Images des Sports in Österreich: Innensichten und Außenwahrnehmungen [1 ed.] 9783737009072, 9783847109075

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Images des Sports in Österreich: Innensichten und Außenwahrnehmungen [1 ed.]
 9783737009072, 9783847109075

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Zeitgeschichte im Kontext

Band 13

Herausgegeben von Oliver Rathkolb

Die Bände dieser Reihe sind peer-reviewed.

Matthias Marschik / Agnes Meisinger / Rudolf Müllner / Johann Skocek / Georg Spitaler (Hg.)

Images des Sports in Österreich Innensichten und Außenwahrnehmungen

Mit 77 Abbildungen

V& R unipress Vienna University Press

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet þber http://dnb.d-nb.de abrufbar. Verçffentlichungen der Vienna University Press erscheinen im Verlag V& R unipress GmbH. Gedruckt mit freundlicher Unterstþtzung des Hauses der Geschichte Österreich, des Rektorats und des Dekanats der Historisch-Kulturwissenschaftlichen FakultÐt der UniversitÐt Wien, des Instituts fþr Zeitgeschichte und des Instituts fþr Sportwissenschaft der UniversitÐt Wien, des Bundesministeriums Öffentlicher Dienst und Sport, der Österreichischen Bundes-Sportorganisation, des Vereins fþr Geschichte der ArbeiterInnenbewegung und des Vereins zur wissenschaftlichen Aufarbeitung der Zeitgeschichte.  2018, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Gçttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich gesch þtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÐllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Turnsaal um 1965/70. (Quelle: Verein fþr Geschichte der ArbeiterInnenbewegung, Wien) Vandenhoeck & Ruprecht Verlage j www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2198-5413 ISBN 978-3-7370-0907-2

Inhalt

Vorwort des Reihenherausgebers

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vorwort der Direktorin des Hauses der Geschichte Österreich . . . . . .

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Matthias Marschik / Agnes Meisinger / Rudolf Müllner / Johann Skocek / Georg Spitaler Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Bilder und Räume des Sports Olaf Stieglitz Der Reiz der Bilder. Sportgeschichte als visuelle Körpergeschichte . . . .

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Agnes Meisinger Sportplatz Heldenplatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

33

Sport in der Formierungsphase Rolf Sachsse Pausen und Posen. Fotografische Inszenierungen des Sports in Österreich vor 1914 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

53

Petra Sturm / Katrin Pilz Fehlende (Vor-)Bilder? Österreichische Rennradpionierinnen der 1890er-Jahre und Zwischenkriegszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

67

Gilbert Norden Turnen und Sport an Knabenmittelschulen in Österreich 1890 bis 1914. Am Beispiel der Vorarlberger und Wiener Schulen . . . . . . . . . . . . .

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6

Inhalt

Alojz Ivanisˇevic´ Die Anfänge des modernen kroatischen Sports in Österreich-Ungarn im Kontext der Nationalitätenverhältnisse und der nationalen Integrationsbewegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Dariusz Wojtaszyn Fußballstadt Lemberg. Eine österreichisch-polnisch-jüdisch-ukrainische Verflechtungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115

Sport in der Etablierungsphase Roman Horak »Seid umschlungen, Billionen!« Josef Uridil und die Formation einer frühen sportlich geprägten Massenkultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 Petra Mayrhofer / Agnes Meisinger Wintersport in Österreichs »alpiner Peripherie« am Beispiel des »Schneepalasts« in der Wiener Nordwestbahnhalle . . . . . . . . . . . . 147 Hannes Leidinger Der Durchbruch des Sports als repräsentatives Sujet in nonfiktionalen österreichischen Filmbeiträgen der Zwischenkriegszeit . . . . . . . . . . 161 Robert Schwarzbauer Ein »Zeugnis vom Wirken einer Schar sportbegeisterter Jugend«. Die Chronik des Bischofshofener Sportklub 1935 . . . . . . . . . . . . . 175

Politische Konfrontationen Georg Spitaler Ein Spuk-Bild des linken Sports: »Nie schiesst der Fascismus im roten Wien ein Goal!« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 Andreas Praher »Skifahren ist für uns Deutsche in den Alpenländern mehr als nur ein Sport.« Der österreichische Skisport als politische Kampfzone der 1930er-Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 Minas Dimitriou »Sepp Bradl – der Welt bester Sprungläufer«. Zur Theatralisierung des sportlichen Erfolges im Dienste der NS-Propaganda . . . . . . . . . . . . 219

Inhalt

7

Magdalena Vukovic´ Sportliche Bauern als »Zuchtziel«. Anna Koppitz’ Propagandafotografien für Reichsminister R. Walther Darr8 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 Gunnar Mertz Fritz Kasparek und die Erstbesteigung der Eiger-Nordwand in den österreichischen Erinnerungskulturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247

Wir und die Anderen Bernhard Hachleitner / Sema Colpan Die österreichische Nation, geboren aus einer Niederlage. Das »Wunderteam«-Gemälde als Element des Nation Building zu Beginn der Zweiten Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 Martin Tschiggerl Wir und die Anderen. Die Konstruktion nationaler Identität in der Sportberichterstattung der drei Nachfolgegesellschaften des NS-Staates in den 1950er-Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 Andreas Maier Im patriotischen Abseits. Über die Nicht-Rezeption ausgewählter Leichtathletik-Biografien im österreichischen Sport . . . . . . . . . . . . 291 Anneliese Gidl Hohe Ansprüche, große Breitenwirkung. Ein Bild des österreichischen Skisports in den 1950er- und 60er-Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 Maximilian Graf Innsbruck 1976: Das »Skisprungwunderteam« und die Pfiffe vom Bergisel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319

Beschleunigung und (Selbst-)aktivierung Matthias Marschik Österreich erfahren… Richard Menapace und der österreichische Radsport nach 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 Thomas Karny Vom Bastler zum Dandy. Motorsport in Österreich nach dem Zweiten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349

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Inhalt

Johann Skocek Der Tod ist ein Karrieresprung. Das Spiel mit dem Leben ist ein idealer Stoff für Medien, gezeigt am Beispiel von Hermann Maier und Niki Lauda . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 Rudolf Müllner »An das letzte Kind und an den letzten Senioren herankommen …«. Der nationale »FIT-Lauf und FIT-Marsch« als biopolitische Intervention

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Martina Gugglberger »Bergamazonen« und »Himalaya-Girls«. Mediale Repräsentation von Geschlecht und (Extrem)-Alpinismus am Beispiel der ersten Österreichischen Frauenexpedition 1994 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391 AutorInnenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405

Vorwort des Reihenherausgebers

Schon in der Planungsphase zur Etablierung eines Hauses der Geschichte Österreich (HdGÖ) im Jahr 2015 bildete die kritische Auseinandersetzung mit der Geschichte des Sports in Österreich eine sehr wichtige Grundlage in der Konzeptdiskussion. Die moderne zeithistorische Auseinandersetzung mit verschiedenen Disziplinen, Veranstaltungen aber auch Persönlichkeiten des Sports bietet ideale Möglichkeiten, die kulturelle, politische und soziale Entwicklung Österreichs im »langen 20. Jahrhundert« zu analysieren und vor allem anschaulich zu präsentieren. Diese sporthistorischen Ansätze werden perfekt in dem vorliegenden Sammelband umgesetzt, wobei ebenso wie im Konzept des HdGÖ die Periode ab dem späten 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart einen wichtigen Platz einnimmt. Gerade vor dem Hintergrund der Ausdifferenzierung von Nationalitäten und Identitäten in der Endphase der Habsburgermonarchie lassen sich die tiefgreifenden Auswirkungen der ersten Globalisierung auf die Gesellschaft im 50Millionen-Reich anschaulich rekonstruieren. Die Autorinnen und Autoren dieser Publikation zeigen, dass es möglich ist, eine kritische Geschichte zur Zwischenkriegszeit in Österreich durch Sportgeschichte zu schreiben. Die Versäulung und Spaltung der Gesellschaft wird in den Darstellungen dieses Bandes eindrucksvoll präsentiert. Eines der zentralen Themen des HdGÖ wird die Reflexion über die Konstruktionen von Identitäten und deren gesellschaftlichen Auswirkungen sein. Die Aufsätze können zu diesen Entwicklungen beispielgebend beitragen. Gerade in der Gegenwart in einer undurchschaubaren, rasanten globalen Entwicklung, wo die digitale Revolution tiefgreifende Veränderungen aller Freizeit-, Arbeitsund Lebensbedingungen nach sich zieht, sind konzise Analysen von Sportmentalitäten ein wichtiges Untersuchungsinstrument. Wer Einstellungsmuster und Identitätskonstruktionen in Österreich in den vergangenen 150 Jahren verstehen will, sollte sich intensiv mit diesem Sammelband auseinandersetzen. Aufgrund der hohen emotionalen Aufladung und Öffentlichkeitspräsenz sind SportlerInnen und Sportveranstaltungen perfekte

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Vorwort des Reihenherausgebers

Seismographen für gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Transformationen. Ich möchte den HerausgeberInnen Matthias Marschik, Agnes Meisinger, Rudolf Müllner, Johann Skocek und Georg Spitaler ganz herzlich für die Konzeption des dieser Publikation zugrunde liegenden, höchst erfolgreichen Symposiums ebenso danken wie für die Realisierung des vorliegenden Bandes. Oliver Rathkolb, Wien im Juni 2018

Vorwort der Direktorin des Hauses der Geschichte Österreich

Bilder des Sports begegnen uns täglich mannigfach in den sozialen und den Printmedien. Selbst wer sich dem Sport gänzlich aktiv und passiv verweigert, entkommt ihm nicht: Morgens diskutiere ich mit meinen Kindern, welches Trikot ihrer Sportidole sie anziehen, wenig später treffe ich auf meinem Weg in die Neue Burg am Heldenplatz täglich auf eine Gruppe von SchattenboxerInnen beim Theseustempel und abends dominieren lautstarke Fußballfans an Spieltagen die öffentlichen Verkehrsmittel. Sport ist neben der konkreten Körperarbeit immer auch ein individuelles Lebensgefühl und kann eine kollektive Erfahrung sein, die sich als imaginary beschreiben lässt, die Wissens- und Emotionsräume schafft, Identitäten kreiert, Ein- und Ausschlüsse produziert, die sich durchaus auch (temporär) mit der Kategorie des Nationalen verbinden lassen, damit aber nicht verknüpft sein müssen. Ich danke Matthias Marschik, Agnes Meisinger, Rudolf Müllner, Johann Skocek und Georg Spitaler für die konkrete Vermessung der vielfältigen Bilder des Sports, die mit dem geografischen Raum Österreich verbunden sind. Die durchdachte Konzeption und gelungene Organisation der Tagung im Haus des Sports, das wir freundlicherweise nutzen durften, die redaktionelle Betreuung des vorliegenden Bandes und die gute Zusammenarbeit sind alles andere als selbstverständlich. Dem Haus der Geschichte Österreich ist das Themenfeld »Bilder des Sports« ein besonderes Anliegen. Einerseits operiere ich in der prägnanten Beschreibung des Realisierungsprozesses des Museums und seiner Eröffnungsausstellung mit dem Adjektiv »sportlich« – denn es bringt einiges auf den Punkt: den Zeitdruck, den hohen Anspruch an das Vorhaben, die Teamarbeit, die vielen »Player«, die in der derzeitigen Struktur angelegt sind, ethische Fragen des »Fair Play« und nicht zuletzt auch die mentale wie körperliche Anstrengung, derer es bedarf, um ein neues Museum Wirklichkeit werden zu lassen. Andererseits sind es selbstverständlich die Inhalte, denen sich das Haus der Geschichte Österreich verpflichtet fühlt, gibt es doch bislang in Österreich kein Museum des Bundes, das sich diesem zentralen Thema umfassend widmet und aktiv dazu sammelt. Einige

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Vorwort der Direktorin des Hauses der Geschichte Österreich

Erkenntnisse aus den spannenden Beiträgen der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler fanden bereits Eingang in die Konzeption der Eröffnungsausstellung »Aufbruch ins Ungewisse – Österreich seit 1918« und werden somit einer breiteren Öffentlichkeit vorgestellt. Ohne die fruchtbare Zusammenarbeit mit ForscherInnen ist unsere Museumsarbeit nicht vorstellbar. Mein Dank gilt insbesondere auch dem Herausgeber der Reihe »Zeitgeschichte im Kontext«, Oliver Rathkolb, der nicht nur Spiritus Rector und Vorsitzender des wissenschaftlichen sowie des internationalen Beirates des Hauses der Geschichte Österreich ist, sondern auch ein verlässlicher Sparringpartner, der gerne Bälle aufnimmt oder auch gekonnt pariert. Monika Sommer, Wien im Juni 2018

Matthias Marschik / Agnes Meisinger / Rudolf Müllner / Johann Skocek / Georg Spitaler

Einleitung Wir Lebenden Wir Lebenden haben nur eine Pflicht; – die Zeit zu verwerten. Man läuft Schlittschuh – den Tag hinein. Man spielt einen schönen Fußball; und schaut interessiert zu. Ernst Herbeck1

Sport ist wie kaum ein anderes kulturelles Feld in hohem Maße bildhaft vermittelt. Bilder des Sports sind in der Lage, starke, auch kollektive, Emotionen zu erzeugen. Darin liegt eine ihrer wichtigsten aktuellen und (erinnerungs-)politischen Bedeutungen. Bilder stellen unmittelbare und synchrone Aussageformen dar, deren Inhalte simultan wahrnehmbar sind. Dadurch sind sie für viele Menschen anschlussfähig und massenwirksam. Die komplexen Bedeutungen von Bildern erschließen sich häufig aber erst in einer historischen Kontextualisierung. Synchronizität, also Gleichzeitigkeit, ist ein wesentliches Merkmal von Sportpraxen. Das gilt zum einen für die Sportausübung, die ein rasches Erfassen komplexer Situationen, Entwicklungen und Veränderungen erfordert, aber zugleich Erfahrung im Sinne des Rückgriffes auf vorhandenes Wissen einbezieht. Es gilt ebenso für die Sportrezeption vor Ort, die vielschichtiges Sporthandeln erfassen und zudem mit den Eindrücken des Umfeldes, vom Wetter bis zum Stadion, in Einklang bringen muss. Und es gilt nicht zuletzt auch für die mediale Vermittlung des Sports, die das mehrdeutige Geschehen nachvollziehbar machen muss, um das Besondere des Sportes in seiner psychischen wie physischen Unmittelbarkeit erlebbar zu machen. Bilder wirken unmittelbar und nachvollziehbar und sind doch Bedeutungsträger mit vielen Mitteilungsebenen. Im Sinne dieser Komplexität profitiert die Sportforschung in besonderer Weise vom visual turn der Geschichts- und Kulturwissenschaften, der sich nicht darin erschöpft, Bilder als Quellen heranzu1 Ernst Herbeck, Im Herbst da reiht der Feenwind. Gesammelte Texte 1960–1991, Salzburg 1992. Ernst Herbeck (1920–1991) war ein österreichischer Schriftsteller aus der Künstlergruppe des psychiatrischen Krankenhauses Gugging.

