Auf der Grundlage von vierzehn Einzelfällen rekonstruiert Hanne Handwerk Sinn- und Bedeutungsstrukturen inklusiver schul
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German Pages XV, 483 [490] Year 2020
Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XV
Erkenntnisinteresse und Ziel (Hanne Handwerk)....Pages 1-5
Theoretische Rahmung (Hanne Handwerk)....Pages 7-45
Anlage und Durchführung der Studie (Hanne Handwerk)....Pages 47-61
Ebene der Institutionen (Hanne Handwerk)....Pages 63-77
Ebene der Schülerinnen und Schüler (Hanne Handwerk)....Pages 79-329
Ebene der Lehrpersonen (Hanne Handwerk)....Pages 331-424
Ebene der Geschäftsführung (Hanne Handwerk)....Pages 425-434
Dimensionierung (Hanne Handwerk)....Pages 435-442
Modellbildung (Hanne Handwerk)....Pages 443-451
Zusammenführung der Befunde und Ausblick (Hanne Handwerk)....Pages 453-461
Back Matter ....Pages 463-483
Hanne Handwerk
Inklusion als Ausdrucksgestalt Rekonstruktive Inklusionsforschung an Freien Waldorfschulen
Inklusion als Ausdrucksgestalt
Hanne Handwerk
Inklusion als Ausdrucksgestalt Rekonstruktive Inklusionsforschung an Freien Waldorfschulen Mit einem Geleitwort von Prof. Dr. Dieter Katzenbach
Hanne Handwerk Bad Soden am Taunus, Deutschland
ISBN 978-3-658-27555-6 ISBN 978-3-658-27556-3 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-27556-3 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer VS © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informa tionen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany
Geleitwort
Der mit der Ratifizierung der UN‐Behindertenrechtskonvention einhergehende, menschenrechtlich fundierte Anspruch auf inklusive Bildung stellt das Schulsys‐ tem vor große Herausforderungen. Das gilt nicht nur für staatliche Schulen, son‐ dern auch für die Schulen in freier Trägerschaft – so auch für die Freien Waldorf‐ schulen. Auch die Waldorfpädagogik hat die organisatorische Trennung zwischen Regel‐ und Förderschulen reproduziert, wobei aus heutiger Sicht rückblickend angefragt werden kann, ob diese Trennung im Einklang mit den Grundprinzipien der Bildungsphilosophie der Waldorfpädagogik stand. Egal wie man diese Frage beantwortet: Auch die Freien Waldorfschulen sehen sich mit dem Gebot der In‐ klusion konfrontiert, und sie stellen sich zunehmend dieser Herausforderung. In überaus akribischer Weise ist Hanne Handwerk in ihrer Studie nun der Frage nachgegangen, wie die Schulen mit diesen Herausforderungen umgehen. Sie ordnet sich dabei dem Paradigma Rekonstruktiver Inklusionsforschung zu, in‐ dem sie eben nicht nach quantifizierbaren (Erfolgs‐) Parametern inklusiver Bil‐ dung Ausschau hält, sondern vielmehr den „Sinn‐ und Bedeutungsstrukturen in‐ klusiven Unterrichtens für Prozesse von Bildung und Individuierung der Schülerinnen und Schüler“ (S. 23) nachgeht. Ihre Rekonstruktionen exemplarisch ausgewählter Bildungsbiographien be‐ rühren durch die Dichte und durch ihre Nähe zum Fallgeschehen in der je indivi‐ duellen Dramatik einer Lebensgeschichte, sie überzeugen aber auch durch die Herausarbeitung überindividueller Schlüsselthemen, die über den Einzelfall weit hinausweisen. Es sind die Dimensionen Körper/ Leib auf der einen und Zeit auf der anderen Seite, die in ihrer Verwobenheit als fallübergreifend herausstechen. Eindrücklich zeigt Hanne Handwerk an ihren Fallbeispielen auf, wie sehr sich – gerade prekäre – Bildungsverläufe einer rigiden Zeittaktung entziehen und wie sehr sie dem Risiko des Scheiterns unterliegen, wenn sie dennoch – wie im staat‐ lichen Schulwesen üblich – dieser strengen Zeittaktung unterworfen werden. Den Freien Waldorfschulen stehen hier Freiräume offen, die sie in den unter‐
VI
Geleitwort
suchten Fällen konstruktiv zu nutzen wussten, was nachweislich zum Bildungser‐ folg der Schülerinnen und Schüler maßgeblich beigetragen hat, diesen vielleicht überhaupt erst ermöglicht hat. Hanne Handwerks Studie zeigt aber auch, dass vor überhöhten Heilserwar‐ tungen an inklusive Bildung gewarnt werden muss. Das Fallbeispiel Quirin de‐ monstriert eindrucksvoll, wie angesichts einer progredienten Erkrankung Gefühle der Fremdheit – sowohl im eigenen Körper wie auch in der sozialen Um‐ gebung und damit auch der Lerngruppe – ein ständiger Wegbegleiter der Bil‐ dungsbiographie des jungen Mannes waren. Hier ist an Reisers heutzutage leider etwas in Vergessenheit geratene Theorie integrativer Prozesse zu erinnern, die darauf hingewiesen hat, dass Integration auf der innerpsychischen Ebene eben auch ein anstrengendes und zuweilen schmerzhaftes Geschehen ist. Eine besondere Stärke, vielleicht sogar ein Alleinstellungsmerkmal der Stu‐ die ist es, dass Hanne Handwerk die Rahmung der individuellen Bildungsbiogra‐ phien dezidiert in den Blick nimmt. Gegenstand ihrer Analysen sind daher auch die Peer‐Beziehungen, der Unterricht, das professionelle Selbstverständnis der Lehrerinnen und nicht zuletzt auch die organisationale Ebene, die durch Inter‐ views mit den Geschäftsführungen erfasst wird. So liefert die Studie eine Fülle substanzieller Erkenntnisse zu Prozessen in‐ klusiver Bildung, von denen einige spezifisch für die Situation an Freien Waldorf‐ schulen sind, von denen vielen aber auch eine grundlegende Bedeutung für den Inklusionsdiskurs insgesamt zukommt. Juni 2019 Dieter Katzenbach
Dank
Drei Persönlichkeiten haben die Realisierung meines Forschungsprojektes in be‐ eindruckender Weise gefördert: Von erziehungswissenschaftlicher Seite war dies Prof. Dr. Dieter Katzenbach von der Goethe‐Universität Frankfurt. Ihm danke ich dafür, dass er mir nie „Be‐ rater“ war, sondern sich meinen Anliegen mit Ruhe zuwandte, Fragen dazu stellte und mir zeigte, dass der Gegenstand Inklusion für ihn auch auf einem fremden Feld interessant werden kann. Mit seiner Stringenz und den oft kon‐ trastiven Perspektiven gab er mir immer wieder eine Möglichkeit, von den faszi‐ nierenden Nebenthemen, die im Laufe des Forschungsprozesses aufkamen, zur zentralen Frage zurückzufinden. Für meine Arbeit hätte ich mir keinen besseren Begleiter denken können! Für die Finanzierung des Projektes sorgten Christian Boettger von der Päda‐ gogischen Forschungsstelle beim Bund der Freien Waldorfschulen Stuttgart und Wilfried Schneider von der Michael‐Stiftung Darmstadt. Beide setzten sich von Anfang an mit außergewöhnlichem Engagement dafür ein, dass ich meine Fragen zur Inklusion an Freien Waldorfschulen nach wissenschaftlichen Kriterien unter‐ suchen konnte. Ihre großzügige und freilassende Förderung über sieben Jahre ermöglichte es mir, die Studie erkenntnisoffen im Interesse der Sache zu reali‐ sieren. Ihnen gilt mein besonderer Dank! Danken will ich auch den Schülerinnen und Schülern, den Lehrpersonen sowie den Persönlichkeiten aus Geschäftsführung und Verwaltung der vier Schu‐ len, die sich nicht allein Zeit nahmen für meine unbequemen Fragen und Anlie‐ gen, sondern die auch bereit waren für Interviewgespräche und Gruppendiskus‐ sionen, einschließlich video‐ oder audiographischer Aufnahmen im Unterricht und in Konferenzen. Ich danke den Kolleginnen und Kollegen der Goethe‐Universität Frankfurt sowie der Johannes‐Gutenberg‐Universität Mainz, die aus einem gemeinsamen Erkenntnisinteresse mein Projekt unterstützten, indem sie sich in zahlreichen Kolloquien über mehrere Stunden hinweg mit meinem Material beschäftigten, Gedankenexperimente entwarfen und erste Strukturhypothesen ableiteten. Hier
VIII
Dank
denke ich zuerst an Ulrich Oevermann, der sich im Rahmen seiner Forschungs‐ praktika viel Zeit nahm und durch ausführlichstes Interpretieren winziger Sequenzstellen mit hoch spannenden Exkursen schließlich in einem Satz die „Sprache des Falles“ erschließen konnte. In diesem Sinne danke ich auch der Stu‐ dentischen AG Objektive Hermeneutik unter der Leitung von Andreas Schmidt sowie der Doc‐AG Objektive Hermeneutik mit Felix Buchhaupt, Julia Gasterstädt, Marian Kratz, Bettina Reiss‐Semmler, Nadine Schallenkammer, Gerlinde Uphoff und anderen. Nach Mainz richtet sich mein Dank vor allem an Axel Fehlhaber, Detlef Garz, Annegert Hemmerling und Uwe Raven, die sich im Rahmen des objektiv‐herme‐ neutischen Forschungskolloquiums an vielen Freitagnachmittagen meinen Pro‐ tokollen widmeten. Ihnen danke ich nicht allein für aufschlussreiche Interpreta‐ tionen und kritische Kommentare, sondern vor allem für die Mahnung zur rigorosen Beschränkung der Fälle, um die Ergebnisse in gehöriger Schärfe zeigen zu können. Schließlich danke ich Felix Buchhaupt für die sachkundige Unterstützung bei den Videoaufnahmen in der 6. Klasse an Schule A.
