Inklusion als Ausdrucksgestalt: Rekonstruktive Inklusionsforschung an Freien Waldorfschulen [1. Aufl. 2020] 978-3-658-27555-6, 978-3-658-27556-3

Auf der Grundlage von vierzehn Einzelfällen rekonstruiert Hanne Handwerk Sinn- und Bedeutungsstrukturen inklusiver schul

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Inklusion als Ausdrucksgestalt: Rekonstruktive Inklusionsforschung an Freien Waldorfschulen [1. Aufl. 2020]
 978-3-658-27555-6, 978-3-658-27556-3

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XV
Erkenntnisinteresse und Ziel (Hanne Handwerk)....Pages 1-5
Theoretische Rahmung (Hanne Handwerk)....Pages 7-45
Anlage und Durchführung der Studie (Hanne Handwerk)....Pages 47-61
Ebene der Institutionen (Hanne Handwerk)....Pages 63-77
Ebene der Schülerinnen und Schüler (Hanne Handwerk)....Pages 79-329
Ebene der Lehrpersonen (Hanne Handwerk)....Pages 331-424
Ebene der Geschäftsführung (Hanne Handwerk)....Pages 425-434
Dimensionierung (Hanne Handwerk)....Pages 435-442
Modellbildung (Hanne Handwerk)....Pages 443-451
Zusammenführung der Befunde und Ausblick (Hanne Handwerk)....Pages 453-461
Back Matter ....Pages 463-483

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Hanne Handwerk

Inklusion als Ausdrucksgestalt Rekonstruktive Inklusionsforschung an Freien Waldorfschulen

Inklusion als Ausdrucksgestalt

Hanne Handwerk

Inklusion als Ausdrucksgestalt Rekonstruktive Inklusionsforschung an Freien Waldorfschulen Mit einem Geleitwort von Prof. Dr. Dieter Katzenbach

Hanne Handwerk Bad Soden am Taunus, Deutschland

ISBN 978-3-658-27555-6 ISBN 978-3-658-27556-3  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-27556-3 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­ bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer VS © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informa­ tionen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

 

Geleitwort 

Der mit der Ratifizierung der UN‐Behindertenrechtskonvention einhergehende,  menschenrechtlich fundierte Anspruch auf inklusive Bildung stellt das Schulsys‐ tem vor große Herausforderungen. Das gilt nicht nur für staatliche Schulen, son‐ dern auch für die Schulen in freier Trägerschaft – so auch für die Freien Waldorf‐ schulen. Auch die Waldorfpädagogik hat die organisatorische Trennung zwischen  Regel‐  und  Förderschulen reproduziert,  wobei  aus heutiger  Sicht  rückblickend  angefragt werden kann, ob diese Trennung im Einklang mit den Grundprinzipien  der Bildungsphilosophie der Waldorfpädagogik stand. Egal wie man diese Frage  beantwortet: Auch die Freien Waldorfschulen sehen sich mit dem Gebot der In‐ klusion konfrontiert, und sie stellen sich zunehmend dieser Herausforderung.  In überaus akribischer Weise ist Hanne Handwerk in ihrer Studie nun der  Frage nachgegangen, wie die Schulen mit diesen Herausforderungen umgehen.  Sie ordnet sich dabei dem Paradigma Rekonstruktiver Inklusionsforschung zu, in‐ dem sie eben nicht nach quantifizierbaren (Erfolgs‐) Parametern inklusiver Bil‐ dung Ausschau hält, sondern vielmehr den „Sinn‐ und Bedeutungsstrukturen in‐ klusiven  Unterrichtens  für  Prozesse  von  Bildung  und  Individuierung  der  Schülerinnen und Schüler“ (S. 23) nachgeht.  Ihre Rekonstruktionen exemplarisch ausgewählter Bildungsbiographien be‐ rühren durch die Dichte und durch ihre Nähe zum Fallgeschehen in der je indivi‐ duellen Dramatik einer Lebensgeschichte, sie überzeugen aber auch durch die  Herausarbeitung überindividueller Schlüsselthemen, die über den Einzelfall weit  hinausweisen. Es sind die Dimensionen Körper/ Leib auf der einen und Zeit auf  der anderen Seite, die in ihrer Verwobenheit als fallübergreifend herausstechen.  Eindrücklich zeigt Hanne Handwerk an ihren Fallbeispielen auf, wie sehr sich –  gerade prekäre – Bildungsverläufe einer rigiden Zeittaktung entziehen und wie  sehr sie dem Risiko des Scheiterns unterliegen, wenn sie dennoch – wie im staat‐ lichen  Schulwesen  üblich  –  dieser  strengen  Zeittaktung  unterworfen  werden.  Den  Freien  Waldorfschulen stehen  hier Freiräume  offen,  die  sie in den  unter‐

VI  

Geleitwort 

suchten Fällen konstruktiv zu nutzen wussten, was nachweislich zum Bildungser‐ folg der Schülerinnen und Schüler maßgeblich beigetragen hat, diesen vielleicht  überhaupt erst ermöglicht hat.  Hanne Handwerks Studie zeigt aber auch, dass vor überhöhten Heilserwar‐ tungen an inklusive  Bildung gewarnt werden  muss.  Das Fallbeispiel  Quirin  de‐ monstriert  eindrucksvoll,  wie  angesichts  einer  progredienten  Erkrankung   Gefühle der Fremdheit – sowohl im eigenen Körper wie auch in der sozialen Um‐ gebung  und  damit  auch  der  Lerngruppe  –  ein  ständiger  Wegbegleiter  der  Bil‐ dungsbiographie des jungen Mannes waren. Hier ist an Reisers heutzutage leider  etwas in Vergessenheit geratene Theorie integrativer Prozesse zu erinnern, die  darauf hingewiesen hat, dass Integration auf der innerpsychischen Ebene eben  auch ein anstrengendes und zuweilen schmerzhaftes Geschehen ist.  Eine besondere Stärke, vielleicht sogar ein Alleinstellungsmerkmal der Stu‐ die ist es, dass Hanne Handwerk die Rahmung der individuellen Bildungsbiogra‐ phien dezidiert in den Blick nimmt. Gegenstand ihrer Analysen sind daher auch  die Peer‐Beziehungen, der Unterricht, das professionelle Selbstverständnis der  Lehrerinnen und nicht zuletzt auch die organisationale Ebene, die durch Inter‐ views mit den Geschäftsführungen erfasst wird.  So liefert die Studie eine Fülle substanzieller Erkenntnisse zu Prozessen in‐ klusiver Bildung, von denen einige spezifisch für die Situation an Freien Waldorf‐ schulen sind, von denen vielen aber auch eine grundlegende Bedeutung für den  Inklusionsdiskurs insgesamt zukommt.      Juni 2019  Dieter Katzenbach 

 

Dank 

Drei Persönlichkeiten haben die Realisierung meines Forschungsprojektes in be‐ eindruckender Weise gefördert:  Von erziehungswissenschaftlicher Seite war dies Prof. Dr. Dieter Katzenbach  von der Goethe‐Universität Frankfurt. Ihm danke ich dafür, dass er mir nie „Be‐ rater“  war,  sondern  sich  meinen  Anliegen  mit  Ruhe  zuwandte,  Fragen  dazu  stellte  und  mir  zeigte,  dass  der  Gegenstand  Inklusion  für  ihn  auch  auf  einem  fremden Feld interessant werden kann. Mit seiner Stringenz und den oft kon‐ trastiven Perspektiven gab er mir immer wieder eine Möglichkeit, von den faszi‐ nierenden Nebenthemen, die im Laufe des Forschungsprozesses aufkamen, zur  zentralen Frage zurückzufinden. Für meine Arbeit hätte ich mir keinen besseren  Begleiter denken können!  Für die Finanzierung des Projektes sorgten Christian Boettger von der Päda‐ gogischen Forschungsstelle beim Bund der Freien Waldorfschulen Stuttgart und  Wilfried Schneider von der Michael‐Stiftung Darmstadt. Beide setzten sich von  Anfang an mit außergewöhnlichem Engagement dafür ein, dass ich meine Fragen  zur Inklusion an Freien Waldorfschulen nach wissenschaftlichen Kriterien unter‐ suchen konnte. Ihre großzügige und freilassende Förderung über sieben Jahre  ermöglichte es mir, die Studie erkenntnisoffen im Interesse der Sache zu reali‐ sieren. Ihnen gilt mein besonderer Dank!  Danken  will  ich  auch  den  Schülerinnen  und  Schülern,  den  Lehrpersonen   sowie den Persönlichkeiten aus Geschäftsführung und Verwaltung der vier Schu‐ len, die sich nicht allein Zeit nahmen für meine unbequemen Fragen und Anlie‐ gen, sondern die auch bereit waren für Interviewgespräche und Gruppendiskus‐ sionen,  einschließlich  video‐  oder  audiographischer  Aufnahmen  im  Unterricht  und in Konferenzen.  Ich danke den Kolleginnen und Kollegen der Goethe‐Universität Frankfurt  sowie der Johannes‐Gutenberg‐Universität Mainz, die aus einem gemeinsamen  Erkenntnisinteresse  mein  Projekt  unterstützten,  indem  sie  sich  in  zahlreichen  Kolloquien über mehrere Stunden hinweg mit meinem Material beschäftigten,  Gedankenexperimente entwarfen und erste Strukturhypothesen ableiteten. Hier 