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Matthias Marschik et al.

ziehen, sondern zugleich Ansätze bereithält, um Sachverhalte in der spezifischen Logik der Bilder zu betrachten und zu verstehen. Dabei geht es weder nur um das Bild als bloßes »Abbild«, noch ist es möglich, ausschließlich in Bildern zu denken. Was der visual turn anbietet, ist der Versuch, der Verbildlichung und Ästhetisierung des Alltagslebens durch ein »Denken mit Bildern« zu begegnen.2 Diesem Angebot soll im »Hin-Blick« auf den Sport ein Stück weit gefolgt werden. In dieser Hinsicht kommt es uns zugute, dass die Bilder des Sports immer wieder zum Material und »Denk-Bild« kulturwissenschaftlicher Theoriebildung wurden. Von Roland Barthes scharfsinnigen Analysen massenkultureller »Mythen des Alltags«, die er etwa am Beispiel der Tour de France oder des Catchens erkundete,3 bis zum Cultural-Studies-Theoretiker Stuart Hall, der in seiner anschaulichen Darstellung des Konzepts der Repräsentation anhand der medialen Bilder britischer und nordamerikanischer LeichtathletInnen darauf hinwies, dass »Körper in Bewegung« heute nicht gelesen werden können, ohne Botschaften über Geschlecht, Sexualität oder »Rasse« in Gang zu setzen.4 Der vorliegende Sammelband rückt bekannte und weniger bekannte Bilder und Images des österreichischen Sports in den Fokus und macht diese zum Ausgangspunkt theoriegeleiteter Auseinandersetzung. Der Begriff des »Images« wird dabei bewusst weit gefasst. Er beschränkt sich nicht auf fotografische oder filmische Bilder und ikonografische Repräsentationen, sondern inkludiert ephemere, populäre wie persönliche Erinnerungen, Vorstellungen oder auch Sprachbilder, wie jene im obigen Gedicht, genauso wie Zeugnisse der materiellen Kultur. Behandelt werden Topoi des sportlichen und bewegungskulturellen Geschehens, die die komplexen und verschlungenen Geschichten des Sports erzählen. Im Rahmen dieses Buches soll ein selektives und doch inklusives Gesamtbild des modernen österreichischen Sportgeschehens und seiner Populär- und Popularkulturen vorgelegt werden. Dies ist vermutlich die entscheidende Erweiterung gegenüber früheren sporthistorischen Publikationen: Das Sportgeschehen wird in seinen verschiedenen Facetten – vom Turnen bis zu den english sports, vom Spitzen- bis zum Hobby- und Breitensport – als Teil einer umfassenden »Kultur« und daher im Kontext politischer, ökonomischer und gesellschaftlicher Entwicklungen und Veränderungen wahrgenommen. Der Band will 2 Doris Bachmann-Medick, Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Reinbek bei Hamburg 2006, 329–380. 3 Auf Deutsch veröffentlicht als: Roland Barthes, Die Tour de France als Epos, in: Gerd Hortleder/Gunter Gebauer (Hg.), Sport – Eros – Tod, Frankfurt am Main 1986, 25–36; Roland Barthes, Die Welt, in der man catcht, in: Volker Caysa (Hg.), Sport ist Mord. Texte zur Abwehr körperlicher Arbeit, Leipzig 1996, 146–158. 4 Stuart Hall, Das Spektakel des »anderen«, in: Stuart Hall, Ideologie, Identität, Repräsentation. Ausgewählte Schriften 4, Hamburg 2004, 108–122.

Einleitung

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einen Beitrag dazu leisten, die Bedeutung der sports culture und ihrer Erforschung in den Sport Studies5 im österreichischen Kontext weiter zu stärken. Die einzelnen Beiträge sind theoretische wie praktische Belege dafür, wie sehr sportliches Geschehen mit ökonomischen, politischen und sozialen Fragen verbunden ist, ohne lediglich auf einen »Mikrokosmos« oder ein Abbild der Gesellschaft reduziert werden zu können. Die Beiträge orientieren sich chronologisch an einem Phasenmodell, das den österreichischen Sport in eine Formierungs-, Etablierungs- und Differenzierungsphase gliedert. Als Formierungsphase bezeichnen wir den Zeitraum ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg. Er ist gekennzeichnet durch das allmähliche Eindringen des britischen Sports in die sich rasch modernisierende Habsburgermonarchie, durch Konfrontationen mit dem bereits etablierten Deutschen Turnen, und die Verbindung mit neuen nationalen Bewegungen. Für diesen Zeitraum wird auch die Sportentwicklung in den Kronländern und dem ungarischen Teil der Habsburgermonarchie mitberücksichtigt. Die Etablierungsphase umfasst die Zwischenkriegszeit und die NS-Zeit in Österreich. Prägend für diesen Zeitraum ist, dass Sport zumindest in den Städten zu einem massenkulturellen Phänomen und somit auch zum ZuschauerInnenund Mediensport wird. Bürgerlicher Sport und ArbeiterInnensport bilden aber auch den Schauplatz politisch-ideologischer Konfrontation und ein Feld vormilitärischer Einübung. Die Differenzierungsphase umfasst sowohl Topoi des »Wiederaufbaus« des Sports und der Nation nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, wie auch – spätestens ab den 1960er-Jahren – Images einer zunehmend ausdifferenzierten Sportlandschaft, die bisher sportferne Gruppen integriert. Parallel dazu bilden sich neue Erscheinungsformen des kommerzialisierten und mediatisierten Professionalsports aus, das Fernsehen wird zum Schlüsselmedium. Ab den 1970er-Jahren werden Fitness-, Gesundheits- oder hedonistische Motivlagen hegemonial. Sport wird zu einem Teil von Mode, Alltags- und Populärkultur. Die Beiträge enden an der Schwelle zur sportlichen Gegenwart des neuen Jahrtausends, die im Buch nicht mehr explizit behandelt wird, deren Rahmenbedingungen jedoch durch die historische Perspektive erst sichtbar werden.

5 Vgl. einführend Matthias Marschik/Rudolf Müllner/Otto Penz/Georg Spitaler (Hg.), Sport Studies, Wien 2010.

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Matthias Marschik et al.

Identitätsraum Das Leitbild des Buches, das auf dem Cover zu sehen ist, zeigt den Innenraum eines österreichischen Turnsaals in den 1960er-Jahren. Der hier abgebildete Saal ist leer. Das kann metaphorisch gelesen werden. Ein leerer Raum, der mit Vorstellungen von Bewegungen – im Vollzug – befüllt werden kann. Wir alle kennen diese Art von Raum, meist aus unserer Kindheit und Schulzeit, aus dem sogenannten »Turnunterricht«, der für viele noch ein »Leibeserziehungsunterricht« war, wie es korrekterweise hieß, oder ein »Bewegungs- und Sportunterricht«, wie es die Terminologie der Sportdidaktik heute nennt. Nahezu alle ÖsterreicherInnen sind in irgendeiner Weise in solchen Räumen sozialisiert worden. In diesem Sinn repräsentiert der Sportraum Turnsaal einen kollektiven Identitätsraum. Er kann Erinnerungen, die körpernah, hautnah, möglicherweise tief emotional sind und die sich mitunter fest eingeschrieben haben in die individuellen und in die kollektiven Körper, hervorrufen. Der »Normturnsaal« determiniert, wie seine Bezeichnung nahelegt, in hohem Maße die Ordnung des (gesellschaftlichen) Raumes, den er umschließt. Er eröffnet einen – im Vergleich zu einem üblichen Klassenzimmer – weiten Raum, der genutzt und erobert werden kann. Aber er normiert zugleich die Körper, ordnet die Bewegung, erzeugt ein spezielles Licht, eine eigene Akustik und ist zugleich eine architektonische Manifestation österreichischer Bewegungskultur, in Vorarlberg genauso wie in Wien oder in Kärnten. Über das Thematisieren von Körper, Bewegung, Ordnung, Raum und Macht wollen wir gleichsam schon am Titelbild dokumentieren, in welcher Weise wir uns der Geschichte des Sports nähern. In Sportarchitekturen manifestiert sich immer auch ein komplexes Stück Bewegungskulturgeschichte. Wir finden Geräte (nämlich Barren und Reck), die seinerzeit »Turnvater« Friedrich Ludwig Jahn mit der Absicht entwickelt hat, die männlichen Zöglinge Preußens für die militärischen Anforderungen in den sich manifestierenden Nationalstaaten Europas fit zu machen. Das Turnen und der Sport in Österreich waren stark von solchen politischen und gesellschaftlichen Traditionen geprägt. Wir finden im Turnsaal aber auch die Geschichte einer Demokratisierung, die den Sport von einem großbürgerlichen und adeligen Privileg zu einem bewegungskulturellen Allgemeingut transformiert hat. Gleichzeitig entdecken wir darin eine Kultur, die etwa Geschlechterdifferenz eher verstärkt als in Frage stellt. Der vorliegende Band bietet mit 26 Beiträgen von AutorInnen unterschiedlicher Disziplinen und Forschungsbereiche einen Reflexionsraum für eine wissenschaftlich fundierte Analyse von Bewegungskulturen und Sport in Österreich. Dabei wird keine Verdoppelung eines in den Medien dominanten Sportbegriffes oder die ausschließliche Zurschaustellung ikonischer Bilder he-

Einleitung

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gemonialer Nationalsportarten wie Fußball, Skilauf und Formel 1 vorgenommen. Es wird vielmehr versucht, mit exemplarischen Tiefenbohrungen der ganzen Breite und Tiefe österreichischer Sportkulturen nachzugehen. Dazu gehört auch, das österreichische Sportgeschehen im Kontext transnationaler und globaler gesellschaftlicher Prozesse und Wirkungen zu begreifen. Sport hat seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert enorme gesellschaftliche Bedeutung und einen nahezu unüberschaubaren Ausdifferenzierungsgrad erlangt. Das zeigt sich unter anderem auch daran, dass ein geschlossener kohärenter Sportbegriff, der alle rezenten Erscheinungsformen analytisch sinnvoll erfassen könnte, nicht mehr existiert. Eine historische Annäherung an bewegungskulturelle Phänomene und Bilder kann uns helfen, diese Komplexität in ihrem Gewordensein besser zu verstehen. Wir hoffen, damit der sporthistoriografischen Forschung in Österreich einen wichtigen Impuls geben zu können, aber darüber hinaus auch populäre Diskurse anzuregen und Interessen auch außerhalb des engen Kreises von HistorikerInnen, Sport- und BildwissenschafterInnen zu erzeugen. Ein wichtiger Hebel dafür ist, Ergebnisse aktueller Sport- und Bewegungskulturforschung möglichst direkt in die Ausstellungen und Aktivitäten des Hauses der Geschichte Österreich einfließen zu lassen. Einige der Beiträge dieses Bandes geben dafür konkrete Anregungen. Dass diese Popularisierung dringend notwendig ist, zeigt schon die Tatsache, dass trotz der beachtlichen, auch international anerkannten Forschungsergebnisse, die die österreichische Sporthistoriografie in den letzten Jahrzehnten vorlegen konnte, bisher keine umfassende wissenschaftliche Gesamtdarstellung zur Geschichte des Sports in Österreich existiert. Zu konstatieren ist eine große Diskrepanz zwischen der Expansion des sozialen, ökonomischen, politischen und kulturellen Phänomens des Sports und den geradezu lächerlichen Ressourcen, die für seine geistes-, gesellschafts- und kulturwissenschaftliche Analyse zu Verfügung stehen. Der letzte – und bisher einzige – Versuch eines historischen Überblicks liegt immerhin schon 20 Jahre zurück. Es handelt sich um den von Ernst Bruckmüller und Hannes Strohmeyer herausgegeben Sammelband »Turnen und Sport in der Geschichte Österreichs«, der 13 Einzelbeiträge umfasst und aus einer im Jahr 1992 vom Historiker Erich Zöllner initiierten Tagung hervorgegangen ist.6 Die vorliegende Publikation »Images des Sports in Österreich. Innensichten und Außenwahrnehmungen« basiert auf den Beiträgen eines gleichnamigen Symposiums, das am 18. und 19. September 2017 im Haus des Sports in Wien durchgeführt worden ist. Konzipiert und organisiert wurde die Veranstaltung von der »Forschungsgruppe Sport« des Hauses der Geschichte Österreich, der 6 Ernst Bruckmüller/Hannes Strohmeyer (Hg.), Turnen und Sport in der Geschichte Österreichs (Schriften des Instituts für Österreichkunde 60), Wien 1998.

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Matthias Marschik et al.

Matthias Marschik, Agnes Meisinger, Rudolf Müllner, Johann Skocek und Georg Spitaler angehörten. Sie sind auch die HerausgeberInnen des Bandes. Den Anstoß zur Etablierung der Forschungsgruppe gab im Frühjahr 2015 der Vorstand des Instituts für Zeitgeschichte der Universität Wien und Vorsitzende des wissenschaftlichen Beirats des Hauses der Geschichte Österreich, Univ.-Prof. DDr. Oliver Rathkolb, dem wir für die Aufnahme des Sammelbandes in seine Reihe »Zeitgeschichte im Kontext« danken. Der Dank der Forschungsgruppe für die Realisierung der Konferenz und des Buchprojekts gilt allen ReferentInnen und BeiträgerInnen, unseren KooperationspartnerInnen, dem Haus der Geschichte Österreich, namentlich der Direktorin Dr.in Monika Sommer, dem Institut für Zeitgeschichte und dem Institut für Sportwissenschaft der Universität Wien, dem Verein zur wissenschaftlichen Aufarbeitung der Zeitgeschichte sowie unseren UnterstützerInnen, der Österreichischen Bundes-Sportorganisation (Präsident Rudolf Hundstorfer, Mag. Martin Domes, Mag. Rainer Rösslhuber), dem Bundesministerium Öffentlicher Dienst und Sport (Dr. Samo Kobenter und Philipp Trattner, BSc, BSc), der Arbeitsgemeinschaft für Sport und Köperkultur Österreich (Präsident Hermann Krist), dem Österreichischen Rundfunk/ORF Sport (Mag. Hans Peter Trost), dem Dekanat der Historisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien, dem Verein für Geschichte der ArbeiterInnenbewegung, dem ExpertInnen-Netzwerk sporthistnet sowie der Studienassistentin am Institut für Sportwissenschaft der Universität Wien, Marlene Fleck, und Mag.a Susanne Zukrigl.

Bilder und Räume des Sports

Olaf Stieglitz

Der Reiz der Bilder. Sportgeschichte als visuelle Körpergeschichte

I.

Eine kurze Chronik und ihre nicht unwichtigen Bilder

Der knappe Beitrag selbst enthielt gar nicht viel Aufregendes. Unscheinbar aufgemacht in der Januarausgabe 1938 von »Sport in Österreich«, dem »Amtlichen Organ der Österreichischen Sport- und Turnfront«, feierte Artur Unterberg, Frauensportwart des Österreichischen Leichtathletik Verbands (Ö.L.V.), auf zwei Druckseiten das 20-jährige Bestehen der Frauenleichtathletik im Land.1 Wobei das Feiern durchaus nüchtern ausfiel, denn im Wesentlichen beschränkte sich Unterberg auf eine sehr sachliche Chronik – von der Gründung der leichtathletischen Sektion für Frauen im Ö.L.V. 1917 und den ersten offiziell verzeichneten Rekorden ging der Autor rasch zu einer Auflistung der Ergebnisse der ersten internationalen Wettkämpfe der 1920er-Jahre über, um schließlich im größten Teil des Artikels die Ereignisse und Erfolge der jüngsten Vergangenheit seit Beginn der 1930er-Jahre zu schildern. Nur selten unterbrach Unterberg seinen wenig emotionalen Berichtsstil; Liesl Perkaus etwa avancierte seiner Ansicht nach mit einem Weltrekord im Kugelstoßen zur »Heldin«, und den aktuellen österreichischen Athletinnen attestierte er »beste internationale Klasse«, die sich nicht zuletzt bei den anstehenden ersten Fraueneuropameisterschaften 1938 in Wien erweisen sollte. Doch obwohl Unterbergs Chronik so scheinbar wenig Begeisterung vermittelte, stach der Beitrag doch ins Auge. Grund dafür waren die Fotografien, die ihm zur Seite gestellt waren. Der Text des Sportfunktionärs wurde durch drei vergleichsweise große Abbildungen illustriert, welche die beiden Druckseiten dominierten. Über den größer und fett gesetzten Titel hatte die Redaktion von »Sport in Österreich« über beide Textspalten hinweg ein Foto platziert, auf dem österreichische und italienische Teilnehmerinnen eines Frauenländerkampfs in Wien aus dem Jahr 1934 zu sehen waren; ein auf dem Stadionrasen vor halb1 Artur Unterberg, 20 Jahre österreichische Frauenleichtathletik, in: Sport in Österreich. Halbmonatsschrift für Sport und Turnen, 3 (Jänner 1937) 51, 10–11.

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Olaf Stieglitz

vollen Tribünen aufgenommenes Gruppenportrait. Gleich zu Beginn des Artikels demonstrierte es die sichtbare und durchaus auch erfolgreiche Präsenz österreichischer Athletinnen auf der internationalen Leichtathletikbühne. Noch eindrucksvoller waren die beiden anderen Illustrationen, die auf der zweiten Seite des Artikels zu finden waren und die sich sehr von der ersten Aufnahme unterschieden (Abb. 1 & 2). Beide Fotos wurden 1920 aufgenommen, also in den Anfangsjahren der organisierten Frauenleichtathletik, beide zeigen junge Frauen bei der Ausübung ihrer Disziplinen, und beide stammen von Lothar Rübelt, der den österreichischen Sport und gerade auch die Leichtathletik mit seiner Kamera seit langem dokumentiert hatte.2

Abb. 1: »Hürdenlauf der Damen, 1920. (Von l. nach r.: Keller, Raschke, Polzer, Lahr, alle ›Danubia‹), Photo: Rübelt«, in: Artur Unterberg, 20 Jahre österreichische Frauenleichtathletik, in: Sport in Österreich. Halbmonatsschrift für Sport und Turnen, 3 (Jänner 1937) 51, 11. (Quelle: ÖNB/Wien Bildarchiv, RÜ 11-1-21)

Mehrere Aspekte zeichnen diese Fotografien aus, sowohl aus Sicht der zeitgenössischen BetrachterInnen wie aus der Perspektive der heutigen historischen Forschung. Für die damalige Redaktion der offiziellen Monatsschrift des österreichischen Sports bedeutete die Existenz dieser Fotodokumente offenkundig eine dankbare Chance, 20 Jahre Frauenleichtathletik auf eine andere, emotio2 Zur – durchaus kontroversen – Rolle Lothar Rübelts siehe Michaela Pfundner, Dem Moment sein Geheimnis entreißen. Der Sportbildberichterstatter Lothar Rübelt (1901–1990), in: Matthias Marschik/Rudolf Müllner (Hg.), »Sind’s froh, dass Sie zu Hause geblieben sind«. Mediatisierung des Sports in Österreich, Göttingen 2010, 317–327.