Vorwort
Der vorliegende Band dokumentiert die Ergebnisse des Forschungsprojektes „In‐ klusion an Freien Waldorfschulen“, das ich im Rahmen der Goethe‐Universität Frankfurt am Institut für Sonderpädagogik durchgeführt habe. Der ursprüngliche empirische Hintergrund der Untersuchung liegt weit zu‐ rück. Er führt zu den Schülerinnen und Schülern, die ich zuerst an einer Freien Waldorfschule, später einer Waldorf‐Förderschule als Klassen‐ und Fachlehrerin über viele Jahre unterrichtete. Die mannigfachen, oft divergierenden Erfahrun‐ gen während dieser Tätigkeit lösten eine Fülle von Ungewissheiten und pädago‐ gischen Fragen aus, die mich auch nach Abschluss meiner Lehrtätigkeit intensiv beschäftigten. Es waren vor allem die Heranwachsenden, die ihren schulischen Lern‐ und Bildungsprozess unter teils dramatischen Bedingungen und von mas‐ siven Einschränkungen belastet absolvieren mussten, die mir zugleich zeigten, welches Ausmaß an Resonanzfähigkeit und Lernwillen sie dabei freisetzen konn‐ ten. Ihr Beispiel lehrte mich, das für die Praxis selbstverständlich Gedachte in Frage zu stellen und Separation, wie sie auch in allgemeinbildenden Waldorf‐ schulen und Waldorf‐Förderschulen betrieben und mehr oder weniger einleuch‐ tend begründet wird, mit „anderen Augen“ zu sehen. Mich ließ die Frage nicht los, ob nicht grundsätzlich ein Bildungsort eine Bereicherung für alle Beteiligten wäre und ob dafür nicht vernünftige, angemessene Bedingungen zu etablieren wären. In diese Überlegungen mischten sich jedoch Bedenken: Gab es nicht stich‐ haltige pädagogische Gründe dafür, die Separation aufrechtzuerhalten? Hatte ich nicht deren bildungsproduktive Wirkung am Beispiel der positiven Entwick‐ lung zahlreicher Schülerinnen und Schüler der Förderschule selbst erlebt? Gab es andererseits nicht Freie Waldorfschulen, die mit inklusiven Unterrichtsformen in allen Klassenstufen längst Erfahrungen gemacht hatten? Welche Erkenntnisse lagen hier vor? Fragen und Zweifel waren es, die das Erkenntnisinteresses am Fall Inklusion evozierten und die vorliegende Untersuchung begründen.
Inhaltsverzeichnis
1
Erkenntnisinteresse und Ziel ....................................................................... 1
2
Theoretische Rahmung ............................................................................... 7
2.1
Bildung und Lernen im Aspekt von Krise und Routine .............................. 8 2.1.1
Zur Struktur der pädagogischen Beziehung .............................. 11
2.1.2
Zur Struktur pädagogischen Handelns ...................................... 15
2.1.3
Pädagogische Professionalität ................................................... 19
2.1.4
Zum Konzept pädagogischer Deutungsmuster ......................... 22
2.1.5
Unterricht als sinnstrukturierte Praxis ...................................... 23
2.2
Inklusion und Exklusion – Egalitäre Differenz und Fremdheit ................. 24
2.3
Sonderpädagogischer Förderbedarf: Für und Wider einer unscharfen Kategorie ............................................................................... 30
2.4
Antinomien und Dilemmata ..................................................................... 33
2.5
Historie und Struktur der Freien Waldorfschulen: Gründungssituation und Separierung ...................................................... 34
2.6
Zum Bildungskonzept der Waldorfpädagogik – Implikationen und Differenzlinien .......................................................................................... 37
2.7
Methodologische und methodische Zugänge ......................................... 41 2.7.1
Zur Methodologie der Fallrekonstruktion (Sequenzanalyse) .... 42
2.7.2
Methodische Schritte ................................................................ 44
3
Anlage und Durchführung der Studie ....................................................... 47
3.1
Untersuchungsfeld ................................................................................... 48 3.1.1
Schule A...................................................................................... 49
3.1.2
Schule B ...................................................................................... 51
3.1.3
Schule C ...................................................................................... 52
3.1.4
Schule D ..................................................................................... 52
XII
Inhaltsverzeichnis
3.2
Zeitrahmen – Erhebungsinstrumente – Protokollierung und Notierung 53
3.3
Sichtung und Auswahl der Daten ............................................................. 56
3.4
Schematische Darstellung des Datenkorpus ........................................... 57
3.5
Arrangement und Darstellung der Fälle .................................................. 58
4
Ebene der Institutionen ............................................................................ 63
4.1
Schule A .................................................................................................... 63
4.2
4.3
4.4
4.1.1
Außendarstellung: Analyse eines Broschüre‐Textes ................. 65
4.1.2
Diagnostisches Verfahren .......................................................... 67
Schule B .................................................................................................... 68 4.2.1
Außendarstellung: Analyse eines Broschüre‐Textes ................. 68
4.2.2
Diagnostisches Verfahren .......................................................... 70
Schule C .................................................................................................... 70 4.3.1
Außendarstellung: Analyse eines Zitats aus dem Leitbild ......... 72
4.3.2
Diagnostisches Verfahren .......................................................... 74
Schule D .................................................................................................... 74 4.4.1
Außendarstellung: Analyse eines Textes aus dem Internetauftritt ........................................................................... 75
4.4.2
Diagnostisches Verfahren .......................................................... 76
5
Ebene der Schülerinnen und Schüler ........................................................ 79
5.1
Erster Fall: Quirin – Fremdheit im Eigenen .............................................. 79 5.1.1
Quirins Weg in die Freie Waldorfschule .................................... 80
5.1.2
Am Anfang ................................................................................. 87
5.1.3
Ich und Die ................................................................................. 95
5.1.4
„wer macht das denn“ ............................................................... 97
5.1.5
Die Lehrer legen sich ins Zeug ................................................. 103
5.1.6
Kunstunterricht ........................................................................ 119
5.1.7
Zusammenfassung Sequenzanalyse Quirin ............................. 121
5.1.8
Unterfall 3: Jana – Reflexionen einer Mitschülerin ................. 125
5.1.9
Fazit Fall Quirin ........................................................................ 159
Inhaltsverzeichnis
5.2
5.3
5.4
5.5
XIII
Zweiter Fall: Olaf – Bühnenspiel als Vorschein des Selbstentwurfs ...... 165 5.2.1
Olafs Weg in die Freie Waldorfschule ..................................... 166
5.2.2
„hast du jetz über den winter geschrieben“ ............................ 169
5.2.3
Probleme mit Stockholm ......................................................... 172
5.2.4
Distanz als Habitusformation oder Folge schulischer Krisen .. 182
5.2.5
Auf der Bühne: Erste Selbsterkenntnis .................................... 191
5.2.6
„wenn man auf einmal so rauskommt“ ................................... 198
5.2.7
Fazit Fall Olaf ............................................................................ 203
Dritter Fall: Tessa – Zugehörigkeit im Kontrast ..................................... 210 5.3.1
Tessas Weg in die Freie Waldorfschule ................................... 210
5.3.2
Freunde? .................................................................................. 212
5.3.3
„rück doch ma eins auf” ........................................................... 219
5.3.4
„behindert is kein schimpfwort“ .............................................. 224
5.3.5
Unterfall 4: „wir bekommens nich so stark mit“ ..................... 237
5.3.6
Unterfall 5: „große herausforderungen für den lehrer“ .......... 252
5.3.7
Fazit Fall Tessa ......................................................................... 263
Vierter Fall: Irina – Individuierung in Atemnot ...................................... 265 5.4.1
Irinas Weg in die Freie Waldorfschule ..................................... 266
