnen im Zentrum standen. Im Herbst 2011 hat auf ABC die Ausstrahlung der neunten Staffel begonnen, auch hier ist Tim Goodmans »magic number« also bereits längst überschritten. Ohne Zweifel wird eher früher als später ein Sender versuchen, das bewährte Setting des Krankenhauses für ein neues Serienkonzept zu instrumentalisieren. Wie das im Detail aussehen wird, bleibt abzuwarten. Entweder wird auch hier durch Variation und Kombination eine partielle Innovation erzeugt, um dem Zuschauer das Gefühl eines frischen, unverbrauchten Konzeptes zu geben, oder es

31 Vgl hierzu die Benutzerrezensionen auf TV.com: »Used to be great, but now requires life support«, »[…] the show seemed to go from bad to worse and I’m not going to watch this season«, usw. . 32 ABC, 2005-laufend. 33 HBO, 1998-2004.

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kommt tatsächlich zu einer tiefgreifenden narrativen oder technischen Innovation, die das Genre ähnlich nachhaltig verändert, wie es ER 1994 gelang. Es bleibt aber zu hoffen, dass die zunehmende Erweiterung der Distributions- und Rezeptionskanäle durch digitale Techniken und die damit einhergehende Fragmentarisierung des Publikums auch den Markt derart erweitern, dass Raum für ganz unterschiedliche Konzepte und Produkte entsteht, die gleichberechtigt nebeneinander existieren können.

L ITERATUR Behrens, Steve. »Technological convergence: towards a united state of media«. Channels of Communication Field Guide. 1986: 8-10. Goodman, Tim. »ER, at 15, is way past its sell-by date«. San Francisco Chronicle 11.4.2008: E-1. . (29.6.2009) Hammond, Michael und Lucy Mazdon, hg. The Contemporary Television Series. Edinburgh: Edinburgh UP, 2005. Hickethier, Knut. Die Fernsehserie und das Serielle des Fernsehens: Kultur, Medien, Kommunikation. Lüneburg: Lüneburger Beiträge zur Kulturwissenschaft 2, 1991. Huber, Matthias. »Sherlock Holmes mit Persönlichkeitsstörung«. Telepolis 5.10.2008. . (7.10.2008) Jacobs, Jason. Body Trauma TV: The New Hospital Dramas. London: British Film Institute, 2003. Johnson, Steven. Everything Bad is Good for You: Why Popular Culture is Making Us Smarter. London: Penguin, 2006. McCabe, Janet und Kim Akass, hg. Quality TV: Contemporary American Television and Beyond. New York: I.B. Tauris, 2007. Nelson, Robin. State of Play: Contemporary »High-End« TV Drama. Manchester: Manchester UP, 2007. Old Time Radio Researchers Group. »Dr. Kildare«. . (13.12.2011) Rogers, Mark C., et al. »The Sopranos as HBO Brand Equity: The Art of Commerce in the Age of Digital Reproduction«. This Thing of Ours. Hg. David Lavery. New York: Columbia UP, 2002. Thompson, Robert J. Television’s Second Golden Age: From Hill Street Blues to ER. New York: Syracuse UP, 1996. TV.com. House. Overview and Fan Reviews . (13.12.2011)

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Vogler, Christopher. Die Odyssee des Drehbuchschreibers: Über die mythologischen Muster des amerikanischen Erfolgskinos. Frankfurt: Zweitausendeins, 2004.

»It’s the future, Watson« Die Figur Sherlock Holmes in aktuellen filmischen Adaptionen J ANINA W IERZOCH

Mit den Worten »It’s the future, Watson«1 verkündet der berühmte Detektiv jüngst im Kinofilm Sherlock Holmes (2009) das Programm gegenwärtiger Adaptionen: die Ankunft der Figur im 21. Jahrhundert. Zumindest legt der Film einen Protagonisten vor, der ganz in diesem Sinne zu funktionieren scheint: Den Filmraum bilden makellose digitale Stadtpanoramen; die Filmhandlung konstruiert einen Fall, in dem Holmes’ Gegner dank ›futuristischer‹ Technik kurz vor der Übernahme der Weltherrschaft steht; und in der Figurenkonstellation führt Sherlock Holmes eine nicht gerade viktorianisch anmutende Liebesbeziehung zur unabhängigen und ›berufstätigen‹ Irene, inklusive freizügiger Anspielungen und Bondage-Motiv. »My assets were given to me for one purpose. A magnificent but simple purpose: to create a new future.« (01:09:24) Was Bösewicht Blackwood im Film für seinen durch technische Tricks ermöglichten Machtgewinn formuliert, beschreibt auch das Selbstverständnis der Adaption für den Umgang mit der Kultfigur: Die Inszenierung als technisch und inhaltlich hochmodernes Spektakel ermöglicht die weitere kulturelle Fortschreibung des Detektivs. Bis zu dieser Darstellung hat die Figur eine jahrzehntelange, multimediale Darstellungsgeschichte hinter sich. Die Erzählungen Arthur Conan Doyles über den Detektiv bilden einen Textkanon von 56 Kurzgeschichten und vier Romanen, die zwischen 1887 und 1927 veröffentlicht wurden. Die Figur war jedoch so populär, dass ihr Einfluss bald darüber hinaus ging: Als der Autor mit der Wie-

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Sherlock Holmes (2009). Warner Bros. Pictures u.a. [DVD] Hamburg: Warner Home Video, 2010, 01:55:18.

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derauferstehung Holmes’ in der Kurzgeschichte »The Empty House« (1903) dem Protest der Leser gegen dessen Serientod in »The Final Problem« (1893) endgültig erliegt, hat er die Autonomie über seine literarische Schöpfung längst verloren. Schon vor der Jahrhundertwende entstanden erste Bühnenstücke und Werbeanzeigen, kurz darauf auch erste Filmadaptionen und literarische Pastiches der Detektivfigur.2 Sherlock Holmes steht am Anfang eines sich über das 20. Jahrhundert in zahllose Subgenres aufspaltenden Kriminal- und Detektivgenres.3 In seiner seither ungebrochenen Präsenz ist er heute ein kulturelles Phänomen, dessen Referenz zur eigenen literarischen Herkunft nur noch eine von vielen ist; das Wissen um den Detektiv ist von der Lektüre bestimmter Werke unabhängig: »Sherlock Holmes [has] broken free of [his] textual frames to assume an almost archetypal reality in the common imagination.«4 Er ist zu einem kulturellen Gemeingut geworden, das unabhängig von der Rezeption einzelner Werke existiert. Neben dem selbstironischen und vergangenheitsschweren Actionheld im Blockbuster Sherlock Holmes (2009), reüssiert zum Ende der 2010er Jahre noch eine weitere populäre Adaption des Detektivs: Die BBC-Serie Sherlock (2010) präsentiert die Kulturfigur als hypermoderne Reinkarnation seiner selbst. In einem London der Gegenwart als »Sherlock, please«5 untersucht er gemeinsam mit John (Dr. Watson) und moderner Kommunikationstechnologie zwar im Grunde die alten Rätsel, dem Aktualitätsanspruch tut das jedoch keinen Abbruch. Dass beide Produktionen das angestaubte Image des britischen Detektivs mit Deerstalker und Pfeife entschieden zurückweisen, bedeutet aber allein noch nicht, dass grundlegende Konzepte der Figur verändert werden. Sherlock Holmes steht heute mehr denn je in einem Umfeld komplexer Intertextualität, die auch unsere Gegenwart prägt: »The ever-expanding number of texts and technologies is both a reflection of and a significant contribution to the ›array‹ – the perpetual circulation and recirculation of signs that forms the fabric

2

Vgl. Sally Sugarman, »Introduction«, Sherlock Holmes: Victorian Sleuth to Modern Hero, hg. Charles R. Putney, Joseph A. Cutshall King und Sally Sugarman, Lanham: The Scarecrow Press, 1996, xi.

3 4

Vgl. Lee Horsley, Twentieth Century Crime Fiction. Oxford: Oxford UP, 2005, 14. Christopher B. Weimer, »A Cervantine Reading of Conan Doyle: Interpolated Narrative in A Study in Scarlet«, Sherlock Holmes: Victorian Sleuth to Modern Hero, hg. Charles R. Putney, Joseph A. Cutshall King und Sally Sugarman. Lanham: The Scarecrow Press, 1996, 196.

5

Sherlock, »A Study in Pink« (2010), Hartswood Films/BBC Wales u.a. [DVD] München: Polyband & Toppic/WVG, 2011, 00:13:02.

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of postmodern cultural life.«6 Der literarische Ursprung und die mediale Darstellungsgeschichte bilden nur den Kernbereich. Genrekonventionen nicht nur des Detektivgenres, sondern auch aus weiteren Kriminal- und anderen populären Genres sowie allgemeinere mediale Darstellungskonventionen und Fragen gesellschaftlichen Selbstverständnisses sind relevante Kontexte. In diesem Zusammenhang entstehen in den Adaptionen Wechselbeziehungen zwischen der Figurenkonventionen und anderen Einflüssen, in denen die Umarbeitung und Aktualisierung der Figur stattfindet. Die Adaptionen bestimmen und bestätigen darin Erfahrungsbereiche gegenwärtiger Kultur. Die Adaptionen von 2009 und 2010 geben zwar gegensätzliche Ausgangssituationen für die Figur vor: In Sherlock Holmes tritt der Detektiv im zeitlichen Umfeld des viktorianischen Vorbilds auf, der Film übernimmt jedoch in der Handlung strukturell und inhaltlich nur wenig aus den Texten; Sherlock aktualisiert das zeitliche Setting, auf der Handlungsebene wiederum bleiben die Strukturen der Holmes-Erzählungen bestimmend. Trotz dieser Unterschiede sind jedoch im Vorgehen der Aktualisierung gemeinsame Strategien zu erkennen. Egal, ob eine Adaption lediglich an die Kulturfigur angelehnt ist oder sich als Hommage an dieselbe zu erkennen gibt, sind bestimmte Haltungen im Umgang mit der kulturellen Materie zu erkennen. Der Anspruch an Gegenwartsrelevanz oder die Selbsterklärung zum state of the art der extensiven Darstellungsgeschichte, sind nur die augenfälligsten.

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WAS TIME FOR ME TO TAKE ACTION «

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Eine Stadtkulisse bei Nacht. Zwei Wagen rasen durch enge Gassen. Die Kamera nimmt die Verfolgung auf, erst langsam, dann gewinnt die Fahrt an Geschwindigkeit. Durch eine schnellere Schnittfolge beschleunigt der Film auch auf Montageebene, unterstützt durch das musikalische Crescendo. Im Gegenschnitt hetzt eine Figur durch das nächtliche London. Der Gesamteindruck einer Verfolgungsjagd entsteht. Wenig später ist die Figur in eine Abfolge detailreich inszenierter Schlägereien verwickelt. Der narrative Gehalt der Eröffnungssequenz in Sherlock Holmes ist offenbar sekundär. Genau genommen findet sich an dieser Stelle inhaltlich nur der Teil des Publikums zurecht, der die in einem Online-

6

Jim Collins, »Genericity in the Nineties: Eclectic Irony and the New Sincerity«, The

7

Arthur Conan Doyle, »Silver Blaze« [1892], Sherlock Holmes: The Complete Stories,

Film Cultures Reader, hg. Graeme Turner, London: Routledge, 2002, 279. ders., London: Wordsworth Editions, 2006, 658.

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spiel8 cross-medial vermittelte Vorgeschichte der Filmhandlung kennt. Während die Erläuterungen und Beobachtungen des Detektivs in den Erzählungen zentrale Funktion haben9, besteht der Filmdialog hier in ironischen oder sarkastischen Kommentaren und Provokationen der Beteiligten, wie sie auch den Dialog im Actionfilm prägen.10 Kurz gesagt ruft die gesamte Expositionsszene mit Nachdruck Erzählkonventionen auf, die Barna W. Donovan als zentral für den Actionfilm identifiziert: »fast-paced, climactic sequences, a quick cycle of urgent problems suddenly resolved through spectacular and unusual displays of violence, destruction, and special effects.« (65) In Sherlock Holmes wird der Protagonist als Actionheld eingeführt, der ein junges, weibliches Opfer aus den Händen des Bösewichts befreit – schnell, gewaltbereit und überlegen. Allerdings geht es bei der heldischen Überlegenheit nicht – zumindest nicht in erster Linie – um die mentale Überlegenheit Sherlock Holmes’, die die Textanfänge der Romane und Kurzgeschichten Conan Doyles gebetsmühlenartig explizieren. Dort brilliert der Detektiv, indem er durch winzigste Beobachtungen Personen identifizieren und Umstände treffend herleiten kann. In »The Blue Carbuncle« beispielsweise schließt er allein aus einem Hut auf ein umfängliches Profil des Trägers. Das Unverständnis Watsons unterstreicht Holmes’ Überlegenheit, etwa wenn der Detektiv in »The Dancing Men« seinen Freund über die Simplizität seiner logischen Gedankengänge belehrt. In Sherlock Holmes hingegen wird die geistige Dominanz als ein Aspekt des physisch überlegenen Detektivs inszeniert. Es ist stattdessen die Körperlichkeit, die im Film in spektakulären Stunts zum zentralen Darstellungsmerkmal des athletischen Detektivs wird: Ein Boxkampf zeigt ihn mit entblößtem Oberkörper im Ring, in minutenlangen Sequenzen prügelt er sich in Slapstick-Manier mit riesenhaften Gegnern, abgekämpft und verschwitzt rettet er die schwache Frau aus einem Flammeninferno, nur um kurz darauf in Zeitlupe von zahlreichen Explosionen zu Boden geschleudert zu werden. Keine diese Szenen trägt ihrer Länge entsprechend zum Vorankommen der Handlung, also zur Lösung des Falls bei. Die im Textkanon auf ihre geistigen Fähigkeiten zugespitzte Figur des Detektivs findet sich in Sherlock Holmes in der gewaltbereiten Körperwelt des Actionfilms ein: »The ac-

8

Online unter (der Zugriff war auf den Promotionszeitraum des Films beschränkt).

9

Vgl. z.B. Marcello Truzzi, »Sherlock Holmes: Applied Social Psychologist«, The Sign of Three, hg. Umberto Eco und T. A. Sebeok, Bloomington: Indiana UP, 1983, 67.

10 Vgl. Barna W. Donovan, Blood, Guns, and Testosterone: Action Film, Audiences, and a Thirst for Violence, Lanham: The Scarecrow Press, 2010, 43.

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tion film is one that emphasizes and foregrounds spectacle, mainly violent spectacle, and subverts everything else in the narrative« (Donovan 43). Innerhalb dieses Paradigmas inszeniert der Film dennoch weiterhin auch wichtige Figurenaspekte der literarischen Expositionen – jedoch unter stark veränderten Vorgaben. So wird dem kanonischen Motiv der deduktiven Logik innerhalb der Actionsequenzen ein neuer Platz zugewiesen. Der Film entwickelt dafür einen spezifischen Darstellungsstil, der das Zusammenspiel von Körper und Verstand im Detektiv hervorhebt: die verdoppelnde Inszenierung körperlicher Gewalt in einem »burst of slow motion«11. Zunächst erläutert Holmes im Voice-Over seine gedanklichen Beobachtungen und Schlussfolgerungen über den körperlichen Zustand seines Gegners. In einer nach seinen Bewegungen getakteten Zeitlupe werden gleichzeitig die dem Gegenüber beizubringenden Verletzungen konzipiert. Die schnellen Geschwindigkeitswechsel und die Subjektivierung von Geräuschen und Dialog auf die Wahrnehmung der Figur prägen die Ästhetik dieser ersten Version des Kampfes. Es folgt die Wiederholung der bereits verbildlichten Handlung in normaler Geschwindigkeit und ohne Figurenkommentar als in der fiktiven Welt sich erst jetzt tatsächlich ereignender Kampf. Die Sequenz inszeniert die geistige Leistungsfähigkeit Sherlock Holmes’ als Komplement seiner körperlichen Fertigkeiten: Er erkennt die körperlichen Schwächen des Gegners als ideale Angriffspunkte, beweist profunde Kenntnisse im Bereich menschlicher Anatomie und kombiniert schließlich beides zu einem so präzisen wie effektiven Angriffsplan. Die überzeichnete, aber eben lediglich physische Stärke des jeweiligen Gegners stellt Holmes ‚intelligente‹ Körperkraft heraus. Während erste Gegner vor allem grobe, einfältige Typen sind, nimmt deren mentales Potenzial über die Filmhandlung zu. Im Showdown tritt Holmes mit dem Bösewicht Lord Blackwood ein gerissener Kontrahent gegenüber – ein Kampf sowohl um körperliche als nun auch um geistige Überlegenheit. Obwohl Gewalt in diesen Szenen ausführlich und drastisch dargestellt wird, ist sie in ihrer Überzeichnung zum ästhetischen Element erhoben. Auch diese stilisierte, unrealistische und metaphorische Inszenierung von Gewalt ist für das Actiongenre charakteristisch (vgl. Donovan 212-213). Die verdoppelten Kampfszenen werden durch die Zeitlupe, die für das menschliche Auge sonst nicht wahrnehmbare Abläufe sichtbar macht, ästhetisiert und durch den Detailrealismus als authentisch gekennzeichnet, obwohl sie gleichzeitig als nur technisch ermöglichte Darstellungen tatsächlich hoch künstlich sind. Ein ähnlich analytisch-deskriptiver Kommentar von Gewalt ist in dieser Form in den viktorianischen Holmes-Texten nicht vorhanden. Der Film Sherlock Holmes aber proji-

11 »Super Sleuth«, [Anonym/Benjamin B.] American Cinematographer 91.1 (2010): 64.

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ziert mit diesen filmischen Darstellungsmitteln die Tradition des Detektivs auf die Figur eines überlegenen Actionhelden: Die Gewaltanwendung wird als rational geleitetes Handeln, als wissenschaftlich kalkulierte Brutalität, als verkörperte intellektuelle Überlegenheit inszeniert. Die geistigen Fähigkeiten dieses neuen Detektivs sind ohne seine Körperlichkeit nicht denkbar. Sie werden vielmehr in der physischen Inszenierung über den Film klimaktisch bis zu ihrem Höhepunkt aufgebaut. In der BBC-Produktion Sherlock widmet der Detektiv traditionell detektivischen Anliegen deutlich mehr Filmzeit. Die Rätselhaftigkeit der Fälle, nicht die Action, ist der maßgebliche Spannungsträger der Adaption. Den Status eines armchair detective hat Sherlock aber auch in der Serie nicht. Der Detektiv, so scheint es, kann sich gegenwärtig der Neigung filmischer Medien zu Bewegung und Spektakel12 nicht entziehen. So wird auch von diesem Sherlock immer wieder entschiedener Körpereinsatz gefordert. Dabei ist Holmes-Darsteller Benedict Cumberbatch nicht so explizit auf diese Erzählelemente verbucht, wie der schon aus dem Actiongenre bekannte Robert Downey jr., der vor Sherlock Holmes in Iron Man (2008) und in der Actionkomödie Tropic Thunder (2008) zu sehen war. Dennoch werden auch in Sherlock die körperlichen Konfrontationen in Hinblick auf kanonische Figurenmerkmale spezifisch inszeniert, wenngleich hier eine andere Eigenschaft der Detektivfigur mit dem Körperlichen in ein Verhältnis gesetzt wird als in Sherlock Holmes. So wird Sherlock in der Folge »The Blind Banker« in seinem Baker-Street-Apartment von einem vermummten Angreifer mit Säbel attackiert, während in Parallelmontage sein WG-Partner John im ordinären Zwist mit einer unwilligen Selbstbedienungskasse im Supermarkt zu sehen ist. Zurück in der Baker Street beschwert sich der Doktor bei seinem trotz des vorangegangenen Angriffs nun völlig unbekümmerten Freund: »You’ve been sitting there all morning. You’ve not even moved since I left.«13 Der Kampf hinterlässt beim kühl kalkulierenden Sherlock kaum einen Eindruck. Durch Dialog und Montage werden seine dem Gewöhnlichen enthobene Stellung und sein emotionsarmes Wesen inszeniert, indem sie der Durchschnittlichkeit von Johns Alltag und dessen menschlicheren Reaktionen gegenübergestellt werden. Die Andersartigkeit, der Kontakt zum Exotischen, die Grenzüberschreitung der Figur in Lebensbereiche, die dem normalen Bürger verwehrt sind, sind für die Funktion des literarischen Detektivs als Rückversicherer gesellschaftlicher

12 Vgl. Richard Maltby, Hollywood Cinema, 2. Aufl., Malden: Blackwell, 2003, 372f. 13 Sherlock, »The Blind Banker« (2010). Hartswood Films/BBC Wales u.a. [DVD] München: Polyband & Toppic/WVG, 2011, 00:05:11.

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Werte am Ende des 19. Jahrhunderts unerlässlich. In den Geschichten ermittelt Holmes zugunsten einer gesellschaftlich-moralischen Ordnung im privaten Umfeld seiner Klienten und übernimmt damit eine stabilisierende Funktion (vgl. Horsley 29). Die Herausforderung des Detektivs sind die Rätsel, die die interne Balance der englischen Mittelklassegesellschaft bedrohen. In »The Man With the Twisted Lip« zum Beispiel strebt er eine Lösung an, die den Fortbestand von Ehe und Familie seiner Klientin sichert.14 Die Texte führen ihn als unverständlichen Exzentriker ein; sie beschreibt ihn in A Study in Scarlet (1887) als »mystery« und »a little queer in his ideas« (Conan Doyle 18, 14-15). Sein aus der Masse enthobener Charakter, ermöglicht ihm, sich der Bedrohung außerhalb der gesellschaftlichen Mitte zu stellen; gleichzeitig ist der Kontakt der Gesellschaft zu ihm selbst ungefährlich, weil er ihre zentralen Interessen zwar unterstützt, aber in diesen Bereichen selbst keine Konkurrenz darstellt. Wenn Sherlock dieses Merkmal inszeniert, wird auch dessen Funktionalität aktualisiert. Das Versprechen kultureller Stabilität und Identität ist der Detektivfigur bis heute grundsätzlich eigen, das führt Ellen Burton Harrington überzeugend aus.15 Im postmodernen Kontext verzichtet die Adaption aber darauf, Sherlocks als gesamtgesellschaftliche Retterfigur zu explizieren; in der erwähnten Kurzgeschichte muss der Ehemann als enttarnter Betrüger noch zugunsten höherer gesellschaftlicher Moral seine existenzsichernde Schwindelei aufgeben. Heute schützt der Detektiv hingegen vornehmlich individuelle Interessen. Auch wenn er in »A Study in Pink« eine Mordserie aufklärt, die allgemein Verunsicherung auslöst, wird letztlich die Erleichterung Inspektor Lestrades in den Mittelpunkt gestellt, den Sherlock vor beruflicher Niederlage und öffentlicher Bloßstellung in den Medien bewahrt und bedient damit eine heute von Individualismus geprägte Gesellschaft. In Sherlock und in Sherlock Holmes werden Kernmerkmale des Detektivs unter den Vorgaben einer wesentlich körperbetonteren Kultur inszeniert. Dabei entwickeln die Adaptionen Ästhetiken und Montagestrukturen, die auf aktuelle filmische Weise Erzählstile für diese Neuverknüpfungen entwickeln. Neben diesen medial motivierten Neuerungen wird auch die Funktionalität des Detektivs und die Bedeutung für die Figur an gegenwärtigen Interessen ausgerichtet.

14 Vgl. Martin Priestman. »Sherlock’s Children: The Birth of the Series«, The Art of Detective Fiction, hg. Chernaik, Warren, Martin Swales and Robert Vilain. London: Macmillan, 2000, 53. 15 Vgl. Ellen Burton Harrington, »Nation, Identity and the Fascination with Forensic Science in Sherlock Holmes and CSI«. International Journal of Cultural Studies 10 (2007): 365-382.

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»T HE

MOST PERFECT REASONING

[…] MACHINE « 16

Die mentalen Fähigkeiten, die der Film Sherlock Holmes in den bisher damit nicht in Beziehung stehenden Bereich der Körperdarstellung verlegt, inszeniert die TV-Adaption mit einer eigenen stilistischen Neuerung. Dem Detektiv werden darüber Fähigkeiten von technischer Präzision zugeschrieben. So werden Beobachtungen, erste Fehlschlüsse und letztlich zutreffenden Schlussfolgerungen des Detektivs, die auf gedanklicher Ebene ablaufen, als Texteinblendungen über das filmische Bild des Tatorts gelegt. Der technische Effekt gewinnt jedoch über das Inhaltliche hinaus Bedeutung: denn das filmische Mittel ist zunächst als Darstellungsmittel für die Inhalte versendeter Textnachrichten (SMS, E-Mail) eingeführt. Nun machen die Texteinblendungen auch die Gedankengänge Sherlocks nachvollziehbar: Die Buchstabenfolge »Rache«, die Nachricht der Toten auf dem Boden, wird als deutsches Wort erkannt und mit der Übersetzung ins Englische überblendet (»A Study in Pink« 00:24:38) – in A Study in Scarlet ist diese Interpretation zutreffend (vgl. Conan Doyle 32). Diese Lösung verwirft er in der Serie aber buchstäblich (die Schriftzeichen ‚fallen‹ herab) und ergänzt dann den Namen »Rachel« (00:24:42) – in A Study in Scarlet die Fehlinterpretation der Polizei (vgl. Conan Doyle 31). Bis ins Detail inszeniert dieses Stilelement die subjektive Perspektive des Detektivs: Wenn Sherlock im Gegenschnitt selbst gezeigt wird, wie er auf die Nachricht am Boden blickt, sind die Texteinblendungen spiegelverkehrt, als blieben sie nur aus seinen Blickwinkel lesbar. Mit diesen Mitteln inszeniert die TV-Produktion den Detektiv als eine Art Computer, der jederzeit mit der Zuverlässigkeit elektronischer Datenverarbeitung und dem enzyklopädischen Wissen technischer Datenträger zutreffende Lösungen errechnet. Im Textkanon stehen Wissenschaft und Technik zwar inhaltliche eng mit dem Vorgehen der Ermittlung in Verbindung, in Sherlock aber wird diese thematische Kopplung aber auf die visuelle, filmästhetische Ebene ausgeweitet. Damit wird Sherlock über die Darstellung zu der Maschine erklärt, mit der der Kanon in »A Scandal in Bohemia« ihn vergleicht: »He was, I take it, the most perfect reasoning and observing machine.« (Conan Doyle 429) Im Kontext der TV-Serie ist diese ›perfekte Maschine‹ als zeitgenössische Kommunikationstechnologie realisiert. Zusätzlich bestätigt wird die Bedeutung von Technik für den Detektiv in Sherlock auf der Handlungsebene, indem seine Ermittlungen erst durch den Rückgriff auf elektronische Ressourcen erfolgreich sind. Wiederholt bezieht er Informationen aus dem Internet, um Beobachtungen zu kontextualisieren und

16 »A Scandal in Bohemia« [1891]; Conan Doyle, Sherlock Holmes, 429.

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weitere Schlüsse zu ziehen. Moderne Technologie prägt die Figurendarstellung auch dort, wo die traditionelle Verbindung der Detektivfigur mit dem Stadtraum repräsentiert wird. Als spätviktorianische Antwort auf die Verunsicherung der Gesellschaft über Urbanisierung und städtische Überbevölkerung ist der Detektiv bei Conan Doyle als Überwachungsinstanz entworfen, die das Labyrinth der Stadt17 und damit auch die Komplexität urbanen Lebens durchdringt (vgl. Sugarman, xi): »If we could fly out of that window hand in hand, hover over this great city, gently remove the roofs and peep in at the queer things which are going on […] it would make all fiction with its conventionalities and foreseen conclusions most stale and unprofitable.« (»A Case of Identity« [1891]; Conan Doyle 469) In diesem imaginären Flug über die Stadt deckt der Detektiv die Geheimnisse des urbanen Alltags metaphorisch auf.18 Die »absolute, lückenlose Transparenz« der Ereignisse bedarf der alles erfassenden Perspektive des Detektivs.19 In »The Red-Headed League« erklärt Holmes seine Eroberung der Stadt über seine Raumkenntnis: »It is a hobby of mine to have an exact knowledge of London.« (Conan Doyle 460-461) Es ist auch dieses Wissen, dass ihm die gesellschaftlich fragwürdigen Stadtgebiete zugänglich macht.20 In Sherlock verfügt der Detektiv über dieses exakte Raumwissen in Form mentaler Stadtpläne. Als der Detektiv den kürzesten Weg berechnet, um den Täter im Stadtverkehr zu stellen, werden seine Gedankengänge mit der Ästhetik eines Navigationsgeräts vermittelt: Die mentale Konzeption der Route wird als Streckenmarkierung auf einer elektronischen Karte dargestellt. Während Holmes im Kinofilm in Action-Manier durch die viktorianischen Gassen jagt, hetzt der aktuelle Sherlock technisch orientiert durch die Straßen Londons. Und während die geistigen Fähigkeiten Holmes’ in Sherlock Holmes nicht ohne seine Physis denkbar sind, gilt in Sherlock, dass das mentale Vermögen des Detektivs nur in der Abhängigkeit zu moderner Technik darstellbar

17 Vgl. Susan Elizabeth Sweeney, »The Other Side of the Coin in Arthur Conan Doyle’s ›The Red-Headed League‹«, Sherlock Holmes: Victorian Sleuth to Modern Hero, hg. Charles R. Putney, Joseph A. Cutshall King und Sally Sugarman, Lanham: The Scarecrow Press, 1996, 56. 18 Vgl. Laurie Langbauer, »The City, the Everyday, and Boredom: The Case of Sherlock Holmes«, Differences: A Journal of Feminist Cultural Studies 5.3 (1993): 95. 19 Gabriela Holzmann, »Von Morden und Medien: Wie neue Medien ein altes Genre immer wieder neu erfinden«, MedienMorde: Krimis intermedial, hg. Jochen Vogt, München: Wilhelm Fink, 2005, 16. 20 Vgl. z.B. Caroline Reitz, Detecting the Nation: Fictions of Detection and the Imperial Venture, Columbus: Ohio State UP, 2004, 76.

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wird. Die Repräsentationen des Detektivs übernehmen, wie gezeigt, die jeweiligen visuellen und narrativen Strukturen.

»S OME

MATERIAL BASIS ON WHICH TO START 21 OUR SPECULATION « Beide Adaptionen greifen in ihrer Aktualisierung der Figur auf Erfahrungen der Gegenwart zurück. Im einen Fall ist es das Action-Unterhaltungsgenre, im anderen Fall die zunehmende Durchdringung der Alltagserfahrung mit den Strukturen technischer Kommunikation. In der Kombination mit bekannten Figurenkonventionen Sherlock Holmes’ entstehen neue Figurenentwürfe, deren Innovativität in der Neuverknüpfung verschiedener, an sich nicht innovativer BedeutungsCluster liegt. Die Neuheit bezieht sich folglich nicht auf die Darstellungsweise an sich, sondern auf die spezifische Neuinszenierung der Figur in Bezug auf ihre Repräsentationsgeschichte. Dabei gewinnen einzelne klassische Elemente der Figur durch verändertes kulturelles Interesse an Bedeutung bzw. werden Konventionen in neue Kontexte gestellt. Ähnlich formuliert es auch das Selbstverständnis der Produktion Sherlock Holmes: »We’ve upped things that have been previously marginalized […] We tried to be true to [Conan Doyle’s] vision, so in a way this film might be more authentic than previous productions« (American Cinematographer 61), bringt Regisseur Guy Ritchie den spezifischen Authentizitätsanspruch zum Ausdruck. Wo der Film die Figur als Actionheld inszeniert, bezieht er sich auf Textstellen bei Conan Doyle, die den Detektiv in ähnlichen Bedeutungsbereichen abbilden. So verschafft Holmes sich in The Sign of the Four erst durch die Erwähnung seines einstmaligen Erfolgs als Amateurboxer Zutritt zu der mit exotischen Kuriositäten ausgestatteten Pondicherry Lodge (Conan Doyle 116). Und in »The Empty House« räumt Holmes seine Kenntnisse der Kampfkunst »Baritsu« ein (Conan Doyle 853). Dieser Figurenaspekt ist im Text und in der kulturellen Wahrnehmung der Figur immer von untergeordneter Bedeutung gewesen. Und auch wenn die Produktion anhand dieser Marginalien für die Authentizität der eigenen Schwerpunktlegung argumentiert, präsentiert sie allein schon im Umfang ihrer Actionszenen und der Betonung des Körperlichen eine Neuerung in der Figurengestaltung. Aber selbst der Anspruch an Werktreue zu Conan Doyles Erzählungen, den Ritchie formuliert, bleibt fraglich. Denn nicht zuletzt in der Konzeption des Mannes widerspricht der Film viktorianischen Vorstellungen von einem männli-

21 »The Hound of the Baskervilles« [1901]; Conan Doyle, Sherlock Holmes, 201.

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chen Körper, der sich gegen äußeres Eindringen verwahrt: »male bodies were a closed system.«22 Der Anachronismus wird sichtbar, wo Sherlock Holmes den Körper des Detektivs mit allen biologischen Details darstellt: verschwitzt, außer Atem, blutend. Der durchtrainierte Holmes kämpft mit nackten Fäusten und bloßem Oberkörper. Er hat keine Berührungsängste oder Probleme damit, Objekt der Blicke einer grölenden Zuschauermenge zu sein. Sein Körper ist korrumpiert: Ihm fehlt nicht nur oft der Schutz formeller Kleidung, als sicheres Zeichen für seinen ›offenen‹ Körper sind die Verletzungen, die er sich zuzieht. Letztendlich nimmt ihm Irene Adler den Rest körperlicher Selbstkontrolle, betäubt ihn und fesselt ihn unbekleidet an ihr Hotelbett. Dieser Holmes ist nicht der »bodyless character«23 der spätviktorianischen Erzählungen. Er ist Blickobjekt der filminternen- und externen Publika und Manipulationsobjekt in den Händen seiner Gegner. Wenn in den gegenwärtigen Adaptionen die körperliche Seite der Figur betont wird, ist es also keine relative Umsetzung eines kanonischen Merkmals, das in bisherigen Darstellungen lediglich gezielt marginalisiert wurde. Vielmehr werden aus gegenwärtigen Interessen Minimalaspekte der Figur aufgewertet. Das heißt nicht, dass das Vorgehen der Adaptionen in irgendeiner Form unzulässig wäre. Aber die Argumentation, darin eine Nähe zu einem positiv als ‚original‹ markierten Werk zu konstruieren, muss an sich als Merkmal und Strategie, als kultureigenes Interesse der Repräsentation verstanden werden. Darüber hinaus funktioniert, wie auch Peter Brooker feststellt, postmoderne Intertextualität nicht nur in chronologischer Richtung; neue Darstellungsweisen prägen ihrerseits die Wahrnehmung des früheren Werks und, in diesem Fall, der neu betonten Figurenaspekte in der gegenwärtigen Kultur.24

»T HE

GAME IS AFOOT «

25

Der Film Sherlock Holmes baut die Figur im Kontext verschiedener generischer Konventionen auf: Aspekte des Actionkinos und der Detektiverzählung, des

22 Johanna Bourke, »Sexual Violence, Marital Guidance, and Victorian Bodies: An Aesthesiology«, Victorian Studies 50.3 (2008): 426. 23 Tom Bragg, »Becoming a ›Mere Appendix‹: The Rehabilitated Masculinity of Sherlock Holmes«, The Victorian Newsletter 116 (2009): 4. 24 Vgl. Peter Brooker, »Postmodern Adaptation: Pastiche, Intertextuality and ReFunctioning«, The Cambridge Companion to Literature on Screen, hg. Deborah Cartmell und Imelda Whelehan, Cambridge: Cambridge UP, 2007, 107-120. 25 »The Abbey Grange« [1904]; Doyle, Sherlock Holmes, 658.

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Kriminalgenres, der romantischen Komödie u. v. m. sind in der Darstellung zu erkennen. In der Vermischung der Konventionen wird letztlich keine umfassend bedient. Der Umgang mit der ursprünglich mit ihrem Genre fest verbundenen Figur des Detektivs wird dabei spielerisch, bisweilen ironisch. Solch eine Erzählhaltung beschreibt auch Jim Collins in einem Aufsatz zum postmodernen Genrefilm: Als »eclectic, hybrid genre film« (Collins 278) nutzt Sherlock Holmes die entstehenden Dissonanzen in unterhaltender, humoristischer Weise. Dieser spielerische Eklektizismus bestimmt die Haltung der Adaptionen zur Kultfigur und ihrem literarischen Ursprung. In Sherlock Holmes werden kleinste Textreferenzen für den gewünschten Authentizitätseffekt herangezogen. Anspielungen referieren auf die lange Tradition der Figurendarstellung, wenn etwa Watsons beiläufiger Einwurf »I like the hat« auf den üblichen Deerstalker-Hut verweist. »I just picked it up« (00:03:13), verrät Holmes und bezieht sich damit sowohl auf die tatsächliche Filmhandlung als auch auf die Abgrenzung von der eigenen Darstellungsgeschichte. Die irreverente Grundhaltung im Verhältnis aktueller Figurenadaptionen zu den Konventionen des Kanons und der Kulturfigur wird deutlich: Derartige Anspielungen werden im Film immer humorvoll und spielerisch inszeniert. Oftmals gründet sich die Haltung auf der offensichtlichen Diskrepanz der Neuinszenierung des Traditionellen zu seiner ursprünglichen Funktion. Gerade Sherlock Holmes setzt kanonische Zitate immer wieder entgegen ihrer ursprünglichen Aussage ein. Wenn der Detektiv seinen Freund mit den Worten lobt: »You have a grand gift of silence, Watson […] It makes you quite invaluable as a companion« (00:21:19), bezieht er sich in der Kurzgeschichte »The Man With the Twisted Lip« (Conan Doyle 526) ernsthaft auf dessen Fähigkeiten als Zuhörer. In Sherlock Holmes aber will er mit dem ironischen Einsatz der Worte erzwingen, dass Watson aus seinem Zustand beleidigten Schweigens ausbricht. Wenig kümmert es die Darstellung, dem Kult-Detektiv ernsthafte Reverenz zu erweisen. Stattdessen genießt sie den freien Umgang mit der Vorlage und spielt ihn zu komischen und Unterhaltungszwecken aus. Dennoch gerät Sherlock Holmes nicht zur Parodie: Sein überlegener Genius wird zwar mit der Lächerlichkeit anderer Seiten der Figur kontrastiert, die grundsätzliche Treffsicherheit und Überlegenheit seiner detektivischen Fähigkeiten bleibt aber immer gewährleistet. Bis auf diesen Punkt aber gibt die Adaption der humorvollen Darstellung des Holmes’schen Privatlebens und seines streckenweise armseligen Versagens auf zwischenmenschlicher Ebene viel Raum. Im Vergleich scheint sich die Fernsehproduktion Sherlock als reverentes Pastiche der Figurenvorlage zu geben. Obwohl der Kinofilm Sherlock Holmes visuell einen resoluten Viktorianismus beschwört, funktioniert die Fernsehserie viel

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eher als Hommage an die literarische Vorlage, denn sie ist von strukturellen Parallelen zu den Erzählungen Conan Doyles geprägt. So ist die Figureneinführung in Sherlocks »A Study in Pink« eine weitgehende Transkription der literarischen Exposition in den Kontext des 21. Jahrhunderts. Die Serie öffnet wie der erste Roman mit einem Verweis auf den jeweils zeitgenössischen Afghanistan-Krieg, über einen gemeinsamen Freund lernt John Watson Sherlock Holmes kennen, der im wissenschaftlichen Kontext eines Labors eingeführt wird und dort seine beeindruckenden deduktiven Fähigkeiten unter Beweis stellt usw. Dass die TVAdaption all dies in modernen Bildern umsetzt, ist weniger ein Widerspruch als eine Aussage über die Grundhaltung der Adaption zu ihrer Vorlage: Sie erklärt die problemlose Übertragbarkeit des Kanons auf heutige Gegebenheiten und damit die Relevanz der Figur für die gegenwärtige Kultur. So schreibt Sherlock der Figur nicht nur aktuelle Aussagekraft zu, sondern positioniert die viktorianische Vorlage auch in unmittelbarer kultureller Nähe zur Gegenwart. Doch auch Sherlock inszeniert seinen Protagonisten bisweilen mit despektierlichen Zwischentönen – und verwahrt sich so gegen mögliche nostalgische Untertöne. In der Infragestellung der Seriosität des literarischen Detektivs sind ähnliche Ansätze zu erkennen, wie im Kinofilm, der Holmes beispielsweise unrasiert und derangiert über den Boden eines chaotischen Baker-StreetApartments kriechen lässt. In seinen Stimmungsschwankungen wird der Detektiv in der Serie bisweilen infantil beleidigend und rätselhafte Verhaltensauffälligkeiten, etwa wenn er mit einer Gerte auf eine Leiche einschlägt, werden dem Zuschauer mittels harter Schnittfolgen unvermittelt vorgesetzt. Auch Sherlock bevorzugt, sicher zum Teil auch medial bedingt, wie Sherlock Holmes die unmittelbare Umsetzung im Text nur zitierter Passagen in spektakuläre physische Handlung, denn solch ein Experiment wird im Kanon lediglich in einer Randbemerkung erwähnt. Wenn die Serie auch wesentlich mehr Interesse an den alten Strukturen zeigt und diese mit heutigen Entsprechungen aktualisiert, ist auch in dieser Inszenierung eine spielerische Neigung deutlich zu erkennen. Die humorlose, quasimisogyne Haltung des viktorianischen Detektivs, wird in Sherlock in komische Szenen umgesetzt, zum Beispiel als er sich in der Folge »The Blind Banker« ungefragt dem Date von John und Sarah anschließt und das nicht fallbezogene Interesse des Freundes an diesem Abend partout nicht nachvollziehen will. Sherlock bezeichnet sich selbst als »high functioning sociopath« (»A Study in Pink« 00:57:55) und räumt sein Desinteresse an sozialen Bindungen und Umgangsregeln ein. In vielerlei Hinsicht wird er als hochbegabtes Kind inszeniert: die unverhohlene Freude am Detektivspiel, das fehlende romantische Interesse, die Vereinnahmung durch den Fall. Inspektor Lestrade macht es explizit: »Well,

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I’m dealing with a child.« (00:57:06) Dieses Profil teilt Sherlock mit der neuen Generation von Actionhelden: »strong, classical masculinity might already be gone from the movie screens. […] the new generation of action stars are boys, rather than men. [Despite their age] there is still a boyishness about them« (Donovan 183). Diese Jungenhaftigkeit prägt auch die Beziehung zu seinem ›Blogger‹ und Mitbewohner Dr. Watson, die generell als Erfolgsfaktor der Kultfigur verstanden wird.26 Gemeinsam bilden die Freunde die tragende Figurenkonstellation: »the central love interest of the stories is really the friendship between Holmes and Watson.«27 In Sherlock stürzen sie sich als unreife Gefährten mit unanständiger Freude in den Fall: »Look at you all happy – it’s not decent« (»A Study in Pink« 00:17:29), tadelt die mütterliche Mrs. Hudson. Auch das Alter der aktuellen Holmes-Figuren spielt eine Rolle; während Holmes in älteren filmischen Darstellungen meist von reifen bis alten Darstellern gespielt wird, sind sowohl in der aktuellen TV-Serie als auch im Kinofilm Sherlock Holmes und Dr. Watson jugendliche Typen. Der Schlagabtausch der Freunde wird in den neuen Adaptionen zu einem zentralen Unterhaltungselement der Filmhandlungen. Watson ist viel mehr als einfacher Chronist: Er ist Freund und Konkurrent, Erziehungsbeauftragter, Partner und Therapeut gleichermaßen und Holmes’ Bindeglied zur Gesellschaft. Er übernimmt zwar weiterhin auch die Funktion, den Detektiv an das Publikum zu vermitteln, statt jedoch wie für das viktorianische Publikum seine Exzentrizität verständlich zu machen28, relativiert er für ein gegenwärtiges Publikum lediglich die Genialität des Detektivs. Ironisch bricht er Holmes oft genug auf seine fehlbare Menschlichkeit herunter. In Sherlock Holmes tut er dies etwa in seinen spöttischen Kommentaren zur Dysfunktionalität der Beziehung zwischen Holmes und Irene; in Sherlock erfüllen die zahlreichen Missverständnisse im Zusammenleben der Freunde diese Funktion, weil sie meist daraus resultieren, dass Watson

26 Vgl. z.B. Werner von Koppenfels. »Mysterium und Methode: Sherlock Holmes als Heldenfigur des Fin de siècle«, Die ’Nineties: Das englische Fin de siècle zwischen Dekadenz und Sozialkritik, hg. Manfred Pfister und Bernd Schulte-Middelich, München: Francke, 1983, 178. 27 James W. Maertens, »Masculine Power and the Ideal Reasoner: Sherlock Holmes, Technician Hero«, Sherlock Holmes: Victorian Sleuth to Modern Hero, hg. Charles R. Putney, Joseph A. Cutshall King und Sally Sugarman, Lanham: The Scarecrow Press, 1996, 311. 28 Vgl. Alma Elizabeth Murch, The Development of the Detective Novel, Rev. Ausg., London: Peter Owen, 1986, 177f.

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sich an dem strikt rationalen, aber eben völlig unsozialen Verhalten Holmes’ reibt. CHAINS OF EVENTS , 29 WORKING THROUGH GENERATIONS «

»W ONDERFUL

Die Exzentrizität des Detektivs ist in den aktuellen Adaptionen nicht mehr vermittlungsbedürftig. Vielmehr orientieren sich gegenwärtig viele erfolgreiche Medienfiguren an Holmes’ Unkonventionalität: Die TV-Serie House M.D. (2004-2012) etwa basiert auf einer solchen exzentrischen Figur. House ist populär, eben weil er rücksichtslos ist, bewusst Erwartungen enttäuscht und nur den eigenen Regeln folgt. Er ist zäh, fehlerbehaftet und oft sogar ungepflegt – ähnlich wie der Protagonist in Sherlock Holmes. Er ist überdurchschnittlich intelligent, unkonventionell und manipulativ. Letztlich ist House die Umsetzung der Phantasie, gesellschaftliche Erwartungen ungestraft brechen zu können. Das macht ihn zur Ikone einer individualistischen Gegenwart. Interessant ist House für die aktuelle Darstellung der Holmes-Figur gerade deshalb, weil der ewig aneckende, medikamentenabhängige Arzt seine Charakterzüge ganz unverhohlen aus der Tradition der Holmes-Figur entwickelt hat. Den genialen, aber emotionsarmen viktorianischen Detektiv überzeichnet die TV-Serie in der Folge einer langen Reihe exzentrischer Ermittlerfiguren im Detektiv- und weiteren Kriminalgenre zum brillanten Soziopathen. Die Arzt-Serie ist letztlich nichts weniger als eine Hommage an die Figur Conan Doyles. Beginnend bei der Namensähnlichkeit (Holmes/House, Dr. Watson/Dr. Wilson) sind in der Serie zahllose Hinweise versteckt (Rebekka Adler als eine seiner Patientinnen, seine Hausnummer 221b, seine Erwähnung eines »second edition Conan Doyle« usw.). Ähnliches gilt aber für die Diagnose-Methodik von House, die explizit als »watching, listening, deducing« bezeichnet wird, oder in der Übernahme der narrativen Rahmung aus The Sign of the Four (1890) in der Folge »Who’s Your Daddy?«, in der der Medikamentenkonsum House’ als Substitut für die Stimulation durch den Fall inszeniert wird. House und ähnliche Typen in international erfolgreichen Serienformaten, die wie Monk (2002-2009) oder CSI – Crime Scene Investigation (2000-) zumeist zum Kriminalgenre gehören, verweisen auf das Interesse gegenwärtiger Kultur an den exzentrischen Qualitäten des Detektivs, die in der individualistischen westlichen Gesellschaft geschätzt werden. Vor allem die US-amerikanische Film- und Fernsehkultur ist von den Sherlock-Holmes-Typen durchdrungen:

29 »A Case of Identity« [1891]; Conan Doyle, Sherlock Holmes, 469.

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»The shadow of Sherlock Holmes lurks behind all these USA characters, and the creators have been frank about exploiting the paradigm of Conan Doyle’s detective.«30 Die Figuren halten das Andenken des exzentrischen Detektivs in der gegenwärtigen Kultur auf ihre Weise wach. Und ihre Popularität geht dabei so weit, dass heutige Darstellungen des Detektivs kaum vermeiden können, sich quasi inzestuös auf die eigenen ›Kinder‹ zu beziehen. Die Permanenz des Typus in der Kulturproduktion hat Einfluss auf die heutige Darstellung und Wahrnehmung Sherlock Holmes’. Das wird auch in der Übernahme von Ästhetik und visuellen Erzählstrukturen der Serien deutlich. In Sherlock wird die Spurensuche mit hypermoderner CSI-Ästhetik inszeniert: Miteinander reagierende Substanzen, mikroskopisch vergrößerte Proben usw. werden in typische Laborszenen montiert. Entsprechende visuelle Effekte bestimmen auch die Darstellung der Fähigkeiten des Detektivs in Sherlock Holmes. Bedeutsame Details in einer Laborszene werden beispielsweise als abrupter Fokus auf die Objekte dargestellt, die zusätzlich in der Manier der CSI-Serien ›belebt‹ werden; die kurzen Analepsen zeigen im Zeitraffer den Übergang des Beweisstücks in den aktuellen Aggregatzustand. Diese schnellen Montagesequenzen bilden die Wahrnehmungswelt des Detektivs ab. Sie sind ein deutlicher Kontrast zu den ruhigen Ausführungen des Detektivs im Kanon. Auch Sherlock bemüht wie beschrieben immer wieder ähnliche raffende Darstellungsweisen: die Einblendung von Gedanken als Text im Bild verkürzen die nötigen Erläuterungen und inszenieren den Vorgang mit Spannung. Die Darstellung von Holmes’ Wahrnehmung schöpft ein Repertoire filmischer Mittel aus: Rückblenden, Zeitraffer, Detailaufnahmen usw. sind Darstellungsweisen, die der menschlichen Wahrnehmung eigentlich verborgen sind und in den Texten kaum Entsprechungen finden. Auch die Plausibilisierung dieser erhöhten Wahrnehmung in Sherlock Holmes wird unter Verwendung eines ähnlichen Montagestils inszeniert. Der Kinofilm diagnostiziert mit filmischen Mitteln bei Holmes eine Art Wahrnehmungsstörung, die sowohl seine besonderen Fähigkeiten als auch seine soziopathischen Züge erklärt: Nachdem der Detektiv in seinem privaten Raum in der Konfrontation mit Watson als Einzelgänger etabliert wurde, tritt er in den sozial wesentlich komplexeren Raum eines Restaurants ein. Während Holmes bei seiner Arbeit alle Sinne einsetzt, um Daten zu sammeln, wird ihm dies hier zum Problem. Visuelle und auditive Reize strömen ungefiltert auf seine geschärften Sinne ein. Die Montage zeigt Holmes’ registrierenden Blick durch den Wechsel von Nahauf-

30 J. Madison Davis, »Mr. Monk & The Pleasing Paradigm«, World Literature Today 83.3 (2009): 11.

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nahmen seines Gesichts und ›sprechender‹ Einzelheiten im Raum. Der sich beschleunigende Schnitt, das zunehmende Dröhnen der Umgebungsgeräusche (Stimmen, Gelächter, Musik), die Kamerafahrt auf das Gesicht der Figur – alles deutet auf das Übermaß an Eindrücken hin, denen sich der Detektiv ausgesetzt sieht. Seine Beobachtungsgabe wird so als Überempfindlichkeit inszeniert, als instinktiv wahrgenommener, nicht-endender Strom von Eindrücken. Der Film stellt bei Holmes eine neurologische Auffälligkeit fest und gibt damit eine ›wissenschaftliche‹ Erklärung für das Ausnahmetalent des detektivischen Blicks – so wie Holmes selbst immer rationale Ursachen für das Besondere anführt. Auch Sherlock genießt eine ähnlich überzeichnete Diagnose der detektivischen Eigenschaften, widersetzt sich dabei aber in der Umkehr jeglichem rationalistischen Anspruch. Während Sherlock Holmes die Thematisierung von Übernatürlichem an die Ästhetik und Thematik der okkulten Geheimsekten von erfolgreichen Medienformaten wie The Da Vinci Code (2003) anlehnt, ohne sich die darunterliegenden thematischen Diskurse wirklich anzueignen, nimmt die TV-Serie sich in diesem Bereich rücksichtslos spielerische Freiheiten. In einer Szene fährt Sherlock den schweigenden Lestrade an: »Shut up.« Der Inspektor verteidigt sich: »I didn’t say anything!« Mit der Antwort Sherlocks stilisiert die Adaption den Detektiv außerhalb rationaler Regeln zum Telepaten: »You were thinking. It’s annoying.« (»A Study in Pink« 00:24:18) Es ist in solchen Details, dass sich die Adaption aus der Reverenz an die Vorlage befreit und ihren eigenen Regeln folgt.

»N OTHING SO UNNATURAL

AS THE COMMONPLACE «

31

Wo die Filme die problematische Sexualität des klassischen Sherlock Holmes’ (vgl. Bragg 3) thematisieren, tun sie dies im Kontext modernen GenderKonzepte und aktueller Beziehungsentwürfe. In der TV-Adaption wird der Verdacht der Homosexualität aufgegriffen, der auch in anderen Adaption zitiert wird, etwa im Film The Private Life of Sherlock Holmes (1970). Im aktuellen Sherlock werden die Freunde unter Protest des konventionelleren John von anderen Filmfiguren als romantisches Paar wahrgenommen. Die Unstimmigkeit zwischen Johns versicherter Toleranz nicht-heterosexueller Beziehungsentwürfe und dem vehementen Dementi, sobald der Verdacht auf ihn selbst fällt, wird in seiner Reaktion deutlich herausgespielt. Sherlock hingegen zeigt in beiderlei Hinsicht schlichtes Desinteresse. Der aktuelle Kinofilm Sherlock Holmes thematisiert den Verdacht in der filmischen Welt selbst nicht; dennoch nutzt er die in der Figur

31 »A Case of Identity« [1891]; Conan Doyle, Sherlock Holmes, 469.

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angelegten Ambivalenzen. Die Beziehung von Sherlock Holmes und Dr. Watson lebt in der Adaption von den zweideutigen Wortwechseln, die die Beziehung mit der stereotypen Problematik eines ›alten Ehepaars‹ ausstatten, inklusive bissiger Kommentare zu charakterlichen Fehlern und gegenseitiger Fehlverhaltensvorwürfe. Die vor allem homosozialen, nur selten tatsächlich homoerotischen Zwischentöne, die in dieser Konstellation entstehen, sind ein wichtiger Faktor für die humorvoll-ironische Inszenierung des Detektivs in Sherlock Holmes. Die zweite wichtige Paarung des Films, Holmes und Irene Adler, spielt Aussagen zur gegenwärtigen Rollenverteilung von Mann und Frau durch. Zwar bestätigt der Film letztlich einen konservativen Entwurf, auf dem Weg dahin wird die Verunsicherung männlichen Selbstverständnisses angesichts veränderter weiblicher Identität Bezug genommen. So hat zu Beginn der Film-Beziehung Irene die Oberhand über den Mann. Sie dringt ungefragt in die Privatsphäre des Baker-Street-Apartments ein. Gleichzeitig wird ihr Einfluss auf das Gefühlslebens Holmes’ deutlich, wenn die offenen Zeichen für ihre Präsenz in dem Raum bei ihm Nervosität auslösen: ein fotografisches Portrait von ihr versucht er zu verbergen. In hier sehr weiblicher Kleidung spielt sie ihre Reize aus; am Höhepunkt ihres Triumphes betäubt sie Holmes und lässt ihn gefesselt in ihrem Hotelzimmer zurück. Als unabhängige, geschiedene Frau mit eigenen ›beruflichen‹ Interessen als Lockvogel in Moriartys Auftrag verkörpert sie im Kontext heutiger weiblicher Lebensentwürfe die Anfechtung männlicher Kompetenzbereiche und sich daraus ergebender Verunsicherung des Mannes, die auch für dessen Rollenentwurf im Actionfilm von Bedeutung sind (vgl. Donovan 136f.). Zum Ende wendet sich das Machtgefüge zugunsten Holmes’ und bestätigt eine konservative Rollenverteilung. In diesen späteren Szenen verweist Irene mit nun eher männlicher Kleidung auf ihre unangemessene Rollenaneignung; sie ist letztlich auf die Rettung durch die männliche Hauptfigur angewiesen. Die anfängliche emotionale Verunsicherung des Detektivs wird am Ende des Films zum Triumph männlicher Souveränität, wenn Holmes seine Gefühle zwar einräumen kann, aber dennoch dem rational geleiteten Einzelgängertum des Detektivs verpflichtet bleibt. Die TV-Serie zeigt sich an dieser Stelle als die eigentlich weitergehende. Ein romantischer Handlungsstrang für Sherlock wird im Scheitern der Flirtversuche seiner Kollegin Molly ausgeschlossen (zumindest in der ersten Staffel). Anstatt hergebrachte Rollenentwürfe zu bestätigen, reflektiert Sherlock die Ambivalenzen postmodernen Genderverständnisses vor allem in der Figur Jim Moriartys, der zunächst als fester Freund Mollys auftritt. Allein der Detektiv jedoch liest die Zeichen und identifiziert ihn als homosexuell:

»I T ’ S THE FUTURE, W ATSON «

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Tinted eyelashes, clear signs of taurine cream around the frown lines, those tired, clubber’s eyes. Then there’s his underwear […] visible above the waistline – very visible, very particular brand. That plus the extremely suggestive fact that he just left his number under this dish here […].32

Die Eröffnungen Jims in der Schlussszene offenbaren diesen Holmes-typischen Erkenntnisstrang jedoch als fehlerhaft: »Did I really make such a fleeting impression? But then, I suppose, that was rather the point.« (»The Great Game« 01:22:29) Jim gibt seine wahre Identität preis und markiert den früheren Auftritt als Inszenierung einer ihm nicht eigenen Genderidentität: »Although I have loved this – this little game of ours. Playing Jim from IT. Playing gay. Did you like the little touch with the underwear?« (01:23:58) Es ist eben an solchen Stellen postmoderner Ambivalenz gesellschaftlicher Zuschreibungen, an denen Sherlock mit seinen kombinatorischen Fähigkeiten scheitert – und nur an diesen. Selbst wenn sich die Lösung eines Rätsels verzögert, bleibt die Zuverlässigkeit seine Fähigkeiten ansonsten grundsätzlich unumstritten. Wo der Protagonist in Sherlock Holmes mit seiner analytischen Beobachtungsgabe allein im Zwischenmenschlichen scheitert – in seiner eifersüchtigen Überreaktion misslingt ihm die Interpretation seiner Beobachtungen an einer einzigen Stelle: bei der Beurteilung von Watsons Verlobter Mary Morstan – versagt er in der TV-Adaption allein in der Genderfrage, in der seine Fehlinterpretationen erst durch andere Figuren kompensiert werden.

»[N OT ]

A DIFFICULT MAN TO LIVE WITH «

33

Weder Sherlock Holmes noch Sherlock zeigen einen fehlerlosen Detektiv. Und auch wenn die Erzählerstimme im Kanon die fast übernatürlichen Fähigkeiten des Detektivs in hyperbolischen Technikmetaphern idealisiert, gehen nicht einmal Conan Doyles Erzählungen von einer unbesiegbaren Figur aus, z. B. in »A Scandal in Bohemia«: »And that was how […] the best plans of Mr. Sherlock Holmes were beaten by a woman’s wit.« (Conan Doyle 448) Doch selbst dieser relativierte Meisterdetektiv kann im heutigen Kontext nicht glaubhaft erzählt werden. Aktuelle Adaptionen bedienen ihrer Zeit eigene Trends kultureller Repräsentation von Authentizität: Sie reflektieren eine Kultur, in der Normalbürger zum Star von Reality-TV-Formaten aufsteigen und Authentizität mit der öffent-

32 Sherlock, »The Great Game« (2010), Hartswood Films/BBC Wales u.a. [DVD] München: Polyband & Toppic/WVG, 2011, 00:19:23. 33 »A Study in Scarlet« [1887]; Conan Doyle, Sherlock Holmes, 18.

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lichen Darstellung des Privaten, wie Gefühlen oder dem eigenen Körper, verbunden wird.34 Vor allem der Sherlock Holmes im Kinofilm von 2009 bedient von quasi-dokumentarischen Programmen geprägte Sehgewohnheiten: den direkten Einblick in die Privatsphäre eines Protagonisten mit einer als konfliktreich inszenierten Emotionalität. In den Texten expliziert die Erzählung privater Momente noch das exzentrische Genie des Detektivs und seine vollständige Ausrichtung auf professionelle Interessen. Ist er nicht mit einem Fall oder seinen Studien beschäftigt, wird vor allem von lethargischen Drogentrips und ziellosen Ausweichhandlungen wie den Schüssen in die Wand (»The Musgrave Ritual«) berichtet. In Sherlock Holmes hingegen wird die Inszenierung des Privaten zum zentralen Element. Tatsächlich setzt die professionelle Ermittlung erst nach einem Viertel der Erzählzeit ein; bis dahin sind Holmes’ Beobachtungen und ›Ermittlungen‹ vor allem von persönlichem Interesse an Irene getrieben. Als zweiter Faktor des Privatlebens ist die Entwicklung der Figurenkonstellation Holmes/Watson von zentraler Bedeutung, in der die Ablösung der homosozialen Beziehung mit der oben beschriebenen allmählichen Reifung der konventionellen heterosexuellen Männlichkeit der Figur korrespondiert. Die persönlichen Motive und die Verhandlung der privaten Emotionalität Holmes’ bleiben bis zum Schluss Teil der Filmhandlung. So ist der Detektiv etwa für seinen Erzfeind angreifbar, wo seine emotionalen Schwachpunkte liegen: »Your job was to manipulate Holmes’s feelings for you« (01:23:28), erklärt Moriarty Irene Adler. Fall und Privatleben Holmes’ sind im Film nicht mehr zu trennen. In Sherlock wird für den Detektiv zwar keine entsprechende Emotionalität inszeniert, dennoch wird die Figur ›privatisiert‹: Mit zunehmender Deutlichkeit sind die Fälle der ersten Staffel aus der persönlichen Rivalität Moriartys motiviert. In der Rivalität zu seinem Bruder Mycroft werden Einblicke in die private Vergangenheit der Figur, wie Anspielungen auf die problematischen Weihnachtsfeiern der Familie Holmes, gegeben. Und auch die absurden Streitigkeiten zwischen John und Sherlock über Fragen des Zusammenlebens rücken die private, alltägliche Seite von Sherlocks Leben in den Fokus, mehr noch als im Kanon, wo die charakterlichen Merkwürdigkeiten die exzentrische Professionalität unterstreichen, statt ihr wie in der TV-Serie einen privaten Gegenpol zu setzen.

34 Vgl. Laura Grindstaff, »Self-Serve Celebrity: The Production of Ordinariness and the Ordinariness of Production in Reality Television«, Production Studies: Cultural Studies of Media Industries, hg. Vicki Mayer, Miranda J. Banks und John Thornton Caldwell. London: Routledge, 2009, 71f.

»I T ’ S THE FUTURE, W ATSON «

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»A FEW

WORDS MAY SUFFICE TO TELL THE LITTLE 35 THAT REMAINS « Die aktuellen Sherlock-Holmes-Adaptionen sind Appropriationen der Figur für ein gegenwärtiges Publikum. Individualistische und irreverente Haltungen prägen sie wie auch aktuelle Konzepte gesellschaftlicher Kategorien und mediale Sehgewohnheiten. In diesem Kontext werden Bezüge zum Kulturverständnis und der kanonischen Vorlage der Figur keineswegs ausgeklammert. Sie werden vielmehr instrumentalisiert und über die Herstellung von Querverbindungen neue Bedeutungen für traditionelle Merkmale generiert. In der Durchdringung der Kultur mit der Figur Sherlock Holmes kommt es dabei zu Kurzschlüssen, zu Rückbezügen der Figur auf sich selbst durch einflussnehmende Medienfiguren, die selbst in der Tradition Sherlock Holmes’ stehen. Die gegenwärtige Umschreibung der Figur in Filmadaptionen wie Sherlock Holmes oder der Fernsehserie Sherlock ist ein spielerischer Intertext, der von der Aneignung von Konventionen lebt und so vor allem moderne Reinkarnationen des Detektivs schafft.

L ITERATUR Bourke, Johanna. »Sexual Violence, Marital Guidance, and Victorian Bodies: An Aesthesiology«. Victorian Studies 50.3 (2008): 419-436. Bragg, Tom. »Becoming a ›Mere Appendix‹: The Rehabilitated Masculinity of Sherlock Holmes«. The Victorian Newsletter 116 (2009): 3-26. Brooker, Peter. »Postmodern Adaptation: Pastiche, Intertextuality and ReFunctioning«. The Cambridge Companion to Literature on Screen. Hg. Deborah Cartmell und Imelda Whelehan. Cambridge: Cambridge UP, 2007. 107120. Collins, Jim. »Genericity in the Nineties: Eclectic Irony and the New Sincerity«. The Film Cultures Reader. Hg. Graeme Turner. London: Routledge, 2002. 276-290. Conan Doyle, Arthur. Sherlock Holmes: The Complete Stories. London: Wordsworth Editions, 2006. Davis, J. Madison. »Mr. Monk & The Pleasing Paradigm«. World Literature Today 83.3 (2009): 11-13l. Donovan, Barna W. Blood, Guns, and Testosterone: Action Film, Audiences, and a Thirst for Violence. Lanham: The Scarecrow Press, 2010.

35 »The Final Problem« [1893]; Conan Doyle, Sherlock Holmes, 846.

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Gesellschaftliche Formation, Diskurs und Dialektik des Neuen

What’s that »New Thing«? Free Jazz and New Black Poetry between Oral Tradition and Avant-Garde Impulse D ENNIS B ÜSCHER -U LBRICH

Anybody’s music is made up of a lot of things that are not musical. Music is an attitude, a group of symbols of a way of life, whether you’re conscious of it or not … and of course, it naturally reflects the social and economic and educational attitudes of the players. And that’s why the fools don’t think I play jazz. CECIL TAYLOR The new music reinforces the most valuable memories of a people but at the same time creates new forms, new modes of expression, to more precisely reflect contemporary experience! […] a reflection of what the people themselves are, as well as a projection of what they struggle to become. AMIRI BARAKA The new is the longing for the new, not the new itself. THEODOR W. ADORNO

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W.E.B. DU BOIS, »THE SORROW SONGS

I NTRO Throughout the more-than-a-century-old history of jazz, there have been numerous attempts to define – in essentialist, formalist, or historicist terms – what the music is or is not. However, according to The Oxford Companion to Jazz, »[n]one of them has proven entirely successful or widely accepted, and invariably they tell us much more about the tastes, prejudices, and limitations of the formulators,« and I suggest to add ideological bias and institutional affinities to this list, »than they do about the music.«1 In his interdisciplinary study, Jazz Text: Voice and Improvisation in Poetry, Jazz and Song, Charles Hartmann offers a minimal but useful working definition: Jazz […] combines essential elements of West African music and European concert music. The elements usually picked out are African rhythm and European harmony, but the blend is richer than these stereotypes suggest.2

According to musicologist and jazz historian Ekkehard Jost, two unique features of most kinds of jazz are: first, a general emphasis on improvisation and, second, appreciation of the personality and idiosyncratic style and technique of the playing musician, which is considered more important than both the composer and the composition.3 These are indeed salient features of musical form and practice, which have come to occupy a central place in jazz historiography, scholarship, and journalism, albeit for various reasons and to different ends. The discursive and institutional strategies to construct and effectively canonize a rather straightforward »jazz tradition« – Wynton Marsalis has perhaps become emblematic of

1

Bill Kirchner, ed., The Oxford Companion to Jazz, New York: Oxford UP, 2000, 5.

2

Charles O. Hartmann, Jazz Text: Voice and Improvisation in Poetry, Jazz, and Song,

3

Cf. Ekkehard Jost, Free Jazz: The Roots of Jazz, New York: Da Capo, 1994, 23f.

Princeton: Princeton UP, 1991, 9.

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this approach4 – frequently ignore the many ruptures within the development of the art form, which has been shaped by socio-economic conditions just as much as it has developed according to what might be called its internal logic or relative cultural and aesthetic autonomy. In fact, the latter can be said to mediate the former dialectically rather than merely reflect its historical conditions of production. It is with this dialectical materialist concept in mind that I focus here on the formal dynamics of jazz innovation – what might be called its internal dialectic – concentrating on the music originally referred to as the »New Thing.«5 »New Thing« here signifies an innovative form of jazz, performed by avant-garde musicians in the 1960s – a music which later would be dubbed Free Jazz or New Black Music respectively. If we look at this phenomenon from a cultural-musicological or anthropological perspective, much of what was perceived to be ›new‹ about it proves to be ›age-old‹‹ as its musical genealogy can be traced back to prehistoric times. At the same time, the formation of this old »New Thing« involved a form of innovative cultural agency and practice resulting in significant formal innovation as long existing musical practices were synthesized with radical modernist forms6, embedded in a new socio-cultural context, and strategically employed by musical practitioners, critics and listening subjects alike to challenge musical and, by extension, socio-cultural conventions. As will be argued in what follows, the same holds true for the so-called »New Black Poetry« of the Black Arts Movement – a highly politicized »popular avant-garde« that emerged in the mid1960s.7 The protagonists of this post-war vanguard were radical AfricanAmerican poets, playwrights, and activists, who were perfectly familiar with avant-garde ›traditions‹ but whose favorite aesthetico-political paradigm was

4

Cf. Scott DeVeaux, »Constructing the Jazz Tradition,« The Jazz Cadence of American Culture, ed. Robert O’Meally, New York: Columbia UP, 1998, and Christian Broecking, Der Marsalis-Komplex: Studien zur gesellschaftlichen Relevanz des afroamerikanischen Jazz zwischen 1992 und 2007, Berlin: Broecking, 2007.

5

LeRoi Jones/Amiri Baraka, »The Jazz Avant-Garde [1961],« Black Music, New York: Quill, 1967, 69. Cf. also Ekkehard Jost, Sozialgeschichte des Jazz in de USA, Frankfurt: Fischer, 1982, and Lawrence Kart, »The Avant-Garde, 1949-1967,« The Oxford Companion to Jazz, ed. Bill Kirchner, New York: Oxford UP, 2000, 446.