Der Reiz der Bilder. Sportgeschichte als visuelle Körpergeschichte

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Abb. 2: »Frl. Mainx (W.A.F.) beim Kugelstoßen, 1920, Photo: Rübelt«, in: Artur Unterberg, 20 Jahre österreichische Frauenleichtathletik, in: Sport in Österreich. Halbmonatsschrift für Sport und Turnen, 3 (Jänner 1937) 51, 11. (Quelle: ÖNB/Wien Bildarchiv, RÜ 5301-B)

nalere und eindringlichere Weise zu feiern, als dies Unterbergs Chronik in Schriftform zu leisten vermochte. Alle drei verwendeten Fotos besaßen (und besitzen noch immer) einen appeal, einen Reiz, ein Potenzial der Berührung, das sie aufs Engste mit zwei zentralen Charakteristika des modernen Sports verband, mit seiner Emotionalität sowie seiner Tendenz zur narrativen Bedeutungsgebung. Die Redaktion machte sich dies zu Nutze, indem sie den verbandsoffiziellen und von daher nüchternen Charakter des Textbeitrags durch visuelle Materialien ergänzte, die eine große emotionale, beinahe körperliche Nähe und Teilhabe suggerierten und dabei die narrative Rahmung der von Unterberg dokumentierten Ereignisse, Personen und Erfolge mit argumentativem Mehrwert unterfütterten.3 Das galt im Besonderen für die beiden Aufnahmen des 3 Siehe hierzu Markus Stauff, The Accountability of Performance in Media Sports – Slow-

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Olaf Stieglitz

bekanntesten österreichischen Sportfotografen der 1920er-Jahre. Die größere von ihnen erstreckte sich auch über beide Textspalten hinweg, war unter den Artikel gesetzt und zeigte vier Läuferinnen des Sportclubs Danubia (»Keller, Raschke, Polzer, Lahr«) während eines Rennens beim Überqueren von Hürden. Das Foto fing zum einen eine enorme Dynamik ein, Rübelts Kameraperspektive ermöglichte eine sehr große Nähe zu den Sportlerinnen und ihren schnellkräftigen Bewegungen, die BetrachterInnen konnten in die Gesichter der vier Frauen schauen und darin Anstrengung, Konzentration, Ehrgeiz und Enthusiasmus ablesen. Neben dieser spannungsvollen und emotionalen Aufladung des Fotos erlaubt es zum anderen auch einen Blick in die Vergangenheit und verlieh der Chronik des Texts so nicht allein affektives Gewicht, sondern darüber hinaus auch visuelle Beweiskraft – im Jahr 1920 besaß die Frauenleichtathletik weit weniger Selbstverständlichkeit und Aufmerksamkeit beim Publikum. Die diesen Sport betreibenden Frauen trugen noch ganz andere Sportkleidung und hatten andere Frisuren, und darin lag womöglich sogar eine tiefere Bedeutung als lediglich ein Hinweis auf wandelnde Moden.4 Ganz ähnlich funktionierte auch das zweite Rübelt-Foto. Platziert in der oberen, rechten Ecke auf der zweiten Seite des Texts zeigt es »Frl. Mainx (W.A.F.) beim Kugelstoßen«. Zwar scheint der Aufnahme die ganz große Dynamik zu fehlen, denn das Bild zeigte Mainx beim Beginn der Stoßbewegung und konnte somit auch den Ansprüchen eines klassischen Portraitfotos genügen, mit dem man Persönlichkeit und Leistung einer individuellen Sportlerin dokumentierte. Doch konnte man die Aussagekraft dieses Fotos durchaus weiter fassen. Denn was dem Bild vermeintlich an (Bewegungs-)Schwung fehlte, machte es an visualisierter Kraft wieder gut. Die Diskussionen um den Frauensport insgesamt und um die Frauenleichtathletik im Besonderen drehten sich in den 1920er- und 1930er-Jahren, in Österreich und darüber hinaus, um Vorstellungen »angemessener« Weiblichkeit, und dabei wurden Disziplinen besonders beargwöhnt, wenn sie weniger mit Rhythmus und Eleganz als vielmehr mit Anstrengung, Muskelkraft und Schweiß in Verbindung zu bringen waren.5 Die Wahl einer Kugelstoßerin durch die verant-

Motion Replay, the »Phantom Punch«, and the Mediated Body, in: body politics, 2 (2014) 3, 101–123, URL: http://bodypolitics.de/de/archiv/?ausgabe=15 (abgerufen 14. 2. 2018). Zusammenfassend auch Mike O’Mahony, The Visual Turn in Sport History, in: Robert Edelman/ Wayne Wilson (Hg.), The Oxford Handbook of Sports History, Oxford 2017, 509–524. 4 Vgl. Johanna Dorer/Matthias Marschik, Sportliche Avancen – Frauensport in Wien 1934–1938, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 27 (2016) 3, 94–116; sowie dies., Ambivalenzen der Sportberichterstattung. Mediendiskurse und Subtexte zum Frauensport von 1900 bis 1950, in: Anke Hilbrenner/Dittmar Dahlmann (Hg.), »Dieser Vergleich ist unvergleichbar«. Zur Geschichte des Sports im 20. Jahrhundert, Essen 2014, 207–234. 5 Vgl. Olaf Stieglitz, Eine Frage von Rhythmus und Eleganz – Eine kurze visuelle Geschlech-

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wortliche Redaktion konnte mithin durchaus als Statement gelesen werden, mit dem nicht allein die Disziplinenvielfalt der frühen Frauenleichtathletik, sondern darüber hinaus auch indiziert wurde, wie sehr Vorstellungen und Zuschreibungen von Geschlecht durchs Sport treiben sowie durch dessen mediale, hier visuelle Repräsentationen immer wieder aufgerufen und zur Diskussion gestellt wurden. In gewisser Weise akzentuierte die Bildauswahl auch Unterbergs Aussage zur »Heldin« Liesl Perkaus – zwar zeigte das Foto eine andere Athletin, doch gelingt es der Aufnahme Lothar Rübelts besonders gut, die Disziplin Kugelstoßen zugleich als im zeitgenössischen Sinn »angemessen weiblich« als auch als »kraftvoll« zu zeigen. Diese knappen Bemerkungen über einen alles andere als außergewöhnlichen Bericht in einer Verbandszeitschrift können andeuten, worum es der kulturhistorischen Sportforschung geht, wenn sie seit einigen Jahren die Relevanz des visual turn auch für ihre Fragestellungen betont. Images des Sports in Österreich – Innensichten und Außenwahrnehmungen: Der Titel des Symposiums, auf dem die Beiträge der vorliegenden Anthologie erstmals präsentiert wurden, enthält Verweise auf einige bedeutsame Trends in der sozial- und kulturgeschichtlichen Auseinandersetzung mit Sport und Fitnessbewegungen, und er unterstreicht auf diese Weise die nunmehr immer deutlicher werdende Relevanz dieser Forschung.6 Images, das steht für die Entdeckung, wenn man so will, der zentralen Rolle des Visuellen bei der Entstehung des modernen Sports, für seine Popularität und seine immense soziale, kulturelle und gerade auch politische Wirkmacht. Nach 1900 wurden Bilder vom Sport und Bilder athletischer Körper in Europa, in Amerika und zunehmend auch in weiteren Weltregionen sehr rasch beinahe omnipräsent, und mit ihnen zirkulierten Normen und Ideale, Entwürfe von Anerkennung und Zugehörigkeit, aber auch Vorstellungen von Fremdheit und Ausschluss. Diesen vielfältigen und oft widersprüchlichen Dimensionen des Visuellen will die gegenwärtige kulturhistorische Sportforschung kritisch nachspüren. Doch erstreckt sich die visuelle Dimension von Sport und Fitness keineswegs auf die materielle Präsenz von tatsächlichen Bildern, Karikaturen, Fotos, Filmen usw., darauf weisen andere Elemente des Symposium-Titels hin. Österreich in Innensichten und Außenwahrnehmungen: Hier verbinden sich zwei weitere einflussreiche Entwicklungslinien der Forschung. Damit ist zum einen die nicht- bzw. weniger materielle Ebene des Visuellen angesprochen, die der Eindrücke, Wahrnehmungen, Erinnerungen und Emotionen, entscheidende Faktoren bei der Einschätzung der Wirkmacht des modernen Sports. Und es tergeschichte des Hürdenlaufs, in: Norbert Gissel/Andreas Luh (Hg.), Neue Forschung zur Kulturgeschichte des Sports, Hamburg 2018. 6 Vgl. das Plädoyer zur Relevanz einer kulturhistorischen Sportforschung von Frank Becker, Raum und Ritual, Körper und Kultur, Politik und Presse: Neue Bücher zur Sportgeschichte, in: Neue Politische Literatur 58 (2013), 375–388.

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wird zum anderen deutlich, dass eine solche kulturhistorisch erweiterte Sportgeschichtsschreibung nicht mehr allein in einem nationalen Rahmen zu schreiben ist, sondern die transnationale Dimension des modernen Sports viel ernster nehmen muss, als dies bislang oft geschehen ist.7 Sport und Bewegungskultur erstrecken sich – und daran haben nicht zuletzt die multimedial zirkulierenden Images ihren Anteil – auf Bereiche weit jenseits Olympischer Spiele und Weltmeisterschaften, auf Großereignisse, die bislang meist vor allem als Ausweis von Internationalität galten. Bilder vom Sport und ihr appeal – und das gilt für die tatsächlichen Abbildungen genauso wie für die mentalen Bilder – öffnen wichtige analytische Blicke in eine internationale Welt des Sports, der nicht zuletzt durch gerade diese Visualität geprägt ist. Auf den folgenden Seiten sollen einige zentrale Beweggründe, Annahmen und Vorgehensweisen einer visuellen Geschichte des Sports aufgefächert, vorgestellt und kritisch diskutiert werden. Der Beitrag will auf diese Weise deutlich machen, dass es sich lohnt, die umfangreiche Bildgebung des Sports ernst zu nehmen; mit ihrer kritischen Analyse ist ein bedeutsamer Mehrwert verknüpft, den es in den nächsten Jahren verstärkt zu unterstreichen gilt. Dieser Mehrwert zielt dabei unter anderem auf eine körperhistorische Dimension, die in der Sportgeschichte bis vor wenigen Jahren eine erstaunlich geringe Rolle gespielt hat, inzwischen aber deutlich an Konjunktur gewonnen hat.8

II.

Bewegungsbilder – Sportgeschichte & visual turn

Die Sportgeschichtsschreibung hat sich in den letzten zwei Dekaden zu einer Sozial- und Kulturgeschichte des Sports entwickelt und ist somit zu einem sichtbaren, ernst zu nehmenden Feld der historischen Forschung insgesamt geworden.9 Die historische Sportforschung war und ist Teil einer sich wandelnden und in ihren Ansätzen und Methoden pluraler und ausdifferenzierter werdenden Geschichtswissenschaft. Neben der transnationalen oder globalen Geschichte sind es insbesondere Ansätze der Neuen Kulturgeschichte, die seit 7 Siehe hierzu Tobias Werron, Der Weltsport und sein Publikum. Zur Autonomie und Entstehung des modernen Sports, Göttingen 2010. 8 Vgl. Robert Gugutzer, body turn. Perspektiven einer Soziologie des Körpers und des Sports, Bielefeld 2006; sowie Henriette Gunkel/Olaf Stieglitz, Verqueerte Laufwege. Sport & Körper in Geschichtswissenschaften und Cultural Studies, in: body politics, 2 (2014) 3, 5–20, URL: http://bodypolitics.de/de/archiv/?ausgabe=15 (abgerufen 14. 2. 2018). 9 Zusammenfassend siehe Christiane Eisenberg, Sportgeschichte und Gesellschaftsgeschichte, in: Michael Krüger/Hans Langenfeld (Hg.), Handbuch Sportgeschichte, Schorndorf 2014, 96–103; Joachim Scholtyseck, Tendenzen der Sportgeschichtsschreibung, in: Hilbrenner/ Dahlmann, »Dieser Vergleich ist unvergleichbar«, 9–20; sowie die verschiedenen Beiträge in Matthias Marschik/Rudolf Müllner/Otto Penz/Georg Spitaler (Hg.), Sport Studies, Wien 2009.

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einigen Jahren vom Rand der »Zunft« mehr und mehr ins Zentrum der Geschichtswissenschaft drängen. Diese widmet sich »Kultur« nicht mehr länger als einem Sektor menschlicher Gesellschaften neben Politik, Wirtschaft, Technik oder Recht, wie dies in der Gesellschaftsgeschichte geschieht, sondern fragt auf Basis eines erweiterten Kulturbegriffs danach, wie »Gesellschaften die sie umgebenden Wirklichkeiten mit bestimmten Bedeutungsnetzen ausstatten«.10 Sie definiert sich also nicht über einen Gegenstand (»die Kultur«), sondern über eine bestimmte Perspektive, eine Haltung. Die Neue Kulturgeschichte beleuchtet »das Kulturelle« als einen Prozess von Sinn- und Bedeutungskonstitution, der sich in allen gesellschaftlichen Phänomenen finden und analysieren lässt. Dies hat zur Konsequenz, und hierin artikuliert sich das Selbstverständnis dieser Richtung, dass sich Geschichte immer als in hohem Maße offen und kontingent darstellt. Statt der Fakten und Ergebnisse der Geschichte stehen die vielschichtigen, komplexen und stets von Macht beeinflussten Aushandlungsprozesse um Deutungshoheit im Zentrum der Analysen. Es ist nicht überraschend, dass sich eine so verstandene Neue Kulturgeschichte gerade den Untersuchungsgegenständen zugewandt hat, die lange als scheinbar überhistorisch stabil angesehen wurden, dem Körper beispielsweise, der nun zunehmend selbst als historisch geworden beschrieben wird. Damit rückte auch der Sport bzw. das umlaufende Feld der Bewegungskultur insgesamt in den Blick, und so verwundert es nicht, dass sich neben einigen programmatischen Entwürfen inzwischen auch einige empirische Arbeiten finden, die sich einer solchen Körpergeschichte des Sports und der Bewegungskultur zuwenden.11 Methodisch beziehen sich viele dieser Arbeiten auf Konzepte von Norbert Elias, Michel Foucault oder Pierre Bourdieu, andere verweisen eher auf die der Performanz- oder Ritualforschung.12 Den Verbindungen zwischen Sport treibenden Körpern, deren soziokulturellen Bedeutungen und ihren visuellen Repräsentationen ist dort bislang indes kaum nachgegangen worden, so formulieren es auch Mike Huggins und Mike O’Mahony in ihrer Einleitung zu einer kürzlich publizierten programmatischen

10 Achim Landwehr, Kulturgeschichte, Stuttgart 2009, 9. 11 Bernd Wedemeyer-Kolwe, »Der neue Mensch«. Körperkultur im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, Würzburg 2004; ders., Körpergeschichte, in: Krüger/Langenfeld (Hg.), Handbuch Sportgeschichte, 104–113; sowie Jürgen Martschukat, »The Necessity for Better Bodies to Perpetuate Our Institutions, Insure a Higher Development of the Individual, and Advance the Conditions of the Race.« Physical Culture and the Formation of the Self in the Late Nineteenth and Early Twentieth Century USA, in: Journal of Historical Sociology 24 (2011), 472–493. 12 Für einen Überblick siehe z. B. Richard Giulianotti (Hg.), Sport and Modern Social Theorists, Houndsmill/London 2004; sowie Douglas Hartmann, Sport and Social Theory, in: Edelman/ Wilson (Hg.), The Oxford Handbook of Sports History, 15–28.