5.4.2
Unterm Regenbogen: Analyse einer Zeichnung ...................... 266
5.4.3
Im Streit ................................................................................... 273
5.4.4
„es gibt aufgaben die kann ich garnich kapiern“ .................... 276
5.4.5
Fazit Fall Irina ........................................................................... 277
Fünfter Fall: Serge – Im Spiegel der Anderen ........................................ 279 5.5.1
Serges Weg in die Freie Waldorfschule ................................... 279
5.5.2
„gud“ – Eine Fallminiatur ......................................................... 280
5.5.3
Unterfall 6: Perspektive der Klassenlehrerin ........................... 285
5.5.4
Unterfall 7: Ludwig................................................................... 286
5.5.5
Unterfall 8: Basha .................................................................... 299
5.5.6
Fazit Fall Serge ......................................................................... 312
XIV
Inhaltsverzeichnis
5.6
Sechster Fall: Gregor – Ironisierung als Bearbeitungsmodus ................ 312 5.6.1
Gregors Weg in die Freie Waldorfschule ................................ 313
5.6.2
Vorspiel .................................................................................... 315
5.6.3
Ironie aus Frustration .............................................................. 319
5.6.4
Bloßgestellt .............................................................................. 321
5.6.5
Fazit Fall Gregor ....................................................................... 324
5.7
Kontrastierung Schülerinnen und Schüler ............................................. 324
6
Ebene der Lehrpersonen ........................................................................ 331
6.1
Pädagogische Deutungsmuster ............................................................. 331
6.2
6.1.1
Siebter Fall: Frau Oswald – Prinzip doing inclusion ................. 331
6.1.2
Achter Fall: Frau Auth – Inklusion als Maxime ........................ 363
6.1.3
Neunter Fall: Frau Abel – Teilhabe ohne Verstehen? ............. 380
6.1.4
Zehnter Fall: Frau Fester – „zusammen leben“ als Deutungsmuster ...................................................................... 382
Beispiele (inklusiven) Unterrichtens ...................................................... 384 6.2.1
Elfter Fall: Unterricht als Wunschkonzert ............................... 384
6.2.2
Zwölfter Fall: Unterricht im Modus der Provokation .............. 402
6.3
Kontrastierung Lehrpersonen ................................................................ 422
7
Ebene der Geschäftsführung .................................................................. 425
7.1
Dreizehnter Fall: Herr Sorell – Freie Waldorfschule als Möglichkeitsraum .................................................................................. 425
7.2
7.3
7.1.1
Einführung in den Fall .............................................................. 425
7.1.2
Inklusion: ein „wichtiger sozialgedanke“ ................................. 426
7.1.3
Fazit dreizehnter Fall ............................................................... 430
Vierzehnter Fall: Frau Seefeld – Geschäftsführung in pädagogischer Perspektive ............................................................................................. 431 7.2.1
Einführung in den Fall .............................................................. 431
7.2.2
Die Chance zwingender Bedingungen ..................................... 433
7.2.3
Fazit vierzehnter Fall ................................................................ 433
Kontrastierung Geschäftsführung .......................................................... 434
Inhaltsverzeichnis
XV
8
Dimensionierung .................................................................................... 435
8.1
Dimensionierung Schülerinnen und Schüler ......................................... 435
8.2
Dimensionierung Lehrpersonen ............................................................ 440
8.3
Dimensionierung Geschäftsführung ...................................................... 442
9
Modellbildung ......................................................................................... 443
9.1
Modellierung der Ergebnisse Schülerinnen und Schüler ...................... 443
9.2
Modellierung der Ergebnisse Lehrpersonen ......................................... 448
9.3
Modellierung der Ergebnisse Geschäftsführung ................................... 450
10
Zusammenführung der Befunde und Ausblick ....................................... 453
Literaturverzeichnis ............................................................................................ 463
„Allerdings ist ungewiß, ob tatsächlich die Gleichheiten das Entscheidende, die qua‐ litativen Differenzen das bloß Rückständige sind, und vor allem: ob nicht in einer ver‐ nünftig eingerichteten Welt das qualitativ Verschiedene wiederum zu einem Recht käme, das gegenwärtig von der Einheit der technologischen Vernunft nur unter‐ drückt wird.“ 1 T. W. Adorno 1969
1 Erkenntnisinteresse und Ziel
Die Fülle der bisher zum Thema schulischer Inklusion erschienenen Arbeiten wäre Anlass genug gewesen, die Segel zu streichen, wenn sich die Untersuchung nicht in einem Kontext bewegte, der in den Diskursen der Erziehungswissen‐ schaften, auch der Sonderpädagogik, bis auf wenige Ausnahmefälle2 unterreprä‐ sentiert ist. Die vorliegende Studie beabsichtigt daher, diese Lücke ein Stück weit zu füllen und den Inklusionsdiskurs mit der materialen Analyse schulischer Praxis und Reflexion auf einem eher fremden Feld zu erweitern. Mein zentrales Erkenntnisinteresse richtete sich auf die Frage: Wie wären Schule und Unterricht im Sinne eines ganzheitlichen Bildungsraums zu gestalten? Mit „ganzheitlich“ meine ich ein allgemein gültiges, auf die Bildung des „ganzen Menschen“3 angelegtes Konzept, in dem Schule sich grundsätzlich im Bewusst‐ sein der Vielfältigkeit menschlicher Erscheinung und Entwicklung4 und zugleich
1 2 3 4
T. W. Adorno 1969:147. Bei allen Zitaten wird die Orthographie des Originaltextes ohne Kennzeichnung der Abweichung mit übernommen. Vgl. Idel 2007; Ullrich 1999 und 2004; Kunze 2011; Graßhoff 2006 und 2008 Gemeint ist hier die Gesamtheit menschlicher Seinsausdrücke des Denkens, Fühlens und Handelns. Anschließend an Detlef Garz verbinde ich mit dem Begriff „Entwicklung“ die Vorstellung, dass er erstens die Analyse faktisch sichtbarer Formen der Lebenspraxis „ohne vorgefer‐
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 H. Handwerk, Inklusion als Ausdrucksgestalt, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27556-3_1
2
1 Erkenntnisinteresse und Ziel
in uneingeschränkter pädagogischer Autonomie so organisiert, dass sie selber für alle ihre Schülerinnen und Schüler den je angemessenen pädagogischen Rah‐ men, Raum und Zeit für Lern‐, Bildungs‐ und Reflexionsprozesse schafft und ver‐ antwortet – und in diesem Sinne inklusiv wäre. Daran schloss sich die Frage, ob dadurch die strukturelle Widersprüchlichkeit der pädagogischen und selektiven Funktion von Schule sukzessive aufgehoben, zumindest abgeschwächt werden könne. Diesem persönlichen Interesse korrespondierte die 2009 auch von Deutsch‐ land ratifizierte UN‐Convention on the Rights of Persons with Disabilities (Über‐ einkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behin‐ derungen, nachfolgend UN‐BRK). In deren Folge und im Anschluss an maßgeb‐ liche Motive und Anliegen der Integrationsbewegung aus den achtziger Jahren wurde Inklusion zu einer „Leitthematik“ (Böttinger 2016), die in menschen‐ rechtsbasierter, anerkennungstheoretischer oder sozialwissenschaftlicher Per‐ spektive erörtert wird (Budde/ Hummrich 2015). Auch im Kontext von Schule und Unterricht geriet der inklusive Anspruch zu einem breit und kontrovers dis‐ kutierten Thema. Vor diesem Hintergrund nahm die Idee für ein Forschungsprojekt zu Inklu‐ sion an Freien Waldorfschulen Gestalt an. Die Entscheidung für diese Schulform fiel zum einen wegen ihres formalen Status, zum anderen wegen ihres pädago‐ gischen Konzepts (Leber 2003, Hübner 2005, Schieren 2010). Erste Überlegun‐ gen zur Präzisierung der Forschungsfrage ließen vermuten, die relativ weitge‐ hende Autonomie, die mit dem Status einer „Schule in freier Trägerschaft mit besonderer pädagogischer Prägung“ verbunden ist, könne für das Thema Inklu‐ sion aufschlussreich sein, da diese Autonomie es erlaubt, spezifisch inklusive Aspekte von den grundsätzlichen strukturellen und pädagogischen Problemen von Schule und Unterricht zu differenzieren (siehe Kap. 2.1.1.).