6

For a social history of Bebop and partial theory of jazz modernism cf. Scott DeVeaux, The Birth of Bebop: A Social and Musical History, Berkeley: U of California P, 1999.

7

Stephen Henderson, Understanding the New Black Poetry: Black Speech and Black Music as Poetic Reference, New York: William Morris, 1973.

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(New) Black Music.8 My central thesis here is that both Free Jazz and AfricanAmerican poetry through the 1960s and 1970s were situated in a twofold dialectical field of tension between (cultural) revolution and tradition, innovation and convention. In fact, much of the artistic vitality and socio-cultural significance of Free Jazz and the New Black poetry, as will be shown with special reference to the work of Amiri Baraka, stems from the ability to reconcile oral tradition and avant-garde impulse, and thus synthesize the popular and the advanced. The freedom implied by the notion of »Free Jazz« is decidedly aesthetic and political. Yet while political ›freedom‹ for Black Americans was still to be achieved through emancipatory politics and struggle for civil rights, an aesthetic freedom from musical conventions – harmonic, tonal, and rhythmic constraints – was already being embodied by the music of Ornette Coleman, Cecil Taylor, John Coltrane, Albert Ayler, Milford Graves, Sun Ra, Archie Shepp, Pharoah Sanders, Sunny Murray, Henry Grimes, and others, many of whom were also engaged in emancipatory politics.9 More significantly, the Black Arts and Free Jazz movements constituted a decidedly aesthetico-political vanguard in the very sense suggested by Peter Bürger’s Theory of the Avant-Garde, for these musicians conceived of art as both radical critique and revolutionary praxis, as a meta-political aesthetic paradigm aimed at the »sublation of art into the praxis of life.«10 One can find in the musical, poetic, and discursive practices of the Free Jazz and Black Arts Movement avant-garde the very convergence of aesthetics, politics, and (to a certain extent) ethics that is characteristic of the historical avant-garde and brings to mind such precursors as Russian Futurism and Constructivism, Zurich and Berlin Dada, French Surrealism, and the Situationist International, all of which were criticizing not only the autonomy status and commodity fetishism of bourgeois art, but the metaphysical foundations of Western culture at large. Amiri Baraka thus boldly suggested: Perhaps one way Negroes could force institutionalized dishonesty to crumble, and its apologizers to break and run, would be to turn crazy, to bring out a little American Dada, Ornette Coleman style, and chase these perverts into the ocean where they belong.11

8

Ibid.

9

Cf. Jacques Attali’s decidedly neo-Marxist notion of a »political economy of music,« i.e. noise/music’s capacity for anticipating political and socioeconomic trans/formation(s), in Noise: The Political Economy of Music, trans. Brian Massumi, Minneapolis: U of Minnesota P, 1985.

10 Peter Bürger, Theory of the Avant-Garde, Minneapolis: U of Minnesota P, 1984, 54. 11 Amiri Baraka, Home: Social Essays, New York: Morrow, 1966, 30.

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What Bürger has termed the »sublation of art into the praxis of life« can be observed in the Free Jazz avant-garde’s objective to re-unite the spheres of everyday life and art, striving – perhaps in vain – to create a non-utalitarian cultural space outside the culture industry. This involved emphasizing the African and thus non-autonomous roots of jazz, deemphasizing the impact of European concert music (in contrast to the so-called Third Stream jazz of the same period), substituting improvising soloists by free ensemble interaction, i.e. collective improvisation, highlighting interactional Afro-Christian forms such as »call-andresponse,« and consciously dragging Black Music – as Bebop did – out of the White mainstream again, performing in coffee-shops, artist’s lofts, storefronts, church basements, and black community centers, instead of established music venues. Significantly, the majority of contemporary jazz critics and scholars, in magazines like Jazz and Downbeat considered the ›New Black Music‹ essentially hostile to jazz tradition, calling the music »anti-jazz.« Now, defiance of and opposition to tradition must be thought of as defining elements of both the historical and post-war avant-gardes. However, while the Free Jazz vanguard was indeed largely hostile to Euro-American tradition, it emphatically embraced (without hypostatizing) African-American tradition for it has always been more or less defiant of the former. Rather: the reification of Black Music through the culture industry – in the context of institutionalized racism – urged avant-garde jazz musicians to create new beginnings and a more decidedly social and political musical paradigm that involved an anti-Adornian turn to praxis.12

»N EW T HING «

AND

»C HANGING S AME «

In an early essay on »The Jazz Avant-Garde,« Baraka, then known as LeRoi Jones, asserted: »there is definitely an avant-garde in jazz today.«13 The essay identified a »burgeoning group of young men […] beginning to utilize« both the »most important ideas in formal contemporary music« and the »most important ideas contained in that startling music called bebop.«14 Elaborating on the notion of form in modern jazz, Baraka – after his own idiosyncratic fashion – emphasizes the dialectics of jazz tradition/innovation.

12 Cf. Daniel Won-gu Kim, »In the Tradition: Amiri Baraka, Black Liberation, and Avant-Garde Praxis in the U.S.« African American Review 37 (2003): 345-63. 13 Baraka, Black Music, 69. 14 Ibid.

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»Formal« music, for the jazz musician, should be ideas. Ideas that can make it easier for this modern jazz player to get at his roots. […] the strongest of these roots are blues and what was called bebop. They sit autonomous. Blues and bebop are musics. They are understandable, emotionally, as they sit: without the barest discussion of their origins. And the reason I think for this is that they are origins, themselves. Blues is a beginning. Bebop, a beginning. They define other varieties of music that come after them.15

For Baraka, bebop serves as a musical hypothesis for the free jazz avant-garde in that its elements can be productively employed and put to innovative use. Squarely echoing the Marxian distinction between ›use value‹ and ›exchange value,‹ Baraka writes: »Use means that some idea or system is employed, but in order to reach or understand quite separate and/or dissimilar systems. Imitation means simply reproduction (of a concept), for its own sake. Someone who sings exactly like Billie Holiday or someone who plays exactly like Charlie parker (or as close as they can manage) produces nothing.«16 Thus, Ornette Coleman, for instance, uses the music of Charlie Parker as a hypothesis to arrive at distinct and innovative musical conclusions, as will be shown in the following chapter. What seems to be most important to the process of jazz innovation in the context of using bebop as a musical hypothesis, is the pronounced jaggedness and abruptness – in both composition and extemporization – of the melodic fabric itself. In fact, most of the melismas and melodic phrases in bebop appear to be extensions of the dominating rhythmical patterns. One result of this ›insertion‹ of rhythm into the melodic fabric is the »subsequent freedom« granted to instruments that were »conventionally supposed to carry [my emphasis] the entire rhythmic impetus of the music.«17 In Bebop compositions and extemporizations, »drum and bass lines are literally ›sprung‹ ... away from the simple, cloying 4/4 that characterized the musics that came immediately before and after bop. […] Rhythmic diversity and freedom were the really valuable legacies [of bebop].«18 At the peak of the Free Jazz movement, in an essay on »the changing same« of Black Music, both popular and avant-garde, Baraka dug deeper into the roots of the ›New Black Music,‹ asserting that »the line we could trace, as musical ›tradition,‹ is what we as a people dig and pass on, as best as we can.« More precisely,

15 Ibid. 72. 16 Ibid. 73. 17 Ibid. 74. 18 Ibid. 74f.

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the call and response form of Africa (lead and chorus) [that] has never left us, as a mode of (musical) expression. It has come down both as vocal and instrumental form. The rhythm quartet of the last thirty years is a very obvious continuation of Black vocal tradition, and a condensation in the form from the larger tribal singing units ... through the form of the large religious choirs (chorus) which were initially dancers and singers, or religious and/or ritual purpose.19

According to ethno-musicologist Samuel Floyd, particular musical tendencies were brought with Africans to the New World, preserved within and outside the dancing ring of slave culture, and spread throughout African-derived populations in the United States, eventually becoming an integral part of the music we now know as jazz. The values of ancestor worship, trickster devices, and other symbolic practices of African cultures, together with African time-line patterns and vocal and instrumental procedures, were preserved most effectively and shaped to the new circumstances in ›New World‹ versions of the ring shout. It was from this cultural phenomenon that the core elements of African-American music would emerge.20 The rhythmic elements of most Black American music derive from African time-line practices in which the instruments of ensembles play multi-linear rhythms that yield »characteristic and interlocking cross-rhythmic […] and polyrhythmic […] musical configurations. Performed most frequently by a clapperless bell, »steady asymmetrical background rhythms (e.g. 3:2 or 6:4 rhythmic relationships) are sounded continuously through dance performances.«21 Now, in African-American music, especially in jazz, time-lines became symmetrical rather than asymmetrical (in the form of various underlying divisive pulses, riffs, and ostinati) and, in most cases, less persistent and less consistent. Nevertheless, according to Floyd, »the African time-line concept, in attenuated and modified form, virtually defines the rhythmic basis of African-American vernacular music and jazz.«22 The »African heterogeneous sound ideal« to create, what musicologist Olly Wilson calls »mosaics of tone, color, and pitch« – not unlike avant-garde classical music’s employment of klangfarbenmelodie and sound collage – results from the interaction that takes place among all performing forces in an African ensemble: solo voice, chorus, hand clapping, and the rhythms and pitches of idio-

19 Amiri Baraka, »The Changing Same,« Black Music, New York: Quill, 1967, 181. 20 Cf. Samuel A. Floyd Jr., »African Roots of Jazz,« The Oxford Companion to Jazz, 7f. 21 Ibid. 11. 22 Ibid. 11f.

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phones (hard-surface), aerophones (wind instruments), and chordophones (stringed instruments).23 In the resulting »tonal mosaic,« drum, rattle, bell, voice, and hand claps not only contrast but commingle in a dense sound complex.24 This phenomenon played a critical role in determining the musical features of jazz: Melodically, this sound ideal is manifest in microtonal inflections in pentatonic and modally ambiguous contexts; in singing voices that are sometimes and variously rough, sandy, piercing, and falsetto; in wordless sounds that are sometimes used for their own (aesthetic) value rather than for the communication of verbal meaning; in ease of movement between speaking and singing and speechsong; and in the use of ululations, grunts, hums, shouts, and melismas as integral and indispensable parts of musical meaning. Rhythmically, it manifests itself in hand clapping, foot patting, repetition of short rhythmic motives, cross-rhythms, accented and isolated second beats, and in »basing« (repetitive accompanying phrasings). Free Jazz returned many of these traditionally African characteristics to the center of the music, returning to a collective musicking, while creating a formally advanced art form—an innovative »Black Aesthetic,«25 whose politics helped modify, or »re-frame,« in the Rancièrean sense, »the sensible delimitation of what is common to the community, the forms of its perceptibility and of its organization.«26 Again, Baraka’s comments are pertinent: The new music began by calling itself ›free,‹ and this is social and is in direct commentary on the scene it appears in. […] An openness that characterizes the ›shouts‹ and ›hollers.‹ But having the instruments shout and holler ... the band is free and makes sounds to tear down the walls of anywhere. The instruments shout and holler just like the folks. It is their lives being projected [note: this is not to be confused with the ›expression‹ of some underlying essence] then, and they are different from the lives Telemann, or Vivaldi sought to reanimate with their music ... no matter the ›precision‹ the Europeans claim with their

23 Cf. Olly Wilson, »The Heterogeneous Sound Ideal in African-American Music,« Signifyin(g), Sanctifyin’, and Slam Dunking: A Reader in African-American Expressive Culture, ed. Gena Dagel Caponi, New York: U of Massachusetts P, 1999, 157-171. 24 A prime example of this practice in modern jazz can be found in the work of Pharoah Sanders, cf. esp. Tauhid, Impulse! LP 1966 and Jewels of Thought, Impulse! LP 1969. 25 Larry Neal, »The Black Arts Movement,« A Turbulent Voyage: Readings in African American Studies, ed. Floyd W. Hayes III, San Diego: Collegiate, 2000, 236-246. 26 Jacques Rancière, Dissensus: On Politics and Aesthetics, London: Continuum, 2010, 142.

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›reasonable‹ scale which will get only the sounds of an order and reason that patently deny most colored peoples the right to exist.27

Baraka also points to a frequent misconception, i.e. to conceive of the avantgarde, in general, in Eurocentric terms, whereas the actual dispositif and constitution of virtually all avant-garde art – as Harding and Rouse have convincingly argued – has always been transnational and intercultural.28 With Jerome Rothenberg29, among others, we may further conceive of the avant-garde as a convergence of the primitive and the resolutely modern, enabled by the emergence of aesthetics as a paradoxical regime of the identification of art that both identifies »art« in the singular and effects a blurring of the boundaries between art and non-art.30 In this paradoxical regime of identification, as Rancière has stringently argued, new art is never simply contrasted with the old. What is contrasted, more profoundly, are two regimes of historicity: »It is within the representative regime that the old stands in contrast with the new. In the aesthetic regime of art, the future of art, its separation from the present of non-art, incessantly restages the past.«31In that sense, the heterogeneous sound ideal of, say, Albert Ayler is just as closely related to John Cage’s quasi-Buddhist or transcendentalist philosophy of sound as it is to the African roots of jazz (in ritual practice), while »incessantly« restaging the past. Writes Baraka: Albert Ayler says he no longer wants notes. He says he wants sounds. The total articulation. […] African sounds, too; the beginnings of our sensibility. The new, the »primitive,« meaning first, new. Just as Picasso’s borrowings were Western avant-garde and the »the new« from centuries ago, and Stravinsky’s borrowings were new and »savage,« centuries old and brand new.32

27 Baraka, Black Music, 194. 28 James Harding and John Rouse, Not the Other Avant-Garde: The Transnational Foundations of Avant-Garde Performance, Ann Arbor: U of Michigan P, 2006. 29 Cf. Jerome Rothenberg’s argument in the anthologies Technicians of the Sacred: A Range of Poetries from Africa, American, Asia, Europe & Oceania, Berkeley: U of California P, 1985 and Revolution of the Word: A New Gathering of American AvantGarde Poetry 1914-1945, Boston: Exact Change, 1974. 30 Cf. Rancière, Dissensus, 139f., 184. 31 Jacques Rancière, The Politics of Aesthetics, London: Continuum, 2004, 24f. 32 Ibid. 199.

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Fortunately, post-colonial critiques of canonical Euro-centrist histories and theories of both the historical and various post-war avant-gardes have provided new critical genealogies of avant-garde cross-cultural exchange, both discursive and material. Aspects of cultural hybridity and cultural flow, the cross-cultural renegotiation and transformation of cultural traditions and artistic practices, have been studied extensively by sophisticated scholars from a wide array of disciplines. What these approaches usually fail to address, however, is the process of political subjectivization on the part of those involved in social movements. The liberal recuperation, particularly since the 1990s, of political struggles under the sign of »identity,« »pluralism,« »recognition,« and more recently, »tolerance,« tends to contort the fact that the Civil Rights movement and its aestheticopolitical vanguard (BAM, Umbra, Black Panthers, SNCC), to use only the most luminous example, were involved in a radical emancipatory politics – »the polemical verification of equality« that is »democratic dissensus.«33

L ISTENING

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Two of the most influential figures in the movement toward freer and collective (and thus innovative) jazz improvisation in the 1960s were John Coltrane and Ornette Coleman. Coleman’s Free Jazz (1960) and Coltrane’s Ascension (1967), though different from one another in various ways, »stand unequivocally as the two pillars of early free jazz.«34 Both use quite different processes to achieve the same goal of freedom (from convention) in harmony, form, and texture. Both pieces, however, can be said to solicit rather different modes of reception, suggesting, as it were, a different set of ›ground rules.‹ David Demsey notes that Coleman »often dispenses with harmonic, formal, and metric conventions,« but he does so »in a deceptively simple manner that recalls blues and field hollers.«35 And Lawrence Kart suggests that Coleman »made pitch flexible and speech-like […], while the irregular length and shape of his phrases, and their relation to his no less plastic sense of harmonic rhythm, had an air of raw, homemade freedom that seemed to violate jazz’s norms of craft and professionalism.«36 Moreover, while Coleman’s appetite for cadence is

33 Steven Corcoran in: Rancière, Dissensus, 14. 34 Keren Omry, Cross-Rhythms: Jazz Aesthetics in African-American Literature, New York: Continuum, 2008, 127. 35 David Demsey, »Jazz Improvisation and Concpets of Virtuosity,« The Oxford Companion to Jazz, New York: Oxford UP, 2000, 797. 36 Cf. Kart 2000, 452.

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often as vigorous as his melodic gift, »he and his partners do not need to curtail cadential harmonic events but rather to be cadential when and where they wanted to be.«37 The members of the rhythm section are expected to be full partners in this music, and the speech-like phrases of the reeds section are for the most part inseparable from the rhythm section and its »near-microscopic« control over rhythmic detail.38 Although Coleman was not the first musician to introduce collective improvisation into jazz, »his feat in 1960,« as Keren Omry puts it, »was the emotional and musical cohesiveness of the improvisation, sustained for a full thirty-eight minutes.«39 What sounds initially like a cacophonous chaos of instruments with only a vague sense of rhythmic stability, becomes – with repeated and concentrated listening – »something entirely new, taking on its own logic and marking exciting new territory in the frontiers of jazz […] two piano-less quartets with each musician (barring the drummers who solo together) taking up the theme from the collective, in turn, and making it new.«40 John Coltrane’s Ascension approaches the notion of ensemble improvisation somewhat differently. Here, as Omry notes, »each musician was given a written theme, a melodic nucleus, as well as a presumably pre-arranged structural modality that directs both his solos and the collective improvisations.«41 The piece thus flows from a collective ensemble to the soloing instrumentalist and back to the ensemble. Jost explains the different approaches of Coleman and Coltrane as follows: [In the] collective improvisation of Free Jazz, the contributions of each and every improviser have a certain melodic life of their own; motivic connections and dove-tailing of the various parts create a polyphonic web of interactions. In Ascension, on the other hand, the parts contribute above all to the formation of changing sound-structures, in which the individual usually has only a secondary importance. Quite plainly, the central idea is not to produce a network of interwoven independent melodic lines, but dense sound complexes.42

The emergent and semi-extemporized structure of Ascension does amount to more than just »dense sound complexes,« however, and I argue that it may be

37 Ibid. 453. 38 Ibid. 39 Omry, Cross-Rhythms, 127. 40 Ibid. 41 Ibid. 128. 42 Jost, Free Jazz, 89.

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better understood as a decidedly African-American rendering of what Adorno – notwithstanding his (in-)famous hostility towards (mostly 1930s swing bands and early 1940s) jazz – in his late essays on 1950s and 1960s avant-garde classical music (Ligeti, Nono, Stockhausen, Cage, etc.) has called a musique informelle.43 Adorno’s notion signifies athematic music of compositionally motivated yet informal connections where »the New« were to be located in a specific mode of reception and experience solicited by the music rather than in the formal compositional of the work as such. Writes Adorno: The impulses and characteristic relations of a [musique informelle] do not presuppose any system laid down in advance or superimposed, not even a principle like the theme. Instead, they produce interconnections of themselves. To that extent they are the descendants of themes, although themes are not processed in them, or at most only in a rudimentary way, never repeated at intervals. […] But meaning is inescapable insofar as it imposes itself on works of art against their will. This importunate, quasi-alien meaning, should not be left to itself, but should be recuperated from the subject so as to reconcile it. The meaning of the work of art is something which has to be produced, rather than just copied. It is what it is only by becoming itself. This is the element of action in informal music. […] subjective mediation appears to be an inextinguishable component of aesthetic objectification.44

On the part of the (improvising) musicians, moreover, both Coleman’s and Coltrane’s approaches to collective improvisation invite philosophical interpretation and speculation: we can think, for instance, of the dialectic of individual and community enacted in collective improvisation and musical practice as well as the Adornian concept of (musical) dissonance as mediating experience of suffering. The relationship or proportion of composition and improvisation (on a theme or extemporized) further reflects the Free Jazz-typical convergence of meta-politics and aesthetics – the freeing of the art form from aesthetic and political constraints, while serving as an aesthetic model of a community to come. Here, it almost goes without saying that ensemble improvisation (however ›free‹ it may be conceived) cannot dispense with power relations, and thus hierarchies, altogether. A particularly vivid example of collective improvisation that oscillates between composed patterns and extemporized sound complexes, while enacting in

43 Theodor W. Adorno, »Vers une musique informelle,« Quasi Una Fantasia: Essays on Modern Music, London: Verso, 1992. 44 Ibid. 294, 317.

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situ the above mentioned dialectic of individual and community, is tenor saxophonist Archie Shepp’s recording of a piece called »New Africa,« recorded in 1969 and released on the album Kwanza (1974), named after the AfricanAmerican communal celebration. The piece is a model synthesis of oral tradition and avant-garde impulse in its strikingly modern use of call-and-response patterns and their relation to both composition and extemporization, i.e. how the ensemble takes up varying soloists’ experimental leads as a theme or chorus and vice versa, thus coagulating and diffusing, as it were, both the musical structure and sonic texture of the piece.45 In her discussion of the potentially liberating force of the new black music, Omry turns to Coltrane’s resolutely modern reinterpretation of the RodgersHammerstein Broadway tune »My Favorite Things« (1964). Relying greatly on Henry Louis Gates’s concept of »signifyin(g),« she argues that »repeating [and changing] a musical theme or a quoting a motif from some musical standard, not only recontextualizes the riff, infusing it with new life and new meaning: through its deliberate distance from the original it creates a subversive link with it, reconfiguring the initial effects, and asserting radical, potentially political, power.«46 Avant-garde jazz may thus affirm, by way of negation, a radical emancipatory force contained in the music of the black community. Herbert Marcuse, who in his late critique of traditional Marxist aesthetics was moving close to the position of Adorno47, suggests that the more radically defamiliarizing (and thus formally innovative) the musical interpretation of a given phrase is, the more liberating the music may become through »the degree to which the distance and estrangement from praxis constitute the emancipatory value of art.«48 To be sure, Gates and Marcuse cannot easily be aligned here without contradiction. Moreover, no individual effort at defamiliarization can determine one-onone the artwork’s distance and estrangement from praxis. What becomes apparent, however, is the lack of a comprehensive critical theory of jazz modernism and a genuinely materialist aesthetics of reception. »My Favorite Things« serves as a prime example of what William Harris calls the »jazz aesthetic’s process of

45 Archie Shepp, Kwanza, Impulse! AS-9262 LP, 1974. 46 Omry, Cross-Rhythms, 85. 47 Cf. Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt: Suhrkamp, 1970, 225: »Art becomes social by its opposition to society, and it occupies this position only as autonomous art. By crystallizing social norms and qualifying as ›socially useful,‹ it criticizes society by merely existing« [my translation]. 48 Herbert Marcuse, The Aesthetic Dimension: Towards a Critique of Marxist Aesthetics, Boston: Beacon, 1978, 19.

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inversion and transmutation« – alternately theorized by Gates as »signifyin(g)« – by which musical citations and recontextualizations in modern jazz may become »subversive.« For Baraka, in any case, Coltrane is »a beautiful philosopher [who] shows us how to murder the popular song [and] do away with weak Western forms.«49 Listening to and for the New, Baraka remembers how »[Coltrane]’d play sometimes chorus after chorus, taking the music apart before our ears, splintering the chords and sounding each note, resounding it, playing it backwards and upside down trying to get to something else. And we heard our own search and travails, our own reaching for new definition.«50

»N EON G RIOTS « R IFFING ON M ARX : N EW B LACK P OETRY AND P OPULAR AVANT -G ARDISM Writing about the functional role of poetry readings in the Black Arts Movement, Lorenzo Thomas uses the term »neon griot« to signify the convergence of oral tradition and avant-garde impulse in the 1960s. According to Thomas, the main (anti-)aesthetic goal of Black Arts music and poetry was »to recreate in modern modes the ancestral role of the Western African griots – poets, musicians, and dancers whose songs record genealogies and the cosmologies of traditional societies.«51 At the same time, Black Arts poets utilized the compositional forms and typographic devices of (late) modernist American poets, in particular objectivist poetics, the Black Mountain School’s »projective verse«, objectivist poetics, and Beat performance styles, to infuse their poetry with vernacular speech and jazz rhythms and explore the dialectic of text and performance, theory and practice, the oral/aural and the literary. Among the factors that influenced the developmental direction of Black Arts poetry were (1) the model of African American music – particularly jazz; (2) an interest in finding and legitimizing an ›authentic‹ African American vernacular speech; and (3) the material or physical context of Black Arts poetry readings [and collaborative performances].52

49 Baraka, Black Music, 174. 50 Amiri Baraka, The Autobiography of LeRoi Jones/Amiri Baraka, Chicago: Lawrence Hill, 1984, 176. 51 Ibid. 52 Lorenzo Thomas, »The Functional Role of Poetry Readings in the Black Arts Movement,« Close Listening: Poetry and the Performed Word, ed. Charles Bernstein, New York: Oxford UP, 1998, 300.

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In addition, however, in the vein of Afro-Caribbean surrealists like Aimé Césaire and other Négritude writers, they turn those strategies against ›white‹ avantgarde models to create a more decidedly »black aesthetic« accompanied by a radical anti-colonialist politics.53 In Rancièrean genealogical terms, black avantgarde poets and musicians in the 1960s introduced African and Afro-centric cultural practices into the (Euro-American) »aesthetic regime of art,« while at the same time struggling against the concept of autonomy and towards the avantgarde (metapolitical) sublation of art in the praxis of life.54 Furthermore, while the leading Hard Bop and Cool Jazz musicians of the 1950s had not shared the Beat poets’ enthusiasm for poetry-and-jazz performances, many protagonist of the Free Jazz avant-garde were very much open to such collaborations. Besides musicians like Charles Mingus, Sun Ra, or Archie Shepp, who actually were poets themselves, it was Baraka, in particular, who most frequently performed and recorded with such free jazz icons and innovators as Milford Graves and John Tchicai (New York Art Quartet & Imamu Amiri Baraka; 35th Reunion), Lewis Worrell, Sonny Murray, and Albert Ayler (Sonny’s Time Now) as well as Don Cherry and David Murray (New Music – New Poetry).55 Characteristic of the avant-garde, Baraka’s work exhibits a permanent longing for progressive change and social transformation, expressed forcefully through a lasting ›obsession‹ with the idea of »magic words«56—words that in the manner of felicitous speech acts entail immediate action and transform reality. Baraka’s decidedly constructivist notion of the poem as an agent of social change that does not only prompt to action but performatively acts upon social realities found its aesthetic expression in the Objectivist- and Beat-Projectivistinspired poetics of his Black Nationalist period and surfaces as a dominant theme in poems like »Black Art« that pronounce »[p]oems […] bullshit unless they are / teeth or trees or lemons piled / on a step.» Instead, »we want ›poems that kill.‹ / Assassin poems, Poems that shoot / guns. Poems that wrestle cops into alleys.« The text’s surrealist violence finds further expression in its sonic texture – particularly in performance – when it summons »Airplane poems, rrrrrrrrrrrrrrrr / rrrrrrrrrrrrrrrr ... tuhtuhtuhtuhtuhtuhtuhtuhtuhtuh / ...

53 This is the central argument of William J. Harris’s The Poetry and Poetics of Amiri Baraka: The Jazz Aesthetic, Columbia: U of Missouri P, 1985. 54 Cf. Rancière, The Politics of Aesthetics, 20-30. 55 New York Art Quartet & Imamu Amiri Baraka ESP-1004, 1964; Sonny’s Time Now JH-663, 1965; New Music – New Poetry IN-1048, 1982; 35th Reunion DIW-936, 2000. 56 Amiri Baraka, Black Magic, New York: Morrow, 1967.

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rrrrrrrrrrrrrrrr ... Setting fire and death to / whities ass. Put it on him, poem. Strip him naked / to the world!«57 Simultaneously calling out the police58, scholars of speech act theory, and the autonomy status of art, Baraka writes in »Black People!« that »All the stores will open if you / will say the magic words. The magic words are: Up against the wall mother / fucker this is a stick up! Or: Smash the window at night (these are magic / actions).«59 With his rejection of Black Nationalism in favor of (Third World) Marxism in 1975, his idea of a demystifying, secularized »black magic« becomes even more explicit. Embracing a Brechtian stance towards politicized art, with Marxist-Leninist leanings, Baraka’s poetry since Hard Facts (1975) and Poetry for the Advanced (1979) exhibits a special concern to »take the popular and combine it with the advanced,« »[n]ot to compromise, but to synthesize.« He thus aligns himself with Brecht’s notion of a popular avant-garde: »For a vanguard can lead the way along a retreat or into an abyss. It can march so far ahead that the main army cannot follow it, because it is lost from sight and so on. Thus its unrealistic character can become evident. If it splits off from the main body, we can determine why and by what means it can reunite with it.« And what is more: There is only one alley against growing barbarism – the people, who suffer so greatly from it. It is only from them that one can expect anything. Therefore it is obvious that one must turn to the people, and now more necessary than ever to speak their language. […] The history of the many deceptions which have been practiced with this concept of the people is a long and complicated one – a history of class struggles. […] Our concept of what is popular refers to a people who not only play a full part in historical development but actively usurp it, force its pace, determine its direction. We have a people in mind who make history, change the world and themselves. We have in mind a fighting people and therefore an aggressive concept of what is popular.60

57 Ibid. 116f. 58 For a detailed critical account of Baraka’s actual trial(s) cf. Dennis Büscher-Ulbrich, »The Poet/Poem as Agent Provocateur: Sounding the Performative Dimension of Amiri Baraka’s ›Somebody Blew Up America,‹« States of the Art: Considering Poetry Today, ed. K. Martens und R. Djahazi, Würzburg: Königshausen und Neumann, 2010, 86-101. 59 Baraka, Black Magic, 225. 60 Bertold Brecht, »Against Georg Lukács,« in: Aesthetics and Politics, London and New York: Verso, 2007, 72, 80f.

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In line with this Brechtian concern, Baraka began looking for a different kind of sophistication that would render his work non-academic, popular, and yet formally advanced thanks to its idiosyncratic signifyin(g) techniques and free-jazzinflected prosody. The trademarks of such poetry may prove demanding to readers unfamiliar with the music since – like avant-garde jazz – they urge the reader or hearer to apply a different set of ›ground rules,‹ thus challenging the conventions of the art form. When Baraka writes of the New Black Music that it »reinforces the most valuable memories of a people but at the same time creates new forms, new modes of expression, to more precisely reflect contemporary experience,« this is the aesthetic paradigm that he strategically couples with Lenin’s notion of a »working-class intelligentsia« – the »advanced workers« – towards whom much of Baraka’s work is geared.61 In a remarkable collection of political essays and analysis, Daggers and Javelins (1974-79), the Marxist-Leninist Baraka finds himself aligned, as it were, with Deleuze and Guattari’s notion of a »minor literature.« Rather than being stuck with a vulgar-Marxist concept of »reflection« when pondering »the revolutionary tradition in African-American literature« i.e., he conceives of it as »a projection of what [the people] struggle to become.«62 For Baraka, as William Harris has boldly argued, most »white American poetry, even avant-garde poetry, is written in conqueror forms, and Baraka’s addition of slave forms (blues and jazz) creates a new music. With Hughes, Guillén, and Césaire, Baraka has tried to Africanize Western verse by grafting Negro forms onto white ones.«63 If we dislike the quasi-essentializing rhetoric of Harris’s argument, we may alternately refer to Baraka’s innovative ›blackening‹ of his own poetry as an aesthetico-political instance of »minoritarian becoming«64 as theorized by Deleuze and Guattari. In any case, the language of Baraka’s »minor literature« can be said to be »affected with a high coefficient of deterrito-

61 V.I. Lenin, Poln. sobr. soch., 5th ed., vol. 4, p. 269. Cf. also Amiri Baraka in: Büscher-Ulbrich, »›To understand it as a worker and understand it as an intellectual‹: an interview with Amiri Baraka (Newark, September 23, 2010),« forthcoming in XCP: Cross Cultural Poetics, ed. Mark Nowak. 62 Amiri Baraka, Daggers and Javelins, New York: Morrow, 1984, 148. 63 Harris, The Poetry and Poetics of Amiri Baraka, 105. Cf. William J. Harris, »›How You Sound??‹: Amiri Baraka Writes Free Jazz,« Uptown Conversation: The New Jazz Studies, ed. Robert G. O’Meally, Brent H. Edwards, Farah J. Griffin. New York: Columbia UP, 2004, 312-325. 64 Gilles Deleuze and Felix Guattari, »What is a Minor Literature,« Kafka: Towards a Minor Literature, trans. Dana Polan, Minneapolis: U of Minnesota P, 1986, 26.

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rialization.«65 Moreover, through a dialectical process, Baraka has forged a poetry that synthesizes radical modernist aesthetics and populist politics, employing African-American traditions and avant-garde techniques to (Third World) revolutionary ends, with the New Black Music serving as a decisive aesthetico-political paradigm. Baraka’s notion of a popular avant-garde is perhaps best exemplified by his late 1970s chapbook, Poetry for the Advanced, which opens with a longish poem called »Afro-American Lyric,« which I will cite in full below. Star-ar-t wi-ith they ra-ay-n, yes, star-ar-t wi-ith the ray ay nnnn, it can drive you say ay nn, make you think, of all thats been all thats passed all that flows wont come back again Think about what needs to be needs to be, think about what needs needs to be, think about abou-out wha- aat nee eee eee ds to be. Uhh You see that we’re not freeeee eee the nigger in the city hall the colored prime minister opens his colored parliament place so hip even the rats doin the hustle Yeh-et all of whats needed is grown around us all of whats needed is grown withing us all of whats needed is all of us needing it all of what’s needed is all of us all of us place so hip even the rats do’n the hustle

65 Ibid. 16.

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Despite its beauty this world is ugly The ugliest ugly is the social ugly The horriblest horrible terriblest terrible Simple shit uh simple shit Uh simple Shit uh simple simple simple simple shit society’s ugly is the graspingclass its simple shit uh see-imm-pull see-im-pull Seeeeeeeeeeee-immmmmmmmmm pull Some See - im - pull shit Society’s ugly, the ugliest ugly caused by the grasping class, exploiting class There is no super nothing which entitles nobody to oppress nobody See-im pull Ugly class exploiting class owning class capitalist class reactionary class no super nothing no mystical nobody nothing so slick, proper, out, xtianish or muslimish it upholds or justifies poverty aint nothing legitimizes this motherfuckin upside down bullshit system see-empull, uh uh nuthin uh nuthin aint nuthin see eem pull place so hip the rats doin the hustle

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132 | DENNIS B ÜSCHER-ULBRICH Aint nuthin »How you doin?« »Aint nuthin.« Nobody, no thing

eeeeee

Think about what needs to beee what-ut neeeds needs to be Despite its beauty, baby, the world is ugly The ugliest ugly The owning class See

em- pull

This Is A Communist Poem! Think Thin nnn kuh ooo Think bout what needs to bee All of us everywhere in control of what we see Think Study it Study it Study it All of us Study it Think abt what nee eee eed to be without struggle There is no way to be free Start w/ this dri ii ving rain Let it drive drive drive you sayne This Is A Communist Poem! An Afro-American Lyric

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Despite its beauty beauty baby despite its beauty the world society is very ugly There is no super nothing no mystical nobody which makes this bullshit right The ugliest ugly is the owners the high class Like a roach sittin on top a yr muffins A blood-fat mosquito whinin and bitin you summer nights Like a blue fly buzzing yr sammich See- eemple A rattlesnake lookin at yr baby a slobberin dog standing on yr chest See-immmmmmmm mem mem mem mem pull Start w/ the ray ay ayn yes. start with this ray ay ay ain it can drive you sane make you think of all thats been make you think of all thats passed all that flows that wont come back again

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134 | DENNIS B ÜSCHER-ULBRICH Think about study study do it do it Be about what needs to be be about what needs nee eee eee eeeeds yeh, please, right now be about what needs to be. Only revolution will set us free!66

From a reception-oriented perspective, the contribution of sound to meaning in the way Baraka’s text and performance foreground – by way of playful defamiliarization – the visual and aural materiality of the signifier, without fetishizing the arbitrary character of the linguistic sign, can be said to encourage »close listenings« both in the sense of listening to the literary phonotext (where the graphotext functions as a mental score) and the aural event of Baraka’s performance and/or recorded audiotext. As noted by Charles Bernstein, »performance in the sense of doing, is an underlying formal aesthetic as much as it is a political issue in Baraka’s work. The shape of his performances are iconic – they signify.« In this sense, the printed text of »Afro-American Lyric« works to »spur the (silent, atomized) reader into performance – it insists on action; the page’s apparent textual ›lack‹ is the motor of its form.« Appropriating the language of Marxist political pamphlets and thus recontextualizing without rejecting that discourse’s didacticism constitutes an innovative approach to (African-American) avant-garde poetry and agitprop.

66 Amiri Baraka, Selected Poetry of Amiri Baraka/LeRoi Jones, New York: Morrow, 1997, 322-27. [Originally published in Poetry for the Advanced (chapbook 1979)]. For a videotaped reading of the poem at the Naropa Institute of Disembodied Poetics in 1978 visit http://www.youtube.com/watch?v=7qyi9M_CgmM.

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Reading this poem in his July 26, 1978 performance at the Naropa Institute, Baraka sounds the syllables of »simple shit« (»Seeeeeeeeeeee-immmmm mmmmm / pull«) – which due to its homophonic quality may likewise be read as »see him pull,« or »see ’em pull,« besides alluding to Langston Hughes’s fictional character »Jesse B. Semple«67 – interweaving and syncopating them with »Ugly class / exploiting class / owning class / capitalist class / reactionary class,« thus turning the text’s critical tirade into »a cross between a sound poem and a scat jazz improvisation« that is both simple and advanced. The very simplicity of the brute facts of capitalist exploitation, racism, and political corruption, highlighted by Baraka’s simple and not-so-simple poetic form and vernacular-aided imagery (»a roach sittin on top a yr muffins / A blood-fat mosquito / whinin and bitin you / summer nights // Like a blue fly buzzing / yr sammich // See-eemple / […] / a slobberin dog / standing on yr / chest«), is matched by the overwhelming difficulty of historical transformation, i.e. the how as well as the effort of radical emancipation and substantial political change by and for the (Black) working class. Steeped in the Black oral tradition of the Afro-Christian church and reminiscent of Coltrane’s »sheets of sound« effect, Baraka’s performance »makes playful yet dissonant music from the apparently refractory words of Marxist analysis, bringing out the uncontained phonic plentitude inside and between the words,« while soliciting the reader or listener to (re-)assess the significance of Marxism to the Black Liberation Struggle. In that sense, specifically, the poem’s performance is »no mere embellishment […] but a restaging of its meaning.« While this might be said of poetry performance in general, since to speak of the poem in performance is to overthrow the idea of the poem as a fixed, stable, finite linguistic object and thus deny the poem its self-presence and (metaphysical) unity, Baraka’s particular performance style further typifies what Won-gu Kim has called the former’s favorite aesthetic paradigm: »[free jazz and] hard bebop's aggressive, anti-assimilative honking […] against Western hegemonic musicality.« Echoing Olson’s notion of process, Baraka has always favored the idea of »arting« as opposed to art as reified object. In his endeavor to turn from a Western cultural background to the alternative »cultural flows«68 of Africa and the Americas, following the lead of free jazz, Baraka’s poetry ultimately seeks to escape –

67 Cf. for instance Langston Hughes, Simple Speaks His Mind, New York: Simon & Schuster, 1950, and Simple's Uncle Sam, New York: Simon & Schuster, 1965. 68 For an in-depth discussion on the notion of »cultural flow« from a cultural anthropologist's perspective, see Ulf Hannerz, Cultural Complexity: Studies in the Social Organization of Meaning, New York: Columbia UP, 1992, 4ff.

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perhaps desperately – the reifying logic of late capitalism and calls attention to the oral/aural dimension, processuality, and corporeality of live performance: »[…] the verb process, the doing, the coming into being, the at-the-time-of. Which is why we think there is particular value in live music, contemplating the artifact as it arrives, listening to it emerge. There it is. And There.«69 Thus, an exclusively text-based analysis of Baraka’s poetics necessarily fails to capture both the affective force and alternating meanings of Baraka’s poetry-inperformance as well as its »disruption of rationalizable patterns of sound through the intervallic irruption of acoustic elements not recuperable by monological analysis.« Eventually, and in line with Baraka’s materialism, it is worth noting that since the »ugliest ugly is the social ugly« the substantial »new« is to be sought, or rather to be brought about, in the social rather than the cultural realm by way of radical emancipatory politics: »Only revolution / will set us free!« Pondering the question of ›what’s in the way‹ of innovative, i.e. progressive social change, Baraka naturally agitates against organized religion (»no super nothing / no mystical nobody / nothing so slick, proper, / out, xtianish or muslimish / it upholds or justifies poverty / aint nothing legitimizes / this motherfuckin upside down bullshit system / see-empull, uh«) which highlights his ideological separation from both the Nation of Islam and the decidedly Christian African-American middle class and ›Black Folk.‹ The tension between Baraka’s employment of Afro-Christian cultural forms and his Marxian critique of religion is perhaps most productively put to work in a poem called »Dope« – a decidedly Afro-Christian rendition of the Marxian notion of religion as »the opium of the people« heavily reliant on the Brechtian Verfremdungseffekt and effectively blurring the generic line between experimental poetry and drama. Given the continuous influence of the Black Church and the model of the AfricanAmerican preacher upon virtually every single African-American performing poet of the twentieth century, even if the content of their poems is decidedly secular or even anti-religious, Henry Louis Gates Jr. reminds us that »the Church is at once a culture and a black cultural event, a weekly unfolding of ritual and theater, oratory and spectacle, the most sublime music, and even dance.«70 »The church continues,« as Baraka points out, »but not the devotion. […] the church was one of the few places complete fullness of expression by the Black was not constantly censored by the white man.«71 Apparently, for Baraka, it is »the devo-

69 Amiri Baraka, Home: Social Essays, New York: Morrow, 1966, 174. 70 Henry Louis Gates, Jr. cited in Thomas, Close Listening, 310. 71 Baraka, Black Music, 183.

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tion« to mystification, which has »doped« Black Americans and thus helps perpetuate racial oppression and capitalist exploitation: uuuuuuuuuu uuuuuuuuuu uuuuuuuuuu

uuu ray light morning fire lynch yet uuuuuuu, yester-pain in dreams comes again. race-pain, people our people our people everywhere . . . yeh . . . uuuuu. yeh uuuuu. Yeh our people yes people every people most people uuuuu, yeh uuuuu, most people in pain yester-pain, and pain today (screams) ooowow! ooowow! It must be the devil (jumps up like a claw stuck him) oooowow! oooowow! (screams) It must be the devil It must be the devil it must be the devil (shakes like evangelical sanctify shakes tambourine like evangelical sanctify in heat) ooowow! ooowow! yeh, devil, yeh, devil ooowow! Must be the devil must be the devil (waves plate like collection) mus is mus is mus is mus is be the devil, cain be rockefeller (eyes roll up batting, and jumping all the way around to face the other direction) caint be him, no lawd caint be dupont, no lawd, cain be, no lawd, no way no way, naw saw, no way jose — cain be them rich folks theys good to us theys good to us theys good to us theys good to us theys good to us, i know, the massa tolt me so, i seed it on channel 7, i seed it on channel 9 i seed it on channel 4 and 2 and 5. Rich folks good to us poor folks aint shit, hallelujah, hallelujah, ooowow! oowow! […] after we die, its all gonna be good, have all the money we need after we die, have all the food we need after we die, have a nice house like the rich folks, after we die, after we die, after we die, we can live like rev. ike, after we die, hallelujah, hallelujah, must be the devil, it ain capitalism, it aint capitalism, it aint capitalism, naw it ain that, jimmy carter wdnt lie, »lifes unfair« but it aint capitalism72

72 Baraka, Selected Poetry, 329f.

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I fully agree with Bernstein’s general assessment that »the proliferation of poetry readings and performances has allowed a spinning out into the world of a new series of acoustic modalities, [setting] up new conventions that are internalized and applied to further reading of the poetic texts. They are the acoustic grounding of innovative practice – our collective sounding board.«73 The »New Black Poetry« of the 1960s and 1970s contributed largely to this »collective sounding board« and helped synthesize African-American oral tradition and contemporary avant-garde practice, following the lead of Free Jazz and – in the 1970s – the early stirrings of rap music, i.e. »the changing same« of Black Music. To return to the significance of (Free) Jazz for Baraka’s innovative poetics once again, I wish to further direct the reader to a number of Baraka’s audio poems and performances that successfully mimick – by way of proper sound poetry performance – the idiosyncractic playing style of various modern jazz icons and innovators such as Coltrane (»I Love Music,« »AM/TRAK«), Bud Powell (»Wailers«), and Thelonius Monk (»AM/TRAK«). Here, Baraka has also conceived – like many of his fellow Black Arts poets – of innovative typographic means of onomatopoeic approximation, as e.g. in »blow, oh honk-scream (bahhhhhhhhh – wheeeeeeeeee)« or the following rendering of Monk’s »Criss-Cross« in the fourth section of »AM/TRAK,« another poem from Poetry For the Advanced, where Baraka, describing Coltrane’s collaborations with Monk, writes: There was nothing left to do but be where monk cd find him that crazy mother fucker duh duh-duh duh-duh duh duh duh duh duh-duh duh-duh duh duh duh duh duh-duh duh-duh duh duh duh duh Duuuuuuuuuhhhhhh Can you play this shit? (Life asks Come by and listen74

73 Charles Bernstein, Close Listening: Poetry and the Performed Word, New York: Oxford UP, 1998, 7. 74 Baraka, Selected Poetry, 332f.

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As observed by Meta Du Ewa Jones, Baraka’s visually appealing representation of Monk’s unorthodox melodies »evokes both the uniqueness in the symmetry of Monk’s tunes and his adeptness at placing accents in an irregular order.« Hartman’s description of the limitations of »the mute, unifying façade of print«75 notwithstanding, Baraka’s arrangement may thus be suggestive enough to evoke in the jazz-inclined reader the sound of the melodic and rhythmic phrasing of Monk’s »Criss-Cross,« including what musicologist Mark Gridley calls the »percussive way [Monk] strikes the piano keys, the dark and rough tone quality his extracts from the piano, and the way he allows notes to ring long after the keys are struck.«76 Thus, Baraka’s »duh Duuuuuuuuuhhhhhh.« In the author’s actual performances of the poem, the »duh« sounds effectively elicit a dark, lowpitched and rough tone quality.77 Moreover, as Du Ewa Jones reminds us, »Baraka was also keenly cognizant of initial reactions to Monk’s [highly innovative] way of playing and fingering the piano keys as ›backward,‹ ›illogical,‹ – in other words, nonsense-ical,« which puzzled many a traditional critic and listener. Thus, the vernacular expression »duh,« as in ›duuuhhh, what’s that new thing?‹

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———, et al. New Music – New Poetry. IN-1048, LP 1982. ———, et al. Air – live in Cologne, with Amiri Baraka. WDR, LP 1982. ———. Selected Poetry of Amiri Baraka/LeRoi Jones. New York: Morrow, 1979. ———. Black Magic. New York: Morrow, 1967. ———. Black Music. New York: Quill, 1967. ———. Home: Social Essays. New York: Morrow, 1966.

75 Hartman, Jazz Text, 133. 76 Mark Gridley, Jazz Styles: History and Analysis, Englewood Cliffs: Prentice Hall, 1991, 150. 77 Cf. Amiri Baraka et al., Air – live in Cologne, with Amiri Baraka, WDR, LP 1982.

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Punk und die Innovation im Geschlechterverhältnis: Ethik und Ästhetik C LAUDIA H EUER

E INLEITUNG Die Londoner Punkszene, die sich Ende der 1970er Jahre entwickelt, ist als suboder gegenkulturelles Phänomen bis heute einzigartig. Im Unterschied zu früheren Gegenkulturen wie der Hippiebewegung oder dem Beat in den USA reflektiert Punk die eigene Auffassung vom Scheitern dieser früheren gegenkulturellen Projekte gleich mit. Punk befindet sich so nicht nur in Opposition zur Mehrheitsoder Mainstreamkultur, sondern auch und gerade zur Gegenkultur seiner Zeit.1 Im Punk der ausgehenden 1970er Jahre findet sich deshalb ein für subkulturelle Phänomene bis heute exemplarischer Grad an Selbstreflexivität. In dem Moment, den Punk in der englischen Kulturgeschichte markiert, war eine Freiheit von individuellem Ausdruck und semantischem Spiel möglich, die das Potential zu kultureller Innovation hat. Diese, ihr inhärente, wenn auch nie vollständig realisierte Wirksamkeit weckt bis heute die Nostalgie von Kulturschaffenden. Einer der interessantesten Aspekte des Phänomens ist die Beziehung von Frauen zu dieser ersten Welle des Punk. Ich übernehme hier die Periodisierung, die allgemein üblich ist, und bezeichne mit der ersten Welle die Szene um Malcolm McLaren, Vivienne Westwood und die Sex Pistols zwischen der Mitte und dem Ende der 1970er Jahre. Dass ich es für notwendig halte, deren Protagonistinnen gesondert zu thematisieren, liegt an zwei Phänomenen im Diskurs über Punk: Zum ersten formiert

1

Scott Stalcup, »Noise Noise Noise: Punk Rock's History Since 1965«, Studies in Popular Culture 23.3 (2001), 51f.

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sich in den 1990er Jahren in den USA in Verbindung mit der dritten Welle des Feminismus mit Riot Grrrl eine Szene, die sich zwar explizit auf Punk als Vorbild bezieht, nicht aber auf weibliche Vorbilder. Riot Grrrl entsteht vielmehr in den USA als Gegenbewegung zur extremen Maskulinität der Hardcoreszene.2 Obwohl dies zumindest im Selbstverständnis dieser subkulturellen Szene nicht vorgesehen ist, sehe ich hier eine Verbindungslinie. Diese sieht auch Lee, die die Frauen in der frühen Punkszene als »the first stirrings of third wave feminism«3 bezeichnet. Die Abkoppelung von Riot Grrrls, die eine explizit feministische Agenda verfolgen, von den Punkrockerinnen der ersten Welle erscheint mir verwunderlich, suchen feministische Positionen doch spätestens seit Virginia Woolf stets explizit nach weiblich geprägten kulturellen Traditionslinien. Der zweite auffällige Aspekt am Punkdiskurs, der diesen Traditionsbruch mit großer Wahrscheinlichkeit befördert, ist die Quellenlage zum Thema. An dieser fällt vor allem auf, dass es eine Vielzahl an Veröffentlichungen gibt, von denen der überwiegende Teil in Form von oral histories Mythenbildung betreibt. Der Beitrag von Frauen wird aus diesem Teil der Geschichte der Popkultur herausgeschrieben. Diese Mythen handeln nämlich in der Regel von sozial benachteiligten jungen Männern, die in Opposition zu einer dominanten Musikindustrie alternative Ausdrucks- und Verbreitungsmöglichkeiten entwickeln. Jon Savages England's Dreaming und insbesondere Legs McNeils Please Kill Me sind symptomatisch für diese Art von Veröffentlichung. Insbesondere in McNeils Buch wird die Objektifizierung von Frauen als Groupies und Fans offensichtlich, die hier häufig anzutreffen ist. Die Beteiligung von Frauen passt – das werden auch die folgenden Überlegungen zeigen – nicht zu dieser Mythenbildung. Die Argumentation erfolgt in fünf Schritten: Ich werde zunächst die recht einfache theoretische Grundlage meiner Überlegungen in den gender studies klären. An die Klärung der Voraussetzung von Innovation im Bereich von Gender schließt sich ein historisches Schlaglicht auf die Lage von Frauen in der populären Musik vor der Herausbildung der Punkszene an. An dieser Stelle wird bereits deutlich, wie unterschiedlich die Voraussetzungen waren, von denen weibliche und männliche Punks ausgehen konnten. Während, wie Daugherty nachweist, Männer vorwiegend gegen »boredom« anschrien, eröffnen sich Frauen zum ers-

2

Kathleen Kennedy, »Results of a Misspent Youth: Joan Jett's Performance of Female Masculinity«, Women’s History Review 11.1 (2002), 93.

3

Michelle Lee, »Oh bondage up yours! The early punk movement – and the women who made it rock«, Off Our Backs November/Dezember 2002, n. pag.

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ten Mal politisch-ästhetische Ausdrucksmöglichkeiten.4 Hier ergibt sich als drittes die Frage nach den Veränderungen im Geschlechterverhältnis, die als direkte Auswirkung von Punk entstehen. Der vierte Teil veranschaulicht diese Wirkmechanismen an konkreten Gegenstandsbetrachtungen. Hier ist der Fokus auf die verschiedenen Ebenen des Phänomens Punk gerichtet: seine Körperinszenierungen, die Signifikanz einer Punkästhetik für Neukonstitutionen von Weiblichkeit und schließlich die inhaltliche Ebene konkreter Artefakte. Als fünfter und letzter Punkt stellt sich dann die Frage, ob aus diesen Veränderungen im Bereich der Punkszene auch im breiteren gesellschaftlichen Rahmen des popkulturellen Mainstreams Modifikationen von Genderinszenierungen entstehen (können).

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Die auf Simone de Beauvoirs Deuxième Sex zurückgehende Unterscheidung zwischen Geschlecht oder sex als anatomisch-biologischer Kategorie und gender als sozialer Konstruktion von Geschlecht ist ein kaum mehr bestreitbarer Gemeinplatz der Geschlechterforschung. Judith Butler fügt diesem System in Gender Trouble eine weitere Kategorie hinzu: die der Genderidentität. Diese kann entweder als expressive oder als performative Kategorie verstanden werden. Im ersten Fall ginge man von einem essentialistischen Geschlechtsbegriff aus, dessen Ausdruck die Genderidentität wäre. Im zweiten Fall ist die Grundannahme, dass Gender jenseits der immer neu wiederholten öffentlichen Akte, die es erzeugen und fortschreiben, keine Basis in der empirischen Realität besitzt.5 Diese Annahme hat zur Folge, dass es keine absolute Kongruenz geben kann zwischen einem dem Individuum inhärenten Selbst und den gesellschaftlichen, geschlechtsspezifischen Rollenerwartungen oder dass, wie Butler sinngemäß schreibt, es harte Arbeit ist, seine Genderidentität stets den Rollenerwartungen entsprechend zu inszenieren.6 Auch Evans parallelisiert subkulturelle Identitätskonstitutionen mit einem auf Butler zurückgehenden Verständnis des Genderbegriffs.7 Sie ist jedoch primär mit der Konstitution subkultureller Identität und Zugehörigkeit befasst. Bei

4

Vgl. Rebecca Daugherty, »The Spirit of ’77: Punk and the Girl Revolution«, Women and Music: A Journal of Gender and Culture 6 (2002), 31.

5

Judith Butler, Gender Trouble: Feminism and the Subversion of Identity, London:

6

Vgl. ebd. 144f.

7

Vgl. Caroline Evans, »Dreams That Only Money Can Buy … Or, The Shy Tribe In

Routledge, 1990, 140.

Flight from Discourse«, Fashion Theory 1.2 (1997), 181.

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Evans und anderen stellt die Fluidität der auf einer performativen Grundlage definierten Identitäten für die Subkulturstudien vor allem ein Problem dar, weil sich in dieser Fluidität das zu studierende Objekt potentiell auflöst. Im Gegensatz dazu können mit einem Fokus auf den Genderanteil dieser Identitäten libertinäre oder emanzipatorische Akte gerade ausschließlich darin bestehen, die Künstlichkeit der Kategorien, die auf Geschlechterbinarität und einer Ökonomie des heterosexuellen Begehrens beruhen, an sich, als arbiträre Kategorien also, sichtbar zu machen und so zu einer größeren Fluidität und der Vervielfältigung von Genderidentitäten beizutragen.8 Auch dieses Konzept der Innovation im Geschlechterverhältnis geht auf Butler zurück, die in dieser Richtung wirksames Potential in der Inszenierung von ambiguen Genderidentitäten sieht wie zum Beispiel im drag oder in lesbischen Selbststilisierungen als butch und femme.9 Bei beidem werden die Akte, die die binäre Genderidentität fortschreiben, wiederholt, aber parodistisch abgewandelt und so ihre Arbitrarität sichtbar gemacht. Die Genderparodie, die sich der vorhandenen Akte innerhalb des binären Geschlechterverhältnisses bedient, diese aber signifikant variiert, so dass sie als künstliche Markierungen sichtbar werden, ist dann der wichtigste Weg, auf dem die Ökonomie des heterosexuellen Begehrens unterwandert werden kann.10 Auf diese Weise subversiv zu handeln ist jedoch nicht ganz einfach, die Performanz der Genderidentität ist nämlich eine Überlebensstrategie in einem repressiven System, das eine nicht ordnungsgemäße Inszenierung bestraft.11

F RAUEN IM R OCK Der Zustand des Systems populäre Musik und im Speziellen Rock ’n’ Roll Ende der 1960er Jahre ist ein gutes Beispiel für diese Art von systemischer Repression. Frauen haben hier Seltenheitswert. Eine Ausnahme sind die so genannten girl groups wie beispielsweise die Ronettes. Das Rolling Stone Magazine beschreibt diese wie folgt: […] tough whorish females of the lower class, female Hell's Angels who had about them the aura of brazen sex. The Ronettes were Negro Puerto Rican hooker types with long

8

Vgl. Kate McCarthy, »Not Pretty Girls?: Sexuality, Spirituality, and Gender Construction in Women's Rock Music«, The Journal of Popular Culture 39.1 (2006), 72.

9

Butler, Gender Trouble, 137.

10 Ebd. 141. 11 Ebd. 140.

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black hair and skin tight dresses revealing their well shaped but not quite Tina Turner behinds. […] Ronettes records should have been sold under the counter along with girly 12

magazines and condoms.

Die Beschreibungskategorien sind hier Prostitution und Pornographie, die Künstlerinnen werden also explizit einer Ökonomie des heterosexuellen Begehrens untergeordnet. McCarthy weist sicherlich mit Recht darauf hin, dass diese Zuordnung zudem dadurch befördert wird, dass sie im Kontext mit der Kommodifizierung des schwarzen weiblichen Körpers steht, wenn man annimmt, dass schwarze Frauen einer rassistischen Logik gemäß als sexuell verfügbarer und freizügiger gelten.13 Charakteristisch für die Konzeptionalisierung der girl groups ist weiterhin, dass sie als austauschbare Instrumente der hinter ihnen stehenden Produzenten gesehen werden.14 Dies entspricht der Tradition, dass Frauen in der populären Musik zumeist in der Funktion der Vokalistin auftreten. Diese Tatsache ist insofern gendersignifikant, als die Stimme in dieser Tradition mit »weiblicher« Körperlichkeit in Verbindung gebracht und nicht als anderen Instrumenten gleichwertig betrachtet wird. Sänger bekamen weniger Geld als die in diesem Sinne vollwertigen Musiker und selbst in solchen Bereichen der populären Musik, in denen Frauen durchaus eine Rolle spielen, etwa Bessie Smith im Blues, Aretha Franklin im Soul oder Billie Holiday im Jazz, wird ihr Gesang häufig als körperlich determinierte Reaktion auf die eigene Biographie, im Falle von Billie Holiday besonders das eigene Leid, aufgefasst.15 Im Rock findet insofern eine Verschärfung dieser Grundsituation statt, als die Rolle von Frauen hier auf die des Fans und Groupies reduziert ist. McCarthy begreift deshalb die Anwesenheit von Frauen im rein maskulinen Umfeld der Rockmusik an sich als signifikant in Bezug auf Gender.16 Zudem ist offene Misogynie Teil der maskulinen Selbststilisierung des Rockstars. Daugherty führt hier als gutes Beispiel »Under My Thumb« von den Rolling Stones an, in dem der Sprecher über eine Frau triumphiert, die den ihr zustehenden Platz einnimmt und etwa nur noch dann spricht, wenn sie gefragt wird.17 Man kann unter diesen Umständen feststellen, dass die Situation von Frauen in der populären Musik

12 Richard Fannan, »Da Doo Ron Ron«, Rolling Stone Magazine 11. Mai 1968, 22. 13 McCarthy, »Not Pretty Girls?«, 73. 14 Daugherty, »The Spirit of ’77«, 28. 15 Ebd. 27. 16 McCarthy, »Not Pretty Girls?«, 72. 17 Daugherty, »The Spirit of ’77«, 28.

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Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre eine marginale war, deren misogynstereotype Rollenerwartungen keine auktoriale Position von Frauen zulassen. Frauen mit eigener Band oder gar mit E-Gitarren in der Hand sind zu diesem Zeitpunkt schlicht nicht denkbar.

F RAUEN IM P UNK : E THIK UND ÄSTHETIK Hieraus entsteht die erste Diskrepanz mit dem Punkmythos: Im Fall der Frauen, die gern Rockmusikerinnen gewesen wären, gibt es schlicht kein Musikgeschäft, das die Wahl zwischen Kommerzialisierung und Opposition möglich und notwendig gemacht hätte. Diese Situation ändert sich jedoch mit der Entstehung von Punk in der zweiten Hälfte der 70er Jahre. Der Grund für diese Veränderungen liegt nicht darin, dass die Misogynie plötzlich verschwunden wäre. Punk ist nicht der Gleichstellungsbeauftragte des Rock 'n' Roll. Daughertys Ansatz zur Erklärung dieser Veränderungen sieht in der Genrefragmentierung der populären Musik in den 1970er Jahren den Hauptgrund für den Zuwachs an Möglichkeiten für weibliche Rollen.18 Sie beschreibt Punk weiter auf der Grundlage einer politisch progressiven Agenda: »Because of prominent debates on racism and sexism, the idea that punk was open to everyone was central to the rhetoric of punk rock, politics and identity. An ostensibly unprejudiced attitude was central to the creation of the community of punk.«19 Nach der hier vertretenen Ansicht gibt es jedoch vor allem eine kausale Verbindung zwischen den Gestaltungsprinzipien von Punk und den neuen Rollen, die für Frauen hier möglich wurden. Die Veränderungen in der Rollenerwartung sind eher ästhetisch als ethisch begründet. Punk entsteht als ein System der Performanz im öffentlichen, urbanen Raum. Die mit Punk verbundene Musikszene ist – wie bei allen sub- oder gegenkulturellen Bewegungen – dabei von zentraler definitorischer Bedeutung. Punks stilisieren sich selbst zu gesellschaftlichen Außenseitern und ihre Musikszene ist der Ort, an dem diese Selbststilisierung konkret ausagiert wird. Dabei entsteht eine Gegenbewegung vor allem zur Rockmusik der Zeit und damit zu den ästhetischen Voraussetzungen ihrer genderbezogenen Rollenerwartungen. In den 1970er Jahren wird der Rock von einer extremen Distanz zwischen Publikum und Künstler bestimmt.20 Diese entsteht auf unterschiedlichen Wegen, zum Beispiel durch den Superstarstatus wie bei den Rolling Stones, durch ext-

18 Daugherty, »The Spirit of ’77«, 28. 19 Ebd. 29. 20 Stalcup, »Noise«, 58f.

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reme Virtuosität wie bei Jimi Hendrix, oder auch durch konzeptionelle Komplexität wie bei David Bowie. Allen gemeinsam ist als Folge dieser Distanz ein hoher Grad von Artifizialität, vor allem in der konzertanten Auftrittssituation. Diese Artifizialität steht wiederum in diametralem Gegensatz zur Authentizitätsforderung, die zu den Genrekonventionen des Rock gehört. Von dieser Künstlichkeit setzen sich nun Punks bewusst ab, indem sie auf der Rockbühne gerade absichtlichen Dilettantismus zur Schau stellen.21 Die Auftrittssituation soll damit der Kontrolle des auktorialen Subjekts Rockmusiker entzogen werden. Dieser Kontrollverlust findet auf zwei Ebenen statt: Zum einen werden nicht länger die Instrumente immer unbedingt von den Musikern beherrscht, sondern lassen sich Musiker bewusst von Instrumenten beherrschen. Das konnte zur Folge haben, dass Musiker mit der Performance nicht umgehen konnten und die Situation vorzeitig beenden mussten. Es konnten aber auch die emotionalen Reaktionen des Publikums zu in der Auftrittssituation nicht mehr auffangbaren Konsequenzen führen. Es war nicht selten, dass sich das Publikum so provoziert fühlte, dass eine Band buchstäblich von der Bühne geprügelt wurde. Auch das Bespucken der Musiker, das Bewerfen mit Gegenständen oder zumindest das Bespritzen mit Bier waren durchaus intendierte Wirkungen eines solchen Auftritts. Von der heute vor allem als Modedesignerin bekannten Vivienne Westwood heißt es, dass sie, wenn ein Auftritt zu konventionell abzulaufen drohte, im Publikum auch Schlägereien angefangen hat.22 Diese Grundsituation findet Eingang in die Ästhetik der Performance, indem sich die Musiker zu Grenzfällen geistiger Gesundheit stilisieren. Eines der bekanntesten Beispiele für eine solche Inszenierung von Punkmusikern jenseits der Grenze des psychisch Gesunden ist John Lydons zwischen Verstörung und Wut oszillierende Bühnenpose bei Auftritten der Sex Pistols. Sehr aufschlussreich in dieser Beziehung ist auch eines der wenigen gefilmten Beispiele eines Auftritts aus dieser Zeit, Ende der 1970er Jahre, »Discipline« von den an der Grenze zwischen Musik und Performancekunst operierenden Throbbing Gristle.23 Der »Song«, wenn man ihn denn so nennen will, ist in der Aufnahme fast zehn Minuten lang und besteht im wesentlichen aus einem teilweise elektronisch, teilweise mit Percussionsinstrumenten erzeugten, durchgehenden Rhythmus, dem verzerrte Gitarren unterlegt sind. Auf diese Weise wird ein Klangteppich er-

21 Vgl. Stalcup, »Noise«, 52. 22 Jon Savage, England's Dreaming: Anarchy Punk Rock, Sex Pistols, and Beyond, New York: St. Martin’s Griffin, 1991, passim. 23 Throbbing Gristle, »Discipline«, Rafters Manchester 4. Dezember 1980, .

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zeugt, über den Genesis P-Orridge, immer wieder die Parole »I want discipline« ruft. In Aufnahmen wie dieser wird die Inszenierung des jenseits geistiger Gesundheit liegenden besonders deutlich: Die Performance zeichnet sich durch abrupte Bewegungen des Performers aus, dieser schlägt auch wiederholt den eigenen Kopf gegen eine Wand. Zudem ist hier zu sehen, wie dicht Genesis P-Orridge an sein Publikum herangeht, wie reduziert die Distanz zwischen ihm und seinem Publikum schon räumlich ist. Wenn ihm hier einer der Zuhörer beruhigend und maßregelnd auf die Schulter klopft, wird auch deutlich, wie ambivalent eine solche Auftrittssituation ist: Auf der inhaltlichen Ebene, indem er immer wieder und bis zur körperlichen Erschöpfung »I want discipline« ins Publikum brüllt, aber auch in seinen Gesten, etwa im pantomimischen Schwingen der Peitsche über den Köpfen der Zuhörer, lassen sich ironische Reminiszenzen an die traditionelle Rockperformance ausmachen. Wie weit hier die Kontrolle abgegeben ist und wie weit diese Brechung geht, wird in der Interaktion mit dem Publikum am Ende deutlich. Hier gibt es auch schon Andeutungen einer Vervielfältigung von Genderidentitäten und eine Subversion von Geschlechterbinarität: P-Orridge küsst nicht nur intensiv einen männlichen Zuhörer und nimmt so eine im System Rock 'n' RollPerformance relevante Multiplikation möglicher Genderidentitäten vor. Dieser Zuhörer selbst imitiert den erotisch konnotierten Tanz weiblicher Performer und begibt sich damit – vielleicht unbewusst – in den Bereich der Genderparodie. Dabei ist typisch für Punk, dass diese die herkömmlichen Genderidentitäten überschreitenden Performances nicht auf die Konzertsituation beschränkt bleiben: Punkrock ist in dieser frühen Zeit, als der Begriff noch keine Genrebezeichnung für schnell gespielten, strukturell einfachen Bluesrock ist, ein Gesamtkunstwerk, bei dem die Grenze zwischen Kunst und Leben schon von vornherein insofern aufgehoben wird, als der Künstler ein ganz normal Lebender ohne besondere Kunstfertigkeit ist, der sich aber trotzdem der künstlerischen Situation aussetzt. Davies sieht die erste Welle des Punk dementsprechend in der Tradition der Pariser Situationisten der 1950er und 60er Jahre.24 Die so erzeugte Situation ist extrem flüchtig: Sie kann kaum auf Tonträgern festgehalten werden und sie kann nur funktionieren, so lange das Publikum in der Rezeption einer solchen Situation ungeübt ist. Sobald beide Seiten ihre Rollen kennen, verliert sich ja gerade die Unkalkulierbarkeit, die ein erwünschtes Strukturelement der Punk-Auftrittssituation ist. Sie ist außerdem natürlich hochgradig selbstzerstörerisch, sowohl in Bezug auf die Person des Performers als

24 Jude Davies, »The Future of ›No Future‹: Punk Rock and Postmodern Theory«, Journal of Popular Culture 29.4 (1996), 14f.