VIII  

Dank 

denke ich zuerst an Ulrich Oevermann, der sich im Rahmen seiner Forschungs‐ praktika  viel  Zeit  nahm  und  durch  ausführlichstes  Interpretieren  winziger   Sequenzstellen  mit  hoch  spannenden  Exkursen  schließlich  in  einem  Satz  die  „Sprache des Falles“ erschließen konnte. In diesem Sinne danke ich auch der Stu‐ dentischen AG Objektive Hermeneutik unter der Leitung von Andreas Schmidt  sowie der Doc‐AG Objektive Hermeneutik mit Felix Buchhaupt, Julia Gasterstädt,  Marian Kratz, Bettina Reiss‐Semmler, Nadine Schallenkammer, Gerlinde Uphoff  und anderen.  Nach Mainz richtet sich mein Dank vor allem an Axel Fehlhaber, Detlef Garz,  Annegert Hemmerling und Uwe Raven, die sich im Rahmen des objektiv‐herme‐ neutischen Forschungskolloquiums an vielen Freitagnachmittagen meinen Pro‐ tokollen widmeten. Ihnen danke ich nicht allein für aufschlussreiche Interpreta‐ tionen  und  kritische  Kommentare,  sondern  vor  allem  für  die  Mahnung  zur  rigorosen Beschränkung der Fälle, um die Ergebnisse in gehöriger Schärfe zeigen  zu können.  Schließlich danke ich Felix Buchhaupt für die sachkundige Unterstützung bei  den Videoaufnahmen in der 6. Klasse an Schule A.

 

Vorwort 

Der vorliegende Band dokumentiert die Ergebnisse des Forschungsprojektes „In‐ klusion an Freien Waldorfschulen“, das ich im Rahmen der Goethe‐Universität  Frankfurt am Institut für Sonderpädagogik durchgeführt habe.  Der ursprüngliche empirische Hintergrund der Untersuchung liegt weit zu‐ rück. Er führt zu den Schülerinnen und Schülern, die ich zuerst an einer Freien  Waldorfschule, später einer Waldorf‐Förderschule als Klassen‐ und Fachlehrerin  über viele Jahre unterrichtete. Die mannigfachen, oft divergierenden Erfahrun‐ gen während dieser Tätigkeit lösten eine Fülle von Ungewissheiten und pädago‐ gischen Fragen aus, die mich auch nach Abschluss meiner Lehrtätigkeit intensiv  beschäftigten. Es waren vor allem die Heranwachsenden, die ihren schulischen  Lern‐ und Bildungsprozess unter teils dramatischen Bedingungen und von mas‐ siven Einschränkungen belastet absolvieren mussten, die mir zugleich zeigten,  welches Ausmaß an Resonanzfähigkeit und Lernwillen sie dabei freisetzen konn‐ ten.  Ihr  Beispiel  lehrte  mich,  das  für  die  Praxis  selbstverständlich  Gedachte  in  Frage  zu  stellen  und  Separation,  wie  sie  auch  in  allgemeinbildenden  Waldorf‐ schulen und Waldorf‐Förderschulen betrieben und mehr oder weniger einleuch‐ tend begründet wird, mit „anderen Augen“ zu sehen. Mich ließ die Frage nicht  los, ob nicht grundsätzlich ein Bildungsort eine Bereicherung für alle Beteiligten  wäre und ob dafür nicht vernünftige, angemessene Bedingungen zu etablieren  wären.  In diese Überlegungen mischten sich jedoch Bedenken: Gab es nicht stich‐ haltige  pädagogische  Gründe  dafür,  die  Separation  aufrechtzuerhalten?  Hatte  ich nicht deren bildungsproduktive Wirkung am Beispiel der positiven Entwick‐ lung zahlreicher Schülerinnen und Schüler der Förderschule selbst erlebt? Gab  es andererseits nicht Freie Waldorfschulen, die mit inklusiven Unterrichtsformen  in allen Klassenstufen längst Erfahrungen gemacht hatten? Welche Erkenntnisse  lagen hier vor?  Fragen und Zweifel waren es, die das Erkenntnisinteresses am Fall Inklusion  evozierten und die vorliegende Untersuchung begründen. 

 

Inhaltsverzeichnis  



Erkenntnisinteresse und Ziel ....................................................................... 1 



Theoretische Rahmung ............................................................................... 7 

2.1 

Bildung und Lernen im Aspekt von Krise und Routine .............................. 8  2.1.1 

Zur Struktur der pädagogischen Beziehung .............................. 11 

2.1.2 

Zur Struktur pädagogischen Handelns ...................................... 15 

2.1.3 

Pädagogische Professionalität ................................................... 19 

2.1.4 

Zum Konzept pädagogischer Deutungsmuster ......................... 22 

2.1.5 

Unterricht als sinnstrukturierte Praxis ...................................... 23 

2.2 

Inklusion und Exklusion – Egalitäre Differenz und Fremdheit ................. 24 

2.3 

Sonderpädagogischer Förderbedarf: Für und Wider einer   unscharfen Kategorie ............................................................................... 30 

2.4 

Antinomien und Dilemmata ..................................................................... 33 

2.5 

Historie und Struktur der Freien Waldorfschulen:   Gründungssituation und Separierung ...................................................... 34 

2.6 

Zum Bildungskonzept der Waldorfpädagogik – Implikationen und  Differenzlinien .......................................................................................... 37 

2.7 

Methodologische und methodische Zugänge ......................................... 41  2.7.1 

Zur Methodologie der Fallrekonstruktion (Sequenzanalyse) .... 42 

2.7.2 

Methodische Schritte ................................................................ 44 



Anlage und Durchführung der Studie ....................................................... 47 

3.1 

Untersuchungsfeld ................................................................................... 48  3.1.1 

Schule A...................................................................................... 49 

3.1.2 

Schule B ...................................................................................... 51 

3.1.3 

Schule C ...................................................................................... 52 

3.1.4 

Schule D ..................................................................................... 52 

XII  

Inhaltsverzeichnis 

3.2 

Zeitrahmen – Erhebungsinstrumente – Protokollierung und Notierung 53 

3.3 

Sichtung und Auswahl der Daten ............................................................. 56 

3.4 

Schematische Darstellung des Datenkorpus ........................................... 57 

3.5 

Arrangement und Darstellung der Fälle .................................................. 58 



Ebene der Institutionen ............................................................................ 63 

4.1 

Schule A .................................................................................................... 63 

4.2 

4.3 

4.4 

4.1.1 

Außendarstellung: Analyse eines Broschüre‐Textes ................. 65 

4.1.2 

Diagnostisches Verfahren .......................................................... 67 

Schule B .................................................................................................... 68  4.2.1 

Außendarstellung: Analyse eines Broschüre‐Textes ................. 68 

4.2.2 

Diagnostisches Verfahren .......................................................... 70 

Schule C .................................................................................................... 70  4.3.1 

Außendarstellung: Analyse eines Zitats aus dem Leitbild ......... 72 

4.3.2 

Diagnostisches Verfahren .......................................................... 74 

Schule D .................................................................................................... 74  4.4.1 

Außendarstellung: Analyse eines Textes aus dem  Internetauftritt ........................................................................... 75 

4.4.2 

Diagnostisches Verfahren .......................................................... 76 



Ebene der Schülerinnen und Schüler ........................................................ 79 

5.1 

Erster Fall: Quirin – Fremdheit im Eigenen .............................................. 79  5.1.1 

Quirins Weg in die Freie Waldorfschule .................................... 80 

5.1.2 

Am Anfang ................................................................................. 87 

5.1.3 

Ich und Die ................................................................................. 95 

5.1.4 

„wer macht das denn“ ............................................................... 97 

5.1.5 

Die Lehrer legen sich ins Zeug ................................................. 103 

5.1.6 

Kunstunterricht ........................................................................ 119 