tigtes theoretisches Netz“ ermöglicht, zweitens sich darin, in Differenz zu Begriffen der Reifung und Sozialisation, ein aktives Subjekt ausdrückt und drittens der Entwicklungsbe‐ griff der Eigenlogik der Erziehungswissenschaft als einer zugleich deskriptiven und Nor‐ men setzenden Disziplin korrespondiert (vgl. Garz 2000: 17). Eine weitere Anregung ergab sich aus Bronfenbrenners Entwicklungsbegriff i. S. einer „gegenseitigen Anpassung zwischen dem aktiven, sich entwickelnden Menschen und den wechselnden Eigenschaf‐ ten seiner unmittelbaren Lebensbereiche. Dieser Prozeß wird fortlaufend von den Bezie‐ hungen dieser Lebensbereiche untereinander und von den größeren Kontexten beein‐ flußt, in die sie eingebettet sind." (Bronfenbrenner 1981, S. 37)
1 Erkenntnisinteresse und Ziel
3
Dafür sprach, dass dieser Status es den Freien Waldorfschulen ermöglicht, Schülerinnen und Schüler auch ohne die Zuschreibung eines sonderpädagogi‐ schen Förderbedarfs gemeinsam mit anderen zu unterrichten. Der in diesen Aus‐ nahmefällen5 vollzogene Verzicht einer Freien Waldorfschule auf Kategorisie‐ rung und Aussonderung entspricht einerseits ihrem inklusiven Anspruch, hat jedoch in einigen Bundesländern den Verzicht auf höhere finanzielle Zuschüsse für die Einrichtung zur Folge. Dessen ungeachtet wurden und werden an Freien Waldorfschulen Schülerinnen und Schüler mit diagnostizierten wie auch diffusen Einschränkungsformen unterrichtet, entweder aufgrund einer positiven schuli‐ schen Entwicklung, die in dieser Schulform prinzipiell auf lange Sicht angelegt ist, oder weil die Erziehungsberechtigten eine sonderpädagogische Überprüfung verweigern bzw. sie von ihnen oder den Lehrpersonen als nicht unbedingt erfor‐ derlich gesehen wird. Dafür sprach überdies, dass abgesehen von den rechtlich‐organisatorischen Rahmenbedingungen ein inklusiver Anspruch im Prinzip schon im Bildungskon‐ zept der Freien Waldorfschulen verbürgt ist. Zwar garantiert deren inklusive Kon‐ stitution noch keine inklusive pädagogische Haltung und Praxis der Akteure, doch sie hat zumindest das Potential, realisierbar zu werden, was in vielen ihrer Aufgabenfelder längst verwirklicht wird, z.B. in der partnerschaftlichen Entschei‐ dung über ein Arbeitsbündnis6 zwischen Schule und Schülerinnen/Schülern bzw. deren Eltern (vgl. Kap. 2.6.), in der autonomen Personalplanung (Einarbeitung der Novizen, Einstellung der Lehrpersonen und deren Fortbildung), in dem ent‐ wicklungspsychologisch begründeten Curriculum sowie im Verzicht auf die Praxis der Nicht‐Versetzung aufgrund schwacher Schülerleistungen oder auch in der anderen Intention und Form der Zeugnisse für die Schülerinnen und Schüler (vgl. Kap. 6.1.1.3.). Den Ausschlag für die Durchführung der Studie gab schließlich die Tatsache, dass zur Schulkarriere von an Freien Waldorfschulen inklusiv unterrichteten Schülerinnen und Schülern mit einem formal ausgewiesenen Sonderpädagogi‐ schen Förderbedarf sowie zu den dort gemachten Erfahrungen mit Inklusion bis‐
5
6
Ich spreche von Ausnahmefällen, da Freie Waldorfschulen über Aufnahme bzw. Fortset‐ zung eines Arbeitsbündnisses jeweils fallspezifisch entscheiden. Eine für alle verbindliche Vereinbarung zu inklusiver Beschulung gibt es in dieser Schulform nicht. Vgl. Oevermann 1996: 115, 141‐145
4
1 Erkenntnisinteresse und Ziel
her noch keine systematischen und methodisch gestützten Untersuchungen vor‐ liegen.7 Die rekonstruktive Aufarbeitung schulbiographischer und inklusionspä‐ dagogischer Erfahrungen in engster Anbindung an die Wirklichkeit dieser Schul‐ form dürfte daher nicht nur für die Waldorf‐Community, sondern für die schulpädagogische Inklusionsdebatte insgesamt von Interesse sein.8 Grundlegende Positionen der Waldorfpädagogik im erziehungswissen‐ schaftlichen Diskurs wurden in den letzten Jahren in mehreren Arbeiten darge‐ legt (z.B. Frielingsdorf 2012, Schieren 2016); auch zu fachwissenschaftlichen und didaktischen Themen (z.B. Schmelzer 2018, Sommer 2017, Wiehl 2015, Zech 2017) sowie zu Schulqualität und Lernerfahrungen von Waldorfschülern (Lieben‐ wein/Barz 2015; Randoll 1997 und 2007; Randoll/ Graudenz et al. 2017) liegen wichtige Untersuchungen vor. Mein Anliegen ist hingegen, auf der Basis der kon‐ kreten Praxis der schulischen Akteure differenzierte Erkenntnisse zu gewinnen über Möglichkeitsspektren, die durch inklusiven Unterricht an Freien Waldorf‐ schulen (im Folgenden FWS9) eröffnet werden, und anhand materialer Analysen des je einzelnen Falles nachzuweisen, welche Bedeutung dieser pädagogische Ansatz für die Beteiligten gewinnt. Untersucht werden FWS, die entweder auf dem Weg sind, ihr pädagogi‐ sches Konzept längerfristig an einem inklusiven Anspruch zu orientieren, oder die bereits auf Erfahrungen damit zurückblicken können. Dabei steht im Zentrum des analytisch orientierten Erkenntnisinteresses
die Klärung der Frage nach Sinn‐ und Bedeutungsstrukturen inklusiven Un‐ terrichts für Prozesse von Bildung und Individuierung der Schülerinnen und
7
Zur Schulbiographie von so genannten „Regel‐“Waldorfschülerinnen und ‐schülern vgl. Idel (2007 und 2012); Graßhoff (2006 und 2008); zur Biographie von Waldorflehrerinnen und ‐lehrern vgl. Kunze (2013); zu arbeitsbezogenen Verhaltens‐ und Erlebensmustern von Lehrpersonen an heilpädagogischen Schulen vgl. Randoll/ Schmalenbach/ Peters (2014) Zur Relevanz von Studien an Schulen in freier Trägerschaft für andere Schulformen vgl. Demmer‐Dieckmann (2004); Helsper (2009); Idel (2004 und 2012), Ullrich (2004); eine vergleichende Studie zu Montessori‐ und FWS findet sich bei Randoll/ Graudenz (2017). Abkürzungen wurden allein mit Rücksicht auf die Ausdauer der Leserinnen und Leser vor‐ genommen. Dabei wird FWS anstelle von Freie Waldorfschule auch für die Pluralbildung verwendet; das hierfür notwendige „n“ möge jeweils ergänzt werden. Gleiches gilt auch für die Deklination der Abkürzung SPF für den Terminus „Sonderpädagogischer Förder‐ bedarf“. Ich bitte um Nachsicht für die unsäglichen Abkürzungen SuS für Schülerinnen und Schüler bzw. LP für Lehrpersonen, die an manchen Stellen verwendet werden.