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auch auf das jeweilige Projekt bezogen. Punk besitzt in dieser Zeit einen integrierten Selbstzerstörungsmechanismus. Somit weist Punk gerade die subkulturelle Flüchtigkeit auf, die Evans erst in späteren Subkulturen verwirklicht sieht.25 Die Diskursverweigerung, die sie zum Beispiel in der Raveszene am Ende der 1980er Jahre sieht, ist in der Auflösungs- und Schocktaktik von Punk bereits verwirklicht. Punk macht ja in der beschriebenen Form gerade kein Kommunikationsangebot, sondern zerstört primär die vorhandenen performativen und diskursiven Muster. Aus dieser zunächst ästhetisch motivierten Zerstörung bekannter Zusammenhänge, durch die der Performer – aus den genannten Gründen ist es schwierig, den Begriff Künstler zu verwenden – nicht mehr seine traditionelle, herausgehobene Position einnimmt, werden die Strafen für ein nicht im Rahmen des Groupie/Fan-Rockstar-Verhältnisses ordnungsgemäßes Inszenieren von Genderidentitäten abgebaut. Frauen steht so plötzlich die Punkrockbühne genauso offen wie Männern.26 Sie brauchen zudem nicht mehr ihre mindestens gleichwertige Kompetenz zu beweisen, um auktoriale Positionen einnehmen zu dürfen: Die Voraussetzung von Punk ist ja gerade, dass eben diese Kompetenz nicht besteht. Kennedy sieht im Ergebnis ähnliche, plötzlich im Kontext von Punk entstehende, Freiheiten für Frauen. Allerdings hat nach der hier vertretenen Ansicht das aktive, bewusst politische Handeln der Punkszene in Bezug auf eine Art Gendergerechtigkeit in ihrer Argumentation zu viel Gewicht: Sie spricht von »Punkidealen« und schreibt außerdem: »Punks rejected traditional musical traditions [sic], including those that dictated that women could not play instruments and were wedded to sentimental, gentle and confidential lyrics.«27 Es wird im Folgenden noch deutlicher, dass sich die weiblichen Freiheiten in der Punkszene eher als logische Folge aus der Ästhetik von Punk ergeben denn als politisch motiviertes Bemühen um eine Veränderung der Position von Frauen in der populären Musik. Die Ästhetik von Punk ist eine des bricolage. Punk extrahiert Gegenstände und Symbole aus ihren gesellschaftlich sanktionierten Bedeutungszusammenhängen und kombiniert sie neu. Ein Beispiel hierfür ist der Kleidungsstil von Punk, der sich durch die Verwendung von heterogenen Bestandteilen anderer Stile auszeichnet.28 Dabei ist mit Keenan zunächst grundsätzlich festzustellen,

25 Evans, »Dreams«, 180. 26 Vgl. Daugherty, »The Spirit of ’77«, 30. 27 Kennedy, »Results of a Misspent Youth«, 92. 28 Vgl. Thomas Mießgang, »No One is Innocent: Chaos und Erleuchtung, Gewalt und Leidenschaft, Mode und Verzweiflung – was vom Punk übrigblieb und was im

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dass eine Kleidung, die den Außenseiterstatus der Trägergin oder des Trägers ausdrückt, ein Mittel ist, um subkulturelle Zugehörigkeit zu verstärken.29 Wenn Punks sich als gesellschaftliche Außenseiter inszenieren, hat das unter anderem genau diesen Zweck, interessant ist jedoch, nach welchen Prinzipien dies speziell im Punk geschieht. Die bricolage bewirkt, dass jeder Anklang an ein harmonisches Gesamtbild von vornherein ausgeschlossen ist. Punk kombiniert die Elemente seiner bricolage gerade so, dass sie keine neue Einheit ergeben. Schon dieses Konzept kann nicht mit essentialistischen Vorstellungen von weiblicher Schönheit als Ebenmaß und Symmetrie in Einklang gebracht werden. In diesem Sinne beschreibt auch Evans bricolage als Technik, die Dinge aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang entnimmt und durch deren Neukombination eine neue Bedeutung erzeugt. Der intendierte Gesamteindruck der bricolage im Punk ist jedoch der einer beliebigen Zusammenstellung, die auf einer radikalen Negation von Bedeutung an sich beruht. Hinzu kommen Elemente, die dazu geeignet sind zu schockieren, sofern sich die Schockwirkung nicht schon direkt als Folge der Sinnverweigerung ergibt. Zu diesem Zweck ist Punk in seiner ersten Zeit beinahe alles recht, was als gesellschaftlich inakzeptabel gilt. Dies beginnt mit dem Tragen von Hundehalsbändern als Schmuck. Hierin wird aufgrund des assoziativen Raums, der hier eröffnet wird, wieder die Selbstmarginalisierung als Intention lesbar. Die berühmte Sicherheitsnadel hält einerseits die Elemente der bricolage offensichtlich provisorisch zusammen. Sie kann andererseits, als Piercing durch Wange oder Nase getragen, auch schockieren. Dieses Prinzip gilt auch für politische Symbole: Viele Punks tragen in der kurzen ersten Phase des Punk Hakenkreuzarmbinden. Für Evans ist dies im oben genannten Sinn Teil der Taktik von Punk, das Hakenkreuz aus seinem gewohnten Zusammenhang mit politischer Zugehörigkeit zu entnehmen. Die Wirkung beschreibt sie wie folgt: »[…] but has been pulled away from this to mean ›transgression‹ of the existing order – even ›being hated‹ for wearing such a nasty symbol, or ›being an outsider‹.«30 Evans vergisst dabei jedoch, dass im Schock gerade keine neue Bedeutung konstituiert wird. Sich selbst als transgressiv und als Objekt von »Hass« zu stilisieren, ohne die diesem Hass zu Grunde liegenden Bedeutungszusammenhänge anzuerkennen, ist ja gerade typisch für Punk. Dem bereits erwähnten Genesis P-

schwarzen Loch verschwunden ist«, Punk. No One Is Innocent: Kunst – Stil – Revolte, hg. ders. und Gerald Matt, Nürnberg: Verlag für moderne Kunst, 2008, 15. 29 William J. F. Keenan, »Dress Freedom: The Personal and the Political«, Dressed to Impress: Looking the Part, hg. ders., New York: Berg, 2001, 181. 30 Evans, »Dreams«, 173.

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Orridge zum Beispiel ging es um den radikalen Bruch mit allen Vorannahmen und Erwartungen. Er prägt hierfür den Begriff der »psychischen Detonation«. Auch Malcolm McLaren äußert in diesem Sinne den Willen zu zerstören um zu erschaffen, weshalb seine Konzepte alles integrierten, was sowohl der bürgerlichen Gesellschaft als auch der Hippie-Gegenkultur ein Dorn im Auge war. Er bezieht sich dabei insbesondere auf Plastik, Junk-Food, B-Filme und Werbung. Green Gartside verwendet hierfür den Begriff messthetics.31 Das Hakenkreuz eignet sich für diesen Zweck, zum Schock um des Schocks Willen, besonders gut, da der britischen Öffentlichkeit der zweite Weltkrieg noch gegenwärtig ist, ist es eine »sichere« Provokation. An diesem Beispiel wird wieder die notwendige Kurzlebigkeit einer solchen Strategie deutlich: Als die zur gleichen Zeit erstarkende National Front meinte, in Punks Gesinnungsgenossen zu erkennen, die sie nicht waren, wurde das Symbol unbrauchbar und ist auch später nicht mehr aufgetaucht.32 Sobald also das aus seinem ursprünglichen Kontext gerissene Symbol neu kontextualisiert wird, verliert es seine Wirksamkeit im Dienste der intendierten Negation von Sinn und Bedeutung.33 Für den weiblichen Teil der Punkszene bedeutete die Umsetzung dieser Taktik die Möglichkeit, alles ans Tageslicht zu befördern, was normalerweise nicht Gegenstand öffentlicher Betrachtung ist. Unter diese Kategorie fallen zunächst ganz allgemein weibliche Sexualität und Körperlichkeit. In diesem Kontext ist vor allem die Weigerung zu lesen, Körper zu verhüllen, die nicht den traditionellen Vorstellungen von Schönheit entsprechen, also zum Beispiel, wie im Fall von Soo Lucas alias Soo Catwoman besonders gut zu erkennen ist, einen Körper zu entblößen, der nicht den Idealvorstellungen von Weiblichkeit entspricht.34 Soo Lucas wirbt in einem Bild gerade mit ihrem nackten, androgynen Körper für die Sex Pistols35 und parodiert so das sex sells-Prinzip von Medien und Werbung. Wenn Daugherty allerdings behauptet »Punk girls' new attitude toward body image, fashion, and attractiveness priviledged intelligence over conventional beauty«36, scheint dies im bereits angesprochenen Sinne in Bezug auf die Ziele weiblicher Punks zu sehr herkömmlichen Mustern von feministischem Aktivis-

31 Mießgang, »No One is Innocent«, 17f. 32 Savage, England's Dreaming, 45f. 33 Mießgang, »No One is Innocent«, 10f. 34 Vgl. Daugherty, »The Spirit of ’77«, 32. 35 Soo Lucas, »Establish the Name Sex Pistols«, ohne Veröffentlichungsdatum, . 36 Daugherty, »The Spirit of ’77«, 32.

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mus verhaftet zu sein. Kennedy betrachtet die Punkrockerinnen der ersten Welle aus dem gleichen, progressiver politischer Aktivität verpflichteten Blickwinkel, wenn sie schreibt, Punk habe Frauen »ermutigt«, mit traditionellen Geschlechterrollen zu experimentieren, was dann eine Vervielfältigung von Genderidentitäten ermöglicht habe.37 Das aus der Perspektive des Systems Rock gesehen transgressive Verhalten von Frauen, die Übernahme neuer, vorher unmöglich gewesener Rollenmuster, funktioniert im Punk jedoch gerade als Teil der allgemeinen transgressiven Tendenz, der allgegenwärtigen Schocktaktik und nicht als Gleichberechtigungsprojekt im Sinne feministischer Politik. Ein besonders interessanter Aspekt ist, wie mit den traditionellen Markern von Weiblichkeit gespielt wird. Dieser Punkt wird in dem zur Ikone des Punk gewordenen Foto von Lucas besonders deutlich.38 Eines der für Punk typischen Attribute der weiblichen Körperinszenierung ist ihr übertrieben stilisiertes Augenmake-up, das mit seinen dunklen Farben durchaus dem traditionellen Repertoire der Verführung und damit einer Ökonomie des heterosexuellen Begehrens entstammt.39 Die Art und Weise, wie die dunklen Linien um die Augen gezogen werden, also mit den extremen Verlängerungen über das Auge hinaus und mit der zusätzlichen Betonung durch die rote Farbe zwischen den üblichen schwarzen Linien, führt diese Markierung jedoch offensichtlich parodistisch ad absurdum, grenzt ans Clowneske. Gleiches gilt für das Tragen von Netzstrumpfhosen oder Unterwäsche wie Korsagen und Fetischkleidung in der Öffentlichkeit. Bei Siouxsie Sioux von Siouxsie and the Banshees gehörten diese Attribute nicht nur zum Bühnenoutfit, sie ging so auch in Clubs.40 Die für spezifische sexuelle Spielarten intendierten und in den Bereich des Privaten gehörenden Kleidungsstücke wirken durch ihre Extraktion aus diesem Sinnzusammenhang und die Art und Weise, wie sie unvollständig und noch dazu zusammen mit der Hakenkreuzarmbinde getragen werden, gleichzeitig schockierend und absurd. In ihrer Bühnenperformance imitiert Siouxsie Sioux zudem die Posen männlicher Punkrocker und androgynisiert die eigene Genderidentität.41 Weibliche Punks bedienen sich also im Rahmen der bricolage-Ästhetik und der Schocktaktik von Punk der Beschreibungskategorien einer traditionellen, bi-

37 Kennedy, »Results of a Misspent Youth«, 92. 38 Gerald Matt und Thomas Mießgang, Hg., Punk: No One Is Innocent, Nürnberg: Verlag für moderne Kunst, 2008, 8. 39 Vgl. Daugherty, »The Spirit of ’77«, 32. 40 Savage, England's Dreaming, 186. 41 Siouxsie and the Banshees, ohne Veröffentlichungsdatum, .

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nären Geschlechterordnung und brechen deren Verbindung mit dem heterosexuellen Begehren auf. Punk wirkt so paradoxerweise durch diese offensive parodistische Fortschreibung von Gendermarkierungen, salopp gesagt, als Pause oder als Auszeit von der Ökonomie des Begehrens und eröffnet so Räume für idiosynkratische Formen von als weiblich bezeichneter Körperlichkeit. Mit einer ähnlichen Begründung schlägt Kennedy vor, die Genderidentität von Joan Jett, die von der amerikanischen frühen Punkszene beeinflusst wird, als von traditionellen Rollenerwartungen im System Rock losgelöst zu betrachten: »In contrast, my work suggests that Jett's performance of female masculinity is not an imitation of male masculinity but rather, a distinct gender identity that exists in between middle-class definitions of appropriate masculinity and femininity.«42 Leider beschreibt sie nicht weiter, wo sie die Verbindungen zwischen Joan Jetts im System der amerikanischen Rockmusik stattfindender Genderperformance und den bürgerlichen Rollenerwartungen sieht. So allgemein formuliert ist ihre These sicherlich interessant und vielleicht auch plausibel, vernachlässigt aber die Authentizitätsforderung des Rock, die tendenziell gerade nicht mit bürgerlichen Rollenmodellen verbunden ist.

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DER ERSTEN

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Ich möchte diesen kursorischen Überblick an einigen weiteren Beispielen erläutern: The Slits, Poly Styrene von der Band X-Ray Spex und Linder Sterling. Wie viele andere Bands unter weiblicher Federführung, wie zum Beispiel Penetration oder The Raincoats, geben sich The Slits im Dienste einer Punkschocktaktik einen Namen, der gewalttätige, sexuelle und misogyne Assoziationen nahe legt. Mit dieser Methode überschreiten sie insofern Rollenerwartungen, als sie sich in de Certeaus Sinn der (Selbst-)Artikulation43 einen maskulinen Slang aneignen. Das Cover ihres ersten Albums Cut zeigt die drei Frauen im Lendenschurz und mit Lehm beschmiert. Es kann zusammen mit dem Bandnamen insofern als Genderparodie gelesen werden, als es auf stereotype Vorstellungen von Frauen als Grenzwesen zwischen Natur und Mann rekurriert, die auch pornographisch genutzt werden. Die ironische Brechung wird erzeugt durch die starre Pose der drei Frauen und den Bildhintergrund, der deutlich als englischer Rosengarten zu erkennen ist. The Slits kleiden sich gerade auch bei Liveauftritten bewusst kindlich-mädchenhaft, ebenfalls im parodistischen Rückgriff auf Stereotype.

42 Kennedy, »Results of a Misspent Youth«, 91. 43 Vgl. Michel de Certeau, »The Practice of Everyday Life«, The Audience Studies Reader, hg. Will Brooker und Deborah Jermyn, London: Routledge, 2003, 110.

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Dass dies bewusste Entscheidungen sind, legt bereits ihre erste Single nahe. Auf deren A-Seite befindet sich ein off-beat Reggae-Stück mit dem Titel »Typical Girls«, auf der B-Seite ihre Version des Soul-Klassikers »I Heard it through the Grapevine«. Bei diesem letztgenannten Song wird der Text abgeändert. Die titelgebende Zeile wird ersetzt durch »I heard it through the bassline«, was für Frauen, denen die Instrumentalistenrolle traditionell nicht zusteht, natürlich nicht möglich gewesen wäre.44 In »Typical Girls« dann heißt es unter anderem: Can't decide what clothes to wear/ Typical girls are sensitive/ Typical girls are emotional/ Typical girls are cruel and bewitching/ She's a femme fatale/ Typical girls stand by their man/ Typical girls are really swell/ Typical girls learn how to act shocked/ Typical girls don't rebel/ Who invented the typical girl?/ Who's bringing out the new improved model?/ 45

And there's another marketing ploy/ Typical girl gets the typical boy

Die hier verwendeten Sprachklischees sind in sich bereits deutlich parodistisch ausgerichtet. Durch die Kontextualisierung mit dem Soul auf der B-Seite der ursprünglichen Single werden die Sprachklischees, derer dieser sich zur Verhandlung heterosexuellen Begehrens bedient, zusätzlich ihrer Herkunft aus der bekannten populären Musik gemäß markiert. Am Ende von »Typical Girls« werden dann eben diese Sprachklischees explizit mit der Ökonomie des Begehrens, die für die Popkultur von so zentraler Bedeutung ist, in Verbindung gebracht. Es wird hier also, auf der inhaltlichen Ebene, die Sprache der Inszenierung von Genderidentitäten wiederholt und modifiziert, um so zur Genderparodie zu werden. Durch die Diskrepanz zwischen dem trotz des offensichtlichen musikalischen Dilettantismus' letztlich eingängigen Reggaerhythmus und der inhaltlichen Ebene wird die Wiederholung verstärkt und kann so umso effektiver subversiv wirken. Ein weiteres Beispiel für diese subversive Strategie ist Poly Styrene, Gründerin und Sängerin der X-Ray Spex. Sie trägt die Künstlichkeit körperlich inszenierter Genderidentitäten bereits programmatisch im Namen. Die Texte ihrer Songs in Genderkategorien zu interpretieren ist ebenfalls unproblematisch, weil sie sich inhaltlich explizit mit ähnlichen Fragen auseinandersetzt, die auch schon bei The Slits aufscheinen. So heißt es etwa in »Art-I-Ficial«: »When I put on my make-up/ The pretty little mask not me/ That's the way a girl should be/ In a consumer society«.46 Dieser Text ist typisch für X-Ray Spex, deren Themen die

44 Daugherty, »The Spirit of ’77«, 27. 45 The Slits, Cut, Island Records, 1979. 46 X-Ray Spex, Germfree Adolescents, Sanctuary Records, 2001.

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Konsumgesellschaft und die Funktion der Geschlechterökonomie in dieser sind. Beide Bands gehen also über rein feministische Inhalte hinaus.47 Das gilt auch für das berühmt gewordene »Oh Bondage up Yours!«: »Some people think little girls/ Should be seen and not heard/ But I think, Oh Bondage, Up Yours!« und weiter: »Thrash me crash me/ Beat me till I fall/ I wanna be a victim/ For you all«.48 Dieser Text passt zunächst in seiner hymnischen Form zur Grundhaltung des Punk, die alles zelebriert, was mit Selbsterniedrigung zu tun hat. Durch die Anbindung an populäre Genderdiskurse wird er jedoch zusätzlich zu einem ironischen Abgesang auf eben diese. Die bei Punkrockerinnen der ersten Generation allgegenwärtige Inkohärenz der Genderidentität spiegelt sich auch in der musikalischen Ästhetik von X-Ray Spex. Poly Styrene konnte tatsächlich singen, modulierte aber ihre Stimme für die Auftritte mit X-Ray Spex, um das zu verbergen. Sie fand eine inkohärente Bühnenperformance ihren identitätspolitischen Inhalten angemessener. Daugherty zitiert Poly Styrene mit der Absicht, sich selbst als »Anti-Sängerin« zu definieren.49 Linder Sterlings Beibehaltung ihres Vornamens, sie heißt tatsächlich Linda, bei gleichzeitiger Änderung der Endung in -er androgynisiert sie bereits auf der Ebene der Bezeichnung. Wie also bei The Slits ist diese Ebene relevant, wenn sich auch verschiedene Strategien unterscheiden lassen: Wo Bands wie The Slits sich durch Aneignung abwertend auf Weiblichkeit bezogener Diskurse dieser bemächtigen und Poly Styrene vor allem auf die Künstlichkeit und damit Arbitrarität populärer Diskurse verweist, bedient sich Linder auf der Ebene der Bezeichnung ganz direkt einer Methode zur Androgynisierung ihrer Identität. Auf dieser Ebene gegen die im populären Mainstream herrschende Praxis zu agieren erscheint als von zentraler Bedeutung. McRobbie weist in ihrer Besprechung von Jackie, einer Zeitschrift für weibliche Teenager, darauf hin, dass schon mit dem Titel des Magazins die Ebene weiblicher Identität angesprochen wird: »It is no coincidence that the title is also a girl's name. This is a sign that the magazine is concerned with the ›category of the subject‹, (…) With the ›petform‹ abbreviated ending, it sums up all those desired qualities which the reader is supposedly seeking.«50 McRobbie beschreibt weiter, welche privilegierte Position den Mädchen- und Frauenmagazinen in der Medienwelt zukommt, indem sie für jede Altersgruppe einen den vermuteten Interessen dieser Altersgruppe

47 Vgl. Lee, »Oh bondage up yours!«, n. pag. 48 X-Ray Spex, Oh Bondage, Up Yours! / I Am A Cliché, Virgin Records, 1977. 49 Daugherty, »The Spirit of ’77«, 32. 50 Angela McRobbie, »Feminism and Youth Culture«, The Audience Studies Reader, hg. Will Brooker und Deborah Jermyn, London: Routledge, 2003, 235.

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angepassten Titel bereithalten, so dass sie die »weibliche Welt« von der Kindheit bis ins hohe Alter bestimmen. Sie beschreibt zudem, dass es für Männer keine vergleichbare Presse gibt: Magazine für Männer befassen sich in der Regel mit spezifischen Formen der Freizeitgestaltung oder Hobbies, es gibt keine in sich konsistente Verbindung zwischen Interessenlage und persönlicher Entwicklung. Zudem präsentieren sie eine Vielzahl von Optionen zur Freizeitgestaltung, von denen ein Großteil Teilnahme an Aktivitäten außerhalb des häuslichen Bereichs voraussetzt.51 Diese Feststellung ist insbesondere interessant für Linder Sterlings Collagearbeiten.52 Hier entwickelt sie genau die Perspektive auf die Medienwelt der ausgehenden 70er Jahre, die auch von McRobbie beschrieben wird. Im Interview mit Linder aus Anlass der Triennale der Tate Gallery 2006 in London wird ihre explizit genderspezifische Perspektive auf die zeitgenössische Medienwelt sehr deutlich, die ihre Arbeit in dieser Zeit unmittelbar bestimmt.53 Aus diesem Blickwinkel betrachtet, ist die bloße Anwesenheit von Frauen auf der Punkrockbühne von doppelter Bedeutung. In ihren Collagen aus dieser Zeit, für die das Coverdesign von Orgasm Addict von den Buzzcocks typisch ist, wie in ihren anderen Arbeiten auch, wird wiederum das Thema Kommodifizierung von Körper und Sexualität deutlich. Ihre radikalste diesbezügliche Inszenierung war sicherlich ein Auftritt von Linders Band Ludus. Hier dekorierte sie den Club im Dienste der Sichtbarmachung des Schockierenden mit Tampons und verteilte in Seiten aus Pornoheften eingewickelte Tierinnereien an die Gäste. Den Auftritt selbst absolvierte Linder in einem Kleid aus Hühnerinnereien. Schon durch diese Rahmenbedingungen wird die Kommodifizierung des weiblichen Körpers auf die Spitze getrieben. Die Inszenierung stellt die Auftrittssituation auf extreme Weise buchstäblich als Konsum von Fleisch aus. Die Performance hatte ihren Höhepunkt dann darin, dass Linder sich ihren Rock vom Leib riss, um darunter einen schwarzen Latexdildo zu enthüllen.54 Sie begründet retrospektiv diesen Auftritt als Reaktion auf die Medienberichterstattung über Punkrockerinnen, die entlang genau der Kategorien des heterosexuellen Begehrens, von denen sie ausgenommen sein wollten, wertend über sie schrieben, also in Kategorien von körperlicher Attraktivität.55 Ihre gewaltsa-

51 McRobbie, »Feminism and Youth Culture«, 236. 52 Vgl. Matt und Mießgang 64ff. 53 Linder Sterling Interview, Tate Shots 10, ohne Veröffentlichungsdatum, . 54 Daugherty, »The Spirit of ’77«, 33. 55 Linder Sterling Interview.

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me Enthüllung der männlichen Rockstarperformance als performativem, arbiträrem Akt wird so verstehbar als Wiederholung der impliziten Vorwürfe in den Medien, dass Frauen sich hier Rollen aneignen, die ihnen gemäß der binären Geschlechterordnung nicht zustehen.56 Zusammenfassend lässt sich also folgendes feststellen: Punkrockerinnen inszenieren sich zunächst einmal selbst auf multiplen Ebenen der Performanz von Gender, von der Benennung im buchstäblichen Sinne bis zur Körperinszenierung als arbiträre Genderidentitäten und tragen so im Butlerschen Sinne potentiell zu einer Enthüllung der diskursiv erzeugten Regelhaftigkeit von Gender bei. Auf der inhaltlichen Ebene ordnen sie ihrer expliziten Kritik von Rollenerwartungen eine konsumkritische Perspektive zu. Die Folge der mit Punk erfolgten Aneignung von Teilen des Systems Rock ist aber zumindest, dass Frauen hier präsent geworden und geblieben sind. Dabei erscheint es mir wichtig, zu betonen, dass aus Punk keine feministische Bewegung mit gemeinsamer Agenda entsteht. Daugherty ist in diesem Punkt entgegenzuhalten, dass ein zentraler Aspekt von Punk gerade seine dezentrale Organisation war, so dass eben nicht, wie sie meint, die Frauen, die innerhalb von Punk sichtbar gewesen sind, als Führungsfiguren wahrgenommen wurden.57 Zudem ist zu bemerken, dass, wie auch Daugherty selbst einräumt, die meisten weiblichen Punkrockerinnen nicht in der Frauenbewegung politisch aktiv gewesen sind, weil diese ihnen zu sehr mit Mittelklassefrauen mittleren Alters verbunden gewesen sei.58 Das No Future-Gefühl von Punk schließt im herkömmlichen Sinne politisches Handeln grundsätzlich aus, weil ein solches immer auf die Veränderung der aktuellen Lebensbedingungen zu Gunsten einer besseren Zukunft abzielt, diese Zukunft aber vom Nihilismus von Punk gerade verneint wird. Die Punkrockerinnen der ersten Welle bilden hier keineswegs eine Ausnahme, sie nutzen die Möglichkeiten, die sich ihnen im Rahmen der umfassenden Lizenz für Künstlerinnen in dieser Zeit bieten, lediglich aus, um gendersignifikant zu handeln, sich selbst in der beschriebenen Aufhebung der Grenze zwischen Kunst und Leben als arbiträre Genderidentitäten zu inszenieren. Diese Freiheit entsteht auch und gerade aus der Aufgehobenheit, der Zugehörigkeit zu einer Subkultur.59 Insofern muss die Voraussetzung von Kennedys Überlegungen, Frauen

56 Daugherty, »The Spirit of ’77«, 33. 57 Vgl. ebd. 30. 58 Ebd. 32. 59 Evans, »Dreams«, 182.

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hätten in den 1970er Jahren »dreist« (brazenly) Zugang zu den Werkzeugen des Rock und seiner exzessiven Kultur verlangt60, qualifiziert werden.

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M AINSTREAM

Es ist allgemein festgestellt worden, dass Punk schon relativ schnell nach seinem Aufkommen vom populären Mainstream aufgenommen und so seines subversiven Potentials beraubt worden ist.61 In der Modewirtschaft gilt dies für die meisten zunächst subversiven Subkulturen entstammenden Kleidungsstile. Sie nimmt heute mit Vorliebe den so genannten street style auf.62 Unter der Handvoll von recording artists, die in der industriell organisierten populären Musik Ende der 90er Jahre über volle künstlerische Kontrolle über die eigenen Produkte verfügen, sind immerhin zwei Frauen, Björk und Madonna. Sich andere Weiblichkeitsinszenierungen anzusehen unterbleibt an dieser Stelle, da im Regelfall der Pop- und Rockmusikproduktion die Selbstinszenierung der Performerin primär von den ökonomischen Interessen der Industrie geprägt ist. Eine solche Interessenlage ist systemimmanent auf die Perpetuierung geltender Rollenerwartungen angelegt, um eine maximale Konsumierbarkeit ihrer Produkte zu gewährleisten. Von weiblichem Selbstausdruck oder Genderperformanz kann hier nicht die Rede sein. Madonna hingegen hat in den 80er und 90er Jahren durchaus erfolgreich die Inszenierungsmöglichkeiten von Weiblichkeit im Mainstream um die Frau als Subjekt der eigenen Sexualität erweitert. Björk hingegen, die ihre Wurzeln in der europäischen Punkszene hat, entzieht sich weiterhin recht erfolgreich genderspezifischen Lesarten. Sie ist wahrscheinlich eine der wenigen zeitgenössischen Musikerinnen, bei denen der Fokus nur dann auf der Körperinszenierung liegt, wenn sie auf einer medial viel beachteten Veranstaltung wie der Verleihung der Academy Awards im Jahre 2001 ein Kleid in Form eines toten Schwans trägt. Diese Selbstinszenierung ist natürlich eine gezielte Infragestellung der für die genderspezifische Inszenierung von Schauspielerinnen und anderen Künstlerinnen geltenden Regeln in dem Bereich, der im populären Diskurs als »roter Teppich« bezeichnet wird. McCarthy weist als Illustration der Wirkungsmacht der solcherart veränderten Rollenerwartungen darauf hin, dass PJ Harvey von der Musikpresse, namentlich vom Rolling Stone, als »sex-obsessed« bezeichnet worden sei, ein Vorwurf,

60 Kennedy »Results of a Misspent Youth«, 90. 61 Dave Eden, »Dissonance and Mutation«, Colloquy 8 (2004), n. pag. 62 Vgl. Evans, »Dreams«, 173.

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der einem männlichen Rockmusiker nie gemacht würde. Darin sieht sie einen Indikator für den hohen Grad an gesellschaftlicher Angst vor Frauen, die sich nicht an den bestehenden Verhaltenskodex halten, insbesondere den der sexuellen Passivität.63 Sonst fällt auf, dass viele Frauen in der zeitgenössischen Rockszene die Methoden der Genderparodie, die Punk betrieben hat, weiter verwenden. Besonders das Tragen von Elementen von Fetischkleidung und die Stilisierung von Weiblichkeit als Kindlichkeit sind weit verbreitet. Was in den 1970er Jahren noch als Selbstermächtigung funktioniert, hat heute allerdings kaum mehr einen subversiven Effekt: Ironie und Brüche in den Inszenierungen scheinen sich in der Rezeption fast schon regelhaft zu verlieren, also nicht mehr als Kontrollgewinn zugunsten der Gendervielfalt zu wirken. Auch McCarthy stellt das ironischsubversive Potential von auf bewusster Kindlichkeit beruhenden weiblichen Selbstinszenierungen fest und sieht hier im Bachtinschen Sinne karnevaleskes Potential.64 Später jedoch weist sie darauf hin, dass der schmale Grat zwischen Subversion und Fortschreiben von Definitionen von weiblicher Identität und Sexualität speziell dann sichtbar werde, wenn man sich vor Augen führe, dass nicht jedes populäre Musikprodukt durch die Brille der feministischen Kulturwissenschaft gelesen werde. Teenager, denen diese Produkte verkauft werden sollen, sind möglicherweise nicht empfänglich für die Ironie, die ihnen inhärent ist.65 Letztlich komme es dann auf die Macht- und Vermögensverhältnisse in der Musikindustrie an.66 Wie schon Butler schreibt, ist nicht jede Genderparodie notwendig subversiv, sondern erzielt ihren Effekt immer in Abhängigkeit von Kontext und Rezeption.67 Brabazon weist am Beispiel der Vermarktung von Sportbekleidung überzeugend nach, wie Punk als ursprünglich widerständiges semiotisches System in einen allgemeinen Kontext von Marketing eingebunden werden und so sein Bedrohungspotential verlieren kann. Sie stellt fest, dass im Dienste der von ihr untersuchten Vermarktung von Sportbekleidung trotz des Rückbezugs auf einen Punkethos die Normierung von als weiblich bezeichneter Körperlichkeit vorangetrieben werden kann.68 Die subversiven Selbstermächtigungsstrategien von Punkrockerinnen der 1970er Jahre jedenfalls scheinen ihre Wirksamkeit heute verloren zu haben. Da-

63 Vgl. McCarthy, »Not Pretty Girls?«, 77f. 64 Vgl. ebd. 75f. 65 Ebd. 88. 66 Ebd. 89. 67 Butler, Gender Trouble, 147. 68 Tara Brabazon, »Punking Yoga«, Reconstruction 7.1 (2007), n. pag.

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mit gilt für die Innovation von Genderidentitäten durch Punk das gleiche wie für die anderen subversiven ästhetischen Innovationen der frühen Punkkultur: Der ihnen inhärente Selbstzerstörungsmechanismus ist ausgelöst worden und so stellt Sonja Eismann in der taz im März 2009 sicherlich mit Recht den extremen Backlash in der neuen Unterordnung weiblicher Körper unter eine Ökonomie des heterosexuellen Begehrens fest, wenn sie die tägliche Arbeit von Frauen am eigenen Körper mit dem Mechanismus des passing (als Mann durchzugehen) aus der Drag King-Szene vergleicht: »Was hier einen spielerischen, überschreitenden Charakter hat, wird von vielen Frauen täglich in langwieriger Arbeit am eigenen Körper aufgeführt, um in der Gesellschaft als ›echte‹ und damit möglichst attraktive Frau ›durchzugehen‹.« Eismann verweist als Beruhigung auf den »kulturellen Untergrund«, in dem Überschreitungen nach wie vor möglich seien.69

L ITERATUR Brabazon, Tara. »Punking Yoga: Reconstructing Post/Neo/Colonial Fashion and Movement«. Recostruction 7.1 (2007): n. pag. Brooker, Will und Jermyn, Deborah, Hg. The Audience Studies Reader. London: Routledge, 2003. Butler, Judith. Gender Trouble: Feminism and the Subversion of Identity. New York: Routledge, 1990. Daugherty, Rebecca. »The Spirit of ’77: Punk and the Girl Revolution«. Women and Music: A Journal of Gender and Culture 6 (2002): 27-35. Davies, Jude. »The Future of ›No Future‹: Punk Rock and Postmodern Theory«. Journal of Popular Culture 29.4 (Frühling 1996): 3-25. De Certeau, Michel. »The Practice of Everyday Life«. The Audience Studies Reader. Hg. Will Brooker und Deborah Jermyn. London: Routledge, 2003. 105-111. Eden, Dave. »Dissonance and Mutation«. Colloquy: Text Theory Critique 8 (2004): n. pag. Eismann, Sonja. »Der freie Zwang zur Sexyness«. taz Sonderausgabe »Der neue Sexismus« 7. März 2009. . (07.03.2009) Evans, Caroline. »Dreams That Only Money Can Buy … Or, The Shy Tribe in Flight from Discourse«. Fashion Theory 1.2 (1997): 169-188. Fannan, Richard. »Da Doo Ron Ron«. Rolling Stone Magazine 11. Mai 1968. 22.

69 Sonja Eismann, »Der freie Zwang zur Sexyness«, taz Sonderausgabe »Der neue Sexismus«, 7. März 2009, n. pag.

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DIE I NNOVATION IM

G ESCHLECHTERVERHÄLTNIS

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Die Tragödie in/der Postmoderne: Innovation und Konvention bei Edward Albee S OPHIA K OMOR

Innovation, im Sinne der Herausgeber dieses Bandes als ›starke‹ Innovation verstanden, war das zentrale Element des modernistischen »Make it new!« Die Postmoderne hingegen verwirft diese Möglichkeit: Es gibt nichts Neues mehr, alles ist Wiederholung oder Referenz. Trotzdem begnügt sich die Postmoderne nicht einfach mit der Konvention. Vielmehr spielt sie mit der Dichotomie, die durch die Gegenüberstellung der Begriffe konstruiert wird, und verschafft sich durch Entwertung dieser gerade die Freiheit, frei von Kategorien wie ›neu‹ und ›alt‹ denken und schaffen zu können. Wie diese so unterhaltsame wie unterschiedliche Beschäftigung des postmodernen Theaters mit Konvention und Innovation aussehen kann, werde ich an Edward Albees Drama The Goat or Who Is Sylvia (2002) untersuchen. Albee bedient sich hier jener traditionsbewussten Dramenform, die vielleicht die am stärksten konventionalisierte, zugleich aber auch für Innovationen attraktivste ist: die Tragödie.1 Das im Jahr 2000 entstandene Drama The Goat or Who Is Sylvia? erhielt für die Veröffentlichung 2003 einen weiteren Untertitel: Notes Toward a Definition of Tragedy. Albee ruft somit nicht nur die Tradition einer strengen inhaltlichen und formalen Funktionalität auf, sondern schreibt mit seinem Drama gleichzeitig

1

Dieser Beitrag greift zum Teil Gedanken auf aus Sophia Komor, »Ethik und Tragödie: Eine postmoderne Romanze?«, Ethik und Anerkennung, hg. Alexandra Böhm, Antje Kley und Mark Schönleben (Publikation in Vorbereitung).

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die andauernde Theoretisierung der Tragödie fort.2 Scheinbar fokussiert seine Annäherung an die Tragödie das Schicksal einer Familie nach der Offenbarung, dass der bis dato glücklich scheinende Familienvater eine außereheliche Affäre mit einer Ziege hat. Albee selbst fasst den Inhalt seines Stücks durchaus weiter: Für ihn ist es [a] play about intertwined matters – the limits of our tolerance of the behavior of others than ourselves, especially when such behavior ran counter to what we believed to be acceptable social and moral boundaries, and our unwillingness to imagine ourselves behaving in such an unacceptable fashion – in other words our refusal to imagine ourselves subject to circumstances outside our own comfort zones.

3

Der Schwerpunkt der »social and moral boundaries« ist es, der die Tragödie als Darstellungsform für diese Handlung am attraktivsten macht – obwohl gerade ihre strengen Vorgaben sie seit den avantgardistischen Bemühungen des Modernismus ungeeignet und veraltet erscheinen lassen. Terry Eagleton formuliert die Gründe für die Überholtheit des Genres polemisch folgendermaßen: There is an ontological depth and high seriousness about the genre which grates on the postmodern sensibility, with its unbearable lightness of being. As an aristocrat among art forms, its tone is too solemn and portentous for a streetwise, skeptical culture. Indeed, the term hardly scrapes into the postmodern lexicon.

2

4

Vgl. J. Ellen Gainor, »Albee’s The Goat: Rethinking Tragedy for the 21st Century«, The Cambridge Companion to Edward Albee, hg. Stephen Bottoms, Cambridge: Cambridge UP, 2005, 206.

3

Edward Albee, »About this Goat«, 2004, Stretching My Mind, New York: Carroll und Graf, 2005, 259.

4

Terry Eagleton, Sweet Violence: The Idea of the Tragic, Malden: Blackwell, 2003, ix. Dabei soll erwähnt sein, dass in einer Tragödie wahrscheinlich kaum jemals soviel gelacht werden durfte und musste wie hier. Die Figuren suchen mitunter im Humor Erlösung aus anderenfalls erdrückenden Situationen und lösen somit auch beim Leser momentane ‚Leichtigkeit‘ aus, denn »mirth can be a means of escaping the agony, your own and others’« (Adrian Poole, Tragedy: A Very Short Introduction, New York: Oxford, 2005, 72).

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Die Postmoderne scheint den »Konstruktcharakter und damit die Künstlichkeit [moralischer] Wertstrukturen«5 entlarvt und durch ihre Kritik zu unhaltbaren Positionen gemacht zu haben. Somit entfällt die moralische Aufgabe der Tragödie, die »Empfindungsfähigkeit des Menschen als Basis jeder Moralität«6 zu steigern, in der Postmoderne. Mein Ziel ist es somit zu zeigen, dass The Goat or Who is Sylvia? trotz der Erfüllung postmoderner dramatischer Ansprüche als »moral topography [for] the self«7 gelesen werden kann, als Innovation, die nicht erschafft, sondern verändert, was nicht mehr funktioniert. Ich verstehe die hier zu zeigenden Innovationen somit als eine »Abweichung von oder eine Änderung der herrschenden Norm«, deren »Wirkung […] auf das betreffende System« nicht zu ignorieren ist.8 Um die Möglichkeiten für Innovationen aufzuzeigen, ist es notwendig, den Blick zurückzuwenden zu der Tradition, die Albee aufruft und deren theoretischer Begründer Aristoteles ist. Über Aristoteles’ Tragödientheorie sind ganze Bibliotheken geschrieben worden. Ich werde kurz auf die wichtigsten Aspekte für meine Arbeit hinweisen, um daraufhin anhand dieser zu untersuchen, ob und wie Albee es vermag, diese zu (ver)ändern. Aristoteles bestimmt als Funktion der Tragödie die Katharsis9 des Lesers/ Zuschauers10, eine »›Reinigung‹ im medizinisch-psychologischen Sinn«11 durch

5

Heinz Antor, »Ethical Criticism«, Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, hg. Ansgar Nünning, 3. aktualisierte und erw. Aufl., Stuttgart: Metzler, 2004, 164.

6

Antor, »Ethical Criticism«, 163. In diesem Abschnitt des Eintrags geht es um Lessings Verständnis der Funktion von Tragödien.

7

Charles Taylor, »The Moral Topography of the Self«, Hermeneutics and Psychological Theory, hg. Stanley Messer, Louis Sass und Robert Woolfolk, New Brunswick: Rutgers UP, 1988, 298.

8

Klaudia Seibel, »Innovation«, Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, hg. Ansgar Nünning, 3. aktualisierte und erw. Aufl., Stuttgart: Metzler, 2004, 289f.

9

Ich bin mir der immer noch nicht zur Zufriedenheit aller gelösten Diskussion darum, wem genau Aristoteles die Katharsis zuschreibt – dem Leser, dem Nachahmenden oder der verkörperten Figur – bewusst, lese sie jedoch der herrschenden Meinung entsprechend für meine Zwecke als eindeutig dem Leser zugehörig. Eine zeitgenössische Interpretation der Katharsis bietet The Cambridge Encyclopedia, laut der jene beschrieben werden kann als »a sense of wonder and awe at human potential, including the potential for suffering« (The Cambridge Encyclopedia, hg. David Crystal, Cambridge: Cambridge UP, 1991, 1223).

10 Fortan werde ich ausschließlich vom Leser sprechen. Hier folge ich Aristoteles, für den die »Inszenierung […] zwar den Zuschauer zu ergreifen [vermag]; sie ist jedoch

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eine »Abreaktion eines Affektstaus«12 von den Erregungszuständen ȑȜİȠȢ und ijȩȕȠȢ, »Jammer und Schaudern«,13 wobei sich Jammer bei dem einstellt, »der sein Unglück nicht verdient, [und] das andere [Phobos, Schauder] bei dem, der dem Zuschauer ähnelt«.14 Diese Erregungen des Gemüts durchlebt der Leser beim Erfahren der Tragödienhandlung, um am Ende gereinigt, das heißt mit ausgeglichenem Gemütszustand, daraus hervorzugehen.15 Dabei ist der Moment des Umschlags vom Glück ins Unglück im Leben des Helden einer Tragödie die ʌİȡȚʌȑIJİȚĮ, und in diesem Moment schlägt auch die Empfindung des Lesers um. Außerdem ist noch der Moment der ܻȞĮȖȞȫȡȚıȚȢ in der Tragödie notwendig, um die genannten Wirkungen beim Leser hervorzurufen, nämlich der Moment der Bewusstwerdung des Helden über seinen bevorstehenden Untergang. Eagleton und andere kategorisieren Aristoteles also mit Recht als einen der ersten Strukturalisten: »As an early instance of reception theory, the work defines tragedy rather through its effects, working back from these to what might structural-

das Kunstloseste und hat am wenigsten etwas mit der Dichtkunst zu tun. Denn die Wirkung der Tragödie [Katharsis] kommt auch ohne Aufführung und Schauspieler zustande« (Aristoteles, Poetik (Griechisch/Deutsch), übers. und hg. Manfred Fuhrmann, Stuttgart: Reclam, 2006, 25. Der Zuschauer ist implizit mitzulesen. 11 Bernhard Zimmermann, »Aristoteles«, Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, hg. Ansgar Nünning, 3. aktualisierte und erw. Aufl., Stuttgart: Metzler, 2004, 29. 12 Hans-Dieter Gelfert, Die Tragödie: Theorie und Geschichte, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1995, 17. 13 »Wenn die Begriffe Phobos, Eleos und Katharsis die tragenden Säulen der Aristotelischen Definition sind, hängt alles davon ab, wie man sie übersetzt« (Gelfert 16). So wurden z.B. Jammer und Schaudern im bürgerlichen Drama Gotthold Ephraim Lessings zu Furcht und Mitleid. Da ich mich erstens auf Aristoteles beziehe und zweitens die sozialkritischen und kunstpolitischen Bemühungen Lessings für meine Zwecke als vernachlässigbar ansehe, werde ich weiterhin die aristotelischen Begriffe verwenden. Zur Einführung in die Unterschiede der Theorien von Aristoteles und Lessing siehe z.B. Michael Hofmann, Aufklärung: Tendenzen, Autoren, Texte, Stuttgart: Reclam, 1999. Zu einer kurzen Diskussion der übersetzten Terminologie Aristoteles’ und den Vorzügen der Begriffe »Jammer und Schaudern« vgl. Gelfert, Die Tragödie, 16f. 14 Aristoteles, Poetik, 19, 39. 15 Umgangssprachlich werden die Begriffe Tragödie und tragisch ohnehin inflationär und ohne Gedanken an den ursprünglichen Bedeutungsinhalt verwendet. Zur Entstehung und Entwicklung dieser Begriffe siehe z.B. Band 4 des von den Brüdern Grimm verfassten Deutsches Wörterbuch (1854-1960), The Cambridge Encyclopedia (1991) sowie Collins English Dictionary (2003).

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ly best achieve them«.16 Von diesem strukturalistischen Standpunkt aus fasse ich zusammen: The Goat spielt sich im ungefähren Zeitraum eines Tages im Appartement der Familie von Stevie und Martin ab; die Handlung ist so konzipiert, dass ganz im aristotelischen Sinne kein Teilstück ausgelassen werden könnte, ohne »dass sich das Ganze verändert und durcheinander gerät«.17 Die Bedeutung des Fehlers, griechisch ܼȝĮȡIJȓĮ, der den Fall des Helden auslöst, ist ebenfalls heftig umstritten; Konsens scheint jedoch darüber zu bestehen, dass es sich nicht einfach um einen Charakterfehler handelt, sondern viel eher um die Qualität einer »certain fallibility« einer Person, die nicht fehlerfrei, aber auch nicht schlecht und gemein ist.18 Jedoch ist nicht sofort eindeutig, welche der Figuren als ›tragischer Held‹ im Sinne Aristoteles gelten darf. Martin und Stevie, männliche und weibliche Hauptfigur, sind sympathisch gezeichnete Figuren, die »nicht trotz [ihrer] sittlichen Größe und [...] [ihres] hervorragenden Gerechtigkeitsstrebens, aber auch nicht wegen [ihrer] Schlechtigkeit und Gemeinheit einen Umschlag ins Unglück erleb[en], sondern wegen eines Fehlers«.19 Wir erleben in diesem Stück scheinbar den Fall eines common hero, eines erfolgreichen Architekten mit intaktem Familienleben, in die Abgründe dessen, was als dunkle, unterdrückte Seite der Zivilisation, als Kosten ihrer Errungenschaften bezeichnet werden kann. Dabei ist das Stück in drei Szenen aufgeteilt: In der ersten erfährt der Zuschauer durch Gespräche zwischen Martin und seinem Freund Ross von Martins Affäre mit einer Ziege; diese Szene dient als etwas widerwillige Exposition zur Einführung der Figuren und Inhalte. In Szene Zwei kommt es zur Auseinandersetzung zwischen Martin und seiner betrogenen Ehefrau Stevie, die durch einen von Ross geschriebenen Brief von der Affäre ihres Mannes erfährt; hier kommt es zunehmend zur Erkenntnis durch die Figuren und zum klassischen tragischen Umschlag; und in der dritten Szene folgt der Auseinandersetzung zwischen Martin und seinem Sohn Billy der Höhepunkt des Stücks, nämlich als Stevie blutverschmiert den Körper der von ihr getöteten Ziege auf die Bühne zieht; diese Szene dient Martin auch als Erkenntnismöglichkeit der Konsequenzen seiner Handlungen, auch wenn er sich nie dazu hinreißen läßt, seine Handlungen als falsch zu bezeichnen. Martin als scheinbar tragischer Held des Stückes hat seinen Fehler bereits begangen, als das Stück beginnt; seine tragische Schuld hat er durch die Bezie-

16 Eagleton, Sweet Violence, 3. 17 Aristoteles, Poetik, 29. 18 Poole, Tragedy, 46. Siehe auch Aristoteles Teil 13. 19 Aristoteles, Poetik, 39.

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hung zur Ziege Sylvia bereits auf sich geladen. Sogar die Versuche, in einer Selbsthilfegruppe damit umzugehen zu lernen und seine Gefühle für Sylvia zu unterdrücken und zu ignorieren, sind gescheitert. Die zwei Möglichkeiten, die sich ihm nun bieten, sind beide gleichermaßen unattraktiv. Sich mitzuteilen und Akzeptanz zu erwarten für seine Liebe zur Ziege Sylvia erscheint Martin schwierig bis unmöglich, vor allem, da er sich darüber bewusst ist, dass er etwas tut, das gegen die kulturelle Norm verstößt: »Yes, it was at this moment that I realized ... […] that what could not happen was going to«.20 Diese Liebe jedoch weiterhin geheim zu halten oder sogar zu verleugnen, also gegen seine Gefühle zu handeln, aber der kulturellen Norm zumindest öffentlich verpflichtet zu bleiben, erweist sich als zunehmende Belastung für Martin. Diese Entscheidung wird ihm daher abgenommen von seinem Freund Ross, der Stevie einen Brief schreibt, in dem er sie über Martins Affäre informiert. Ross, der ansonsten kaum in Erscheinung tritt, kann als Albees Version des Chors gelesen werden, als vox populi, die den Verlauf der tragischen Handlung ins Rollen bringt. Gainor bezeichnet ihn deshalb als »more of a structural device than as a thoroughly developed character«.21 Der von Aristoteles geforderte Umschlag vom Glück ins Unglück, der Moment der Peripetie, ist also von Martin nicht zu verhindern und nur indirekt von seiner tragischen Schuld ausgelöst. Martins Bewusstwerdung seiner Schuld kann man kurz vor Ende der ersten Szene feststellen: MARTIN.

[…] I’m seeing her.

ROSS.

You’re having an affair with her.

MARTIN.

(Confused) A what? Having a what!?

ROSS.

(Hard) You’re screwing her.

MARTIN.

(Sudden vision of it) Yes; yes; I’m screwing her. Oh, Jesus! […] I am seeing her; I am having ... an affair, I guess. No! That’s not the right word. I am ... (winces) screwing her, as you put it – all of which 22

is ... beyond even ... yes, I’m doing all that.

20 Edward Albee, The Goat or Who Is Sylvia? Notes Toward a Definition of Tragedy, Woodstock: Overlook, 2003, 84f. 21 Gainor, »Albee’s The Goat«, 211. Daher sehe ich es als gerechtfertigt an, Ross bei der weiteren Analyse außer Acht zu lassen, da seine Funktion als Strukturelement für meine Zwecke bereits ausreichend beschrieben ist. 22 Albee, The Goat, 43f.

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Die Peripetie der tragischen Figur Martin fällt somit auf den Moment, in dem er Ross auf einem Photo zeigt – nicht sagt –, mit wem er die Affäre hat. In dem Moment schlägt sein Glück ins Unglück um. Das ist auch der Moment, in dem die Gefühlszustände des Lesers vom Schaudern zum Jammer umschlagen müssten. Ich bezweifele jedoch, dass man vor diesem Moment einen Schauder vor Martin erlebt hat, und auch, dass man im weiteren Verlauf des Stücks, nämlich während der Auseinandersetzungen mit seiner Familie, um Martin (und damit um sich selbst) jammern wird. Insgesamt ist Martin also vielleicht eine (im zeitgenössischen Sinne) tragische Figur, aber kein tragischer Held nach Aristoteles. Eine traditionelle Tragödie bedarf jedoch eines tragischen Helden; möglicherweise bietet sich also die Figur Stevies an. Ihr tragisches Heldentum wird im Folgenden an der Struktur untersucht. In dieser vom Plot getriebenen Handlung folgt Albee der aristotelischen Forderung nach der vieldiskutierten tragischen Schuld, nach Bewusstwerdung dieser und nach dem Moment des Umschlags vom Glück ins Unglück. Die tragische Schuld lädt Stevie durch die Tötung der Ziege auf sich. Diese gewaltsame Transgression der Grenze zwischen Leben und Tod wird ausgelöst durch den Sieg von ‫ݏ‬ȡȦȢ über șȐȞĮIJȠȢ, vom eigenen Lebens- über den Todestrieb Stevies, visuell untermalt durch das rote Blut der Ziege an Stevies Armen und Kleidung.23 Die Anagnorisis ist in diesem Fall zu verorten in Stevies Erkenntnis, dass sie sich selbst nur retten kann durch die Tötung Sylvias. Die Peripetie, der Moment des Umschlags vom Glück ins Unglück, ist der Moment, an dem Stevie die Bühne mit den Worten verlässt: Fall out of love with me? Fine! No, not fine, but that can be fixed ... time ... whatever! But tell me you love me and an animal – both of us! – equally? The same way? [....] You have brought me down, you goat-fucker; you love of my life! You have brought me down to nothing! You have brought me down, and, Christ!, I’ll bring you down with me.

24

Dieser Moment ist der Wendepunkt, an dem Stevie resigniert, der Punkt, »an dem das Zufällige ins Unausweichliche, das Edle ins Schuldhafte, das SichAufbäumen ins Erliegen übergeht«.25 Wenn man meiner Setzung dieser aristotelischen Aspekte folgt, dann lässt sich nur noch Stevie als genuin tragische Heldin

23 Siehe die Freudsche Psychoanalyse im Zusammenhang mit Eros und Thanatos als den Urtrieben des Menschen. Siehe außerdem Ernst Feders Texte zur Psychoanalyse, in denen er eine dialektische Gegenüberstellung beider Triebe vornimmt. 24 Albee, The Goat, 88f. 25 Gelfert, Die Tragödie, 14.

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lesen, da nur sie aufgibt, da nur ihr »Sich-Aufbäumen« gegen das Schicksal, die Götter, die Liebe zum »Erliegen« kommt. Sie ist diejenige, die tragisch scheitert, indem sie schuldlos schuldig wird: die Tötung der Ziege ist notwendig, um ihre eigene Existenz zu erhalten. »Wenn der tragisch Scheiternde [Stevie] und sein Widersacher [Martin] die gleiche moralische Rechtfertigung für ihr gegensätzliches Handeln beanspruchen können, haben wir es mit der klassischen Situation eines tragischen Konflikts zu tun«.26 Die Rechtfertigung ist in diesem Fall auch der Grund allen Übels: die Liebe. Stevie ist damit die Figur, die im Zuschauer die von Aristoteles geforderten Emotionen Schauder und Jammer auslöst: »der tragische Held [muss] eine moralische Mittellage einnehmen, durch die er einerseits anfällig für eine schuldhafte Verfehlung ist und andererseits der jammernden Anteilnahme würdig bleibt«.27 Jedoch belässt es Albee nicht einfach dabei; stattdessen reversiert er die Reihenfolge der Emotionszustände: Stevie löst wohl eher zuerst Jammern aus und erst im Moment der Schuldigwerdung Schauder. Somit wird die aristotelische Katharsis unwirksam. Das Drama versucht keineswegs, eine emotionale Reinigung in wie auch immer gearteter Form hervorzubringen, sondern stattdessen zu einem intellektuellen Ergründen anzuleiten. Denn abgesehen von den strukturellen Meilensteinen, die mehr oder weniger streng dem aristotelischen Tragödienaufbau folgen, ist noch mehr dran an dieser Tragödie. Ich stimme J. Ellen Gainor zu, dass dies viel eher Albees dramatischer Kunst entspricht als die rein strukturelle Organisation der Tragödie: I would argue that Albee is not as much concerned with the dramaturgical creation and structure of tragedy – in a rethinking of the ›six constituent elements‹ outlined in the Poetics – as he is with tragedy’s meaning.

28

Denn wenn dies nicht so wäre, hätte Albee eine in Ansätzen eher klassische Tragödie geschrieben, die als wenig innovativ gelten müsste. Dass diese Tragödie zum Begreifen mit dem Verstand anleitet, wird somit im Folgenden inhaltlich begründet. Die existenzbedrohende und dadurch zugleich -affirmierende Frage am Ende jeder klassisch aristotelischen Tragödie könnte lauten: »Was ist der Mensch?« oder »Ist der Mensch nicht mehr als das?« Bei Edward Albees Drama The Goat or Who Is Sylvia? ist dies die Frage, die das ganze Stück stellt, wenn auch mit einer subtilen Schwerpunktverschiebung. Die Frage, die sich sowohl Figuren als

26 Gelfert, Die Tragödie, 14. 27 Ebd. 18. 28 Gainor, »Albee’s The Goat«, 205.

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auch Leser stellen, lautet: »Ist der Mensch dies auch? Gehört dies auch zum Menschen dazu?« Das impliziert, dass es bereits eine bestehende Definition des Menschseins gibt, die hier überprüft wird. Es wird keine neue Definition geschaffen. Jedoch stellt Albee selbst fest: »Well, bestiality is discussed during the play (as is flower arranging) but it is a generative matter rather than the ›subject.‹ The play is about love, and loss, the limits of our tolerance and who, indeed, we really are«.29 Mit dieser Frage spielt Albee bereits im Titel, wenn er fragt: »Who is Sylvia?« Die Antwort »Eine Ziege« ist dabei nur unzureichend, denn in diesem Drama ist Sylvia weit mehr als das: Für Stevie ist sie die ›andere Frau‹ und kann eben das nicht sein, da sie ein Tier ist; sie ist ›das Andere‹ allgemein, ein Tier, das vom Menschen durch seine Tierhaftigkeit abgegrenzt ist, von dem sich der Mensch als intellektuell und emotional intelligentes Wesen abgrenzt. Indem Albee also fragt: »Who is Sylvia?«, fragt er zugleich auch »Who are we?« und impliziert, dass wir uns nur in Relation zum ›Anderen‹ beschreiben und verstehen können. Die Antwort auf diese Frage ist schwer zu geben, und auch dieses Drama widmet sich ihr nicht leichtfertig. Der Leser wird durch Martin gezwungen, die Kategorien Mensch-Tier und alles damit Verbundene zu überdenken. Indirekt zwingt Albee uns, dem Menschsein bestimmte Eigenschaften entweder zu- oder abzusprechen und damit neue Grenzen der Eigendefinition zu schaffen oder alte zu bestärken. Dies tut er auf kunstvoll-komplexe Weise, indem er ein gesellschaftliches Tabu, Sex mit Tieren, mit dem großen Konzept Liebe verbindet und damit auf für den Leser unangenehme Weise Probleme aufzeigt in unserer Sichtweise des moralischen Menschen. Die Liebe als macht- und kraftvolles Konzept in diesem Stück ist vergleichbar mit der Gottheit oder göttlichen Kraft in antiken Tragödien, in diesem Fall Aphrodite, der griechischen Liebesgöttin, deren anderer Name – tragische Ironie? – ĮȞįȡȩijȠȞȠȢ, Männervernichterin, ist. Denn was auf den ersten Blick aussieht wie eine klare Sache – Mann betrügt Frau und Kind und überschreitet jegliche Grenze von Moral und Anstand, indem er Sodomie begeht, so dass Frau in ihrer Wut und Verzweiflung die Ziege tötet – wird ambig und problematisch, wenn man erfährt, dass Martin sich ehrlich und tatsächlich – zumindest in seiner Wahrnehmung – in die Ziege verliebt hat und aber auch seine Frau noch liebt. Sylvia steht hier also nicht nur für Tabubruch oder Normverletzung, sondern dient zudem als Metapher für eine Erfahrung, die nicht verständlich zu machen, nicht kommunizierbar ist, so dass gleichzeitig die ›passende‹ oder ›angemessene‹ Reaktion unmöglich wird. Albee gelingt das, was George Eliot als konstituierendes Merkmal der Tragödie erkennt: »Tragedy

29 Albee, »About this Goat«, 262.

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opens up big ideas to reveal the fissures within them«.30 Martin hat versucht, seine Gefühle für Sylvia zu unterdrücken bzw. zu verleugnen, aber sie waren stärker als die Überzeugung, dass er etwas moralisch Verwerfliches tut. Für ihn ist die Affäre zwar grundsätzlich falsch, aber nicht die Tatsache, dass er sie mit einer Ziege hat. Die Figuren befinden sich somit nicht in einer klar definierten Situation von Recht gegen Unrecht, sondern in einer Situation, in der die Grenzen des Unrechts unterschiedlich gezogen werden. Interessant ist dabei, dass Stevie Sylvia nicht tötet, weil sie die Konkurrenz oder Martins Liebe zu Sylvia nicht duldet; sie tötet Sylvia, weil Martin darauf besteht, dass Sylvia ihn auch geliebt habe, genau wie Stevie ihn liebte: »She loved you ... you say. As much as I do«.31 Das ist für Stevie das punctum saliens: Sie könnte mit seiner tierischen Untreue gerade noch leben, aber seine Gleichsetzung ihrer Beziehungen, ihrer Liebesbeziehungen ist zu viel für Stevie. Für sie wird die Gleichsetzung mit einer Ziege zu einer identitäts- und damit existenzbedrohenden Angelegenheit. So streitet sie sich z.B. mit Martin über das angemessene Pronomen für Sylvia: STEVIE.

[…] Now get to the goat!

MARTIN.

I’m getting there. I’m getting to her.

STEVIE.

Stop calling it her!

MARTIN.

(Defending) That is what she is! It is a she! She is a she! […]

MARTIN.

[…] And it was then that I saw her.

STEVIE.

(Grotesque incomprehension) Who!?

MARTIN.

(Deeply sad) Oh, Stevie ...

STEVIE.

(Heavy irony) Who!? Who could you have seen?

32

Ich schließe mich hier Deborah Bailins Fazit an, die in ihrer Untersuchung über Tiere in Albees Dramen zu Stevie feststellt: »Crossing the human/animal boundary by ›fucking a goat‹ is one thing; dissolving the boundary by insisting desperately and passionately that the goat has a soul, that the relationship ›isn’t about fucking,‹ and that Martin ›love[s]‹ Stevie ›and an animal – both of us! – equally‹ […] as well dissolves the self« (Bailin 20; meine Hervorhebung). Stevie versucht verzweifelt, diese Grenze aufrechtzuerhalten, dem von Martin betriebenen Auflösen entgegenzuwirken, zum einen, indem sie ihre eigene Superiorität über

30 Eliot zit. n. Poole, Tragedy, 58. 31 Albee, The Goat, 110. 32 Ebd. 65, 79.

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Sylvia festigt: »How can you love me when you love so much less?« (52), und ein andermal, indem sie versucht, Martin auf die Ebene des Tieres zu stellen: MARTIN.

I ... I went over to where she was – to the fence where she was, and I knelt there, eye level ...

STEVIE.

(Quiet loathing) Goat level.

33

Das »goat level« ist hier nicht nur wörtlich, sondern auch übertragen zu verstehen: Stevie erniedrigt Martin auf eine ‚subhumane‹ Ebene, um ihre eigene Menschlichkeit zu erhalten. Erschwerend kommt für Stevie außerdem hinzu, dass die Aufhebung der Mensch-Tier-Dichotomie auf einer Geschlechterkonstruktion basiert, die das weibliche Geschlecht näher an den Tiercharakter rückt als das männliche und »that this woman-animal continuity forms a major barrier for social equality between the sexes«.34 Als Konsequenz wird nicht etwa Sylvia durch die Gleichsetzung vermenschlicht, im Gegenteil: Stevie wird entmenschlicht, animalisiert.35 Dies wird zusätzlich unterstrichen durch den dramatischen Nebentext, der Stevie immer häufiger animalische Attribute zuschreibt, wie die folgenden Zitate zeigen: »As if the language were unfamiliar«, »STEVIE howls three times, slowly, deliberately«, »STEVIE A huge animal sound: rage«.36 So weiß sich Stevie nur dadurch zur Wehr zu setzen, so vermag sie nur dadurch ihre Menschlichkeit zu bewahren, dass sie das Tier tötet und damit den tierischen Teil ihres Selbst gewissermaßen exorziert. Die Ziege wird somit Opfer eines ritualistischen Mordes, einem »act as passionate and transgressive as that of [Stevie’s] husband«,37 und gleichzeitig zum Sündenbock, scapegoat, zur Rettung der insofern tragischen Heldin Stevie, als dass sie sich durch eben diese Selbsterrettung schuldig macht. Außerdem, so konstatiert Gainor, hallen in diesem Gewaltakt »those of Agave, Medea, and other women driven to extremes by those they loved« wider.38 Somit lässt sich Stevie also – viel eindeutiger und konsequenter als Martin – als tragische Heldin dieses Stücks kategorisieren. NeNeben diesem handlungsbezogenen tragischen Aspekt befindet sich Stevie sätzlich in einem moralischen Dilemma: Sieht sie Martins Verhalten und seine

33 Albee, The Goat, 81. 34 Barbara Noske zit. n. Deborah Bailin, »Our Kind: Albee’s Animals in Seascape and The Goat […]«, The Journal of American Drama and Theatre 18 (2006): 21. 35 Vgl. ebd. 21. 36 Albee, The Goat 70, 82, 87. 37 Gainor, »Albee’s The Goat «, 214. 38 Ebd.

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Gleichsetzung der Liebesbeziehungen als Ausdruck einer Krankheit an, entwertet sie ihre eigene Beziehung zu Martin. Gesteht sie ihm jedoch emotionale und moralische Normalität zu, erniedrigt sie sich selbst zu einem – in ihren Augen – Objekt. Indem sie Sylvia tötet, wehrt sie sich also vergeblich, denn tatsächlich erkennt sie so Martins Weltbild an und stellt sich selbst auf die Stufe Sylvias. Ihr Versuch, sich in ihrem menschlichen Selbstverständnis zu behaupten, hat also die gegensätzlichen Konsequenzen: sie legitimiert Martins Normalitätsanspruch und akzeptiert somit die eigene Erniedrigung. Anders als in den klassischen Tragödien wird hier allerdings nicht das Leiden des tragischen Helden in den Mittelpunkt gestellt und der Held dadurch symbolisch erhöht, sondern ganz im Gegenteil werden die Regeln und Konventionen in Frage gestellt, die dieses Leid überhaupt erst möglich machen. Die Beschwerden der politischen Linken, dass die Tragödie als Mittel zur Erhaltung des Status Quo Leiden verherrlicht und so politischen Fortschritt verhindert,39 werden von Albee gründlich außer Kraft gesetzt, indem er genau dieses tut: Er stellt den Status Quo in Frage, indem er die Konventionen, die den Status Quo ausmachen, grundsätzlich zur Diskussion stellt. Laut Albee gibt es einen menschlichen Sündenbock in diesem Stück, keinen tierischen: »There’s a real goat and also a person who becomes a scapegoat«.40 Die Figur, die am schlüssigsten als scapegoat interpretiert werden kann, ist Martin. Die Normverletzung, die Martin begeht, dient Albee als Mittel, die Normen und Konventionen der westlichen Zivilisation, besonders der amerikanischen Kultur zu hinterfragen und, wie Eliot sagt, »the fissures within« aufzuzeigen. Als Gegenpol zu Martins Tabubruch setzt Albee die Homosexualität Billys ein, die, relativiert durch den ›krasseren‹ gesellschaftlichen ›Fehltritt‹ Martins, nicht nur normaler, sondern normal erscheint. Billy, Martins und Stevies siebzehnjähriger Sohn, ist schwul, geoutet und hat sich damit arrangiert, auch wenn die ehrliche Akzeptanz im Familienkreis noch fehlt: »you’re letting me think you’re putting up with me being gay far better than you probably are«.41 Die oftmals im Grenzbereich der Norm verortete Homosexualität Billys erscheint hier, relativiert durch den klaren Normverstoß Martins, als normal. So wehrt sich Billy vehe-

39 »Tragedy is only a way of assembling human misfortune, of subsuming it, and thus of justifying it by putting it into the form of a necessity, of a kind of wisdom, or of a purification« (Roland Barthes zit. n. Alain Robbe-Grillet im Epigraph zu »Nature, Humanism, Tragedy«, Snapshots, and: Towards a New Novel, London: Calder, 1965, 75. 40 Albee zit. n. Gainor, »Albee’s The Goat«, 205. 41 Albee, The Goat, 100.

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ment gegen Vorwürfe seines zoophilen Vaters, dass sein Sexleben ebenfalls zu wünschen übrig ließe: »At least what I do is with ... persons!«42 Obwohl die Erkenntnis, dass die Liebe seines Vaters zu einer Ziege seine eigene promiskuitive Seite relativiert, eigentlich befreiend wirken könnte, verstrickt er sich immer stärker in einen inneren Konflikt: Verurteilte er seinen Vater wegen dessen sexueller Beziehung zu Sylvia, verhielte er sich so wie jene, die ihn selbst wegen seiner Homosexualität verurteilen, und zöge die Grenze des Akzeptablen im Bereich der Sexualität möglicherweise so eng, dass er sich selber erstickte. Akzeptierte er seines Vaters Präferenzen, hätte er keinen Referenzrahmen mehr für seine eigene Sexualität und wäre, überwältigt von dieser, verloren. Dieses Dilemma zeigt sich deutlich in einer Szene gegen Ende des Stückes, als Billy emotional und physisch auf seinen Vater zugeht: emotional, indem er ihm sagt, dass er ihn liebt, selbst wenn er ein »goat fucker«43 ist, und physisch, indem er ihn umarmt und küsst. Als dieser erst verwandtschaftliche Kuss in einen sexuell motivierten Kuss übergeht und dann von Martin gestoppt wird, versucht Billy hilflos zu erklären, wie es dazu kommen konnte: »It clicked over, and you were just another... [...] ... another man. I get confused ... sex and love, loving and ...«.44 Der Übergriff Billys, der hervorgeht aus seiner Verwirrung darüber, ob er die bestehenden Konventionen über angemessenes sexuelles Verhalten gelten lassen soll oder nicht, wird wiederum durch ein indirektes Geständnis Martins relativiert, mit dem er eben dies auch erreichen will: MARTIN.

There was a man told me once – a friend; we went to the same gym – he told me he had his kid on his lap one day – not even old enough to be a boy or a girl: a baby – and he had ... it on his lap and it was gurgling at him and making giggling sounds, and he had it with his arms around it, (demonstrates it) in his lap, shifting it a little from side to side to make it happier, to make it giggle more ... and all at one he realized he was getting hard. […] that the baby in his lap was making him hard – not arousing him; it wasn’t sexual, but it was happening. […] and then the moment passed, and he knew it had all been an ac-

42 Ebd. 48. 43 Albee, The Goat, 48. 44 Ebd. 104. Hier lässt sich eine interessante Verbindung zu Tennessee Williams’ Cat on a Hot Tin Roof herstellen, besonders zu Bricks »Click«, den er durch Alkoholkonsum in seinem Bewusstsein zu erreichen versucht. Siehe dazu John Kuhn, »Getting Albee’s Goat: ›Notes Toward a Definition of Tragedy‹«, American Drama 13.2 (2004): 24.

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cident, that it meant ... nothing – that nothing was connected to anything else.