5.1.7 

Zusammenfassung Sequenzanalyse Quirin ............................. 121 

5.1.8 

Unterfall 3: Jana – Reflexionen einer Mitschülerin ................. 125 

5.1.9 

Fazit Fall Quirin ........................................................................ 159 

Inhaltsverzeichnis  

5.2 

5.3 

5.4 

5.5 

XIII 

Zweiter Fall: Olaf – Bühnenspiel als Vorschein des Selbstentwurfs ...... 165  5.2.1 

Olafs Weg in die Freie Waldorfschule ..................................... 166 

5.2.2 

„hast du jetz über den winter geschrieben“ ............................ 169 

5.2.3 

Probleme mit Stockholm ......................................................... 172 

5.2.4 

Distanz als Habitusformation oder Folge schulischer Krisen .. 182 

5.2.5 

Auf der Bühne: Erste Selbsterkenntnis .................................... 191 

5.2.6 

„wenn man auf einmal so rauskommt“ ................................... 198 

5.2.7 

Fazit Fall Olaf ............................................................................ 203 

Dritter Fall: Tessa – Zugehörigkeit im Kontrast ..................................... 210  5.3.1 

Tessas Weg in die Freie Waldorfschule ................................... 210 

5.3.2 

Freunde? .................................................................................. 212 

5.3.3 

„rück doch ma eins auf” ........................................................... 219 

5.3.4 

„behindert is kein schimpfwort“ .............................................. 224 

5.3.5 

Unterfall 4: „wir bekommens nich so stark mit“ ..................... 237 

5.3.6 

Unterfall 5: „große herausforderungen für den lehrer“ .......... 252 

5.3.7 

Fazit Fall Tessa ......................................................................... 263 

Vierter Fall: Irina – Individuierung in Atemnot ...................................... 265  5.4.1 

Irinas Weg in die Freie Waldorfschule ..................................... 266 

5.4.2 

Unterm Regenbogen: Analyse einer Zeichnung ...................... 266 

5.4.3 

Im Streit ................................................................................... 273 

5.4.4 

„es gibt aufgaben die kann ich garnich kapiern“ .................... 276 

5.4.5 

Fazit Fall Irina ........................................................................... 277 

Fünfter Fall: Serge – Im Spiegel der Anderen ........................................ 279  5.5.1 

Serges Weg in die Freie Waldorfschule ................................... 279 

5.5.2 

„gud“ – Eine Fallminiatur ......................................................... 280 

5.5.3 

Unterfall 6: Perspektive der Klassenlehrerin ........................... 285 

5.5.4 

Unterfall 7: Ludwig................................................................... 286 

5.5.5 

Unterfall 8: Basha .................................................................... 299 

5.5.6 

Fazit Fall Serge ......................................................................... 312   

XIV  

Inhaltsverzeichnis 

5.6 

Sechster Fall: Gregor – Ironisierung als Bearbeitungsmodus ................ 312  5.6.1 

Gregors Weg in die Freie Waldorfschule ................................ 313 

5.6.2 

Vorspiel .................................................................................... 315 

5.6.3 

Ironie aus Frustration .............................................................. 319 

5.6.4 

Bloßgestellt .............................................................................. 321 

5.6.5 

Fazit Fall Gregor ....................................................................... 324 

5.7 

Kontrastierung Schülerinnen und Schüler ............................................. 324 



Ebene der Lehrpersonen ........................................................................ 331 

6.1 

Pädagogische Deutungsmuster ............................................................. 331 

6.2 

6.1.1 

Siebter Fall: Frau Oswald – Prinzip doing inclusion ................. 331 

6.1.2 

Achter Fall: Frau Auth – Inklusion als Maxime ........................ 363 

6.1.3 

Neunter Fall: Frau Abel – Teilhabe ohne Verstehen? ............. 380 

6.1.4 

Zehnter Fall: Frau Fester – „zusammen leben“ als  Deutungsmuster ...................................................................... 382 

Beispiele (inklusiven) Unterrichtens ...................................................... 384  6.2.1 

Elfter Fall: Unterricht als Wunschkonzert ............................... 384 

6.2.2 

Zwölfter Fall: Unterricht im Modus der Provokation .............. 402 

6.3 

Kontrastierung Lehrpersonen ................................................................ 422 



Ebene der Geschäftsführung .................................................................. 425 

7.1 

Dreizehnter Fall: Herr Sorell – Freie Waldorfschule als   Möglichkeitsraum .................................................................................. 425 

7.2 

7.3 

7.1.1 

Einführung in den Fall .............................................................. 425 

7.1.2 

Inklusion: ein „wichtiger sozialgedanke“ ................................. 426 

7.1.3 

Fazit dreizehnter Fall ............................................................... 430 

Vierzehnter Fall: Frau Seefeld – Geschäftsführung in pädagogischer  Perspektive ............................................................................................. 431  7.2.1 

Einführung in den Fall .............................................................. 431 

7.2.2 

Die Chance zwingender Bedingungen ..................................... 433 

7.2.3 

Fazit vierzehnter Fall ................................................................ 433 

Kontrastierung Geschäftsführung .......................................................... 434 

Inhaltsverzeichnis  

XV 



Dimensionierung .................................................................................... 435 

8.1 

Dimensionierung Schülerinnen und Schüler ......................................... 435 

8.2 

Dimensionierung Lehrpersonen ............................................................ 440 

8.3 

Dimensionierung Geschäftsführung ...................................................... 442 



Modellbildung ......................................................................................... 443 

9.1 

Modellierung der Ergebnisse Schülerinnen und Schüler ...................... 443 

9.2 

Modellierung der Ergebnisse Lehrpersonen ......................................... 448 

9.3 

Modellierung der Ergebnisse Geschäftsführung ................................... 450 

10 

Zusammenführung der Befunde und Ausblick ....................................... 453 

Literaturverzeichnis ............................................................................................ 463   

 

„Allerdings ist ungewiß, ob tatsächlich die Gleichheiten das Entscheidende, die qua‐ litativen Differenzen das bloß Rückständige sind, und vor allem: ob nicht in einer ver‐ nünftig eingerichteten Welt das qualitativ Verschiedene wiederum zu einem Recht  käme,  das  gegenwärtig  von  der  Einheit  der  technologischen  Vernunft  nur  unter‐ drückt wird.“ 1  T. W. Adorno 1969 

   

1 Erkenntnisinteresse und Ziel 

Die  Fülle  der  bisher  zum  Thema  schulischer  Inklusion  erschienenen  Arbeiten  wäre Anlass genug gewesen, die Segel zu streichen, wenn sich die Untersuchung  nicht  in  einem  Kontext  bewegte,  der  in  den  Diskursen  der  Erziehungswissen‐ schaften, auch der Sonderpädagogik, bis auf wenige Ausnahmefälle2 unterreprä‐ sentiert ist. Die vorliegende Studie beabsichtigt daher, diese Lücke ein Stück weit  zu füllen und den Inklusionsdiskurs mit der materialen Analyse schulischer Praxis  und Reflexion auf einem eher fremden Feld zu erweitern.  Mein zentrales Erkenntnisinteresse richtete sich auf die Frage: Wie wären  Schule und Unterricht im Sinne eines ganzheitlichen Bildungsraums zu gestalten?  Mit „ganzheitlich“ meine ich ein allgemein gültiges, auf die Bildung des „ganzen  Menschen“3 angelegtes Konzept, in dem Schule sich grundsätzlich im Bewusst‐ sein der Vielfältigkeit menschlicher Erscheinung und Entwicklung4 und zugleich 

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T. W. Adorno 1969:147. Bei allen Zitaten wird die Orthographie des Originaltextes ohne  Kennzeichnung der Abweichung mit übernommen.  Vgl. Idel 2007; Ullrich 1999 und 2004; Kunze 2011; Graßhoff 2006 und 2008  Gemeint ist hier die Gesamtheit menschlicher Seinsausdrücke des Denkens, Fühlens und  Handelns.  Anschließend an Detlef Garz verbinde ich mit dem Begriff „Entwicklung“ die Vorstellung,  dass er erstens die Analyse faktisch sichtbarer Formen der Lebenspraxis „ohne vorgefer‐       

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 H. Handwerk, Inklusion als Ausdrucksgestalt, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27556-3_1