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Anthologie.13 Und Douglas Booth, seit Jahren ein Vorreiter des Ansatzes, Sportgeschichte als Neue Kulturgeschichte zu entwerfen, argumentiert, dass »an understanding of sport, which is inextricably tied to corporeality and movement, would be nigh impossible without the testimony of images that appear in numerous media […]«.14 Aus anderer Perspektive heraus betrachtet, widmen sich die in den letzten Jahren über die Disziplinen hinweg so präsent gewordenen Visual Culture Studies auch nur sehr wenig dem Sport und der Bewegungskultur, und wenn, dann fehlt diesen Arbeiten nicht selten eine eingehende Historisierung ihrer Analysen.15 Bilder vom Sport, so formulieren es auch Huggins und O’Mahony, sind »potent, popular and pervasive, yet [their] meanings are multiple, complex and often conflicting«.16 Um wissenschaftlich mit dieser schwierigen Gemengelage umzugehen, sind mehrere miteinander verbundene Schritte notwendig. Erstens einmal müssen sich die Sportgeschichtsschreibung sowie die historisch arbeitenden Disziplinen der Sportwissenschaften selbstreflexiv über die Dimensionen des Visuellen und dessen potenziellem analytischen Nutzen bewusst werden. Bilder zu sehen und sie in ihren kulturwissenschaftlich-interpretatorischen Bedeutungen zu erkennen, sind zwei verschiedene Dinge. Das gilt insbesondere für die Bildproduktionen des Sports und der Sportwissenschaften selbst, die zumeist einer (natur-)wissenschaftlichen Logik der Evidenzsicherung verpflichtet waren und sind. Es wird Mühen kosten, sich von dieser einseitigen Perspektive zu lösen und solche Aufnahmen auch kulturwissenschaftlich zu lesen, ihren Konstruktionscharakter zu bestimmen und anzuerkennen, dass auch sie in weiten, kultürlich geformten und veränderlichen Konventionen des Sehens, Beobachtens, Erkennens, Identifizierens, Repräsentierens usw. verankert sind. Die selbstreflexive Hinwendung zum Visuellen muss einhergehen mit einer Erweiterung der Methodenkompetenz. Der visual turn hat die Kulturwissenschaften in den zurückliegenden Dekaden insgesamt immens verändert; er hat inzwischen auch die (traditionell innovationskritische) Geschichtswissenschaft erreicht und zeichnet sich inzwischen auch in den Sportwissenschaften ab.17 13 Mike Huggins/Mike O’Mahony, Prologue: Extending Study of the Visual in the History of Sport, in: dies. (Hg.), The Visual in Sport, London/New York 2012, 3–18. 14 Douglas Booth, The Field. Truth and Fiction in Sports History, London/New York 2006, 98–99. 15 Sigrid Schade/Silke Wenk (Hg.), Studien zur visuellen Kultur: Einführung in ein transdisziplinäres Forschungsfeld, Bielefeld 2011. 16 Huggins/O’Mahony, Prologue, 3. 17 Peter Burke, Augenzeugenschaft. Bilder als historische Quellen, Berlin 2003; Jens Jäger, Fotografie und Geschichte, Frankfurt am Main/New York 2009; Mike Huggins, The Sporting Gaze. Towards a Visual Turn in Sports History – Documenting Arts and Sport, in: Journal of Sport History 35 (2008) 2, 311–329.

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Zunehmend setzt sich die Erkenntnis durch, dass Visualität – sehen, ansehen, beobachten, erkennen, identifizieren – zu den tragenden bedeutungsgebenden Zusammenhängen in den menschlichen Lebenswelten zählt, die Handlungsentscheidungen, Erfahrungen, Sinnproduktionen wie Erinnerungen prägt.18 Dabei ist es der wichtigste Unterschied dieser neuen Visual History gegenüber einem älteren historiografischen Umgang mit Bildern, dass Bilder nicht länger vorwiegend als Illustrationen fungieren oder lediglich über Texte gewonnene Informationen stützen sollen, sondern als eigenständige Größe in der historischen Analyse auftauchen. Ein solches methodisches Eingehen auf Bilder als Quellen für historische Forschung zielt auf mindestens zwei Ebenen ab, die beide die Produktivität von Bildern unterstreichen. Zum einen gilt es, sich in der historischen Forschung Formen einer visual literacy anzueignen, die es erlauben, bildimmanente wie ästhetische Eigenschaften eines Bilds zu erkennen.19 Darüber hinaus muss berücksichtigt werden, dass Bilder eben nicht nur und auch nicht hauptsächlich ein ›Spiegel‹ für eine dahinter liegende Lebenswelt sind, sondern vielmehr selbst Realitäten schaffen; sie haben »zur Welt der Ereignisse [ein] gleichermaßen reagierendes wie schaffendes Verhältnis«, wie es der Kunsthistoriker Horst Bredekamp formulierte.20 In diesem Sinne fordert Gerhard Paul die Hinwendung zu einer historiografischen Bildakt-Forschung, »die die Modalitäten der Bildverwendung aufschlüsselt und Bilder zugleich auch als Bildakte begreift, die selbst wiederum Geschichte generieren […]«.21 Das verlangt nach einigen wichtigen methodischen Erweiterungen; der analytische Umgang mit Bildern fragt nach prononcierter Inter- oder auch Transdisziplinarität, nach der Aufnahme von Ansätzen und Anregungen aus Nachbardisziplinen. Kunstgeschichte, Literaturwissenschaften, Anthropologie, Semiotik, Medienwissenschaften – die Liste der zur Verfügung stehenden Anregungen ist lang und vielfältig, sie ist mitunter auch verwirrend und kann womöglich auch auf unproduktive falsche Fährten führen. Den Weg indes gar nicht zu beschreiten erscheint angesichts des analytischen Zugewinns keine Alternative zu sein.22 Den Sportwissenschaften als Zusammenhang mit ihrem 18 Thomas Lindenberger, Vergangenes Hören und Sehen. Zeitgeschichte und ihre Herausforderung durch die audiovisuellen Medien, in: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History 1 (2004) 1, 72–85. 19 Martina Heßler, Bilder zwischen Kunst und Wissenschaft. Neue Herausforderungen für die Forschung, in: Geschichte und Gesellschaft 31 (2005) 2, 266–292. 20 Hier zitiert nach Gerhard Paul, Die aktuelle Bildforschung in Deutschland. Themen – Methoden – Probleme – Perspektiven, in: Jens Jäger/Martin Knauer (Hg.), Bilder als historische Quellen? Dimensionen der Debatten um historische Bildforschung, München 2009, 125–147, 134. 21 Paul, Aktuelle Bildforschung in Deutschland, 135. 22 Gillian Rose, Visual Methodologies: An Introduction to the Interpretation of Visual Materials, London 2009.

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ohnehin interdisziplinären Selbstverständnis sollte diese Perspektiverweiterung vergleichsweise einfach fallen und gelingen. Ein weiterer Punkt kommt auf die Trias von appeal, Emotionalität und Narration zurück. Nicht erst seit Erscheinen von Hans Ulrich Gumbrechts In Praise of Athletic Beauty ist die Perspektive auf die faszinierenden Elemente des Sports geworfen worden, auf seine (emotionalen, auch ästhetischen) Wirkungen auf ein jeweils historisch unterschiedliches Publikum.23 Zu diesem Buch selbst und seinen Thesen kann man mit guten Gründen sehr kontrovers Stellung beziehen, bedeutsam ist es trotzdem durch seinen Hinweis auf die Rezeption sportlicher Tätigkeit in einem durch und durch medialen Netz von unterschiedlichen, sehr häufig visuellen Repräsentationsformen.24 Der Reiz des Sports, sein ihm eigener appeal, ist untrennbar mit der Attraktivität der von ihm und um ihn herum produzierten Bilder verknüpft. Die Geschichte(n) des Sports und die Arten und Weisen, wie sie von seinem historisch unterschiedlich zusammengesetzten Publikum erzählt und erinnert werden, sind ohne die narrative Dimension der Bilder nicht denkbar. Die materiellen Bilder und diejenigen in unseren Köpfen gehören in dieser Sichtweise zusammen; dies in eine wissenschaftliche Analyse einzuspeisen ist komplex und schwierig, aber auch notwendig und überaus lohnend. Darüber hinaus schließlich ist damit nochmals auch die Frage nach den Quellen aufgeworfen. Insgesamt betrachtet ist das Material ohne weiteres vorhanden, womöglich in größerem Umfang, als praktisch handhabbar ist. Es wird darauf ankommen, es als solches zu erkennen, es forschungspraktisch zu strukturieren und erkenntnisbefördernde Fragen daran zu richten. Lässt man den naheliegenden (und riesigen) Fundus aus dem Sportjournalismus etwa oder aus Kunst und Werbung einmal außen vor, dann wird rasch klar, wie viele visuelle Artefakte der unterschiedlichsten Art in der Trainingslehre, im Trainingsalltag, in der Biomechanik, in der medizinischen Sportforschung usw. produziert wurden und werden. Die Entwicklung der Medien Fotografie und Film (um nur zwei offensichtliche Beispiele anzuführen) ist untrennbar mit der Ausformung von Sport, Wettkampf, Training sowie wissenschaftlicher Analyse verwoben. Die Entwicklung, Bekanntmachung, Verbreitung und Durchsetzung neuer, »besserer« Bewegungsformen im Sport ist eine Geschichte ihrer Bildge-

23 Hans Ulrich Gumbrecht, In Praise of Athletic Beauty, Cambridge, MA, 2006. 24 Zu den Kontroversen um das Buch siehe Christopher Young, Kantian Kin(a)esthetics. Premises, Problems and Possibilities of Hans Ulrich Gumbrecht’s ›In Praise of Athletic Beauty‹, in: Sport in History 28 (2008) 1, 5–25. Die Zentralität einer medientheoretischen Perspektive auf Sport unterstreichen Felix Axster/Jens Jäger/Kai Marcel Sicks/Markus Stauff (Hg.), Mediensport. Strategien der Grenzziehung, München 2009.

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bung, wie unzählige Fotoserien in frühen Lehrbüchern oder auch Unterrichtsfilme zeigen.25 Diese Formen der Sichtbarmachung sportlicher Bewegung weisen weit über ihre im engeren Sinne (natur-)wissenschaftlichen und konkret praxisbezogenen Zusammenhänge hinaus. Sie sind Teil kultureller und sozialer Aushandlungsprozesse, in denen es zum Beispiel um die Selbsteinschätzung einer Gesellschaft als modern oder innovativ gehen kann, oder in denen menschliche Körper und ihre Bewegungen entlang identitärer, von gesellschaftlicher Macht durchzogenen Achsen wie Geschlecht, Klasse, »Rasse« oder Alter markiert werden. Es ist diese auf die Körper in Bewegung, auf die konkreten Praktiken gerichtete Perspektive, die durch eine ernsthafte, theoriegeleitete Integration visueller Quellen besonders gewinnen kann. Sportliche Bewegungen bedeuten etwas, sind Bestandteil einer symbolischen Ordnung von Gesellschaften und Kulturen; sie müssen notwendig als von Macht durchzogen verstanden und analysiert werden – und dabei bieten visuelle Quellen eine bislang noch nicht genügend genützte Ressource an.26 Freilich darf man dabei nicht den Fehler begehen, die betrachteten Bilder als schlichte Repräsentationen von Wirklichkeit zu verstehen. Vielmehr gilt es, sie als visuelle Konstruktionen historisch kontingenter Körperlichkeiten zu analysieren, um auf diese Weise die soziokulturellen Effekte des Sports und der Körper in Bewegung in den Blick zu bekommen.27

III.

Fazit

Betrachtet man, um bei dem oben eingeführten Beispiel zu bleiben, die Hefte der Jahrgänge 1937/38 von »Sport in Österreich«, dann eröffnet sich jene produktive Spannung zwischen Text und Bildern, die auch den zu Beginn vorgestellten Beitrag von Artur Unterberg zum Jubiläum der Frauenleichtathletik ausmachte. Das Verbandsorgan war ein überaus reichhaltig illustriertes Magazin, und die Redaktion legte offenkundig auch großen Wert darauf, Qualität und Attraktivität der fotografischen Abbildungen hochzuhalten. Man konnte EiskunstläuferInnen, SkifahrerInnen und LeichtathletInnen sehen, Männer auf Motorrädern und 25 Ich selbst habe versucht, diesen Zusammenhang am Beispiel des Kraulschwimmens in den Vereinigten Staaten zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu veranschaulichen. Vgl. Olaf Stieglitz, »A particularly desirable exercise for girls and women«: Swimming and Modern Female Bodies in the United States, 1900s–1930s, in: Angles – French Perspectives on the Anglophone World 5 (2017), URL: http://angles.saesfrance.org/index.php?id=1201 (abgerufen 14. 2. 2018). 26 Monika Fikus/Volker Schürmann (Hg.), Die Sprache der Bewegung. Sportwissenschaft als Kulturwissenschaft, Bielefeld 2004. 27 Hierzu ausführlicher Jörn Eiben/Olaf Stieglitz, Depicting Sporting Bodies – Visual Sources in the Writing of Sport History, in: Historical Social Research (Special Issue 2018), 7–24.

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Frauen auf Segelbooten, und eine Vielzahl dieser Fotos waren sehr aktionsgeladen, zeigten die Körper von AthletInnen bei der Ausübung ihrer dynamischen Bewegungen. Von auffälliger Prägnanz waren meist die Titelbilder der Zeitschrift, und auch die Rückseiten der Hefte zierten großformatige Aufnahmen. Eine Analyse der Verbandspolitik dieser Jahre wird ohne eine eingehende Mitberücksichtigung dieser spezifischen Bildpolitik nicht angemessen möglich sein. Die Images in »Sport in Österreich« waren nicht nur Beiwerk und oft nicht einmal tatsächliche Illustrationen dessen, was die jeweiligen Textbeiträge ansprachen. Vielmehr funktionierten sie meist recht unabhängig von der textuellen Ebene der Berichterstattung und Dokumentation. Die Bildpolitik in »Sport in Österreich« war Teil dessen, was Johanna Dorer und Matthias Marschik in ihrem Aufsatz zu den ambivalenten Mediendiskursen und Subtexten der Sportberichterstattung in den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts aufgefächert haben.28 Fotografien von sportlichen Körpern in Bewegung waren aus der Presse nicht mehr wegzudenken, sie waren inzwischen tragender Bestandteil des SportMedien-Komplexes – aber mit ihnen öffneten sich Bedeutungspotenziale, die nicht immer kontrolliert werden konnten. Das wird nicht zuletzt im Zusammenhang mit dem Frauensport besonders deutlich. In einer Epoche der österreichischen Geschichte, in denen eine autoritär-diktatorische Regierung »kulturelle Praktiken ›moderner‹ Frauen – also auch deren sportliche Betätigung« unterbinden wollte, erwies sich die »austrofaschistische Sportkonzeption angesichts der weiblichen Sporterfahrung der 1920er-Jahre und der Entwicklungen im internationalen Frauensport als kaum umsetzbar.«29 Die Bildpolitik in »Sport in Österreich« war nicht bloß ein Spiegel dieses Scheiterns, sie war vielmehr ein aktiver Bestandteil der laufenden Auseinandersetzungen. Sie war zum einen ein bewusster Kontrapunkt zu vielen Textbeiträgen, indem sie ihnen ihren eigenen emotionalen und narrativen appeal entgegensetzten – der Rückgriff auf ›historische‹ Aufnahmen als Illustrationen für Unterbergs Chronik ist ein markantes Beispiel. Doch blieb auch diese gewollte Intervention notwendig prekär, entzogen sich die Bilder auch immer wieder ihren scheinbar eindeutigen Bedeutungen, blieben sie doch auch immer offen für weniger subversive Lesarten. Eine Sportgeschichtsschreibung als Körpergeschichte mit visuellen Quellen kann sich genau diesen Ambivalenzen widmen und sie forschungspraktisch produktiv machen; genau hierin liegt ihr bedeutsamer Mehrwert.

28 Dorer/Marschik, Ambivalenzen der Sportberichterstattung. 29 Dorer/Marschik, Sportliche Avancen, 100 u. 101.

Agnes Meisinger

Sportplatz Heldenplatz

I.