8
9
1 Erkenntnisinteresse und Ziel
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Schüler, und zwar ohne eine vorherige dichotome Klassifizierung in solche „mit“ und solche „ohne“ ausgewiesenen Sonderpädagogischen Förderbe‐ darf, sondern von allen Heranwachsenden einer Klasse (vgl. Kap. 2.1.1.) mit allen Themen, die sie im Hinblick auf Inklusion und ihren individuellen schu‐ lischen Bildungsprozess reflektieren, sei es als Förderung, Belastung oder Einschränkung. Vor diesem Hintergrund und in Anbetracht der Verflechtungszusammenhänge (Norbert Elias) und Passungsbedingungen der schulischen Akteure wird
die Bedeutung der Professionalisiertheit des (inklusions) pädagogischen Handelns10 und der professionellen Deutungsmuster der Lehrpersonen in den Blick genommen mit der Frage nach ihrer Bedeutung für einen spezifi‐ schen Fall. Schließlich wird die Perspektive der Institution beleuchtet, soweit sie für die Klärung eines Falles bzw. den Forschungsgegenstand aufschlussreich ist.
Die Ergebnisse der nach inklusionsrelevanten Kriterien ausgewählten Fälle wer‐ den anschließend in Dimensionen gefasst, kontrastiert und in analytischer Per‐ spektive auf den Forschungsgegenstand in folgenden Hinsichten befragt:
erstens welche Strukturmerkmale sich in Freien Waldorfschulen in Bezug auf die Forschungsfrage zeigen ließen, zweitens welche Probleme bei der Umsetzung eines inklusiven Anspruchs trotz der relativ günstigen Strukturbedingungen der FWS sichtbar werden, drittens ob Schwierigkeiten der Implementierung aus dem inklusiven Bil‐ dungsanspruch resultieren oder allgemeine pädagogische Phänomene sind.
Nach einer systematischen Zusammenfassung der Ergebnisse erfolgt abschlie‐ ßend eine Modellbildung im Sinne eines Beitrags zu einer Theorie schulischer Inklusion.
10 Die hier und an späteren Stellen gesetzte Klammer ist der Frage geschuldet, ob die damit implizit markierte Differenz zu pädagogischem Expertenhandeln tatsächlich auf einer Strukturdifferenz gründet.
2 Theoretische Rahmung
Zentrales Forschungsinteresse der Arbeit ist die Untersuchung inklusiver Pro‐ zesse in Schule und Unterricht mit dem Ziel, auf der Basis materialer Einzelfall‐ analysen aus der unmittelbaren Berührung mit dem Feld empirisch gesättigte Erkenntnisse zu gewinnen. Die folgenden Abschnitte konzentrieren sich daher auf Theorieansätze, die in strukturanalytischer Perspektive mit diesem Gegen‐ stand in Zusammenhang stehen, hier also zunächst alles, was Prozesse von Bil‐ dung und Individuierung im inklusiv orientierten schulischen Kontext generell betrifft. Dabei nimmt die Objektive Hermeneutik Ulrich Oevermanns den größ‐ ten Raum ein (Oevermann 2000 und 2002a). Dies nicht aufgrund einer „An‐ schlussfähigkeit“, sondern weil die Reichweite des Konzepts von Individuation und Sozialisation Perspektiven des Sinnverstehens liefert und das von Oever‐ mann entwickelte Erschließungsverfahren es ermöglicht, Sinn‐ und Bedeutungs‐ strukturen schulpädagogischer Praxis zu rekonstruieren (Oevermann 2003: 32), so dass Chancen wie Problemzonen des spezifisch Inklusiven im Kontext Schule im Material selber bestimmt werden können.11 Da sich die inkludierende Wir‐ kung pädagogischen Handelns am markantesten im Unterrichtsgeschehen selbst zeigen lässt, beziehe ich mich hierbei vor allem auf die Theorie des Unterrich‐ tens, die von Andreas Gruschka 2013 vorgelegt wurde und auf die ich in Ab‐ schnitt 2.1.5. kurz eingehe. Der theoretischen Rahmung der Waldorfpädagogik bzw. FWS sind die Ab‐ schnitte 2.5. und 2.6. gewidmet. Weitere theoretische Bezugnahmen werden erst im Verlauf der Fallrekonstruktion bzw. der Kontrastierung expliziert, je nach‐ dem sie im Material thematisch sind und zur Aufklärung eines Falles beitragen.