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1 Erkenntnisinteresse und Ziel 

in uneingeschränkter pädagogischer Autonomie so organisiert, dass sie selber für  alle  ihre  Schülerinnen  und  Schüler  den  je  angemessenen  pädagogischen  Rah‐ men, Raum und Zeit für Lern‐, Bildungs‐ und Reflexionsprozesse schafft und ver‐ antwortet – und in diesem Sinne inklusiv wäre. Daran schloss sich die Frage, ob  dadurch die strukturelle Widersprüchlichkeit der pädagogischen und selektiven  Funktion von Schule sukzessive aufgehoben, zumindest abgeschwächt werden  könne.  Diesem persönlichen Interesse korrespondierte die 2009 auch von Deutsch‐ land ratifizierte UN‐Convention on the Rights of Persons with Disabilities (Über‐ einkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behin‐ derungen, nachfolgend UN‐BRK). In deren Folge und im Anschluss an maßgeb‐ liche Motive und Anliegen der Integrationsbewegung aus den achtziger Jahren  wurde  Inklusion  zu  einer  „Leitthematik“  (Böttinger  2016),  die  in  menschen‐ rechtsbasierter,  anerkennungstheoretischer  oder  sozialwissenschaftlicher  Per‐ spektive  erörtert  wird  (Budde/  Hummrich  2015).  Auch  im  Kontext  von  Schule  und Unterricht geriet der inklusive Anspruch zu einem breit und kontrovers dis‐ kutierten Thema.  Vor diesem Hintergrund nahm die Idee für ein Forschungsprojekt zu Inklu‐ sion an Freien Waldorfschulen Gestalt an. Die Entscheidung für diese Schulform  fiel zum einen wegen ihres formalen Status, zum anderen wegen ihres pädago‐ gischen Konzepts (Leber 2003, Hübner 2005, Schieren 2010). Erste Überlegun‐ gen  zur  Präzisierung  der  Forschungsfrage  ließen  vermuten,  die  relativ  weitge‐ hende Autonomie, die mit dem Status einer „Schule in freier Trägerschaft mit  besonderer pädagogischer Prägung“ verbunden ist, könne für das Thema Inklu‐ sion  aufschlussreich  sein,  da  diese  Autonomie  es  erlaubt,  spezifisch  inklusive   Aspekte  von den  grundsätzlichen  strukturellen  und  pädagogischen Problemen  von Schule und Unterricht zu differenzieren (siehe Kap. 2.1.1.). 

tigtes theoretisches Netz“ ermöglicht, zweitens sich darin, in Differenz zu Begriffen der  Reifung und Sozialisation, ein aktives Subjekt ausdrückt und drittens der Entwicklungsbe‐ griff der Eigenlogik der Erziehungswissenschaft als einer zugleich deskriptiven und Nor‐ men  setzenden  Disziplin  korrespondiert  (vgl.  Garz  2000:  17).  Eine  weitere  Anregung  ergab sich aus Bronfenbrenners Entwicklungsbegriff i. S. einer „gegenseitigen Anpassung  zwischen dem aktiven, sich entwickelnden Menschen und den wechselnden Eigenschaf‐ ten seiner unmittelbaren Lebensbereiche. Dieser Prozeß wird fortlaufend von den Bezie‐ hungen dieser Lebensbereiche untereinander und von den größeren Kontexten beein‐ flußt, in die sie eingebettet sind." (Bronfenbrenner 1981, S. 37) 

1 Erkenntnisinteresse und Ziel  



Dafür sprach, dass dieser Status es den Freien Waldorfschulen ermöglicht,  Schülerinnen  und  Schüler  auch  ohne  die  Zuschreibung  eines  sonderpädagogi‐ schen Förderbedarfs gemeinsam mit anderen zu unterrichten. Der in diesen Aus‐ nahmefällen5  vollzogene  Verzicht  einer  Freien  Waldorfschule  auf  Kategorisie‐ rung  und  Aussonderung  entspricht  einerseits  ihrem  inklusiven  Anspruch,  hat  jedoch in einigen Bundesländern den Verzicht auf höhere finanzielle Zuschüsse  für die Einrichtung zur Folge. Dessen ungeachtet wurden und werden an Freien  Waldorfschulen Schülerinnen und Schüler mit diagnostizierten wie auch diffusen  Einschränkungsformen unterrichtet, entweder aufgrund einer positiven schuli‐ schen Entwicklung, die in dieser Schulform prinzipiell auf lange Sicht angelegt ist,  oder  weil  die  Erziehungsberechtigten  eine  sonderpädagogische  Überprüfung  verweigern bzw. sie von ihnen oder den Lehrpersonen als nicht unbedingt erfor‐ derlich gesehen wird.  Dafür sprach überdies, dass abgesehen von den rechtlich‐organisatorischen  Rahmenbedingungen ein inklusiver Anspruch im Prinzip schon im Bildungskon‐ zept der Freien Waldorfschulen verbürgt ist. Zwar garantiert deren inklusive Kon‐ stitution  noch  keine  inklusive  pädagogische  Haltung  und  Praxis  der  Akteure,  doch sie hat zumindest das Potential, realisierbar zu werden, was in vielen ihrer  Aufgabenfelder längst verwirklicht wird, z.B. in der partnerschaftlichen Entschei‐ dung über ein Arbeitsbündnis6 zwischen Schule und Schülerinnen/Schülern bzw.  deren Eltern (vgl. Kap. 2.6.), in der autonomen Personalplanung (Einarbeitung  der Novizen, Einstellung der Lehrpersonen und deren Fortbildung), in dem ent‐ wicklungspsychologisch begründeten Curriculum sowie im Verzicht auf die Praxis  der  Nicht‐Versetzung  aufgrund  schwacher  Schülerleistungen  oder auch  in  der  anderen Intention und Form der Zeugnisse für die Schülerinnen und Schüler (vgl.  Kap. 6.1.1.3.).  Den Ausschlag für die Durchführung der Studie gab schließlich die Tatsache,  dass  zur  Schulkarriere  von  an  Freien  Waldorfschulen  inklusiv  unterrichteten  Schülerinnen und Schülern mit einem formal ausgewiesenen Sonderpädagogi‐ schen Förderbedarf sowie zu den dort gemachten Erfahrungen mit Inklusion bis‐

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Ich spreche von Ausnahmefällen, da Freie Waldorfschulen über Aufnahme bzw. Fortset‐ zung eines Arbeitsbündnisses jeweils fallspezifisch entscheiden. Eine für alle verbindliche  Vereinbarung zu inklusiver Beschulung gibt es in dieser Schulform nicht.  Vgl. Oevermann 1996: 115, 141‐145 

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1 Erkenntnisinteresse und Ziel 

her noch keine systematischen und methodisch gestützten Untersuchungen vor‐ liegen.7 Die rekonstruktive Aufarbeitung schulbiographischer und inklusionspä‐ dagogischer Erfahrungen in engster Anbindung an die Wirklichkeit dieser Schul‐ form  dürfte  daher  nicht  nur  für  die  Waldorf‐Community,  sondern  für  die  schulpädagogische Inklusionsdebatte insgesamt von Interesse sein.8  Grundlegende  Positionen  der  Waldorfpädagogik  im  erziehungswissen‐ schaftlichen Diskurs wurden in den letzten Jahren in mehreren Arbeiten darge‐ legt (z.B. Frielingsdorf 2012, Schieren 2016); auch zu fachwissenschaftlichen und  didaktischen  Themen  (z.B.  Schmelzer  2018,  Sommer  2017,  Wiehl  2015,  Zech  2017) sowie zu Schulqualität und Lernerfahrungen von Waldorfschülern (Lieben‐ wein/Barz 2015; Randoll 1997 und 2007; Randoll/ Graudenz et al. 2017) liegen  wichtige Untersuchungen vor. Mein Anliegen ist hingegen, auf der Basis der kon‐ kreten Praxis der schulischen Akteure differenzierte Erkenntnisse zu gewinnen  über Möglichkeitsspektren, die durch inklusiven Unterricht an Freien Waldorf‐ schulen (im Folgenden FWS9) eröffnet werden, und anhand materialer Analysen  des  je  einzelnen  Falles  nachzuweisen,  welche  Bedeutung  dieser  pädagogische  Ansatz für die Beteiligten gewinnt.  Untersucht  werden  FWS,  die  entweder  auf  dem  Weg  sind,  ihr  pädagogi‐ sches  Konzept  längerfristig  an einem  inklusiven  Anspruch zu  orientieren,  oder  die bereits auf Erfahrungen damit zurückblicken können. Dabei steht im Zentrum  des analytisch orientierten Erkenntnisinteresses  

die Klärung der Frage nach Sinn‐ und Bedeutungsstrukturen inklusiven Un‐ terrichts für Prozesse von Bildung und Individuierung der Schülerinnen und 