Einleitung

Der Wiener Heldenplatz, einst Symbol der Habsburgermonarchie, stellt sich heute als lebendiger Gedächtnisort der österreichischen Zeitgeschichte dar, an dem sich die kulturellen, politischen und sozialen Transformationsprozesse des Landes der vergangenen zwei Jahrhunderte besonders gut ablesen lassen. Der imperiale Ort diente als Bühne militärischer Aufmärsche, politischer Kundgebungen oder ideologisch motivierter Masseninszenierungen und Veranstaltungen. Adolf Hitlers Proklamation des »Anschlusses« Österreichs an das Deutsche Reich hat sich – nicht zuletzt aufgrund der großen Anzahl audiovisueller Zeugnisse – in das kollektive Gedächtnis der ÖsterreicherInnen eingeschrieben.1 Gleichzeitig war und ist der Heldenplatz ein Ort kultureller Begegnung: Er ist u. a. Standort der Österreichischen Nationalbibliothek, des Weltmuseums und des Hauses der Geschichte Österreich in der Neuen Hofburg. Der Platz sowie die ihn umgebenden öffentlichen Gartenanlagen sind ein beliebtes Erholungsgebiet, ein touristischer Anziehungspunkt und ein Raum sportlicher Betätigung. Im Folgenden werden die Sportereignisse, die sich zwischen 1926, dem ersten durch Quellen belegten Event, und 2008 auf dem ehemaligen Promenade- und Exerzierplatz zugetragen haben, skizziert und im jeweiligen (sport-)politischen Kontext reflektiert. 1 Für eine umfassende Darstellung der (bau)geschichtlichen Entwicklung des Heldenplatzes siehe insbesondere die Forschungen des Historikers Peter Stachel, Mythos Heldenplatz, Wien 2002 und die aktualisierte Neuauflage, Mythos Heldenplatz. Hauptplatz und Schauplatz der Republik, Wien 2018 sowie Peter Stachel, Der Heldenplatz. Zur Semiotik eines österreichischen Gedächtnis-Ortes, in: Stefan Riesenfellner (Hg.), Steinernes Bewußtsein I. Die öffentliche Repräsentation staatlicher und nationaler Identität Österreichs in seinen Denkmälern, Wien/Köln/Weimar 1998, 619–656. Für einen historischen Überblick mit zahlreichen Abbildungen siehe den Begleitband zur gleichnamigen Ausstellung von Alisa Douer (Hg.), Wien, Heldenplatz. Mythen und Massen 1848–1998, Wien 2000.

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II.

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Sportereignisse auf dem Heldenplatz

Öffentliche Räume sind sowohl Orte des Transits als auch des Aufenthaltes, der Inklusion als auch der Exklusion, der Repräsentation als auch der Inszenierung. In ihnen findet seit jeher politisches Handeln sowie gesellschaftliches und kulturelles Leben statt. Als nach der Schleifung der Stadtmauer das einst als »Äußerer Burgplatz«2 bezeichnete Areal in den 1820er-Jahren zu einem öffentlichen Raum transformiert worden war, etablierte sich die Freifläche vor der Hofburg aufgrund ihrer Topografie rasch zu einem Ort, an dem staatliche und militärische Rituale und Festveranstaltungen mit großen TeilnehmerInnen- oder ZuschauerInnenzahlen zelebriert werden konnten. Die Inbesitznahme des Platzes – im Sinne von Massenkundgebungen oder Propagandainszenierungen durch verschiedene politische Gruppierungen oder Machthaber – nahm ihren Anfang in den 1920er-Jahren. Mit einer sozialdemokratischen Großveranstaltung anlässlich des Arbeiter-Turn- und Sportfestes 1926 schrieb sich der Sport erstmals in die Geschichte des Platzes ein.

2.1

Arbeitersport-Feste, 1926/1931

Die 1. Arbeiter-Olympiade in Frankfurt am Main 1925, bei der die Vielfalt und fortschreitende Internationalisierung des Arbeitersports demonstriert worden war, läutete eine Reihe großer Festspiele in der Zwischenkriegszeit ein, die im Einklang mit der Ideologie und den Zielen der Sozialdemokratie standen. Darunter fiel auch das 1. Österreichische Arbeiter- Turn- und Sportfest in Wien, das die Entwicklung der ArbeiterInnensportbewegung hin zu einer Massenbewegung vor Augen führte.3 Für den Arbeitersport, der sich als Gegenpol zum rasch wachsenden bürgerlichen Sport sah, stand nicht das Streben nach Rekorden im Fokus derartiger Veranstaltungen, sondern die Verbreitung sozialdemokratischer Ideale wie Kollektivismus und Solidarität sowie die Stärkung des Klas-

2 Namensgebend für den Heldenplatz sind die beiden im Auftrag von Kaiser Franz Joseph I. geschaffenen Reiterstandbilder von Erzherzog Karl und Prinz Eugen von Savoyen. Seit den Enthüllungen der Denkmäler in den 1860er-Jahren tauchte vor allem in der Presse die Bezeichnung »Heldenplatz« immer häufiger auf. Der Name konnte sich jedoch nur langsam durchsetzen, weshalb der Platz mehrere Jahrzehnte sowohl Äußerer Burgplatz als auch Heldenplatz genannt wurde. Erst 1975 erfolgte die Festlegung im Amtlichen Wiener Straßenverzeichnis auf den Namen, den die Verkehrsfläche heute trägt. Vgl. URL: https://www. wien.gv.at/wiki/index.php?title=Heldenplatz (abgerufen 4. 1. 2018). 3 Festführer und Programm des 1. Österreichischen Arbeiter-Turn- und Sportfestes zu Wien, 4.–11. Juli 1926, Wien 1926, 12.

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senbewusstseins und der Wehrhaftigkeit.4 Ein bedeutender Bestandteil der Zusammenkünfte waren kulturelle Veranstaltungen wie etwa Stadtführungen, Theater- und Kinoaufführungen oder musikalische Darbietungen. Den Beginn der chronologischen Aufzählung der mit Sport in Zusammenhang stehenden Veranstaltungen auf dem Heldenplatz bildet ein Konzert der ArbeiterInnen-Chöre, das im Rahmenprogramm des Arbeiter-Turn- und Sportfestes am 7. Juli 1926 aufgeführt und von Tausenden ArbeitersportlerInnen besucht wurde. Es folgte ein Fackelmarsch der Anwesenden – eine »feurige Schlange«, wie die »Arbeiter-Zeitung« den imposanten Zug beschrieb – über den Platz.5 Als im Jahr 1931 mehr als 25.000 SportlerInnen aus 19 Verbänden der Sozialistischen Arbeitersport-Internationale bei der 2. Arbeiter-Olympiade zwischen 19. und 26. Juli in Wien gastierten, konnten die Organisatoren bereits auf die Erfahrungen von 1926 zurückgreifen. Im Zentrum der Arbeiter-Olympiade standen das eigens dafür erbaute Wiener Praterstadion und seine umliegenden Sportplätze. Neben den sportlichen Wettkämpfen fanden zahlreiche gymnastische Massenübungen mit mehr als 50.000 Teilnehmenden sowie kulturelle Festivitäten in der ganzen Stadt statt.6 Das »Monsterkonzert des Gaues Wien des Österreichischen Arbeitersängerbundes« am 24. Juli 1931 auf dem Heldenplatz, bei dem insgesamt 5.000 SängerInnen unter der Leitung der Dirigenten und Komponisten Heinrich Schoof und Hubert Hoppel ein Konzert zu Ehren der Olympiagäste gaben, stellte einen Höhepunkt des Kulturprogramms dar.7 Wie viele Personen die Aufführung besuchten, lässt sich nicht genau bestimmen. Anhand des zur Verfügung stehenden Bildmaterials aus dieser Zeit kann von etwa 15.000 Personen ausgegangen werden. Am abschließenden Festzug der Spiele vom Praterstadion über die Ringstraße bis hin zum Rathaus nahmen am 26. Juli mehr als 100.000 Menschen teil. Die Arbeiter-Olympiade in Wien ging als die größte und monumentalste Veranstaltung der ArbeiterInnensportbewegung in die Geschichte ein. Wenig später, im April 1934, wurden die österreichischen 4 Pia Janke, Politische Massenfestspiele in Österreich zwischen 1918 und 1938, Wien/Köln/ Weimar 2010, 118–135, 118. 5 Arbeiter-Zeitung, 11. 7. 1926, 8. 6 Matthias Marschik, »… im Stadion des Jahrhunderts«. Die 2. Arbeiterolympiade in Wien 1931, in: Christian Koller (Hg.), Sport als städtisches Ereignis (Stadt in der Geschichte 33), Ostfildern 2008, 189–210, 196; Die Arbeiterolympiade 1931, URL: http://www.arbeitersport.at/de/ 1919-1934-neue-zeit/manifestation-demonstration-arbeiterolympiade/articlearchivshowdie-arbeiterolympiade-1931 (abgerufen 11. 1. 2018). 7 Stadion, 3/1931 (Sonderausgabe), 32; Wilhelm Strahringer (Red.), Festführer 2. ArbeiterOlympiade der sozialistischen Arbeiter-Sportinternationale, Wien 1931, 60. In der ArbeiterZeitung vom 24. 7. 1931 wird als Veranstaltungsort der Rathausplatz genannt. Die vorhandenen Fotoaufnahmen belegen jedoch eindeutig, dass das Konzert auf dem Heldenplatz stattfand.

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Arbeitersportvereine sowie alle anderen sozialdemokratischen Organisationen durch das autoritäre Kanzlerregime von Engelbert Dollfuß verboten.

2.2

Radioübertragung des »Jahrhundertspiels«, 1932

Eineinhalb Jahre vergingen bis zur nächsten Großveranstaltung auf dem Heldenplatz, die mit Sport in Verbindung stand. Der Sport hatte sich nach dem Ersten Weltkrieg in Österreich zu einem selbstständigen gesellschaftlichen und kulturellen Faktor des Alltagslebens entwickelt, und der Fußball war zu einem Massensport avanciert. Mit dem 1921 eröffneten Stadion Hohe Warte verfügte Wien damals über das größte und modernste Fußballstadion Kontinentaleuropas, und das sogenannte »Wunderteam«, wie die international überaus erfolgreiche Fußball-Nationalmannschaft zwischen 1931 und 1933 genannt wurde, stellte sich als Aushängeschild der krisengebeutelten Ersten Republik dar. Angesichts des rasch wachsenden öffentlichen Interesses am Sport nahm die österreichische Rundfunkgesellschaft Radio Verkehrs AG (RAVAG) 1928 die Berichterstattung von großen Sportveranstaltungen in das Programm auf, und die vom Pionier der Sportberichterstattung Wilhelm »Willy« Schmieger8 kommentierten Fußballspiele des »Wunderteams« erfreuten sich größter Beliebtheit. Nach einer Siegesserie der Österreichischen Mannschaft kam es am 7. Dezember 1932 im Stamford Bridge Stadion in London zum Showdown der beiden vermutlich besten europäischen Teams: Österreichs technisch versiertes Spiel traf auf Englands Kraftfußball. An diesem Dezember-Nachmittag kam es auf dem Heldenplatz zu einer »rundfunktechnischen, massenkulturellen und nationalen Attraktion«, wie der Kultur- und Sporthistoriker Matthias Marschik in seiner Analyse über die Radioübertragung des Spiels feststellt.9 Mehrere zehntausend Fußballbegeisterte verfolgten vor der Hofburg über eine riesige Lautsprecheranlage Schmiegers Live-Bericht aus London, der via Unterseekabel in die deutschsprachigen Länder – die Weimarer Republik, Schweiz, Tschechoslowakei und nach Österreich – übertragen wurde.10 Als Organisator dieser ersten »Fanzone« in der Geschichte des Heldenplatzes fungierte die »Winterhilfe«, eine karitative Einrichtung des 8 Zur Biografie und Karriere von Willy Schmieger siehe Bernhard Hachleitner, Der Radiostar Wilhelm »Willy« Schmieger (1887–1950), in: Matthias Marschik/Rudolf Müllner (Hg.), »Sind’s froh, dass Sie zu Hause geblieben sind.« Mediatisierung des Sports in Österreich, Göttingen 2010, 158–168. 9 Matthias Marschik, Nationalgefühl per Unterseekabel: Willy Schmieger überträgt das »Jahrhundertspiel«, in: Marschik/Müllner (Hg.), »Sind’s froh, …«, 169–178 (mit Abbildungen), 169. 10 Marschik, Nationalgefühl per Unterseekabel, 173.

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»Roten Wiens«; die Eintrittsgebühr betrug 20 Groschen, für Pausenunterhaltung sorgte die Kapelle der Wiener Feuerwehr, für das leibliche Wohl Brezel- und Süßigkeitenverkäufer.11 76 Jahre später, im Sommer des Jahres 2008, versammelten sich Fußballfans an demselben Ort, um die Fernsehübertragungen der Spiele der Europameisterschaft gemeinsam zu erleben. Das prestigeträchtige Match um die »Vorherrschaft« im europäischen Fußball endete mit einer 3:4-Niederlage Österreichs, die aber nicht als solche empfunden wurde. Viel mehr leistete das »Wunderteam« einen wesentlichen Beitrag zur Entwicklung eines Nationalbewusstseins des nach dem Zusammenbruch der Monarchie zu einem Kleinstaat geschrumpften Landes.12

2.3

Olympische Weihefeier, 1936

Wenige Monate nach dem »Jahrhundertspiel« vollzog sich in Österreich ein Regierungsumsturz: Die parlamentarische Demokratie der Ersten Republik wurde in ein autoritäres Kanzlerregime transformiert – ein Umbruch, der alle Lebensbereiche erfasste und auch dem Sport neue Rahmenbedingungen aufzwang. Ziel der austrofaschistischen Sportpolitik war es, alle Zweige des Sports und der Körperertu¨ chtigung zentral zu verwalten und dadurch in den Dienst der Gesamtpolitik zu stellen. Dazu wurden die Turn- und Sportverbände bzw. -vereine in der »Österreichischen Sport- und Turnfront« (ÖSTF) zusammengefasst, der als »Oberster Sportfu¨ hrer« Ernst Ru¨ diger Starhemberg vorstand. Die infolge von nationalsozialistischen Terrorattacken und der Ermordung von Bundeskanzler Engelbert Dollfuß eingeschlagene Abschottungspolitik von NS-Deutschland hatte 1935 auch den zeitweiligen Abbruch der Sportbeziehungen mit dem Nachbarland zur Folge. Als jedoch 1936 der außenpolitische und wirtschaftliche Druck Deutschlands zu groß wurde, musste Kurt Schuschnigg den antinationalsozialistischen Kurs aufgeben, sodass auch der Teilnahme österreichischer AthtletInnen an den bevorstehenden Olympischen Winterspielen in Garmisch-Partenkirchen und den Sommerspielen in Berlin nichts mehr im Wege stand. Mit der Unterzeichnung des »Juliabkommens« am 11. Juli 1936 – einer Vereinbarung zur »Normalisierung« der bilateralen Beziehungen – setzte eine schrittweise Annäherung Österreichs an das Deutsche Reich ein, während die 11 Das Kleine Blatt, 6. 12. 1932, 9. Eine Fotografie der Veranstaltung ist im Beitrag von Bernhard Hachleitner/Sema Colpan in diesem Band abgebildet. 12 Zur Analyse des Beitrags des »Wunderteams« zur Bildung eines Österreichbewusstseins in der Ersten Republik siehe u. a. Johann Skocek/Wolfgang Weisgram, Wunderteam Österreich. Scheiberln, wedeln, glücklich sein, Wien 1996, 31–101.