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Wiederum ist Martin derjenige, der eine bedeutendere Normverletzung offenbart; die seines Sohnes wird dadurch wiederum normaler. Und wiederum wird der Zuschauer gezwungen, sich mit den Grenzen des Normalen und damit des Tolerierbaren auseinanderzusetzen. Ist dieser Verstoß Martins, von ihm als nicht sexuell motiviert und nicht absichtlich charakterisiert, tatsächlich ein nicht tolerierbares Vergehen? Wie sieht es mit der Bedeutung der Konsequenzen einer Handlung aus? Die hier beschriebene Handlung hatte offensichtlich keine Konsequenzen, Billys verwirrter Kuss genau so wenig wie seine Homosexualität. Die von Martin begangene Sodomie hingegen hat deutliche Konsequenzen für alle direkt und indirekt Beteiligten; das ist eben auch ein integraler Bestandteil von Martins tragischer Schuld: die Konsequenzen. Aber inwieweit fasst der Zustand der Ignoranz, in dem man die tragische Schuld auf sich lädt, auch die Ignoranz der Konsequenzen der eigenen Taten? Auf diese Frage antwortet Poole in seiner Very Short Introduction zur Tragödie ausweichend: It might be better to turn the issue around to say that tragedies ask what it means to say that ›we know what we are doing‹. Or indeed, that we know who ›we‹ are who are doing it […]. This is generally true of characters in tragedy. They demonstrate the partiality with which we know ourselves.

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Diese Partialität ist auch das, was der Leser von The Goat bei sich selbst feststellen muss: Welche Grenzen der eigenen moralischen Identität sind sinnvoll, welche sind wichtig, welche sind notwendig? Immer wieder wird der Leser dazu gezwungen, das eigene Verständnis von Normalität, die zwingende Gültigkeit von Konventionen zu hinterfragen. Außerdem weist Albee durch die zweifache Relativierung von Billys sexuellen ›Verwirrungen‹ durch Martins sexuelle Handlungen auf den inhärent heuchlerischen Charakter unserer Normen und Konventionen hin: Sobald eine Normverletzung stattfindet, die deutlicher scheint und unverständlicher ist, wird eine andere Normverletzung, die uns vorher inakzeptabel erschien, relativiert. Homosexualität wird im Stück und auch von uns Lesern relativiert durch die krassere Grenzüberschreitung Martins in Form von Sodomie. Inzestuöse Handlungen erscheinen bemitleidenswert, sobald das Tabu der Pädo-

45 Albee, The Goat, 104f. 46 Poole, Tragedy, 48.

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philie ins Spiel gebracht wird. Also fordert Albee uns nicht nur auf, unsere Konventionen und das Verständnis dieser zu überprüfen, sondern einen genauen Blick zu werfen auf ihre absoluten Bedeutungen, ohne dabei jedoch gleichzeitig eine Egalisierung allen sexuellen Verhaltens zu fordern. Albee kritisiert die scheinbare Ausschließlichkeit von Konventionen, die sich als gar nicht so ausschließend darstellen, wenn sie in Relation zueinander gesetzt werden. Dies wird noch mal deutlich, wenn Martin sich vehement der Interpretation seines Verhaltens als rein sexuell motiviert widersetzt, indem er seine Beziehung zur Ziege Sylvia als pur und unvergleichlich beschreibt: MARTIN.

[I]t was ... an ecstacy and a purity, and a ... love of a ... (dogmatic) un-i-mag-in-able kind, and it relates to nothing whatever, to nothing that can be related to. […] It was at that moment that I realized […] that she and I were […] going to go to bed together. […]

MARTIN.

A SOUL!! Don’t you know the difference!? Not a cunt, a soul!

STEVIE.

[…] You can’t fuck a soul.

MARTIN.

No; and it isn’t about fucking.

47

Vielleicht trägt Martin mit dem bereits an anderer Stelle aufgerufenen und hier implizierten Unbeschreibbarkeitstopos dem ethisch motivierten Ästhetiksinn seiner Frau und Albee dem des Lesers Rechnung, für die eine möglich gewordene Vergleichbarkeit mit einer ›normalen‹ Beziehung eine größere Herausforderung darstellte als die Tatsache einer sexuellen Beziehung zu einer Ziege an sich: STEVIE.

We prepare for ... things, for lessenings, inevitable […]. Something can happen that’s outside the rules, that doesn’t even relate to The

47 Albee, The Goat, 81, 85, 86. An dieser Stelle lohnt es sich zu erwähnen, dass Albee bewusst die Ziege und kein anderes Tier als Martins Liebesobjekt ausgesucht haben wird, da der griechische Terminus IJȡĮȖȦįȓĮ zusammengesetzt ist aus IJȡȐȖȠȢ und ȦįȒ – aus Ziegenbock und Gesang. Auch hier gelingt Albee also eine – wenn auch augenzwinkernde – Annäherung an eine Definition von ‚Tragödie‘. Wörtlich heißt es Bocksgesang, wird aber auch als Gesang zu einem Bocksopfer übersetzt und in der traditionellen Philologie als »Gesang der Böcke«, »d. h. als Gesang von Schauspielern, die sich mit Bocksfellen als Satyrn verkleidet haben« (Gelfert, Die Tragödie, 32).

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Way the Game Is Played. Death before you’re ready to even think about it – that’s part of the game. A stroke that leaves you sitting looking at an eggplant the week before had been your husband – that’s another. Emotional disengagement, gradual, so gradual you don’t know it’s happening, or sudden […] that’s another. […] But if there is one thing you don’t put on your plate, no matter how exotic your taste may be is ... bestiality.

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Für Stevie ist dies ein unverzeihlicher Vertrauensbruch, den sie sich nicht erklären kann. Dem Leser wird ebenso wenig eine Erklärung gegeben: Beide Figuren bestätigen an mehreren Stellen des Stücks, dass sie beide glücklich waren, dass sie einander nie betrogen haben, dass sie selbst nach 20 Jahren einander – auch sexuell – genügten: MARTIN.

People looked at me, said ›What’s the matter with you?!‹ ›Don’t you have any ... you know, lust?‹ And ›Sure,‹ I said, ›I’ve got plenty. All for Stevie.‹ […]

STEVIE.

[…] it’s amazing, you know, how good we are, still, how we please each other and ourselves so ... fully, so ... fresh each time.

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Das ist eben das, was diese Tragödie für den Leser so tragisch macht: Albee gibt uns nicht den Ausweg, die Gründe für Martins Ehebruch in seiner Schlechtigkeit oder Vernachlässigung durch Stevie finden zu können; damit können wir keine Schuld an der Tragödie zuweisen. Noch nicht einmal die Götter oder eine Gottheit können wir beschuldigen bzw. verantwortlich machen: es gibt sie hier nicht. Die Liebe, die Motivation im weiteren Sinne von Martins und Stevies Handlungen, ist keine göttliche Ordnung. Auch das greift Albee aus der aristotelischen Tragödie auf: Es gibt nie einen singulären Grund bzw. Verursacher: »It takes two to make the tragic act happen, both the human agent and the divine or nonhuman«.50 So funktioniert Martin nur im ersten Moment als Sündenbock im Stück, während er jedoch Albee ganz hervorragend als scapegoat dient, dem er alle Verfehlungen aufbürden kann, die notwendig sind, um die Funktion des Stücks zu stärken. Er lässt durch Martin den Zuschauern niemals die Möglichkeit, komfortabel ein Urteil fällen zu können, sondern er lässt sie unbequem in

48 Albee, The Goat, 59. 49 Ebd. 75, 89. 50 Poole, Tragedy, 50.

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ihren Sitzen herumrutschen; er erwartet gar Empörung und Entrüstung über die unangenehme Situation, in die er uns bringt: »It is a play that seems to be one thing at the beginning, but the chasm opens as we go further into it ... With any luck, there will be people standing up, shaking their fists during the performance and throwing things at the stage«.51 Daher kann die Figur Martin in ihrer strukturellen Funktion sehr wohl als Sündenbock Albees gelesen werden: »Scapegoats are meant to solve problems of guilt and innocence, but in tragedy they raise questions about the process of judgment by which blame is affixed and punishment executed«.52 Albee reiht sein Stück The Goat or Who Is Sylvia: Notes toward a Definition of Tragedy also qua Titel, Struktur und Figurenzeichnung in die Tradition der Tragödie ein, in variierter Weise: Die Gefühlszustände des Lesers entsprechen den aristotelischen in umgekehrter Reihenfolge, wodurch die Wirkung eine andere wird. Denn er zwingt durch seinen inhaltlichen Fokus auf Normbruch und den Umgang damit die Zuschauer, ihr Verständnis von Moral und Konventionen und damit auch vom Tragischen zu prüfen. Und mehr noch: Nicht nur sollen wir prüfen, was (uns) Konventionen bedeuten, sondern Albee schafft es auch, uns unsere eigene Hybris im Umgang mit denen, die sich nicht an unsere Konventionen halten, aufzuzeigen, wenn er uns klarmacht, dass wir Konventionen immer dann relativ sein lassen, wenn es nötig ist, andere Konventionen aufrechtzuerhalten. Er leitet uns an, mit den Urteilen, die wir fällen, vorsichtig, aber konsequent zu sein: »What we should look for in tragedy is instruction in humility«. 53 Es gelingt Albee erfolgreich, durch eine mildere Form des inhaltlichen Spielens mit Konventionen – ich will es Konventionsbeugung nennen – in der Tat die Tragödie formal und inhaltlich so zu verändern, dass sie den in der Postmoderne im Vordergrund stehenden intellektuellen Bedürfnissen des Publikums gerecht wird. Die thematisierte Normverletzung funktioniert als dramatische Basis sowohl im inneren als auch im äußeren Kommunikationskreis, das heißt zwischen theatralem Text und Zuschauer. Somit wirkt Albees Drama wie ein Experiment, das die Zuschauer durch die nicht nur für Stevie, sondern auch für sie selbst schwer nachvollziehbaren Handlungen Martins nicht nur zu einem aristotelischemotionalen Verstehen, sondern gleichzeitig zu einem intellektuellen Begreifen anleiten will, was als Tribut an die postmodernen Ansprüche an die Tragödie verstanden werden kann. Der Leser wird zu einer verstandesmäßigen Kognition angeleitet, die Emotionen rücken in den Hintergrund bzw. sind Mittel zum

51 Albee zit. n. Gainor, »Albee’s The Goat«, 205. 52 Poole, Tragedy, 52. 53 Ebd. 118.

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Zweck und nicht mehr Zweck allein. »Stretching [one’s] mind«54 – das ist, was Edward Albee vom Leser erwartet. Da ist es nur folgerichtig, dass er dies in einem Genre fordert, dessen Ursprünge ganz auf das emotionale Verstehen ausgerichtet sind. Er zeigt, dass es auch heute noch Tragödien und tragische Figuren gibt, passt diese jedoch der angeblichen postmodernen Aufgeklärtheit an, indem er das Thema Liebe rational verhandelt. Auf den klassisch-aristotelischen tragischen Held verzichtet Albee dabei; vielmehr erschafft er eine Tragödie mit mehreren tragischen Figuren. Man könnte sogar so weit gehen, die Gefühlszustände des Jammern und Schaudern auf Martin und Stevie aufzuteilen; Martin ist derjenige, der Schauder auslöst, und Stevie diejenige, die Jammern hervorruft. Dies unterstreicht noch einmal, dass Albee mit dieser Tragödie neue Wege beschreitet, die einer anderen Funktion dienen. Nicht zuletzt wird dies durch die fast schon klassisch postmodernen Strategien der Selbstreflexivität und Intertextualität deutlich gemacht: Nicht nur ist der Titel ein Zitat aus einem Zwischengesang in Shakespeares Verwechslungskomödie The Two Gentleman of Verona; mit dieser Referenz ruft Albee noch einmal die Frage nach dem Status einer Ziege auf, denn in Shakespeares Zwischengesang heißt es: »Who is Silvia? What is she, / that all our swain commend her? / Holy, fair, and wise is she; / the heaven such grace did lend her«.55 Hier ist Stevie mit ihrem Bestehen auf die Dinglichkeit Sylvias (»what is she«) genauso vertreten wie Martins fast schon heiligende Sichtweise Sylvias. Weiter heißt es bei Shakespeare: »Love does to her eyes repair, / To help him of his blindness«;56 dieses Bild greift Albee auf, wenn er Martin erzählen lässt, wie er sich in Sylvia verliebt hat: »and it was then that I saw her. And she was looking at me with ... with those eyes. [....] She was looking at me with those eyes of hers and ... I melted, I think. I think that’s what I did: I melted«.57 Der Moment, indem sich die Blicke von Martin und der Ziege treffen, ist der Moment, in dem Martin sich selbst erkennt; in Anlehnung an Shakespeare hilft ihr liebevoller Blick ihm also aus der eigenen Blindheit. Neben dieser intertextuellen Referenz gibt es noch weitere; so erinnert Albee z. B. an Eugene O’Neills Drama Long Day’s Journey into Night (1956), speziell an Mary Tyrones letzten Satz, wenn er Stevie über ihre Ehe zu Martin sagen

54 Edward Albee, Stretching My Mind, New York: Carroll and Graf, 2005. 55 William Shakespeare, The Two Gentlemen of Verona, 1598/1623, The Arden Edition of the Works of William Shakespeare, hg. Clifford Leech, London: Methuen, 1969, 86. 56 Shakespeare, The Arden Edition, 87. 57 Albee, The Goat, 81.

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lässt: »I fell in love with you [...] and I’ve been ... so ... happy«.58 Auch spielt er an einer Stelle auf sein eigenes Werk an, das Drama Tiny Alice (1964), das bis heute Kritikern und Wissenschaftlern Rätsel aufgegeben hat.59 Und als letztes, aber nicht erschöpfendes Beispiel, soll hier folgendes dienen: nachdem Stevie den von Ross geschriebenen Brief laut vorgelesen hat, kommt folgender kurzer Wortwechsel zustande: BILLY.

(Really sad) Oh, Dad!

MARTIN.

Poor Dad?

BILLY.

What?

MARTIN.

Nothing.

60

Hier spielt Martin auf den Titel Oh Dad Poor Dad Momma’s Hung You in the Closet and I’m Feelin’ So Sad (1960) von Arthur Kopit an. In diesem Drama geht es u. a. um einen toten Vater, den seine Witwe hat ausstopfen lassen und den sie auf Reisen mitnimmt. Da Billy die Anspielung nicht versteht, unterlässt Martin weitere Kommentare hierzu. Der Untertitel dieses Dramas lautet: A Pseudoclassical Tragifarce in a Bastard French Tradition. Wichtig ist bei diesen Anspielungen, die die Figuren vornehmen, dass sie sich dieser Anspielungen bewusst sind, dass sie nicht von Albee Worte in den Mund gelegt bekommen, deren Bedeutung sie nicht kennen oder verstehen. Die Intertextualität, die Albee somit konstruiert, funktioniert also nicht nur im äußeren Kommunikationskreis, sondern auch – mal mehr, mal weniger – im inneren. Analog sind sich Martin und Stevie auch über besonders Stevies Status als tragische Figur durchaus bewusst, »even as they continue to enact the inescapable fate now controlling their lives«, wie an den folgenden Beispielen zu erkennen ist: »MARTIN: What are you doing? / STEVIE: […] Being tragic« sowie »MARTIN: So ... shut your tragic mouth!«61 Albee spielt auf also unterschiedliche Weise mit den uralten Konventionen der Tragödie, die in der Postmoderne angestaubt und überholt erschien. Wie sollte es in einer Zeit der Illusionslosigkeit und der Gleichgültigkeit ein Kunstwerk

58 Albee, The Goat, 77. Mary Tyrones letzter Satz im Drama lautet: »I fell in love with James Tyrone and was so happy for a time« (Eugene O’Neill, Long Day’s Journey into Night, 1956, Complete Plays 1932-1943, New York: Library of America, 1988, 828. 59 Vgl. Albee, The Goat, 37 (»Large Alice«). 60 Ebd. 51. 61 Ebd. 81. Gainor, »Albee’s The Goat«, 212.

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schaffen, Jammer und Schaudern hervorzurufen? Er wird innovativ: nur durch ein rational-intellektuelles Argument, paradoxerweise motiviert von der Liebe. So funktioniert hier auch die chronologische Umkehrung der Empfindungen, eine klare Variation der aristotelischen Forderung. Albee arbeitet daran, die klassische Tragödie um die Ansprüche der Jahrtausendwende zu erweitern, indem er keine absolute Lösung der im Drama aufgerufenen Konflikte anbietet, sondern gerade im Verweigern dieser absoluten Lösung die Paradoxie unserer relativen, konventionellen Lösungen offenbart. Somit wird er insofern politisch aktiv, als er den moralischen Status Quo als unzureichend und irrational denunziert. In der Postmoderne, in der ethische Wertstrukturen durch Offenbarung ihrer Künstlichkeit überholt zu sein scheinen, behauptet Albee, dass nicht ihre Künstlichkeit das Problem darstellt, sondern die ihnen inhärente heuchlerische, opportunistische Qualität. Somit ist für ihn auch keine eindeutige Schuldzuweisung geschweige denn angemessene Bestrafung möglich. Sylvia als unschuldiges Opfer und Stevies als unschuldige Mörderin funktionieren nicht als Schuldige; das ist möglicherweise leichter einzusehen als Martins Ungeeignetheit als Schuldiger und Bestrafungswürdiger. Dennoch ist bei Albee auch er nur eingeschränkt schuldig – wobei die ›Restschuld‹ im dramatischen Raum erhalten bleibt. Der Leser kann sie nicht einer Gottheit zuteilen, sondern wird mit ihr allein gelassen und mag sich mitunter selbst schuldig fühlen – schließlich sind die im Drama aufgerufenen Konventionen auch Bestandteil der sozialen und kulturellen Umwelt des Publikums. Das Drama geht gewissermaßen nach seinem offiziellen Ende ›im Leser weiter.‹ Insofern trifft also der Schlachtruf der künstlerischen Moderne, »Make it new!«, der in der Postmoderne vielfach zur Unmöglichkeit erklärt wurde, auf Albees Drama durchaus zu, und seine Veränderung der Tragödie kann als eine ›starke‹ Innovation verstanden werden. Vielleicht ließe sich dem Untertitel folgendes hinzufügen: Notes Toward a Definition of Postmodern Tragedy.

L ITERATUR Albee, Edward. The Goat or Who Is Sylvia? (Notes Toward a Definition of Tragedy). Woodstock: Overlook, 2003. ———. »About this Goat [2004]«. Stretching My Mind. New York: Carroll und Graf, 2005. 259-63. Antor, Heinz. »Ethical Criticism«. Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Hg. Ansgar Nünning, 3. aktualisierte und erw. Aufl. Stuttgart: Metzler, 2004. 163-65.

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Of Unequal Immigrations: Adorno’s Transatlantic Intellectual Transfer J ATIN W AGLE

Theodor W. Adorno’s writings appear to be both translatable and untranslatable in the transatlantic context. This apparent paradox is the starting point of the present enquiry. The critical theorist is manifestly translatable, since most of his major texts have indeed been translated into English, and some of them more than once. Besides, as is evidenced by his writings during his exile in the United States between 1938 and 19491, he wrote in English, translated some of his own German language writings into English, and participated as an émigré in the intellectual transactions in the United States, albeit with varying degrees of success. On the other hand, there is an overwhelming consensus within the academia that his writings are intensely difficult, to understand and to translate. In fact, a mention of the almost insurmountable difficulty of translating Adorno – almost in the manner of a disclaimer – appears to be a necessary convention for his

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After a two-week exploratory visit in July 1937, Adorno moved to New York in February 1938 and worked both at the Institute of Social Research and the Princeton Radio Research Project (PRRS) until 1940. After the controversial end of his association with the PRRS, he functioned as a full-time associate of the Institute and shifted in November 1941 to Pacific Palisades in Los Angeles, California, where he lived until his departure to Frankfurt in 1949. He returned to the U.S. in October 1952 and worked as the research director of the Hacker Foundation in Beverly Hills. In August 1953, he finally shifted to Frankfurt as the Professor of Philosophy and Sociology at the Institut für Sozialforschung, where the Institut had been re-established in 1950-51.

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translations.2 Put simply, the argument rests on two distinct but related prongs, of linguistic and philosophical incompatibility, i.e. the problem of transferring Adorno’s paratactic German into English or of transferring critical thought in the dense tradition of German Idealism into Anglo-American academic prose with its emphasis on clarity and scientificity. Notwithstanding the obvious binaries that posit these linguistic/philosophical universes as more-or-less static and insular compartments, the question of Adorno’s untranslatability or difficulty posed as a historically defined linguistic/philosophical problematic is a valid approach in its own right. However, it masks the politics of Adorno’s transatlantic reception, which in turn is related to the lopsided historiography of Critical Theory [Kritische Theorie; hereafter KT], especially that of its exile in the United States. The transatlantic reception of Adorno’s American exile has been skewed mainly due to the mirroring frames of anti-Americanism and anti-intellectualism. Detlev Claussen (2008a) describes the critical theorist’s reception both in Germany and the United States as »a history of misunderstandings«. Thus, when the question of Adorno’s translatability is viewed in terms of the politics of intellectual transfer, the academic consensus regarding the intractable difficulty of his writings appears murky. Although for contrasting reasons, both his detractors and admirers seem to concur on this issue; the difficulty of his writings is either the expression of elitist high theory or a function of his dialectical complexity. In other words, the critical theorist is either too difficult to be relevant, or just poetic enough to be exiled to an epigraph. All in all, the fetish of untranslatability means that a substantive engagement with Adorno’s ideas is obviated. However, once rescued from the academic tug of war fought on the terrain of of high and low, the question of the critical theorist’s translatability reveals itself to be a political problematic. In what follows, I engage with the politics of Adorno’s intellectual transfer in the context of his experiences and writings as an intellectualin-exile in the United States.

T HE I MMIGRATION

OF I DEAS

The capricious distortion of ideas as they cross the borders of societies and languages is addressed in perhaps the best known political tract ever written by ex-

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The first ever book length translation of Adorno in English, Prisms, by Samuel and Shierry Weber, begins with Samuel Weber’s introduction, »Translating the Untranslatable« (Adorno 1967: 9-15). This remarkably eloquent essay actually served as one of the early inspirations for this enquiry. Several of the subsequent Adorno translators have also written about the difficulty of translating his works.

OF U NEQUAL I MMIGRATIONS

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iles, i.e. the Manifesto of the Communist Party. In a section ironically titled »German or ›True‹ Socialism«, in their epochal text from 1848, Marx and Engels cite the example of the »immigration« of French socialist literature to Germany, where it was received in the absence of comparable social realities that made those ideas relevant and revolutionary in the first place. Quite to the contrary, their mere transposition into a completely different social and historical context rendered them susceptible to a retrograde, ideological appropriation: The Socialist and Communist literature of France, a literature that originated under the pressure of a bourgeoisie in power, and that was the expressions of the struggle against this power, was introduced into Germany at a time when the bourgeoisie, in that country, had just begun its contest with feudal absolutism. German philosophers, would-be philosophers, and beaux esprits (men of letters), eagerly seized on this literature, only forgetting, that when these writings immigrated from France into Germany, French social conditions had not immigrated along with them.3 In contact with German social conditions, this French literature lost all its immediate practical significance and assumed a purely literary aspect. […] The work of the German literati consisted solely in bringing the new French ideas into harmony with their ancient philosophical conscience, or rather, in annexing the French ideas without deserting their own philosophic point of view. This annexation took place in the same way in which a foreign language is appropriated, namely, by translation.4

3

In constructing my argument regarding the travel of ideas and the differing social contexts of their appropriation, I draw on the latter half of this statement. The relevant part of the sentence in the German-language text of Manifest der Kommunistischen Partei reads: »[…] bei der Einwanderung jener Schriften aus Frankreich die französischen Lebensverhältnisse nicht gleichzeitig nach Deutschland eingewandert waren« (Marx/Engels 1983: 485). A literal translation would read: »[…] with the immigration of these writings from France, the French social conditions had not immigrated simultaneously to Germany«. It is indeed this trope of non-simultaneous or asynchronous immigration of thought that I believe captures the vagaries of intellectual transfer.

4

Marx & Engels (1969: 62). Needless to mention the obvious and delicious irony that not unlike other epochal texts, the Manifesto has been translated and appropriated in diverse social and historical conditions, and has in that sense, apparently transcended the moment of its conception. Nonetheless, one needs to be alive to the more significant irony that the current discussions in the Humanities still seem to operate within the conceptual frameworks that originated in »the long nineteenth century«. The project of KT was a political intervention in this larger historical problematic of intellectual transfer. It was an attempt in a sense to negate and transform [aufheben] the con-

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This well-known excerpt from the Manifesto raises many questions regarding the nature and transfer of thought, even as it clarifies the process through which radical French ideas were deradicalized in Germany in the early nineteenth century. The fundamental historical-materialist insight is clear: the movement of thought does not automatically entail social change, and it is actually the social conditions that determine the meanings that ideas take.5 In other words, thoughts are not self-evident in that they do not carry stable and unchanging meanings within them, as they are interpreted and used differently under diverse social conditions. An idea becomes, as it were, through its place in history and its relation with society, and its specific functions reside in particular contexts. However, by the same token no supple intellectual conception remains frozen in its time and place; it crosses the borders of land and language to become in another context. The movement of concepts across the boundaries of time, space and discipline is salutary or even required, insofar as they seek to grasp a society that is ever-changing. In this sense, the travel of ideas across time and space can serve to counter stagnancy and build bridges across differences. However, during the course of its journeys no idea carries with it – or within it – the moment of its emergence directly and completely, i.e. without any mediation. In other words, social conditions do not immigrate with either the same pace or consistency as the ideas they spur. As Edward Said (1983: 242) states, »No theory exhausts the situation out of which it emerged or to which it is transported«.6 A dialectic of mediation therefore separates and governs the relationship of thought and society. Intellectual transfers thus entail stories of these unequal immigrations, of the non-identity of ideas and social conditions.

ceptual apparatus which was inherited from the bourgeois age through its encounter with the evolving realities of the twentieth century modernity. One of the theaters of this encounter was another well-known text written by another pair of exiles; Max Horkheimer and Adorno in the Dialectic of Enlightenment confronted the conceptual apparatus of the Enlightenment with their own inexorable contemporaneity to Auschwitz. 5

Even though over the intervening centuries this insight appears to have become an axiom, it bears well to reiterate it, because generally speaking, all protestations aside, it is the academia that tends to overemphasize the significance of ideas in comparison to that of the material, social conditions.

6

Said (1983: 226-47) in his influential essay, »Travelling Theory« emphasizes the social and historical specificity of theory, whilst simultaneously acknowledging its travel as an enriching aspect that can prevent its lapse into imperial arrogance.

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These unequal journeys are susceptible to the processes of appropriation through which ideas could be emptied of their revolutionary content and as the Manifesto states, »assume […] a purely literary aspect«. Ironically, an idea which is reduced to its »purely literary aspect« is never purely literary, not simply for its sheer impossibility, but due to its ideological import. In other words, the distortion of ideas entails a distortion of the mediation of thought in society. Therefore, the process of depoliticization of thought, since it is an ideological enterprise, is not simply a linguistic or philosophical problematic, but primarily a political one. Precisely this annexation of ideas to another social reality, the defanging of thought, which Marx and Engels compare to the process of translation, resonates – albeit ironically – with the apparent academic consensus regarding Adorno’s untranslatability. By the same token, the academicization of KT, as it is evidenced in the secondary literature on Adorno’s exile in the United States, inasmuch as it involves the ideological forms of appropriation and depoliticization, demands a political engagement. Here, a word or two regarding the extra-academic [außerakademisch] context of KT are in order. In a programmatic essay published in the Zeitschrift für Sozialforschung, the journal of the Institut für Sozialforschung [hereafter Institute], titled »Traditional and Critical Theory«, Horkheimer (1937; 1988: 162216) clarifies its political project. In a footnote, he states that the »critical« in Critical Theory was meant, not in the sense of »the idealist Critique of Pure Reason«, but »the dialectical critique of political economy«7 (180). The references are clear; what is being chalked out by the émigré intellectual here is the outline of an independent and avant-garde form of Marx’s theory of society that distinguishes itself from the dogma of the official communist parties. Insofar as it is an engagement with the contradictions of a historically specific epoch, the substance of KT does not change as long as the underlying economic structure of the society, i.e. the class relations do not change. Thus, for Horkheimer, the interrelationship between theory and its materials, which exist outside of it, is not a process confined to academia, but a societal process (170). Academic disciplines are therefore problematic, since they reproduce the inequities of the existing division of labor and slice the society into fragments of knowledge that are then unable to address the entirety of societal praxis [gesamtgesellschaftliche Praxis] (173). KT on the contrary addresses each fragment of social experience bearing in mind the critical totality of social relations. Thus, he states, »To convert the critical theory of society into [an academic discipline, such as] sociology, is a

7

It is obvious that the references here are to Immanuel Kant’s Critique of Pure Reason and to the subtitle of Karl Marx’s Capital: Critique of Political Economy.

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wholly problematic undertaking« (213). Some of the prominent accounts of KT, especially of its exile in the United States, render this political context as a matter of biographical detail that the critical theorists needed to dilute in order to further their academic careers during their émigré years.8

T HE I NTELLECTUAL

IN I MMIGRATION

Within three weeks of the surrender of Hitler’s armies in Europe, on 27th May 1945, Adorno, by then a naturalized citizen of the United States,9 delivered a lecture on »Questions for the Intellectual Emigration«10 at the Jewish Club in Los Angeles. While speaking to a gathering presumably of German speaking Jewish refugees, for whom the prospect of returning to Europe might have seemed rather remote, the critical theorist begins by differentiating between exile and a more-or-less voluntary immigration. The émigré intellectual reminds his listeners that it is not common ideals but a »negative«, their shared experience of having been cast out of their European ›homeland‹ that bound them together, and he invokes this negative commonality to articulate his own politics of intellectual transfer in the context of forced displacement. He advocates a relatively clear form of émigré resistance: »If our experience binds us to something, then it is to resist oppression and injustice which today even one who is completely absorbed in self-preservation will recognize.«11 This experience of having »escaped the gas chambers« and then living as refugee intellectuals in the United States defines the historical import of KT. Claussen (2008: 7-8, 137) in his intellectual biography of Adorno discusses this particular émigré paradox structured simultaneously by his almost paradisiacal location in Southern California and the mediated »experience at a moment in history that calls all traditional experience of the world into question« (6), i.e. the horrors of Auschwitz and the Second World War ravaging Europe and Asia. He captures this fragmenting duality by redeploying Adorno’s partially autobio-

8

See for instance Wiggershaus (1994).

9

The Certificate of Naturalization dated 26th November 1943 was awarded to »Theodore Adorno«. See Adorno Archives (2003: 190).

10 »Fragen an die intellektuelle Emigration« (Adorno 1986: 352-9). 11 German Orig.: »Wenn unsere Erfahrung uns zu etwas verpflichtet, dann ist es, der Unterdrückung und dem Unrecht zu widerstehen, das heute selbst der erkennen wird, der ganz in Selbsterhaltung aufgeht« (Adorno 1986: 353).

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graphical motif of »Out of the firing-line« [Weit vom Schuss]12. Claussen (2008a: 1) views the »short essay«13 from Minima Moralia, sketched in the autumn of 1944 on a world-historical canvas, as »a theoretical lynchpin of Adorno’s experience of the Short Century14«. In the lecture delivered barely a year later, Adorno (1986: 353) states that the émigré intellectuals could genuinely express their gratefulness towards the land of their asylum by extending the lessons of their historical experience to their exile: »They could thank the Americans by standing by what they once knew and experienced, by measuring it against and extending it to the new experience but equally to what took place in Europe«. But, just as the experience of Old Europe retains its relevance for the critical theorist in his exile, his experience of the United States has a decisive impact on him even after his return to the Federal Republic in the early 1950s.

T RANSATLANTIC M OVEMENTS This transatlantic vision finds its clearest expression in a lecture which Adorno delivered in 1958, five years after his final return to Germany. The document titled »Kultur and Culture«15 is preceded by a disclaimer from its author, who was evidently reluctant to publish it but had to allow its circulation as a written text because an audio recording had already been allowed; a practice he likened to »the fingerprinting of the living spirit [Geist]«, and viewed it to be a symptom of the administered world, which nails down the ephemeral word whose truth lies in its very transience16 (3). Ironically, posterity appears to have granted Adorno

12 The German expression Weit vom Schuss (Adorno 1951: 59-63) has been translated as »Out of the firing-line« (Adorno 1978: 53-56) and as »Far from the firing-line« (Adorno 2005). However, it conveys simultaneously two senses that its English translation fails to capture. Apart from »out of harm’s way«, the other sense is »far from where the action is«. 13 Thomas Mann in a letter addressed to Adorno from 9th January 1952 had tried to characterize the form of writing in Minima Moralia as »long aphorism or short essay« (Adorno/Mann 2002: 97). Also cf. Claussen (2008a: 3). 14 The British, Marxist historian Eric Hobsbawm (1996: 5) in his The Age of Extremes uses the term »the Short Twentieth Century« or simply »the Short Century« to denote the world-historical period from the »outbreak of the First World War to the collapse of the U.S.S.R.«, i.e. between 1914 and 1991. 15 German orig.: »Kultur und Culture« (Adorno 1958). 16 This has been viewed as another example of Adorno’s alleged conservatism, his skepticism of technology and his intellectual overcautiousness. However, his numerous ra-

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his wish, as this has turned out to be possibly one of his least-known texts. Nevertheless its preservation is salutary, in that the document expresses in the most undisguised manner the critical theorist’s admiration for the United States and serves as a corrective against the general slant of anti-Americanism that pervades the academic assessment of his writings about his American experience. The lecture presents in the main an analysis of the transatlantic relationship through the respective conceptions of culture in the United States and Germany (and Europe). Whereas culture refers broadly to the lived reality of people, or the sphere of real, societal interactions in the New World, in Germany it is seen more-or-less purely as a category of the intellect or spirit [Geist]. The critical theorist relates this contrast to the divergent paths that the bourgeois society has taken in its development in the two lands. He sees the United States in no equivocal terms as »a country purely of the bourgeois revolution« (5) and points out that in Germany firstly the democratic revolution of 1848 and then the socialist revolution of 191817 had for a variety of reasons failed to dramatically alter the social fabric in the manner of the French revolution. Therefore, the spiritualization or intellectualization of the cultural realm in Germany, he suggests, serves in part as compensation for a certain kind of societal lack, i.e. the historical fact that the social reality was not fundamentally altered in terms of the bourgeois ideals. This is the reason why, according to Adorno, Germans tend to treat the realm of culture in absolute terms and forget that »a spirit [Geist], which satisfies merely itself and which has divested itself of every relationship with the formation of the reality, is actually no more a spirit« (5). On the other hand, this unfulfilled promise of culture – the historical failure to realize it within the existing social relations – takes on a utopian character, which in turn contributes to the multifarious potential of German philosophy and music. A narrative comparable to this dialectic of the bourgeois society and its characteristic failure in Germany also underlies Adorno’s assessment of the German

dio speeches and occasional television appearances are a testimony to the fact that he was not opposed to such recordings in principle. Apart from his resistance to any form of coercion, Adorno’s disclaimer underlines his sensitivity towards the question of the mediation of form and content. The specific content that had been fashioned in the form of a lecture could not be translated unproblematically into that of a printed essay. 17 Also known as the November Revolution, it refers to the revolutionary events starting with the soldiers’ and workers’ revolts at the end of the First World War, the Spartacist uprising in November 1918, leading up to the fall of the Munich Soviet Republic in 1919. For some of the critical theorists’ participation in the November Revolution, see footnote 23.

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language as a mode of intellectual and cultural expression. In one his most absorbing essays from Notes to Literature, titled »Words from Abroad«,18 he refers to the lack of linguistic integration of the foreign and indigenous elements in German, a symptom of a more fundamental historical failure of the language to become a modern bearer of reason. Adorno, not unlike Walter Benjamin, is nevertheless deeply aware that each moment of linguistic rationalization comes at the expense of injustice meted out to the subjugated »older and weaker element« (188). In modern European languages injustices that accompany progress have been tempered by compensating the vanquished to such an extent that modern culture could almost be characterized as a mode of compensation for the marginalized. However, in Germany, states the critical theorist, such equilibrium was never attained, as the »rational principle never achieved uncontested dominance« (188). But, in that »what was untamed survived«, this historical failure lends the German language with a »brittle and unfinished quality« which fashions both unwieldiness and a unique expressive potential that can circumvent the modern trappings of communicability (188). In a similar vein, he suggests, as the foreign and the indigenous facets were never reconciled in German, Fremdwörter or the words of foreign origin appear even more intransigently foreign, and therefore, this incongruity within the language again offers an uneasy potential that could be harnessed for the expression of truth. In contrast, states Adorno (1958: 10), »The form of articulation of American life […] could be described as a universal triumph of the Enlightenment […]«. Since Americans regard culture to be a specific realm within the lived social reality, they tend to view European or German culture as simply a world of images, and denounce it as a fraud. This, he clarifies, is actually the venting of a prejudice which also contains »a justifiable moment of critique of the social privilege from which [the German culture] is never entirely free« (6). While the American view of German spiritual culture is constructed by anti-intellectualism, he believes, when the Europeans accuse Americans of lack of tradition or culture, it is an expression of their culturally conservative anti-Americanism. It is obvious that the critical theorists experienced these dueling prejudices at first hand during their émigré years. But, what is not obvious is the fact that as transatlantic mediators they had also attempted to counter them. In a letter to Ruth Nanda Anshen, dated 28th January 1948, Horkheimer appears to embody the role of a transatlantic educator and states that he has been in correspondence with a group of young intellectuals in Europe. He writes, »I must try to prove to them

18 German orig.: »Wörter aus der Fremde« (Adorno 1991: 185-99); originally a lecture delivered for Hessischer Rundfunk [HR]; first published in Akzente in 1959.

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that the naïve progressivism and positivism which to them appears to be typical of American intellectual life, does not remain unopposed in this country« (Horkheimer 1996: 916). Ironically, these transatlantic frames of mutual prejudice appear to have distorted even the reception of Adorno’s American experience. As Claussen (2006) points out, »In anti-Americanism, a distorted social perception produces and internalizes the image of a wholly uncultured America; in anti-intellectualism, it produces a hypertrophic notion of culture that precludes social analysis«. While American anti-intellectualism projects Adorno as a conservative cultural critic or a speculative philosopher with no grasp of the empirical world, in Germany his writings about the United States are read with a slant of anti-Americanism, whose roots Adorno exposes in his analysis of the spiritualization of culture. An antidote to these distortive readings emerges through an examination of Adorno’s actual experience of transatlantic intellectual transfer.

I NTELLECTUAL E XPERIENCE The relevance of the concept of experience to his émigré years in the United States can be judged from the fact that Adorno (1998: 215-42) titled the only directly autobiographical account of his American exile »Scientific Experiences of a European Scholar in America«19 [Hereafter »Scientific Experiences«]. It is thus the category of experience [Erfahrung]20 – a pivotal and yet relatively undertheorized conception in KT – that animates Adorno’s understanding of intellectual transfer. Critical theorists understood intellectual activity to be predicated upon and continuous with their lived experience. In a letter addressed to Leo Löwenthal, dated 3rd October 1947, Max Horkheimer (1996: 901) writes, »[…] it has always been our conviction that the development of our conceptions does not

19 Emphasis added. First published in essay form in English in Perspectives in American History in 1968; German version »Wissenschaftliche Erfahrungen in Amerika« (Adorno 1977b: 702-38) appeared in print in 1969 in Neue Deutsche Hefte; radio lecture, »Wissenschaftliche Erfahrungen in den USA« broadcast on Hessischer Rundfunk on 31st January 1968. The term Wissenschaft in German, unlike »science« in English, does not primarily refer to the natural sciences but to academics in general, and in that sense, this title could be understood as regarding Adorno’s experiences of the American academia. 20 Adorno (1998: 213) in his essay »On the question: »What is German?«« suggests that Erfahrung is one amongst several concepts which have rather specific imports in German, and therefore, cannot be rendered without violence into English.

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exclusively express itself in theoretical writings, but in the conduct of our lives. There must be an interaction between existence and theory as it is exemplified in our own history […]«. Thus, experience is here not simply a category of intellectual analysis, but an integrative conception that mediates the collectivity of ideas and the lived reality. However, the lived reality of the émigré intellectuals was blighted by their ineluctable contemporaneity with Auschwitz. Shaped by a reifying social reality, which the critical theorists confronted in its most terrifying, tenebrous radiance only in their exile, their conception of intellectual experience is both precarious and apparently paradoxical. In other words, the possibility of conscious and continuous experience becomes tenuous when those forms of existence which made it possible, viz. the bourgeois belief in the unified consciousness of the individual subject, do not exist anymore. The experience of the fragmenting nature of the modernity in the Age of Catastrophe21 diminishes the very capacity of the subject to experience the world in a unified manner reminiscent of the naïveté of the bourgeois society of »the long nineteenth century«22. If autonomous subjectivity had been invested with utopian potential by the bourgeois society, modernity negated this possibility with a fracturing of experience, simultaneously brought about in different spheres of the social reality by totalitarian and systematized terror, monopoly capitalism and the culture industry. For Benjamin and Siegfried Kracauer, friends of Adorno’s who were some years older to him, this fin-de-siècle awareness grew out of the shattering experience of the unprecedented destruction of the First World War. Correspondingly, for his senior colleagues at the Institute, such as Horkheimer, Friedrich Pollock and Herbert Marcuse, it was accompanied by their disenchanting experience of

21 This is how Hobsbawm (1996: 6) describes the first part of the Short Twentieth Century, i.e. the period »from 1914 to the aftermath of the Second World War«. I redeploy the term here to discuss Adorno’s mediated experience of this age as it was defined by the First World War, the rise of Nazism (and Fascism) in Europe, Auschwitz, the Second World War and its conclusion in Hiroshima and Nagasaki. 22 Again, a term coined by Hobsbawm to refer to the period between 1789 and 1914 in world history. In his three texts, The Age of Revolution: Europe 1789–1848, The Age of Capital, 1848–1875 and The Age of Empire, 1875–1914, he analyzes the period that begins with the French Revolution and ends with the beginning of the First World War. Claussen refers to this period also as »the bourgeois century« [das bürgerliche Jahrhundert].

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the failed socialist revolution of 1918-1923 at the end of the War. As Claussen (2008: 7) suggests, »The experience of the loss of experience is one of the oldest motifs of Critical Theory […] Adorno turned this motif into a touchstone of the philosophy of history of Critical Theory«. Intellectual engagement with a contradictory modernity, hurtling through catastrophes towards a »totally administered world«, inevitably risks the dangers of reification and reduction. After Auschwitz, in which »the de-individualization of the individual as historical process culminates«24, this paradox is deepened immeasurably as the intellectual’s engagement with the historical reality becomes more urgent than ever but is simultaneously rendered virtually impossible. It is this evident paradox underlying intellectual transfer in the Short Century that formed the crux of the philosophical argument of Negative Dialectics, which Adorno had earlier planned to entitle »Theory of intellectual experience«25. In a letter written to Adorno from Paris in May 1940, just about five months before his tragic death while attempting to flee Nazi occupied France, Benjamin reflects on the reifying facets of the culture industry. He expresses his agreement with the broad direction of analysis contained in Adorno’s essay »On the Fetish Character in Music and the Regression of Listening« which was published in Zeitschrift für Sozialforschung in 1938. This essay discussed how hit songs and their fetishistic arrangement of lyrics and music petrify the listener’s experience into a »half-twilight of familiarity« (Adorno 1973: 36) and forgetfulness. In response, Benjamin writes, »There is no better example of the experiencedestroying recording than the arrangement of the lyrics of a hit song to melody.

23 These members of the Institute were associated – although they were outside the political fraction of the movement – with the Rätebewegung, the German political movement of workers’ councils or soviets, which culminated in the failed revolution of 1918-19, also known as Novemberrevolution in Germany. See also footnote 9. Horkheimer expressed his disillusionment with this kind of politics in the aftermath of these tumultuous, but disappointing events, in a collection of aphorisms and short essays written between 1928 and 1934, titled Dämmerung [Twilight], and first published under the pseudonym Heinrich Regius. His analyses of the growing ineffectiveness of the working class during this period and his criticism of the dogmatic policies pursued by the Communist Party of Germany could be found in his essay »The Impotence of the German Working Class«. See Horkheimer (1978: 61-4); see also Dubiel (1985: 12-4). 24 Attributed to Moshe Zuckermann (2004). 25 German orig.: »Theorie der geistigen Erfahrung«; see Claussen (2009: 86). Roger Foster (2007: 2-4) advocates the translation »Theory of spiritual experience«.

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(Here it becomes evident that the individual prides himself on treating the contents of potential experience just as the Administration does the members of a potential social association.)«26 Quite unexpectedly, he relates the culture industry’s »recording« and consequently diminishing of experience to an unforgettable childhood memory of his, containing what he describes as »the roots of [his] ›theory of experience‹«.27 After visiting the »obligatory destinations«28 during their holidays, his brother used to say, »Now we can say we’ve been there«.29 Here, Benjamin connects the modern, banal taxonomical tendency, in this case that of a child-as-tourist, who relegates his actual, potential experience to being able to know (and perhaps narrate) the experience, to the larger tendency in culture industry that reifies the very possibility of experience into a commodity. Thus, in this private remark just months before his planned emigration to the United States, Benjamin foreshadows the connections drawn between the culture industry and the »totally administered society« in later works such as the Dialectic of Enlightenment. In the same missive Benjamin writes about another kind of experience that was shared not only by the two friends, but by almost all of those associated with the Institute and which was the defining feature of its intellectual milieu, i.e. the

26 German orig.: »Es gibt kein besseres Beispiel der die Erfahrung zerstörenden Registrierung als die Zuordnung eines Schlagertexts zur Melodie. (Es zeigt sich hier, daß das Individuum seinen Stolz darin setzt, die Inhalte möglicher Erfahrung so zu behandeln wie die Administration die Elemente einer möglichen Sozietät)« (Adorno & Benjamin 1994: 424; parenthesis in the original). Martin Jay (2005: 312), begins his essay »Lamenting the Crisis of Experience: Benjamin and Adorno« with a quotation from the same letter, but he cites the already dodgy translation in such a way that the critique of the culture industry is replaced with an émigré lamentation: »Writing on May 7, 1940, from his precarious exile in Paris, Walter Benjamin (1892-1940) expressed to his friend, Theodor W. Adorno (1903-1969), himself only recently uprooted to New York, his anguish at ›the methodical destruction of experience‹«. 27 German orig.: »die Wurzel meiner ›Theorie der Erfahrung‹« (Adorno & Benjamin 1994: 424). 28 German orig.: »obligaten Ausflugsziele« (Adorno & Benjamin 1994: 425). 29 German orig.: »Da wären wir nun gewesen« (Adorno & Benjamin 1994: 425). The brother being spoken about here is Georg Benjamin, a doctor of medicine, who from 1920 onwards was first active in USPD [Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlandsand] and then the Communist Party of Germany [Kommunistische Partei Deutschlands]. He was captured and imprisoned in 1933. In 1942, he was murdered in the concentration camp at Mauthausen.

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ambivalent experience of the »assimilated« Jews in Europe. He describes the exterritoriality of the European Jewry as an experience of being simultaneously here and elsewhere, being assimilated and yet discriminated against, the experience of »that’s just not it« [das ist es nicht]. As Claussen argues, it was the European Jewry who had followed the principles and promises of the Enlightenment the most, until they were shattered by Auschwitz. However, this progressive belief in the bourgeois promise of liberty was tempered by the everyday experience of anti-Semitism. In his letter, Benjamin refers to another of Adorno’s essays, »The George – Hofmannsthal Correspondence, 1891-1906« which was – as a tragic-ironic expression of their intellectual collaboration – first published in a mimeographed edition titled Walter Benjamin: In Memoriam brought out by the Institute in 1942. Benjamin compliments Adorno on his discussion30 of »[…] the experience of ›that’s just not it‹ – that very [experience] which turns time into a lost one«31 in Proust. He goes on to state, »It seems to me now that for Proust there should have existed a deep, hidden (but not therefore unconscious as well) model of this fundamental experience: i.e. the ›that’s just not it‹ of the assimilation of the French Jews«32. Benjamin further suggests, »Precisely because Proust was only half Jewish, it could afford him insights into the precarious structure of assimilation; an insight that was brought home to him from the outside because of the Dreyfus affair«.33 Benjamin’s letter to Adorno thus articulates two aspects of the concept of experience in KT, involving two distinct forms estrangement. The first is the critique of the societal tendency, which is structured by the culture industry, and where one is so estranged from one’s own experience that one categorizes and classifies experience as though it were a set of discrete and congealed facts or

30 See Adorno (1967: 196). 31 German orig.: »[…] Erfahrung des ›das ist es nicht‹ – eben der, die die Zeit zu einer verlorenen macht« (Adorno & Benjamin 1994: 429). 32 German orig.: »Mir will nun scheinen, daß es ein tief verstecktes (aber nicht darum auch unbewußtes) Modell dieser Grunderfahrung für Proust gegeben habe: nämlich das ‚das ist es nicht› der Assimilation der Französischen Juden« (Adorno & Benjamin 429; parenthesis retained). 33 German orig.: »Gerade, daß Proust nur Halbjude war, konnte ihn zu Einblicken in die prekäre Struktur der Assimilation befähigen; eine Einsicht, die ihm durch die Dreyfuscampagne von außen nahe gelegt worden ist« (Adorno & Benjamin 429). The Dreyfus affair from the 1890s and early 1900s, where a military officer of Jewish descent was wrongly convicted of treason, revealed the fault-lines of the French society, the limits of Jewish assimilation and the deep impress of anti-Semitism.

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commodities for exchange. The second involves a more ambivalent form of estrangement, which comes from the discontents of the European Jewish assimilation, from being a precarious part of the social mainstream, from having a tenuous access to its capital. This form of alienation has been a facet of the social and intellectual experience of the European Jewry, which is a simultaneously diminishing and enabling experience.

E XILE

AND I NTELLECTUAL

T RANSFER

Perhaps, being half Jewish himself, or rather having internalized the historical European Jewish experience, where the general norms of the bourgeois society were often translated into specific forms of pressures towards assimilation, Adorno was equally suspicious of the inner coercion towards integration that emigration engenders. This historical experience of the dialectic of individual autonomy and social duress informed his conception of émigré intellectual transfer. Forced displacement, in that it compromises the very freedom that makes intellectual activity possible, complicates the already precarious possibilities of intellectual transfer or what the forties‹ discourse in the United States had labeled as the intellectual contribution of the European émigrés to the society of their refuge. In his lecture to the Jewish Club, Adorno points to the ideology behind the demand of a ›positive‹ contribution: »Without the moment of freedom, the talk of contribution becomes a beatification of conformism, of rendering oneself serviceable, ultimately of the desertion of the self«34. While seeking to thus contribute to the American society, if the refugee intellectuals chose to toe the line, the critical theorist suggests, they would in fact end up insulting their American hosts and deriding their democratic ideals. With characteristic irony he contends, »Human rights were not thought of as rewards for docile behavior« (353). On the contrary, he suggests that émigré intellectuals would need to resist the compulsions of conformity35 with a critical selfreflection [Selbstbesinnung], if they were not to betray the very spirit that was embodied in their difficult experience of exile. According to Adorno, intellectual contribution is made especially difficult in the sphere of hermeneutic sciences

34 German Orig.: »Ohne das Moment von Freiheit wird die Rede vom Beitrag zur Verklärung des sich Anpassens, sich nützlich Machens, schließlich der Selbstpreisgabe« (Adorno 1986: 353). 35 Adorno uses the English term »adjustment« in both »Scientific Experiences« and »Kultur and Culture«, but then translates it as Anpassung, an expression that comes closer to the senses conveyed by »conformity« and »assimilation«.

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[Geisteswissenschaften], as at its very core resides a critical moment articulating both the coherence and contradiction of the lived totality of society and history. Hegel equated the task of the spirit to the principle of negation, that of transcending the merely existent, he suggests, not simply for the sake of fashioning something better, but actually in order at first to comprehend that very existent. This particular awareness of the task of conceptual clarification, Adorno states, exposes the complacency and dishonesty of the conventional and superficial exhortation about the émigrés needing to contribute positively to the society. Nonetheless, seven years into his American exile, Adorno had realized that conceptual labor of this kind, which emphasized the critical moment in the comprehension of the totality of social experience, was fraught with numerous difficulties in the context of the institutional, academic framework in the United States. He had been confronted with them immediately after his arrival in New York in 1938, as he started working on the Princeton Radio Research Project36. Paul Lazarsfeld, who headed the Project, had known him from the late 1920s and early 1930s as a sociologist and specialist in the field of European art music, and imagined him to be the ideal choice to head the study of radio music programs as part of the larger Project. But Adorno’s formation as an avant-garde art musician as well as musicologist, and most significantly, his sociological critique of empirical research proved to be incompatible with Lazarsfeld’s pragmatic »administrative research«. The minutes of a discussion from March 1938, between Horkheimer (1985: 431-5) and Adorno, on the »Methodological problem in the ›Radio Research Project‹« reveal both the apprehensions as well as the insights with which Adorno had approached the Project. He feared that his European formation could adversely affect his evaluation of the listeners’ correspondence (Horkheimer 1985: 434-5). Besides, he was deeply conscious of the ideological function of a research method that studied the responses of the listeners because for him »...the taste of the masses [was] itself a function of the social process«37. And, without apprehending the objective social conditions that informed subjective manifestations, such as musical taste, »likes and dislikes studies« of the kind

36 The Project, titled »The Essential Value of Radio to All Types of Listeners«, was funded by the Rockefeller Foundation and was carried out at Paul Lazarsfeld’s research institute in Newark, New Jersey. For Adorno’s retrospective account of his experiences with the Project, see his »Scientific Experiences«. Also see Claussen (2006). For more details, see Wiggershaus (1994: 236-46); for a more-or-less Lazarsfeldian account, see Morrison (1978). 37 German orig.: »[…] der Geschmack der Massen selber eine Funktion des gesellschaftlichen Prozesses ist« (Horkheimer 1985: 433).

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that the Project had undertaken could only reproduce a standardized response elicited by the culture industry. While critiquing the standardization in radio and the rather predictable excuse of the content providers that they were »giving the people what they want[ed]«, Adorno (2006: 215) in his »A Social Critique of Radio Music« elucidates his basic theoretical disagreement with Lazarsfeld by recalling a joke that the latter had cracked about what he had viewed as the absurdity of Adorno’s overly skeptical attitude towards the methodology of empirical analysis of listeners’ reactions to radio: An old African-American cook suspects a dog to be the reincarnation of an old man. Her mistress suggests cautiously that as the dog was playing with children, it may not really be the case. To which the old cook replies, »but I am not so sure about them children either«. In his response, Adorno readily identifies himself with the old African-American cook, and states, »I not only suspect radio, but I’m not so sure about the listeners’ primary reactions […], for they may still depend on the standardizing agency« (215). In his autobiographical account of his émigré years in the United States, Adorno (1998: 221) phrases his skepticism with this method in terms of mediation: »Through recourse to subjective behavioral responses to music I came up against the question of mediation. The question arose precisely because the apparently primary, immediate reactions seemed to me to be an insufficient basis for sociological knowledge since they were themselves in fact mediated«. This fundamental theoretical difference between Lazarsfeld and Adorno as regards the efficacy of empirical analysis of subjective taste, as well as what was perceived as Adorno’s intransigence by John Marshall, the Rockefeller Foundation official in charge of the Project, eventually led to the termination of the music section of the Project. Ironically, in 1940, as Adorno’s involvement with the Project came to an end, Lazarsfeld’s hardnosed approach appears to have been rewarded; he was honored by the advertising industry for his research which had evidently »succeeded in demonstrating the economic significance of radio education for advertisers« (Hullot-Kentor 2006: 105-6). This experience of »communications research« profoundly shaped Adorno’s approach towards the American academia, and he appears to have had it in mind when he offered its critique in his lecture to the Jewish émigrés in 1945: »The organization of American intellectual life, which broadly mirrors the industrial, confronts every intellectual with a choice, either to integrate oneself or to lan-

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guish as an impotent outsider«38. Adorno had earlier addressed the question of the shrinking of the intellectual space in an age of monopoly capitalism in his essay on Aldous Huxley which evidently emerged out of a symposium on the novelist’s dystopian text, Brave New World, organized in 1942 by the members of the émigré Institute of Social Research in Los Angeles. In this piece, which was later published in Germany in 1951 as »Aldous Huxley and Utopia«, Adorno (1967: 98) characterizes the celebrated novel as the manifestation or rationalization of the intellectual’s panic in face of his/her impotence »in the machinery of the universally developed commodity relation […]«. His reflections on the novel are firmly grounded in his own experience as an émigré scholar in the United States: »It is made unmistakably clear to the intellectual from abroad that he will have to eradicate himself as an autonomous being if he hopes to achieve anything or be accepted as an employee of the super-trust into which life has condensed« (98). As he points out in his lecture from 1958, »Kultur and Culture«, Adorno considered the New World not only to have forged ahead of Old Europe in terms of its social development, but to be a harbinger of the future European societies. Thus, what is often read as an unmitigated denunciation of the American society is in fact a critical reflection on the modern social tendency towards the constriction of intellectual autonomy, which the critical theorist had first encountered in the United States in the late thirties and early forties. The historical and societal émigré context, defined by the gradual developments in the United States from the New Deal towards the »affluent society«, coupled with the growing threat of totalitarianism, was perhaps already somewhat distant and inaccessible in postwar Germany – in spite of the provocative reference to Wrigley’s chewing gum as the modern metaphysics – when the Huxley piece appeared in 1955, anthologized in the collection of Adorno’s critical essays, Prismen. But, in his lecture delivered three years later, he clarifies that »the power of resistance against totalitarian tendencies in the United States is greater than any European country…« (9), as the everyday praxis of democracy there was far more substantial than in Germany. The émigré historical context is on the contrary quite inescapable in another contribution occasioned by the critical theorists’ discussion of Brave New World, a draft entitled »On the Problem of Needs«39. This brief document, apparently

38 German Orig.: »Die Organisation des amerikanischen Geisteslebens, die weitgehend die industrielle widerspiegelt, stellt jeden Intellektuellen vor die Wahl, entweder sich einzugliedern oder ohnmächtiger Außenseiter zu bleiben« (Adorno 1986: 355). 39 German orig.: »Zum Problem der Bedürfnisse« (Horkheimer 1985: 252-56).

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written jointly by Horkheimer and Adorno while working on the Dialectic of Enlightenment, contains a section on the critique of the culture industry that ended up in revised form in Adorno’s Huxley essay. Seeking to draw out the distinctions between material and intellectual needs [ideelle Bedürfnisse], the draft refers directly to the federal assistance »pint of milk« (252) program instituted in the forties by the Franklin D. Roosevelt administration and thus locates itself rather frontally in the context of the New Deal politics. Using a somewhat unorthodox metaphor, the critical theorists conclude, »The societal order belongs just as well to the milk as does the fat content«40. The critical method gets clarified at the end of the draft, when they suggest that the truth content of Huxley’s dystopian observations could be reclaimed not by reading them in isolation, but by contextualizing them in a political critique of the present. They go on to explain, »Under no circumstance can dialectical thinking remain indifferent to the specific form of dehumanization that affects people under monopoly capitalism. […] The maxim that the human being has turned into the machine’s appendage, needs to be qualified on the basis of today’s conditions, deepened, and brought to bear upon historical questions«41.

I NTELLECTUAL T RANSLATION Ironically, these ideas, which were honed in the crucible of the post-Depression, New Deal United States of the late 1930s and 1940s, needed more than a quarter of a century to return to their birthplace as English language translations. Prismen found its translators in Samuel and Shierry Weber in 1967. Even a cursory glance at his foreword to Prisms, the only book of his to be translated into English in his lifetime, reveals that Adorno did not expect an unproblematic transfer of his ideas into English. He claims to know »the difficulties which confront such texts in the English-speaking world« (Adorno 1967: 7), as he had become acquainted with what he calls »Anglo-Saxon norms of thought and presentation« through his own experience of writing scholarly texts in English in the period of

40 German orig.: »Die gesellschaftliche Ordnung gehört ganz genau so gut zur Milch wie der Fettgehalt« (Horkheimer 1985: 253). 41 German orig.: »Gegen die spezifische Form der Entmenschlichung, die sich am Menschen unter dem Monopol vollzieht, kann das dialektische Denken ganz und gar nicht gleichgültig sein. […] Die Lehre, dass der Mensch zum Anhängsel der Maschine wurde, ist auf Grund heutiger Verhältnisse zu differenzieren, weiterzutreiben und auf die geschichtlichen Fragen anzuwenden« (Horkheimer 1985: 256).

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his American refuge42. Adorno states, »These norms are essential to him as a control […]«, but qualifies, »he considers matters of fact to be not mere fact, unreflected and thinglike, but rather processes of infinite mediation«. Thus, he presents his intellectual orientation as a mode of thinking that seeks to »illuminate the realm of facticity« with reflection »which diverges radically from the accepted canon of scientific validity« (7). However, it is Samuel Weber’s introduction titled »Translating the Untranslatable« – ostensibly approved by Adorno – that provides the first extensive discussion of the intense linguistic as well as philosophical difficulties involved in translating Adorno into English, where he proclaims, »The untranslatability of Adorno is his most profound and cruel truth« (15). In his »Scientific Experiences«, Adorno describes his intellectual formation before his exile in similar terms: »The direction marked out for me through my first thirty-four years was thoroughly speculative […] in my case inseparable from philosophical intentions. I thought it suited me personally and was objectively necessary to interpret phenomena, not to ascertain, organize, and classify facts, let alone to make them available as information, not only in philosophy, but also in sociology«43. Later, in the same essay, he clarifies that although he was grateful to have found refuge in the United States, he was loath to give up who he was, and the »tension between these two attitudes should to some extent describe the manner in which [he] related to [his] American experience« (Adorno 1998: 216). Similar tensions appear to mark Adorno’s relationship with the English language as an intellectual mode of expression. In his lecture to the Jewish Club delivered more than two decades earlier he reflects on the issue of writing in English as a German-speaking émigré. He finds the evident enthusiasm for the new language amongst some of the scholars in exile to be suspect, and asserts »that for the sake of communication and intelligibility one abandons not only the nuances and eloquent moments of thought, in which inheres its actual life, but that one simplifies and reifies it to such an extent that nothing more remains of its substance. In that one deludes oneself into exercising elegant simplicity and serene profundity to get rid of the European tortuousness and eccentricity, one

42 He mentions his contributions to The Authoritarian Personality; his essays on music sociology for the Princeton Radio Research Project; studies such as »How to Look at Television« [The Quarterly of Film, Radio and Television VIII (Spring 1954), 21335.]; and »The Stars Down to Earth« [Jahrbuch für Amerikastudien 2 (Heidelberg, 1957).] 43 Adorno (1998: 216; emphasis retained). For the German version of this essay, which first appeared in print in 1968 in English, see Adorno (1977a: 702-38).

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does not necessarily produce crystal-clear formulations of one’s ideas. One rather chops them up into little nuggets […] and stirs them up in a gravy of general intellectual agreement«44. Here, language becomes an aspect of the pressures of conformity that the émigré needs to resist in order to remain true to his/her ideas. Although he wrote extensively in both German and English in his exile and although his German language writings from the late thirties onwards are replete with English/American expressions, he believed that the English language had still remained foreign to him. As one can gather from their extensive correspondence, this was one amongst several points of disagreement between him and his older friend, Kracauer. In a letter written shortly after his first return to Frankfurt, in July 1951, Adorno writes to him, »I just cannot shake off my superstition that we can state the important things only in our own language […]«.45 He returns to this theme in a letter from September 1955, written after the publication of Prisms in German: »[…] what someone like us has to say of significance can only be stated in German. At best we could write English like the others, but like our own selves only German«.46 It is then quite understandable, when the critical theorist cites language to have been an objective factor for his permanent return in 1953 from the United States to Germany. In his essay »On the Question: ›What is German?‹«, which was first delivered as a radio address in 1965, Adorno (1998: 205-14) speaks of the German language’s »special elective affinity with philosophy and particularly with its speculative element«, which he believed the West justifiably viewed to be dangerously vague (212). He suggests that when one uses a foreign lan-

44 German orig.: »daß man um der Mitteilung und Verständlichkeit willen nicht nur alle Nuancen und Ausdrucksmomente des Gedankens preisgibt, in denen dessen Leben recht eigentlich besteht, sondern daß man auch die Sachen selber so vergröbert und verdinglicht, daß von ihrer Substanz nichts mehr übrigbleibt. Indem man sich vormacht, edler Einfalt und stiller Größe sich zu befleißigen und die europäische Gewundenheit und Verstiegenheit loszuwerden, bringt man es nicht etwa zur kristallklaren Formulierung seiner Ideen. Vielmehr zerschneidet man sie in kleine Bröckchen selbst lange Sätze zu schreiben getraut man sich ja nicht mehr - und verrührt sie in einer allgemeinen Sauce der geistigen Verständigung« (1986: 356-7). 45 German orig.: »Ich komme nun einmal nicht von meinem Aberglaube los, daß wir die entscheidenden Dinge nur in der eigenen Sprache sagen können[…]« (Adorno/ Kracauer 2008: 461). 46 German orig.: »[…] das Entscheidende, was unsereiner zu sagen hat, von uns nur auf deutsch gesagt werden kann. Englisch könnten wir allenfalls so schreiben wie die anderen, so wie wir selbst nur deutsch« (Adorno/Kracauer 2008: 482).

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guage as an intellectual mode of expression, one courts the danger of falling »[…] under the captivating spell to communicate, to say it in such a way such that others can understand. In one’s own language, however, if one says the matter as exactly and uncompromisingly as possible, one may hope through such unyielding efforts to become understandable as well« (212). Evidently, this remark too is related to his émigré experience. In his speech to the fellow exiles from 1945, Adorno addresses the question of communicability as regards intellectual transfer, and asks the émigré scholars to focus unwaveringly on the content of their work, and allow it to express itself without getting entangled in the notions of communicability and target audiences. He states, »In a world, where everything is communication, only the one who does not shrewdly seek to speak to people would in truth end up speaking to them« (Adorno 1986: 355). But, in his radio speech twenty years later, Adorno invokes his émigré experience as a corrective in his account of his relationship with the United States and the English language. He warns against the dangers of »the metaphysical surplus of the German language« (213; trans. amended) which appears to guarantee its own truth. His exile affords not only critical distance but also a vantage point from which the familiar is stripped off its illusory certitudes: »The returning émigré, who has lost the naive relationship to what is his own, must unite the most intimate relationship to his native language with unflagging vigilance against any fraud it promotes […]« (213). Adorno’s experience of writing in English in exile, even as he might have initially seen it as a factor constricting his style and imagination, was by no means completely negative. Although his involvement in the Princeton Radio Research Project had come to an inauspicious and hasty end, he was able to make productive use of his otherwise negative experience of »communications research«. He went on to publish, with the assistance of George Simpson, one of his first fulllength essays in English, ›On Popular Music‹, in 1941 in Studies in Philosophy and Social Science. In a telling comment even someone like Rolf Wiggershaus (1994: 244), who is often gratuitously critical of Adorno’s style of expression, acknowledges that it was perhaps »one of the clearest and most straightforward of Adorno’s essays«. Moreover, it appears to have been quite a success, as the praise from the reviewer of the New York Herald Tribune indicates (244). In the reminiscences regarding his collaboration on the Project, Adorno (1998a: 225) acknowledges his debt of gratitude to Simpson, who worked as both translator and editor on many of Adorno’s texts that emerged out of his work on the Project. This appears to have been a genuinely productive intellectual relationship, because according to Adorno, Simpson, an American, »was familiar with the sociological criteria acknowledged in the USA, and as the translator of Durkheim’s

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Division du travail …was equally familiar with the European tradition« (226). Furthermore, though Adorno was wary of formulating his »ideas in American English as undisguisedly and vividly as was necessary to give them dimension«, it was Simpson, who »encouraged (Adorno) to write as robustly and uncompromisingly as possible« (226). At least three more essays emerged out of Adorno’s difficult, and yet productive, relationship with the Radio Research Project. »The Radio Symphony«, the only one to be accepted by Lazarsfeld as the project’s publication, appeared in Radio Research 1941. »A Social Critique of Radio Music«, which was originally a lecture given to the staff of the Project in 1939, appeared in 1945 in the Kenyon Review, while his critique of the NBC Music Appreciation Hour remained unpublished.47 It is obvious that some of the deepest crises confronting the intellectuals-inexile are regarding the relationship of their past formation with the exilic present. In an aphoristic short essay in Minima Moralia, titled »To them shall no thoughts be turned«, Adorno writes of the diminution of the past in exile, »The pre-life of the émigrés is, as is known, annulled. Earlier it was the rap-sheet; today it is the intellectual experience that is declared as nontransferable, and as utterly alien to the species«48. The pressures of exile undermine the complexity of one’s formation as an individual and reduce it to a somewhat glib notion of »background«. In other words, exile is the violent negation of the past, of history, resulting in a diminution or distortion of the émigré intellectual. In his lecture from 1945, Adorno returns to a discussion of the dangerous alternative which was being offered to the exiled scholars, that of rejecting or reinventing the past, if they were to avoid being cast off as ineffectual outsiders. He reminds his audience of fellow refugees that although an unproblematic transfer of the European émigré’s past into America was impossible, »the human beings, who do not strike themselves out as individuals, are no blank slates, and that in the intellectual context the notion of beginning from scratch represents a fiction«49. In a

47 All these English language essays, with hitherto unpublished additional material, were finally published in 2006 in book form under the title, Current of Music by Suhrkamp Verlag. See Adorno (2006). 48 Adorno (1978: 46-7; trans. amended; emphasis added). German orig.: »Das Vorleben des Emigranten wird bekanntlich annulliert. Früher war es der Steckbrief, heute ist es die geistige Erfahrung, die für nicht transferierbar und schlechterdings artfremd erklärt wird« (1951: 52). 49 German orig.: »…daß Menschen, die sich nicht als Individuen selber durchstreichen, kein leeren Tafeln sind; daß die Vorstellung, von vorn anzufangen, im geistigen Bereich eine Fiktion darstellt« (Adorno 1986: 358).

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statement that emphasizes the dialectics of intellectual transfer, he suggests, »Nothing else is left to us but to transfer in some measure that which is not transferable«50.

C ODA: T RANSFERRING

THE

N OT T RANSFERABLE

I have posed the question of intellectual transfer, in particular that of Adorno’s transatlantic transfer, as a tale of unequal immigrations, as a narrative unfolding through the appropriation and distortion of thought. Adorno’s forced emigration to the United States was a precarious and yet productive experience that profoundly structured his thought. As witnessed in his writings during his American exile and after his return to the Federal Republic, he sought to clarify the centrality, the rich complexity and ambiguity of his American experience. But, the academicization of KT has disassociated Adorno’s writings from the concrete historical instance of his American émigré experience. And, ironically, the two transatlantic frames of distortion, of anti-intellectualism and anti-Americanism that he addressed in his lecture on »Kultur and Culture« in 1985 have effectively reduced his own transatlantic engagement to a caricature in the mainstream academia. The critical theorist’s untranslatability is thus a function of the politics of intellectual transfer, and therefore, of the non-identical journey of thought and historical experiences. In this context, a substantive, political engagement with Adorno’s ideas entails in some measure a transfer of the not transferable.