11 Da die Studie keine programmatische Absicht zum Thema schulische Inklusion verfolgt, wird auf die vielen wichtigen Arbeiten z.B. zur inklusiven Fach‐Didaktik hier lediglich in Ausnahmefällen Bezug genommen. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 H. Handwerk, Inklusion als Ausdrucksgestalt, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27556-3_2
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2 Theoretische Rahmung
2.1 Bildung und Lernen im Aspekt von Krise und Routine In historischer Perspektive lässt der Begriff Bildung einen Verlust an Deutungssi‐ cherheit erkennen, der mit wachsenden pädagogischen Ansprüchen, „Grenzver‐ schiebungen“ des Privaten und Schulischen (Kolbe/ Reh et al. 2009: 17), diver‐ gierenden Erziehungsvorstellungen und einer sukzessiven Auflösung bzw. Pluralisierung pädagogischer Grundbegriffe verbunden ist, die frühere Auffas‐ sungen von Bildung obsolet erscheinen lassen. Für das Thema Inklusion wird hier Raphael Koßmanns Kritik an der semantischen Unschärfe und der tradierten „Heiligkeit“ des Bildungsbegriffs interessant, den der Autor im Rahmen einer kri‐ tischen Analyse des Begriffs „Lernbehinderung“ verflochten sieht mit Qualifika‐ tions‐ und Selektionsfunktionen im schulischen Kontext. Er fordert daher, den Bildungsbegriff aufs Korn zu nehmen und „das Spektrum empirisch statthabender Bildung auszubuchstabieren; nicht nur hin‐ sichtlich ihrer Gelingensformen, sondern auch in Richtung miss‐lingender, für die Subjekte nachteiliger Ergebnisse von Bildungsprozessen.“ (Koßmann 2019: 145)
Ich halte den Begriff Bildung i.S. einer qualitativen Augmentation angesichts der gegenwärtigen Fokussierung schulischen Lernens auf Kompetenzbildung und Präsentation (Gruschka 2011) in Hinsicht auf den Forschungsgegenstand den‐ noch für unverzichtbar, werde ihn jedoch gerade deshalb zunächst mit kritischen Überlegungen von Wimmer in Zusammenhang bringen. Wimmer hält den Glau‐ ben an eine dem Pädagogischen inhärente, identitätsstiftende „Bildungsidee“ für eine Fiktion (Wimmer 1996: 413, 419). Die Verkennung der Tatsache einer pro‐ longierten, real aber nicht mehr existierenden identischen Bildungsidee könne – so der Autor – zur Halbbildung (Adorno)12 oder zur Disziplinarmacht13 verkom‐
12 In unserem Zusammenhang macht eine Bemerkung Adornos nachdenklich, der Halbbil‐ dung als Surrogat jener „Differenzierungsmomente“ sieht, die er mit dem Begriff der Bil‐ dung verbindet: „Bildung und Differenziertheit sind eigentlich dasselbe“ (Adorno 2006: 36). Nach Schumm könne sich Halbbildung angesichts der „neuen Hegemonie … der Kul‐ turindustrie … die Vorherrschaft der Halbbildung zunutze machen, indem sie die Kultur unter dem Schein, es handele sich noch um Bildung, vollständig unter ihre Regie nimmt.“ (Schumm, W. 2006: 47) 13 Foucault beschreibt Disziplinarmacht (zunächst mit Bezug auf den Militärapparat) als „Mittel der guten Abrichtung“: „Zweifellos liegt der Erfolg der Disziplinarmacht am Ein‐ satz einfacher Instrumente: des hierarchischen Blicks, der normierenden Sanktion und ihrer Kombination im Verfahren der Prüfung.“ (Foucault 1994[1976]: 220)
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men (Wimmer a.a.O.: 422). Es geht ihm darum, verkrustete oder hohle Begriff‐ lichkeiten zu hinterfragen und den Blick freizumachen, um Bildung neu bestim‐ men zu können. Letzteres begründet den hier vorgenommenen Bezug auf Wim‐ mers Kritik. Im Fokus auf Bildung kommt zudem die Dynamik von Gewissheit und Ungewissheit bzw. des bestimmt Unbestimmten als Konstitutionsbedingung des Pädagogischen in den Blick (Heydorn 1980; Ehrenspeck/ Rustemeyer 1996; Helsper 2003; Böing 2017: 228‐230), jener bleibende Rest von „Nicht‐Wissen und Nicht‐Wissen‐Können“, der für pädagogisches Handeln14 und pädagogische Professionalität konstitutiv ist und deren paradoxe Struktur er zugleich verur‐ sacht mit der Konsequenz, „durch Erziehung eine Intention verfolgen zu wollen, es aber … nicht zu können, weil, was gewollt wird, nur vom Andern selbst hervorgebracht werden kann.“ (Wimmer, a.a.O.: 425‐426)
Im Bewusstsein des Spannungsfelds pädagogischer Wissensbestände und päda‐ gogischer Ungewissheit verstehe ich Bildung in Anlehnung an Heydorn als ein subjektspezifisch „anhebendes Wissen des Menschen um sich selbst … als fortschreitende Befreiung … zu sich selbst.“ (Heydorn a.a.O.: 8 und 301)
Das hier „anhebend“ genannte Wissen des Menschen „um sich selbst“ verweist rein sprachlich auf den Doppelaspekt des Bildungsvorgangs: Er vollzieht sich in‐ trasubjektiv und zugleich um ihn im Sinne einer Resonanz auf das, was in seinem Umfeld geschieht, d.h. hier: in der Schul‐ bzw. Klassengemeinschaft und im Un‐ terricht. Die dort eingeleiteten Bildungsprozesse schließen Prozesse des Lernens selbstverständlich ein, gehen jedoch zugleich darüber hinaus im Sinne der oben zitierten „fortschreitenden Befreiung“, die auf ein im Subjekt sich individuell aus‐ prägendes, wachsendes Verstehen von Welt und Selbst angelegt ist. Bildung ist in diesem Verständnis das „Darüberhinausgehende“ (Oser 2009; Garz 2014), ist kein mechanistisch‐akkumulatives Sich‐selber‐Konstruieren, sondern lässt sich als ein Sich‐Erneuern fassen: als ein individueller Wandlungsprozess, der sich im Spannungsfeld von äußerer Bedingung und Eigengesetzlichkeit des Subjekts voll‐ zieht und als Spur realer Lebenspraxis abbildet. In professionssoziologischer Per‐ spektive werden die Strukturprinzipien von Bildungsprozessen daher mit den Be‐ griffen Autonomisierung und Bewährung kombiniert (Oevermann 2005: 47). 14 Vgl. Bude, H. (1985), S. 527‐531
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Dabei wird der Begriff der Autonomisierung als Resultat einer erfolgreichen und autonomen Bewältigung von Krisen aufgefasst, d.h. eine „in soziale Beziehungen eingebettete Hervorbringung von neuen Strukturen“ des Subjekts im Span‐ nungsfeld von Krise und Routine (Oevermann 2004c; Garz/ Raven 2015: 63). Der Begriff „Krise“ wird hier im ursprünglichen Wortsinn (von griech. krisis = Ent‐ scheidung) verwendet und korrespondiert dem, was mit Bezug auf Lernen von Käte Meyer‐Drawe bestimmt wird als eine Initiierung, „die in einer Störung eines unter anderen Umständen verlässlichen Vollzugs (grün‐ det). Diese Störung ist eine Widerfahrnis und niemals Ergebnis eines Entschlusses.“ (Meyer‐Drawe 2013: 71; Hvh. HH)
Oevermann differenziert in diesem Sinne drei Krisentypen, auf die ich kurz ver‐ weise, da sie alle in den Fallanalysen thematisch werden: erstens die traumati‐ sche Krise, die das Individuum von außen und unerwartet in Form von sowohl schmerzhaften als auch beglückenden Ereignissen („brute facts“) ereilt; zweitens der Typus der Entscheidungskrise zur Explikation von Situationen einer Lebens‐ praxis, in denen bisherige Routinen zusammenbrechen und angesichts des je Überraschenden und Unerwarteten eine vorweg nicht begründbare Entschei‐ dung wie auch immer getroffen werden muss.15 Den dritten Typus fasst Oever‐ mann in den Begriff der Krise durch Muße und ästhetische Erfahrung, die das Individuum angesichts der „bezwingenden Wirkung der sinnlichen Präsenz“ (Reiche 2014: 256; Hvh. i.O.) eines Gegenstands (hier z.B. aus dem Unterricht), einer Person, eines Kunstwerks in sich selbst erzeugt, um sich in Muße der Wahr‐ nehmung hingeben und die Eigenart der Erscheinung erschließen zu können. Dieser letzte Krisentypus bestimmt in seiner Grundstruktur auch Prozesse schu‐ lischer Bildung, solange sie nicht auf bloßes Lernen reduziert werden (vgl. Oever‐ mann 2005: 82). Die Differenz zwischen Bildung und Lernen betont Oevermann, um die von außen nicht unmittelbar beeinflussbare Eigentätigkeit des sich selbst bildenden Subjekts deutlich zu machen. Dem Begriff Autonomisierung wird nun der Begriff der Bewährung zur Seite gestellt, die sich aus dem Bewusstsein der Endlichkeit des Lebens als einer nicht stillstellbaren Dynamik und damit als ein universelles Strukturproblem biographi‐ scher Konstruktion ergibt. Auf das daraus abgeleitete Bewährungs‐konzept sind 15 In Oevermanns Modell von Krise und Routine folgt, der Logik vernunftgeleiteten Han‐ delns entsprechend, aus dem „Entscheidungszwang“ die – erst nachträglich einlösbare – „Begründungsverpflichtung“ (vgl. Oevermann 2016: 86)