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seit dem Parteiverbot 1933 in die Illegalität gedrängten Nationalsozialisten auf die politische Bühne zurückkehrten. Am Abend des 29. Juli 1936 hielt – fünf Jahre nach den Sommerspielen der ArbeitersportlerInnen – abermals »Olympia« Einzug auf dem Heldenplatz. Im Rahmen des olympischen Fackellaufs durch Wien sollte »Sportführer« Starhemberg in einer Weihefeier die österreichische Olympiadelegation zu den Spielen nach Berlin verabschieden. Die Veranstaltung verlief aber alles andere als reibungslos, da illegale NationalsozialistInnen den Fackellauf auf österreichischem Boden, und insbesondere in Wien, kurzerhand zu einer Propagandaveranstaltung umfunktionierten, wie der Historiker Kurt Bauer anhand zeitgenössischer Presseberichte analysiert: »Für die Feier am Heldenplatz waren wohlweislich Eintrittskarten ausgegeben worden; allerdings hatten die Veranstalter mit der Organisation den Wiener Vizebürgermeister Fritz Lahr beauftragt, einen nur oberflächlich getarnten Kryptonazi. So wundert es nicht, dass zehntausende NS-Anhänger den Platz besetzten, in Sprechchören ›Heil Hitler!‹, ›Österreich erwache – Sieg und Rache!‹ und dergleichen brüllten und das einschlägige Liedgut zum Besten gaben. Bundespräsident [Wilhelm] Miklas wurde regelrecht niedergepfiffen, worauf er und ein Teil der Ehrengäste fluchtartig die Tribüne verließen.«13

Während in Städten wie Belgrad oder Prag die von Propagandaminister Joseph Goebbels organisierte Premiere des olympischen Fackellaufs von anti-deutschen Protesten begleitet wurde,14 konnte die Veranstaltung in Wien nur unter massivem Polizeiaufgebot stattfinden. Den Störaktionen seitens der NS-SympathisantInnen am Abend folgten antisemitische Übergriffe in der Nacht, wie die verbotene »Arbeiter-Zeitung« berichtete.15 Karl Schäfer, der populärste Wintersportler des Landes jener Zeit und erfolgreichste Eiskunstläufer der österreichischen Sportgeschichte, der zuvor im Februar bei den Winterspielen sein zweites Olympiagold gewonnen hatte, brachte die Fackel auf den Heldenplatz und entzündete auf dem Dach des Äußeren Burgtores16 eine Feuerschale. Dabei erlitt er durch einen plötzlichen 13 Kurt Bauer, Das Feuer am Ring, in: Die Presse (Spectrum), 10. 5. 2008, URL: http://www.kurtbauer-geschichte.at/PDF_Texte%20& %20Themen/Olympiafeier_1936_Wien.pdf, 2 (abgerufen 5. 9. 2017). 14 Hajo Bernett/Marcus Funck/Helga Woggon, Der olympische Fackellauf 1936 oder die Disharmonie der Völker, in: Sozial- und Zeitgeschichte des Sports 10 (1996) 4, 15–45; Matthias Marschik, Sportdiktatur. Bewegungskulturen im nationalsozialistischen Österreich, Wien 2008, 42–43. 15 Arbeiter-Zeitung, 9. 8. 1936, 2. 16 1933/34 wurde durch den Wiener Architekten Rudolf Wondracek in Inneren des rechten Seitenflügels des Äußeren Burgtores ein Heldendenkmal für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs gestaltet. Die Gedenkstätte mit dem »Grab des unbekannten Soldaten« in der sogenannten »Krypta« wurde mehrfach politisch instrumentalisiert und umgedeutet. 1965

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Windstoß, wie das »Sport-Tagblatt« tags darauf berichtete, eine handtellergroße Brandwunde auf dem Kopf.17

Abb. 1: Karl Schäfer mit der olympischen Fackel beim Äußeren Burgtor, 29. Juli 1936. (Quelle: Austrian Archives/Imagno/picturedesk.com – 19360101_PD0352)

Nach der Vereidigung der OlympiateilnehmerInnen und der Fackelübergabe an den nächsten Läufer beim Burgtor verließ auch »Sportführer« Starhemberg begleitet von Beschimpfungen einer aufgebrachten Menschenmenge rasch das Gelände.18 An den Berliner Spielen im August 1936 nahmen 174 österreichische AthletInnen teil.

wurde im linken Flügel der »Weiheraum für den Widerstand gegen den Nationalsozialismus« eingerichtet. Siehe dazu Dieter A. Binder/Richard Hufschmied/Heidemarie Uhl (Hg.), Das Österreichische Heldendenkmal im Äußeren Burgtor der Wiener Hofburg. Geschichte und Neukonzeption (erscheint 2018). 17 Sport-Tagblatt, 30. 7. 1936, 1–3. Später sollte auch Karl Schäfer ein Profiteur des NS-Regimes werden. Vgl. Andreas Tröscher, Karl Schäfer. Der mit dem Eis tanzte, in: Matthias Marschik/ Georg Spitaler (Hg.), Helden und Idole. Sportstars in Österreich, Innsbruck/Wien/Bozen 2006, 167–175. 18 Bauer, Feuer, 2.

40 2.4

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»Ostmärkische Voralpenfahrt«, 1939

Der durch die Nationalsozialisten eingeleitete politische Umsturz ließ nicht lange auf sich warten. Adolf Hitlers Auftritt auf der Terrasse der Neuen Burg, von wo aus er am 15. März 1938 rund einer Viertelmillion jubelnder Menschen den »Anschluss« Österreichs an das Deutsche Reich verkündete, stellt bis heute ein wirkmächtiges Image dar, das in den letzten Jahren allerdings vermehrt zum Gegenstand von Versuchen einer Neu- oder Umcodierung19 geworden ist.20 Die im Volksmund als »Hitler-Balkon« bezeichnete 240 Quadratmeter große Altane ist ein zentraler Bestandteil im Konzept des Hauses der Geschichte Österreich, dem im Vorfeld eine intensive museale Auseinandersetzung zuteilwurde. In den ersten Jahren der NS-Herrschaft wurde der Heldenplatz für Aufmärsche der Wehrmacht oder Propagandainszenierungen wie die Freiluftausstellung »Der Sieg im Westen« (1940) genutzt. Und auch ein großes Motorsportereignis – die »Ostmärkische Voralpenfahrt« – hatte Start und Ziel vor der Hofburg, dem einstigen Herrschaftssymbol der Habsburgermonarchie. Dass der Motorsport einen besonderen Stellenwert für das NS-Regime hatte, ist hinlänglich bekannt. So ging etwa der »Silberpfeil« von Mercedes-Benz/Auto Union mithilfe massiver staatlicher Förderungen als das Propagandaprodukt der deutschen Automobilindustrie hervor. Der »Deutschen Alpenfahrt«, dem bedeutendsten Straßenrennen im Deutschen Reich, sollte die »Ostmärkische Voralpenfahrt« als Präludium oder »Generalprobe« dienen.21 Am Abend vor der Voralpenfahrt, am 24. Juni 1939, fand auf dem Heldenplatz der Fahrerappell, die Abnahme der Fahrzeuge und die feierliche Flaggenhissung in Anwesenheit ranghoher NSDAP-Funktionäre statt.22 Tags darauf, um vier Uhr früh, setzten sich 268 Motorräder, Sport- und Tourenwagen23 vom Heldenplatz aus in einem neutralisierten Rennen zum offiziellen Startpunkt in Schwechat in Bewegung. Auf einer 533,1 Kilometer langen, kurvenreichen Strecke, an der tausende ZuschauerInnen den Bewerb verfolgten, ging es über Eisenstadt, Aspang, Kirchberg, Gloggnitz, Traisen, Puchberg und

19 Heidemarie Uhl, Heldenplatz – Ballhausplatz. Zur Neukontextualisierung eines zentralen Orts österreichischer Erinnerungskultur, in: Gedenkdienst 1/2013, 5 bzw. URL: https://www. gedenkdienst.at/index.php?id=804 (abgerufen 4. 1. 2018). 20 Der Historiker Ernst Hanisch meint sogar, dass der Platz »obsessiv« von diesem Ereignis besetzt sei. Vgl. Ernst Hanisch, Wien, Heldenplatz, in: Etienne FranÅois/Hagen Schulze (Hg.), Deutsche Erinnerungsorte I, München 2001, 105–121, 105. 21 Vgl. u. a. Salzburger Volksblatt, 27. 6. 1939, 8. Zur Geschichte der Alpenfahrt siehe ausführlich Martin Pfundner, 100 Jahre Alpenfahrt (2., erweiterte Auflage), Wien/Köln/Weimar 2010. 22 Neues Wiener Tagblatt, 25. 6. 1939, 10. 23 Kleine Volks-Zeitung, 26. 6. 1939, 4; Salzburger Volksblatt, 27. 6. 1939, 8.

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Abb. 2: Fahrerappell und Flaggenhissung auf dem Heldenplatz, 24. Juni 1939. (Quelle: ÖNB/ Wien Bildarchiv, S 628/92)

Berndorf in das Ziel nach Heiligenkreuz, von wo aus die Fahrzeuge in einer Kolonne über Mödling zurück nach Wien auf den Heldenplatz fuhren.24 Die Organisation des Rennens oblag dem Nationalsozialistischen Kraftfahrkorps (NSKK), das als Transportabteilung der Obersten SA-Führung 1930 gegründet, sich im Laufe der Zeit zu einer paramilitärischen Unterorganisation der NSDAP entwickelt hatte und zum politischen Ziel der »Motorisierung des deutschen Volkes« beitragen sollte.25 Startberechtigt waren im Unterschied zu den internationalen Alpenrennen der Zwischenkriegszeit keine Privatpersonen, sondern ausschließlich Mitglieder von NS- bzw. NS-nahen Organisationen wie der SS, Wehrmacht, Reichspost oder des NSKK.26 Eine große Abordnung der NSKK-Motorgruppe Ostmark ging im Juni 1939 an den Start, unter ihnen auch NSKK-Scharführer und Parteianwärter Lothar Rübelt, der in seiner Karriere als Pressefotograf eine Reihe von »Images des

24 Völkischer Beobachter (Wiener Ausgabe), 25. 6. 1939, 17; Der Montag mit dem Sport-Montag, 26. 6. 1939, 10. 25 Siehe dazu ausführlich Dorothee Hochstetter, Motorisierung und »Volksgemeinschaft«: Das Nationalsozialistische Kraftfahrkorps (NSKK) 1931–1945, München 2005. 26 Pfundner, Alpenfahrt, 85.

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österreichischen Sports« produzierte, die für die heutige Sportgeschichtsforschung, -darstellung und -vermittlung von höchster Relevanz sind.27 Rübelt gewann in der Wertungsgruppe IV D (Personenwagen bis 3000 ccm) auf einem Steyr 220 für die fehlerfreie Absolvierung der Strecke eine Goldmedaille.28 Selbiges gelang ihm fünf Wochen später bei seiner zweiten Teilnahme an der »Deutschen Alpenfahrt«, die in München startete und nach drei Tagen und 1.627 Kilometern auf dem Adolf-Hitler-Platz vor dem Wiener Rathaus endete.29

2.5

Die Rückkehr des Arbeitersports, 1950

Aufgrund der kriegsbedingten schlechten Versorgungslage in Wien diente der Heldenplatz zwischen 1944 und 1946 als landwirtschaftliche Nutzfläche. Ab den 1950er-Jahren wurde das Areal wieder verstärkt als öffentlicher Veranstaltungsort u. a. für Gedenkfeiern genutzt, seit 1965 wird alljährlich der Nationalfeiertag am 26. Oktober mit einer Leistungsschau des Österreichischen Bundesheers auf dem Heldenplatz begangen. Vor den Feierlichkeiten wird mit einer Kranzniederlegung durch den Bundespräsidenten und die Bundesregierung vor der Krypta im Äußeren Burgtor den im Dienst zu Tode gekommenen Angehörigen des Österreichischen Bundesheeres und im Weiheraum den Opfern der Republik gedacht. Ausgerechnet die ArbeiterInnensportbewegung – eines der ersten Opfer der Faschisierung des Landes – sollte die erste sportliche Veranstaltung auf dem Heldenplatz nach dem Zweiten Weltkrieg ausrichten: 16 Jahre nach der Zerschlagung der Arbeiterbewegung 1934 feierte der Arbeiterbund für Sport und Körperkultur in Österreich (ASKÖ) 1950 mit dem Bundessportfest seine »Wiederauferstehung«. Eine Woche lang, von 9. bis 16. Juli, beteiligten sich 7.200 AthletInnen aus dem In- und Ausland an 261 Bewerben in 24 Sportarten, die unter schwierigsten Bedingungen auf größtenteils desolaten Sportanlagen in ganz Wien ausgetragen wurden.30 Anknüpfend an die sozialistische Festkultur der Zwischenkriegszeit bildeten kulturelle Veranstaltungen einen wesentlichen 27 Lothar Rübelt gilt als der bedeutendste österreichische Sportfotograf der Zwischenkriegszeit. Sein Nachlass befindet sich als Leihgabe in der Österreichischen Nationalbibliothek (Bildarchiv Austria). Zur Biografie Rübelts siehe Michaela Pfundner, Dem Moment sein Geheimnis entreißen. Der Sportbildberichterstatter Lothar Rübelt (1901–1990), in: Marschik/Müllner (Hg.), »Sind’s froh, …«, 317–327; Marion Krammer, Rasender Stillstand oder Stunde Null? Eine Kollektivbiografie österreichischer PressefotografInnen 1945–1955, phil. Diss., Universität Wien 2017, 709–712. 28 Vgl. Werbeanzeige von Steyr-Daimler-Puch, in: Neues Wiener Tagblatt, 29. 6. 1939, 24. 29 Pfundner, Alpenfahrt, 89–90. 30 Reini Buchacher/Raimund Fabi/Michael Maurer/Manfred Polt/Jürgen Preusser/Michael Zink, Sport für uns alle. 125 Jahre Arbeitersport in Österreich, Wien 2017, 262.

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Bestandteil des Programms. Dazu zählte auch eine Tanzveranstaltung31 mit volkstümlichen Darbietungen verschiedener Delegationen auf dem Heldenplatz am 15. Juli 1950.32

2.6

Flugveranstaltungen, 1954–1959

Mit einer am 25. Mai 1954 durch die Österreichische Turn- und Sportunion organisierten Segelflugzeug-Weihe mit anschließender Flugvorführung33 begann eine kurze Periode jährlich wiederkehrender Flugveranstaltungen auf und über dem Heldenplatz. Im Jahr danach richtete der Union Sportflieger Club Wien anlässlich des »Tages der Luftfahrt« am 24. April 1955 eine Ausstellung von Segelflugzeugen aus.34 Zwischen 1956 und 1958 führte der Österreichische AeroClub ebenfalls rund um den Luftfahrtstag eine Wohltätigkeitsveranstaltung zu Gunsten von SOS-Kinderdorf35 bzw. Pro Juventute36 mit einem Ballonstart auf dem Heldenplatz durch. Im Jahr 1959 ging der karitative Event am 26. Oktober, damals der »Tag der österreichischen Fahne«, über die Bühne.37 Ob und wann in den Jahren danach diese Flugveranstaltung wiederholt wurde, konnte im Rahmen dieser Forschungen nicht festgestellt werden.

2.7

Empfang von Karl Schranz, 1972

Seit der Ausrufung der Zweiten Republik gilt der an den Heldenplatz angrenzende Ballhausplatz mit dem Bundeskanzleramt und der Präsidentschaftskanzlei als das politische Machtzentrum des Staates. Er war mehrfach Treffpunkt von anlassbezogenen Versammlungen der Zivilgesellschaft – etwa im Februar 31 Übereinkommen zwischen der Burghauptmannschaft in Wien und dem Arbeiterbund für Sport und Körperkultur in Österreich vom 5. Juni 1950. Archiv der Burghauptmannschaft Österreich (ABHÖ)/Burghauptmannschaft Wien (BHW), Zl 614/1950. 32 Arbeiter-Zeitung, 15. 7. 1950, 3. 33 Übereinkommen zwischen der Burghauptmannschaft in Wien und der Bundesleitung der Österreichischen Turn- und Sportunion vom 23. April 1954, ABHÖ/BHW, Zl 874 – P/1954. 34 Übereinkommen zwischen der Burghauptmannschaft in Wien und dem Union-SportfliegerClub-Wien vom 25. April 1955. ABHÖ/BHW, Zl 792/1955. Ich danke Richard Hufschmied für den Hinweis auf die Quellen zu den Flugveranstaltungen in den 1950er-Jahren. 35 Übereinkommen zwischen der Burghauptmannschaft in Wien und dem Österreichischen Aero-Club vom 27. April 1956. ABHÖ/BHW, Zl 856/1956. 36 Übereinkommen zwischen der Burghauptmannschaft in Wien und dem Österreichischen Aero-Club vom 24. April 1957. ABHÖ/BHW, Zl 471/1957 sowie vom 25. März 1958, ABHÖ/ BHW, Zl 32/1958. 37 Übereinkommen zwischen der Burghauptmannschaft in Wien und dem Österreichischen Aero-Club vom [?]. Oktober 1959. ABHÖ/BHW, Zl 2252/1959.