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50 German orig.: »Nichts anderes bleibt uns übrig, als gewissermaßen das nicht Transferierbare zu transferieren« (Adorno 1986: 355). Also see Claussen (2006: 10-11).

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Die Renaissance konventioneller Strategien in postmoderner Theorie und Literatur: Ethik zwischen relativistischen und realistischen Tendenzen N INA VON D AHLERN

I In der späten Postmoderne hat eine Renaissance konventioneller Strategien in Literatur und Theorie stattgefunden.1 Diese Renaissance lässt sich aus dem generellen Wettstreit zwischen relativistischen und realistischen Tendenzen im 20. und beginnenden 21. Jahrhundert erklären, der auch die bestimmende intellektuelle Auseinandersetzung der Postmoderne ist. Inhaltlicher Schnittpunkt ist die Ethik, die ebenfalls eine Renaissance erlebt hat. Dazu soll im Folgenden eine kurze philosophie- und literaturtheoretische Abhandlung zur sozio-historischen Entwicklung in den westlichen Gesellschaften skizziert werden. Vor diesem Hintergrund wird dann geklärt, was diese Renaissancen übereinander aussagen können. Beispielhaft wird dazu das nordamerikanische soziokulturelle Umfeld besprochen. Primäres Ziel ist die Weiterentwicklung der Theorien auf der Ebene der Metaphysik. Dies ist somit der Beginn einer Wanderung durch das, was Robert M. Pirsig das »high contry of the mind«2 genannt hat.

1

Der Terminus postmodern wird hier zunächst rein historisch genutzt.

2

Robert M. Pirsig, Zen and the Art of Motorcycle Maintenance: An Inquiry into Values, New York: Bantam, 1984, 111.

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If all of human knowledge […] is believed to be an enormous hierarchic structure, then the high country of the mind is found at the uppermost reaches of this structure in the most general, the most abstract considerations of all. […] In the high country of the mind one has to become adjusted to the thinner air of uncertainty, and to the enormous magnitude of questions asked […]. Many trails through these high ranges have been made and forgotten since the beginning of time, and […] civilizations have varied in the trails they have chosen and we have many different answers to the same question […].3

Mit der Feststellung, dass es in der Metaphysik »many different answers to the same question« gibt, ist auch das primäre Problem bereits benannt. Grundsätzlich ist es in den Wissenschaften natürlich nicht als problematisch anzusehen, wenn verschiedene Lösungsansätze existieren, aber in dem Bereich, in dem es um letzte Fragen geht, scheint das Vorhandensein alternativer Antworten die gesamte Fragestellung zu untergraben. Besonders wenn es um normative Urteile geht, also um Fragen der Ethik, ist dies eine schwierige Situation. Und genau hier liegt auch der Kern des oben genannten Konflikts zwischen realistischen und relativistischen Positionen – im Normativen.4 In einer relativistischen Sichtweise, die verschiedene Perspektiven aufzeigt, wird es sehr schwer, normative Urteile oder Vorschriften zu begründen. Kann es überhaupt ethische Verhaltensmaßstäbe geben, die universell gültig sind? Ist nicht gerade das Zusammenrücken verschiedener Kulturen in der postmodernen Globalisierung Anlass genug, um von universell gültigen Moralsystemen Abstand zu nehmen? Genau dies liegt klassischen realistischen Positionen zugrunde: Sie gehen davon aus, dass universell gültige Aussagen für jedes mögliche Lebewesen gelten müssten, also auch für potentielle objektive Beobachter aus

3 4

Pirsig, Zen, 111f. An dieser Stelle müssen einige Vorbemerkungen gemacht werden: Mit Ernst Tugendhat werden die Begriffe Ethik und Moral nicht qualitativ differenzierend genutzt. Es wird von Moral gesprochen, wenn es um alltägliche Probleme und Fragen geht, und von Ethik, wenn übergreifende theoretische Standards gemeint sind (vgl. Ernst Tugendhat, Vorlesungen über Ethik, Frankfurt: Suhrkamp, 1993, 25). Die Bezeichnungen realistisch und relativistisch sind im philosophischen und auch im literaturkritischen Diskurs nicht klar festgelegt. Im Folgenden wird daher eine eigene Definition gesetzt, die durch Vereinfachungen offensichtlich einen Angriffspunkt der hier vorgestellten Ideen darstellt. Wenn es aber grundlegend menschliche Strukturen gibt, die der phänomenologischen Welt zugrunde liegen, dann können diese besonders in der komplexen postmodernen Gesellschaft nur durch adäquate Simplifizierungen erkannt werden.

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dem All. Diese Art von Universalismus scheint tatsächlich im postmodernen relativistischen Klima unmöglich geworden zu sein. Aber wie kann Ethik dann beschrieben werden? Dazu sollen in diesem Rahmen vier ganz grundsätzliche Fragen gestellt werden, die den vorliegenden Text leiten und strukturieren: 1.) Wieso ist es angebracht, sich dem beschriebenen Problemfeld im Rahmen der in diesem Band gestellten Diskussion um Konvention und Innovation zu nähern? 2.) Warum ist der Konflikt zwischen Relativismus und Realismus, der vielen bereits als ausgefochten gilt, für eine Problematisierung dieses Themenkomplexes zentral? 3.) Inwiefern ist das Thema Ethik im postmodernen Umfeld überhaupt als wichtig anzusehen? 4.) Wie stellt sich die Verbindung von Ethik zum Kontext von Literatur und Theorie genau dar? Weiter reichende Überlegungen müssten selbstverständlich den Inhalt einer möglichen neuen Ethik betreffen. Hier sollen aber vor allem die oben stehenden Punkte behandelt und dabei ganz besonders der Frage nach der Verbindung zwischen Literatur und Ethik nachgegangen werden. Im Folgenden wird einleitend eine Antwort auf die Frage nach Innovation und Konvention fallen. Daraus ergibt sich bereits der Einstieg in den Kontext von Literatur und Theorie, den es später auszuarbeiten gilt. Anschließend wird der Konflikt zwischen Relativismus und Realismus über die Renaissance konservativer Strategien thematisiert und daraus werden abschließend Schlussfolgerungen zur Ethik abgeleitet. Der Fokus der Theoriebildung ist in Zeiten der Postmoderne zu sehr auf die Innovation gerückt. Besonders die Unterschiede und die Variationen von Konventionen und auch von Normen in unterschiedlichen Kulturkreisen wurden diskutiert und Pluralismus wurde zum vorherrschenden Merkmal der Theoriebildung. Konventionen oder Normen wurden lange Zeit nur als negatives und unterdrückendes Moment festgehalten. Dieser Fokus sollte wieder ins Gleichgewicht gebracht und die Konventionen stärker untersucht werden. Ein Ansatz auf der metaphysisch-ethischen Ebene muss sogar davon ausgehen, dass es grundlegende und universelle (menschliche) Konventionen gibt, auf Basis derer Innovation überhaupt erst möglich wird. Daher kann das Ziel dieser Herangehensweise als Konzentration auf bestehende (normative) Konventionen im weitesten Sinne beschrieben werden.5

5

Hier kann bereits eine gewisse Überschneidung zu Fragen aus dem Bereich der philosophischen Anthropologie festgestellt werden, die aber aus strukturellen Gründen nur am Rande erwähnt werden können.

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II Konventionen können im Rahmen der Entwicklung in Literaturwissenschaften und Theorie mit den althergebrachten realistischen Tendenzen (also der nichtproblematisiert repräsentierenden Erzählweise bzw. dem externen Realismus, zu dem auch das empirisch-naturwissenschaftliche Weltbild gehört) gleichgesetzt werden; wohingegen die Innovation durch die relativistischen Perspektiven im Anschluss an die Entwicklung der Phänomenologie (u.a. im Rahmen aufgebrochener Erzählungen) stattfindet. Diese postmodernen (im Sinne von relativistischen) Theorien und postmodernistischen Schreibweisen waren auf das Aufsprengen alter Vorstellungen und Sichtweisen bzw. die Dekonstruktion bestehender (gesellschaftlicher sowie literarischer) Konventionen ausgerichtet.6 Während die postmodernen Theorien sich von den klassischen Metaerzählungen, dem autonomen Individuum und der Vermittelbarkeit der Welt immer weiter entfernten, erreichte die experimentelle Schreibweise postmodernistischer Autoren ihre stärkste Konzentration in den 1980er Jahren in Texten, die auf ihren Textcharakter hinwiesen und Chronologie sowie Einheitlichkeit der Erzählperspektive unterliefen. Sowohl Literatur als auch Theorie wiesen eine immer stärkere Aufteilung in verschiedene Perspektiven auf, es wurden etwa Narrationen von schizophrenen Erzählern entworfen bzw. es wurde wiederholt auf Außenperspektiven verwiesen. In der postmodernen Theorie, die mit Dekonstruktivismus und Poststrukturalismus vorläufige Höhepunkte erreichte, zerfielen die Forschungsbereiche in sehr differenzierte Felder – Pluralismus wurde zum Programm. Normative Begrenzungen werden im endenden 20. und beginnenden 21. Jahrhundert vor allem als Zwänge und Ausübung von Macht charakterisiert, das Ende der universalistischen Ethik als Gewalt (im Anschluss an die kritische Theorie) wurde u.a. von Judith Butler ausgerufen.7 Während allerdings die postmodernistische Literatur nach dem Höhepunkt in den 1980er Jahren zurückging und einer deutlichen Renaissance konventioneller Erzähltechniken Platz machte, ist die Beliebtheit postmoderner Ansätze in den Geistes- und Sozialwissenschaften ungebrochen. Trotzdem sehen auch sie sich

6

Da postmodern hier sowohl zur Bezeichnung der historischen Epoche als auch der relativistischen Theorien genutzt wird, ist der Begriff postmodernistisch für die rein literarischen Entwicklungen gewählt worden.

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Vgl. Judith Butler, Kritik der ethischen Gewalt, Frankfurt: Suhrkamp, 2003.

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langsam einer realistischen Renaissance gegenüber.8 Dabei verbinden sich die neuen Realisten (z.B. John R. Searle, Richard J. Bernstein, Paul Bloomfield), deren Popularität in den 90er Jahren und nach der Jahrtausendwende wächst, teilweise mit den Naturwissenschaften. Diese haben sich seit der Überwindung von gescheiterten Gottesbeweisen durch wissenschaftliche Experimente zum 20. Jahrhundert ebenfalls einem strengen externen Realismus verschrieben und kontinuierlich an Renommee gewonnen, was die postmodern relativistische Perspektive untergräbt. Während die postmodernen Techniken in der Literatur mehr und mehr an Bedeutung verlieren, positionieren sich relativistische und realistische Tendenzen in der Theorie einander gegenüber und finden keine überzeugenden Verbindungen, wenn es auch viele dahingehende Versuche gibt.9 Die Verbindung ist insofern dringend notwendig, als das Weltbild des externen Realismus durch die dekonstruktive Kritik grundlegend erschüttert ist, er dieses wissenschaftskritische Denken jedoch noch vielfach ignoriert.10 Sagen diese parallelen Entwicklungen in Literatur und Theorie etwas über die generelle Situation westlicher Gesellschaften aus? Wenn wir die Renaissance konventioneller Denkweisen oder Strategien vor dem sozio-historischen Hintergrund betrachten, dann fällt auf, dass Ethik als kulturelles Thema ebenfalls eine signifikante Renaissance erlebt hat und zwar auf allen Ebenen. Ein Blick auf die gesamte Entwicklung des heutigen kulturellen Terrains zeigt eine sehr starke Fokussierung auf ethische Fragen (durch die Bildung von Organisationen, das Auftreten moralischer Fragen im öffentlichen Diskurs, etc. pp.). Zudem ist eine verstärkte Hinwendung zu Religion und alternativen Sinnfindungsmethoden in den westlichen Gesellschaften zu beobachten. Auch in der kulturellen Produktion und deren kritischer Bearbeitung ist Immanuel Kants berühmte Frage Was soll ich tun? wieder en vogue. Literaturkritiker

8

Vgl. Carrol, »Moral Realism in the Age of Postmodernism«, Ethics and Aesthetics: The Moral Turn of Postmodernism, hg. Gerhard Hoffmann und Alfred Hornung, Heidelberg: Universitätsverlag C. Winter, 1996, 87-96.

9

Eine Ausnahme bilden einige Bestrebungen in der philosophischen Anthropologie, die weiter unten kurz angesprochen werden und Pirsigs Metaphysics of Quality, vgl. Robert M. Pirsig, Lila: An Inquiry into Morals, New York: Bantam, 1992.

10 Vgl. Kurt Greiner, Therapie der Wissenschaft: Eine Einführung in die Methodik des Konstruktiven Realismus, Culture and Knowledge 2., hg. Friedrich G. Wallner, Berlin: Peter Lang, 2005, 14.

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sprechen z.B. von einem »moral turn of postmodernism«,11 der in neuerer Zeit generell als ethical turn in den Geisteswissenschaften bezeichnet wird.12 Man darf vielleicht sogar behaupten, dass Ethik das herausragende theoretische Thema der späten Postmoderne ist.13 Allein diese starke gesellschaftliche Beachtung reicht aus kulturpoetischer Perspektive aus, um sich genauer mit ethischen Fragen auseinanderzusetzen. Auf einer philosophisch-theoretischen Ebene könnte man hinzufügen, dass der offensichtliche normative Pluralismus, der zumindest bezüglich eines Großteils der moralischen Normen nicht zu verleugnen ist, notwendigerweise die Frage aufkommen lässt, ob Ethik noch in einem traditionellen Sinn als universell und verbindlich gedacht werden kann. Dies ist sozusagen der Punkt, an dem die postmodernen Theorien von realistischen Fragen eingeholt werden. Ich möchte hier aber noch eine weitere These vorschlagen: Die steigende Popularität relativistischer Theorien musste zu einer realistischen Renaissance führen und zwar gerade weil der Relativismus zwar in vielerlei Hinsicht wertvolle neue Anstöße bringen kann und auch gebracht hat, aber in normativer Hinsicht unweigerlich in eine Sackgasse führt.14 Ethik im Spannungsfeld von realistischen und relativistischen Tendenzen zu betrachten, ist insofern sinnvoll, als der normative Relativismus, der sich automatisch aus dem Bestehen verschiedener Ethiken ergibt, dem realistischen Grundgedanken gegenüber steht, dass hinter den sozio-kulturellen Unterschieden eine universelle Basis verborgen liegt.15 Allein die Frage nach ethischen Ver-

11 Gerhard Hoffmann und Alfred Hornung, Hg., Ethics and Aesthetics: The Moral Turn of Postmodernism, Heidelberg: Winter, 1996, v. 12 Vgl. Todd F. Davis und Kenneth Womack, Hg., Mapping the Ethical Turn: A Reader in Ethics, Culture, and Literary Theory, Charlottesville: UP of Virginia, 2001. 13 Vgl. z.B. Richard Rorty, Philosophie als Kulturpolitik, übers. Joachim Schulte, Frankfurt: Suhrkamp, 2008. 14 Bis hierher haben sich die Überlegungen lediglich auf Beobachtungen beschränkt. Es sollte darauf hingewiesen werden, dass der nun beginnende Teil dem Versuch einer postmodernen Meta-Erzählung gleichkommt. 15 Daher sind die verschiedenen Theorien und Ansätze auch darauf reduziert, ob von einer realistischen Weltsicht mit erkennbarem Fundament ausgegangen wird oder ob grundsätzlich eine relativistische Weltsicht vorliegt, die von Interpretationen ausgeht (diese nenne ich synonym postmodern, da es den Relativismus als strukturelles Element von Theorien erst seit dem 20. Jahrhundert gibt). Aus Gründen der Übersichtlichkeit müssen in diesem Rahmen die Fragen nach differenzierteren Theorieunter-

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pflichtungen impliziert eine derartige Basis, die eben alle Menschen darauf verpflichtet, sich demgemäß zu verhalten (dieser Grundgedanke liegt auch Konzepten wie den Menschenrechten zugrunde). Theoretiker in der späten postmodernen Epoche am Ende des 20. und Anfang des 21. Jahrhunderts tendieren dazu, ethische Verpflichtungen aufzurufen und gleichzeitig für einen Pluralismus zu plädieren. Pluralismus lässt sich aber nicht ohne Weiteres mit dem Bestehen einer für alle verpflichtenden Wertgrundlage vereinen. Den dieser Haltung inhärenten Widerspruch thematisieren die meisten Denker nicht. An dieser Stelle muss zunächst gefragt werden, ob Ethik eine derart realistische Basis zwingend braucht oder ob es eine relativistische Ethik geben kann. Der Theoriestreit zwischen relativistischen und realistischen Positionen wird somit auf einen Konflikt über normative Werte reduziert. Damit ist nicht gesagt, dass sich die theoretischen Ansätze komplett auf diesen normativen Aspekt reduzieren lassen. Auch die gegenseitige Kritik ist nicht immer auf normative Argumente beschränkt.16 Der Vorwurf des moralischen Nihilismus ist dennoch der Hauptvorwurf, der sich durch die Kritik am Relativismus zieht.17 Dieses Problem wird allerdings oft nicht in dieser Weise normativ formuliert. Meist taucht es in Form des Fehlens festgelegter (kognitiver oder rationaler) Kategorien auf, die anzeigen könnten, wann z.B. eine kritisierte Konvention nicht mehr weiter dekonstruiert werden sollte. Auf welche Standards kann die Kritikerin zurückfallen, wenn sie alle sozio-kulturellen Zusammenhänge dekonstruiert hat? Dieses Problem wird von den meisten postmodernen Theoretikern nicht explizit thematisiert, da sie sich als Denker im Prozess verstehen und so die Standards, die sie zur Kritik anlegen, nicht hinterfragen. Daher haben bereits verschiedene Kritiker eine Dekonstruktion der Dekonstruktion angeregt.18 So kann auch der Umschwung vieler geistes- und sozialwissenschaftlicher Analytiker von einer dekonstruktivistischen Arbeit zu moralischen Theorien erklärt werden.19 Der Kern des postmodernen Gestus liegt eben genau in einem

schieden ausgeklammert werden, genauso wie die Frage nach dem Übergang von kulturellem Pluralismus zu normativen Pluralismus nur indirekt behandelt werden kann. 16 Vgl. John R. Searle, Geist, Sprache und Gesellschaft, übers. Harvey P. Gavagai, Frankfurt: Suhrkamp, 2004. 17 Vgl. z.B. für den Existenzialismus David E. Cooper, Existentialism: A Reconstruction, Cambridge: Basil Blackwell, 1990, 170. 18 Vgl. z.B. Dieter Mersch, »Dekonstruktion der Dekonstruktion«, Deutsche Gesellschaft für Semiotik, . 19 Vgl. z.B. Butler, Kritik der ethischen Gewalt; ibid. Giving an Account of Oneself, New York: Fordham UP, 2005.

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moralischen Ansatz, der sich gegen den Ausschluss alternativer Identitäten wendet. Diese Bewegung ist in größeren theoretischen Werken wie etwa den Ansätzen Michel Foucaults oder Jacques Derridas auch bereits inhärent. Derrida formuliert zumindest stellenweise selbst die Erkenntnis, dass man einen Diskurs nur kritisieren kann, wenn man die Kategorien des Diskurses nutzt. Foucault wendet sich gegen Ende seines Lebenswerks trotz seiner früheren Erklärungen zum Tode des Subjekts diesem wieder als einem Hauptforschungsgegenstand zu.20 Das gesamte dekonstruktivistische Bestreben, starre Identitätskonzepte oder normative Verhaltensvorgaben durch historische Beleuchtung zu relativieren, lässt sich nur über den moralischen Anspruch erklären, die Menschen freier zu machen. Der Gestus der Kritik erklärt sich nur, wenn es Parameter gibt, anhand derer man festlegen kann, was kritisiert werden sollte.21 Das heißt, dass es immer eine moralische Vorentscheidung geben muss, wenn z.B. politische Aktion vorgeschlagen werden soll (postmoderne Theoretiker haben zumeist eine politische Überzeugung, anhand derer sie ihre Theorie ausrichten und benennen zudem oft eine Sphäre des Lebens als moralisch; so z.B. Seyla Behabib, Zygmunt Bauman und Judith Butler). Letztlich liegt aber genau hier der Schwachpunkt postmoderner Herangehensweisen, da ethische Werte wie etwa Freiheit nicht mehr vorausgesetzt werden können, wenn alles im Rahmen des sozio-historischen Feldes relativierbar ist. Genau dies ist das postmoderne ethische Dilemma, an dem etliche Realisten und Relativisten arbeiten. Interessanterweise ist dabei besonders die Front der Relativisten undurchdringlich, da sich die postmoderne Geisteshaltung scheinbar nicht mit der Setzung von normativen Werten vereinbaren lässt. Normen haben gleichsam von vorneherein den Beigeschmack der Unterdrückung. Die andere Seite integriert relativistische Tendenzen leichter und arbeitet zum Beispiel im interdisziplinären Bereich der Bewusstseinsforschung mit der Neurobiologie zusammen. Besonders dieses Forschungsfeld zeigt sowohl Kohärenz als auch Inkohärenz im menschlichen Bewusstsein und damit in der Konzeption des Individuums.22 Vielleicht lässt sich dieses vor allem einseitige Interesse dadurch erklären, dass die phäno-

20 Vgl. dazu Roy Boyne, Foucault and Derrida: The Other Side of Reason, London: Unwin Hyman, 1990. 21 Vgl. z.B. Richard J. Bernstein, The New Constellation: The Ethical-Political Horizons of Modernity/Postmodernity, Cambridge: Polity, 1991. 22 Vgl. Searle, Geist; Antonio R. Damasio, Ich fühle also bin ich: Die Entschlüsselung des Bewusstseins, übers. Hainer Kober, München: List, 2001; Paul Bloomfield, Moral Reality, Oxford: Oxford UP, 2001. Bloomfield versucht etwa generell medizinische und metaphysische Überlegungen zu verbinden.

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menologische Wirklichkeit des menschlichen Lebens am Ende des 20. bzw. Anfang des 21. Jahrhunderts kaum mehr ignoriert werden kann. Realistische Ansätze können relativistische Überlegungen qua ihres Anspruchs, die Welt, so wie sie ist, erklären zu wollen, nicht mehr einfach außen vor lassen. Fakt ist, dass es mannigfaltige Beschäftigung realistischer Ansätze mit relativistischem Gedankengut gibt (neben der o.g. Philosophy of Mind mit dem Embodied Mind-Ansatz, z.B. auch den konstruktiven Realismus, den Structural Realism und Robert M. Pirsigs Metaphysics of Quality23), aber nur sehr wenige umgekehrte Bestrebungen. Das, was z.B. in der Literaturkritik des Ethical Turns eigentlich hinterfragt werden müsste – nämlich die universelle Geltung von Forderungen nach Toleranz – wird zumeist in einer eher kultur-relativistischen Diskussion von pluralistischen Vorstellungen einfach impliziert.24 Trotz der Überschneidungen seitens der realistischen Herangehensweise sind die Positionen bislang im Bezug auf Ethik grundsätzlich nicht überzeugend (also für beide Seiten zu akzeptieren) verbunden worden. Da jedoch sowohl die postmodernen Theorien als auch der Realismus an der Argumentationsbasis Schwächen (besonders im Hinblick auf normative Fragen) aufweisen, ist eine derartige Verbindung notwendig. Einige Philosophen sind der Meinung, dass moralische Kategorien im traditionellen Sinn verworfen werden sollten, so z.B. auch Richard Rorty.25 Ethik an sich zu verwerfen scheint aber bereits wegen des oben besprochenen wieder aufgeflammten Interesses an diesem Thema wissenschaftlich unseriös. Eine derart pragmatische Haltung kann ganz einfach nicht die menschliche Praxis treffen, wenn die zahlreichen ethischen Konflikte z.B. zur Stammzellenforschung, zur Abtreibung, zur Sterbehilfe oder zum Kriegsrecht betrachtet werden. Es wäre jedoch zu überlegen, ob Ethik relativistisch gefasst werden könnte. In diesem Zusammenhang sollte beachtet werden, dass die ethische Renaissance eine interessante Komponente enthält: Die neu entfachte Diskussion um moralische Normen kann nur zu Konflikten führen, wenn die Teilnehmer (d.h. die Mitglieder der Gesellschaft) sich ihrer ethischen Überzeugungen sehr sicher sind. Wären ihre Überzeugungen tatsächlich auf individueller Ebene durch Pluralismus oder die Flexibilität des postmodernen Individuums adäquat zu beschreiben, dürfte es keine Debatte geben, sondern die Werte würden sich einfach verändern. Auch realistische Erklärungen (besonders naturwissenschaftlicher Art) sind in der Ethik nicht unproblematisch. Besonders die relativistische Kritik (vor den

23 Vgl. Pirsig, Lila. 24 Vgl. dazu Davis/Womack, Mapping the Ethical Turn. 25 Vgl. Rorty, Philosophie als Kulturpolitik, 231.

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postmodernen Theorien z.B. durch die Sophisten, den Skeptizismus oder den Idealismus geäußert) hat ihre Schwächen immer wieder aufgezeigt. Ein Grundproblem ist dabei die Feststellung des Unterschiedes zwischen Sein und Sollen nach David Hume (das so genannte Humesche Gesetz). Damit steht ein Realismus immer schon vor dem Problem, dass aus einer reinen Beschreibung der Welt (oder der Natur) normativ gesehen eigentlich nichts folgen kann. Dies heißt, dass sich aus Tatsachen an und für sich keine normativen Werte ableiten lassen, und dass normative Werturteile nur durch normative Werturteile infrage gestellt werden können. Die einzige Möglichkeit, eine realistische Basis für allgemeingültige Urteile zu begründen, ist also, die normativen Anlagen in der Natur zu finden. Jedwede Berufung auf neutrale naturwissenschaftliche Gesellschaftsbeschreibungen (z.B. eine wertfreie evolutionäre Ordnung) schließt normative Inhalte von vorneherein aus (bzw. reduziert sie auf einen Determinismus). Hier wäre höchstens noch eine rein pragmatische (also konsequenzialistische) Ethik möglich, die allerdings nicht das zu treffen scheint, was Menschen sagen, wenn sie ein normatives Urteil fällen. Vor allem aber ist die deskriptive Haltung derartiger realistischer Ethiken unlogisch. Es wird eine zweite Ebene benötigt, auf der das benannt werden kann, was das moralische Mehr ausmacht. Die reine Beschreibung eines empirischen Gefühls oder einer empirischen Praxis kann an und für sich nicht bereits die Bewertung enthalten. Wenn wir auf die besondere Bedeutung von moralisch gut hinweisen, ist damit nicht gut im Sinne von fähig, eine Aufgabe – wie etwa Klavierspielen – zu meistern, gemeint. Wenn es eine solche moralische Sphäre gibt, in der moralisch gute Taten von der Erfüllung anderer sozialer Normen unterschieden werden können, muss es sich dabei um eine non-deskriptive oder zumindest nicht extern-realistische Sphäre handeln. Also eine Sphäre der zwischenmenschlichen Bedeutungsebene. Diese darf auch nicht von den moralischen Werten einer bestimmten Gesellschaft abhängig gemacht werden, denn damit wäre nur das bezeichnet, was in dieser Gesellschaft als moralisch gilt. Damit könnten wir immer noch nicht sagen, was es ist, das eben das Moralische daran ausmacht.26 Also kommt für das Projekt traditionell nur eine deontologische Ethik infrage (die allerdings insofern realistisch sein muss, als dass sie auf eine bestehende reale Welt verweist). Die Argumentation kann also nicht lauten, ob etwas gut oder schlecht ist, zeige sich an den Konsequenzen (wie beim Pragmatismus oder Utilitarismus), sondern Menschen setzen sich für etwas ein, weil

26 Vgl. Tugendhat, Vorlesungen über Ethik, 17.

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sie die Konsequenzen als gut bewerten.27 Dafür brauchen sie zwingend eine Ebene, auf der sich das Ethische bzw. das moralisch Gute benennen lässt – zusätzlich zur Beschreibung muss eine Bewertung möglich sein. In der traditionellen Ethik wurden normalerweise die Grundlagen einer Ethik (was sie sein, worauf sie basieren und wie sie genau aussehen kann) a priori also im Vorfeld entschieden.28 Nach der postmodernen Kritik, die sowohl den Tod des autonomen und transzendental existierenden Individuums, als auch das Ende der Geschichte als einer homogen fortschreitende Erzählung und den Tod der Metaphysik als unproblematische Repräsentationsmöglichkeit ausgerufen hat, können solche Vorannahmen nicht mehr unproblematisch getroffen werden.29 Was also benötigt wird, um eine normative Ethik überhaupt aufrecht zu erhalten, ist eine Untersuchung des Gebrauchs von Ethik, anhand derer sich universelle Maßstäbe ablesen lassen. Dabei ist es in der Tat wichtig, die normative Verbindlichkeit im menschlichen Zusammenleben zu finden (es sei denn man möchte sich auf theologische oder mystische Instanzen verlassen). In diesem Sinne kann die traditionelle Position des moralischen Realismus, die eine neutral-deskriptive ist, nicht eingenommen werden. Man braucht aber eine realistische Referenz zur Welt, um nicht-relative Äußerungen zu treffen. Einerseits ist die postmoderne dekonstruktivistische Haltung ohne eigene ethische Begründung in sich widersprüchlich. Zudem ist eine programmatische Konzentration auf den Pluralismus und somit viele kleine, stark differenzierte Forschungsfelder eigentlich keine Lösung, sondern nur eine Umgehung des normativen Konflikts. Die realistische Haltung ohne Einbezug der relativistischen Kritik einzunehmen, wäre andererseits ignorant. Dies wird aber weitläufig getan, wenn weiterhin ein wissenschaftlicher Diskurs geführt wird, der von einer nicht hinterfragten Position aus beobachtet, ohne eine alternative (postmoderne) Subjekt-Position zu formulieren, von der aus eine derartige Kritik wieder bzw. noch möglich wäre. Diese Praxis wird z.B. für die Literaturwissenschaft von Ina Schabert wie folgt kritisiert:

27 Wenn die normative Bewertung tatsächlich quasi in die Gesellschaft eingebaut wäre (vgl. z.B. Rorty, Philosophie als Kulturpolitik, 163-170), gäbe es ein ganz ähnliches Problem mit dem Begriff der pragmatischen Nützlichkeit, an dem die Menschen sich anstatt an Moralität orientieren sollten, da dieser wiederum keine übergeordnete Grundlage hätte. 28 Vgl. Tugendhat, Vorlesungen über Ethik, 68f. 29 Vgl. Jane Flax, Psychoanalysis, Feminism, and Postmodernism in the Contemporary West, Berkeley: U of California P, 1990, 32f.

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Ein wirklicher Verzicht auf die autoritative wissenschaftliche Ich-Position müsste einhergehen mit einer radikalen Umformung des Diskurses über literarische Texte; es müssten Schreibweisen entwickelt werden, welche die Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt, Kritiker und Werk, Inhalt und Form, Signifikat und Signifikant, auflösen und das sprechende Subjekt in den Wirbel dieser Auflösung hineinziehen würden.30

Was also benötigt wird, sind eine neue Position des Beobachters, eine neue Begründung der Beobachtungen sowie ein normativer Inhalt der Beobachtungen. Dies wäre durch einen neuen Realismus zu gewährleisten, der nicht-deskriptiv arbeitet, bzw. der die normative Ebene ebenfalls beschreiben kann.31 Moralische Normen müssen in Verbindung zu sozialen Praktiken gedacht werden, denn »nichts Inhaltliches (Substanzielles) lässt sich gesollt begründen«.32 Eine Vorschrift beinhaltet damit immer auch eine soziale Sanktion (obwohl selbstverständlich nicht konsequenzialistisch der Wert aus der Sanktion abgeleitet wird). Das hier vorgeschlagene Konzept soll in dieser Hinsicht funktional bleiben. Allerdings muss vor einer weiteren Ausführung zunächst geklärt werden, inwieweit die Sprecher- bzw. Beobachterposition, die für jedwede wissenschaftliche Untersuchung benötigt wird, vor der relativistischen Kritik gerettet werden kann. Denn auch wenn die postmodernen Theorien im Hinblick auf ihre dekonstruktivistischen Tendenzen als in sich widersprüchlich entlarvt werden konnten, ist es in postmodernen Zeiten (hier wieder historisch gemeint) doch unmöglich, die zahlreichen Untersuchungen zur Abhängigkeit des Individuums von seinen sozio-historischen Umständen schlichtweg zu ignorieren. In der Tat scheint die Kritik des autonomen Subjektes die Kerndekonstruktion der postmodernen Theorien zu sein. Die moralische Krise, die oben kurz umrissen wurde, ist nicht zuletzt eine Krise des freien Individuums, das sich plötzlich unauflöslich mit seiner Umwelt und seinen Mitmenschen verwoben

30 Ina Schabert, »Hardliners – Selbstzweifler – Traumtänzer – Lesende: Literaturwissenschaftler und Literaturwissenschaftlerinnen im Zeitalter des Poststrukturalismus«, Kulturwissenschaftliche Literaturwissenschaft: Disziplinäre Ansätze – Theoretische Positionen – Transdisziplinäre Perspektiven, hg. Ansgar Nünning und Roy Sommer, Tübingen: Gunter Narr, 2004, 171. 31 Obgleich die hier verfolgte Position durchaus als eine Art neuer Realismus beschrieben werden kann, sollte darauf hingewiesen werden, dass sie von einem relativistischen Standpunkt aus argumentiert. Insofern wäre der Term realistischer Relativismus eher zutreffend. Eine Art neuer Realismus unter Einbezug relativistischer Kritik (also ein relativistischer Realismus) wurde von Robert Pirsig entworfen (vgl. Pirsig, Lila). 32 Tugendhat, Philosophische Aufsätze, Frankfurt: Suhrkamp, 1992, 16f.

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und durch sein kulturelles Umfeld beeinflusst sieht. Wenn der Beobachter nicht mehr objektiv und quasi von außen seine Daten zusammentragen und diese dann neutral auswerten kann, ist jegliche Form von Wissenschaft infrage gestellt. Hinzu kommt, dass, wie kurz angeschnitten, Moral nur im Bezug auf soziale Sanktionen verständlich wird. Sollte der Einzelne nicht in der Lage sein, zumindest ansatzweise rational und im Verständnis dessen, was moralisch bedeutet, zu entscheiden, wie er sich im Bezug zu ihr verhalten möchte, dann wäre die moralische Norm wieder zu einer rein deterministischen Veranlagung zusammengeschrumpft. Hier zeigt sich nun der besondere Wert der Verbindung von Literatur und Theorie. Wie bereits gesagt, ist in der Theorie noch keine zufrieden stellende Verbindung von realistischen und relativistischen Tendenzen gelungen, die nicht-deskriptiv wäre und der moralischen Sphäre gerecht würde.33 In der Literatur zeigt sich aber ein klarer Umschwung, eine Renaissance konventioneller Erzählstrategien, wobei inhaltlich trotzdem aktuelle Themen, insbesondere auch ethische Fragen, behandelt werden. Dazu wäre z.B. die Wiedergeburt der Familien-Saga bei Jeffrey Eugenides zu nennen. Eugenides selbst sagte in einem Interview dazu: Ich habe mir überlegt, wenn ich etwas Neues und Originelles schaffen will, dann ist es unwahrscheinlich, dass ich dieses Ziel nur durch formale Spielereien erreiche, indem ich Sätze auf den Kopf stelle ... oder alles Mögliche mit der Syntax anstelle. Ein anderer Schriftsteller mag ja mit diesem rein experimentellen Ansatz noch wirklich einen neuen Weg finden, aber mir schien es, dass für mich das Neue eher durch die Verbindung von postmodernen und eher altmodischen Elementen in einem Prozess der Hybridisierung zu finden sein würde.34

In der Literatur scheint diese Hybridisierung mühelos zu gelingen, was u.a. durch die Verkaufszahlen der entsprechenden Romane belegt werden kann. Eugenides Erzähler in Middlesex ist ein Hermaphrodit, der seine Lebensgeschichte in erstaunlich realistischem Rahmen autodiegetisch erzählt, was offensichtlich für die Leserschaft leicht verständlich und sehr aussagekräftig ist. Charaktere aus

33 Als Ausnahmen sind wiederum philosophisch-anthropologische Ansätze zu nennen, die allerdings dort, wo sie tatsächlich zum großen Teil überzeugen, noch nicht breit rezipiert werden und vor allem in den poststrukturalistischen Theorien und den Literatur- und Kulturwissenschaften noch so gut wie keine Rolle spielen. 34 Jeffrey Eugenides, Air Mail: Erzählungen, übers. Walter und Eike Schönfeldt, Hamburg: Rowohlt, 2003a, 110, eigene Hervorhebung.

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der Hochzeit des postmodernen Romans zeichnen sich eher durch Zerrissenheit (oder gar geistige Zerrüttung) aus. Besonders bei aufgrund ihrer Sexualität ausgegrenzten und innerlich bis zu einem gewissen Grad gespaltenen Figuren scheint es geradezu gewagt, eine kohärente Erzählung aus der ersten Person Singular zu kreieren. Speziell um die Rolle des Individuums wird wie gesagt in der theoretischen Debatte ein erbitterter Kampf geführt zwischen den Realisten, die ein autonomes (in seinen Handlungen freies) Individuum annehmen und den Relativisten, die ein inkohärentes (mit sich selbst nicht identisches) Subjekt postulieren. Auch in den Literaturwissenschaften wurde die Rolle des Individuums als zentrales Problem der Postmoderne identifiziert.35 Was haben wir nun in den neuen, spätpostmodernen Romanen vor uns? Kann die Erzählstruktur in irgendeiner Weise Lösungspotenziale für eine Vermittlung zwischen den verhärteten theoretischen Fronten bieten? Die autodiegetische Erzählersituation impliziert immer schon einen Erfolg.36 Diejenige, die eine Stimme hat, hat überlebt und kann zumindest eine gewisse Kontrolle über ihre Lebensgeschichte ausüben. Durch die subjektive Erzählung gibt sie ihrem Leben einen individuellen Charakter und erarbeitet einen individuellen Standpunkt. Die Beliebtheit konventioneller Narrationen und besonders die Explosion der Erzählungen des self-writing weisen darauf hin, dass die Leser sich mit dieser Art der Identitätsproduktion identifizieren können.37 Es ist gerade das Charakteristikum einer derart realistischen Erzählung, dass sie eben nicht – wie eine postmodernistische – auf das Wesen ihrer eigenen Konstruiertheit aufmerksam macht, sondern alternative (realistisch erzählte) Identitäten anbietet. An dieser Stelle soll der Hermaphrodit Cal/Calliope aus Jeffrey Eugenides’ Middlesex zu Wort kommen, der seine Lebensgeschichte in einer fiktiven Autobiographie erzählt. Er/Sie stellt während des Aufschreibens der Geschichte fest: »Writing my story isn’t the courageous act of liberation I had hoped it would

35 Vgl. Shawn Smith, Pynchon and History: Metahistorical Rhetoric and Postmodern Narrative Form in the Novels of Thomas Pynchon, New York: Routledge, 2005, 15f. 36 Vgl. Juli Zeh, »Zur Hölle mit der Authentizität! Der Echtheitswahn der Unterhaltungsindustrie verführt dazu, auch in der Literatur nach wirklichen Personen und Vorgängen zu fahnden. Dabei geht verloren, was Literatur ist.«, DIE ZEIT 21. September 2006, 59f. 37 Vgl. Heinz Ickstadt, »Die unstabile Postmoderne oder: Wie postmodern ist der zeitgenössische amerikanische Roman?«, Poststrukturalismus – Dekonstruktion – Postmoderne, hg. Klaus W. Hempfer, Stuttgart: Franz Steiner, 1992, 41.

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be«.38 Allerdings findet der Erzähler hier seine eigene Stimme, seine eigene Art, mit der Situation umzugehen. Als er das erste Mal bewusst mit seiner Andersartigkeit konfrontiert wird, indem er denkt, jemand anders hätte diese bemerkt, ist er geschockt und hilflos. »It was all over now. There was nothing I could do. […] [E]veryone […] would know that Calliope Stephanides was a freak«.39 Selbstverständlich wird hier die fundamentale Abhängigkeit von der Anerkennung der Umwelt deutlich, jedoch ist Cal nicht völlig machtlos. Er/Sie hat die Autonomie, der Geschichte durch das Nacherzählen einen eigenen Sinn zu geben. Zu Beginn stellt der Protagonist fest, dass er zweimal geboren wurde,40 schafft sich also eine andere Rolle mit einer sexuell dualistischen Sprecherposition. Damit wehrt er sich erfolgreich gegen die Haltung der Gesellschaft, die ihm unbedingt eine eindeutige Sexualität zuweisen möchte. »The chief imperative in cases like mine was to show no doubt as to the gender of the child in question«.41 Als die Zweigeschlechtlichkeit nach einem Unfall tatsächlich entdeckt wird und Cal zu einem Mädchen umoperiert werden soll, flieht er/sie von zu Hause, da er/sie sich als Junge fühlt.42 Durch Veränderungen seines Aussehens und seiner Verhaltensweisen schlüpft der Erzähler für andere überzeugend in die Rolle eines jungen Mannes.43 Letztlich akzeptiert er die echte zweigeschlechtliche Rolle vollends, als er seiner Mutter nach Jahren der Abwesenheit beim Widersehen widerspricht. Er war weggelaufen, weil er nicht dachte, dass seine Eltern ihn so akzeptieren würden. ›Don’t you think it would have been easier just to stay the way you were?‹ I lifted my face and looked into my mother’s eyes. And I told her: ›This is the way I was.‹44

Damit soll nicht behauptet werden, dass die Erzählerposition unproblematisch wäre oder Cal sich selbst als in völliger Kontrolle über sein/ihr Leben sehen würde – im Gegenteil, er/sie bezeichnet sich als fürs Leben traumatisiert.45 Jedoch handelt es sich hier nicht um ein zerrissenes Ich, das seine Geschichte nicht

38 Jeffrey Eugenides, Middlesex, London: Bloomsbury, 2003b, 319. 39 Ebd. 175f. 40 Vgl. Eugenides, Middlesex, 3. 41 Ebd. 413. 42 Vgl. ebd. 439. 43 Vgl. ebd. 441f. 44 Ebd. 520. 45 Vgl. z.B. ebd. 424.

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kohärent erzählen könnte. Die eingangs ausgerufene Absicht, sie chronologisch darzustellen – »this roller-coaster ride of a single gene through time«46 – zeigt, dass Cal durchaus in der Lage ist, seinem/ihrem Leben einen Sinn zu verleihen und somit eine gewisse Macht über sich auszuüben. Es geht dabei auch definitiv nicht darum, die Geschlechterkategorien aufzulösen, sondern vielmehr darum, eine neue (als natürlich) hinzuzufügen und so akzeptiert zu werden, wie er/sie ist (und nicht etwa aufzuzeigen, dass das ganze Konzept vom Verständnis des Menschen als geschlechtlich nur Konstruktion ist). Genau hier kann man im Vergleich der neuen, konventionell erzählten Literatur und der postmodernen Theorie ansetzen. Wenn Denkerinnen wie Judith Butler zur Subversion bestehender Identitätskategorien durch Exposition ihrer Konstruiertheit aufrufen, könnte man dagegen halten, dass eine Ersetzung der Kategorien offensichtlich die praktikablere Lösung zu sein scheint. Wie sollte man in einer Welt ohne feste Werte oder ohne Kategorien des Erkennens bestehen können? Und wieso sträuben sich die postmodernen Theoretiker so hartnäckig, derart realistisch gefasste Konzepte von Identität anzuerkennen? Wieso steht das Individuum in der postmodernen Theorie eigentlich so negativ, so beschränkt da?47 Genau diese positive Bedeutungsverschiebung ist Ziel meines Projektes. An dieser Stelle möchte ich fragen, was eigentlich die Negativität der postmodernen Theorieposition ausmacht (hier wieder als relativistische). Der Schluss, dass (ggf. bis ins Unendliche) relativiert werden kann, kann eigentlich nur gezogen werden, wenn wir davon ausgehen, dass eine ultimativ realistische Basis die einzige Basis ist, auf der universale Grenzen gezogen werden können. In diesem Sinne macht die postmoderne Theorie letztlich genau denselben Fehler wie die traditionelle realistische Theorie. Ohne einen Blick auf die tatsächliche Realität (in der sehr wohl ethische Grundsatzdebatten geführt werden) hat sie quasi a priori Kategorien bestimmt, welche die scheinbare Inkohärenz des Subjektes festschreiben. Wenn man aber die postmoderne Kritik, dass es keine unproblematische Repräsentation der Welt geben kann, wirklich ernst nimmt, dann muss man sich eingestehen, dass wir niemals wissen können, wie die echte realistische Welt aussieht. Alles, was wir wahrnehmen, ist immer schon kulturell vermittelt. Postmodern verstanden, kann die Umwelt der Menschen als durch Kommunikationszusammenhänge geprägt beschrieben werden. Radikal konstruktivistische Positionen sehen die kommunikativen Handlungen sogar als einzige Realität an, was eine überzeugende Perspektive ist.

46 Ebd. 4. 47 Vgl. Butler, Kritik der ethischen Gewalt, 79.

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Damit scheint die Möglichkeit der Überprüfung der Wahrheit durch Vergleich von z.B. moralischen oder wissenschaftlichen Werten mit einer wie auch immer gearteten Realität verworfen. Die Aussicht auf ein völlig vereinheitlichtes System der naturwissenschaftlichen Erklärung ist ebenso beflügelnd wie die Aussicht auf eine Weltzivilisation, in deren Rahmen die Menschenrechte respektiert werden. Aber der Wert der Beflügelung ist offensichtlich kein zuverlässiges Anzeichen für Gültigkeit. Sowohl die Berufung auf etwas Überwölbendes und Unverwundbares als auch die Berufung auf etwas unaussprechlich und unerschöpflich Tiefes sind Reklamesprüche und PR-Maschen – Methoden zur Erregung von Aufmerksamkeit.48

Ist damit nun tatsächlich bereits bewiesen, dass universale Gültigkeit unmöglich geworden ist? Die theoretische Überprüfbarkeit von moralischen Werten ist, wie gezeigt, notwendig, um Ethik – so wie sie offensichtlich verhandelt wird – aufrecht zu erhalten. Die Verwerfung der absoluten, außerhalb des Menschen und unabhängig von ihm existierenden Realität soll allerdings auf folgende Schlussfolgerungen reduziert werden: Da der Mensch Realität nur über Kommunikation erfahren kann, kann nur die Realität der Kommunikation und nicht die Realität der äußerlichen Realität vorausgesetzt werden.49 Ob es eine wahre Realität

48 Rorty, Philosophie als Kulturpolitik, 157. 49 Dieses Konzept hat Ähnlichkeiten mit dem Welt-Verständnis des Konstruktiven Realismus und dem dianoietischen anthropologisch-philosophischen Konzept Thomas Rentschs, der auch ein Ethik-Konzept entwickelt hat, das entscheidende Elemente der hier vorgeschlagenen Ethik vorwegnimmt (vgl. Greiner, Therapie der Wissenschaft). Aufgrund der in diesem Ansatz viel stärker betonten Narrativität, aufgrund der unterschiedlichen Interdisziplinarität zwischen Literaturwissenschaft und Philosophie (entgegen Anthropologie und Philosophie) und aufgrund der Tatsache, dass hier versucht werden soll, die Ebene der Metaphysik über fundamentale kommunikative Annahmen zu erhalten, was Rentsch aufgrund seiner praktisch-anthropologischen Perspektive ablehnt, habe ich mich aber dazu entschieden, diesen Ansatz trotz aller Ähnlichkeiten nicht mit der gleichen Terminologie zu versehen wie Rentsch. Er und andere Theoretikerinnen bauen auf das Denken Friedrich Kambartels auf, der methodisch Sprachkritik und die Erinnerung an die gemeinsame Lebenspraxis zu verbinden suchte. Die hier angestrebte Ethik einer kommunikativen Letztbegründung versteht sich etwas spezifischer als Verbindung von philosophisch-theoretischer Ethik und Literaturanalyse (oder in der anthropologischen Terminologie von Sprachkritik und Erzählpraxis). Es muss aber angemerkt werden, dass der hier eingenommene Gestus der Zusammenfüh-

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außerhalb der kommunizierten gibt, sei dahin gestellt. Bereits Idealisten wie Kant dachten, dass es dem Menschen nur möglich ist, Aussagen über die vermittelte Realität zu machen.50 Also muss die Untersuchung von Kommunikation (und Literatur wird hier als geschriebene Kommunikation verstanden) nicht zwangsläufig unter dem Stern der Aussichtslosigkeit stehen, wenn man eine relativistische Grundhaltung einnimmt. Im Gegenteil, es scheint seltsam borniert, wenn poststrukturalistische Kritiker wie Judith Butler von vorneherein davon ausgehen, dass wir als Subjekte »verletzt« sind, was doch nur im Bezug auf ein souveränes, quasi heiles autonomes Subjekt einen Sinn ergibt.51 Die gesamte Vorstellung, dass durch die Aufdeckung von der grundlegenden Verwobenheit des menschlichen Individuums mit seinem sozio-historischen Umfeld etwas verloren gegangen sein könnte, ist absurd; es sei denn, man setzt die traditionelle Vorstellung des autonomen, mit sich selbst-identischen und sich selbst erkennenden Subjektes voraus. Sowohl den realistischen als auch den relativistischen Positionen liegt damit eine Vorstellung von objektiver Wahrheitsvermittlung als Transzendenz zugrunde. Lässt man diese aber fallen, kann man sich von derartigen Vorurteilen befreit dem Studium der menschlichen Kommunikation zuwenden. Dabei sollte der Grundsatz im Hinterkopf behalten werden, dass Theorie tatsächlich das beschreiben muss, was in der Kommunikation passiert. Traditionell deskriptive realistische Konzepte können nicht das fassen, was offensichtlich innerhalb der Kommunikation als moralisch bezeichnet wird. Relativistische Konzepte lassen die offensichtlich universelle Gültigkeit außen vor, die in moralischen Urteilen impliziert ist. Beide verstehen sich als Heilsverkünder, die mit a priori gesetzten Urteilen an der kommunikativen Realität vorbei theoretisieren.52 Grundsätzlich muss der Gedanke universeller Gültigkeit jedoch nicht verworfen werden, wenn die Idee absoluter Transzendenz verworfen wird. Die Ergebnisse könnten so selbstverständlich nicht mehr den Charakter ultimati-

rung der bestimmenden philosophischen Strömungen unter Aufzeigen ihrer inneren Widersprüche und auch die positive Neubewertung der Zirkularität bei Rentsch bereits in ähnlicher Form vorweggenommen werden (vgl. Thomas Rentsch, Die Konstruktion der Moralität: Transzendentale Anthropologie und praktische Philosophie, Frankfurt: Suhrkamp, 1990). 50 Vgl. für einen Überblick über diese Kritik Searle, Geist, 22-45. 51 Butler, Kritik der ethischen Gewalt, 95. 52 Vgl. dazu Rorty, Philosophie als Kulturpolitik, 255-265.

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ver Gütigkeit für alle möglichen Betrachter (d.h. auch Aliens) haben, aber durchaus für alle Menschen, die in Kommunikationszusammenhängen leben.53 Die realistischen und relativistischen Tendenzen werden hier also von einem explizit poststrukturalistischen Standpunkt aus verbunden. Da die Wahrheitsfindung über empirische Untersuchung von Kommunikation passieren soll, könnte man die Strategie als Realismus mit kommunikativem Fundament oder Realismus kommunikativer Letztbegründung bezeichnen. Untersuchungsfeld ist in meinem Falle die geschriebene Sprache, also Literatur. Interessanterweise hat Richard Rorty die Literatur- bzw. Kulturwissenschaft als neue Philosophie benannt.54 Dementsprechend könnte diese Untersuchung als eine Art neuer Philosophie vor kulturellem bzw. literarischem Hintergrund beschrieben werden. Wie könnte nun eine solche kommunikative Beobachterposition aussehen? Hier möchte ich weiter an das Bild der Sprache anknüpfen, das von so vielen postmodernen Denkern genutzt wurde. Wie bereits erörtert, kann der Gedanke einer außer-kommunikativen Realität (zumindest für erkenntnistheoretische Fragen) fallengelassen werden. Damit muss der Beobachter also auch nicht mehr in der Lage sein, diese zu erkennen. Es würde ausreichen, wenn er – wie der Muttersprachler – fähig wäre, Aussagen über die Sprache, die er spricht und mit der er zu denken gelernt hat, zu treffen, die insofern objektiv sind, als dass er sie anderen Sprechern vermitteln könnte. So könnte er Einsicht in eine ethische Grammatik erlangen, die für alle kommunizierenden Menschen gleich ist. Dabei ist zu beachten, dass nicht jeder (und vor allem nicht der Lerner einer Sprache) zwischen grammatikalischer Ebene und sprachlich-inhaltlicher Ebene unterscheiden kann. Obwohl sie diese zusammen als funktionales System aufbauen, können sie die Ebenen aber später (mehr oder weniger) ohne Probleme abstrahieren. Dieser Ansatz liegt gewiss nahe einer positivistischen Einstellung, aber es ist natürlich einzugrenzen, dass nicht jeder erwachsene Sprecher in der Lage ist, die Grammatik seiner Muttersprache zu erfassen. Zudem ist Erkenntnis in diesem Sinne als Lernprozess gefasst und die gewonnen Ergebnisse haben immer insofern einen relativen Charakter, als dass man sich auch irren könnte – das außerkommunikative Argument, mit dem eine Erkenntnis aller Zweifel enthoben wer-

53 Diese Idee wird formal philosophisch von James J. Drummond im Bezug auf die Phänomenologie Husserls erörtert. Drummond argumentiert, dass man ontologischer Realist sein kann, ohne den epistemologischen Realismus zu akzeptieren (vgl. John J. Drummond, Husserlian Intentionality and Non-Foundational Realism: Noema and Object, Contributions to Phenomenology 4, London: Kluwer, 1990, 254). 54 Vgl. Rorty, Philosophie als Kulturpolitik.

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den könnte, besteht ja nun nicht mehr. Trotzdem gibt es so etwas wie kommunikative Wahrheitsproduktion. Dies lässt sich logisch (intra-kommunikativ) dadurch begründen, dass die Teilnehmer einer Kommunikation immer über einem Großteil des Wahrheitsgehalts ihres Gesprächsobjektes übereinstimmen müssen, da sie ansonsten nicht denken könnten, dass sie sich über das gleiche Objekt unterhalten.55 So eine kommunikative Letztbegründung von Ethik ist keinesfalls als Ersatz für bisherige postmoderne Ansätze anzusehen, sondern lediglich als notwenige Erweiterung auf metaphysischer Ebene (woraus sich allerdings einige zwingende Anpassungen der bestehenden Theorien ergeben). Eingangs wurde die These aufgestellt, dass die postmoderne Theorie scheitern musste. Dies kann man nun damit begründen, dass aufgrund des dekonstruktivistischen Gestus im Laufe des 20. Jahrhunderts jegliche Metaphysik aus dem Dunstkreis postmoderner Theorien verbannt wurde. Aus der Theoriegeschichte heraus kann jemand wie Judith Butler heute gar nicht mehr von grundsätzlichen ethischen Normen sprechen, die für alle Menschen gelten. Wenn sie aber das Argument nutzt, dass wir nur wirklich ethisch handeln können, wenn wir uns unserer Beschränkungen bewusst sind, dass wir uns gegenseitig schaden, wenn wir unter der Illusion der Souveränität handeln, entsteht ein Problem.56 Dieses Argument ergibt erst dann einen Sinn, wenn bereits eine grundlegendere ethische Einsicht existiert. Die Einsicht nämlich, dass es richtig und gut ist, sich nicht gegenseitig zu schaden; dass Menschen versuchen sollten, sich gegenseitig ein gutes Leben zu ermöglichen. In diesem Sinne strebe ich eine Erweiterung postmoderner Theorien an, die – wenn sie sich mit Ethik befassen – letztlich immer mit der Warum-Frage konfrontiert werden, auf die sie schlichtweg keine Antwort haben können. Anders gesagt, es soll die Einsicht geschaffen werden, dass man postmoderne Theorien in diesem realistischen Sinne erweitern kann und muss. Ethik ist somit das Hindernis, an dem sich die große Welle der postmodernen Theorie bzw. Kritik zwangsläufig brechen musste. So würde ich das Zerfließen in die differenzierten Priele von Spezialforschungsbereichen auch eher als Vermeidungsstrategie denn als Weiterentwicklung interpretieren. Zudem ist es im Bereich der Ethik wichtig, einen übergeordneten Begriff von Moral zu haben, der nicht selbst schon die Inhalte der ethischen Prinzipien bestimmt. »Er scheint für jeden Einzelnen, der die Fähigkeit hat, moralische Urteile zu fällen und kritisch zu ihnen Stellung zu beziehen, unverzichtbar zu sein. Ansonsten könnten wir moralische Kontroversen gar nicht als moralische Kont-

55 Vgl. ebd. 287f. 56 Vgl. Butler, Kritik der ethischen Gewalt; ibid. Giving an Account of Oneself.

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roversen wahrnehmen«.57 Besonders für eine inter-kulturelle Kommunikation scheint es unverzichtbar, einen derart funktionalen Ethikbegriff exakt zu beschreiben, um Konflikte besser verstehen und steuern zu können. Von der kulturpoetischen Position gesehen, ergibt sich nun eine zweigeteilte Ausgangslage für die Verbindungssuche zwischen Literatur und Theorie. Vom Standpunkt der Untersuchung von Literatur bzw. Kultur aus kann man fragen, inwiefern aufgrund des sozio-kulturellen Diskurses besagten Zeitraums differenzierte Aussagen im Hinblick auf die Interpretation des darin enthaltenen ethischen Theoriestreits gemacht werden können. Ausgehend vom theoretischen Standpunkt kann man die Frage formulieren, welche empirischen Ergebnisse eine Untersuchung der menschlichen Kommunikation im Hinblick auf die Moral zutage fördert. Auf einer dritten Ebene könnte man sogar eine rein literaturwissenschaftliche Fragestellung entwerfen. Literaturanalyse war lange Zeit hauptsächlich auf Textimmanente Interpretation konzentriert, bevor Literatur im Laufe des 20. Jh. zunehmend ausschließlich als Teil und Ausdruck der sozio-historischen bzw. kulturellen Situation (der Postmoderne) gesehen wurde.58 Mit einer Interpretation von Literatur als Ausdruck menschlicher Kommunikation wird zumindest teilweise ein Zwischenweg der Sichtweisen als geschlossenes System Text oder als Teil des großen gesellschaftlichen Systems hin zu einer Aufwertung des Textes als bedeutungsvoll außerhalb der Gesamtkultur angeregt. Als Ansatz scheint diese Sichtweise besonders vielversprechend, weil das besondere Gleichgewicht zwischen dem Individuum und seiner Beziehung bzw. Einbettung in die Gesellschaft viel konstruktiver abgewogen werden kann als in den gängigen poststrukturalistischen und kommunitaristischen Ethiken. Dort wird entweder die Verbindung des Einzelnen zur Gesellschaft gänzlich negativ als Abhängigkeit oder Bedrohung gefasst oder der Einzelne zu sehr auf seine Rolle in der Gemeinschaft reduziert. Auch könnte eine Ethik auf diese Weise mit einem gewissen Lernaspekt versehen werden, weil nicht jeder sofort Einblick in seine Sprache haben kann. Im Gegenteil, Existenzebene und Bewertungsebene werden gemeinsam gelernt (da Existenz in extern-realistischem Sinn ja keine Rolle mehr für die Lebenswelt spielt). Dadurch ergibt sich die Zentralität eines Lernprozesses, in dem diese beiden Ebenen wieder getrennt werden müssen, um die Struktur der darin enthaltenen funktionalen Ethik zu begreifen. Dies wäre

57 Nico Scarano, »Die Sanktionstheorie der Moral: Überlegungen zum formalen Begriff der Moral bei Ernst Tugendhat«, Ernst Tugendhats Ethik: Einwände und Erwiderungen, hg. ders. und Mauricio Suárez, München: C.H. Beck, 2006, 95. 58 Vgl. J. Hillis Miller, The Ethics of Reading, New York: Columbia UP, 1987, 2f.

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über den Erhalt der rationalen Bewertungsebene (ethische Vernunft als universell höchstes menschliches Gut) auch ein entscheidender Unterschied zu bereits bestehenden ähnlichen Konzeptionen von Ethik, z.B. in der philosophischen Anthropologie.59 Eine grundlegend menschliche Struktur, die uns darauf festlegt, mit anderen Menschen in Kommunikation zu treten, kann auch aufgrund ihres Charakters als Funktion eine universelle ethische Grundlage bilden. Ethischer Sinn kann darin liegen, mit allen Menschen in Kommunikation zu treten, was aber über die Verbindung zur normativen Gesellschaftseinbindung nach Tugendhat, anders bewertet werden muss, als im Kommunitarismus. Es kann nun auch eine ethisch nicht vertretbare und auszuschließende Position gedacht werden. Die Verantwortung kann sowohl vom Individuum aus, als auch über die Community begründet werden. Damit wird eine derart kommunikative Ethik vor allem zwischenmenschliche Situationen und die Situation des Einzelnen beschreiben können. Ein besonders hervorzuhebendes Element scheint mir zu sein, dass es nicht die Abneigung gegen Personen ist, die Menschen zu aggressivem Verhalten gegenüber anderen verleitet, sondern die Abneigung gegen deren Sinnentwürfe.

III Als Fazit kann resümiert werden, dass sich eine genauere Untersuchung dieser Schnittstelle lohnt, um eine neue Fundierung für eine relativistische und realistische Theorie zu formulieren. In den gängigen Kategorien der Moraltheorie kann man sagen, dass hierüber eine Ethik entstehen könnte, die zeigt, dass 1) Menschen zwar immer nur in Verbindung zu ihrer Umwelt existieren, dies aber lediglich zu einer normalen Zirkularität führt, 2) moralische Normen immer schon im menschlichen Denken enthalten sind, aber durch Abstraktion auch selbst Gegenstand rationaler Abwägung sein können, 3) ethische Vernunft als höchste zu erstrebende Bewusstseinsform gelten muss, da 4) nur so Einblick in die sinnhafte, narrative Natur des Menschen gewonnen werden kann, die wiederum zeigt, dass 5) der Mensch im sinngebenden, narrativen Austausch mit anderen Menschen lebt und diese anderen wie auch sich selbst ernsthaft beeinträchtigen kann, wenn er sich gegen diese Natur wendet und die Kommunikation zu unterbrechen versucht. Wer einmal erkannt hat, dass dies sich so verhält und damit auch seine eigenen (sinngebend-narrativen) Einflussmöglichkeiten erkannt hat, kann erstens Zugang zu Motivation gewinnen und zweitens nicht mehr ernsthaft

59 Vgl. Rentsch, Die Konstruktion der Moralität.

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auf Lösungen von Konflikten aus sein, die nicht die ethisch vernünftige Kommunikation und gemeinsame Sinngebung in den Vordergrund rücken. Um diesen Wirklichkeitsentwurf und die genauen Handlungsmöglichkeiten auszuloten, kann die Literatur als Vorbild fungieren, da sie der postmodernen Theorie in ihrer Entwicklung einen Schritt voraus ist. Zentral für die Erzählung ist der Erzähler sowie für eine Theorie der normativen Bewertung das Subjekt zentral ist. Es gilt also, den Entwurf eines Individuums in den neueren Romanen, der es mit einer gewissen Autonomie ausstattet, ernst zu nehmen und zu versuchen, daran orientiert ein Verständnis zwischenmenschlicher Handlungen zu entwerfen. Dies läuft auf eine Analyse der self-writing-Strategien hinaus. Um noch einmal auf den Hermaphroditen Cal/Callie aus Jeffrey Eugenides’ Middlesex zurückzukommen: Er steht seinen Eltern und dem nächsten Umfeld nicht als freak gegenüber, weil sie ihn plötzlich hassen oder seinen Körper verabscheuen, sondern weil der Sinnentwurf der damit einhergehen muss, nicht in die bestehenden Sinnentwürfe passt. Solange Calliope als Mädchen oder später Cal als Junge angepasst auftritt, ergibt sich kein Problem. Menschen können wie dieser Erzähler versuchen, die Normen ihrer Gesellschaft im Bezug auf geschlechtliche Anerkennung zu ändern. Der moralische Wert der Toleranz und ein Recht jedes Menschen auf Anerkennung müssen aber bereits zugrunde liegend begründet worden sein. Denn sonst ergibt sich zwar für den freak eine Motivation, etwas zu verändern, für seine Umwelt aber nicht. Die postmoderne Kritik fokussiert zu stark die (innovative) Außenseiterposition, ohne anzuerkennen, dass die (konservativen) Eingeschlossenen für tatsächliche Veränderungen weitaus entscheidender sind. Unter Einbezug der kommunikativen Ebenen der Narration kann man trotz allem Existenz und Bewertung unterscheiden, was für eine vernünftige Kommunikation unerlässlich ist. Denn wenn der freak sich in die Konvention einschreiben möchte, muss er zunächst verstehen, wie diese genau aussieht, um die Ebene der Existenz von zwei auf drei (oder mehr) Geschlechter ausbauen zu können. Dabei muss er genaue Einsicht in die Kategorien eines geschlechtlichen Individuums gewinnen, um andere, die diese Konvention leben, von seiner eigenen Natürlichkeit überzeugen zu können. Eine Ich-Erzählerposition zu ergreifen und die Form einer konventionellen Familiensaga zu wählen, ist insofern ein angemessener Schritt, um klarzustellen, dass die angestrebte Innovation nur eine kleine Änderung an der ansonsten normal bleibenden Realität darstellt. Zudem kann der freak seine Verletzungen, die sein Umfeld auf die eigene Verantwortung aufmerksam machen könnte, nur durch diese Identitätsstruktur verständlich erklären. Was die Theorie von der Literatur lernen kann, ist, dass universelle Kategorien, wie die des Individuums,

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nicht fallengelassen werden können und dass dies auch nicht notwendig ist, um postmoderne Kritik zu formulieren bzw. postmoderne Themen zu diskutieren. Im Gegenteil, diese Kategorien (genau wie eine Grundlagenethik) werden sogar benötigt, um Kritik überhaupt erst zu formulieren und um die Dynamiken zwischen Innovation und Konvention zu verstehen und zu bewerten.

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Struktur und Dekonstruktion von Innovation und Konvention: Hybridität

Hybrid Presence: Der Erinnerungsraum in Bernardine Evaristos Soul Tourists M ARTIN K INDERMANN

Das konflikthafte Ineinandergreifen von Innovation und Konvention ist innerhalb der Literatur immer wieder als Verfahren in der Sujet-Konstruktion benutzt worden. Intertextuelle Bezugnahmen, beispielsweise im Rahmen von ReWrittings, Ironisierungen oder der bewussten Replik, stellen dem Prätext und der mit ihm verbundenen literarischen Tradition oft eine neue Lesart zur Seite, die die diskursive Verortung des Ausgangstexts hinterfragt und in neue Zusammenhänge zu stellen sucht. Dieses Aufeinandertreffen, das sich im Kontakt unterschiedlicher semantischer Felder konstituiert, soll hier im Werk Bernardine Evaristos nachvollzogen werden. Der kreative Umgang mit literarischen Konventionen und Strategien der narrativen Vermittlung im Werk der Autorin erweist sich vor der Fragestellung nach der wechselseitigen Durchdringung unterschiedlicher Semantisierungen, die im Konflikt die Möglichkeit dynamischer Prozesse der Innovation eröffnen, als besonders interessant. Bereits ein kurzer Blick auf die bislang veröffentlichten vier Romane zeigt deren starke intertextuelle Vernetzung, die immer wieder Ausgangpunkt wird, um Genre-Konventionen und literarische Traditionslinien aufzugreifen und einer polyvalenten Umdeutung zu unterziehen. In dieser heterogenen Konstitution des Textes findet eine Verhandlung diskursiv formierter Wahrnehmungen sowohl von literarischen Vermittlungsverfahren als auch soziokultureller Bedeutungskonstruktion statt, die hier anhand des Romans Soul Tourists (2005) genauer herausgearbeitet werden soll. Doch wird zunächst ein kurzer Blick auf die übrigen Texte zeigen, dass die im untersuchten Roman ausgeführten Verfahren durchaus als Paradigma der Hybridisierung innerhalb des Schaffens der Autorin gelesen werden können. Das literarische Debüt Evaristos, der 1997 erschienene Versroman Lara, thematisiert die Bedingungen hybrider Identitätskonstruktion im Rahmen einer

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Familiengeschichte, die ihre Wurzeln in Großbritannien, Irland, Deutschland, Brasilien und Nigeria hat. In dem Text wird der Diskurs einer DiasporaErfahrung problematisiert, um schließlich zu einem Begriff von hybrider Identität zu gelangen, der die Auflösung eines polyvalenten Selbst durch Erinnerungsreisen nach Nigeria und Brasilien ebenso verwirft wie die Option der vollkommenen Assimilation. So lässt der Text die Suche nach einem Gefühl des belongings, einer räumlich-kulturellen Zugehörigkeit, bewusst offen und verweigert sich einer einfach erscheinenden Auflösung der Spannung, die aus der Hybridität der Protagonisten entspringt. Vielmehr zeigt sich, dass räumliche wie soziokulturelle Verortung in der Identitätskonstruktion als Prozess gedacht wird, der eine solche Auflösung ausschließt. Der 2001 erschienene Roman Emperor’s Babe nutzt erneut das Genre des Versromans, um nicht zuletzt in der Nutzbarmachung der Genrekonventionen das Gemacht-Sein, die diskursive Konstruktion, von Geschichte und Erinnerung gleichermaßen in den Mittelpunkt des Erzählens zu rücken. Die Liebesaffäre der sudanesischen Immigrantin Zuleika mit dem Imperator Septimus Severus im Jahre 211 u. Z. zeichnet die Stadt Londinium als einen stark durch Migration bestimmten Raum, in dem sich afrikanische und römische Einflusse im besetzten Britannien zu einem polyvalenten kulturellem Bedeutungsraum verbinden. Die Erzählung schlägt eng an den erzählten Raum angebunden einen Bogen, in dem Migrationsbewegungen von Afrika nach Britannien deutlich werden, was die Historizität einer britischen Vergangenheit bereits als dominanten Erinnerungsdiskurs zeichnet und zugleich die Gegenwart einer black presence auf den britischen Inseln in ihrer Zeitlichkeit betont. Die innovative Nutzbarmachung des Genres des Versromans mit seinen epischen Implikationen betont hier auf der Ebene der narrativen Vermittlung, die Polyvalenz der Konstitution von Erinnerung in ihrer Verräumlichung. Diese Hervorhebung der Diskursivität ist im Kontext des von Homi K. Bhabha beschriebenen Begriffs des Third Space zu sehen, innerhalb dessen die Konfrontation verschiedener semantischer Räume in der Herstellung von Bedeutung einen hybriden Raum multipler Bedeutungen erschaffen, der die Wahrnehmung von Kultur als in sich geschlossenes System verunmöglicht. The intervention of the Third Space of enunciation, which makes the structure of meaning and reference an ambivalent process, destroys this mirror of representation in which cultural knowledge is customarily revealed as an integrated, open, expanding code.1

1

Homi K. Bhabha, The Location of Culture, London: Routledge, 2004, 54.