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Zur Schulbiographie von so genannten „Regel‐“Waldorfschülerinnen und ‐schülern vgl.  Idel (2007 und 2012); Graßhoff (2006 und 2008); zur Biographie von Waldorflehrerinnen  und ‐lehrern vgl. Kunze (2013); zu arbeitsbezogenen Verhaltens‐ und Erlebensmustern  von  Lehrpersonen  an  heilpädagogischen  Schulen  vgl.  Randoll/  Schmalenbach/  Peters  (2014)  Zur Relevanz von Studien an Schulen in freier Trägerschaft für andere Schulformen vgl.  Demmer‐Dieckmann (2004); Helsper (2009); Idel (2004 und 2012), Ullrich (2004); eine  vergleichende Studie zu Montessori‐ und FWS findet sich bei Randoll/ Graudenz (2017).  Abkürzungen wurden allein mit Rücksicht auf die Ausdauer der Leserinnen und Leser vor‐ genommen. Dabei wird FWS anstelle von Freie Waldorfschule auch für die Pluralbildung  verwendet; das hierfür notwendige „n“ möge jeweils ergänzt werden. Gleiches gilt auch  für die Deklination der Abkürzung SPF für den Terminus „Sonderpädagogischer Förder‐ bedarf“. Ich bitte um Nachsicht für die unsäglichen Abkürzungen SuS für Schülerinnen  und Schüler bzw. LP für Lehrpersonen, die an manchen Stellen verwendet werden. 

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1 Erkenntnisinteresse und Ziel  



Schüler, und zwar ohne eine vorherige dichotome Klassifizierung in solche  „mit“ und solche „ohne“ ausgewiesenen Sonderpädagogischen Förderbe‐ darf, sondern von allen Heranwachsenden einer Klasse (vgl. Kap. 2.1.1.) mit  allen Themen, die sie im Hinblick auf Inklusion und ihren individuellen schu‐ lischen Bildungsprozess reflektieren, sei es als Förderung, Belastung oder  Einschränkung.  Vor diesem Hintergrund und in Anbetracht der Verflechtungszusammenhänge  (Norbert Elias) und Passungsbedingungen der schulischen Akteure wird  



die  Bedeutung  der  Professionalisiertheit  des  (inklusions)  pädagogischen  Handelns10 und der professionellen Deutungsmuster der Lehrpersonen in  den Blick genommen mit der Frage nach ihrer Bedeutung für einen spezifi‐ schen Fall.  Schließlich wird die Perspektive der Institution beleuchtet, soweit sie für die  Klärung eines Falles bzw. den Forschungsgegenstand aufschlussreich ist. 

Die Ergebnisse der nach inklusionsrelevanten Kriterien ausgewählten Fälle wer‐ den anschließend in Dimensionen gefasst, kontrastiert und in analytischer Per‐ spektive auf den Forschungsgegenstand in folgenden Hinsichten befragt:    

erstens  welche  Strukturmerkmale  sich  in  Freien  Waldorfschulen  in  Bezug  auf die Forschungsfrage zeigen ließen,  zweitens welche Probleme bei der Umsetzung eines inklusiven Anspruchs  trotz der relativ günstigen Strukturbedingungen der FWS sichtbar werden,  drittens  ob  Schwierigkeiten  der  Implementierung  aus  dem  inklusiven  Bil‐ dungsanspruch resultieren oder allgemeine pädagogische Phänomene sind. 

Nach  einer systematischen  Zusammenfassung  der  Ergebnisse  erfolgt  abschlie‐ ßend  eine  Modellbildung  im  Sinne  eines  Beitrags  zu  einer  Theorie  schulischer  Inklusion. 

10   Die hier und an späteren Stellen gesetzte Klammer ist der Frage geschuldet, ob die damit  implizit  markierte  Differenz  zu  pädagogischem  Expertenhandeln  tatsächlich  auf  einer  Strukturdifferenz gründet. 

 

2 Theoretische Rahmung 

Zentrales  Forschungsinteresse  der  Arbeit  ist  die  Untersuchung  inklusiver  Pro‐ zesse in Schule und Unterricht mit dem Ziel, auf der Basis materialer Einzelfall‐ analysen  aus  der  unmittelbaren  Berührung  mit  dem  Feld  empirisch  gesättigte  Erkenntnisse zu gewinnen. Die folgenden Abschnitte konzentrieren sich daher  auf Theorieansätze, die in strukturanalytischer Perspektive mit diesem Gegen‐ stand in Zusammenhang stehen, hier also zunächst alles, was Prozesse von Bil‐ dung  und  Individuierung  im  inklusiv  orientierten  schulischen  Kontext  generell   betrifft. Dabei nimmt die Objektive Hermeneutik Ulrich Oevermanns den größ‐ ten  Raum  ein  (Oevermann  2000  und  2002a).  Dies  nicht  aufgrund  einer  „An‐ schlussfähigkeit“,  sondern  weil  die  Reichweite  des  Konzepts  von  Individuation  und  Sozialisation  Perspektiven  des  Sinnverstehens  liefert  und  das  von  Oever‐ mann entwickelte Erschließungsverfahren es ermöglicht, Sinn‐ und Bedeutungs‐ strukturen schulpädagogischer Praxis zu rekonstruieren (Oevermann 2003: 32),  so dass Chancen wie Problemzonen des spezifisch Inklusiven im Kontext Schule  im Material selber bestimmt werden können.11 Da sich die inkludierende Wir‐ kung pädagogischen Handelns am markantesten im Unterrichtsgeschehen selbst  zeigen lässt, beziehe ich mich hierbei vor allem auf die Theorie des Unterrich‐ tens,  die  von  Andreas  Gruschka  2013  vorgelegt  wurde  und  auf  die  ich  in  Ab‐ schnitt 2.1.5. kurz eingehe.  Der theoretischen Rahmung der Waldorfpädagogik bzw. FWS sind die Ab‐ schnitte  2.5.  und  2.6.  gewidmet.  Weitere  theoretische  Bezugnahmen  werden  erst im Verlauf der Fallrekonstruktion bzw. der Kontrastierung expliziert, je nach‐ dem sie im Material thematisch sind und zur Aufklärung eines Falles beitragen.   

11   Da die Studie keine programmatische Absicht zum Thema schulische Inklusion verfolgt,  wird auf die vielen wichtigen Arbeiten z.B. zur inklusiven Fach‐Didaktik hier lediglich in  Ausnahmefällen Bezug genommen.      © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 H. Handwerk, Inklusion als Ausdrucksgestalt, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27556-3_2

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2 Theoretische Rahmung 

2.1 Bildung und Lernen im Aspekt von Krise und Routine  In historischer Perspektive lässt der Begriff Bildung einen Verlust an Deutungssi‐ cherheit erkennen, der mit wachsenden pädagogischen Ansprüchen, „Grenzver‐ schiebungen“ des Privaten und Schulischen (Kolbe/ Reh et al. 2009: 17), diver‐ gierenden  Erziehungsvorstellungen  und  einer  sukzessiven  Auflösung  bzw.  Pluralisierung  pädagogischer  Grundbegriffe  verbunden  ist,  die  frühere  Auffas‐ sungen von Bildung obsolet erscheinen lassen. Für das Thema Inklusion wird hier  Raphael  Koßmanns  Kritik  an  der  semantischen  Unschärfe  und  der  tradierten  „Heiligkeit“ des Bildungsbegriffs interessant, den der Autor im Rahmen einer kri‐ tischen Analyse des Begriffs „Lernbehinderung“ verflochten sieht mit Qualifika‐ tions‐ und Selektionsfunktionen im schulischen Kontext. Er fordert daher, den  Bildungsbegriff aufs Korn zu nehmen und  „das Spektrum empirisch statthabender Bildung auszubuchstabieren; nicht nur hin‐ sichtlich  ihrer  Gelingensformen,  sondern  auch  in  Richtung  miss‐lingender,  für  die  Subjekte nachteiliger Ergebnisse von Bildungsprozessen.“ (Koßmann 2019: 145) 

Ich halte den Begriff Bildung i.S. einer qualitativen Augmentation angesichts der  gegenwärtigen  Fokussierung  schulischen  Lernens  auf  Kompetenzbildung  und  Präsentation  (Gruschka  2011)  in  Hinsicht  auf  den  Forschungsgegenstand  den‐ noch für unverzichtbar, werde ihn jedoch gerade deshalb zunächst mit kritischen  Überlegungen von Wimmer in Zusammenhang bringen. Wimmer hält den Glau‐ ben an eine dem Pädagogischen inhärente, identitätsstiftende „Bildungsidee“ für  eine Fiktion (Wimmer 1996: 413, 419). Die Verkennung der Tatsache einer pro‐ longierten, real aber nicht mehr existierenden identischen Bildungsidee könne   – so der Autor – zur Halbbildung (Adorno)12 oder zur Disziplinarmacht13 verkom‐