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2000 als Zentrum massiver Proteste gegen die Angelobung der ÖVP/FPÖ-Regierung und Ausgangspunkt der monatelangen »Donnerstagsdemonstrationen«. Am 8. Februar 1972 entstand auf dem Platz ein ikonisches Bild, das Mithilfe des zu einem Massenmedium aufgestiegenen Fernsehens sinnbildhaft für die verletzte österreichische Volksseele nach dem Zweiten Weltkrieg steht. Auf Einladung von Bundeskanzler Bruno Kreisky und den für die Sportagenden zuständigen Unterrichtsminister Fred Sinowatz fand sich Karl Schranz, der wegen des Verstoßes gegen die Amateurbestimmungen von den Olympischen Winterspielen in Sapporo ausgeschlossen worden war, im Bundeskanzleramt ein, wo er vom Balkon aus zehntausenden jubelnden Fans zuwinkte.38 Diesem Ereignis vorausgegangen war eine Welle der nationalen Empörung über den als ungerechtfertigt empfundenen Ausschluss des Abfahrtsfavoriten, die, befeuert durch eine tendenziöse Berichterstattung, in einem vom ORF minutiös geplanten »Triumphzug« des Skiidols vom Flughafen in die Wiener Innenstadt ihren Höhepunkt fand. Nicht wenige BeobachterInnen und Mitwirkende fühlten sich angesichts der Menschenmassen, die im Februar 1972 zu Ehren des aus Japan zurückgekehrten, disqualifizierten Sportlers die Straßen säumten, an Adolf Hitlers Einzug auf den Heldenplatz im März 1938 erinnert.39 An diesem Tag erkannte Bundeskanzler Kreisky zum einen die Massenwirksamkeit des Fernsehens, zum anderen den Stellenwert und die Mobilisierungskraft des Sports in der österreichischen Gesellschaft. Neueste Erkenntnisse zeigen die direkte Einflussnahme Kreiskys auf sportpolitische Themen während seiner Kanzlerschaft nach diesem Ereignis. So etwa intervenierte die österreichische Bundesregierung nach der Festnahme Toni Sailers 1974 in Zakopane/ Polen wegen des Vorwurfs der Vergewaltigung oder brachte sich maßgeblich in die Diskussion um einen etwaigen Boykott der Olympischen Sommerspiele in Moskau 1980 ein. Ziel war es in beiden Fällen, die guten außenpolitischen und wirtschaftlichen Beziehungen mit Polen bzw. der Sowjetunion (Stichwort »Ostpolitik«) nicht zu gefährden. Im Sportbereich sollte einerseits die Demon38 Für zahlreiche Fotos des Empfangs siehe Andreas Novak, Der Fall Schranz, in: Andreas Novak/Oliver Rathkolb (Hg.), Die Macht der Bilder, Berndorf 2017, 255–256. Eine Vielzahl (auto-)biografischer Darstellungen reflektiert dieses Ereignis, u. a. Karl Schranz, Mein »Olympiasieg«. Aufgezeichnet von Stefan König und Gerhard Zimmer, München 2002; Rudolf Forster, Karl Schranz. Skirennläufer, in: Matthias Marschik/Georg Spitaler (Hg.), Helden und Idole. Sportstars in Österreich, Innsbruck/Wien/Bozen 2006, 259–267. 39 Rudolf Müllner, Skirennläufer als Heimatmacher. Sportpolitische Narrative in Österreich nach 1945, in: derselbe, Perspektiven der historischen Sport- und Bewegungskulturforschung, Wien/Berlin 2011, 287–295; Anton Tantner, Der »Schranz-Rummel« von 1972. Geschichte, Sport, Krieg und Konstruktion von Nation, in: ZeitRaum. Zeitschrift für historische Vielfalt, Neue Folge 2 (1995) 1, 8–33, 17 bzw. URL: http://www.demokratiezentrum.org/filead min/media/pdf/schranz.pdf (abgerufen 1. 6. 2017).

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tage eines zu einem Nationalhelden stilisierten Athleten verhindert, andererseits Österreich nicht um prestigeträchtige Sporterfolge gebracht werden.40

2.8

Wiener Frühlingsmarathon, 1984

Im Jahr 1984 erlebte das Areal rund um die Neue Burg die erste politisch motivierte Massenveranstaltung nach dem Zweiten Weltkrieg: Einer Protestkundgebung gegen den geplanten Bau des Kraftwerks Hainburg schlossen sich am 19. Dezember 35.000 Menschen an. Zuvor nahmen im März sporttreibende Menschenmassen den Heldenplatz ein. Ausgelöst durch den Jogging-Boom der 1970er-Jahre in den USA hatten sich nach und nach auch in europäischen Großstädten wie Berlin (1974), Paris (1976) oder London (1981) Dauerlaufveranstaltungen im öffentlichen Raum etabliert. In Wien wurden seit 1982 Pläne zur Ausrichtung eines Stadtmarathons für Spitzen- und BreitensportlerInnen diskutiert, am 25. März 1984 war es soweit: Der Start des Wiener Frühlingsmarathons, wie der Vienna City Marathon bis 1993 genannt wurde, erfolgte vor dem Rathaus, das Ziel war nach drei Runden über die Ringstraße und durch den Prater auf dem Heldenplatz. 794 LäuferInnen, darunter nur 25 Frauen, erreichten das Ziel. Mit der Zeit wurde das Lauf-Event um publikumswirksame Disziplinen wie den Halbmarathon oder einen Staffelbewerb erweitert. Obwohl sich der Veranstalter seit 2002 mit rückläufigen TeilnehmerInnenzahlen im Hauptbewerb konfrontiert sieht, überquerten im Jahr 2017 6.319 Personen, darunter 1.372 Frauen, nach Absolvierung der vollen Distanz von 42,195 Kilometern die Ziellinie. Weitere Massen-Bewegungsveranstaltungen wie etwa das von den GRÜNEN organisierte Friday Nightskating (seit 2001) oder der durch die Erste Bank gesponserte Vienna Night Run (seit 2007) haben ihren Ausgangs- bzw. Endpunkt auf dem Heldenplatz.

40 Fritz Neumann/Sigi Lützow/Philip Bauer/Florian Skrabal/Johann Skocek/Bernt Koschuh/ Jurek Jurecki/Wojciech Cies´la/Anusˇka Delic´, Akt Toni Sailer : Wie man einen fallenden Stern auffängt, URL: https://derstandard.at/2000072293048/Der-Akt-Toni-Sailer-Wie-man-ei nen-fallenden-Stern-auffaengt (abgerufen 17. 1. 2018) sowie Kreiskys langer Arm und die Ehre der polnischen Frauen, URL: https://derstandard.at/2000073020030/Der-zweite-AktSailer-Der-lange-Arm-des-Kanzlers-Kreisky (abgerufen 26. 1. 2018) bzw. Agnes Meisinger, Die österreichische Haltung zum Boykott der Olympischen Sommerspiele in Moskau 1980, in: Maximilian Graf/Agnes Meisinger (Hg.), Österreich im Kalten Krieg. Neue Forschungen im internationalen Kontext (Zeitgeschichte im Kontext 11), Göttingen 2016, 175–207.

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Abb. 3: Carina Weber-Leutner (später verh. Lilge-Leutner) war 1987 mit einer Laufzeit von 2:40:57 die erste österreichische Siegerin des Wiener Frühlingsmarathons. (Quelle: VCM Archiv)

2.9

Wintersport auf dem Heldenplatz

Der Heldenplatz erwies sich ab den 1990er-Jahren nicht nur regelmäßig als Sommer-Sportplatz für aufstrebende Trendsportarten wie Streetball oder Streetsoccer, sondern wurde auch im Winter für Sportevents adaptiert. Am 14. Dezember 1994 fand eine Skisprung-Show vor der Neuen Burg statt, an der zahlreiche Prominente wie die ehemaligen Skispringer Andreas Felder und Toni Innauer oder ÖSV-Präsident Peter Schröcksnadel aus dem alpinen und nordischen Skizirkus teilnahmen. Im November 2001 wurde der Heldenplatz von der »Österreich Werbung« für ein zweitägiges Event angemietet. Im Zentrum der Werbeveranstaltung für den

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österreichischen Wintertourismus stand ein Schauwettkampf zwischen den Langlaufteams aus Österreich und Norwegen, die sich bei der Weltmeisterschaft in Ramsau am Dachstein 1999 ein knappes Duell um den Titel geliefert hatten. 15.000 ZuseherInnen verfolgten am 10. November das Staffelrennen, für das auf dem Heldenplatz ein 500 Meter langer Rundkurs mit 800 Kubikmeter Schnee präpariert wurde. Wie in der Ramsau zwei Jahre zuvor, konnte die österreichische Staffel auch den Demonstrationsbewerb für sich entscheiden.41

Abb. 4: Die ehemalige Skirennläuferin und Sportlerin des Jahres 1985 Elisabeth Kirchler bei der Skisprung-Show, 1994. (Quelle: Austrian Archives/Imagno/picturedesk.com – 19941214_ PD0004)

2.10

»Tag des Sports«, 2001

Im Jahr 2001 fand erstmals der sogenannte »Tag des Sports« auf dem Heldenplatz statt, der damals vom Bundesministerium für öffentliche Leistung und Sport unter Ministerin Susanne Riess-Passer (FPÖ) ins Leben gerufen wurde und mit 30.000 BesucherInnen sein Debüt hatte.42 Ziel dieser in Kooperation mit

41 APA-OTS, URL: https://www.ots.at/presseaussendung/OTS_20011112_OTS0144/80000-be sucher-bei-austrian-winteremotion-am-heldenplatz-bild-web (abgerufen 6. 1. 2018). 42 Stenographisches Protokoll der 684. Sitzung des Bundesrats vom 21. 2. 2002, URL: https:// www.parlament.gv.at/PAKT/VHG/BR/BRSITZ/BRSITZ_00684/SEITE_0057.html, 57 (abgerufen 16. 8. 2017).

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der Bundes-Sportorganisation (BSO) veranstalteten Aktion ist es, gesundheitsfördernde körperliche Aktivitäten in allen Altersgruppen zu forcieren und auch weniger bekannten Sportarten und -vereinen eine Präsentationsplattform zu bieten. An Österreichs größtem Open-Air-Sportfestival mit mehr als einhundert Mitmach-Stationen wirken alle Dachverbände und eine Vielzahl von Fachverbänden, Sportorganisationen und SpitzensportlerInnen mit. In den vergangenen Jahren nahm jährlich rund eine halbe Million Menschen an dem Sportfest teil.

2.11

Fanzone, 2008

Den vorläufigen Abschluss der hier präsentierten Chronik sportlicher Veranstaltungen auf dem Wiener Heldenplatz bildet die Adaptierung zu einem PublicViewing-Areal anlässlich der in Österreich und der Schweiz ausgerichteten Fußball-Europameisterschaft 2008 – ein Ereignis, das die Historikerin Heidemarie Uhl als das »Ende der politischen Aufgeladenheit« des Heldenplatzes bezeichnet. Unter der Federführung der damaligen Vizebürgermeisterin und Sportstadträtin Grete Laska (SPÖ) wurde im Bereich zwischen dem Rathausplatz und dem Heldenplatz eine insgesamt 100.000 m2 große Fanzone gestaltet. Von 7. bis 29. Juni 2008 konnten die BesucherInnen auf neun großen LED-Wänden alle 31 Spiele live verfolgen, dabei bot der Heldenplatz rund 30.000 Personen Platz. Um etwaigen Beschädigungen durch Fußballfans vorzubeugen, wurde um das Denkmal von Erzherzog Karl herum vom Hauptsponsor ein Eventzentrum errichtet. Nicht zum ersten Mal in der Geschichte verschwand das Denkmal aus dem Blickfeld, 1945 wurden die Reiterstandbilder zum Schutz vor Bombenangriffen mit Ziegelsteinen eingemauert. Insgesamt mehr als 1,1 Millionen Menschen besuchten die von KritikerInnen als »Konsummeile« bezeichnete Fanzone, die auch eine Diskussion um die Privatisierung von öffentlichem Raum auslöste.43 Zum Ärger der Burghauptmannschaft Österreich, die für Bewirtschaftung und Erhaltung des Heldenplatzes verantwortlich zeichnet, musste der Platz nach dem Abbau der Fanzone um rund 210.000 Euro neu begrünt werden.

43 Vgl. hierzu Analysen von Anke Hagemann bzw. Georg Lauss/Andr#s Szigetvari, in: Wolfram Manzenreiter/Georg Spitaler (Hg.), Governance, Citizenship and the New European Football Championships: The European Spectacle, Soccer & Society 11 (2010) 6.

Sportplatz Heldenplatz

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Abb. 5: Public Viewing auf dem Heldenplatz, 2008. Im Hintergrund das eingehüllte Reiterstandbild von Erzherzog Karl. (Quelle: Austrian Archives/Imagno/picturedesk.com – 20080608_ PD2979)

III.

Schlussbetrachtung

In den vergangenen Jahren kam die Politik in geballter Form auf den Heldenplatz zurück – nicht nur in Form von kontrovers geführten Debatten wie um das Haus der Geschichte Österreich in der Neuen Burg44 oder die Neugestaltung und Umbenennung des Platzes,45 sondern insbesondere durch den 2016/17 erfolgten Umzug des Parlaments, das aufgrund der bis 2020 andauernden Generalsanierung auf dem Heldenplatz sein Ausweichquartier gefunden hat. Insgesamt drei temporäre Büropavillons wurden auf dem Heldenplatz bzw. im Bibliothekshof der Hofburg aufgestellt und verdrängen somit alle – zum Teil eingesessenen – Veranstaltungen vom Platz, auch die sportlichen: 2016 fand der Zieleinlauf des Vienna City Marathons erstmals nicht auf dem Heldenplatz statt, sondern wurde 44 Oliver Rathkolb, »Gut Ding braucht Weile.« Das »Haus der Geschichte Österreich« in der Neuen Burg, in: Österreichisches Jahrbuch für Politik (2015), 521–544. 45 Die Diskussion um einen etwaigen neuen Namen für den Platz hat auch die kreativen Köpfe aus dem Sportbereich auf den Plan gerufen, die nach dem Gewinn seines sechsten SkiGesamtweltcups in Folge 2017, die Umbenennung in »Marcel-Hirscher-Platz« vorschlugen. Nach dem Einzug des österreichischen Frauen-Fußballnationalteams in das EM-Halbfinale in den Niederlanden im selben Jahr forderten Fans die Umbenennung in »Heldinnenplatz«.

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Agnes Meisinger

auf die Ringstraße vor das Burgtheater verlegt. Der »Tag des Sports« übersiedelte in den Wiener Prater. Nahezu alle Fotoaufnahmen der hier skizzierten Ereignisse zwischen 1926 und 2008 zeigen die räumliche Vereinnahmung des Platzes durch den Sport, wobei sich diese dem imperialen und militärischen Charakter des Ortes nicht immer entziehen konnten oder wollten. Die auf dem Heldenplatz ausgerichteten Sportveranstaltungen in der Zwischenkriegszeit und während der NS-Zeit waren – untermauert durch das überlieferte Bildmaterial – mit ideologischer Bedeutung aufgeladen und stellten sich in Dienst der jeweiligen politischen Bewegung. Andere – wie etwa die Übertragung des »Jahrhundertspiels« 1932 oder der Empfang von Karl Schranz 1972 – standen in einem engen Zusammenhang mit der Konstruktion nationaler Identität in der Ersten bzw. Zweiten Republik. Die »Werbeveranstaltungen« der 1990er- und frühen 2000er-Jahre, aber auch das Public Viewing anlässlich der Fußball-Europameisterschaft 2008 sollten dazu beitragen, Österreich im In- und Ausland als Sportnation zu präsentieren. Dabei bot der unter Denkmalschutz stehende Heldenplatz nicht nur wegen seiner Größe und Topografie, sondern auch durch die ihn umgebende historische Bausubstanz einen idealen Rahmen. Aufgrund der zuvor erwähnten anderweitigen Nutzung des Areals werden in den kommenden Jahren auf dem Heldenplatz keine »Images des Sports« entstehen. Dass der Platz nach der Rücksiedelung des Parlaments auf die Ringstraße aber wieder als Sportplatz adaptiert wird, steht außer Frage.

Sport in der Formierungsphase

Rolf Sachsse

Pausen und Posen. Fotografische Inszenierungen des Sports in Österreich vor 1914

I.