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Hinsichtlich der wechselseitigen Durchdringung semantischer Sphären, in dem sich das Zusammenwirken von Innovation und Konvention manifestiert, ist dieser polyvalente Raum der Verschränkung in Bezug auf Produktivität und Mobilität von besonderer Bedeutung. Gerade hier entsteht in der Kollision dynamischer Systeme das Dritte, das hybride Neue. Jedes dynamische System ist eingebunden in einen Raum, in dem sich andere, ebenso dynamische Systeme sowie Fragmente zerstörter Strukturen, eine Art Kometen dieses Raums, befinden. […] Oft genug generiert die Kollision etwas Drittes, prinzipiell Neues, das sich nicht als naheliegende, logisch vorhersagbare Konsequenz aus einem der beiden kollidierenden Systeme ergibt.2

Diese Produktivität des Lotman’schen Grenzraums wird im Folgenden genauer zu fassen und in Bezug zu Evaristos Umgang mit Genrekonventionen zu setzen sein. Der Roman Soul Tourists, der hier im Zentrum der Analyse steht, zeigt bereits durch die selbst vorgenommenen Bestimmung (»a novel with verse«3) eine hybride Struktur, die auch den Textraum selbst betrifft. Der bislang einzige vollständig in Prosa verfasste Roman Evaristos, Blonde Roots (2009), verdeutlicht bereits durch den Titel seine Verortung innerhalb eines intertextuellen Netzwerks: Alex Haleys Roots. The Saga of an American Family (1976) wird als Kontext aufgerufen und bildet so gleichsam die Folie, vor der Evaristos Text als Re-Writing rezipiert werden muss. Doch, wie ebenfalls im Titel deutlich wird, ruft der Text Haleys Prätext und die historische Periode der Sklaverei in den USA nicht nur auf, sondern entwirft einen alternativen Geschichtsverlauf. In der erzählten Welt des Romans rückt »Aphrika« an die Stelle des Kolonisators. Europa dagegen, innerhalb der text-internen Geographie südlich von »Aphrika« gelegen, und besonders England, aus dessen Region »Cabbage Coast« die Protagonistin Doris stammt, wird gnadenlos ausgebeutet. Doris wird aus ihrem heimischen Cottage als Sklavin zunächst nach »Aphrika« verschleppt, bis sie im Verlauf des Textes die Grausamkeit der amerikanischen Zuckerrohr-Plantagen erfahren muss. Im Folgenden wird Evaristos Roman Soul Tourists hinsichtlich der Figuration der Semantisierungen des Relationsgefüges des hier entworfenen literarischen Raums im Kontext kulturellen Erinnerns beleuchtet, um im konflikthaften Aufeinandertreffen von diskursiv hergestellter Interpretation von Vergangenheit

2

Jurij M. Lotman. Kultur und Explosion. Berlin: Suhrkamp, 2010a, 87.

3

http://bevaristo.wordpress.com/books.

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und Neuinterpretation, das hervortreten innovativer Prozesse nachzuvollziehen. Darüber hinaus ist die intertextuelle Praxis des Textes im Kontext der sichtbar werdenden Hybridisierung als Äquivalent der narrativen Strategie zu charakterisieren. Zuvor ist es jedoch notwendig sich einige theoretische Voraussetzungen, sowohl hinsichtlich des Verhältnisses von Raum, Erinnerung und Literatur, als auch der Wechselwirkung von Innovation und Konvention, Redundanz und Variation, zu vergegenwärtigen.

S PATIALISIERTE E RINNERUNG Die besondere Dynamik semiotischer Prozesse und das konflikthafte Aufeinandertreffen verschiedener semantischer Subsysteme lassen sich mit dem Model der Semiosphäre, das der russische Literaturwissenschaftler Jurij M. Lotman entwickelt hat, anschaulich darstellen.4 Wie in der Luhmann’schen Systemtheorie baut das Sphärenmodel auf der grundlegenden Differenz zwischen einem Innen und Außen, der System-Umwelt-Differenz,5 auf. Bei der Analyse bedeutungsgenerierender (kultureller) Texte beschreibt Lotman das Model der Semiosphäre, die als zugleich offen und geschlossen zu charakterisieren ist. Die Sphäre selbst ist im Inneren asymmetrisch gegliedert in ein Zentrum, in dem sich die semantisch stabilsten Strukturen organisieren, und eine Peripherie, einen Grenzraum der Überlappung mit anderen Semiosphären.6 Des Weiteren ist die Semiosphäre als extrem dynamisches System zu verstehen: Sie befindet sich in fortwährender Bewegung. Im Bereich der Peripherie findet ein steter Austausch mit anderen Semiosphären statt. Jedoch streben darüber hinaus Strukturen fortwährend aus dem Grenzbereich ins Zentrum mit dem Ziel, die dortigen zu ersetzen.

4

Das Lotman’sche Sphärenmodel bietet vielversprechende Anknüpfungspunkte an die Systemtheorie Niklas Luhmanns und, in diesem Rahmen besonders von Interesse, an den hierauf aufbauenden Begriff von Erinnerung, den Elena Esposito in Soziales Vergessen: Formen und Medien des Gedächtnisses der Gesellschaft, Frankfurt: Suhrkamp, 2002 entwickelt. Auf die Überschneidungen von Lotmans Kultursemiotik und Systemtheorie haben Susi K. Frank, Cornelia Ruhe und Alexander Schmitz bereits hingewiesen: »Nachwort. Explosion und Ereignis. Kontexte des Lotmanschen Geschichtskonzepts«, Lotman, 2010a, 243ff.

5

Vgl. Niklas Luhmann, Soziale Systeme: Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt: Suhrkamp, 1987, 22ff.

6

Vgl. Jurij M. Lotman, Die Innenwelt des Denkens: Eine semiotische Theorie der Kultur, Berlin: Suhrkamp, 2010b, 169.

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Nun ist jedoch hier in erster Linie die Dynamik des polyvalenten Grenzraums von Interesse. Jede Semiosphäre ist umgeben von weiteren Semiosphären und auch im Inneren aufgegliedert in Subsphären. Grundlegend ist, wie bereits ausgeführt, die Differenz eines Innen und Außen. In Bezug auf das Außen nehmen also andere Sphären die Funktion der Umwelt ein, die von dem System der Sphäre abgegrenzt ist. Der Bereich der wechselseitigen Durchdringung der Sphären bildet demnach einen Ort der erhöhten Dynamik, in dem sich im Aufeinandertreffen des Innen und Außen ein Prozess der Hybridisierung vollzieht. »The boundary has another function in the semiosphere: it is the area of accelerated semiotic processes, which always flow more actively on the periphery of cultural environments […]«.7 Der Raum der Grenze ist bereits als solcher als polyvalenter Bereich charakterisiert, dem Hybridität stets immanent ist, denn in Anlehnung an die Mathematik bestimmt Lotman die Grenze als Unendlichkeit von Punkten, die zugleich zum Innen und zum Außen gehören.8 Die in diesem hybriden Bereich der wechselseitigen Durchdringung verlaufenden Prozesse bringen im Aufeinandertreffen unterschiedlicher kultureller Codes, die einer Vermittlung ins jeweils andere System bedürfen, etwas Neues hervor: das Hybrid. Es wird an dieser Stelle deutlich, dass demzufolge Innovation und Konvention als sich gegenseitig bedingende und durchdringende Prozesse zu verstehen sind. Der Prozess der Hybridisierung als Ineinandergreifen von Strukturen, die im Konflikt auf das Außen treffen und so im peripheren Bereich der Grenze polyvalent werden, ist nunmehr mit einem Begriff von Erinnerung zusammenzudenken, der diese als in der Gegenwart verorteten Prozess begreift. Erinnerung wird hier als Generierung von Vergangenheit durch einen Akt der Selektion begriffen, der eine fiktive Vergangenheit hervorbringt. Dieser Prozess muss als dialogisch verstanden werden, denn die im Gedächtnisnarrativ verankerten Fiktionen von Vergangenheit erweisen sich in der Produktion von Erinnerung als das Gegenüber, mit dem sich die Fiktionalisierung vollzieht, das also formend auf die Konstitution von Erinnerungen Einfluss nimmt. Die Wechselbeziehung zwischen dem kulturellen Gedächtnis und seiner Selbstreflexion basiert auf einem ständigen Dialog: Texte aus chronologisch früheren Schichten werden in die Kultur hineingetragen, sie wirken mit deren aktuellen Mechanismen zusammen und generieren ein Bild der historischen Vergangenheit, das von der Kultur in die Vergangen-

7

Jurij M. Lotman, »On the Semiosphere«, Sign System Studies 33.1 (2005): 212.

8

Vgl. ebd. 208f.

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heit projiziert wird und von dort aus als gleichberechtigter Dialogpartner auf die Gegenwart wirkt.9

Erinnern ist folglich stets an den Bezugspunkt der erinnernden Person gebunden und ist demnach perspektiviert, so dass sich die Vorstellung einer quasi »originären« Erinnerung als unhaltbar erweist.10 Erinnern ist als ein sich fortdauernd vollziehender Prozess der Relation zu verstehen, innerhalb dessen in Selektionsprozessen basierend auf Redundanz (Wiederholung von Inhalten) und Varianz (Vergessen von Inhalten, um Platz für neue zu schaffen) Verknüpfungen geschaffen werden.11 Wahrnehmung, und damit auch Generierung von Erinnerung, ist eng mit einer Vorstellung von Raum verbunden, in dem sich unser Erleben vollzieht. Raum wird im Rahmen meiner Analyse nicht als feste Größe verstanden, die als umschließender Behälter unabhängig von der Wahrnehmung des Beobachters existiert. Vielmehr muss Raum innerhalb eines relativistischen Raumbegriffs als ein durch die Relationen der in ihm verorteten Objekte und Körper hervorgebrachtes Netzwerk begriffen werden, das sich in einem Prozess der permanenten Veränderung befindet, »abhängig vom Bezugssystem der Beobachter«.12 Raum ist also als sich performativ konstituierende Größe zu denken, der sozio-historische Schichten eingeschrieben sind, was wiederum seine soziale Konstruiertheit hervorhebt. Er erscheint als komplexes Geflecht von Beziehungen der platzierten Körper, das sich aus der Bewegung in der Zeit als Ergebnis performativer Akte konstituiert. Space occurs as the effect produced by the operations that orient it, situate it, temporalize it, make it function in a polyvalent unity of conflictual programs or contractual proximities.13

Deutlich wird hier die Polyvalenz des Raums als in der Zeit hervorgebrachte, durch fortwährende Platzierungen und Re-Platzierungen potentiell stets veränderbare Übereinkunft, die sich als Ergebnis mobiler Bezugspunkte konstituiert.

9

Lotman, Die Innenwelt des Denkens, 375.

10 Vgl. Esposito, Soziales Vergessen, 12. 11 Zur grundlegenden Bedeutung von Varianz und Redundanz innerhalb der Konstruktion von Erinnerung vgl. ebd. 24ff. 12 Martina Löw, Raumsoziologie, Frankfurt: Suhrkamp, 2001, 34. 13 Michel de Certeau, The Practices of Everyday Life, Berkeley: U of California P, 1988, 177.

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Die Verknüpfung von Raum und Gedächtnis findet ihren Ausdruck bereits im Rahmen der antiken Mnemotechnik. Die Verbindung von eindrücklichen Bildern (imagines) und einer räumlichen Struktur (loci) macht im Abschreiten der spatialen Gedächtnisstruktur mnemonische Inhalte in Bewegung zugänglich. Dieses Verknüpfen von Erinnerungsinhalten lässt sich auf die Konstruktion von Erinnerungsraum im Allgemeinen übertragen. Erinnerungen sind dem spatialen Netzwerk eingeschrieben, bzw. werden mit bestimmten lebensweltlichen Orten verknüpft, wodurch die mit einem Ort verbundene Vergangenheit auf der Bedeutungsebene als Teil des spatialen Gefüges zu betrachten ist. Gedächtnisorte wie Gedenkstätten, Museen und Denkmäler erlangen so durch die ihnen eingeschriebene, in der Gegenwart generierte Vergangenheit eine Bedeutung, die aus dem Jetzt heraus das Gestern konstruiert und interpretiert. Wie oben ausgeführt, ist Erinnerung in ihrer Konstruktion in der Gegenwart zu beschreiben: Wolf Schmid und andere verdeutlichen, dass sich der Akt des Erinnerns immer als Akt der Selektion dessen gestaltet, was erinnert werden soll, als Auswahl und Weglassen von Inhalten, indem aus der Fülle der Eindrücke das gewählt wird, was im Gedächtnis bleiben soll.14 Geschichte wird eben nicht in ihrer Totalität erinnert, sondern als Auswahl bestimmter Geschehensmomente, die in der Konstruktion der Identität des erinnernden Subjekts oder Kollektivs von zentraler Bedeutung sind. Hier wird die enge Verbindung zum Akt der Narration deutlich, der ebenfalls auf der Auswahl des zu Erzählenden basiert: Erzähltexte selegieren aus dem nach allen Seiten unbegrenzt offenen Geschehen und in dieser Auswahl konstituiert sich die erzählte Geschichte.15 Demzufolge bedarf auch die auf den Bedeutungsebenen des räumlichen Relationsgefüges diskursiv verknüpfte Erinnerung der sprachlichen Vermittlung, um für die Erhaltung eines kollektiven Gedächtnisses funktionsfähig zu werden.ͳ͸ Aufgrund der innerhalb einer Gesellschaft existenten Erinnerungsgemeinschaften ist es in dieser Vermittlung zwangsläufig, dass der Gedächtnisort zu einem umkämpften Raum wird. Verschiedene Kollektive, Majorität und Minoritäten, konkurrieren um die Position innerhalb des gesellschaftlich relevanten Erinnerungsdiskurses. Dabei ist das historische Zeichen als solches, hier etwa der

14 Vgl. Wolf Schmid, Ornamentales Erzählen in der russischen Moderne, Frankfurt: Lang, 1992, 72. Auch Esposito betont ebenfalls die zentrale Funktion der Selektion in der Konstitution von Erinnerung. Vgl. Esposito, Soziales Vergessen, 12. 15 Vgl. ebd. 16 Vgl. Aleida Assmann, Erinnerungsräume: Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München: C. H. Beck, 2009, 309.

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Gedächtnisort, eben keineswegs das zwangsläufige Ergebnis vermeintlicher Fakten, vielmehr muss es in seiner diskursiven Produziertheit begriffen werden. The sign of history does not consist in an essence of the event itself, nor exclusively in the immediate consciousness of its agents and actors, but in its form as a spectacle; spectacle that signifies because of the distanciation and displacement between the event and those who are its spectators.17

Es lässt sich an dieser Stelle festhalten, dass der Erinnerungsraum als relationales Gefüge von Gedächtnisorten, individuellen wie kollektiven mnemonischen Ebenen und verschiedener darüber hinausgehender Semantisierungen, in seiner Konstituiertheit als polyvalenter Raum zu beschreiben ist. Selektion und Interpretation, die beide aus der Gegenwart heraus eine Vergangenheit konstruieren, machen ihn zu einem heterogenen kulturellen Bedeutungsraum, innerhalb dessen sich die Konstitution des gesellschaftlichen wie individuellen Selbst verräumlicht. Nicht zuletzt aufgrund der deutlich werdenden wechselseitigen diskursiven Durchdringung muss der polyvalente Erinnerungsraum einer Gesellschaft eben auch als hybrider Raum verstanden werden: Das konflikthafte Aufeinandertreffen unterschiedlicher Erinnerungskollektive führt zu einer wechselseitigen Formung, die einen Grenzraum im Lotman’schen Sinne konstituiert. Hier manifestieren sich semiotische Prozesse, innerhalb derer sich das Neue als Produkt des fragmentierenden Aufeinandertreffens konstruiert. Die Verknüpfung von Narration und Erinnern legt nahe, das Verhältnis von Gedächtnis und Text, vor allem in Hinblick auf intertextuelle Durchdringungen genauer zu betrachten. Literarische Texte sind als kulturelle Bedeutungsträger zu begreifen, die sich zueinander in Bezug setzen, aufeinander Bezug nehmen und sich wechselseitig wieder- oder umschreiben. Diese intertextuellen Bezüge werden von Renate Lachmann als das Gedächtnis der Texte beschrieben. 18 Literatur erscheint somit als Gedächtnishandlung, als performatives Sich-Einschreiben in ein Erinnerungsnarrativ. In der Beschreibung der Handlung im intertextuellen Relationsraum sind unterschiedliche Modelle von Performanz zu berücksichtigen, die sich nach der Art trennen lassen, nach der sich der Text zum fremden Text in Bezug setzt. Lachmann unterscheidet hier Partizipation, Tropik und Transformation.19 Während Partizipation als Teilhabe zu beschreiben ist, die sich

17 Bhabha, The Location of Culture, 348. 18 Vgl. Renate Lachmann, Gedächtnis und Literatur: Intertextualität in der russischen Moderne, Frankfurt: Suhrkamp, 1990, 35. 19 Vgl. ebd. 38f.

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in einem dialogischen Verhältnis zum anderen Text vollzieht, muss Tropik als ein bewusst vollzogenes Verschließen gegenüber dem sich im Akt des literarischen Schaffens unweigerlich einschreibenden fremden Text verstanden werden. In der Transformation vollzieht sich die Bezugnahme dagegen als verdeckte Aneignung des Fremden in einem usurpierenden Akt.

N ARRATIVIERUNG

DES

R AUMS

Als Ausgangsituation entfaltet Evaristos Roman eine Verortung des Protagonisten Stanley Williams innerhalb eines auf Vorhersehbarkeit ausgerichteten semantischen Gefüges. Eine Vorhersagbarkeit, die Stanley die Sicherheit gibt, in der Masse der Metropole London nicht aufzufallen. Dieses Nicht-Auffallen im Sinne eines Nicht-Verortbar- und damit Nicht-Lesbar-Seins, das als Äquivalenz seinen Ausdruck in der weißen Sterilität von Stanleys Apartment findet, ist Folge einer Nicht-Zugehörigkeit, in der sich Stanley selbst nur als das Andere, das Fremde, wahrnehmen kann. Er befindet sich in einem Zustand der Dislokation, bedingt durch das Aufeinandertreffen unterschiedlicher kultureller Felder. Diese als Konflikt empfundene Polyvalenz von Identität strebt nach einer einfachen Auflösung in der Leere einer weißen Fläche, die als nicht zu entziffernder Text auch keine Angriffpunkte bieten kann. Bone white, white lead, blond, blanc d’argent, blanc de fard, blanc fixe, antimony white, titanium white, strontium white, Paris white, zinc oxide, zinc sulphide. […] No magazines to show I’m hip to popular culture or my esoteric erudition, No books to show off my catholic literary interests. No letters, photos, sentimental mementoes, such as my first comic book or old school tie. No plants to show I’m a nurturing kinda guy, and certainly no moulting quadrupeds, thank you very much. (ST, 11)

Das Streben nach Nicht-Verortbarkeit scheint die Konstitution eines Raums ohne semantische Einschreibung zum Ziel zu haben und konstruiert Stanleys Apartment so als Nicht-Ort, als Lozierung der Negation. Es ist eben diese Semantisierung, die im Rahmen der narrativen Bewegung durch Europa, durch Prätexte und literarische Gattungen verworfen wird. Vielmehr erscheint der sichtbar werdende Hybridraum als Ort kultureller und identitätskonstruierender Produktivität. Im Zuge von acht Visionen, die Stanley im Kontext seiner Reise durch Europa erscheinen, manifestiert sich die ihm von seiner Mutter prophezeite Gabe »to see what others could not« (ST, 4). Die Stimmen der Geister aus der Vergangenheit erweisen sich als Artikulation der Peripherie, in dem sich aus dem Raum heraus unterschiedliche semantische Schichtungen Gehör verschaffen: So erschei-

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nen die Figuren vor dem Hintergrund ihrer diskursiv-historischen Konstruktion, Shakespeares Dark Lady steht in einer Reihe mit Hannibal und Aleksandr S. Puškin. In der Äußerung der marginalen Präsenz wird der vermeintlich kohärente europäische Erinnerungsraum als Konstrukt erkennbar, das eben lediglich einen dominanten Diskurs sichtbar werden lässt. Von Vision zu Vision tritt der hybride Charakter der semantischen Schichtungen im Erinnerungsraum mehr zu Tage und der von Stanley immer wieder reflektierte Begriff der Zugehörigkeit wird neu verhandelt. Im Zuge dessen wird deutlich, dass Europa als Raum zu verstehen ist, dem eine black presence tief eingeschrieben ist. Der zu Beginn des Textes noch vermeintlich homogen weiße Raum Europas wird in der ihn konstituierenden Hybridität offengelegt, dessen kulturelles Gedächtnis tief durchdrungen ist von der Präsenz des vermeintlich Anderen. Im (touristischen) Ablaufen von Erinnerungsorten wird die marginalisierte Erzählung wahrnehmbar und in der Generierung von Vergangenheit verschiebt sich der narrative Fokus hin zur Peripherie der semantischen Sphäre. Auf diese Weise geraten die unterschiedlichen Interpretationen des spatialen Netzwerks, die von einem zentralen oder peripheren Standpunkt aus konstruiert werden, in einen Zustand der Oszillation, der sich auf unterschiedlichsten Ebenen wiederum dem Text einschreibt. Doch das letzte Wort der Erzählung bleibt der sich artikulierenden Peripherie überlassen: In der Vermittlung durch eine nicht-diegetische Erzählinstanz bildet das Ende des Romans die einzige Passage, die ein Auftreten von Geistern figuriert, das nicht durch Stanley perspektiviert wird. Konnten bislang Stanleys Erscheinungen als Halluzinationen gelesen werden – schließlich ist weder Jessie noch eine andere Figur innerhalb des Textes in der Lage die Geister als »Stimmen« der Vergangenheit wahrzunehmen –, wird mit dem letzten Auftreten der Geister und ihrer Freude ob der Tatsache, dass Stanley sie sehen kann, ihre Erscheinung (gleich der durch sie manifestierten black presence) aus dem Raum des (text-intern) fiktionalen ins faktische verschoben und der Leser wird auf diese Weise in Stanleys wahrnehmende Position der Zeugenschaft versetzt.

P RODUKTION

DES ERINNERNDEN

G EGENDISKURSES

Evaristos Text lässt keine Zweifel, dass die interpretative Wahrnehmung des Raumgefüges maßgeblich durch die Ausgangshaltung des Rezipienten und damit den gewählten Blickwinkel geprägt ist. Zur Decodierung der Erinnerungsräume sind bestimmte Grundvoraussetzungen zu erfüllen, die Stanley zum Teil mitbringt (etwa seine Disposition für eine gesteigerte Wahrnehmungsfähigkeit), die sich jedoch auch erst noch entwickeln müssen. Seine Reise wird folglich zu einer bewussten Verortung in der Hybridität des dargestellten Erinnerungsgefüges, die

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als innovativer wie auch politischer Akt zu lesen ist.20 Innerhalb dieser mobilen Verortung wird das Konzept des Dazu-Gehörens (eines »sense of belonging«) einer Neubewertung und semantischen Neubesetzung unterzogen. Von Beginn an ist Stanley in der Lage, Verstorbene als sich im Raum manifestierende Präsenz wahrzunehmen. Dieses in das spatiale Netzwerk Eingeschrieben-Sein findet seinen Ausdruck auf der Textebene als starke Poetisierung des narrativen Flusses und der daraus resultierenden Fragmentierung in einer harten Absatzsetzung, die immer wieder den Namen der verstorbenen Mutter wiederholt und ihr zugleich selbst eine Stimme verleit. Pearline, who told me I inherited The Gift, passed down through generations of her mother’s family: to see what others could not They’ll find yu in time, Stanley (ST, 4)

Die Präsenz der Toten im Text, wie auch in Stanleys Wahrnehmung, wird mit einer innerhalb der Familie vererbten Begabung in Verbindung gebracht, die Mutter und Vater in Opposition erscheinen lässt. Während die Mutter durch die Anrufung ihres Geistes und das von ihr weitergegebene Geschenk eng mit der Generierung einer spatialisierten Vergangenheit verknüpft wird, erscheint Stanleys Vater in nahezu vollständiger Isolation. Stets von dem Plan erfüllt nach Jamaika zurückzukehren, ist er in einer Nicht-Verortung gefangen, die in dem Versuch verhaftet ist, die hybride Verfasstheit des kulturellen Raums binär in das Andere (Großbritannien) und das Eigene (Jamaika) aufzulösen. Stanleys Vater verschließt sich im wörtlichen Sinne in einem Übergangsstadium, indem er sein Haus nicht mehr verlässt und ein Leben zwischen gepackten Umzugskartons verbringt. Seine einzige Verbindung zum Außen sind Stanleys Besuche. Das Haus wird als unorganisierter Speicher gezeichnet, in dem von der Heiratsurkunde bis zur Sterbeurkunde Pearlines Vergangenheit in Dokumentenform archiviert ist. Dieser rein spatialen Verwaltung von Vergangenem wird mit Stanleys Bewegung durch das raum-zeitliche Netzwerk eine Form von Gedächtnishandlungen gegenübergestellt, die die eigenen Performativität betonen und sich deutlich von einem passivem Rezipieren von Vergangenheit abwenden. Das Nicht-Verortet-Sein des Vaters findet sich zunächst auch bei Stanley wieder, der eine nicht aufzulösende Wurzellosigkeit reklamiert: »I don’t have

20 bell hooks beschreibt etwa die durch radikale Offenheit hergestellte semantischen Produktivität des kulturellen Grenzraums der Marginalität in Yearning: Race, Gender and Cultural Politics, Boston: South End, 1990, 149.

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any real roots here. None of us has.« (ST, 51) Als Verräumlichung dieser Ortlosigkeit wird Stanleys Apartment mit dem Bestreben assoziiert, dem Betrachter lediglich eine weiße Fläche zu bieten, an der sich nichts ablesen lässt: keine Magazine oder Bücher, die eine kulturelle Verortung des Besitzers nahelegen würden, keine Dekoration, keine Pflanzen. Auf diese Weise soll ein semantisch vollkommen unbelegter Raum der Nicht-Bedeutung geschaffen werden, reine inhaltliche Leere. Stanley begreift seine Wohnung als Galerie, die sicherlich auch als Gedächtnisraum gelesen werden muss, in dem an nichts erinnert werden soll: »Pure emptiness. Just the way I like it.« (ST, 11) Lediglich die NichtEinschreibung als Negation soll sich im Raum manifestieren. Der weiße Raum verschließt sämtliche Bezugspunkte zu Stanleys Identitätskonstrukt und dieser erscheint so als mobile Skulptur vor dem Galerieraum seiner Wohnung, die keine Ablenkung vom eigentlichen Objekt bieten soll. The whole flat is a gallery and I am but a walking sculpture inside it. A solitary sculpture, yet to find its perfect match. And she’d have to look good lounging on my sofa. No one ever does – they just mess it up. (ST, 12)

Ähnlich der sozialen Verhaltenscodierung eines Ausstellungsraums wird eine wahrnehmbare menschliche Präsenz als störendes Eindringen empfunden und Stanleys Ansprüche an eine Partnerschaft beschränken sich auf das Einfügen in das Konstrukt des Galerieraums. Die bruchlose Eingliederung des Anderen in die Galerie der eigenen Identitätskonstruktion, der sich allerdings durch Leere einer Decodierung verweigern soll, ist natürlich zum Scheitern verurteilt, gestaltet sich doch die Gegenwart einer anderen Person immer nur als Unordnung, als Gefährdung des empfindlichen Konstrukts des um die eigenen Leiblichkeit entworfenen Galerieraums. Diese paradoxe Konstruktion eines bezugslosen Relationsgefüges wird im Zuge der ersten Geistererscheinung nach einer Liebesnacht mit Jessie jäh durchbrochen. Die Prostituierte Lucy, 1563 als Sklavin nach Großbritannien verschleppt, fürchtet die Vertreibung und bittet ihren Liebhaber William um Hilfe. Stanley wird nun Zeuge des in Versform organisierten Dialogs zwischen Shakespeare und der Dark Lady of the Sonnets, die sich selbst als Produkt der Imagination des Künstlers zu erkennen gibt: Lucy: Even though I’m just an image of thy poems Merely a play on darkness against the light or somesuch nonsense for them to quibble over. O, and a great fuck too! (ST, 66)

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Bereits hier wird eine Grenzverwischung von intra-textuell fiktionalem und lebensweltlichem Raum vollzogen, so dass die literarische Figur der Dark Lady einen Ausdruck innerhalb des erlebten Raums erhält, mitsamt der dazugehörenden Körperlichkeit und Sexualität. Weiter unterstrichen wird dieses Oszillieren zwischen verschiedenen Manifestationsebenen des semantisierten Raumgefüges durch das Aufrufen des Sonetts 130 (»My mistress’s eyes are nothing like the sun«21) als Prätext in der Rede Shakespeares (ST, 65). Entrückt das Sonett selbst das Bild der Geliebten aus dem Kontext eines hyperbolisch-idealisierenden Schönheitskatalogs, wird die Figur der Dark Lady in Evaristos Roman in eine Schwellenposition versetzt: zwischen textintern literarischer Figur und Realität. Eine Position, die der Figur der Prostituierten stets eingeschrieben wird, ist sie doch immer auch Projektionsfläche (männlicher) sexueller Phantasien. Durch das Aufrufen des Sonetts 127 (»In the old age black was not counted fair«) wird der Diskurs von blackness und Schönheit in den Dialog eingeflochten. Doch werden die Zeilen 9 bis 14 des Sonetts im Text wiedergegeben, so dass der Leser selbst die intertextuelle Einordnung vollziehen und zugleich Evaristos Ausgangstext in Bezug zum Titel des Prätexts stellen muss. Hier wird die Sichtbarmachung der diskursiven Bewertung von blackness (»Or if it were, it bore not beauty’s name«, Z. 2) in die Rezeption verlagert. In der bewussten Aufrufung der Prätexte eignet sich der Text die Shakespeare’schen Sonette in usurpierender Geste an und interpretiert diese in der gestalterischen Formung der Zitate. Diese künstlerische Formung verwischt darüber hinaus die Grenze zwischen Vision und textinterner Realität, wenn Stanley etwa nach der Erscheinung, angesteckt durch die Sprache der Geister, die Vision in Versform reflektiert. I dreamt another world, magicked into this one. Lingering at the tail-end of the twentieth, yet mauling the rotten gut of the sixteenth. […] This history, this country – could it really be mine? (ST, 69)

Mit der intertextuellen Aufrufung wird der kanonische Text als literarische Konvention in der Rede der Charaktere einer Hybridisierung unterworfen, die sich den Prätext nicht allein aneignet oder auf diesen als Autorität verweist. Vielmehr wird der Prätext selbst als polyvalentes Konstrukt gezeichnet. Die Autorität der Shakespeare’schen Sonette artikuliert zum einen eine black presence im Elisabe-

21 Shakespeares Sonette in: William Shakespeare, The Complete Works, Oxford: Clarendon, 751-770.

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thanischen London und setzt diese in der Rede der Dark Lady nicht nur als bloße Motivation des Schreibens, sondern die Muse erweist sich im Dialog mit dem Dichter als diesem durchaus ebenbürtig. Zum anderen wird der kanonische Prätext in den bereits auf unterschiedlichen Ebenen als heterogen gezeichneten Text eingearbeitet und hebt dessen eigene Polyvalenz hervor. Die aneignende Geste – schließlich wird der Text zwar deutlich Shakespeare zugeordnet, aber es bleibt doch die literarische Figur des Romans – verdeckt so keineswegs den usurpierenden Charakter der Aufrufung. Spielerisch wird die literarische Konvention in den Dialog der Figuren eingearbeitet, was dazu führt, dass eine Durchdringung von Text und Prätext entsteht, die Innovation in Form eines heterogenen Konvoluts erschafft. Die folgende (Erinnerungs-)Reise, auf die Stanley seine Geliebte Jessie begleitet, figuriert konflikthaft immer wieder das Aufeinandertreffen einer diskursiv dominanten Lesart von Vergangenheit und dem Gegen-Narrativ der Peripherie, das sich in den von Stanley wahrgenommenen Geistererscheinungen artikuliert. So wird die Besichtigung von Versailles zur Verdeutlichung einer anerkannten Interpretation von Geschichte. Dieser wird die Erscheinung von Louise-Marie, uneheliche Tochter von Königin Marie-Therése und dem Pagen Nabo, als Gegenerzählung gegenübergestellt. Die Erscheinungen selbst beklagen ihre Auslöschung aus dem europäischen Gedächtnisnarrativ und die Bitte von Joseph Boulogne, Chevalier de Saint-Georges, um Sichtbarmachung im Erinnerungsdiskurs erweist sich als programmatisch (»I beg of you, make me a memory once more / Let me be known«, ST, 121), denn Stanley wird zum Zeugen, dem die Intervention im Gedächtnisnarrativ zur Aufgabe wird. Die somit eingeforderte innovative Neugestaltung des europäischen Erinnerungsraums wird als Artikulation des marginalisierten Diskurses begriffen. Stanley reagiert auf diese Aufforderung mit dem Aufrufen der eigenen Familiengeschichte, die sich als Verweigerung gegenüber dem väterlichen Diktum der Geschichtslosigkeit (»Doan go raking up the past, Stanley.« ST, 122) gestaltet. Jamaika und England werden nun als gleichermaßen formende Bedeutungsräume erkannt und die binäre Trennung des Vaters in einen schöpferischen Raum Jamaikas und einen destruktiven Raum Englands wird endgültig verworfen. Identität wird als das Produkt des konflikthaften Aufeinandertreffens unterschiedlicher Bedeutungsräume begriffen und der sich so formende Hybridraum der wechselseitigen Überlappung erweist sich in seiner Offenheit als die Verortung von Durchdringungsprozessen, die basierend auf semantischer Mobilität Innovation gewährleisten. Die Reise führt Stanley und Jessie weiter nach Gibraltar, wo in der Erscheinung Tariq ibn Zeyads die nordafrikanische Besiedlung der iberischen Halbinsel aufgerufen wird. Schließlich überqueren sie die Alpen in Jessies altem Lada, was

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im Text mit Hannibals Vordringen nach Rom verknüpft wird. Im Laufe des fortwährenden Generierens von Vergangenheit als Sichtbar-Machen marginalisierter Diskurse bewertet auch Stanley seine eigene Rolle als Wahrnehmender neu: War er zu Beginn Tourist im klassischen Sinne, der bekannte Gedächtnisorte europäischer Geschichte in der ihnen als dominant eingeschriebenen Interpretation rezipiert, sieht er sich nun als soul tourist, der den verdeckten Text zu generieren versteht und dessen zunehmende Interaktion mit den Protagonisten der jeweiligen Visionen ihn deutlich als Akteur hervortreten lässt. Nach der Begegnung mit Alessandro de’ Medici in Florenz beginnt Stanley, ausgehend von der sich als klare Abgegrenztheit manifestierenden Nicht-Verortung seines Vaters, das Konzept von Zugehörigkeit (belonging) neu zu denken und dies nunmehr deutlich als performativen Akt, als bewusste Handlung zu fassen. Was he, Stanley, really an outsider? Maybe you didn’t have to blend in or be accepted to belong. You belonged because you made the decision to and if you truly believed it no one could knock it out of you. These visitations came from inside the body of history, turning its skin inside out and writing a new history upon it with a bone shaved down to a quill dripped in the ink of blood. Europe was not as it seemed, Stanley decided, and for him, at least, Europe would never be the same again. (ST, 189)

Stanley erkennt den diskursiven Charakter, der der Konstitution von Erinnerungsräumen zugrunde liegt. Hervorgebracht und stets dialogisch verfasst, verweist das spatiale Relationsgefüge, vor allem in Bezug auf die (Re-)Konstruktion von Historie stets auf die Option der Intervention, die das verdeckte sichtbar macht und somit in der Interpretation neue Lesarten schafft. In diesen Lesarten wird deutlich, dass jede Rezeption des Erinnerungsraums diesen nur in seiner Fragmentiertheit und seiner Polyvalenz wahrnehmen kann. Auf dem ehemaligen Sklavenmarkt Istanbuls begegnet Stanley schließlich Ibragim Petroviþ Gannibal und Aleksandr Sergeeviþ Puškin. Ersterer, Urgroßvater Puškins, als Sklave aus dem Gebiet des heutigen Äthiopiens nach Konstantinopel verschleppt, brachte es am Hof Peters des Großen schließlich bis zum Rang des Generalmajors.22 Das Schreiben von Geschichte wird nun direkt durch die Figuren thematisiert, wenn der Dichter auf seine nie vollendete Erzählung Arap Petra Velikogo, die er 1827 verfasste, Bezug nimmt.23 Puškin, der selbst die eigene Hybridität innerhalb seines Werkes thematisiert, wird somit zum di-

22 Vgl. Rolf-Dietrich Keil, Puschkin: Ein Dichterleben, Leipzig: Insel, 2001, 17f. 23 Aleksandr S. Puškin, »Arap Petra Velikogo«, Polnoe sobranie soþinenij v desjati tomax, 4. Auflage, Bd. 6, Leningrad: Nauka, 1978, 7-40.

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rekten Bezugspunkt für Stanley in einer Verortung von Zugehörigkeit, die sich als bewusster Akt vollzieht. So beschreibt er gegenüber dem Dichter zum ersten Mal die eigenen Identitätskonstruktion als Prozess, der sich innerhalb eines topographisch-kulturellen Spannungsfelds von England und Jamaika manifestiert.

N ARRATIVE K ONSTRUKTION

DES

H YBRIDRAUMS

Die in ihrer hybriden Figuriertheit deutlich gewordene Konstruiertheit des Erinnerungsraums kann nun als Verfahren auf die narrative Verfasstheit des Textes rückbezogen werden. Wurde bereits eingangs im Hinblick auf Evaristos Werk deutlich, welche Rolle das Sichtbarmachen von fragmentierenden Durchdringungen in der Konstruktion von kultureller Identität im Werk der Autorin einnimmt, ist es an dieser Stelle angebracht, dem narrativen Vorgehen in der Konstruktion dieser Hybridisierung im literarischen Raum sowie im Textraum mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Entscheidend ist es, den Text selbst als Äußerung innerhalb eines intertextuellen Netzwerks, und damit eines kulturellen und kollektiven Gedächtnisses, zu begreifen. Der Text generiert sich, gleich den durch ihn figurierten Räumen, als hybride Struktur, die nicht allein Grenzen der Genres verwischt, sondern sich auch darüber hinaus durch die Verwendung von Piktogrammen, die den Text durchziehen und so gleichsam in Einheiten gliedern, auf der visuellen Ebene in der Rezeption als Mischform offenbart. Weiterhin nimmt der Text, wie bereits dargestellt, auf vielfältige Weise Bezug zu verschiedenen Prätexten und deren Verortung innerhalb einer literaturwissenschaftlichen Kanonisierung. Mehr noch, Evaristos Roman artikuliert sich aus einem Grenzraum im Lotman’schen Sinne: Aus einem Raum des wechselseitigen Überlappens und Durchdringens von verschiedenen Texten und Genres heraus hebt der Text sein eigenes intertextuelles Eingebundensein in das Netzwerk kultureller Gedächtniskonstruktion hervor. Damit thematisiert der Text Bedingungen relationalen Verknüpft-Seins, das sich im konflikthaften Aufeinandertreffen des Selbst und des Anderen, der Konvention und der Innovation, als Hybridisierung vollzieht. Auf der Ebene des Textraums zeigt sich diese Heterogenität des Textes in dessen Verfasstheit als Mischform aller Genres: Die Prosa des Textes wird wiederholt durch Rhythmisierung und ein dichtes Netz thematischer Äquivalenzen einer Poetisierung unterworfen. Der Prosatext wird immer wieder durch Verspassagen durchbrochen, die teilweise als eigene Textstruktur alleine stehen und somit deutlich vom Fluss der Erzählung abgehoben werden. Daneben stehen jedoch Textstellen, in denen etwa die Figuren Reflexionen in Versform fortführen. In das Fließen des Prosatextes schleicht sich so gleichsam die poetische Ordnung

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der Verssprache ein und bedingt eine Position des Textes zwischen den Formen. Dem Oszillieren zwischen Vision und intra-textueller Wirklichkeit in der Wahrnehmung Stanleys wird so ein Verschwimmen der Grenzen von Konventionen der künstlerischen Sprache zur Seite gestellt, wenn er sich etwa von Shakespeares Versen anstecken lässt und seine Rede nun einer poetischen Ordnung folgt. Hier wird durch eine Verklammerung von strukturellen und thematischen Äquivalenzen der Text mit einem dichten Gefüge von Relationen durchzogen, die wiederum die Verfasstheit des spatialen Relationsgefüges direkt in den Text einarbeiten und somit erfahrbar machen. In der dem Drama entlehnten Form der Wiedergabe von Dialogen werden darüber hinaus die Gedanken und Emotionen von Figuren kontrastiert, etwa wenn der Text die Gedanken von Stanley und Jessie in ihrer ersten Liebesnacht nebeneinander entfaltet. J

An orange glow moves up from my toes, spreading inside me.

S

I slip off her diaphanous negligee. Oh – my – goddess.

J

Devouring me with those eyes of his. Makes me feel deliciously wanton (ST, 57)

Sometimes you just know

An anderer Stelle wird der Text einer Strukturierung in zwei Spalten unterworfen, innerhalb derer sich in der Rezeption ein mulitperspekivische Wahrnehmung der Charaktere erzielen lässt, indem der Text die beiden Protagonisten wörtlich gegenüberstellt. S

J

old town, narrow streets boutiques, Arab wall how I long to be a tourist my little caravan now it’s gone summer second to none rain missionary of the skies cleansed trauma’s supposed to bond like cement, not sink like subsidence (ST, 147)

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Die zunehmende Distanz zwischen den Protagonisten schreibt sich hier dem Text ein und so entwirft dieser beide in texträumlicher Absetzung. Auch inhaltlich nehmen Stanley und Jessie keinen Bezug mehr aufeinander. Vielmehr erscheinen beide gefangen in ihrer jeweiligen Gedankenwelt, die sowohl intratextuell als auch auf der Textebene distanziert vom jeweils Anderen figuriert wird. In dieser der Polyvalenz des Textes sowie des Relationsgefüges geschuldeten Darstellung disparater Wahrnehmungen gelingt es, die Diskursivität, die jeder Wahrnehmung als interpretierender Handlung zugrunde liegt, selbst zum Gegenstand der Erzählung zu machen. An anderer Stelle wiederum wird die Grenze zwischen Dialog und nebeneinander stehenden Gedanken bewusst verwischt und es muss offenbleiben, ob die Figuren nun aufeinander reagieren, weil sie die Äußerungen des Gegenübers wahrnehmen können, oder ob es sich im eine Koexistenz gedanklicher Äußerungen handelt, die sich einer Antwort zu verschließen suchen. Die deutlich werdende Polyvalenz des Texts führt sich in der narrativen Vermittlung des Sujets fort: Drei deutlich voneinander abgrenzbare Erzählinstanzen stehen sich hier gegenüber. Neben den diegetischen Erzählfiguren Stanley und Jessie ist eine weitere, nicht-diegetische, Erzählinstanz beschreibbar. Letztere beschränkt sich in der Wahl der narrativen Mittel der Vermittlung und Genres auf Prosa, es sei denn, man möchte die Organisation der Dialoge der nach den Maßgaben des Dramas gestalteten Teile bei dieser Instanz verorten. Die diegetischen Erzählstimmen dagegen wechseln schnell zwischen Prosa- und Versform hin und her, so dass zuweilen die eine in Versen erzählt und bereits im nächsten Absatz die Stimme gleichsam an das Gegenüber abgibt, das dann in Prosa fortfährt. Neben dem Oszillieren der Form, lässt sich weiterhin ein dialogisches Verfahren feststellen, innerhalb dessen die Narrative von Jessie und Stanley konflikthaft aufeinandertreffen und so eine Rezeption als strikt linear organisierte Erzählung unmöglich machen. Auf diese Weise schreibt sich die diskursive Konstitution des Erinnerungsraums im Aufeinadertreffen heterogener Interpretationsnarrative als Hybridität dem Text selbst ein. Dieser oszilliert zwischen verschiedenen Vermittlungsinstanzen, Formen und literarischen Traditionslinien der Wiedergabe und lässt sich nicht darauf beschränken, die eine zu verwenden, ohne dabei dialogisch die andere aufzurufen. Der Text verortet sich so nicht allein im intertextuellen Netzwerk sondern profiliert bewusst formale Aspekte der Konstitution eines kulturellen Gedächtnisses, indem er auch innerhalb einer formalistischen Konstruiertheit Hybridisierung in einem Kontext verhandelt, der sich vom Shakespeare’schen Sonett bis zur letztendlichen Auflösung von klar umrissenen Erzählinstanzen

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und der Reflexion der Figuren über ihre eigene Verfasstheit als fiktive Entitäten reicht. In der Tradition der postmodernen Kollage steht etwa der in den Text eingefügte Bericht des Pathologen, der die Leiche Clasfords untersucht (ST, 16) und auch die abschließenden Rechnungen, die sich Stanley und Jessie beim Scheitern ihrer Liebesbeziehung stellen (ST, 216-217), sind als Dokumente in den Erzählfluss eingebaut, wodurch sie nicht nur eine Hybridisierung der Textsorten bewirken, sondern auch eine klare Abgrenzung von Erzählebenen zum verschwimmen bringen. Schließlich ist festzuhalten, dass der Text sich selbst im intertextuellen Relationsgefüge platziert, indem er Prätexte und deren Schöpfer direkt aufruft. Doch darüber hinaus ist er durch die Beziehungen von Genretraditionen und Literaturgeschichtsschreibung in einem komplexen Gefüge verortet, auf dessen relationale Konstruiertheit hier nur kurz Bezug genommen werden kann: Nicht nur die Traditionslinie des Bildungsromans steht in Verbindung zu Stanleys Reise, die ihn an Erfahrung reicher werden lässt und tieferes Verständnis der diskursiven Verfasstheit des europäischen Erinnerungsraums sowie des performativen Charakters von dessen Konstitution gewinnen lässt. Jessie, die den Hindernissen der Reise mit Witz und Einfallsreichtum begegnet, ist darüber hinaus im Kontext des pikaresken Romans zu rezipieren. Mit der als selbstverständlich hingenommenen Präsenz des Übernatürlichen im Text, dessen intra-textueller Realitätsstatus bezüglich der dargestellten Welt durch den Epilog eine nicht von der Hand zu weisende Faktizität zukommt, nimmt die Erzählung Bezug auf den magischen Realismus, der im Kontext der lateinamerikanischen und afro-amerikanischen Literatur auf eine breite Tradition verweist. Losgelöst von Stanley, der bislang als vermittelnde Instanz fungierte, da die Visionen quasi als mütterliches Erbe an seine besondere Disposition gebunden sind, wird nun der Leser direkt Zeuge der Interaktion der Geister. Durch Stanleys Abwesenheit ist es nun nicht möglich, die Erscheinungen seiner Wahrnehmung zu zuschreiben, so dass sie innerhalb der dargestellten Welt als existent angesehen werden können. Dem Leser werden durch Queen Charlotte, Gattin von King George III, unmittelbar Reflexionen über Stanley mitgeteilt. Everyone is talking about this young man gallivanting about on the road who is wonderfully susceptible. Some are having the most tremendous fun with him. It is rare in the netherworld to be seen in one’s original state – face, hair, body and dress – that we are all so very terribly excited. […] This is just what I need. A young man, some passion and a sympathetic pair of ears. (ST, 287-288)

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Das Drängen der peripheren Artikulation wird hier als Verlangen des Geistes nach historischer Wahrnehmbarkeit im Kontext der (doppelten) Hybridität im Text repräsentiert. Zum einen in der Verfasstheit des Geistes zwischen zwei Welten, den Lebenden und den Toten, und durch die hervorgehobene Polyvalenz des kulturellen Raums als Ort hybrider Identitätskonstruktion. Darüber hinaus stellt sich der Text durch die von ihm profilierte Hybridität von Raum- und Identitätsentwürfen, die stets auf die diskursiven Bedingungen ihrer Konstitution verweisen, in Beziehung zu Verfahren des postkolonialen Erzählens. Schließlich ist auch der historische Roman durch das direkte Aufrufen geschichtlicher Persönlichkeiten mitzudenken und über die Präsenz von Puškin und Shakespeare wird nicht nur das Werk der beiden Dichter als Folie der Rezeption aufgerufen, sondern es findet über eine als Ansteckung zu beschreibende Bewegung selbst Eingang in die formale Gestaltung der jeweiligen Erzählerrede.

H YBRIDITÄT

ALS NARRATIVES

V ERFAHREN

Es ist deutlich geworden, dass die komplexe spatiale Konstitution der Bedingungen des Erinnerns im Text auf unterschiedlichen Ebenen sichtbar gemacht wird. Zum einen ist dies natürlich als bewusste politische Intervention in den diskursiv hervorgebrachten Raum der Interpretation von Vergangenheit in der Konstruktion von kollektiver und individueller Erinnerung zu beschreiben. Das marginalisierte Erinnerungsnarrativ wird in den Text eingearbeitet und unter Bezugnahme auf dominante Erinnerungsdiskurse aufgerufen, die hierdurch einer Hybridisierung unterworfen werden und in ihrer narrativen Verfasstheit als diskursiv produziert markiert werden. Doch ist von Bedeutung, dass sich der Text nicht allein darauf beschränkt, eine marginalisierte, bislang nicht wahrnehmbare Artikulation von Historizität lesbar zu machen. Vielmehr benennt der Text auf der Figurenebene deutlich den performativen Charakter des spatialen Netzwerks und damit die Bedingungen des Hervorgebracht-Werdens von Gedächtnis und dessen Spatialisierung im Erinnerungsraum. Der Text selbst setzt sich in Bezug zu seiner eigenen Verortung innerhalb des intertextuellen Netzwerks und in dieser Bezugnahme werden Neubewertungen vorgenommen, die beispielsweise kanonische Autoren mit innerhalb des Textes verhandelten Fragen von Hybridität und Zugehörigkeit in Beziehung setzen. Auf diese Weise werden neue Lesarten angedeutet und eine konventionelle Literaturgeschichtsschreibung erweist sich als weit polyvalenter als vielleicht der erste Anschein vermuten lässt. So erfahren etwa die Fragen nach blackness und Schönheit, die hier Shakespeares Sonett 127 stellt, eine deutliche Artikulation, wenn der Dichter dieses im Dialog mit seiner Geliebten rezitiert. Zugleich wird

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so der Diskurs um Zugehörigkeit, den Evaristos Text formuliert, in engen Bezug zum Prätext gestellt, der durch seine Aufrufung ebenfalls einer Hybridisierung unterworfen wird. Zwar bleibt die Präsenz Puškins im Text auf die eines Geistes beschränkt, jedoch wird mit der Figuration des Dichters zugleich auch sein Werk aufgerufen und durch seinen Urgroßvater, hier Figur im Text und literarische Figur Puškins zugleich, in den Text eingeschrieben. Der kanonische Dichter der russischen Literatur wird vor dem Hintergrund seiner hybriden Identität gezeichnet und zum Protagonisten Stanley in direkten Bezug gesetzt. Die literarische Verarbeitung der eigenen kulturellen Polyvalenz durch Puškin wird im Text hervorgehoben und stellt so eine Verklammerung zum aufrufenden Text Evaristos her. Die Konvention der Kanonisierung wird auf diese Weise bewusst in Bezug zu einer neuen Rezeption gesetzt, die die ausgewählten Werke vor dem Hintergrund der selbst formulierten Fragestellungen zu lesen sucht. Dabei dient der Prätext nicht allein als autoritative Rückversicherung sondern vielmehr wird eben der Kanon durch das konflikthafte Aufeinandertreffen mit dem aufrufenden Text als hybride Struktur gekennzeichnet. Somit verortet sich der Text selbst im Raum der Lotman’schen Grenze, eines Raumes also, der gekennzeichnet ist durch eine hohe Dynamik semiotischer Prozesse und der in ständigem Austausch mit dem Außen steht. Diese Durchdringung figuriert der Text auf vielfältige Weise sowohl auf der Sujet-Ebene als auch in seiner narratologischen Struktur selbst. Hier werden unterschiedliche Darstellungsformen zueinander in Beziehung gesetzt und beeinflussen sich gegenseitig, etwa wenn die Versform der Rede des Dichters William nicht nur die Grenze zwischen Vision und innertextlicher Realität überschreitet sondern über diese Grenze hinweg die Sprache Stanleys infiziert, der nun von der Prosasprache in die Verssprache wechselt. So gelingt es dem Text, über die Artikulation seiner eigenen intertextuellen Polyvalenz hinaus auch auf der Formebene Genregrenzen zu verwischen und seine eigene Struktur als hybride Formung hervorzuheben. Weiter wird die strukturelle Verfasstheit von Gedächtnisorten und den übergeordneten Erinnerungsräumen als polyvalent gekennzeichnet. Diese Hybridität wird auf der Ebene der Narration selbst aufgegriffen und somit in Äquivalenz zum verhandelten Gegenstand der Geschichte gesetzt. Der Text gestaltet sich folglich ebenfalls als heterogene Struktur, die unzählige Distinktionen, seien sie nun kulturhistorischer oder narratologischer Art, verwischt und in einen Zustand der fortwährenden Oszillation versetzt. So entwirft der Text eine europäische black presence, die sich als fester Bestandteil eines Erinnerungsnarrativs erweist,

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das durch die Bewegungen der Protagonisten nachvollzogen und zugleich für den Rezipienten nachvollziehbar gemacht wird. Bewegung durch das so entworfene spatiale Relationsgefüge wird auf vielfache Weise aufgegriffen und im Aufbau unzeitlicher Verklammerungen als Verfahren verwendet. Dabei befindet sich der Leser stets in einer zu Stanley analogen Situation: Die vielfältigen Verweise auf eine Durchdringung eines europäischen und eines afrikanischen Erinnerungsraums müssen in der Rezeption realisiert werden. So erfordert der Text eine Rezeptionshaltung, innerhalb derer nicht wahrgenommene Geschichte in einem als homogen imaginierten europäischen Erinnerungsraum lesbar gemacht wird. Der Leser stellt Bezüge her, die auch Stanley als Reisender durch das Gefüge des spatialisierten Erinnerungsdiskurses realisiert. Auf diese Weise erscheint der Erinnerungsraum zunehmend als durch Überlappung, wechselseitige Durchdringung und Hybridität charakterisiert.

L ITERATUR Assmann, Aleida. Erinnerungsräume: Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München: C. H. Beck, 2009. Bhabha, Homi K. The Location of Culture, London: Routledge, 2004. DeCerteau, Michel. The Practices of Everyday Life. Berkeley: U of California P, 1988. Esposito, Elena. Soziales Vergessen: Formen und Medien des Gedächtnisses der Gesellschaft. Frankfurt: Suhrkamp, 2002. Evaristo, Bernardine. Soul Tourists. London: Penguin, 2005. ———. Official Blog. . (28.09.2011) hooks, bell. Yearning: Race, Gender and Cultural Politics. Boston: South End, 1990. Keil, Rolf-Dietrich. Puschkin: Ein Dichterleben. Leipzig: Insel, 2001. Lachmann, Renate. Gedächtnis und Literatur: Intertextualität in der russischen Moderne. Frankfurt: Suhrkamp, 1990. Lotman, Jurij M. Kultur und Explosion. Berlin: Suhrkamp, 2010a. ———. Die Innenwelt des Denkens: Eine semiotische Theorie der Kultur. Berlin: Suhrkamp, 2010b. ———. »On the Semiosphere«. Sign System Studies 33.1 (2005): 205-229. Löw, Martina. Raumsoziologie. Frankfurt: Suhrkamp, 2001. Luhmann, Niklas. Soziale Systeme: Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt: Suhrkamp, 1987. Puškin, Aleksandr S. »Arap Petra Velikogo«. Polnoe sobranie soþinenij v desjati tomax. 4. Auflage, Bd. 6. Leningrad: Nauka, 1978, 7-40.

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Profanisierung und (Re-)Sakralisierung: G. B. Shaws Saint Joan V ERENA K EIDEL

Die Praxis der Heiligenverehrung besteht seit den Anfängen des Christentums ebenso wie der Wunsch, das exemplarische Leben der Heiligen schriftlich festzuhalten. Bereits in den frühen hagiographischen Texten vermischte sich biographische Realität mit fiktionaler Überhöhung durch den Verfasser. Als eine der (zumindest in ihrer Rezeptionsgeschichte) bedeutendsten christlichen Heiligen gilt die Figur der Jeanne d’Arc, die 1431 öffentlich als Hexe verbrannt wurde. Die Geschichte der Jungfrau aus Lothringen, die sich von Gott auserwählt fühlte, Frankreich von den Engländern zu befreien, fungiert bis heute als ideale Projektionsfläche für unterschiedliche ideologische Vorstellungen und religiöse Sehnsüchte. Johanna verkörpert das Idealbild der christlichen Märtyrerin, sie ist Symbol der französischen Nationalgeschichte sowie eine Ikone der Emanzipationsbewegung. Die literarische Rezeptionsgeschichte reicht von Shakespeare und Schiller zu Brecht und Anouilh, die Jeanne d’Arc als Hexe oder Heilige, als heroische Kämpferin oder romantische Liebende in Szene setzen.1 Der anglo-irische Dramatiker und Essayist G. B. Shaw beschäftigte sich seit dem Jahre 1913 mit dem Gedanken, ein Stück über Jeanne d’Arc zu verfassen, nachdem er eine Reise durch die Vogesen unternommen hatte. Den entscheidenden Impuls für eine eigene dramatische Umsetzung des historischen Stoffes gab jedoch ein konkreter Anlass – die Kanonisierung Johannas durch Papst Pius X.

1

Zur literarischen Rezeptionsgeschichte vgl. Inge Stephan, »Hexe oder Heilige? Zur Geschichte der Jeanne d’Arc und ihrer literarischen Verarbeitung«, Die verborgene Frau: Sechs Beiträge zu einer feministischen Literaturwissenschaft mit Beiträgen von Inge Stephan und Sigrid Weigel, Berlin: Argument-Verlag, 1983, 35-66.

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im Jahre 1920. Vier Jahre nach der Heiligsprechung veröffentlichte Shaw seine Version der Saint Joan. Sein Drama rief ein geteiltes Echo hervor. Einerseits gab das Stück den entscheidenden Ausschlag, Shaw 1925 den Nobelpreis für Literatur zu verleihen; andererseits wurde der eigenwilligen Darstellung der Heiligenfigur Unverständnis und Ablehnung entgegengebracht, wie eine frühe Rezension von 1924 verdeutlicht: And we cannot forget that […] Mr. Shaw was the intellectual stimulant and the dramatic delight of twenty years which had little enough of either: London owes him a twenty years’ debt. Yet his Joan of Arc is perhaps the greatest sacrilege of all Joans: for instead of the saint or the strumpet of the legends to which he objects, he has turned her into a great 2

middle-class reformer, and her place is a little higher than Mrs. Pankhurst.

Diese Negativkritik stammt aus der Feder keines Geringeren als T. S. Eliot, der in seiner Tätigkeit als Herausgeber des Criterion gegen Shaws Saint Joan polemisierte, da er die heilige Johanna in Shaws Interpretation der Historie in die Nähe der Reformatorin und Frauenrechtlerin Emmeline Pankhurst gerückt sah. Obwohl der Verfasser des Waste Land lobende Worte für Shaws Verdienste als Dramatiker findet, impliziert der von ihm verwendete Ausdruck des »Sakrilegs« bereits etymologisch den Vorwurf des Frevels: ein Verstoß gegen religiöse Gefühle, ein Vergehen gegen das Heilige. Shaws Dramatisierung der historischen Jeanne d’Arc wertet Eliot als profanisierende Dekonstruktion. Im Sinne des play of ideas präsentiert Shaw die bedeutende Heilige der katholischen Kirche als Trägerin der eigenen sozialistischen und feministischen Ideologiekritik sowie als Verkörperung der Konzeptionen der Creative Evolution und Life Force. Was Eliot als Entheiligung aburteilt, feiert Arnold Silver als innovative Zerschlagung tradierter Vorstellungen von Heiligkeit im Sinne des modernistischen Credo Make it New: »The pleasant shock of meeting Shaw’s Joan is that she defies, with the help of the playwright, our stereotypical image of sainthood.«3 Auch Kiberd Declan betont: »For Shaw she [Joan] was […] not a stained-glass saint.«4 Das innovative Potential, das Saint Joan aus dem Bruch mit konventionellen Repräsentationen von Heiligkeit bezieht, möchte ich zunächst erläutern. In diesem Zusammenhang fasse ich »Konvention« als eine verbreitete und relativ stabile Bündelung diskursiver Konzeptionalisierungen. Shaw grenzt sich in seiner

2

T. S. Eliot, »A Commentary«, Criterion: A Quaterly Review 3/9 (1924), 4f.

3

Arnold Silver, Saint Joan: Playing with Fire, New York: Twayne, 1993, 23.

4

Declan Kiberd, Inventing Ireland: The Literature of the Modern Nation, London: Vintage, 1996, 433.

P ROFANISIERUNG UND (R E-)S AKRALISIERUNG

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Darstellung Joans sowohl von dogmatischen Auffassungen von Heiligkeit im Sinne der Institution Kirche ab, als auch von in der Populärkultur vorherrschenden melodramatischen Klischeevorstellungen der Jeanne d’Arc als ätherischer Jungfrau und demütiger Märtyrerin. »Innovation« in Saint Joan verstehe ich jedoch als doppelte Innovation. Neben Momenten der Entheiligung erfährt die Heiligenfigur, so meine zweite These, zugleich eine numinose (Wieder-) Aufladung. In der konkreten Gestaltung der Figur der Joan vollzieht Shaw wiederum eine Rückbindung an die Diskussion über Religion, religiöse Erfahrung und das Heilige, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts (neu) entfacht wurde. Während sich ein Begriff wie »Heiligkeit« als vermeintliches Reizwort in der literaturgeschichtlichen Epoche des Modernism präsentiert, welche die Forschung üblicherweise mit dem Ende der Transzendentalphilosophie, einer fragmentierten Weltsicht sowie einer »Ästhetik des Dissonanten […] und der Zerrissenheit«5 verbindet, wurde gerade dieser Terminus des »Heiligen« zwischen 1910 und den 1930ern zu einem bevorzugten Interessensgegenstand interdisziplinärer Theoriebildung. In seinem Beitrag »Holiness in the Modern World« fasst Terry R. Wright diese Entwicklung treffend zusammen: »Religion itself comes in for redefinition, including the concept of holiness.«6 Besonders die Überlegungen des protestantischen Theologen Rudolf Otto in Das Heilige (1917)7 resultierten in einer grundlegenden Umdeutung der vermeintlich »vormodernen«, dogmatischen Größe des Heiligen, wie Melissa Raphael bestätigt: »The Idea of the Holy is a modernist departure from traditional ways of representing the divine.«8 Diesen außerliterarischen Diskurs über das Heilige werde ich

5

Vgl. Sabina Becker und Helmuth Kiesel, Hg., Literarische Moderne: Begriff und Phänomen, Berlin: de Gruyter, 2007, 20.

6

Terry M. Wright, »Holiness in the Modern World: Otto, Durkheim, Batailles and Lawrence«, Transforming Holiness: Representations of Holiness in English and American Literature, hg. Irene Visser und Helen Wilcox, Leuven: Peeters, 2006, 162.

7

Rudolf Otto, Das Heilige: Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, München: C. H. Beck, 2004. Im Folgenden abgekürzt als DH. Der Religionswissenschaftler Wolfgang Gantke betont in seiner Abhandlung, dass Otto auch heute noch »als die zentrale Gestalt in der Diskussion um das Heilige bezeichnet werden kann, was Zustimmung, aber auch, was die entschiedene Ablehnung betrifft«. Wolfgang Gantke, Der umstrittene Begriff des Heiligen, Marburg: Diagonal Verlag, 1998, 251, Anm. 153.

8

Melissa Raphael, Rudolf Otto and the Concept of Holiness, Oxford: Clarendon, 1997, 4. Zur Rezeptionsgeschichte von Das Heilige siehe ebd. 10f. Auf die Bedeutung des Heiligen als Schlüsselbegriff der Religionswissenschaft machte 1913 bereits der

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in einem Exkurs erläutern und im Anschluss als Referenzsystem für eine Relektüre von Saint Joan nutzen. Entgegen der kanonischen Lesart, welche die »religiös« zu nennenden Momente des Stücks gänzlich auf Shaws Life ForceKonzeption zurückführt und diesen einen Bezug zum Christentum abspricht9, soll im zweiten Teil des Essays eine Analogie zwischen Saint Joan und der religiösen Erlebnistheorie Rudolf Ottos aufgezeigt werden. Auch wenn es der zeitliche Rahmen zuließe, dass Shaw mit der englischen Übersetzung von Ottos Abhandlung in Kontakt gekommen wäre, vertrete ich nicht die These, Shaws Drama lasse auf den direkten Einfluss des Otto’schen Werkes schließen. Hinweise auf den protestantischen Theologen finden sich weder in Shaws essayistischen Schriften noch in der Forschung, obwohl Das Heilige auch im Großbritannien der Nachkriegszeit große Beachtung fand. 1923 wurde Ottos Werk von John W. Harvey ins Englische übersetzt als The Idea of the Holy, und im gleichen Jahr erschien eine längere Besprechung von Ottos Werk in The Expository Times10. Im »Preface« der zweiten englischen Ausgabe verweist der Übersetzer interessanterweise auf die besondere Bedeutung des Werks für die englische Leserschaft, indem er sich direkt auf Shaws Forderung nach einer »sittlichen Leidenschaft«11 bezieht, in welcher ein gefühlsmäßiges Moment wieder in einen bis dato rational geführten Diskurs um Moral und Religion eingebunden wurde: But in England at any rate, when theology in the nineteenth century passed from a rationalizing to an ethical atmosphere, a good deal had been done to restore the balance by ad-

schwedische Religionshistoriker Nathan Söderblom in einem Lexikonartikel aufmerksam (»Holiness is the great word in religion.«). Vgl. Carsten Colpe, Über das Heilige: Versuch, seiner Verkennung kritisch vorzubeugen, Frankfurt: Hain, 1990, 39. 9

Vgl. z.B. Gerald Weales, Religion in Modern English Drama, Philadelphia: U of Pennsylvania P, 1961, 73; Charles Berst, »Saint Joan: Spiritual Epic as Tragicomedy«, George Bernard Shaw’s Saint Joan, hg. Harold Bloom, New York: Chelsea House, 1987, 73-100. Anders argumentieren Kiberd in Inventing Ireland (1996) und Anthony S. Abbott, Shaw and Christianity, New York: Seabury, 1966.

10 Vgl. H. Mulert, »Otto’s The Idea of the Holy«, The Expository Times 35 (1924), 459f. 11 Vgl. Bernard Shaw, Man and Superman: A Comedy and a Philosophy, London: Penguin, 2000, 73.

P ROFANISIERUNG UND (R E-)S AKRALISIERUNG

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mitting emotion into its account at least in the sense of that ›moral passion‹ of which Mr. 12

Shaw has written […].

P ROGRESSIVE D YNAMIK : D IE H EILIGE ALS NEW WOMAN

UND

P ROTESTANTIN

Der anfangs zitierte Vergleich der Figur Joans mit der Frauenrechtlerin Pankhurst verdeutlicht den Hauptkritikpunkt Eliots an Shaws Neuinterpretation der Jeanne d’Arc.13 Eliot sieht die historische Johanna in Shaws Drama umgesetzt (und damit abgewertet) in der Rolle der typisch Shawschen Reformatorin, als Inkarnation der Life Force-Philosophie. Shaws idiosynkratische religio versucht, Kenntnisse der Naturwissenschaft und philosophische Diskurse des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts zusammenzuführen. Im Gegensatz zur christlichen Glaubensvorstellung wird seine Konzeption der Life Force nicht von der Vorstellung eines personalen Gottes bestimmt, sondern von einem gottähnlichen Prinzip: Most people call this great force in the universe God. I am not very fond of this myself, because it is a little too personal […]. To me the higher power is something larger than a personal force. […] I do not believe that God has any hands or brain of our kind. What I 14

know he has, or rather is, is will.

Diese Konzeption Shaws lässt, wie in der Forschung allgemein anerkannt wird, Anklänge an die Willensphilosophie Arthur Schopenhauers erkennen. Während dieser jedoch im Willen zum Dasein eine absolute Existenz erkennt, der das Denken funktional untergeordnet ist, und die den Menschen somit zum bloßen Werkzeug macht, distanziert sich Shaw von dessen pessimistischem Determinismus und entwirft in seiner Idee der Life Force ein teleologisches Konzept, in dem der Wille des Einzelnen einen maßgeblichen Faktor des Fortschritts aller darstellen kann. Schopenhauers Auffassung des Weltwillens als sinnlos und lei-

12 John W. Harvey, »Translator’s Preface to the Second Edition«, Rudolf Otto, The Idea of The Holy: An Inquiry into the Non-Rational Factor in the Idea of the Divine and Its Relation to the Rational, Oxford: Oxford UP, 1958, XV-XVI. 13 Eliots Kritik greift Shaws eigene Worte im Vorwort des Dramas auf, in dem Pankhursts Tochter »Miss Sylvia Pankhurst« mit Jeanne d’Arc verglichen wird. G.B. Shaw, Saint Joan. London: Penguin, 2003, 29. Im Folgenden abgekürzt als SJ. 14 G. B. Shaw, The Religious Speeches, Ed. Warren Sylvester Smith, New York: McGraw-Hill, 1965, 63. Im Folgenden abgekürzt als RS.