12   In unserem Zusammenhang macht eine Bemerkung Adornos nachdenklich, der Halbbil‐ dung als Surrogat jener „Differenzierungsmomente“ sieht, die er mit dem Begriff der Bil‐ dung verbindet: „Bildung und Differenziertheit sind eigentlich dasselbe“ (Adorno 2006:  36). Nach Schumm könne sich Halbbildung angesichts der „neuen Hegemonie … der Kul‐ turindustrie … die Vorherrschaft der Halbbildung zunutze machen, indem sie die Kultur  unter dem Schein, es handele sich noch um Bildung, vollständig unter ihre Regie nimmt.“  (Schumm, W. 2006: 47)  13   Foucault  beschreibt  Disziplinarmacht  (zunächst  mit  Bezug  auf  den  Militärapparat)  als  „Mittel der guten Abrichtung“: „Zweifellos liegt der Erfolg der Disziplinarmacht am Ein‐ satz einfacher Instrumente: des hierarchischen Blicks, der normierenden Sanktion und  ihrer Kombination im Verfahren der Prüfung.“ (Foucault 1994[1976]: 220) 

2.1 Bildung und Lernen im Aspekt von Krise und Routine 



men (Wimmer a.a.O.: 422). Es geht ihm darum, verkrustete oder hohle Begriff‐ lichkeiten zu hinterfragen und den Blick freizumachen, um Bildung neu bestim‐ men zu können. Letzteres begründet den hier vorgenommenen Bezug auf Wim‐ mers Kritik. Im Fokus auf Bildung kommt zudem die Dynamik von Gewissheit und  Ungewissheit bzw. des bestimmt Unbestimmten als Konstitutionsbedingung des  Pädagogischen  in  den  Blick  (Heydorn  1980;  Ehrenspeck/  Rustemeyer  1996;  Helsper  2003;  Böing  2017:  228‐230),  jener  bleibende  Rest  von  „Nicht‐Wissen  und Nicht‐Wissen‐Können“, der für pädagogisches Handeln14 und pädagogische  Professionalität  konstitutiv  ist  und  deren  paradoxe  Struktur  er  zugleich  verur‐ sacht mit der Konsequenz, „durch  Erziehung  eine  Intention  verfolgen  zu  wollen,  es  aber  …  nicht  zu  können,  weil,  was  gewollt  wird,  nur  vom  Andern  selbst  hervorgebracht  werden  kann.“   (Wimmer, a.a.O.: 425‐426)

Im Bewusstsein des Spannungsfelds pädagogischer Wissensbestände und päda‐ gogischer  Ungewissheit  verstehe  ich Bildung  in  Anlehnung  an  Heydorn als ein  subjektspezifisch „anhebendes Wissen des Menschen um sich selbst … als fortschreitende Befreiung  … zu sich selbst.“ (Heydorn a.a.O.: 8 und 301)

Das hier „anhebend“ genannte Wissen des Menschen „um sich selbst“ verweist  rein sprachlich auf den Doppelaspekt des Bildungsvorgangs: Er vollzieht sich in‐ trasubjektiv und zugleich um ihn im Sinne einer Resonanz auf das, was in seinem  Umfeld geschieht, d.h. hier: in der Schul‐ bzw. Klassengemeinschaft und im Un‐ terricht. Die dort eingeleiteten Bildungsprozesse schließen Prozesse des Lernens  selbstverständlich ein, gehen jedoch zugleich darüber hinaus im Sinne der oben  zitierten „fortschreitenden Befreiung“, die auf ein im Subjekt sich individuell aus‐ prägendes, wachsendes Verstehen von Welt und Selbst angelegt ist. Bildung ist  in diesem Verständnis das „Darüberhinausgehende“ (Oser 2009; Garz 2014), ist  kein  mechanistisch‐akkumulatives  Sich‐selber‐Konstruieren,  sondern  lässt  sich  als ein Sich‐Erneuern fassen: als ein individueller Wandlungsprozess, der sich im  Spannungsfeld von äußerer Bedingung und Eigengesetzlichkeit des Subjekts voll‐ zieht und als Spur realer Lebenspraxis abbildet. In professionssoziologischer Per‐ spektive werden die Strukturprinzipien von Bildungsprozessen daher mit den Be‐ griffen  Autonomisierung  und  Bewährung  kombiniert  (Oevermann  2005:  47).  14   Vgl. Bude, H. (1985), S. 527‐531 

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2 Theoretische Rahmung 

Dabei wird der Begriff der Autonomisierung als Resultat einer erfolgreichen und  autonomen Bewältigung von Krisen aufgefasst, d.h. eine „in soziale Beziehungen  eingebettete  Hervorbringung  von  neuen  Strukturen“  des  Subjekts  im  Span‐ nungsfeld von Krise und Routine (Oevermann 2004c; Garz/ Raven 2015: 63). Der  Begriff  „Krise“  wird  hier  im  ursprünglichen  Wortsinn  (von  griech.  krisis  =  Ent‐ scheidung) verwendet und korrespondiert dem, was mit Bezug auf Lernen von  Käte Meyer‐Drawe bestimmt wird als eine Initiierung, „die in einer Störung eines unter anderen Umständen verlässlichen Vollzugs (grün‐ det). Diese Störung ist eine Widerfahrnis und niemals Ergebnis eines Entschlusses.“  (Meyer‐Drawe 2013: 71; Hvh. HH)

Oevermann differenziert in diesem Sinne drei Krisentypen, auf die ich kurz ver‐ weise, da sie alle in den Fallanalysen thematisch werden: erstens die traumati‐ sche Krise, die das Individuum von außen und unerwartet in Form von sowohl  schmerzhaften als auch beglückenden Ereignissen („brute facts“) ereilt; zweitens  der Typus der Entscheidungskrise zur Explikation von Situationen einer Lebens‐ praxis,  in  denen  bisherige  Routinen  zusammenbrechen  und  angesichts  des  je  Überraschenden  und  Unerwarteten  eine  vorweg  nicht  begründbare  Entschei‐ dung wie auch immer getroffen werden muss.15 Den dritten Typus fasst Oever‐ mann  in  den  Begriff  der  Krise  durch  Muße  und  ästhetische  Erfahrung,  die  das  Individuum  angesichts  der  „bezwingenden  Wirkung  der  sinnlichen  Präsenz“   (Reiche 2014: 256; Hvh. i.O.) eines Gegenstands (hier z.B. aus dem Unterricht),  einer Person, eines Kunstwerks in sich selbst erzeugt, um sich in Muße der Wahr‐ nehmung  hingeben  und  die  Eigenart  der  Erscheinung  erschließen  zu  können.  Dieser letzte Krisentypus bestimmt in seiner Grundstruktur auch Prozesse schu‐ lischer Bildung, solange sie nicht auf bloßes Lernen reduziert werden (vgl. Oever‐ mann 2005: 82). Die Differenz zwischen Bildung und Lernen betont Oevermann,  um die von außen nicht unmittelbar beeinflussbare Eigentätigkeit des sich selbst  bildenden Subjekts deutlich zu machen.  Dem Begriff Autonomisierung wird nun der Begriff der Bewährung zur Seite  gestellt, die sich aus dem Bewusstsein der Endlichkeit des Lebens als einer nicht  stillstellbaren Dynamik und damit als ein universelles Strukturproblem biographi‐ scher Konstruktion ergibt. Auf das daraus abgeleitete Bewährungs‐konzept sind  15   In Oevermanns Modell von Krise und Routine folgt, der Logik vernunftgeleiteten Han‐ delns entsprechend, aus dem „Entscheidungszwang“ die – erst nachträglich einlösbare –  „Begründungsverpflichtung“ (vgl. Oevermann 2016: 86) 

2.1 Bildung und Lernen im Aspekt von Krise und Routine 

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wir – so Oevermann – dennoch angewiesen, da die Bewältigung der Adoleszenz‐ krise erst dann beendet ist, wenn der Heranwachsende sich dem Bewährungs‐ problem  gestellt  und  es  internalisiert  hat  (Oevermann  2009:  40).  Vor  diesem   Hintergrund  lässt  sich  auch  die  soziale  Praxis  Unterricht  als  eine  Bewährungs‐ situation per se bestimmen. Bildungsprozesse im Sinne autonomer Krisenbewäl‐ tigung und Bewährung bergen sowohl die Chance zur Erzeugung eines Neuen als  auch das Risiko eines bis zur Pathologie führenden Scheiterns (Oevermann 2005:  74). Im Aspekt der Erzeugung eines Neuen beschreiben sie indessen keinen nor‐ mativen Zustand, sondern „jeweils das Maß an Bildung, das ein konkretes Leben angesichts seiner Anregungs‐ geschichte maximal erreichen konnte.“ (Oevermann 2008: 61; Hvh. HH) 