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wir – so Oevermann – dennoch angewiesen, da die Bewältigung der Adoleszenz‐ krise erst dann beendet ist, wenn der Heranwachsende sich dem Bewährungs‐ problem gestellt und es internalisiert hat (Oevermann 2009: 40). Vor diesem Hintergrund lässt sich auch die soziale Praxis Unterricht als eine Bewährungs‐ situation per se bestimmen. Bildungsprozesse im Sinne autonomer Krisenbewäl‐ tigung und Bewährung bergen sowohl die Chance zur Erzeugung eines Neuen als auch das Risiko eines bis zur Pathologie führenden Scheiterns (Oevermann 2005: 74). Im Aspekt der Erzeugung eines Neuen beschreiben sie indessen keinen nor‐ mativen Zustand, sondern „jeweils das Maß an Bildung, das ein konkretes Leben angesichts seiner Anregungs‐ geschichte maximal erreichen konnte.“ (Oevermann 2008: 61; Hvh. HH)
Es ist demnach auch hier das Subjekt selbst, das die Entscheidung darüber trifft, wie und woran es sich bildet. Mehr noch: Es entscheidet nicht nur, sondern es vollzieht auch den „Prozess des Erkennens der eigenen Antriebsbasis“ (Garz/ Raven 2015: 53). Diesen Prozess fasst Oevermann in die Begriffe Individuierung bzw. Individuiertheit. Dabei bezeichnet Individuierung die Genese des sich bil‐ denden Subjekts in seiner Einzigartigkeit, während das Ergebnis des Prozesses in den Begriff Individuiertheit gefasst ist (Garz/ Raven, a.a.O.: 52). Forschungsfeld und Fragestellung rücken damit zwei Faktoren in den Blick, die – unabhängig von der Schulform – hoch relevant sind für das, was schulische Bildung und Individuierung der Heranwachsenden konstituiert: erstens die pä‐ dagogische Beziehung, zweitens das pädagogische Handeln. Einige kurze Erläu‐ terungen in strukturanalytischer Perspektive auf beide Themen sowie eine Be‐ zugnahme auf die kognitive Entwicklungspsychologie Piagets setzen daher die theoretische Rahmung fort. 2.1.1 Zur Struktur der pädagogischen Beziehung Ich beginne mit den Eltern/ Erziehungsberechtigten, der ersten Instanz der erzie‐ herischen Praxis, weil sich aus ihr zunächst die soziale Grundgestalt der familia‐ len Triade (das Kind – die Mutter bzw. die/ der Andere – der Vater bzw. die/ der Dritte) entwickelt. Von hier aus verbinden sich aus Perspektive des Kindes die Personen der weiteren Familie und Lebensgemeinschaft zu einem mehr oder weniger tragfähigen, wandelbaren Gewebe sozialer Beziehungen. Die dort erfah‐ rene Nähe und Bindung begründen die zukünftige Beziehungsfähigkeit und
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Sozialität des Kindes, indem in Anlehnung an die psychogenetischen Arbeiten Piagets „das eigene Ich sich nur durch seine Beziehung zu demjenigen des ande‐ ren kennt“ (Piaget 1973: 447). Für diese Selbstbildung begründende Figuration16 zwischenmenschlicher Beziehung ist von Anfang an die Polarität17 von Nähe und Distanz konstitutiv, die als leibgebundene und von Affektivität begleitete Nähe zwischen ganzen Menschen (Eltern/ Erziehungsberechtigte und Kind) manifest wird. Der Nähe steht eine quasi naturgegebene, zugleich krisenbehaftete Distanz zwischen Heranwachsendem und Erwachsenen ergänzend gegenüber, von de‐ nen Ansprüche, Phantasien und Erwartungen auf das Kind übertragen werden. Das Kind muss sich also von Anfang an zu Erwachsenen positionieren, muss, um Autonomie zu erlangen, sich sukzessive und seiner psychosozialen Entwicklung entsprechend von der ursprünglichen Nähe distanzieren. Massive Veränderungen der Lebensverhältnisse durch die Differenzierung der Arbeitswelt machten es für Eltern/ Erziehungsberechtigte unumgänglich, ei‐ nen Teil ihrer Erziehungszuständigkeit an Andere zu delegieren, denen damit ein pädagogischer Expertenstatus zugeeignet wurde. Die Erziehungszuständigkeit verteilte sich fortan auf zwei Instanzen: auf die ursprüngliche Instanz Familie auf der einen und die professionelle Instanz – hier: der Schule – auf der anderen Seite.18 Das Eingestehen der Notwendigkeit dieses Delegierens sieht Oevermann als „strukturelle Wurzel für die latente Konkurrenz zwischen Erziehern und Eltern“ (Oevermann 1996: 142), die in der Differenz der Sicht von Eltern/ Erzie‐ hungsberechtigten auf ihr Kind gegenüber der Sicht von Professionellen auf Schülerinnen und Schüler manifest werden kann. Aus Perspektive des Kindes vergrößert sich mit der ersten gravierenden Ab‐ lösungsbewegung von der Familie – dem Eintritt in die Schule19 – nicht allein sein sozialer Umkreis, sondern da es seinen schulischen Mitakteuren immer als „gan‐ zer Mensch“ gegenübersteht, bleibt auch die Differenzierung zwischen Eltern
16 Ich beziehe mich hier auf Norbert Elias’ Begriff der „Figuration“ als etwas, was „viele ein‐ zelne Menschen miteinander bilden“, vgl. Elias (2006), S. 171‐172 17 Polarität hier nicht im Sinne einer binären Struktur, sondern als Voraussetzung für das Emergieren eines Neuen gedacht. 18 Die Bedeutung außerschulischer Bildungsräume kann im Rahmen dieser Studie nicht be‐ rücksichtigt werden. 19 Auch der Übergang in den Kindergarten markiert einen einschneidenden Ablösungs‐ schritt eines Kindes, der jedoch (zumindest in Deutschland noch) keinen Verpflichtungs‐ charakter hat.
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und Lehrpersonen noch im Fluss. Zuneigung und Erwartung wie auch die unbe‐ wussten, diffusen Anteile seiner Beziehung werden auf die Lehrpersonen über‐ tragen, die damit „eine Art von Gefühlserbschaft“ (Freud 1914: 542) überneh‐ men. Die Struktur der Beziehung zwischen Lehrperson und Schülerinnen bzw. Schülern bleibt im Prinzip auch für die zweite Instanz der erzieherischen Praxis gleich und ist der familialen Beziehung analog, nämlich grundsätzlich asymmet‐ risch und ungleichgewichtig. Denn sowohl der Erziehungsauftrag der Eltern als auch derjenige der Lehrpersonen erzeugen, Piaget folgend, „Beziehungen des Zwanges, deren Eigenheit es ist, dem Individuum von außen her ein System von Regeln mit verpflichtendem Inhalt aufzuzwingen“ (Piaget 1973: 450; Hvh. HH).
Piaget deutet sie zunächst in Perspektive auf eine eigenständige Moralbildung als „Beziehungen der einseitigen Achtung und des Zwanges“ (Piaget a.a.O.: 456; Hvh. HH) aufgrund der Differenz zwischen der noch relativ ungefestigten leiblich‐ seelisch‐geistigen Verfasstheit der Schülerinnen und Schüler und der ausgereif‐ ten Persönlichkeit der Lehrperson, der gegenüber sich Heranwachsende bis min‐ destens zum Abschluss der Pubertät noch nicht in vollständiger Autonomie und die personale Identität20 wahrend abgrenzen können. Zugleich verschiebt sich mit dem Eintritt in die Schule bzw. Schulklasse das Zahlenverhältnis der Akteure, in dem nun viele Heranwachsende wenigen bzw. einem Erwachsenen gegenüber‐stehen, auch in einer nicht frontal organisierten Unterrichtsform. Im Anschluss an N. Elias und in Abwandlung seines Vergleichs mit dem Fußballspiel (Elias 2006: 172) kann Unterricht als „Spielverlauf aus der Verflechtung der Handlungen einer Gruppe interdependenter Individuen“ ge‐ deutet werden. Schülerinnen und Schüler bilden eine spezifische Figuration, die Schulklasse, die ebenso konkret ist wie die einzelnen Individuen selbst es sind und die für deren Individuierung hoch bedeutsam ist. Zur Figuration der Schul‐ klasse als soziales System gehört die jeweilige Lehrperson lediglich als Repräsen‐ tant der Erwachsenenwelt (Parsons 1987: 107), während die Gruppe der Mit‐ schülerinnen und ‐schüler „ein von den Erwachsenen abgerückter Bereich des 20 Mit „personale Identität“ folge ich Jürgen Straub, der diesen Begriff einführt als ein stets „vorläufiges, zerbrechliches Resultat der kommunikativen Verständigung des Menschen mit sich und anderen … als Ergebnis einer in den Vollzug der sozialen Praxis eingelassenen Verständigung zumal, in der die Sprache eine herausragende Rolle spielt“ (Straub 2000: 171 und 2002); vgl. auch Garz (2000); Kubitza (2005); King (2002) sowie Oevermann (2005)
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indirekten Ausdrucks von Abhängigkeitsbedürfnis ist“ (a.a.O.; Hvh. HH). Hier mag der Begriff „Abhängigkeitsbedürfnis“ zum Widerspruch anregen, doch die feine Strukturdifferenz zwischen Klasse/ Peergroup und Lehrperson wird relevant vor allem in Perspektive auf deren Fähigkeit, Distanzierungs‐ oder Abwehrbewegun‐ gen von Schülerinnen und Schülern pädagogisch statt aus persönlicher Betrof‐ fenheit zu deuten. Damit kommt die Beziehung unter Gleichaltrigen in den Blick, denn diese ist – anders als die zwischen Schüler bzw. Schülerin und Lehrperson – eine Bezie‐ hung unter Gleichen und unterscheidet sich davon durch ihre symmetrische Struktur, wobei die „aus dieser neuen Beziehung sich ergebende Gegenseitigkeit … zur Ausschaltung je‐ des Zwangselements (genügt)“ (Piaget, a.a.O.: 435).