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dend15 steht diametral zu Shaws entelechistischer Vorstellung. Während Schopenhauer die individuelle Willensfreiheit negiert, betont Shaw entschieden die Wirkmächtigkeit des Einzelnen, der einem in der Natur angelegten Drang nach Fortschritt (so die Konzeption Shaws) zu seinem Recht verhelfen könne, wie Eric Bentley ironisch formuliert: »Schopenhauer found the Will horrifying; Shaw finds it inspiring.«16 Ähnlich wie die Figur Caesars in Caesar and Cleoptra (1898) reiht sich Joan in die Reihe jener reformatorischen Individuen ein, die in Shaws Dramen dem geschichtlichen Fortschritt entgegen aller bestehenden Dogmen vorauszugreifen suchen. Shaw präsentiert die heilige Johanna als Vorreiterin des Protestantismus und (französischen) Patriotismus sowie als typische »Shavian new woman«, die ihre persönliche Erfüllung nicht als Mutter und Ehefrau, sondern in der (damals wie heute) männlich konnotierten Domäne des Kriegswesens sieht: »I will never take a husband. […] I am a soldier: I do not want to be thought of as a woman. I will not dress as a woman. I do not care for the things women care for. […] I dream of loading a charge […].« (SJ 92) Bei ihrer Ankunft am Hof des Dauphin gibt Joan deutlich zu erkennen, dass sie nicht daran interessiert ist, ihr Äußeres den höfischen Normvorstellungen von Weiblichkeit anzupassen: Joan, dressed as a soldier, with her hair bobbed and hanging thickly around her face, is led in […] All the ladies explode in uncontrollable laughter. […] JOAN [not at all embarrassed] I wear it like this because I am a soldier. (SJ 81)

Wie Shaw im Vorwort betont, wollte er Zuschauern und Lesern eine Heiligenfigur präsentieren, die sich jenseits der melodramatischen Klischeevorstellung bewegen sollte, welche die Johanna-Figur als Jungfrau von überragender Schönheit zeichneten, der die Soldaten reihenweise verfielen. So bemängelt er beispielsweise Schillers Dramatisierung der Historie, in der Johanna sich in einen englischen Soldaten verliebt, um anschließend den Heldentod auf dem Schlachtfeld zu sterben, als »cauldron of raging romance« (SJ 24). Shaws Joan ist keine ätherische Jungfrau, sondern eine burschikose Kämpferin (»a country girl […] with an uncommon face; eyes very wide apart and bulging«, SJ 62), die sich durch Selbstbewusstsein und Pragmatismus auszeichnet. Dem Stadtkommandanten Robert de Baudricourt begegnet sie mit wenig Ehrfurcht vor Zeremoniell und

15 Vgl. Johannes Hirschberger, Geschichte der Philosophie, Band II – Neuzeit und Gegenwart, 11. Auflage, Freiburg: Herder, 2000, 459. 16 Eric Bentley, Bernard Shaw, London: Robert Hale, 1950, 75.

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Titel – »Be you captain?« (SJ 59) –, während sie vor dem Halbbruder des Dauphins, dem erfahrenen General de Dunois, ihre Rolle als Frau der (militärischen) Tat einfordert: »I will lead; and your men will follow.« (SJ 92) In ihrem Insistieren auf Männerkleidung und Selbstbestimmtheit erscheint Joan als Vorläufer der Suffragetten des 19. und 20. Jahrhunderts, die (wie besagte »Ms. Pankhurst«) gegen die normativen Geschlechterrollen und das sich daraus ableitende Gesellschaftsbild kämpften.17 Durch ihr cross-dressing und ihren Kampfeinsatz überschreitet Shaws Heilige nicht nur die gesellschaftlichen Vorstellungen von Weiblichkeit, sondern grenzt sich auch vom institutionellen dogmatischen Verständnis einer Heiligen als Vorbild christlichen Lebens ab, wie Shaw durch einen Ausspruch des Erzbischofs verdeutlichen lässt: »This creature is not a saint. She is not even a respectable woman. She does not wear women’s clothes.« (SJ 76) Auch der Kaplan de Stugumber bezeichnet die Heilige als Rebellin »against nature« (SJ 108). Joans Darstellung als »unwomanly woman« darf dennoch nicht als Anpassung an ein tradiertes Bild von Männlichkeit verstanden werden. Sie lehnt es nicht ab, eine Frau zu sein, die Form genormter Weiblichkeit, wie sie ihr die Gesellschaft vorschreiben will, steht ihr lediglich bei der Ausführung ihrer Mission im Wege. Im Sinne des reformatorischen Anliegens ihres Schöpfers führt Joan die Prämisse der frühen Stücke von der Gleichheit von Mann und Frau weiter, indem sie die dichotome Gechlechtertrennung zu überwinden sucht. Die Aufhebung der Geschlechter bestimmte Shaw bereits in Back to Methuselah (1921) als eigentliches Telos der Menschheitsgeschichte: In den Figuren der sogenannten Ancients – »equally without sexual charm«18– gehört auch die äußere Differenz zwischen Männern und Frauen der Vergangenheit an. In Joans Androgynität19 repräsentiert sich folglich die Dynamik des Fortschritts, der das Kollektiv der Gesellschaft mit Unverständnis und Ablehnung begegnen muss, wie Shaw selbst im Vorwort deutlich macht: »[…] all evolution in thought and conduct must at first appear as heresy and misconduct.« (SJ 38) Der Dramatiker legt der mittelalterlichen Heiligen daher ironischerweise jene lutherische Innerlichkeit des Glaubens in den Mund, die erst ein knappes Jahrhundert nach ihrem Tod mit den Glaubensgrundsätzen der katholischen Kirche

17 Vgl. Louis Cromption, »A Hagiography of Creative Evolution«, George Bernard Shaw’s Saint Joan, hg. Harold Bloom, New York: Chelsea House, 1987, 38. 18 G. B. Shaw, Back To Methuselah. A Metabiological Pentateuch (Edinburgh: Penguin, 1965), 267. 19 Vgl. Margery M. Morgan, »The Histories«, George Bernard Shaw’s Saint Joan, hg. Harold Bloom, New York: Chelsea House, 1987, 70.

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kollidieren wird: »[…] the protest of the individual soul against the interference of priest or peer between the private man and his God.« (SJ 107) Zwar erkennt Shaw in seiner Umsetzung des historischen Stoffs durchaus an, dass Jeanne d’Arc eine gläubige Christin war, jedoch unterstreicht er gerade jene Verhaltensmuster und Überzeugungen der Heiligen, die eine Freiheit aus dem Glauben propagieren und somit die Glaubensgrundsätze der katholischen Kirche überschreiten: »God must be served first« (SJ 136), bekennt Joan vor ihren Richtern. Bereits in der Schrift »The Perfect Wagnerite« wandte sich Shaw gegen die Unterwerfung des Gewissens unter die Satzungen des kanonischen Rechts: »[…] every man’s private judgement was a more trustworthy interpreter of God and revelation than the Church.«20 Auch in seinen Religious Speeches betont der Dramatiker: […] the genuine Protestant knows no church and knows no priest. Practically, he believes in the direct communion between himself and the spirit that rules the universe, and the man he follows is a prophet and not an ordained priest. […] he claims that apostolic succession is a direct inspiration. (RS 63)

In diesem Sinne besteht auch Shaws Heilige darauf, der »direct inspiration« (RS 63), außerhalb des kirchlichen Einflusses gewahr zu werden und demgemäß zu handeln, wie sie in der Gerichtsverhandlung deklariert: »[…] in case the Church should bid me do anything contrary to the command I have from God, I will not consent to it, no matter what it be.« (SJ 135) Joan negiert nicht, dass die Kirche Gottes Wort verkündet, der klerikale Absolutheitsanspruch der Unfehlbarkeit wird von ihr jedoch in Frage gestellt.21 Sie beharrt darauf, Gottes Wort selbst verkünden zu können, den (indirekten) Zugang zu Gott über die Kirche lehnt sie ab. Anders als im historischen Prozess wird Joan bei Shaw daher nicht der Hexerei, sondern der Ketzerei beschuldigt, des Vergehens gegen die Einheit der Kirche: »The Pope himself at his proudest does not presume as this woman presumes. She acts as she herself were The Church. […] It is always God and herself« (SJ103), so der Vorwurf des Bischofs. Auch der Inquisitor fürchtet die Konsequenzen einer neuen Glaubensauslegung – die potentielle Zerstörung der institutionalisierten Religion. Die Unfähigkeit der Kirchenmänner, sich aus Furcht vor einer Veränderung des status quo von erstarrten Dogmen zu lösen, veranschaulicht ein ironischer Kommentar Joans gegenüber Courcelles während der Pro-

20 G. B. Shaw, Major Critical Essays, London: Constable and Company, 1948, 215. 21 Vgl. Ulrich Fischer, Der Fortschritt im Jeanne-d’Arc-Drama des 20. Jahrhunderts, Frankfurt: Peter Lang, 1982, 110.

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zessverhandlung: »Do what was done last time is thy rule, ey?« (SJ 134) Während Joan in ihrem lutherischen Beharren auf die Unmittelbarkeit zu Gott eine Gefahr für den Klerus darstellt, sieht sich der Adel durch die Forderung nach einem vereinten Frankreich bedroht. Joans Loyalität gehört dem König und nicht den Feudalherren, die selbst nur ihre Partikularinteressen verfolgen. Durch die Verwendung der formal anachronistischen Termini des »Protestantismus« wie absolutistischen »Nationalismus« sucht Shaw, Joans Rolle als Katalysator des Fortschritts zu verdeutlichen, der von den Institutionen beseitigt werden muss. »If you will burn the Protestant, I will burn the Nationalist« (SJ 107f.), erklärt daher Lord Warwick sarkastisch gegenüber dem Klerus. Jedoch vermeidet es der Dramatiker, sich in die Tradition derjenigen Dramatiker einzureihen, die Joans Ankläger und Richter als grausame Verbrecher darstellen und die Figur der Jeanne als fehler- und makellos; der »melodramatic legend of the wicked bishop and the entrapped maiden« (SJ 46)22 wird im Vorwort eine ironische Absage erteilt. Vielmehr, so Shaws dramatischer Anspruch, müsse der Prozess gegen die Heilige als Bestandteil der Rechtsaussübung einer jeden Gesellschaft betrachtet werden und nicht als Verbrechen des finsteren Mittelalters: Joan was persecuted essentially as she would be persecuted today. […] We must face the fact that society is founded on intolerance. There are glaring cases of the abuse of intolerance; but they are quite as charcteristic of our own age as of the Middle Ages. (SJ 29-40)

Das Ende Saint Joans spitzt diese Argumentation schließlich zu. Das Drama endet nicht mit Joans Märtyrertod in den Flammen – von diesem wird lediglich berichtet –, sondern schliesst mit einem Epilog, der die Handlung in das Jahr des Revisionsprozesses, 1456, versetzt. In diesem Epilog, der wie eine Traumsequenz gestaltet ist, gestehen die einstigen Gegner Joans, Vertreter des Adels wie des Klerus, einmütig ihre eigene Fehlbarkeit und sprechen sie von allen Häresievorwürfen frei. Die Rehabilitierung Joans gipfelt in der Verkündigung ihrer Heiligsprechung als »Saint Joan« durch einen Kirchenvertreter des 20. Jahrhunderts. Während die Kanonisierung von Joan selbst zunächst begrüßt wird, muss die anfängliche Freude schnell der Erkenntnis weichen, dass ihre tatsächliche Rückkehr in die Welt der Menschen von Klerus und Politik des 15. wie 20. Jahrhun-

22 Shaws Freund und Kritiker, der Katholik G. B. Chesterton, war angetan von der differenzierten Darstellung des mittelalterlichen Klerus: »What a wind of refreshment, […] to find one anti-clerical who is clever enough to base his case on defending the clerics, instead of denouncing them!« Gilbert K. Chesterton, George Bernard Shaw, London: The Bodley Head, 1948, 259.

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derts gleichermaßen abgelehnt wird, wie Shaw durch einen ironischen Dialog zwischen Joan und ihrem ehemaligen Ankläger verdeutlichen lässt: JOAN. I bid you remember that I am a saint, and that saints can work miracles. And now tell me: shall I rise from the dead, and come back to you a living woman? […] CAUCHON. The heretic is always better dead. And mortal eyes cannot distinguish the saint from the heretic. Spare them. (SJ 163)

Auch der Vertreter der katholischen Kirche des 20. Jahrhunderts begegnet Joans Frage nach ihrer Wiederauferstehung mit einer formalen Plattitüde: »The possibility of your resurrection was not contemplated in the recent proceedings for your canonization.« (SJ 163) Das Diktum Cauchons, »It is for the Church to make saints« (SJ 77), stellt sich für Shaw auch nach 500 Jahren Geschichte als wahr heraus. Joans eigener Einwurf gegen ihre Heiligsprechung – »But I never made any such claim« (SJ 160) – muss daher ungehört bleiben. In der Traumsequenz des Epilogs macht Shaw deutlich, dass sich die Denkstrukturen seit dem 14. Jahrhundert nicht im Wesentlichen verändert haben und ein progressives Denken von der Institution damals wie heute als Gefahrenpotential betrachtet wird. Die tatsächliche Kanonisierung Jeanne d’Arcs durch Papst Pius X. präsentiert der Kirchenkritiker Shaw in Saint Joan daher nicht als späte Einsicht und Demutsgeste der Institution, sondern als machtpolitisches Kalkül. Die einstige Kritikerin und »Ketzerin« wird in das System reintegriert23: »The Church […] calls the […] Venerable and Blessed Joan to the communion of the Church Triumphant as Saint Joan.« (SJ 160f.) Für Shaw wird die Protestantin avant-la-lettre zur katholischen Heiligen deklariert, um sie posthum ihres revolutionären Potentials zu berauben.

M OMENTE DER E NTHEILIGUNG : »S AINT J OAN « UND DAS W UNDER Das Wunder galt und gilt, wie das Lexikon für Theologie bestätigt, als zentrale Bestätigung der Nähe des Heiligen zum Göttlichen.24 Die Darstellung der Wundertätigkeit des oder der Heiligen war ein wiederkehrendes und bedeutendes

23 Vgl. Gerd Rohmann, »Shaws metabiologisches Testament in Saint Joan«, George Bernard Shaw, hg. Kurt Otten und Gerd Rohmann, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1978, 506. 24 Vgl. Karl Hoheisel, »Heilige, I. Religionsgeschichtlich«, Lexikon für Theologie und Kirche, hg. Walter Kasper, Freiburg: Herder, 2006, 1275.

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Handlungsgelement in der religiösen Literatur, angefangen bei den frühen hagiographischen Schriften der miracula bis zum (früh)mittelalterlichen saint’s play25. Auch heute noch bedarf die Kanonisierung der offiziellen Approbation eines Wunders. Shaw selbst verweist im Vorwort des Stücks auf die Notwendigkeit von übernatürlichen Wirkmächten, um in den kirchlichen Kanon der Heiligen eingehen zu können: »A saint is one who […] enjoyed […] powers of the order which The Church classes technically as supernatural […].« (SJ 8) In Saint Joan taucht der Begriff des »miracle« nicht nur in allen fünf Dramenszenen, implizit wie explizit, auf, Shaw lässt sein Drama mit der Andeutung eines Wunders beginnen. Nach Joans Ankunft beim Stadtkommandanten Robert de Baudricourt wird ihr zunächst der Wunsch nach Rüstung und Geleit verwehrt: ROBERT. So God says you are to raise the siege of Orleans? JOAN: And crown the Dauphin in Rheims Cathedral. ROBERT. [gasping] Crown the D ––! Gosh! JOAN. And to make the English leave France. ROBERT. [sarcastic] Anything else? JOAN [charming] Not just at present, thank you, squire. (SJ 68)

Schlichtweg absurd erscheint die Erklärung der jungen Frau, Frankreich auf Gottes Geheiß von den Engländern befreien zu wollen. Das vermeintlich wundersame Ereignis, das Beaudricourt schließlich davon überzeugt, dass Joans Mission doch eine von Gott Gesegnete sein muss, wird von Shaw anschließend ins Komische verkehrt. Ausgerechnet der Hühnerstall wird in Saint Joan zum (vermeintlichen) Erscheinungsort der göttlichen Allmacht deklariert. Eine andauernde Legehemmung der Hühner findet dort ihr plötzliches Ende, nachdem man Joans Forderungen nachgekommen ist. Beaudricourt wertet das Geschehen als Zeichen Gottes, das in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Auftritt Joans stehen muss: STEWARD. Sir, sir – […] The hens are laying like mad, sir. Five dozen eggs! ROBERT. […] crosses himself […] Christ in heaven! […] She did come from God! (SJ 71)

Das sogenannte Wunder präsentiert Shaw als Bestandteil des profanen Alltagsgeschehens, nicht als unerklärliches Phänomen, das dem kausalen, rationalen Er-

25 Vgl. Darryll Grantley, »Saints’ Plays«, Cambridge Companion, hg. Richard Beadle, Cambridge: Cambridge UP, 1994, 267.

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fassen der Natur zuwiderläuft. Der Nimbus übermenschlicher Wirkkräfte wird Joan gleich zu Beginn abgesprochen, was in einer bewussten Demontage des traditionell-normativen Heiligenbildes resultiert und mit der Erwartungshaltung des Publikums bricht. Shaw beginnt das Stück über die französische Nationalheilige mit der banalen Klage Beaudricourts über fehlende Frühstückseier: »No eggs! No eggs! Thousand thunders, man, what do you mean by no eggs?« (SJ 59) Die Komik der Szene, verstärkt durch den anachronistischen Gebrauch der Alltagssprache des 20. Jahrhunderts, nutzt Shaw, um den konventionellen Glauben an die Wundertätigkeit von Heiligen als puren Unsinn zu erklären. Das komische Moment resultiert an dieser Stelle aus der Diskrepanz26 zwischen Joan, der Figuration des Heiligen, und dem alltäglichen Ereignis der eierlegenden Hühner, in dem sich jene Sphäre des Profanen andeutet, die nach Religionswissenschaftlern wie Mircea Eliade dem Heiligen konträr entgegensteht, in dessen Abgrenzung das Heilige aber erst offenbar werden kann. Der aus einer Konfrontation beider Sphären (beziehungsweise derer Repräsentanten), der des Heiligen (Joan) und des Profanen (Hühnerstall), resultierende Einbruch des Komischen persifliert damit die konventionelle Darstellung christlicher Heiligenfiguren: Während Baudricourt der Person Joans zunächst mit Arroganz und rationaler Skepsis begegnet, lässt ihn der pure Zufall, das vermeintliche Wunder, staunen und »glauben«. Im Vorwort seines Dramas Androcles and The Lion (1912) geht Shaw näher auf die Problematik des christlichen Wunderglaubens ein. Die Frage, ob Christus tatsächlich fähig war, Wunder zu vollbringen, sei irrelevant, denn sie versperre die Lehre, die er den Menschen bringen wollte, »his didactic utterances«: Jesus foresaw, that the miracles are the main obstacle to the acceptance of Christianity. […] The deepest annoyance arising from the miracles would be the irrelevance of the issue raised by them. Jesus’s teaching has nothing to do with miracles. […] And yet the intellectual energy of sceptics and divines has been wasted for generations in arguing about the miracles on the assumption that Christianity is at stake in the controversy as to whether the stories of Matthews are false or true.27

26 Ohne die vielen, divergierenden Konzepte des Komischen einzeln zu erläutern, kann festgestellt werden, dass ein allgemeiner Konsens der Theorien darin liegt, dass dem Komischen eine Inkongruenz oder Diskrepanz zu Grunde liegt. 27 G. B. Shaw, The Bodley Head IV, London: Max Reinhardt, 1972, 486. Diese Auffassung von Jesus als moralischem Lehrer ist repräsentativ für die VorkriegsChristologie. Zur Darstellung des Wunders in Saint Joan vgl. auch Helmut Papajew-

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Für Shaw steht der christliche Wunderglaube der wahren Religiosität im Wege. In An Essay On Going to Church (1905) drückt er seine Skepsis deutlicher aus: »[…] I believe that salvation depends on redemption from belief in miracles.«28 Diese grundlegende Ablehnung wird in Saint Joan nicht nur in der dramatischen Darstellung deutlich. Im Gespräch zwischen de Baudricourt und de Poulengey wird die Existenz eines Wunders schließlich verbal negiert: »Miracles are alright, Polly. The only difficulty about them is that they dont happen nowadays.« (SJ 66) Auch Joans Verbündeter Dunois zweifelt daran, dass die militärischen Erfolge der Jungfrau auf die Existenz einer göttlichen Allmacht zurückzuführen seien: I think that God was on your [Joan’s] side; […] But I tell you as a soldier that God is no man’s daily drudge, and no maid’s either. […] and I tell you that your little hour of miracles is over, and that from this time on he who plays the war best will win […]. (SJ 114)

Zwar glaubt Dunois, dass Joan mit Gottes Segen agiert, weiß als erfahrener General jedoch, dass der Sieg bei einem Marsch auf Paris nicht von einer transzendenten Macht entschieden werden wird, sondern von dem irdischen Vermögen der jeweiligen Heere. Die Heiligenfigur selbst verwendet den Begriff »miracle« auf eher pragmatische Weise gegenüber dem König: »I can turn thee into a king in Rheims Cathedral; and that is a miracle that will take some doing it seems.« (SJ 86) Die wohl signifikanteste Erläuterung des Wunders liefert jedoch der Erzbischof: A miracle, my friend, is an event which creates faith. That is the purpose and nature of miracles. They may seem very wonderful to the people who witness them, and very simple to those who perform them. That does not matter: if they confirm or create faith they are true miracles. (SJ 79f.)

Auch der Erzbischof sieht in Wundern keine übernatürliche Erscheinung; die affirmative Wirkung der Heiligen auf das Kollektiv der (naiven) Gläubigen ist ihm als Vertreter der Institution Kirche jedoch »wunderbar« willkommen. Der Erzbischof erscheint als Mann der sich abzeichnenden Renaissance, als Kenner von Aristoteles und Pythagoras, der an der Kirchendogmatik nicht aus Glaubensgründen festhält, sondern um der Führung des aus seiner Sicht abergläubischen

ski, »George Bernard Shaw: Saint Joan«, Das Moderne englische Drama, hg. Horst Oppel, Berlin: Erich Schmidt, 1966, 167f. 28 G. B. Shaw, An Essay on Going to Church, Boston: John W. Luce & Co., 1909, 55.

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Volkes willen. Seine funktionalistische Sicht des Wunders als stabilisierendes Element der Glaubensgemeinchaft erscheint dabei wie eine ironische Reminiszenz an Dostojewskis Figur des Großinquisitors aus Die Brüder Karamasow29, der ausgerechnet den wiedergekommenen Jesus Christus über die Unabdingbarkeit des Wunderglaubens aufzuklären sucht: Aber du wußtest nicht, daß der Mensch, sobald er das Wunder ablehnt, auch Gott ablehnt; denn der Mensch sucht nicht so sehr Gott als das Wunder. Und da der Mensch nicht imstande ist, ohne Wunder auszukommen, so wird er sich neue Wunder schaffen […] Wir haben deine [Jesus’] Tat verbessert und sie auf das Wunder, auf das Geheimnis und auf die Autorität gegründet. Und die Menschen freuten sich, dass sie wieder wie eine Herde geleitet wurden […].30

Auch in Saint Joan wird das Staunen der Gläubigen über vermeintliche Wundertaten ironisch unterlaufen und somit nicht nur das konventionelle (theologische) Heiligenbild dekonstruiert, sondern gleichzeitig die pragmatischen Machtstrategien des katholischen Klerus bloßgestellt. Im Folgenden werde ich nun einige zentrale Elemente der Erlebnistheorie Rudolf Ottos dargelegen, um diese anschließend für eine Relektüre Saint Joans nutzen zu können.

R UDOLF O TTOS ERLEBNISORIENTIERTE R ELIGIONSTHEORIE In seinem Werk Das Heilige (1917) versucht Rudolf Otto eine allen Religionen zugrundeliegende religiöse Erfahrungswirklichkeit festzustellen. In Anlehnung an Friedrich Ernst Schleiermacher und dessen anthropologischer Zuspitzung bei Feuerbach wurde Ottos Werk als »Protest gegen die Rationalisierung und Moralisierung des Religiösen«31 gewertet. In seiner Studie geht Otto von der Annahme aus, dass die Essenz der Religion nur über deren Erfahrbarkeit im Menschen gefasst werden kann. Nach Otto hat jede Religion ihren Ursprung in der Begegnung des Menschen mit dem Heiligen, was er durch verschiedene Beispiele aus

29 Vgl. Fischer, Der Fortschritt, 148. 30 Fjodor Dostojewski, Der Großinquisitor, Stuttgart: Reclam, 1993, 27-30. Shaw stand in Briefkontakt mit Dostojewski. Vgl. T. F. Evans, Shaw the Critical Heritage, London: Routledge & Kegan Paul, 1976, 31. 31 Vgl. Paul Tillich, Begegnungen: Paul Tillich über sich selbst und andere, Stuttgart: Evangelisches Verlagswerk, 1971, 179.

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den unterschiedlichsten Kulturräumen zu belegen sucht: »Das wovon wir reden, […] lebt in allen Religionen als ihr eigentlich Innerstes und ohne es wären sie garnicht Religion.« (DH 6) In seiner Abhandlung beschäftigt sich Otto daher mit der Frage nach der sinnlichen, religiösen Erfahrung, die sich dem begrifflich Fassbaren entziehe: »Sache […] christlicher Glaubenslehre wird es sein, das Rationale in der christlichen Gottesidee immerdar auf dem Untergrunde ihrer irrationalen Momente zu hegen um ihm so seine Tiefe zu sichern.« (DH 133) In allen monotheistischen Religionen wird nach Otto die Gottheit mit klaren, dem logisch-diskursiven Denken zugänglichen Begriffen gefasst, wie zum Beispiel »Geist«, »Wille« oder »Allmacht« (DH 1). Das in diesen Termini Beschriebene repräsentiert für Otto eine rationale Kategorie. Das Wesen der Gottheit hingegen entziehe sich einer rationalen Konkretisierung, weswegen Otto dieses als Kategorie »sui generis« beschreibt, die nicht »definibel«, sondern lediglich »erörterbar« sei (DH 7). Die »irrationalen Erlebnisinhalte des Heiligen«32 fasst Otto unter dem von ihm geprägten Begriff des »Numinosen« (DH 5) zusammen: »Wenn Otto die Erfahrung des Heiligen numinos nennt, interpretiert er das Heilige als die Gegenwart des Göttlichen.«33 Da das Numinose »ein aus keinem andern Gefühl ableitbares […], sondern ein qualitativ eigenartiges […] Gefühl« (DH 59f.) darstellt, und in Begriffen nicht explizierbar ist, sucht der Theologe die verschiedenen Momente, in denen sich das Numinose offenbaren kann, zu bestimmen »durch die besondere Gefühlsreaktion, die es im erlebenden Gemüt auslöst.« (DH 13) So konstatiert Otto die Präsenz des Heiligen in verschiedenen Gefühlsregungen, welche unter anderem als Momente des »Schauervollen« (DH 14), des »Energischen« (DH 27) oder des »Anderen« (DH 28) erfahren werden. Das Numinose bietet sich dem Menschen in einer grundliegenden Ambivalenz dar: Schauder (tremendum) und Anziehung (fascinosum) bilden für Otto eine »Kontrastharmonie« (DH 42).34 In diesen unterschiedlichen Erlebnismomenten drückt sich für Otto, das ist das Entscheidende an seiner Religionstheorie, eine subjektunabhängige Entität aus. Das besondere Gefühlsmoment des Heiligen darf daher nicht mit Gefühlszuständen im herkömmlichen Sinn verwechselt werden, sondern unterscheidet sich »vom

32 Wolfgang Gantke, »Heilig, das Heilige. II. Religionsphilosophisch«, Lexikon für Theologie, 1269. 33 Paul Tillich, Systematische Theologie I, Berlin: de Gruyter, 1955, 256. 34 Der in der Forschung diskutierte Vorwurf, Otto ziehe keine klare Grenzlinie zwischen dem Gefühl des Heiligen und dem des Erhabenen, soll hier nicht vertieft werden. Vgl. hierzu beispielsweise Friedrich K. Feigel, Das Heilige: Kritische Abhandlung über Rudolf Ottos gleichnamiges Buch, Tübingen: J.C.B. Mohr, 1948, 31f.

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Erkennen in der begrifflich-theoretischen Form logischer Analyse, durch ihre Unmittelbarkeit, Ganzheitlichkeit und Empfänglichkeit«35. Für Otto kann diese spezielle Erfahrungscharakter daher weder in Abhängigkeit von der Institution erfolgen noch als Resultat einer intensiven Beschäftigung mit dem geschriebenen Wort der Bibel. Vielmehr wird dem subjektiven Gefühl »die Fähigkeit sicherer Objekterfassung«36 zugebilligt: In ihr [der Religion] ist sehr vieles lehrbar, das heißt in Begriffen überlieferbar und auch in schulmäßigen Unterricht überführbar. Nur eben nicht dieser ihr Hinter- und Untergrund [das Numinose]. Er kann nur angestoßen angeregt erweckt werden. […] Wer ›im Geiste‹ die Schrift liest lebt im Numinosen, auch wenn er von ihm weder Begriff noch Namen hat […]. (DH 79f.)

Intuition wird für Otto zu einer Form der Divination, die sich jedoch nicht allen, sondern nur besonderen Individuen offenbart. Das »Vermögen, das Heilige in der Erscheinung […] zu erkennen und anzuerkennen« (DH 173), kommt für den Theologen sehr häufig »nur in Form vorzüglicher Begabung und Ausstattung Einzelner Begnadeter zutage« (DH 178) – in »religiöse[n] Ausnahmegestalt[en]«37, die sich für Otto von der Masse der Durchschnittsmenschen hervorheben. Der Religionswissenschaftler Wolfgang Gantke bescheinigt dem protestantischen Theologen in seiner Untersuchung zum Begriff des Heiligen daher eine problematische »Tendenz zur religiösen Begabten- und Elitetheorie«38. Für die Otto’sche Relektüre Saint Joans lassen sich folgende Thesen des Theologen als zentral festhalten: 1. Religion ist intuitiv erfahr- und erfühlbar39 2. Das religiöse Erleben kann somit weder erlernt, noch durch Andere vermittelt werden. 3. Die religiösen Anlage des sensus numinis bleibt sogenannten »divinatorischen Naturen« vorbehalten. 4. Die »numinose Leidenschaft«, die religiös motivierte Handlungsbereitschaft, wertet Otto als ein »Deutezeichen« der Erlebnismomente des Heiligen.

35 Gantke, Der umstrittene Begriff des Heiligen, 249. 36 Ebd. 37 Ebd. 247. 38 Ebd. 39 Vgl. hierzu v.a. Hanno Willenborg, Das Heilige zwischen Gefühl und Emotion: Die klassischen Evolutionstheorien von Charles Darwin, Wilhelm Wundt, William James und William McDougall im Vergleich zu Rudolf Ottos gefühlszentrierter Religionstheorie des Numinosen, Leipzig: Edition Kirchhof & Francke, 2011, 70.

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N UMINOSE E RFAHRUNGSWIRKLICHKEITEN

IN

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S AINT J OAN

Bereits in der ersten Szene von Saint Joan macht Shaw deutlich, dass Joan von einer direkten besonderen Verbindung zu Gott überzeugt ist. So führt sie gegenüber Baudricourt ihre bevorstehende Mission zur Befreiung von Orleans auf einen persönlichen Auftrag von Gott zurück: »Those are […] orders from my Lord. […] My Lord is the King of Heaven. […] to raise the siege of Orleans. […] that is what God is sending me to do.« (SJ 63) Im Vorwort zu Saint Joan verweist Shaw darauf, dass die historische Jeanne d’Arc ihren unerschütterlichen Tatdrang aus der Tatsache bezog, dass sie fest an die Erscheinung von drei Heiligen glaubte, die sie zu ihren Taten instruiert hätten. Fast apologetisch versichert Shaw, dass die Visionen des Mädchens einer allzu regen Phantasie geschuldet seien: I cannot believe, nor, if I could, I expect all my readers to believe, as Joan did, that three ocularly visible well dressed persons, named respectively Saint Catherine, Saint Margaret, and Saint Michael, came down from heaven and gave her certain instructions with which they were charged by God from her. (SJ 13)

Diese Bemerkung wurde von der Forschung wiederholtermaßen als Beleg für eine rationalisierte, »entheiligte« Version der Johanna gewertet40, doch dies ist nicht die einzge Lesart. Obwohl der Dramatiker verdeutlicht, dass er nicht an die tatsächliche Materialisation der drei Heiligen glaube, betont er, dass Joan Vision dennoch einem »superpersonal need« (SJ 13) entspringe, welche mit dem positivistischen Weltbild kollidiere: If he [the historian] is Rationalist enough to […] hold that new ideas cannot come otherwise than by conscious ratiocination, he will never catch Joan’s likeness. […] there are forces at work which use individuals for purposes far transcending the purpose of keeping these individuals alive and prosperous […]. The diverse manners in which our imaginations dramatize the approach of the supernatural forces is a problem for the psychologist, not the historian. Only, the historian must understand that visionaries are neither impostors nor lunatics. (SJ 8-14)

40 Vgl. bspw. Eric Bentley, Bernard Shaw, Robert Hale: London, 1950, 91; ebenso: Fischer, Der Fortschritt, 100.

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Nicht nur hier, sondern auch in anderen Werken, verweist Shaw, ähnlich wie Otto, auf ein instinktives, religiöses Gefühl, das nicht als flüchtige Emotion sondern als eigene Erkenntnisweise verstanden werden muss.41 In Saint Joan lässt Shaw Joan die Otto’sche Vorstellung einer psychischen Resonanz der religiösen Erfahrung verbalisieren. Im Gespräch mit Beaudricourt erklärt sie, dass die Stimmen der drei Heiligen zwar ihrer eigenen Imagination entsprängen, was jedoch ihren göttlichen Ursprung keineswegs verneine: JOAN. I hear voices telling me what to do. They come from God. ROBERT. They come from your imagination. JOAN. Of course, that is how the messages of God come to us. (SJ 68)

Auch gegenüber dem Skeptiker Baudricourt erläutert Joan: »It is the will of God that you are to do what He has put into my mind.« (SJ 62) Joans intuitiver Glaube, ausführendes Organ des göttlichen Willens zu sein, begründet Joans selbstsichere Haltung vor dem versammeltem Hofstaat des Dauphin, und lässt sie erklären »But I do know better than everyone else« (SJ 113), obwohl sie ihre eigenen geistig-intellektuellen Fähigkeiten eher niedrig einschätzt: »I am […] so ignorant that I do not know A from B.« (SJ 117) In den Religious Speeches benennt Shaw Persönlichkeiten wie Joan, die mit der besonderen Wahrnehmung des »divine instinct«42 ausgestattet sind, als »prophets [who] come […] practically at the call of God. These men believe in the direct communion of their own spirit with whatever spirit it is that rules the universe.« (RS 62) Ein ebenso prophetischer Gestus begegnet dem Leser im Stück, wenn Joan in sicherem Glauben um den göttlichen Auftrag ihrer Mission einen Wissensvorsprung gegenüber Baudricourt zum Ausdruck bringt – »you will find it all coming quite different« (SJ 63) – oder sie an späterer Stelle eine Todesahnung äußert, die sich als allzu wahr herausstellen wird (»I shall last only a year from the beginning.« SJ 112). Auffällig sind zudem diverse (moralische) Imperative Joans (»Thou must face what God puts on thee«, SJ 84, oder »and thou must listen to it«, SJ 87), deren mahnender

41 Bereits im Vorwort zu Misalliance (1909) erklärt der Dramatiker, dass »Gottes« Wille, nicht mittels des Kognitiven, sondern vielmehr gefühlsbewusst erschlossen werden könne: »You are assuming that the child does not know its own business, and that you do. In this you are sure to be wrong: the child feels the drive of the Life Force (often called the Will of God); and you cannot feel it for him.« Shaw, Bodley Head IV, 25. 42 G. B. Shaw, The Intelligent Woman’s Guide to Socialism, Capitalism, Sovietism and Facism, London: Penguin, 1982, 377.

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Sprachgestus sich von der üblichen unbekümmerten und kecken Ausdrucksweise abhebt. Was Shaw in Saint Joan mit den Termini des »saint« und »prophet« (oder in früheren Stücken auch als »realist« und »hero«) zu fassen sucht, findet sich bei Otto unter dem Begriff der »divinatorische[n] Naturen« (DH 178) wieder, die der protestantische Theologe als »Empfänger und Träger der Eindrücke des Überweltlichen« (DH 179) beurteilt. Die erkenntnisphilosophische Schwierigkeit (und ideologische Fragwürdigkeit) einer solchen Vorstellung liegt sowohl bei Otto als auch bei Shaw darin, dass die religiöse Erkenntnis durch Introspektion aus dem Menschen selbst hervorgebracht zu werden scheint, wie Jörg Döhring berechtigterweise kritisiert: »Solange Gott noch gefühlt werden kann, muss es ihn geben.«43 Der Beweis für die Existenz einer, wie auch immer gearteten, transzendenten Entität kann nur über die Gefühlsreaktion, die diese im Menschen auslöst, erbracht werden. So muss Joans Umwelt die »voices«, in denen sich für sie selbst ein außermenschliches Objekt (vgl. DH 11) offenbart, als subjektive Einbildung eines verwirrten Geistes (so Baudricourt) beurteilen oder als Ausdruck eines übersteigerten Selbstwertgefühls (so der Erzbischof). Joan sucht daher stets eine, den anderen Menschen plausibel erscheinende, rationale Erklärung für ihre Handlungen zu liefern: »I have to find reason for you, because you do not believe in my voices. But the voices come first; and I find the reasons after: whatever you may choose to believe.« (SJ 111) Eine weitere Analogie zwischen Ottos Ausführungen und Shaws dramatischer Darstellung der Heiligenfigur eröffnet beider Betonung der Unmittelbarkeit der religiösen Erfahrung, die sich weder für Otto noch für Shaw über die Institution oder die Glaubensgemeinschaft vermitteln lässt. Shaw präsentiert den eigentlichen Konflikt in Saint Joan als einen zwischen weltlichem Machtanspruch und kirchlichem Dogma auf der einen Seite und (protestantischer) Innerlichkeit des Individuums auf der anderen. Und selbst Luthers Beharren auf der Rechtfertigung aus dem Glauben beurteilt der Dramatiker nicht als Folge einer minutiösen Auseinandersetzung mit dem geschriebenen Worte der heiligen Schrift, sondern eines subjektiven religiösen Erlebens: »[I]t was instinct rather than theological casuistry that made him [Luther] hold so resolutely to Justification by Faith as the trump card by which he should beat the Pope.«44 Im Vorwort zu seinem Drama Back to Methuselah erklärt Shaw die Strömung des Protestant-

43 Jörg Döhring, »Das Numinose: Fortgesetzte Rede vom Unaussprechlichen: Anmerkungen zu Rudolf Ottos Das Heilige«, Übersetzen, Übertragen, Überreden, hg. Sabine Eickenrodt, Würzburg: Königshausen & Neumann, 1999, 166. 44 Shaw, Bodley Head IV, 437.

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ismus daher als »movement towards pursuit of a light called inner light because every man must see it with his own eyes and not take any […] Church’s account of it«45, weswegen Dietrich Schwanitz bei dem irischen Dramatiker eine Rückwendung zum »mystischen Protestantismus«46 konstatiert. Die unio mystica, die unmittelbare, diesseitige Erfahrung Gottes im Inneren, wird ebenfalls in Androcles and the Lion (1912) als Teil der wahren Lehren Christi beschrieben.47 Auch diese Ausführungen legen einen Brückenschlag zu Überlegungen Rudolf Ottos nahe, für welchen die protestantische Lehre Luthers in ihren Ursprüngen Elemente der Mystik aufweist: Man kann […] Luthers Zusammenhang mit der Mystik nicht verkennen. […] bei aller Veränderung ist doch offensichtlich daß Luthers Glaube ganz bestimmte Züge trägt, die ihn mystischen Seelen-funktionen [sic] verwandt zeigen und ihn deutlich unterscheiden von der rationalen Bestimmtheit und Wohltemperiertheit der fides der lutherischen Schullehre. […] für Luther [bleibt] der Glaube stets und bis zuletzt […] die geheimnsivolle Seelenkraft der ›adhaesio Dei’ die den Menschen eint mit Gott. Einung aber ist der Stempel des Mystischen. (DH 128f.)48

Wie Rudolf Otto den Lutherischen Glauben in seinen Ursprüngen als »pneumatische Erkenntniskraft« (DH 129) auslegt und damit einen antiinstitutionellen Impetus zumindest andeutet, bekennt sich auch Shaws Heiligenfigur im Sinne ihres Schöpfers zum »inner light« eines mystischen Protestantismus, der mit den Lehrsätzen der institutionalisierten Religion bricht. So erläutert Joan vor ihren Gegnern während des Prozesses: »All the things that you call my crimes have come to me by the command of God: […] I shall mind God alone, whose command I always follow.« (SJ 135f.) Auch bei Joan resultiert die unmittelbare Offenbarung in einer »Vereinzelung de[s] religiösen Subjekt[s]«49, die an Ottos Konzeption kritisiert wird.

45 Shaw, Religious Speeches, 58, meine Hervorhebung. 46 Schwanitz, »Shaws Weltanschauung«, 189. Den problematischen Begriff der »Mystik« verwende ich hier allgemein als diesseitige Gotteserfahrung: »Das Transzendente wird wenigstens momenthaft immanent – und hebt dabei die Begrenzungen des innerweltlichen Gläubigen auf. Der Weg hierzu ist der Weg der Introspektion, der Innenschau«, Volker Leppin, Die christliche Mystik, München: Beck, 2007, 9. 47 Vgl. Shaw, Bodley Head IV, 516. 48 Paul Tillich verweist in seinem Werk Begegnungen auf die wichtige Rolle der Mystik in den Werken Ottos. Vgl. Tillich, Begegnungen, 180. 49 Döhring, »Das Numinose«, 172.

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Die Tatsache, dass Shaw im Vorwort eine Parallele zwischen der Persönlichkeit der heiligen Johanna und der des mittelalterlichen Mystikers Giordano Bruno zieht, unterstreicht, dass Shaw in Saint Joan ein unmittelbares Gotteserlebnis verdeutlichen wollte. Bruno sah sich genötigt, seinen Glaubenskern um den Preis des eigenen Lebens zu verteidigen, da er die Kirche als Autorität der theologischen Wahrheit nicht anerkannte.50 Auch Joan muss sich, so Shaws Interpretation der Historie, der Rückkehr in den Schoß der Kirche verweigern und sich selbstbestimmt für den Tod durch das Feuer entscheiden, da sie diesen dem Dasein in Gefangenschaft unter dem Diktat der von ihr abgelehnten Dogmen der Kirche vorzieht, wie ihre letzte Worte vor ihrer Verbrennung verdeutlichen: »His [God’s] ways are not your ways. He wills that I go through the fire to His bosom; for I am His child, and you are not fit that I should live among you.« (SJ 144) Joans Widerstand gegen die katholische Kirche in Saint Joan kann daher auch als Konflikt zwischen der Institution Kirche und dem christlichen Mystiker betrachtet werden, wie Harold Kasimow argumentiert: What must be understood, however, is that the Christian mystic […] does not set out to be in opposition to the Church. The break occurs only when the teaching that the mystic recieves directly from a divine source conflicts with the teaching of the Church. The mystic comes to feel that, since he or she encounters God directly, his or her duty is to God rather than any institution, even if it be the Church.51

Die »direkte Gotteserfahrung« resultiert in Saint Joan jedoch nicht in kontemplativer Weltabgeschiedenheit, sondern in der aktiven Weltbearbeitung. Wiederholtermaßen betont Shaw die Energie und Tatkraft der Heiligen. So drängt Joan in der ersten Szene Baudricourt zum sofortigen Aufbruch, um die Moral der kampfesmüden Soldaten des Königs zu stärken. Ebenso verdeutlichen zahlreiche Regieanweisungen Joans fast manischen Tatendrang: »[She rises impetuously, and goes at him, unable to sit any longer]« (SJ 70), »[wildly excited […] she dashes out]« (SJ 71), »[in a blaze of courage]« (SJ 94). Die religiöse Erfahrungsmomente scheinen der Heiligenfigur in Saint Joan den Weg des he-

50 Vgl. Thomas Meyer, »Giordano Bruno, der Häretiker – Überbietung des Dogmas durch ›wahre Lehre‹«, Märtyrer-Porträts. Von Opfertod, Blutzeugen und heiligen Kriegern, hg. Sigrid Weigel, München: Wilhelm Fink, 2007, 239. 51 Harold Kasimow, »The Conflict between the Mystic and the Church as Reflected in Bernard Shaw’s Saint Joan and Jean Annouilh’s The Lark«, Mystics Quaterly 14/2 (1984): 94, meine Hervorhebung. Ähnlich argumentiert Kiberd, Inventing Ireland, 435f.

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roischen Handelns zu weisen, wie sie gegenüber ihren Gegnern betont: »[…] it is better to be alone with God […]. In his strength I will dare, and dare, and dare, until I die« (SJ 119). Für den Dramatiker Shaw besteht echter Glaube, echte Religiosität, in der Mitgestaltung der menschlichen ›Heilsgeschichte‹, wie er in einer Rede in London betont: If you don’t do his [God’s] work, it won’t be done; if you turn away from it, if you sit down and say »Thy will be done«, you might as well be the most irreligious person on the face of the earth. But if you will stand by your God, if you will say »My business is to do your will, […] I am here to do thy work, and I will do it,« you will […] learn not only to worship your God, but also to have a fellow feeling with him. […] This conception that I am doing God’s work in the world gives me a certain self-satisfaction […], a certain self respect and force in the world. […] People like their religion to be what they call comforting. I want my religion to give me […] courage […]. (RS 6f.)

Die Tatsache, dass sich Shaws Konzeption nicht durch eine personale Gottesvorstellung auszeichnet, sondern durch das Wirken des göttlichen (dynamischen) Prinzips der Lebenskraft, das, wie aus den eben zitierten Zeilen hervorgeht, auf die »Mitarbeit« seiner Geschöpfe angewiesen ist, erklärt, dass Joans numinose Erfahrung im Stück nicht mit dem Moment des »tremendum«, des angsterfüllten Schrecken im Sinne Ottos, verbunden ist.52 Auch das von Shaw eingeforderte (und von Joan verkörperte) Moment des couragierten Handelns aus dem Glauben heraus lässt sich in Analogie zur Konzeption der »(religiösen) Willensbildung«53 im Sinne Ottos setzen. In Das Heilige bezeichnet dieser das »Energische« als eine weitere Gefühlsreaktion, welche mit der numinosen Erfahrung einhergehen kann: Es […] drückt sich in den Ideogrammen von Lebendigkeit Leidenschaft affektvollem Wesen, von Wille Kraft Bewegung Erregtheit Tätigkeit Drang aus. Diese […] Züge […] sind dasjenige Moment am numen das, wo es erfahren wird, das Gemüt des Menschen aktiviert, zum ›Eifern‹ bringt, mit ungeheurer Spannung und Dynamik erfüllt, […] in heroischem Wirken und Handeln in dem die Erregtheit nach außen ausbricht (DH 27, meine Hervorhebung)

Die religiöse Erfahrung resultiert auch in Saint Joan im energischen Handeln, anstatt in Weltabgeschiedenheit und Kontemplation. Der Rückzug ins Innere

52 Vgl. Hans Stoppel, »Shaw and Sainthood«, English Studies 36 (1955), 61. 53 Willenborg, Das Heilige zwischen Gefühl und Emotion, 133.

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korrespondiert bei Joan mit dem Handeln »nach Außen«. Die Trennung zwischen den zwei vermeintlich gegensätzlichen Welthaltungen der actio und contemplatio ist in Shaws Neuentwurf der Heiligenfigur aufgehoben. Im Zusammenspiel von religiöser Erfahrung und menschlicher Tatkraft ist Shaws Heilige zugleich Bewegte und Bewegerin des überindividuellen Fortschritts.

S CHLUSSBEMERKUNG Mit Saint Joan gelang Shaw eine idiosynkratische Neuinterpretation der Jeanne d’Arc. Shaws Heilige verkörpert die vermeintlich paradoxe Konzeption des »unsaintly saint«54, eine Heiligenfigur, die sich durch ihre Lebendigkeit, Unangepasstheit sowie ein fortschrittliches Denken von schematischen »Obrigkeitsheiligen« der Amtskirche abhebt55. Saint Joan bricht mit der konventionellen, theologischen Vorstellung, dass der oder die Heilige den Maßstäben der Religion »in überdurchschnittlichem Maß«56 zu genügen habe. Sie widersetzt sich den institutionellen Dogmen, schließt die Kirche als Mittler zwischen Mensch und Gott einfach aus, und wird folglich bei Shaw anders als die historische Jeanne d’Arc nicht als Hexe, sondern als Häretikerin angeklagt und verurteilt. Auch die Approbation des Wunders, Teil des katholischen Kanonisierungsprozesses, wird in Saint Joan ironisch unterlaufen, wenn Shaw mit Hilfe eines gewöhnlichen Hühnerstalls das Fanum zum Profanum verkehrt. Seine Heiligenfigur zeichnet sich nicht durch übernatürliche Wirkkräfte, sondern irdische Tatkraft aus. Als »new woman« verkörpert Joan die für Shaws Dramatik typische reformatorische Vorbildgestalt, die ihrer Zeit voraus ist und deswegen an der Realität der Gegenwart, der Stasis der Institutionen, scheitern muss. »Saint Joan is not an attempt to understand yesterday’s saints; it’s a primer for today’s heretics«57, lautet daher die berechtigte conclusio von Francis Noel Thomas. Dennoch hat diese partielle Dekonstruktion konventioneller Heiligkeit keine endgültige Entheiligung der Figur zur Folge. Shaws innovative Neuinterpretation lässt Spuren des Numinosen anklingen. Seine Heilige sucht die innere Vereinigung mit Gott, wobei ihr Beharren auf der Unmittelbarkeit und Privatheit reli-

54 Silver, Saint Joan: Playing with Fire, 23. 55 Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass die Sonderstellung von Heiligen gegenüber der Amstkirche keineswegs untypisch ist. Man denke beispielsweise an Franz von Assisi oder Hildegard von Bingen. 56 Hoheisel 1274. 57 Francis Noel Thomas, The Writer Writing: Philosophic Acts in Literature, Princeton: Princeton UP, 1992, 91.

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giöser Erfahrung mit Elementen der Erlebnistheorie Rudolf Ottos korreliert. In der »proto-protestantischen« Abnabelung Joans von der katholischen »Mutter Kirche« lässt sich die Loslösung des christlichen Mystikers von jedweder Form der institutionellen Glaubensauslegung erkennen. Im Sinne der Otto’schen divinatorischen Naturen hebt sich Joan durch ihren »religiösen Tiefenblick«58 von den Mitmenschen ab und spiegelt in ihrem geradezu übermenschlichen Willen zur Tat das numinose Erlebnismoment des »Energischen« wider. Der Religionswissenschaftler Gustav Mensching, ein Schüler Rudolf Ottos, liefert in seiner Abhandlung »Wesen und Ursprung der Religionen« eine Definition von Religion im Sinne seines Lehrers, die Shaws Interpretation der Jeanne d’Arc-Figur als Heilige der Tat nicht besser zusammenfassen könnte: »Religion ist erlebnishafte Begegnung des Menschen mit dem Heiligen und antwortendes Handeln des vom Heiligen bestimmten Menschen.«59 Das dem Stück inhärente Spannungsverhältnis aus Entheiligung und Resakralisierung gibt Saint Joan nicht nur als Filiation des Shawschen Gedankengebäudes zu erkennen, sondern bindet es zugleich in den Diskurszusammenhang um das Heilige zur Zeit des Modernism ein. Einerseits bedient der Dramatiker die modernistische Forderung nach der Zerschlagung tradierter Sinnzuschreibungen, indem er konventionelle Heiligkeitsvorstellungen hinterfragt, ironisiert und dekonstruiert. Zum Anderen vollzieht seine Dramatisierung der historischen Jeanne d’Arc eine Rückbindung an vermeintliche konventionelle Kategorien wie die des Heiligen, das jedoch, wie Ottos Ansatz exemplarisch verdeutlicht, zu Beginn des 20. Jahrhunderts ebenfalls aus einer strikt dogmatischen Verklammerung gelöst wurde. Ottos Darstellung der religiösen Erfahrung leitete eine Renaissance des Heiligen ein, die dessen »Reformation« und begriffliche Erneuerung gleich mit implizierte. Auch Ottos Konzeption des Heiligen wird heute von Seiten der Forschung eine Tendenz wider die theologische Dogmatik zugesprochen, die mit Shaws Kritik an der Institution Kirche (verkörpert durch Joan) korrespondiert: »Because numinous consciousness is, according to Otto, spontaneous and immediate, dispensatory mediation of the holy by particular (male) religious authorities is not a requirement of the religious life. Revelation begins with a private reaction to the divine presence.«60

58 Gantke, Der umstrittene Begriff des Heiligen, 246. 59 Vgl. Gustav Mensching, »Wesen und Ursprung der Religion«, Die großen Nichtchristlichen Religionen unserer Zeit, Stuttgart: Alfred Kröner, 1954, 13. 60 Raphael, Rudolph Otto, 8.

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Konvention und Innovation am Beispiel des Genres ›Science Fiction‹ L ARS S CHMEINK Genres are not to be mixed. I will not mix genres. JACQUES DERRIDA

E INLEITUNG Ein Text ist laut Jacques Derrida niemals ohne ein Genre: »a text cannot belong to no genre, it cannot be without or less a genre. Every text participates in one or several genres, there is no genreless text; there is always a genre«, doch ist seine Teilnahme an einem Genre nicht mit einer ausschließlichen Zugehörigkeit zu verwechseln: »yet such participation never amounts to belonging«.1 Für Texte und Genres gilt, laut Derrida, »the law of the law of genre. It is precisely a principle of contamination, a law of impurity, a parasitical economy«.2 Texte sind also niemals rein, sondern wie Andrew Butler in Anlehnung an Derrida feststellt: »Individual texts overflow the boundaries, become larger than their limitations, transcend their classes«.3 Butler fährt fort, dass es in der Theorie zwar einen »pure-bred« Text geben könnte, dass dieser aber nur wenig über das Genre aussagt, weil er essentiell nur Wiederholung des Bekannten darstellt, dass der »hybrid« Text hingegen geeignet sei, die Grenzen des Genres zu definieren und überschreiten: »To the extent that the hybrid text has the characteristics of a given

1

Jacques Derrida, »The Law of Genre«, Critical Inquiry 7.1 (1980): 65.

2

Ebd. 59.

3

Andrew M. Butler, »Between the ›Deaths‹ of Science Fiction: A Skeptical View of the Possibility for Anti-Genres«, Journal of the Fantastic in the Arts 15.3 (2004): 208.

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genre, it defines that genre; to the extent that it has characteristics which are not part of the genre, it defines that which is not the genre«.4 Im transgressiven Moment des hybriden Textes liegt einerseits die Überschreitung der Grenzen des Genres, aber andererseits eben dadurch auch die Bestätigung dieser Grenzen in der Wahrnehmung der Übertretung. Und durch die kontinuierliche Anfechtung dieser Grenzen entsteht ein produktives Neuland zur Erweiterung des Genres und zur Neuverhandlung der Genredefinition. In sofern man also von einer Definition eines Genres sprechen kann, geschieht dies anhand bestehender Konventionen. Um jedoch die Dynamik zu verstehen, die ein Genre für sich selbst und für die Literatur im Allgemeinen produktiv macht, ist es nicht nur nötig sich die Konventionen anzuschauen, sondern zusätzlich die Innovationen, die Grenzen und Transgressionen zu betrachten, die Autoren dazu nutzen, ihre Texte in Bezug auf das Genre zu positionieren. Im Folgenden möchte ich diese Überlegungen auf das Genre der Science Fiction (nachfolgend auch SF) ausdehnen und die transgressiven Momente zweier zeitgenössischer Romane analysieren: Audrey Niffeneggers The Time Traveler’s Wife und William Gibsons Pattern Recognition. Beide Romane sind als hybride Texte zu verstehen, die sowohl Elemente des Genres ›Science Fiction‹ aufweisen, als auch Elemente anderer Genres. Im Falle von Niffenegger soll daher eine Untersuchung der Genregrenzen und Transgressionen in Bezug auf das Genre ›romance‹ erfolgen, während bei Gibson eher die ›realist novel‹ eine Rolle spielt. Um aber diese Transgression überhaupt aufzuzeigen und deren Nutzung durch den Autor plausibel zu erklären, bedarf es zuvor einer Klärung der Genrekonventionen des Genres ›Science Fiction‹. Dazu möchte ich im nächsten Abschnitt einige Bemerkungen zur Genretheorie in eine genaue Beschreibung der Konventionen der SF überleiten, bevor ich dann in den darauf folgenden Abschnitten jeweils die beiden Romane analysiere.

G ENRE

UND

S CIENCE F ICTION

›Genre‹ bedeutet erstmal nur so viel wie ›Art‹ oder ›Klasse‹ und bezeichnet also eine Form taxonomischer Einordnung, in diesem Falle die Einordnung von Kommunikationsakten. John Swales schreibt in seinem Buch Genre Analysis: »A genre comprises a class of communicative events, the members of which share some set of communicative purposes«.5 Genre vereint also Kommunikationsakte auf der Basis gemeinsamer Zielsetzungen innerhalb spezifischer Dis-

4

Butler, »Between the ›Deaths‹ of Science Fiction« 209. (kursiv i.O.)

5

John M. Swales, Genre Analysis, Cambridge: Cambridge UP, 1990, 58.

K ONVENTION UND I NNOVATION

AM

B EISPIEL

DES

G ENRES ›S CIENCE F ICTION ‹

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kurse. Für das Genre ›Fiktion‹, so Darko Suvin, sei das übergeordnete Ziel, die Verhältnisse des Menschen zu anderen Menschen oder zum Universum auszuleuchten und darzustellen.6 Die verschiedenen Subgenres der Fiktion erreichen dieses Ziel zwar auf unterschiedliche Weisen, ihnen allen ist jedoch gemein, dass sie dem Leser einen Rahmen für seine Interpretation bieten. So hat schon E.D. Hirsch Jr. die Klassifizierung von Texten in Genres als einen ersten wichtigen Schritt in der Erlangung einer objektiven Interpretation bezeichnet: »By classifying the text as belonging to a particular genre, the interpreter automatically posits a general horizon for its meaning. The genre provides a sense of the whole, a notion of typical meaning components«.7 Das Genre innerhalb dessen wir einen Text lesen wirkt sich also auf unseren ersten Interpretationsansatz aus, es bestimmt nachhaltig unsere Lesart. Im Falle der meisten »naturalistic fiction«, um Suvins Terminologie zu nutzen, interpretieren wir die textuelle Welt als eine möglichst mimetische Darstellung der Verhältnisse von Mensch zu Mensch und Mensch zu Umwelt.8 Eine Ähnlichkeit zu unserer Welt ist diesen Genres inhärent und auf ihr basieren wir unsere Suche nach Bedeutung. Das Genre der SF jedoch verwendet ein radikal anderes, entfremdetes Rahmenkonstrukt als Welt – bei ihr handelt es sich um »estranged fiction« – daher benötigt sie auch ganz andere Strategien, um Bedeutung zu vermitteln.9 Diese abweichenden Strategien sind ein wichtiges Kriterium bei der Suche nach Gemeinsamkeiten der einzelnen Exemplare eines Genres. Darüber hinaus verbinden aber auch die thematischen Muster, ihre rhetorische Struktur oder aber auch ihre formelle Organisation diese Exemplare zu einem Genre. Bevor ich das Genre der SF genauer daraufhin zu beschreiben versuche, soll jedoch noch die Bemerkung vorgestellt sein, dass diese Gemeinsamkeiten keineswegs als feste und ausschließliche Kriterien funktionieren. Genres sind keine klar umrissenen Klassen, so schreibt Alastair Fowler: »in actuality [genres] change and overlap so much and so untidily that it is best to regard them as loose groupings or families. Each has its own family resemblances, its characteristic features, but none need contain all the characteristics of its family«.10 In der SF mögen zwar Inhalte

6

Vgl. Darko Suvin, Metamorphoses of Science Fiction: On the Poetics and History of

7

E.D. Hirsch Jr., »Objective Interpretation«, The Norton Anthology of Theory and Crit-

a Literary Genre, New Haven: Yale UP, 1979, 18. icism, ed. Vincent B. Leitch, New York: Norton, 2001, 1694. 8

Suvin, Metamorphoses, 18.

9

Ebd.

10 Alastair Fowler, »Genre«, International Encyclopedia of Communications, ed. Erik Barnouw, New York: Oxford UP, 1989, 215.

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wie Aliens und Raumschiffe oder eine Handlung in der Zukunft eine Familienähnlichkeit aufzeigen, aber nicht jedes Mitglied der SF braucht diese Kennzeichen, wie die Beispiele The Matrix oder Star Wars verdeutlichen. Es erscheint zwar sinnvoll, eine Zuordnung zu einem Genre aufgrund von prototypischen Merkmalen vorzunehmen, doch die Zuordnung selbst kann auch nur temporär und als nicht ausschließlich gesehen werden, da Kommunikationsakte nicht zwangsläufig nur einem Genre zugeordnet werden können sondern oftmals mehreren, und da prototypische Elemente von Genres sich historisch stark verändern oder gar austauschen. Gerade für die von uns untersuchten literarischen Kommunikationsakte, für Texte also, sieht Fowler eine natürliche Auseinandersetzung mit den inneren Strukturen und Traditionen des Genres: »This is bound to be so, because literary interest – certainly all literary innovation – consists in modulation or changes of generic signals. It is in departures from rules of genre that writers show their originality«.11 Also gerade durch die Abweichung von prototypischen Elementen und Regeln entwickelt sich das Genre weiter. Jeder rezipierte Text eines Genres prägt unser Genreverständnis und unser Wissen um dessen Grenzen und Regeln. Und in der bewussten Übertretung solcher Grenzen liegt für den Autor das Potential der Manipulation der Leserhaltung, wie ich später noch zeigen möchte. Doch zuerst möchte ich mich den Genrekonventionen speziell der Science Fiction zuwenden. Wie genau sehen diese Regeln und Grenzen im Falle der SF aus? In ihrer Einleitung zum Norton Book of Science Fiction fragt Ursula LeGuin rhethorisch einen implizierten »Common Reader,« was Science Fiction sei und vermutet dann folgende Antworten: the future »futuristic« science, technology, weaponry, cities, etc. spaceships, space voyages time machines, time travel other worlds alien beings monsters robots mutants parapsychology mad scientists […] alternative history, alternate or parallel worlds

11 Fowler, »Genre«, 216.

K ONVENTION UND I NNOVATION

AM

B EISPIEL

DES

G ENRES ›S CIENCE F ICTION ‹

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thought experiments in physiology, psychology, physics, etc. experimental models of society12

Wie wir sehen können finden sich sowohl Aliens als auch Raumschiffe auf dieser Liste wieder, wie noch zig andere Begriffe, die wohl jeder von uns mit Science Fiction assoziiert. All diese Dinge können in Science Fiction als »icons«13 vorkommen, oder wie LeGuin es ausdrückt als »mindforms, iconic modes of thought«14, sind jedoch nicht hinreichende oder gar notwendige Bedingungen des Genres. Und selbst als prototypische Elemente von Science Fiction ist dieser Katalog wohl nur ein erster Schritt, um uns thematischen Mustern zu nähern, nicht aber Strukturen oder formalen Gesichtspunkten von SF. Deswegen soll für die weiteren Überlegungen die einzige Definition von SF als Grundlage dienen, die seit 30 Jahren Bestand hat. Darko Suvin formulierte 1979 in seinem Buch Metamorphoses of Science Fiction folgende Definition: SF is, then, a literary genre whose necessary and sufficient conditions are the presence and interaction of estrangement and cognition, and whose main formal device is an imaginative framework alternative to the author’s empirical environment.15

Suvin beschreibt hier die welterschaffende Qualität von SF, die sich durch eine Dialektik aus Entfremdung und Wiedererkennen entwickelt. Das Erschaffen einer Welt ist dabei erstmal nicht SF-typisch, denn wie John Frow bemerkt erschafft jeder Text eine spezifische, wenn auch nicht eine totale Welt, sondern »a schematic world, a limited piece of reality, which is sketched in outline and carved out from a larger continuum.«16 Im Gegensatz zu den Welten anderer Genres stehen die Welten der Science Fiction aber in Abweichung zur ontologischen Realität des Autors. Wie Kathleen Spencer jedoch richtig feststellt ist diese Entfremdung zu einem gewissen Maß ein Teil jedes fiktionalen Textes, der vom Leser durch die wiederholte Ausführung der Sequenz »pattern formation/disruption/re-evaluation/pattern reformation«17 überhaupt erst entschlüsselt

12 Ursula LeGuin, »Introduction«, The Norton Book of Science Fiction, ed. U. LeGuin and B. Attebery, New York: Norton, 1993, 22. 13 Wolfe zit. LeGuin, »Introduction«, 22. 14 Ebd. 15 Suvin, Metamorphoses, 7f. 16 John Frow, Genre, London: Routledge, 2006, 7. 17 Kathleen L. Spencer, »›The Red Sun is High, the Blue Low‹: Towards a Stylistic Description of Science Fiction«, Science Fiction Studies 10 (1), 1983: 36.

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wird. Die Unterbrechung einer Musterformierung ist dabei im Normalfalle eben dieses entfremdende Element, während der interpretative Prozess die dadurch entstehende Lücke wieder zu schließen versucht. Leser sind durch Entfremdung also dazu gezwungen ihre Erwartungen an und ihre Hypothesen über den Text neu zu bewerten und somit Bedeutung für den Text zu generieren. Der SF Text jedoch nutzt Entfremdung in einem erhöhten Maße und macht sie zu seiner zentralen Funktion in dem die erschaffene Welt nicht in einer »straightforward relationship«18 zur Welt des Autors steht sondern sich durch eine signifikante Verschiebung in »place, time or circumstances«19 von ihr entfernt. Signifikant in dem Sinne, als das die Welt ein Novum präsentiert, das den Text narrativ dominiert. Die Neuartigkeit des eingeführten Elementes ist, so Suvin, »›totalizing‹ in the sense that it entails a change of the whole universe of the tale, or at least of crucially important aspects thereof (and that it is therefore a means by which the whole tale can be analytically grasped)«.20 Von diesem Novum ausgehend entwickelt der SF Text nun mit logischer Konsequenz seinen imaginativen Rahmen und folgt so den Implikationen, die vor allem in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Novum liegen. Wobei sich das Wissenschaftliche im SF Text historisch gesehen stark verändert hat und somit als einer der Innovationsfaktoren in den Genrekonventionen der Science Fiction zu sehen ist. Zwar ist jeder SF Text scientific, doch ist die Auslegung der science eine Frage der diachronen Entwicklung des Genres. So war zu Zeiten der pulp magazines und des ›Goldenen Zeitalters der Science Fiction‹ eine starke Fokussierung auf die hard sciences Physik, Chemie, Mathematik und vor allem die Ingenieurswissenschaften kennzeichnend für die Texte. In dieser Zeit, also zwischen ca. 1920 und 1950 waren die Wissenschaften in SF Texten (und dies ist wiederum nur prototypisch zu sehen, da Ausnahmen auch hier vorhanden sind) eher positiv konnotiert, forschend und vor allem erschaffend. Istvan Csicsery-Ronay Jr. verweist auf die Genrekonventionen dieser »expansionist SF«: heroic planetary exploration, space travel without boredom, the dignity of aliens, small groups of harmonious researchers, and in style, lucid, utilitarian prose emphasizing the nononsense attitudes of adventurer-scientists in command and control. The expansive forms of SF reflected the optimistic and secure ideology of scientistic humanism, which held that

18 Suvin, Metamorphoses, 18. 19 Spencer, »Towards a Stylistic Description of Science Fiction«, 36. 20 Suvin, Metamorphoses, 64.

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classical liberal virtues have some moral-ethical control over the forces of technological production.21

Wissenschaftler waren Abenteurer, die unbekannte Welten entdeckten, Grenzen überschritten und so die humanistischen Ideale vom Lernen an der Welt und über die Welt vorantrieben. Die Zielsetzung dieser Form von SF war es aufzuzeigen, dass der menschliche Geist in der Lage war, die Zukunft in sich aufzunehmen und zu formen. Die Zeit beginnend mit den 1950er Jahren bis etwa 1980 ist hingegen stärker gekennzeichnet von dem, was Csicsery-Ronay »implosive SF« nennt und als eine Umkehr von den expansionistischen Texten bezeichnet. Hier wurde Wissenschaft als problematisch und mit Limitierung behaftet angesehen: [Implosive SF] dwelt on [science’s] inherent paradoxes, its reverses, its self-defeating assumptions. Most of all, they depicted the destruction of liberal ideology by autonomous technology. […] The current scientific scene is entranced by the microstudy of boundaries no longer believed to be fundamental: between life and nonlife, parasite and host, human and machine, great and small, body-brain and cosmos.22

In dieser Form der SF ging es um die Fehlbarkeit des wissenschaftlichen Prozesses, seine Konsequenzen für den Menschen und um seine Grenzen. Eines der immer wieder kehrenden Themen dieser SF ist die Invasion und Transformation des menschlichen Körpers (und in metaphorischer Übertragung auch die Invasion und Transformation des sozialen Körpers). Folglich liegt nahe, dass diese Fragen zumeist nicht mehr so stark an den hard sciences als mehr an den soft sciences oder auch life sciences diskutiert wurden. Gerade in den 60er Jahren waren die wissenschaftlichen Auseinandersetzungen der SF in den Bereichen der Biologie, Psychologie, der Linguistik, der Kommunikationswissenschaften oder der Anthropologie angesiedelt. Mit dem Cyberpunk der 80er Jahre wurden dann die hard sciences von Autoren wie Gibson, Sterling oder Stephenson auf ähnlich sozialkritische Weise genutzt, und SF öffnete sich einer postmodernen Vermischung von Genrekonventionen, so dass heutzutage Fragen der Nanotechnologie, der Genetik oder der Künstlichen Intelligenz sowohl nach expansionistischen, nach implosiven, aber

21 Istvan Csicsery-Ronay Jr., »Cyberpunk and Neuromanticism«, Storming the Reality Studio: A Casebook of Cyberpunk and Postmodern Fiction, ed. Larry McCaffery, Durham: Duke UP, 1991, 186. 22 Ebd. 187f.