Es ist demnach auch hier das Subjekt selbst, das die Entscheidung darüber trifft,  wie und woran es sich bildet. Mehr noch: Es entscheidet nicht nur, sondern es  vollzieht  auch  den  „Prozess  des  Erkennens  der  eigenen  Antriebsbasis“  (Garz/  Raven 2015: 53). Diesen Prozess fasst Oevermann in die Begriffe Individuierung  bzw.  Individuiertheit.  Dabei  bezeichnet  Individuierung die  Genese  des  sich  bil‐ denden Subjekts in seiner Einzigartigkeit, während das Ergebnis des Prozesses in  den Begriff Individuiertheit gefasst ist (Garz/ Raven, a.a.O.: 52).  Forschungsfeld und Fragestellung rücken damit zwei Faktoren in den Blick,  die – unabhängig von der Schulform – hoch relevant sind für das, was schulische  Bildung und Individuierung der Heranwachsenden konstituiert: erstens die pä‐ dagogische Beziehung, zweitens das pädagogische Handeln. Einige kurze Erläu‐ terungen in strukturanalytischer Perspektive auf beide Themen sowie eine Be‐ zugnahme auf die kognitive  Entwicklungspsychologie  Piagets setzen  daher  die  theoretische Rahmung fort.  2.1.1 Zur Struktur der pädagogischen Beziehung  Ich beginne mit den Eltern/ Erziehungsberechtigten, der ersten Instanz der erzie‐ herischen Praxis, weil sich aus ihr zunächst die soziale Grundgestalt der familia‐ len Triade (das Kind – die Mutter bzw. die/ der Andere – der Vater bzw. die/ der  Dritte) entwickelt. Von hier aus verbinden sich aus Perspektive des Kindes die  Personen  der  weiteren  Familie  und  Lebensgemeinschaft  zu  einem  mehr  oder  weniger tragfähigen, wandelbaren Gewebe sozialer Beziehungen. Die dort erfah‐ rene  Nähe  und  Bindung  begründen  die  zukünftige  Beziehungsfähigkeit  und  

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2 Theoretische Rahmung 

Sozialität  des  Kindes,  indem  in  Anlehnung  an  die  psychogenetischen  Arbeiten   Piagets „das eigene Ich sich nur durch seine Beziehung zu demjenigen des ande‐ ren kennt“ (Piaget 1973: 447). Für diese Selbstbildung begründende Figuration16  zwischenmenschlicher Beziehung ist von Anfang an die Polarität17 von Nähe und  Distanz konstitutiv, die als leibgebundene und von Affektivität begleitete Nähe  zwischen ganzen Menschen (Eltern/ Erziehungsberechtigte und Kind) manifest  wird. Der Nähe steht eine quasi naturgegebene, zugleich krisenbehaftete Distanz  zwischen  Heranwachsendem  und  Erwachsenen  ergänzend  gegenüber,  von  de‐ nen Ansprüche, Phantasien und Erwartungen auf das Kind übertragen werden.  Das Kind muss sich also von Anfang an zu Erwachsenen positionieren, muss, um  Autonomie zu erlangen, sich sukzessive und seiner psychosozialen Entwicklung  entsprechend von der ursprünglichen Nähe distanzieren.  Massive Veränderungen der Lebensverhältnisse durch die Differenzierung  der Arbeitswelt machten es für Eltern/ Erziehungsberechtigte unumgänglich, ei‐ nen Teil ihrer Erziehungszuständigkeit an Andere zu delegieren, denen damit ein  pädagogischer  Expertenstatus  zugeeignet  wurde.  Die  Erziehungszuständigkeit  verteilte sich fortan auf zwei Instanzen: auf die ursprüngliche Instanz Familie auf  der  einen  und  die professionelle  Instanz  –  hier:  der  Schule  –  auf  der anderen  Seite.18 Das Eingestehen der Notwendigkeit dieses Delegierens sieht Oevermann  als  „strukturelle  Wurzel  für  die  latente  Konkurrenz  zwischen  Erziehern  und   Eltern“ (Oevermann 1996: 142), die in der Differenz der Sicht von Eltern/ Erzie‐ hungsberechtigten  auf  ihr  Kind  gegenüber  der  Sicht  von  Professionellen  auf  Schülerinnen und Schüler manifest werden kann.  Aus Perspektive des Kindes vergrößert sich mit der ersten gravierenden Ab‐ lösungsbewegung von der Familie – dem Eintritt in die Schule19 – nicht allein sein  sozialer Umkreis, sondern da es seinen schulischen Mitakteuren immer als „gan‐ zer  Mensch“  gegenübersteht,  bleibt  auch  die  Differenzierung  zwischen  Eltern 

16   Ich beziehe mich hier auf Norbert Elias’ Begriff der „Figuration“ als etwas, was „viele ein‐ zelne Menschen miteinander bilden“, vgl. Elias (2006), S. 171‐172  17   Polarität hier nicht im Sinne einer binären Struktur, sondern als Voraussetzung für das  Emergieren eines Neuen gedacht.  18   Die Bedeutung außerschulischer Bildungsräume kann im Rahmen dieser Studie nicht be‐ rücksichtigt werden.  19   Auch  der  Übergang  in  den  Kindergarten  markiert  einen  einschneidenden  Ablösungs‐ schritt eines Kindes, der jedoch (zumindest in Deutschland noch) keinen Verpflichtungs‐ charakter hat. 

2.1 Bildung und Lernen im Aspekt von Krise und Routine 

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und Lehrpersonen noch im Fluss. Zuneigung und Erwartung wie auch die unbe‐ wussten, diffusen Anteile seiner Beziehung werden auf die Lehrpersonen über‐ tragen, die damit „eine Art von Gefühlserbschaft“ (Freud 1914: 542) überneh‐ men.  Die  Struktur  der  Beziehung  zwischen  Lehrperson  und  Schülerinnen  bzw.  Schülern bleibt im Prinzip auch für die zweite Instanz der erzieherischen Praxis  gleich und ist der familialen Beziehung analog, nämlich grundsätzlich asymmet‐ risch und ungleichgewichtig. Denn sowohl der Erziehungsauftrag der Eltern als  auch derjenige der Lehrpersonen erzeugen, Piaget folgend, „Beziehungen des Zwanges, deren Eigenheit es ist, dem Individuum von außen her  ein System von Regeln mit verpflichtendem Inhalt aufzuzwingen“ (Piaget 1973: 450;  Hvh. HH).

Piaget deutet sie zunächst in Perspektive auf eine eigenständige Moralbildung  als „Beziehungen der einseitigen Achtung und des Zwanges“ (Piaget a.a.O.: 456;  Hvh. HH) aufgrund der Differenz zwischen der noch relativ ungefestigten leiblich‐ seelisch‐geistigen Verfasstheit der Schülerinnen und Schüler und der ausgereif‐ ten Persönlichkeit der Lehrperson, der gegenüber sich Heranwachsende bis min‐ destens zum Abschluss der Pubertät noch nicht in vollständiger Autonomie und  die personale Identität20 wahrend abgrenzen können.  Zugleich verschiebt sich mit dem Eintritt in die Schule bzw. Schulklasse das  Zahlenverhältnis der Akteure, in dem nun viele Heranwachsende wenigen bzw.  einem Erwachsenen gegenüber‐stehen, auch in einer nicht frontal organisierten  Unterrichtsform. Im Anschluss an N. Elias und in Abwandlung seines Vergleichs  mit dem Fußballspiel (Elias 2006: 172) kann Unterricht als „Spielverlauf aus der  Verflechtung  der  Handlungen  einer  Gruppe  interdependenter  Individuen“  ge‐ deutet werden. Schülerinnen und Schüler bilden eine spezifische Figuration, die  Schulklasse, die ebenso konkret ist wie die einzelnen Individuen selbst es sind  und die für deren Individuierung hoch bedeutsam ist. Zur Figuration der Schul‐ klasse als soziales System gehört die jeweilige Lehrperson lediglich als Repräsen‐ tant der  Erwachsenenwelt (Parsons 1987:  107), während die  Gruppe  der Mit‐ schülerinnen und ‐schüler „ein von den Erwachsenen abgerückter Bereich des  20   Mit „personale Identität“ folge ich Jürgen Straub, der diesen Begriff einführt als ein stets  „vorläufiges, zerbrechliches Resultat der kommunikativen Verständigung des Menschen  mit sich und anderen … als Ergebnis einer in den Vollzug der sozialen Praxis eingelassenen  Verständigung zumal, in der die Sprache eine herausragende Rolle spielt“ (Straub 2000:  171  und  2002);  vgl.  auch  Garz  (2000);  Kubitza  (2005);  King  (2002)  sowie  Oevermann  (2005) 