Schulklassen sind daher im Verhältnis zu Lehrpersonen eigenlogische soziale Ge‐ bilde, die sich im Prinzip selbstorganisatorisch gestalten, d.h. eine klare Innen‐ Außen‐Abgrenzung haben, innerhalb deren eine möglichst uneingeschränkte So‐ lidarität der Schülerinnen und Schüler gültig ist, auch wenn der Weg zu dieser Solidarität von Krisen und Einbrüchen begleitet werden kann. In diesem Sinne ist der Vergemeinschaftungsprozess einer Klasse auch nur bedingt pädagogisch be‐ einflussbar und formbar. In der Zusammenarbeit einer Gruppe von Gleichaltri‐ gen und dadurch Gleichgestellten werden bis zum Ende der Schulzeit hin mora‐ lische Orientierungen und Haltungen eingeübt und angeeignet, die Autonomie‐ und Moralbildung entscheidend prägen, da sie nicht mehr auf Forderungen von außen gründen, sondern innerhalb der Peer‐Group selbst im Modus der sozialen Reziprozität entstehen. Für Piaget ergibt sich aus der Erkenntnis, dass „einzig und allein die Zusam‐ menarbeit … zur Autonomie“ führe (a.a.O.: 459), eine Analogie zwischen morali‐ scher und intellektueller Entwicklung, wobei er in Beziehungen der Zusammen‐ arbeit unter Gleichaltrigen das Modell einer kooperativen Gemeinschaft sieht, in dem jegliches menschliche Lernen als ein aktiver Konstruktionsprozess zu ver‐ stehen sei. Im Anschluss an Lütje‐Klose kommen hier Grundannahmen konstruk‐ tivistischen Denkens ins Spiel, wonach Kommunikation und damit Kooperation „die gemeinsame Konstruktion der sozialen Welt“ ermöglichen (Lütje‐Klose 2017: 16).
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Piagets pädagogische Schlussfolgerung mit Bezug auf schulisches Handeln, legitimiert durch den „aktiven Forschungsdrang“ sowie das „Bedürfnis nach Zu‐ sammenarbeit“ des Kindes, schließt mit der Forderung, der Erwachsene, d.h. hier: die Lehrperson, sei „ein Mitarbeiter und kein Lehrmeister“ (a.a.O.: 460‐ 461). Dies lenkt die Aufmerksamkeit zugleich auf eine erste Problematik, die sich aus dem Widerspruch zwischen einem pädagogischen Vorgehen der Lehrperson, das im Sinne Piagets mit einem Bedürfnis der Heranwachsenden nach Zusam‐ menarbeit und Verstehen rechnet und Prozesse der Individuierung intendiert, und jenem, das sich aufgrund von Zwang ergibt (manifest in gesetzlich fixierter Schulpflicht, einem vertikal gegliederten, meritokratischen Bildungssystem, Lernziel‐ und Lernzeitvorgaben, Homogenisierung, Separierung). Mit diesen Überlegungen wird in strukturtheoretischer Perspektive schuli‐ sches Expertenhandeln thematisch. 2.1.2 Zur Struktur pädagogischen Handelns Wie kann pädagogisches Handeln im Kontext Schule im Anschluss an das Vorige determiniert werden? In professionstheoretischer Sicht ist es zunächst einmal ein Expertenhandeln, das sich, wie in Abschnitt 2.1.1. deutlich geworden sein dürfte, vom erzieherischen Handeln der Eltern durch seine Professionsgebun‐ denheit und prinzipielle Kündbarkeit unterscheidet. In Bezug auf meinen For‐ schungsgegenstand gibt hier der strukturanalytische Ansatz Oevermanns erwei‐ terte Möglichkeiten des Verstehens wie auch des Bewältigens von Krisen an die Hand, indem pädagogisches Handeln als eine Beziehungspraxis verstanden und in spezifische (d.h. sach‐ und zweckorientierte) und diffuse Handlungsanteile dif‐ ferenziert (Oevermann 1996: 115, 2002b und 2008) und in drei Dimensionen konzeptualisiert wird.21 Diese sind
erstens die Dimension der Wissensvermittlung (Erfahrungswissen, Traditio‐ nen, Kulturtechniken). Sie umfasst die Ebene des Lernens und der Ausbil‐
21 Die Differenzierung in drei Dimensionen ist der strukturanalytischen Absicht geschuldet. Davon ist das konkrete Handeln der schulischen Akteure zu differenzieren als ein Vor‐ gang, der sich jeweils in der und unter ganzen Person(en) vollzieht: „Jedes Lernen ist per se diffus angelegt. Man lernt – auch als Erwachsener – letztlich nur als ganzer Mensch.“ (Ummel/ Scheid/ Wienke 2005: 87)
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dung und vollzieht sich vorwiegend im Modus der Routine. Auf der Bezie‐ hungsebene betrifft dies aus Perspektive der Lehrperson im Wesentlichen die spezifischen Anteile schulischen Handelns; zweitens die Dimension der Vermittlung von Normen und Werten einer Kul‐ tur.
Diese beiden Dimensionen umfassen das im Prinzip rollenförmige Handeln der Lehrperson. Sie betreffen die Ebene der Bildung im Sinne einer Eigenbewegung des sich bildenden Menschen selbst und konfrontiert ihn unweigerlich mit Kri‐ sen, die wie auch immer von ihm bearbeitet werden müssen.22
Die dritte Dimension pädagogischen Handelns ist die implizit therapeutische und am wenigsten bewusste. Für den Forschungsgegenstand bedeutsam ist sie insofern, als hier die Unabgeschlossenheit der Bildungsprozesse (Auto‐ nomiebildung, Abgrenzungsfähigkeit) in Hinsicht auf die Entwicklung bzw. Entwicklungsprobleme des Heranwachsenden als ganze Person relevant wird (Leiblichkeit, Sexualität, Moral‐ und Autonomiebildung, Sozialität). Für die Gewährleistung ihrer „somatopsychosozialen Integrität“ ist daher „auch … die explizite Berücksichtigung der objektiv gegebenen therapeutischen Di‐ mension unter dem umfassenderen Gesichtspunkt der Prophylaxe konstitu‐ tiv“ (Oevermann a.a.O.: 150; Hvh. d. Autor).
Dieser objektiv gegebene therapeutische Aspekt als dritte Dimension profes‐ sionalisierten Unterrichtshandelns korrigiert und revidiert den klassischen Professionalisierungsbegriff und erlaubt „die Konstruktion eines Typus der >stell‐ vertretenden Krisenlösungnichtstandardisierbarer Dienstleistungunbewusstnächste Zone ihrer Entwicklunggemein‐ samen GegenstandIchIchIchsich