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auch nach neuartigen, gemischten Konventionsmustern diskutiert werden können. Aus diesen Überlegungen geht deutlich hervor, dass einer der wichtigsten Aspekte des Genres SF seit seinem Bestehen unveränderlich darin besteht, die Wissenschaften – egal in welcher Form – als zentrales Motiv des imaginativen Rahmens der Science Fiction und zumeist als logischen Antrieb für das Novum und die daraus folgende Entwicklung einer narrativen Welt zu nutzen. Doch neben der Verfremdung (»estrangement«) hat Darko Suvin noch die Erkenntnis (»cognition«), also das Wiedererkennen, als charakteristisch für die Welt eines SF Textes bezeichnet. Dieses Erkennen vollzieht sich laut Suvin an der Art, wie die Welt aufgebaut ist, wie sie sich zu unserer Welt verhält und wie sie uns erklärt wird.23 Spencer schreibt dazu: »In the first place, the world of the text must stand in some kind of cognitively discoverable relation to our own empirical situation. The writer should not present us with some mysterious self-contained world which simply exists somewhere without explanation«.24 Wenn keine Relation zu unserer Welt vorhanden ist, dann befinden wir uns generisch weitaus wahrscheinlicher im Bereich der Fantasy, des Märchens oder eines anderen Genres der »estranged fiction«, in denen in sich abgeschlossene Welten ohne Bezug zu unserer Welt beschrieben sind. Für Science Fiction gilt aber Samuel Delanys treffender Ausspruch: »not only does SF throw us worlds away, it specifies how we got there«.25 Auf dieser Basis einer grundlegenden Beziehung zwischen erzählter und unserer Welt wird dann innerhalb des SF Textes elaboriert, wo Unterschiede und Gemeinsamkeiten der beiden Welten liegen. So können andere Welten fremdartig sein und dennoch dieselben Naturgesetze haben (so wie Schwerkraft, Thermodynamik, ›Ursache und Wirkung‹ usw.) oder die Grundzüge des menschlichen Verhaltens aufrechterhalten, also Konzepte wie Familienbildung, Ritualisierung, Hierarchiebildung, Konsensfindung und vieles mehr. Es obliegt dabei dem Leser, zwischen Entfremdung und Erkennen zu unterscheiden und die im Text erschaffene Welt mental zu erforschen. Für Suvin ist dieser Aspekt sogar einer der wichtigsten in Bezug auf SF Welten, deren narrative Realität »autonomous and intransitive« sein muss, um diese Erforschung und somit Aussagen über den Menschen in Bezug zu seinem Universum zu ermöglichen (was wir ja als die generische Zielsetzung von Fiktion bezeichnet hatten).26 Suvin äußert

23 Vgl. Suvin, Metamorphoses, 7ff. 24 Spencer, »Towards a Stylistic Description of Science Fiction«, 37. 25 Delaney zit. ebd. 37. 26 Suvin, Metamorphoses, 71.

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sich unter Bezug auf die Fremdartigkeit der Welt dazu wie folgt: »For though mutants or Martians, ants or intelligent nautiloids can be used as signifiers, they can only signify human relationships, given that we cannot – at least so far – imagine other ones«.27 Das Verhältnis der Figuren zur dargestellten Welt und untereinander ist also eine Aussage über den Menschen und sein Verhältnis zu unserer Welt, und kann auch nur so analysiert werden. Die Logik dieser Verhältnisse muss für uns erkennbar sein, die Welt muss sich uns in ihren Grundmustern erschließen, da wir nur so sinnvolle Aussagen über die Welt des Textes erlangen und die entfremdeten Passagen verstehen können. Dies gilt auch und insbesondere für die science in der Science Fiction, die als Erklärung für das Novum benötigt wird. Dabei kommt es nicht notwendigerweise auf die Realisierbarkeit der wissenschaftlichen Erklärung an, sondern auf deren literarische Glaubwürdigkeit. Kingsley Amis schreibt dazu in seinem Buch New Maps of Hell: A Survey of Science Fiction: Science Fiction is that class of prose narrative treating of a situation that could not arise in the world we know, but which is hypothesised on the basis of some innovation in science or technology, or pseudo-science or pseudo-technology, whether human or extra-terrestrial in origin.28

Dabei, so Amis, gibt es in der SF einen weiten Bereich zwischen realer Wissenschaft, realistischer Extrapolation, »good-imitation science« oder eben der »flagrantly pseudo variety«.29 Wenn also zwecks Fortbewegung zwischen Sternen Warp-Reaktoren wie bei Star Trek, FTL-Drives wie bei Battlestar Galactica oder Hyperdrives wie bei Star Wars ins Spiel kommen, dann ist das zwar nicht mit Einsteins Relativitätstheorie vereinbar, aber den logischen Gesetzen der narrativen Welt folgend literarisch glaubwürdig genug erklärt, dass die Erklärung im Text als wissenschaftlich anerkannt wird. Wie bereits erwähnt, ist diese Aussage natürlich genreabhängig und würde außerhalb des SF Diskurses als lächerlich und unrealistisch betrachtet werden. Nachdem meine bisherigen Überlegungen hauptsächlich die formelle Organisation des SF Textes betreffend waren, und ich so aufzeigen konnte, wie der SF Text seinen imaginativen Rahmen konstruiert, bleibt noch die Frage nach der Artikulation dieser Welt. Mit welchen Mitteln füllt der Text diesen imaginativen

27 Ebd. 28 Kingsley Amis, New Maps of Hell: A Survey of Science Fiction, New York: Arno Press, 1975, 18. 29 Ebd. 20.

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Rahmen aus? Wie schafft er es, dass die entfremdete Realität dennoch als eine für uns erkennbare Realität wahrnehmbar ist? Die Antwort liegt, wie in allen Formen der Prosa, in der Vermittlung von Wirklichkeitsnähe begründet, also in dem was Coleridge »a semblance of truth« genannt hat und was allgemein in der Literaturwissenschaft mit dem Begriff ›verisimilitude‹ bezeichnet wird.30 Im Normalfalle wird diese Wirklichkeitsnähe dadurch erzeugt, dass der Text auf unterschiedlichen Ebenen auf das Wissen des Lesers um die normale Welt zurückgreift – von denen zwei hier besonders wichtig sind, nämlich auf natürliche und kulturelle Gesetzmäßigkeiten.31 In einem SF Text sind diese Gesetze, insbesondere die kulturellen Gesetzmäßigkeiten aber nicht mehr gültig, weil die dargestellte Welt irreal ist. Daher muss der SF Text um den Anschein von Wahrheit in dieser irrealen Welt herzustellen, die Welt und ihre Kultur erklären. Zwei anfänglich in der SF genutzte Erzählstrategien haben sich im Laufe der Zeit als nicht besonders literarisch anspruchsvoll herausgestellt. Entweder der Text weist, wie in den 1920er Jahren üblich, extensive Passagen mit wissenschaftlichen Erklärungen auf, die durch den Bruch mit der Erzählung eingeschoben werden und den Leser ›bilden‹ und die Fremdartigkeit erläutern sollen, oder der Text nutzt das narrative Mittel des Besuchers von einer anderen Welt. Auf diese Weise kann dem Besucher stellvertretend erklärt werden, was dem Leser unverständlich erscheinen mag. Da jedoch beide Stilmittel einen starken Eingriff in die Erzählhaltung bedeuten, hat das Genre SF mit der Zeit andere Strategien entwickelt, um eine irreale Welt mit dem Anschein von Wahrheit zu transportieren. Konventionell wird heute in einem SF Text aus der irrealen Welt heraus geschrieben, also mit dem Wissen eines in der Kultur Ansässigen. So wie zeitgenössische naturalistische Texte niemandem mehr erklären müssen was ein Mobiltelefon, das Internet oder McDonalds sind, nehmen SF Texte eine Position innerhalb der jeweiligen Kultur mit der selben Haltung ein. Viele dem Leser unbekannte Dinge und Umstände werden als bekannt vorausgesetzt. Das hat aber zur Folge, dass der Text wie ein Code entschlüsselt werden muss. Marc Angenot beschreibt dies aus linguistischer Sicht wie folgt: The narrative about such a world itself requires a conjectural reading. It does not call for the reader to apply the norms, rules, conventions, and so forth of his empirical world, but instead assumes a paradigmatic intelligibility that is both delusive and necessary. The

30 Samuel Taylor Coleridge, Biographia Literaria: or, the Biographical Sketches of my Literary Life and Opinions, London: Rest Fenner, 1817, 145. 31 Vgl. Spencer, »Towards a Stylistic Description of Science Fiction«, 39.

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reader, in the act of cognitively coming to terms with the text, shifts from the unfolding (syntagmatic) sequence of the plot to an »elsewhere« - to the semantic paradigms, and hence to the immanent practical or theoretical models, which are supposed to confer meaning on the discourse. From a semiotic point of view, then, SF characteristically is fictional discourse based on intelligible syntagmatic rules which also govern, and are governed by, delusive missing paradigms.32

Um also Satzstrukturen von SF Texten zu verstehen, muss der Leser die ihm fehlenden, bzw. vom Text zum Teil beabsichtigt vorenthaltenen, Assoziationsfelder entwickeln, Mutmaßungen anstellen, wie Angenot schreibt, und so den Code entschlüsseln. Diese Suche nach diesem fehlenden Paradigma funktioniert auf der lexikalischen Ebene mit Wortneuschöpfungen sowie mit komplett fiktiven Wörtern aus nicht-menschlichen Sprachen, darüber hinaus aber auch auf der Ebene von Sätzen oder ganzen Textpassagen, wie folgender Absatz aus William Gibsons Neuromancer verdeutlicht: Cowboys didn’t get into simstim, he thought, because it was basically a meat toy. He knew that the trodes he used and the little plastic tiara dangling from a simstim deck were basically the same, and that the cyberspace matrix was actually a drastic simplification of the human sensorium, at least in terms of presentation, but simstim itself struck him as a gratuitous multiplication of flesh input. The commercial stuff was edited, of course, so that if Tally Isham got a headache in the course of a segment, you didn’t feel it.33

Das Wort »simstim« ist eine Neuschöpfung Gibsons, die aber nicht vordergründig erklärt wird, sondern deren Wortbedeutung (kurz für: simulation/stimulation – eine Art im Gehirn mit Gefühlen erfahrbarer Simulation), ebenso aus dem Kontext entschlüsselt werden muss, wie die damit zusammenhängenden Aussagen über einen ganzen Branchenzweig der Unterhaltungsindustrie. Diese Industrie wird von Gibson im Roman zwar nie expliziert, kann und muss zum vollständigen Verständnis der unterschiedlichen virtuellen Realitätsräume in Neuromancer aber aus »missing paradigms« wie in diesem Absatz erschlossen werden. Die Verweise auf »commerical stuff«, »Tally Isham« und das »meat toy« deuten auf ein »conjectural reading« von »simstim« als kommerzielles Kulturprodukt zur Massenunterhaltung, mit eigenen Stars, alternativen Subkulturen

32 Marc Angenot, »The Absent Paradigm: An Introduction to the Semiotics of Science Fiction«, Science-Fiction Studies 6 (1979): 10. 33 William Gibson, Neuromancer, New York: Penguin, 1984, 55.

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und bestehender Kritik an dieser Form der Unterhaltung hin. Der Text öffnet so ein Bedeutungsfeld, das von den Lesern durch Mutmaßungen gefüllt wird, wodurch der imaginative Rahmen mit Inhalt angereichert wird. Da aber keine definitive Erklärung des Wortes »simstim« (oder auch der Figur »Tally Isham«) erfolgt, bleibt es letztlich nicht eindeutig entschlüsselbar. Der SF Text will nicht vollkommen decodiert werden, die Aufrechterhaltung solcher Paradigmen und das kontinuierliche Überprüfen von syntagmatischen Informationen gegen eben diese ist ja gerade ein nicht zu unterschätzender Teil der Genrekonventionen der SF (und ein großer Teil des Lesevergnügens). Aus den bisherigen Ausführungen lässt sich daher nun eine unverbindliche Definition der Konventionen des Genres ›Science Fiction‹ destillieren, die wie folgt aussehen könnte: Science Fiction bestimmt sich durch die Erschaffung einer Welt, die nicht in direkter Verbindung zur Realität steht, sondern durch eine Verschiebung in Ort, Zeit oder Umstand gekennzeichnet ist. Sie positioniert ein Novum, das diese signifikante Abweichung realisiert, als zentrales Element der Narration und baut in logischer Konsequenz die Welt darauf auf. Wissenschaft ist ein zentraler Motivator für das Novum. Allerdings darf die erschaffene Welt nicht in sich geschlossen sein, sondern muss in einem erkennbaren und nachvollziehbaren Verhältnis zur realen Welt stehen. Um ein Gefühl von Wiedererkennen zu erzeugen, bedient sich die Science Fiction einer (pseudo-) wissenschaftlichen Erklärung der Welt. Die Haltung der Science Fiction gegenüber ihrem Leser ist die gegenüber eines Initiierten in der narrativen Welt. Sein reales Wissensdefizit muss der Leser durch die kontinuierliche Erstellung und Überprüfung von Paradigmen ausgleichen. Im Folgenden gilt es nun, diese Konventionen auf den Leser und seine Interpretation des Textes zurück zu beziehen. Wie schon anfänglich kurz erwähnt, ist ein Genre ein Rahmen innerhalb dessen wir Bedeutung innerhalb einer Kommunikationsaussage lesen. John Frow sieht Genre daher als Marker für die Komplexität eines Textes und dessen Entschlüsselung: [I]f we are to read well, we cannot but attend to those embedded assumptions and understandings which are structured by the frameworks of genre and from which we work inferentially to the full range of textual meaning. […] Genre guides interpretation because it is a constraint on semiosis, the production of meaning; it specifies which types of meaning are relevant and appropriate in a particular context.34

34 Frow, Genre, 101.

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Viele dieser interpretativen Einschränkungen (die hier im Übrigen neutral konnotiert sind, weil sie begrenzend, aber auch Form gebend wirken) sind für die einzelnen Subgenres des fiktionalen Textes gleich – sie alle entwickeln Welten, sie alle verfolgen das Ziel menschliche Handlungen und Verhältnismäßigkeiten zu repräsentieren. In einigen Punkten aber unterscheiden sie sich je nach Genre des Textes. Und da Texte niemals isoliert stehen, sondern in einem intertextuellen System in Bezug zu einander, ist Teil des interpretativen Rahmens eine Positionierung innerhalb dieses Systems. Im dem Autoren nun aber absichtlich mit den Genregrenzen arbeiten, ihre Werke als hybride Texte konstruieren und Hinweise sowohl für als auch gegen den Rahmen eines Genres geben, entstehen Spannungen im intertextuellen System, die wir als Leser zu lösen versuchen. Ich möchte diese Innovationen von Genre, diese transgressiven Momente hybrider Texte, nun an Audrey Niffeneggers Roman The Time Traveler’s Wife und an William Gibsons Roman Pattern Recognition aufzeigen.

S CIENCE F ICTION UND › ROMANCE ‹ 35 Audrey Niffeneggers Debütroman war einer der erfolgreichsten Romane des Jahres 2003 und generierte Aufmerksamkeit in den unterschiedlichsten Genrebereichen der populären Kultur. In den Kritiken der großen Tageszeitungen und Magazine wurde der Roman mal als ›romance‹, ›love story‹ oder ›chick-lit‹ bezeichnet, mal als ›science fiction‹, ›time travel story‹ oder ›fantasy‹, manchmal auch als ›popular fiction‹ oder gar als ›literary fiction‹.36 Viele Begriffe, die versuchen dem Roman ein interpretatives Gerüst, eine Genrezuordnung, zu verleihen, und dabei in ihrer Vielzahl und Variation letztlich auf einen hybriden Text verweisen, der eben nicht ohne weiteres einem singulären Genre zugeordnet werden kann. Dabei liefert der Roman, wie jeder Text, »cues«, die als »metacommunications«, also als Aussagen über den Text selbst und somit als Hinweise für Genrepartizipation, gelesen werden können.37 Solche Hinweise seien, so Frow, sowohl innerhalb des Textes zu finden, als auch als Paratexte extern zum Text vorhanden. Gerard Genette schreibt dazu, dass Paratexte wie etwa Titel, Umschlagtext, Vorwort und Coverbild den Text begleiten »precisely in order to present it […]: to make present, to ensure the text’s presence in the world, its ›reception‹ and

35 Mein Dank gilt hier meiner Kollegin Astrid Böger, die durch kritische Fragen und Anmerkungen meine Lesart des Romans von Niffenegger maßgeblich beeinflusst hat. 36 Vgl. dazu u.a. die Kritiken von Allardice, Amidon, Billen, Walters und Zambreno. 37 Frow, Genre, 105.

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›consumption‹«.38 In Bezug auf die mit dem Genre verbundene interpretative Rahmung möchte ich den Begriff des Paratextes hier auf weitere externe »cues« ausdehnen, denn auch die Metakommunikation im Handel, in der Presse und im Internet kann dazu dienen, einen Text einem Genre zuzuordnen. In Bezug auf Niffeneggers The Time Traveler’s Wife ist die Frage nach externen Hinweisen auf Genrezugehörigkeit mehrdeutig. Da Audrey Niffenegger eine Debütautorin ist, gibt es erstmal keine vorhergehende Zuordnung zu einem bestimmten Genre, ihre Tätigkeit als Professorin in einem Master of Fine Arts Programm und als Künstlerin lassen auch keine spezielle Genrezuordnung zu. Auf dem Cover des Romans sieht man das Photo eines Mädchens, neben ihr eine Thermoskanne und ein paar Kleidungsstücke auf einer Picknickdecke. Die Kleidungsstücke gehören offensichtlich einem erwachsenen Mann, und die Haltung des Mädchens deutet darauf hin, dass sie auf jemanden wartet. Das Photo erscheint aufgrund der leichten Weichzeichnung und der Ausführung der abgebildeten Gegenstände als sei es in den 60er oder 70er Jahren aufgenommen worden. Der Klappentext des Romans verweist auf The Time Traveler’s Wife als »most untraditional love story« wodurch erstmals eine Hinweis auf das Genre des Liebesroman, der ›romance novel,‹ vorliegt, aber auch auf dessen Transgression. Der Titel des Buches, mit seinem Bezug auf Zeitreisen, kann zweideutig verstanden werden, da er einerseits auf ein beliebtes Subgenre innerhalb der ›romance novel‹ anspielt, das der »time-travel fiction«, oder wie ein Verlag es ausdrückt der »Timeswept Romance«, das sich seit den 80er Jahren großer Beliebtheit erfreut und das zumeist historische Settings mit zeitgenössischen Protagonisten vermischt.39 Die Variationen dabei sind vielseitig, doch zumeist geht es in diesen Romanen, entweder um eine Glorifizierung historischer Zeitalter oder um eine Konfrontation alter Traditionen mit modernen Lebensstilen. Andererseits kann der Titel aber auch als Verweis auf ein Subgenre der Science Fiction verstanden werden, das seine berühmteste Ausführung wohl in H.G.Wells The Time Machine findet. Das Motiv der Zeitreise ist ja, wie bereits erläutert, eines der »icons« der SF und bietet auch hier zahlreiche Variationen. Da es aber sowohl in der ›romance novel‹ als auch in der SF Verwendung findet, bedarf es an dieser Stelle einer genaueren Untersuchung des Motivs in den jeweiligen Genres. Im Genre ›Science Fiction‹ findet das Zeitreisemotiv zumeist folgende Form: Es geht meist um einen oder mehrere Zeitreisende, die ihre eigene Zeit verlassen

38 Gerard Genette zit. Frow, Genre, 105. 39 Vgl. Diane M. Calhoun-French, »Time-Travel and Related Phenomena in Contemporary Popular Romance Fiction«, Romantic Conventions, ed. A. K. Kaler und R. E. Johnson-Kurek, Bowling Green: Bowling Green State UP, 1999, 100f.

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und sich in ihrer subjektiven Vergangenheit (oder seltener Zukunft) wieder finden. Oftmals nutzt SF die Trope der Zeitreise, um metaphysisch über den Aufbau der Welt zu spekulieren:40 Gibt es parallele Zeitstränge? Was passiert, wenn man ein Paradox herbeiführt? Kann man die Gegenwart verändern, wenn man in die Vergangenheit reist? Eine weitere Möglichkeit der Auseinandersetzung mit Zeitreisen nutzt die Trope als narrative Methode, um ihre Protagonisten in eine ihnen fremde Welt zu transportieren, um dann auf politische oder soziale Probleme der Zeit zu verweisen. Der Kontrast eines Zeitreisenden macht der narrative Kommentar, die Gegensätzlichkeit zur heutigen Zeit besonders deutlich. So nutzt Octavia Butler die Zeitreise ihrer Protagonistin in Kindred, um ihre Leser in die Welt der Sklaverei zurückzuversetzen und so dem Kommentar auf diese Zeit politisch Gewicht zu verleihen. Ähnlich funktioniert auch Wells Roman The Time Machine, der allerdings die Zukunft mit sozialem Kommentar auflädt, um auf die Gegenwart zu verweisen.41 Die Zeitreisetropen der SF sind also dazu da, entweder Raum für Spekulationen über die metaphysische Frage nach dem Aufbau von Zeit und Welt zu bieten, oder aber eine bestimmte zeitliche Periode einer kritischen Auseinandersetzung zu unterziehen. Das wohl interessanteste Beispiel einer Zeitreise bietet daher die Geschichte von Billy Pilgrim, dem Protagonisten von Kurt Vonneguts Roman Slaughterhouse-Five, der aus der Zeit gelöst ist: »Listen: Billy Pilgrim has come unstuck in time«.42 Seine Zeitreise ist unbeabsichtigt, er ist Opfer ihrer Unvorhersehbarkeit. Vonnegut verbindet beide Konzepte von Zeitreise, einerseits entwickelt Billy im Laufe seiner Reisen metaphysische Theorien über die Zeit, die Welt und speziell die Endlichkeit des Lebens, andererseits wird Billy immer wieder in die Zeit des Zweiten Weltkrieges versetzt, wodurch der Roman auch auf Handlungsebene den Tod zum zentralen Motiv macht und die Gräuel des Krieges kommentiert.

40 Beispiele für diese Art von metaphysisch, philosophisch motivierter Zeitreise sind unter anderem Robert Heinleins »All You Zombies«, Poul Andersons Romanserie Time Patrol oder auch im populären Hollywoodfilm Star Trek IV – The Voyage Home, die Terminator Reihe oder Back To The Future. 41 Weitere Beispiele wären die TV Serie Life on Mars, Terry Gilliams Film 12 Monkeys oder aber als Vorform (abseits der SF) Washington Irvings Kurzgeschichte »Rip Van Winkle«, die einen (versteckten) sozialen Kommentar über die Veränderungen des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges mit Hilfe eines ›Zeitsprunges in die Zukunft‹ liefert. 42 Kurt Vonnegut, Slaughterhouse-Five, New York: Random House, 1969, 23.

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Audrey Niffeneggers Roman bietet aus Sicht der SF eine ähnliche ZeitreiseGeschichte wie die von Billy Pilgrim. Auch Henry DeTamble, der Protagonist des Romans, ist ein Zeitreisender, der keine Kontrolle über seine Reisen hat. Auch er ist das Opfer der Willkür seines Zustandes, in seinem Falle ausgelöst von einem genetischen Defekt, er ist ein »CDP […] a Chrono-Displaced Person«43, wie der Zustand zeitlicher Instabilität im Roman genannt wird. Doch im Gegensatz zu Vonnegut nutzt Niffenegger die Zeitreise-Trope nicht zum politischen oder philosophischen Kommentar sondern als Ausgang einer intimen Liebesgeschichte. Henry reist zumeist in seine eigene Vergangenheit, sieht seine verstorbene Mutter oder besucht seine Frau Clare in ihrer Kindheit. So kommt es dann auch, dass Clare Henry schon seit 14 Jahren kennt, als sie ihm zum ersten Mal begegnet. Und da Henry auf seinen Reisen immer nackt ankommt, nicht einmal die Plomben in seinen Zähnen behält, erklärt sich uns damit auch das Coverphoto. Clares Position im Roman ist die der wartenden Penelope, die ihren Odysseus auf gefährlichen Reisen wähnt. Der Roman eröffnet aber nicht die Diskussion um historische Perioden, es finden sich keine Kommentare auf die Zeit und selbst die Anschläge vom 11. September 2001 bleiben im Roman unberührt. Henry und Clare wissen was passieren wird und schauen am Fernseher gebannt zu. Kein Versuch des Eingreifens, keine metaphysische Diskussion um die Unausweichlichkeit der Zeitlinien oder die Gefahr eines Paradoxes. Wie wir aber bereits festgestellt haben ist die Zeitreise als Trope ebenso Bestandteil der ›romance novel‹, wo sie ideal dazu geeignet ist, Liebe als menschliche Institution zu zeigen, die sogar die »boundary of time« zu überwinden vermag.44 So wird in diesen Romanen zumeist eine moderne Frau in eine frühere Zeit transportiert, um dort den Mann ihres Lebens in der Vergangenheit zu finden oder umgekehrt ein ›historischer‹ Mann reist in die moderne Zeit, um hier mit einer modernen Frau die Liebe zu finden. Diane Calhoun-French beschreibt die Dynamik solcher Romane als: »conflict generated by the clash of opposing cultures and epochs«45 und sieht den Reiz dieses Konzepts in der Aufhebung des Dilemmas der ›romance novel‹ einerseits Realismus andererseits zeitlich perspektivierten Exotizismus liefern zu wollen. Die Tradition der ›romance‹ als exotischer Abenteuergeschichte (u.a. in der ›gothic novel‹ oder der ›historical romance‹) verweigert einen Zugang zum modernen Frauenbild, das seit den 70er Jahren für das Publikum immer relevanter wurde. Mit Hilfe der Zeitreise aber gelingt es, historisch-exotische Schauplätze mit diesem eigenständigen und mo-

43 Audrey Niffenegger, The Time Traveler’s Wife, Orlando: Hartcourt, 2003, 389. 44 Calhoun-French, »Time-Travel and Related Phenomena«, 101. 45 Ebd. 102.

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dernen Frauenbild zu vereinen und so vermeintlich historische Authentizität in den Romanen zu installieren. So muss nicht etwa die Southern Belle des 19.Jahrhunderts mit anachronistisch modernen Zügen versehen werden, sondern die moderne Frau der 1980er Jahre darf dank Zeitreise, z.B. in Constance O’Day Flannerys Timeless Passion, ihre Antebellum-Liebe finden und so die Nostalgie nach dieser historischen Epoche in Vertretung einer sich die Vergangenheit mit ihrem ›gentleman farmer‹ herbeisehnenden Leserschaft ausleben. CalhounFrench bemerkt aber in ihrem Artikel auch, dass diese Sehnsucht und diese Art der Zeitreise-Romane gerade nicht den sozialen Konflikt der modernen Frau gegenüber einer misogynen Zeit thematisieren, sondern im Gegenteil »negative behaviors toward and destructive stereotypes about women« bestätigen würden.46 Eine Auseinandersetzung mit den sozialen Veränderungen der Zeit würde nicht thematisiert, sondern durch eine »nostalgia for a non-existent, idealized past« ersetzt, die die Ungerechtigkeiten nur verdecke.47 In Niffeneggers Roman wird diese historische Schablone der »Timeswept Romance« nicht aufgegriffen. Henry ist weder der Vertreter einer ersehnten historischen Epoche, noch reist er in eine solche. Vielmehr sind seine Reisen auf unterschiedliche, sehr familiäre Momente seines Lebens beschränkt, die sich bis auf wenige Ausnahmen alle innerhalb eines Zeitrahmens von ca. 50 Jahren abspielen, der sich zum Großteil mit der Lebenszeit von Clare deckt. Dadurch entsteht nicht der Konflikt sich entgegenstehender Kulturen und der Exotizismus des Romans ist weder in Zeit noch Ort verankert. Vielmehr schreibt Niffenegger die Genrekonvention des »exoticism, in the traveling of the mind to new continents, new worlds, new adventures«48 ihren Protagonisten selbst ein, dessen Lebensumstände mehr als exotisch sind, und dessen unerwartete Auf- und Abtritte für die »new adventures« sorgen. Die Sehnsucht, die im Roman zum Ausdruck kommt, besteht von daher nicht in der Suche nach einer idealisierten Vergangenheit, sondern in der Suche nach einer Gewissheit über Leben, Liebe und den Partner, oder wie Kate Zambreno es ausdrückt: »a yearning to uncover the mystery of our lover’s childhood - a nostalgia for a past we can never know except through photographs«.49 The Time Traveler’s Wife mit seiner zentralen Trope der Zeitreise ist also weder eindeutig der Science Fiction noch der ›romance novel‹

46 Calhoun-French, »Time-Travel and Related Phenomena«, 109. 47 Ebd. 48 Anne Kaler, »Conventions of the Romance Genre«, Romantic Conventions, ed. A. Kaler and R. Johnson-Kurek, Bowling Green: Bowling Green State UP, 1999, 5. 49 Kate Zambreno, »Audrey Niffenegger: Woman on the Edge of Time«, The Independent, 23.01.2004, Abs. 8.

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zuzuordnen, sondern etabliert sich als hybrider Text zwischen diesen beiden Genres, wie Audrey Niffenegger es selbst im Interview mit der Times London in ihrer Haltung gegenüber literarischen Konventionen bestätigt: »That’s the whole joy of fiction. Why write fiction if you’re not going to expand it?«.50 Niffenegger nutzt die Zeitreisefähigkeit von Henry als transgressives Moment, um die Konventionen der beiden Genres gegeneinander auszuspielen. In der Kritik der ›romance‹ wurde aber gerade die dadurch entstehende »built-in inevitability« problematisiert, die Clare in eine wartende Position zwingt.51 Der Roman beschreibt durch die zeitlich bereits vorherbestimmte Liebe eine Gefühl des Wartens. Keiner der Protagonisten ist in der Lage mit freiem Willen zu handeln, da doch immer die Zeitreise schon die Handlung bereits bestimmt hat. »That’s actually what the title, for me, really means,« [Niffenegger] says. »The book itself is really about the marriage. Henry is not only married to Clare; he’s also married to time.« But if Henry is married to time, then Clare is time’s widow, fated to live according to another’s clock.52

Auf der anderen Seite sieht die SF Kritik den Roman ebenso problematisch. Statt das Novum der Zeitreise rational auszuschöpfen, so Amidon, sei der Roman diesbezüglich inkonsequent und verwirrt: Although the time-travelling device allows the author to examine her central love affair from a fresh perspective, she seems not to have thought through many of its other implications. […] Does Niffenegger really intend her characters to be this monstrously selfabsorbed? To be sure, earlier in the novel, Henry has expressed a reluctance to use his travels to influence real-time events, although this doesn’t stop him from orchestrating an $8m lottery jackpot to buy a dream house. This confusion suggests an author who is ultimately over her head with the time-travel conceit. Having bestowed on her lead character such a remarkable gift, Niffenegger seems overwhelmed by her own generosity.53

Was Amidon hier kritisiert ist der fehlende logische Aufbau der Welt. Wenn man die Möglichkeit hat, in der Zeit zu reisen, dann hat man auch die Möglichkeit die Zeitlinien zu verändern, Einfluss auf die Welt zu nehmen – was Henry

50 Andrew Billen, »Success was all a matter of time«, The Times, 28.03.2006, Abs. 4. 51 Zambreno, »Audrey Niffenegger«, Abs.15. 52 Ebd. Abs. 12. 53 Stephen Amidon, »Review: The Time Traveller’s Wife [sic] by Audrey Niffenegger«, The Times, 25.01.2004, London, Abs. 5/6.

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auf egoistischer Ebene auch tut, was aber in Bezug auf die Welt des Romans keine Bedeutung hat. Die Zeitreise ist das zentrale Motiv des Romans, aber sie ist für Niffenegger nur das Mittel zum Zweck einer transgressiven Innovation von Genregrenzen. Das hat sicherlich einerseits mit Marketing und Positionierung des Buches auf dem hart umkämpften Markt zu tun, ist aber auch in Bezug auf die Interpretation des Romans wichtig. Denn die zentrale Abweichung von den Konventionen der ›romance novel‹, sowie der Science Fiction erlaubt Niffenegger eine produktive Verhandlung gerade der für die Zeitreise typische Aspekte beider Genres. In Bezug auf die Science Fiction bietet die egoistische und persönliche Orientierung Henrys und seine konsequente Weigerung seinen genetischen Defekt für soziale oder politische Veränderungen oder Kommentare zu nutzen einen Blick auf die in der SF typische Haltung zu Weltverbesserung und Heldentum. Henry ist eben kein Held und die Welt bedarf seiner Meinung nach auch keiner Rettung. Niffenegger verleiht einem ganz normalen, egoistischen und fehlerbehafteten Menschen eine heldenhafte Fähigkeit und statt sich in philosophischen Diskussionen um Verantwortung und Macht zu ergehen, lässt sie ihn sehr menschlich handeln: leicht ignorant, egoistisch und auf seine eigene, kleine Welt bedacht. In Bezug auf das Genre ›romance novel‹ bietet der Roman sogar noch mehr Transgression, da Niffenegger die Zeitreise aus ihrem »Timeswept Romance«Schema befreit und somit die Sehnsucht nach Liebe nicht in einer idealisierten Vergangenheit verankert. Der Roman verweist auf das Exotische und Abenteuerliche in unserer Existenz, in unserem Verhältnis zur idealen Liebe und zur Zeit, wie David Sexton bemerkt: In its way, The Time Traveler’s Wife is a universal story, despite the gimmick. For we all live a strange existence in time, rarely content in the present, always haunted by our pasts, ceaselessly hoping for a better future, connecting with one another only fleetingly, often feeling ourselves to be in the wrong place, at the wrong time. We are all helplessly shifted through time - and we become most conscious of that captivity when we are in love.54

So hält Natascha Walter The Time Traveler’s Wife für eine Liebesgeschichte, die eine magische Welt aufzeigt, in der durch die Zeitreisen eine Art sehnsuchtserfüllte Perfektion der Normalität erreicht werden kann, in dem die ›Magie‹ (oder besser die SF) »serves to smooth out the rawness of lived experience«.55 Walter hält diese Form von Vorherbestimmung für quasi-religiös, für einen »evanescent

54 David Sexton, »Backwards and Foreplay«, Evening Standard, 12.01.2004, Abs. 13. 55 Natascha Walter, »Back to the Future«, The Guardian, 31.01.2004, Abs. 8.

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comfort of a vague spirituality« und kritisiert dies als dem Potential des Buches abträglich.56 Doch der Roman ist eben nicht ›spirituell‹ sondern das zentrale Motiv basiert auf einer genetischen Mutation Henrys, und er wird wie Billy Pilgrim Opfer dieser unfreiwilligen Zeitreisen. Zwar kann er sich den einen oder anderen (Geld-)Traum erfüllen, doch er bleibt den Gesetzen der Zeitreise ausgeliefert und kann so seinen eigenen, grausamen Tod nicht abwenden. Niffenegger selbst formuliert diesen Grundgedanken im Interview mit Lisa Allardice wie folgt: »If anything, I’m postulating a kind of randomness and meaninglessness. There is nothing in the book that I intended to be read as affirming some kind of religion. My own view is fairly dark«.57 Und genau durch diese nicht aufzulösende Dualität zwischen Normalität und herausragender Sonderlichkeit bestätigt The Time Traveler’s Wife die Genrekonventionen der ›romance novel‹ teilweise, um sie zugleich zu unterlaufen. So ist Henry beispielsweise durch seine Lebensumstände sehr wohl ein »outsized character«, aber gerade in Hinsicht auf seine Physis keiner der stereotypen »hunks or heroes«, wie Kaler die männlichen Protagonisten der ›romance novel‹ beschreibt.58 Konventionell ist sicherlich auch die Menge an außergewöhnlichen Wendungen, die »u-turns in love, the sharp veering ironies of human conditions, the coincidences of love«, die die Liebesgeschichte überstehen muss.59 Im Gegensatz dazu ist das vom Roman postulierte »Utopia zwischen zwei Buchdeckeln«60 jedoch alles andere als utopisch. Jeder wichtige Moment ihres gemeinsamen Lebens wird von den Zeitsprüngen beeinflusst, so muss Clare etwa Henrys älteres Ersatz-Ich heiraten, weil der Bräutigam in der Zeit verschwunden ist. Und auch die Zeugung ihrer Tochter wird einzig durch ein jüngeres Ich Henrys möglich, das für einen One-Night-Stand auftaucht, während der ›aktuelle‹ Henry friedlich neben Clare schläft. Diese erotischen Beziehungen mit älteren oder jüngeren Varianten ihres Mannes sind es dann auch, die für »exoticism« und »eroticism« im Roman sorgen und so eine weitere Konvention des Genres bestätigen und zugleich unterlaufen.61 Henry ist kein exotischer Fremder, sondern Clares Ehemann und doch haben ihre ›Abenteuer‹ dank der Zeitsprünge eine seltsam exotische Note, wie etwa wenn ein Henry mittleren Alters die gera-

56 Ebd. Abs. 9. 57 Ebd. Abs. 7. 58 Kaler, »Conventions of the Romance Genre«, 5. 59 Ebd. 6. 60 Vgl. ebd. 61 Ebd.

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de einmal 18-jährige Clare verführt – obwohl er mit ihrem ›aktuellen‹ Ich gerade eine Krise durchlebt. Die größte Spannung zwischen ›normal‹ und ›besonders‹, und auch die größte Innovation in Hinsicht auf die hybride Genrefunktion, entsteht jedoch in Niffeneggers Variante des Happy Endings. Anne Kaler sieht das Ende als wichtigste Konvention des Genres und die Kunst der ›romance novel‹ darin, »when the story unfolds seamlessly, [and] the conclusion ties all loose ends together in a happy ending«.62 Das Happy End von The Time Traveler’s Wife ist nur bedingt als ›happy‹ zu bezeichnen, da Niffenegger sich einer konsequent logischen Ausarbeitung des Novums bedient. Da Henry bei jeder Zeitreise erscheint, war es logisch notwendig, dass er auch mit den Jahreszeiten konfrontiert wird. Und so müssen Henry am Ende des Romans wegen massiver Erfrierungen die Füße amputiert werden, was schließlich bei einem weiteren Zeitsprung seinen Tod auslöst. Diesem zerstörerischen Ereignis hat Clare bereits als Kind unwissentlich beigewohnt, doch alle Versuchen dem Erfrierenden Henry zu Hilfe zu kommen scheitern. Henry stirbt viele Jahre vor Clare, die aber bis ins hohe Alter hinein alleine auf einen weiteren Besuch ihres zeitreisenden Ehemanns wartet. Henry hatte seiner Frau einen Abschiedsbrief hinterlassen, in dem er ihrem achtzigährigen Ich einen Besuch angekündigt hat. Somit wird das Happy End mit vierzig Jahren Verspätung doch noch möglich. In diesem Happy End schwingt ein stark problematischer Unterton mit, denn Clare wird durch den genetischen Defekts ihres Mannes jeglicher Optionen beraubt und kann sich nur einem vorherbestimmten Leben ergeben. Der Reiz einer ungewissen Zukunft und die daraus resultierenden Entscheidungsmöglichkeiten bleiben ihr vollkommen verwährt. In diesem problematisierten Happy End sehe ich eine Verhandlung der Genrekonvention, nach der das Glück der Liebe vom Schicksal vorherbestimmt ist. Die Kritik des Romans, und sein Potential als hybrider Text, liegt in der Einschränkung jeglicher Entscheidungsfreiheit durch die Konventionen der ›romance novel‹ im Allgemeinen, und der »Timeswept Romance« im Speziellen. Niffenegger verweist mit ihrem Ende zwar auf die schicksalshafte Liebe ihrer beiden Protagonisten, doch in dem Bild der wartenden 80-jährigen Clare liegt auch eine gewisse Traurigkeit, da diese vierzig Jahre Einsamkeit ertragen musste, um ihren Mann wieder zu sehen.

62 Ebd. 1.

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UND DIE › REALIST NOVEL ‹

Meine zweite Beispielanalyse für die produktive Nutzung hybrider Texte zur Innovation eines Genres ist William Gibsons Roman Pattern Recognition, ebenfalls aus dem Jahre 2003. Im Falle von Gibson sind die Genrezuordnung und die Transgression aber grundsätzlich andere als bei Audrey Niffenegger, da Gibson vor Pattern Recognition bereits sieben Romane und diverse Kurzgeschichten geschrieben hatte, die allesamt dem Bereich der Science Fiction zugeordnet werden können. Sein Debütroman Neuromancer begründete 1984 das CyberpunkSubgenre, »burst onto the science fiction scene like a supernova«, wie Larry McCaffery sich ausdrückte, und wurde zum ersten Roman »to win the triple crown [of SF] – Hugo, Nebula, and Philip K. Dick awards«.63 Gibson gilt als einer der wichtigsten Science Fiction Autoren der Postmoderne, Kritiker wie Fredric Jameson, Brian McHale und Darko Suvin haben über seine Arbeiten geschrieben, und sein in Neuromancer entwickelter Neologismus ›cyberspace‹ brachte ihm sogar einen Eintrag im OED ein. Pattern Recognition ist daher, noch bevor wir einen einzigen anderen Paratext in Betracht ziehen, sehr stark mit dem Genre der Science Fiction verbunden. Zusätzlich verweisen der Titel und das Cover des Romans ebenfalls auf einen solchen interpretativen Rahmen: Das Bild einer Frau vor dem Hintergrund geometrischer Formen, aufgebrochen in Teilausschnitte und verschwommen im Fokus, dazu eine Ausstanzung, die eine weitere Bildebene offen legt und zugleich das eigentliche Motiv verdeckt. Assoziationen von Digitalisierung, Abstraktion, komplexen Strukturen und dem Verlust der Identität durch Splitterung werden beim Anblick dieser Umschlaggestaltung wach und verweisen so auf prototypische Themenkomplexe der Science Fiction. Doch bei genauerer Untersuchung der Geschichte entpuppt sich Gibsons Roman als hybrider Text zwischen Science Fiction und realistischem Roman. SF-Autor Paul DiFilippo nennt den Roman: »Gibson’s not-quite-sf but notexactly-not-sf-thriller, a book that seeks to prove that to write a truly plugged-in contemporary mimetic novel is inescapably to write science fiction«.64 Und auch Rudy Rucker schreibt in Wired: »In Pattern Recognition […Gibson] goes acoustic, unplugging the overt sci-fi tropes that have marked his work and producing a mainstream product«.65 Das Erstaunen der Kritiker angesichts Gibsons Transgression des Genres kennt kaum Grenzen, vor allem da dieser bislang als Pro-

63 McCaffery, Storming the Reality Studio, 263. 64 Paul DiFilippo, »Prophets and Losses«, Washington Post, 30.01.2003, BW04. 65 Rudy Rucker, »Logomancer«, Wired 11.2 (2003).

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phet einer technologisierten nahenden Zukunft galt und mit Pattern Recognition einen Roman abgeliefert hat, der im Jahr 2002 nach den Anschlägen des 11. September spielt. Dieser Drang aus der Zukunft in die Gegenwart wird von einigen Kritikern als Anzeichen einer Abkehr von Science Fiction gelesen, was Gibson selbst aber gar nicht so sieht, da er die Vorhersage einer möglichen Zukunft, so Lisa Zeidner in ihrer Kritik des Romans, aus Sicht eines Autors für »a matter of managing not to blink as you witness the present« hält. Eine Auseinandersetzung mit der Zukunft kann zwar, wie LeGuin es festgestellt hat, als ein prototypisches Motiv der Science Fiction verstanden werden, gilt aber nicht als notwendige Bedingung einer Genrezugehörigkeit. Insgesamt lässt sich bei der inhaltlichen Analyse feststellen, dass Pattern Recognition nicht mit den prototypischen Motiven aufwartet, vielmehr handelt der Roman von Marken, Medien, Kunst und dem Internet. Es finden sich im Roman weder Raumschiffe, noch Zeitreisen oder sonstige »icons« der Science Fiction. Neben inhaltlichen Motiven besteht natürlich noch die Möglichkeit der Einhaltung anderer Genrekonventionen, die es nun zu untersuchen gilt. So postuliert Gibsons Roman zwar ein Novum, nämlich die Existenz einer anonymen und neuartigen Kunstform (die Footage), die im Internet weltweit eine Anhängerschaft gewinnt, doch das Novum hält nicht der Definition von Suvin stand. Es ist weder das zentrale narrative Element, noch eine signifikante Abweichung von der Realität. Vielmehr funktioniert es im Stile eines Detektivromans als McGuffin, um Hitchcocks Begriff zu verwenden. Es ist das oberflächliche Ziel der Suche der Protagonistin, wird aber im Verlauf der eigentlichen Charakterentwicklung immer unwichtiger. Darüber hinaus ist die Footage keine wirkliche Abweichung von unserer Realität, wie ich an anderer Stelle anhand eines Vergleichs der Footage mit Alternate Reality Games wie etwa Nine Inch Nails Year Zero gezeigt habe.66 Und auch die semiotische Allergie, die Cayce mit schwersten (psycho-)somatischen Symptomen auf Markenartikel reagieren lässt, und die sie beruflich wegen ihrer besonderen Empfindlichkeit für Trends und Logos zum in der Marketingwelt stark begehrten Coolhunter macht, funktioniert nicht als Novum der Geschichte. So ist Cayces Allergie zum einen nicht wissenschaftlich begründet, sondern wird als ›unerklärliches Phänomen‹ von den Figuren akzeptiert. Zum anderen ist ihre Funktion im Roman darauf beschränkt, eine Begründung zu liefern, warum gerade Cayce die Suche nach dem Erschaffer der Footage be-

66 Vgl. Lars Schmeink, »Rätselhafte Kunst – Zum Verhältnis von Kreativität, Konsum und Autorschaft im 21. Jahrhundert«, Post-Coca-Colanization: Zurück zur Vielfalt?, ed. S. Komor und R. Rohleder, Frankfurt: Lang, 2009, 211-30.

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ginnen soll, im weiteren Verlauf der Suche jedoch wird die Allergie zu einer trivialen Nebensache. Wenn aber nicht das Novum innerhalb eines SF-Rahmens funktioniert, wie kommt es dann, dass in der Kritik der Roman dennoch immer wieder zumindest teilweise der Science Fiction zugeschrieben wird? Meiner Meinung nach liegt es an der Welt, die Gibson im Roman entwirft, die obwohl sie nicht signifikant von der realen Welt abweicht dennoch auf die Genrekonventionen von »estrangement« und »cognition« zurückgreift. Gibson gelingt es sprachlich die heutige Welt so darzustellen, dass sie wie eine Science Fiction Welt wirkt. Paul DiFilippo beschreibt dies wie folgt: It’s all there: the close observation of the culture’s bleeding edge; an analysis of the ways technology molds our every moment; the contrasting of boardroom with street; the impossibility and dire necessity of making art in the face of instant co-optation; the damaged loner facing the powers-that-be, for both principle and profit; cyberspace as consensual hallucination. All his patented tropes and concerns are here, without the artifice of futuristic skins, the very world of 1980s cyberpunk having sprung up around us while we weren’t paying attention. In other words, everything’s changed, while nothing’s changed at all.67

Gibson Darstellung der Welt entspricht konventionell der des realistischen Romans, indem sie ein Höchstmaß an Nähe zur realen Welt aufweist. So spielt der Roman etwa geographisch in New York, London, Tokio und Moskau, im Gegensatz etwa zu Neuromancer, dessen Handlung im futuristischen Sprawl der Ostküste der ehemaligen USA stattfindet. Und auch in Bezug auf die politische, soziale und ökonomische Realität der Welt verwendet Pattern Recognition realistische Bezüge, wie etwa die Verweise auf den Zusammenbruch des Kommunismus, die Anschläge des 11. September, die globale Markenwelt oder die tatsächlich existenten Markennamen (z.B. Apple) verdeutlichen. Je mehr solcher realer Bezüge im Roman zu finden sind, desto glaubwürdiger wirkt die Welt innerhalb der Konventionen des ›realistischen Romans‹. Doch Gibson nutzt eine Transgression der Genregrenzen, um seine ›realist novel‹ in einen hybriden Text zu verwandeln, in dem er mit den stilistischen Mitteln der Science Fiction arbeitet: Er greift auf Neologismen zurück und verwendet Begriffe und Konzepte, die den meisten Menschen ohne explizite Erklärung unzugänglich sind und einzig durch absent paradigms erarbeitet werden können, wie das folgende Textbeispiel aus Pattern Recognition verdeutlicht:

67 DiFilippo, »Prophets and Losses«, BW04.

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She uses the remote as demonstrated, drapes drawing quietly aside to reveal a remarkably virtual-looking skyline, a floating jumble of electric Lego, studded with odd shapes you wouldn’t see elsewhere, as if you’d need special Tokyo add-ons to build this at home.68

Mit dieser Landschaftsbeschreibung gelingt es Gibson, die reale Welt Tokios in den interpretativen Rahmen des Cyberspace zu stellen, in dem der Nutzer nur durch Hilfswerkzeuge und zusätzliche Programmroutinen in der Lage ist bestimmte Anwendungen oder Files zu öffnen. Die Sprache der IT wird in Verbindung mit realer Architektur zum Code. In Gibsons Beschreibung verschwimmen Technologie und urbane Realität zu einem zu entschlüsselnden absent paradigm. Ein anderes Beispiel: Cayce geht durch die Straßen von Roppongi, einem realen Stadtteil von Tokio: »Now it’s been Blade Runnered by half a century of use and pollution, edges of concrete worn porous as coral. […] Roppongi [...is] one of those interzones, a border town of sorts, epicenter of the Bubble’s crosscultural sex trade«.69 Zum einen finden sich in dieser Beschreibung intertextuellen Bezüge auf Ridley Scotts Film Blade Runner und auf William S. Burroughs Roman Naked Lunch (»interzones«), die einerseits auf das SF-Subgenre Cyberpunk verweisen70, andererseits aber auch eine konkrete Ästhetik und Beschreibung der Gegend evozieren, die an das Buch bzw. den Film angelehnt sind. Doch selbst diese Ästhetik kann streng genommen nur durch eine Mutmaßung erschlossen werden. Abseits der Intertextualität sind aber auch die Verweise auf die »Bubble« und den Sexhandel für den normalen Leser explizit nicht erschlossen. In dieser Passage des Romans dienen die nicht erklärten Paradigmen von Cyberpunk, SF und der asiatischen Kultur der 90er Jahre als Ersatz für detaillierte Beschreibungen der Umgebung. Ohne das in ihnen verschlossene Wissen zu entdecken, bleibt die Passage nicht interpretierbar. Wie sich also an diesen Beispielen deutlich machen lässt, verwendet Gibson in Pattern Recognition die narrative Haltung der SF und schreibt aus einer fremdartigen Kultur heraus

68 William Gibson, Pattern Recognition, New York: Berkley, 2003, 130. 69 Ebd. 151. 70 Scotts Film gilt für das Genre Cyberpunk als ästhetischer Meilenstein, auch wenn die literarische Vorlage von Philip K. Dick eher der ›New Wave of SF‹ zugerechnet werden muss. Und sowohl William S. Burroughs, als auch P.K. Dick, werden von Bruce Sterling gerne als wichtige Einflüsse auf Cyberpunk im Allgemeinen und William Gibson im Speziellen genannt (vgl. dazu Sterlings Einleitungen zu William Gibsons Kurzgeschichten-Sammlung Burning Chrome, sowie zur von Sterling selbst editierten Anthologie Mirrorshades).

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für einen Initiierten, so dass der Leser dazu gezwungen ist, mit Hilfe von absent paradigms eine Bedeutung zu konstruieren. Hinzu kommt, dass Gibson sich auch in Pattern Recognition seinen neologischen Stil beibehält und kreativ mit Worten spielt. In diesem Fall ersetzt Gibson jedoch seinen technischen Jargon früherer Werke durch eine multimediale Markenwelt, in der iPods, ZX81, Buzz Rickson Jackets, Parco, Hello Kitty, Kogepan oder andere Marken eine eigene Bedeutung in sich tragen, die dem NichtInitiierten verschlossen bleibt, bis er sie in einem absent paradigm liest und ihnen so Bedeutungen entnimmt. Die reale Existenz all dieser Marken und Objekte lässt somit zwar ›verisimilitude‹ zu, verweist aber durch ihre quasineologistische Verwendung im Roman auf zusätzliche, codierte Bedeutungsebenen, die vom Leser erschlossen werden müssen. Durch die Verwendung dieser nahezu hermetischen Verweise, gelingt es Gibson eindrucksvoll einen hybriden Text zu erschaffen, und so der ›realist novel‹ einen futuristischen SF-Anstrich zu verleihen. Gibson schreibt also dem realistischen Roman eine SF-Ästhetik ein, die die bestehenden Genregrenzen in Frage stellt, die aber zugleich auch eine zentrale Sichtweise des Autors auf die heutige, postmoderne Welt des 21.Jahrhunderts offenbart. Der Roman postuliert durch die Aufrechterhaltung der Konventionen die These, dass die Welt von heute sich in vielen Punkten mit den einst imaginierten Zukunftswelten der Science Fiction deckt. Die reale Welt ist für uns ebenso unüberschaubar und unentschlüsselbar geworden wie die Science Fiction von vor zehn, zwanzig oder dreißig Jahren. Ein Blick in die Zukunft scheint undenkbar, SF entspricht daher dem realistischen Modus des Schreibens. Dennis Lim nennt dies den Blick auf das undenkbare Hier und Jetzt und diagnostiziert dem Roman dadurch ein Auslösen von unendlichem Schwindelgefühl.71 Und Gibson erklärt seine Sicht auf das Verschwimmen von Gegenwart und Zukunft im Roman selbst wie folgt: We have no idea, now, of who or what the inhabitants of our future might be. In that sense, we have no future. Not in the sense that our grandparents had a future, or thought they did. Fully imagined cultural futures were the luxury of another day, one in which ›now‹ was of some greater duration. For us, of course, things can change so abruptly, so violently, so profoundly, that futures like our grandparents’ have insufficient ›now‹ to stand on. We have no future because our present is too volatile. […] We have only risk management. The spinning of the given moment’s scenarios. Pattern recognition.72

71 Vgl. Dennis Lim, »How Soon is Now?«, The Village Voice, 11.02.2003. 72 Gibson, Pattern Recognition, 58f.

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S CHLUSSBEMERKUNGEN Nachdem wir im ersten Abschnitt dieses Artikels einen Überblick über die bestehenden Genrekonventionen der Science Fiction erlangt haben, und zur Feststellung gekommen sind, dass Genrepartizipation als Interpretationshilfe, als Richtlinie zur Erlangung der Bedeutung einer Kommunikationsaussage, gesehen werden kann, ist deutlich geworden, dass gerade die Innovationen innerhalb der SF einen besonders starken Anteil ihrer Bedeutung aus der Transgression dieser Genregrenzen beziehen. Kulturelle Bedeutung, gerade auch für die und in der SF, entsteht, wenn Autoren wie William Gibson oder Audrey Niffenegger die Regeln brechen, um so Neuverhandlungen dieser interpretativen Rahmen zu ermöglichen. Niffenegger erweitert die oftmals als formularisch angesehenen Konventionen der ›romance novel‹, indem sie ihrem Roman statt einer fernen Geographie oder historischen Ebene einen sonderbaren und nur im Rahmen der SF zu erklärenden genetischen Defekt als Exotik beifügt. Dadurch ermöglicht sie ihrer Leserschaft, das Normale und Gegenwärtige aus einer neuen Perspektive zu sehen und mit ›Abenteuer‹ zu füllen. So gelingt es ihr, die genretypische Übertreibung und Irrealität des »happy ending – always and in all ways« zu unterlaufen und dennoch zu erfüllen.73 Die Trangression ihres hybriden Textes zwischen ›romance novel‹ und Science Fiction erlaubt für eine nuanciertere Darstellung von Liebe, realistischer und mit Fehlern behaftet, oder wie sie es selbst ausdrückt: »some kind of meditation on what love is all about«.74 Wo Niffenegger ihre Transgression in Richtung der Science Fiction macht, um ihre ›romance novel‹ mit Realität und Normalität anzureichern, da nimmt Gibson den umgekehrten Weg: seine Transgression des realistischen Romans in Richtung Science Fiction zeigt den Verlust von Normalität und historischer Realität. Seine Grenzüberschreitung ist produktiv dahingehend, dass sie uns eine Perspektive der Entfremdung liefert, die die Normalität unserer Welt in Frage stellt. Wir erkennen die Darstellung einer Verschmelzung von Künstlichem und Natürlichem, von Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit. Seine hybrider Text eröffnet eine Welt alles durchdringender Technik und globaler Marken, die wir nicht mehr als Teil einer Zukunftsvision sondern als Teil unserer gelebten Realität erkennen. Science Fiction als Folie fungiert hier als Reflektionsfläche, um den realistischen Roman in Frage zu stellen und die Gegenwart als Spiegelbild einer imaginierten Zukunft zu entlarven. Die Interpretationshilfe Genre erweist

73 Kaler, »Conventions of the Romance Genre«, 4. 74 Zambreno, »Audrey Niffenegger«, Abs. 20.

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sich somit bei diesen hybriden Texten als äußerst produktives Mittel, den Texten eine Bedeutung zu entnehmen, die weit über den inhaltlichen Aspekt hinausgeht.

L ITERATUR Allardice, Lisa. »A Kind of Magic«. The Guardian. 10.10.2005. Amidon, Stephen. »Review: The Time Traveller’s Wife [sic] by Audrey Niffenegger«. The Times. 25.01.2004. London. Amis, Kingsley. New Maps of Hell – A Survey of Science Fiction. New York: Arno Press, 1975. Angenot, Marc. »The Absent Paradigm: An Introduction to the Semiotics of Science Fiction«. Science-Fiction Studies 6 (1979): 9-19. Billen, Andrew. »Success was all a matter of time«. The Times. 28.03.2006. London. Butler, Andrew M. »Between the ›Deaths‹ of Science Fiction: A Skeptical View of the Possibility for Anti-Genres«. Journal of the Fantastic in the Arts 15.3 (2004): 208-16. Calhoun-French, Diane M. »Time-Travel and Related Phenomena in Contemporary Popular Romance Fiction«. Romantic Conventions. Ed. Anne K. Kaler and Rosemary E. Johnson-Kurek. Bowling Green: Bowling Green State UP, 1999. 100-112. Csisceray-Ronay, Istvan, Jr. »Cyberpunk and Neuromanticism«. Storming the Reality Studio: A Casebook of Cyberpunk and Postmodern Fiction. Ed. Larry McCaffery Durham: Duke UP, 1991. 182-193. Coleridge, Samuel T. Biographia Literaria: or, the Biographical Sketches of my Literary Life and Opinions. London: Rest Fenner, 1817. Derrida, Jacques. »The Law of Genre«. Critical Inquiry 7.1 (1980): 55-81. DiFilippo, Paul. »Prophets and Losses«. Washington Post. 30.01.2003. BW04. Fowler, Alastair. »Genre«. International Encyclopedia of Communications. Ed. Erik Barnouw. Vol. 2. New York: Oxford UP, 1989. Gibson, William. Neuromancer. New York: Penguin, 1984. ———. Pattern Recognition. New York: Berkley, 2003. Hirsch, E.D. Jr. »Objective Interpretation«. The Norton Anthology of Theory and Criticism. Ed. Vincent B. Leitch. New York: Norton, 2001. Kaler, Anne K. »Conventions of the Romance Genre«. Romantic Conventions. Ed. Anne K. Kaler and Rosemary E. Johnson-Kurek. Bowling Green: Bowling Green State UP, 1999. 1-9. LeGuin, Ursula »Introduction«. The Norton Book of Science Fiction. Ed. Ursula LeGuin and Brian Attebery. New York: Norton, 1993.

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Lim, Dennis. »How Soon is Now?«. The Village Voice. 11.02.2003. McCaffery, Larry. »An Interview with William Gibson«. Storming the Reality Studio: A Casebook of Cyberpunk and Postmodern Fiction. Ed. Larry McCaffery. Durham: Duke UP, 1991. 263-85. Niffenegger, Audrey. The Time Traveler’s Wife. Orlando: Hartcourt, 2003. Roberts, Adam Charles. Science Fiction. London: Routledge, 2002. Rucker, Rudy. »Logomancer«. Wired. 11.2 (2003). 22. Dezember 2009.

Schmeink, Lars. »Rätselhafte Kunst – Zum Verhältnis von Kreativität, Konsum und Autorschaft im 21. Jahrhundert«. Post-Coca-Colanization: Zurück zur Vielfalt? Ed. S. Komor und R. Rohleder. Frankfurt: Lang, 2009. 211-30. Sexton, David. »Backwards and Foreplay.« Evening Standard. 12.01.2004. Spencer, Kathleen L. »›The Red Sun is High, the Blue Low‹: Towards a Stylistic Description of Science Fiction«. Science Fiction Studies 10 (1), 1983: 35-49. Suvin, Darko. Metamorphoses of Science Fiction: On the Poetics and History of a Literary Genre. New Haven: Yale UP, 1979. Swales, John M. Genre Analysis: English in academic and research settings. Cambridge: Cambridge UP, 1990. Vonnegut, Kurt Jr. Slaughterhouse-Five. New York: Random House, 1969. Walter, Natascha. »Back to the Future«. The Guardian. 31.01.2004. Zambreno, Kate. »Audrey Niffenegger: Woman on the Edge of Time«. The Independent. 23.01.2004. Zeidner, Lisa. »Pattern Recognition: The Coolhunter« New York Times. 19.01. 2003.

Autorinnen und Autoren

Dennis Büscher-Ulbrich ist Postdoktorand am Englischen Seminar der Universität Kiel (CAU) und lehrt Kultur- und Medienwissenschaft. Zu seinen Forschungs- und Veröffentlichungsschwerpunkten zählen u.a. die Lyrik der USamerikanischen (politischen) Avantgarden, Kritische Theorie und Postmarxismus sowie Auditive Kultur und Statdforschung. Derzeit Arbeit an der Veröffentlichung von Dissensual Operations: Bruce Andrews and the Problem of Political Subjectivity. Ein Interview mit Bruce Andrews ist bei Jacket2 erschienen, ein Interview mit Amiri Baraka erscheint in XCP: Cross Cultural Poetics. Nina von Dahlern hat 2012 ihre Promotion in den Geisteswissenschaften abgeschlossen. Sie studierte Amerikanistik, Anglistik, Philosophie, Erziehungswissenschaften und Soziologie in Heidelberg und Hamburg. Ihr Lebenslauf umfasst unter anderem Tätigkeiten als Lehrerin, Dozentin und Journalistin. Zu ihren Veröffentlichungen zählen (mit Andreas Holtz) Kultur – Macht – Politik: Konstruktivismus und die politische Beziehung von Kultur und Macht und The Man Who Hear the Song of Truth: Love as e.e. cummings’ Concept of Reality sowie zahlreiche Artikel zur philosophischen Ethik und Literatur. Claudia Heuer hat zunächst einige Jahre in der Werbebranche gearbeitet. Im Anschluss an Magistra Artium zu Samuel Butlers Erewhon ab 2007 wissenschaftliche Mitarbeiterin bei Prof. Dr. Johann N. Schmidt in Hamburg, Dissertation zum Verhältnis von Postmoderne und Satire im Gegenwartsroman, im Juli 2012 erfolgreich verteidigt. Seit August 2012 ist sie Post-Doc, Humanities am Leuphana College Lüneburg und entwickelt ein Curriculum, das zentrale Konzepte der liberal arts education adaptiert. Stefanie Kadenbach ist ausgebildete Buchhändlerin und hat Amerikanistik, Medienkultur und Anglistik an der Universität Hamburg studiert. Sie promoviert

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zu dem Thema »US-amerikanische TV-Serien« und verdingt sich nach Ablauf eines Promotionsstipendiums als Projektmitarbeiterin in der Bildungsforschung. Verena Keidel studierte Anglistik, Amerikanistik und Neuere Deutsche Literatur an den Universitäten Hamburg und Sheffield. Seit Oktober 2011 lehrt und forscht sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin der Hamburger Anglistik. In ihrer Dissertation setzt sie sich mit Repräsentationen und Transformationen des »Heiligen« im Drama der literarischen Moderne (G. B. Shaw, T. S. Eliot und W. B. Yeats) auseinander. Neben der englischen Literatur des Modernismus und der Vormoderne gilt ihr primäres Forschungsinteresse der anglo-irischen Literatur, der literarischen Darstellung des ersten Weltkrieges sowie der Verhandlung religiöser Diskurse und Motive in der englischen Literatur. Martin Kindermann studierte Anglistik, Ostlavistik und Amerikanistik an der Universität Hamburg. Von 2011 bis 2013 war er Promotionstipendiat am Institut für Anglistik und Amerikanistik der Universität Hamburg; der Titel seiner Dissertation ist »Zuhause im Text: Raumkonstitution und Erinnerungskonstruktion im zeitgenössischen anglo-jüdischen Roman«. Seine Forschungsinteressen sind anglo-jüdische Literatur, religiöse Selbst-Konzeptionen in der britischen Lyrik des 19. Jahrhunderts, Raum und Literatur, literarische Darstellungen von Interkulturralität sowie Erzähltheorie. Sophia Komor war wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Anglistik und Amerikanistik der Universität Hamburg, an dem sie auch zum zeitgenössischen amerikanischen Drama promoviert. Ihr Studium der Amerikanistik, BWL und Philosophie an den Universitäten Bonn und Prag hat sie 2007 mit einer Arbeit über amerikanische Success Literature beendet. Nach einer Regieassistenz am Berliner Ensemble arbeitet sie derzeit als Übersetzerin in Berlin. Rebekka Rohleder hat von 2001 bis 2006 an der FU Berlin Englische Philologie und Geschichte studiert sowie dort von 2004 bis 2007 das Studiengebiet Editionswissenschaft absolviert. Von 2007 bis 2012 war sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Anglistik und Amerikanistik der Universität Hamburg tätig. Derzeit arbeitet sie an ihrer Dissertation zur Interaktion von Text und Raum in den Romanen Mary Shelleys. Ihre Forschungsinteressen sind die Literatur der englischen Romantik (vor allem Mary Shelley und ihr Umfeld), der literarische Raum sowie die Auswirkungen der materiellen und editorischen Form von Texten auf deren Rezeption.

A UTORINNEN UND A UTOREN

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Lars Schmeink, Amerikanist; freier Dozent an der Universität Hamburg und der HafenCity University, Dissertationsprojekt zur posthumanen Science Fiction an der HU Berlin; Vorsitzender der Gesellschaft für Fantastikforschung; Mithg. d. Zeitschrift für Fantastikforschung; Managing Editor des SFRA Review. Ausgewählte Publikationen: »Cyberpunk and Dystopia: William Gibson’s Neuromancer«, Dystopian Narratives (2013); Fremde Welten: Wege und Räume der Fantastik im 21. Jahrhundert (2012, mit H.-H. Müller); Collision of Realities: Establishing Research on the Fantastic in Europe (2012, mit A. Böger). Christian Vogel hat in Hamburg Medienkultur und Amerikanistik studiert. Nach Gastspielen beim Norddeutschen Rundfunk hat er zurzeit ein Engagement beim Deutschen Jugendherbergswerk. Danebe widmet er sich der Kletterpflanzenforschung und schreibt über mediale Repräsentationen urbaner Räume. Jatin Wagle teaches literary and cultural Studies at the Institut für Anglistik/ Amerikanistik of the University of Osnabrück. Currently, he is also completing his doctoral research on T. W. Adorno’s American exile and the translatability of his thought at the Leibniz University of Hannover. Moreover, he is editing with G. Sebald a critical anthology titled Theorizing Social Memories: Concepts and Contexts, which will be published by Routledge in 2014. Earlier, he has taught English and American studies at the SIES College of the University of Mumbai, India and edited the interdisciplinary journal, New Quest. His research interests include Critical Theory of society, migration and diaspora studies. Janina Wierzoch hat 2011 ihr Studium der Anglistik, Medienkultur und Neueren Deutschen Literatur an der Universität Hamburg mit einer Arbeit zur Figur Sherlock Holmes abgeschlossen. Seitdem ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Anglistik und Amerikanistik und lehrt unter anderem zu Filmadaptionen des Detektivs. Gegenwärtig arbeitet sie an einer Dissertation zur Kriegsdarstellung in fiktionalen Medientexten.

Kultur- und Medientheorie Erika Fischer-Lichte, Kristiane Hasselmann, Alma-Elisa Kittner (Hg.) Kampf der Künste! Kultur im Zeichen von Medienkonkurrenz und Eventstrategien November 2013, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-89942-873-5

Sandro Gaycken (Hg.) Jenseits von 1984 Datenschutz und Überwachung in der fortgeschrittenen Informationsgesellschaft. Eine Versachlichung März 2013, 176 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN 978-3-8376-2003-0

Kai-Uwe Hemken Exposition/Disposition Eine Grundlegung zur Theorie und Ästhetik der Kunstausstellung Dezember 2013, ca. 250 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 25,80 €, ISBN 978-3-8376-2095-5

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Kultur- und Medientheorie Annette Jael Lehmann, Philip Ursprung (Hg.) Bild und Raum Klassische Texte zu Spatial Turn und Visual Culture Januar 2014, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1431-2

Kai Mitschele, Sabine Scharff (Hg.) Werkbegriff Nachhaltigkeit Resonanzen eines Leitbildes Oktober 2013, 226 Seiten, kart., 24,99 €, ISBN 978-3-8376-2422-9

Hermann Parzinger, Stefan Aue, Günter Stock (Hg.) ArteFakte: Wissen ist Kunst – Kunst ist Wissen Reflexionen und Praktiken wissenschaftlich-künstlerischer Begegnungen Februar 2014, 400 Seiten, Hardcover, zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2450-2

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Nacim Ghanbari, Marcus Hahn (Hg.)

Reinigungsarbeit Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2013

Juni 2013, 216 Seiten, kart., 8,50 €, ISBN 978-3-8376-2353-6 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften – die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort. Lust auf mehr? Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 13 Ausgaben vor. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften kann auch im Abonnement für den Preis von 8,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]

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