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2 Theoretische Rahmung 

indirekten Ausdrucks von Abhängigkeitsbedürfnis ist“ (a.a.O.; Hvh. HH). Hier mag  der Begriff „Abhängigkeitsbedürfnis“ zum Widerspruch anregen, doch die feine  Strukturdifferenz zwischen Klasse/ Peergroup und Lehrperson wird relevant vor  allem in Perspektive auf deren Fähigkeit, Distanzierungs‐ oder Abwehrbewegun‐ gen von Schülerinnen und Schülern pädagogisch statt aus persönlicher Betrof‐ fenheit zu deuten.  Damit kommt die Beziehung unter Gleichaltrigen in den Blick, denn diese ist  – anders als die zwischen Schüler bzw. Schülerin und Lehrperson – eine Bezie‐ hung  unter  Gleichen  und  unterscheidet  sich  davon  durch  ihre  symmetrische  Struktur, wobei die „aus dieser neuen Beziehung sich ergebende Gegenseitigkeit … zur Ausschaltung je‐ des Zwangselements (genügt)“ (Piaget, a.a.O.: 435).

Schulklassen sind daher im Verhältnis zu Lehrpersonen eigenlogische soziale Ge‐ bilde, die sich im Prinzip selbstorganisatorisch gestalten, d.h. eine klare Innen‐ Außen‐Abgrenzung haben, innerhalb deren eine möglichst uneingeschränkte So‐ lidarität der Schülerinnen und Schüler gültig ist, auch wenn der Weg zu dieser  Solidarität von Krisen und Einbrüchen begleitet werden kann. In diesem Sinne ist  der Vergemeinschaftungsprozess einer Klasse auch nur bedingt pädagogisch be‐ einflussbar und formbar. In der Zusammenarbeit einer Gruppe von Gleichaltri‐ gen und dadurch Gleichgestellten werden bis zum Ende der Schulzeit hin mora‐ lische Orientierungen und Haltungen eingeübt und angeeignet, die Autonomie‐  und Moralbildung entscheidend prägen, da sie nicht mehr auf Forderungen von  außen gründen, sondern innerhalb der Peer‐Group selbst im Modus der sozialen  Reziprozität entstehen.  Für Piaget ergibt sich aus der Erkenntnis, dass „einzig und allein die Zusam‐ menarbeit … zur Autonomie“ führe (a.a.O.: 459), eine Analogie zwischen morali‐ scher und intellektueller Entwicklung, wobei er in Beziehungen der Zusammen‐ arbeit unter Gleichaltrigen das Modell einer kooperativen Gemeinschaft sieht, in  dem jegliches menschliche Lernen als ein aktiver Konstruktionsprozess zu ver‐ stehen sei. Im Anschluss an Lütje‐Klose kommen hier Grundannahmen konstruk‐ tivistischen Denkens ins Spiel, wonach Kommunikation und damit Kooperation  „die  gemeinsame  Konstruktion  der  sozialen  Welt“  ermöglichen  (Lütje‐Klose  2017: 16). 

2.1 Bildung und Lernen im Aspekt von Krise und Routine 

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Piagets pädagogische Schlussfolgerung mit Bezug auf schulisches Handeln,  legitimiert durch den „aktiven Forschungsdrang“ sowie das „Bedürfnis nach Zu‐ sammenarbeit“  des  Kindes,  schließt  mit  der  Forderung,  der  Erwachsene,  d.h.  hier:  die  Lehrperson,  sei  „ein  Mitarbeiter  und  kein  Lehrmeister“  (a.a.O.:  460‐ 461).  Dies lenkt die Aufmerksamkeit zugleich auf eine erste Problematik, die sich  aus dem Widerspruch zwischen einem pädagogischen Vorgehen der Lehrperson,  das im Sinne Piagets mit einem Bedürfnis der Heranwachsenden nach Zusam‐ menarbeit und Verstehen rechnet und Prozesse der Individuierung intendiert,  und jenem, das sich aufgrund von Zwang ergibt (manifest in gesetzlich fixierter  Schulpflicht,  einem  vertikal  gegliederten,  meritokratischen  Bildungssystem,  Lernziel‐ und Lernzeitvorgaben, Homogenisierung, Separierung).  Mit diesen Überlegungen wird in strukturtheoretischer Perspektive schuli‐ sches Expertenhandeln thematisch. 2.1.2 Zur Struktur pädagogischen Handelns  Wie kann pädagogisches Handeln im Kontext Schule im Anschluss an das Vorige  determiniert werden? In professionstheoretischer Sicht ist es zunächst einmal  ein  Expertenhandeln,  das  sich,  wie  in  Abschnitt  2.1.1.  deutlich  geworden  sein  dürfte,  vom  erzieherischen  Handeln  der  Eltern  durch  seine  Professionsgebun‐ denheit  und  prinzipielle  Kündbarkeit  unterscheidet.  In  Bezug  auf  meinen  For‐ schungsgegenstand gibt hier der strukturanalytische Ansatz Oevermanns erwei‐ terte Möglichkeiten des Verstehens wie auch des Bewältigens von Krisen an die  Hand, indem pädagogisches Handeln als eine Beziehungspraxis verstanden und  in spezifische (d.h. sach‐ und zweckorientierte) und diffuse Handlungsanteile dif‐ ferenziert  (Oevermann  1996:  115,  2002b  und  2008)  und  in  drei  Dimensionen  konzeptualisiert wird.21 Diese sind  

erstens die Dimension der Wissensvermittlung (Erfahrungswissen, Traditio‐ nen, Kulturtechniken). Sie umfasst die Ebene des Lernens und der Ausbil‐

21   Die Differenzierung in drei Dimensionen ist der strukturanalytischen Absicht geschuldet.  Davon ist das konkrete Handeln der schulischen Akteure zu differenzieren als ein Vor‐ gang, der sich jeweils in der und unter ganzen Person(en) vollzieht: „Jedes Lernen ist per  se diffus angelegt. Man lernt – auch als Erwachsener – letztlich nur als ganzer Mensch.“  (Ummel/ Scheid/ Wienke 2005: 87) 

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2 Theoretische Rahmung 

dung und vollzieht sich vorwiegend im Modus der Routine. Auf der Bezie‐ hungsebene betrifft dies aus Perspektive der Lehrperson im Wesentlichen  die spezifischen Anteile schulischen Handelns;  zweitens die Dimension der Vermittlung von Normen und Werten einer Kul‐ tur. 

Diese beiden Dimensionen umfassen das im Prinzip rollenförmige Handeln der  Lehrperson. Sie betreffen die Ebene der Bildung im Sinne einer Eigenbewegung  des sich bildenden Menschen selbst und konfrontiert ihn unweigerlich mit Kri‐ sen, die wie auch immer von ihm bearbeitet werden müssen.22  

Die dritte Dimension pädagogischen Handelns ist die implizit therapeutische  und am wenigsten bewusste. Für den Forschungsgegenstand bedeutsam ist  sie insofern, als hier die Unabgeschlossenheit der Bildungsprozesse (Auto‐ nomiebildung, Abgrenzungsfähigkeit) in Hinsicht auf die Entwicklung bzw.  Entwicklungsprobleme  des  Heranwachsenden  als  ganze  Person  relevant  wird (Leiblichkeit, Sexualität, Moral‐ und Autonomiebildung, Sozialität). Für  die Gewährleistung ihrer „somatopsychosozialen Integrität“ ist daher „auch  … die explizite Berücksichtigung der objektiv gegebenen therapeutischen Di‐ mension unter dem umfassenderen Gesichtspunkt der Prophylaxe konstitu‐ tiv“ (Oevermann a.a.O.: 150; Hvh. d. Autor). 

Dieser  objektiv  gegebene  therapeutische  Aspekt  als  dritte  Dimension  profes‐  sionalisierten  Unterrichtshandelns  korrigiert  und  revidiert  den  klassischen   Professionalisierungsbegriff und erlaubt „die Konstruktion eines Typus der >stell‐ vertretenden  Krisenlösungnichtstandardisierbarer  Dienstleistungunbewusstnächste Zone ihrer Entwicklunggemein‐ samen GegenstandIchIchIchsich