Posen

Abb. 1: Ludwig Angerer, Fechter. (Quelle: Albertina, Wien. Dauerleihgabe der Ho¨ heren Graphischen Bundes-Lehr-und Versuchsanstalt, Wien, Inv. FotoGLV2000/14044)

Zwei Herren mittleren Alters stehen voreinander im Ausfallschritt und drücken den jeweils rechten Unterarm gegeneinander. Den linken Arm halten sie abgewinkelt vor der Brust, auch er ist angespannt wie der rechte, dessen Druck die Oberarm-Muskulatur deutlich hervortreten lässt. Bekleidet sind die Männer mit engen Hosen, die einige Verschleißspuren aufweisen, und mit weißen Oberhemden, deren Arme aufgekrempelt sind; der links stehende Mann, in Dreiviertelansicht von hinten gegeben, trägt zudem eine Weste. Deutlich ist, dass der Mann rechts im Bild der wichtigere ist – es ist der Mathematiker Josef Petzval, der nicht nur auf seine mathematischen Erfolge in der Fotografie und der Astro-

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physik stolz war, sondern auch auf seine sportlichen Leistungen.1 Der linke Kämpfer ist August Schleicher, ein als Sportler in vielen Sparten bekannter Beamter der k.u.k. Forst-Direktion, der hier den Sparringspartner oder amüsierten Gegner des offensichtlich sonst recht lebensfrohen Wissenschaftlers vorstellt. Die Aufnahme ist Teil einer kleinen Bildserie, die Ludwig Angerer in seinem Fotoatelier zwischen 1860 und 1865 aufnahm.2 Diese Serie markiert in mehreren Hinsichten den Beginn der Sportfotografie nicht nur in Österreich, sondern möglicherweise weltweit – im Prinzip ist dies eine Definitionsfrage, auf die noch zurückzukommen ist. Soweit bislang bekannt, besteht diese Serie aus drei Bildern, die allesamt im Studio von Ludwig Angerer aufgenommen wurden, einem Wiener Fotografen, der nicht nur in sämtlichen Gebieten des Belichtens zuhause war, sondern auch enormes technisches Wissen besaß, das er durch viele Tests und Berichte darüber erweiterte und verbreitete.3 Zwei der drei Bilder zeigen typische Fechtszenen, das dritte das erwähnte Kräftemessen. Die beiden Fechtbilder sind im Studio von Angerer vor einer neutralen, mitteldunklen (wahrscheinlich grünen) Wand aufgenommen – in dieser Weise wurden Bilder hergestellt, die anschließend als Holzschnitt oder Stahlstich für Illustrationen in Wochen- oder Tageszeitungen weiter verarbeitet wurden. Der dunkle Hintergrund war für den Kontrast der hellen Kleidung wie der Klingen notwendig. Die beiden Positionen entsprechen genau jenen Bewegungen, die im Fechtsport als Totpunkte eines schnellen Geschehens definiert werden können: das Kreuzen der Klingen und das Fingerziehen. Die Inszenierung der Bilder lässt zwei funktionale Interpretationen zu: Zum einen könnten die Bilder als Illustrationen eines Lehrbuchs des Fechtsports vorgesehen gewesen sein, insbesondere für Amateure gehobeneren Alters. Zum anderen aber mag Josef Petzval die treibende Kraft hinter den Bildern gewesen sein. Er war zum Zeitpunkt der Aufnahmen bereits 53 bis 58 Jahre alt, auch sein Partner, der Forstbeamte August Schleicher, dürfte nur unwesentlich jünger gewesen sein. Der Fotograf Ludwig Angerer, der immer wieder für Petzval neue Objektive testete, kann also seinem Patron einfach einen Gefallen getan und ihn seiner großen Virilität auch visuell versichert haben. Typischerweise ist Petzval 1 Manuela Fellner/Anton Holzer/Elisabeth Limbeck (Hg.), Die Schärfung des Blicks. Joseph Petzval: das Licht, die Stadt und die Fotografie. Ausstellungskatalog Technisches Museum Wien 2003, 112–147. 2 Rolf Sachsse, Angerers Fechtstudio, Rübelts Fußballballett und Kruckenhausers Skischule. Anmerkungen zur Geschichte der österreichischen Sportfotografie, in: Matthias Marschik/ Rudolf Müllner (Hg.), »Sind’s froh, dass Sie zu Hause geblieben sind.« Mediatisierung des Sports in Österreich, Göttingen 2010, 98–107. 3 Monika Faber/Klaus-Albrecht Schröder (Hg.), Das Auge und der Apparat, Eine Geschichte der Fotografie aus den Sammlungen der Albertina, Wien/Paris 2003, 132–133.

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immer von vorn, auch mit vollem Gesicht, zu sehen, der Partner dagegen eher von hinten. Dieser Eindruck wird durch das dritte, eingangs erwähnte Bild verstärkt, gerade weil es sich im Hintergrund deutlich von den anderen unterscheidet. Hier kämpfen die beiden nicht hoch elegant – wie es das Stereotyp des Fechtens will – vor der dunklen Wand, sondern in einem Raum, dessen Dekoration, bestehend aus einer Wanduhr und drei kleinen Statuetten auf Sockeln, eher merkwürdig anmutet. Viele Interpretationen sind hier möglich: Ist dies die Andeutung eines Wirtshauses oder eine private Form der Allegorie von Vanitas und Stärke, vielleicht sogar Ironie? Mangels weiterer Unterlagen zur Kontextualisierung des Bildes lassen sich diese Fragen wohl nicht auflösen, mindestens nicht in einer sporthistorischen Dimension. Und der Fechtsport selbst wurde erst drei Jahrzehnte später zu einem Thema im Bildjournalismus, dann aber auch schon mit einer gewissen Nobilitierung, die gerade auch Frauen einbezog, vor allem wegen der für damalige Zeiten recht reformfreudigen Kleidung. Der Berliner Fotograf Franz Kühn publizierte 1899 eine Serie aus dem Berliner Fechtklub, die nicht nur vorführt, dass es je eine Halle für Damen und Herren gab, dass erstere auch durchaus großzügig bemessen war, und dass die Damen in moderner, sportlich passender Kleidung fochten.4 Die Hallen des Clubs sind in zwei Hälften geteilt und können jeweils als Kampfplatz genutzt werden. Ganz kurz vor Ende des 19. Jahrhunderts war auch die Fotografie schon so weit, dass sich Szenen höherer Komplexität inszenieren ließen – wer direkt in ein sportliches Geschehen fotografisch eingreifen wollte, war zu dieser Zeit auf Blitzpfannen angewiesen, wie sie in den USA gern genutzt wurden; in Europa sind derlei Beispiele äußerst selten, aber Franz Kühn war als Chefreporter der weit verbreiteten Illustrierten »Die Woche« schon in der Lage, sich neuester Technologien zu bedienen. Generell können für die Sportfotografie zwei Bedingungen geltend gemacht werden, eine technische und eine soziale. Für die technische Bedingung, nämlich das Festhalten kurzzeitiger Ereignisse, musste sich erst ein Bedürfnis und Interesse bilden – der Wiener Josef Franz Natterer war mit seinen Momentfotografien um 1841 beispielsweise seiner Zeit noch so weit voraus, dass sich für seine Arbeitsweise zunächst keine Anlässe finden ließen.5 Umgekehrt hat sich das Fotofinish der jüngeren Zeit durch digitale Verfahren aus der Fotografie insgesamt so weit heraus bewegt, dass genuin nicht mehr von fotografischen Bildern gesprochen werden kann.6 Die andere Bedingung der Sportfotografie 4 Franz Kühn (ph.), Im Berliner Fechtklub, in: Die Woche, 8. 7. 1899, 566–567. 5 Vgl. URL: https://www.wien.gv.at/wiki/index.php?title=Josef_Franz_Natterer (abgerufen 24. 1. 2018). 6 Jean-Pierre Bovay, Time Photography and Perspective, Photographie et perspective du temps/

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gehörte von Anfang an zu den Grundlagen eines Interesses an bildlichen Darstellungen überhaupt: die soziale. Sie findet sich zu allererst in einer kleinen Bildfolge, die einer der Erfinder der Fotografie, William Henry Fox Talbot, für sein frühes Handbuch des Verfahrens »The Pencil of Nature« – es erschien 1842–44 in der Folge mehrerer Hefte – aufnahm, aber dort nicht verwendete.7 Das Bild zeigt zwei Herren beim Schachspiel und lässt selbstverständlich die Frage offen, ob das Schach zur Zeit der Aufnahme ein Spiel oder ein Sport war, ob bei dieser fotografischen Inszenierung also zwischen – deutlich männlich-feudal orientierter – Muße und Ertüchtigung zu unterscheiden ist. Hier mögen Details der Inszenierung für die Unterschiede der Betrachtung sorgen: In einem Bild muss der junge Assistent und spätere Nachfolger Talbots, Nicolas Henneman, den leicht zerknirschten Verlierer geben, während in einem anderen Bild der bereits recht berühmte Banker und Fotograf Antoine Claudet professionell und siegessicher aus dem Bild herausschaut. In einer letzten Version schließlich wird bereits das Handlungsgerüst des Schachspiels angedeutet: Die Hand an der Figur setzt bei der Betrachtung unbewusst die Annahme eines Geschehens im Sinn des aktiven Sports frei – hier wird ein Zug gemacht. Im diesem Bild sitzt Antoine Claudet zudem umgekehrt auf dem Stuhl, was ebenfalls die Illusion eines Aktivums verstärkt; das Spiel ist mindestens eine Andeutung von sportlicher Bestätigung. Von Talbots kleiner Serie geht eine direkte Linie zu den Fechtbildern von Angerer mit Petzval: Beim Schachsport spielt die Kleidung eine untergeordnete Rolle, es ist insgesamt auch eher nobel, während das Fechten mitsamt der speziellen Kleidung auf den bürgerlichen Habitus des Nützlichen in sportlicher Betätigung – Gesundheit, Wohlbefinden, Wettbewerb – abhebt. Selbstverständlich hat es zuvor Portraits von Fürstensöhnen und anderen Adligen in Kleidung gegeben, die auch für körperliche Aktivitäten geeignet sind; doch die reine Sportkleidung wird durch die fotografische Abbildung auch zum Signum des Bürgerlichen.8 Gut in Europa verbreitet war seit den 1880er-Jahren das Lawn-Tennis, sicher auch ein Sport mit feudalem Hintergrund, was sich in vielen visuellen Inszenierungen niederschlug. Neben den inzwischen gut möglichen Bildern vom Match oder wenigstens der Begrüßung davor – wer noch einen Tennisball im Bild brauchte, setzte schlicht einen kleinen schwarzen Klecks auf das Negativ Zeitphotographie und -perspektive, Bienne 1988. URL: http://www.finishlynx.com/ (abgerufen 24. 1. 2018). 7 Matthias Gründig, If This is the World at all. Approaches to the Relationship between Photography and Play, in: Photoresearcher 27 (2016) 27, 4–17. William Henry Fox Talbot, The Pencil of Nature, Reading 1842–44; URL: http://www.gutenberg.org/files/33447/33447-pdf. pdf (abgerufen 24. 1. 2018). 8 Claudine Pachnicke (Hg.), Kunstkörper – Körperkunst. Bilder zur Geschichte der Beweglichkeit, Stuttgart 1989, 25–34.

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und erhielt damit das notwendige Bild des weißen Balls – setzten sich die Sportler jedoch immer selbst in Szene: Dr. Felix Pipes als erster österreichischer Gewinner einer olympischen Goldmedaille im Tennis trägt standesgemäß einen weißen Anzug – die Schuhe scheinen nicht mehr ganz zum Sport zu passen – und hält ebenso standesgemäß eine Zigarette in der Hand.9 Wie verbreitet dieses Bild war, mag eine frühe journalistische Arbeit aus der Zeit um 1908 zeigen, bei der die Fotografin Marie Goslich an den Rändern Berlins eine Kaffeetafel durchaus unsportlicher Damen mit einem eleganten Herrn zeigt, der stehend, in eine Pelerine mit Pelzbesatz gekleidet und mit einem lässig auf den freien Stuhl gelehnten Racket, sich diesen Damen zuwendet und dabei klar die alte von der neuen Bürgerlichkeit scheidet.10 Lawn Tennis war ja bereits bei den ersten Olympischen Spielen 1896 vertreten, hatte vor dem Ersten Weltkrieg seine Anerkennung als Sportart also bereits hinter sich. Was die direkte Beteiligung von FotografInnen am Sport betraf, so muss man bis weit in die 1920er-Jahre hinein konzedieren, dass die Technik alles andere als handhabungs-freundlich war. Die Kameras waren groß und schwer, das Presseformat im Negativ war 13 x 18 cm (als Glasplatte selbstredend, mit aller Bruchgefahr), damit direkt vom Kontakt auf zwei (im Hochformat) oder drei Spalten Zeitungssatz montiert werden konnte.11

II.

Pausen

Die beiden Sportarten, die in Österreich früh mit der Fotografie verbunden waren und stark zur Identifikation des Sports in diesem Land beigetragen haben, sind das Bergsteigen und der Skilauf. Ersteres hat ebenfalls eine feudale Vorgeschichte in der Fürstenausbildung und der Jagd, wurde aber ungefähr gleichzeitig mit der Fotografie zur bürgerlichen Freizeitbeschäftigung. Das Bergsteigen und der damit verbundene Gipfelblick wurde aber auch durch eine andere Großunternehmung befördert, die keinen sportlichen Hintergrund hatte, sondern zur medialen Indexikalisierung der Welt durch die frühe Reisefotografie gehörte: Die FrHres Bisson aus Paris, bereits ab den 1850er-Jahren mit touristischen Bildern aus ganz Europa, speziell aber aus der Schweiz groß im Geschäft, bestiegen 1861 erstmalig von Chamonix aus den Montblanc, um ihn in jener

9 Matthias Marschik/Rolf Sachsse, Rauchende Sportler. Ein obszönes Sujet, Wien 2017, 153. 10 Krystyna Kauffmann (Hg.), Marie Goslich. Ein Leben hinter Glas, Dortmund 2016, 72–73. 11 Rolf Sachsse, Schlitzverschluss, Stativträger, Sportsucher, Scheinergrade – Zur Technik des Pressefotografen Willy Römer, in: Diethart Kerbs (Hg.), Auf den Strassen von Berlin. Der Fotograf Willy Römer 1887–1979, Bönen 2004, 51–77.

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Form zu fotografieren, die ihn ikonisch machte.12 Ob nun wirklich drei der 25 Träger starben, die sie bei dieser Exkursion bei sich hatten – fotografiert wurde noch mit dem nassen Kollodium-Verfahren, wofür man direkt neben der Kamera ein Zelt mit Utensilien brauchte – oder ob dies eine der vielen Legenden ist, die sich um diese Unternehmung ranken, sei einmal dahingestellt. Sicher ist, dass der große und unmittelbare Erfolg dieser Bildserien (sie wurden 1862 mit anderen Besteigungen noch einmal wiederholt) andere Fotografen zu ähnlichen Bildern und vor allem die neuen Touristenregionen zu derartigen Aufträgen angeregt hat. Einer der fleißigsten Rezipienten war der ohnehin sehr umtriebige Wiener Fotograf Gustav Jägermayer, der im Juli und August 1863 eine ähnlich große Expedition mit seinem eigenen Gerät ins Glockner-Gebiet unternahm und dabei vor allem auch schöne, dramatische und für den Druck ordentlich überarbeitete Bilder herstellte, etwa mit einem dunklen Himmel, den die Fotografie zu jener Zeit nicht aufzeichnen konnte und der daher vom Fotografen einzukopieren war.13 Auch Jägermayer nahm Menschen in seine Bilder auf – ob nun als Sportler oder als Helfer seiner Expedition oder als bürgerliche Freizeitgestalter, das lässt sich wohl nicht mehr belegen. Aber es dürfte von jedem dieser Elemente etwas in den Bildern und ihren Intentionen gesteckt haben. Sein großartiges Bild vom Gletscher der Pasterze zeigt nicht nur die grandiosen Formationen des Eises und der Berggipfel, sondern auch sorgsam platzierte Menschen – die größere Gruppe genau auf dem Schnittpunkt zweier Geraden im Goldenen Schnitt – in passenden Haltungen vom einfachen Stehen zum Winken und zum Vorbereiten einer Sicherung. Andere Bilder derselben Serie zeigen eine Gruppe ebenso müder wie fröhlicher Bergsteiger vor dem Knappenhaus in Rauris; hier wird der gesellige Aspekt einer solchen Expedition deutlich hervorgehoben. Denn das Bergsteigen war um diese Zeit schon längst ein Zeitvertreib geworden, der durchaus sportlichen Charakter trug – von der Fürstenerziehung bis zur Langwanderung mit Pferd oder Esel. Dennoch ist zunächst, bis in die 1890erJahre, bei den fotografischen Inszenierungen kaum zwischen Bildern von Expeditionen für wissenschaftliche oder militärische Zwecke und sportlichen Unternehmungen zu unterscheiden – da wäre jeder Einzelfall, der als Bild überliefert wird, in seinem Kontext zu überprüfen. Für die persönliche Überlieferung, für den Ruhm und die Ehre als Bergsteiger musste dagegen das Foto-Atelier aufgesucht werden. Wie in der feudalen Por12 Milan Chlumsky/Ute Eskildsen/Bernard Marbot (Hg.), Die Brüder Bisson. Aufstieg und Fall eines Fotografenunternehmens im 19. Jahrhundert, Dresden 1999. 13 Maren Gröning, Aus der Frühzeit von Fotografie und Alpinismus in Österreich, in: Camera Austria International 23 (2002) 79, 35–40.

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Abb. 2: Gustav Jägermayer, Pasterze 1863. (Quelle: Albertina, Wien, Inv. Foto2001/22/20)

trait-Malerei seit dem 15. Jahrhundert üblich und direkt in die Fotografie des mittleren 19. Jahrhunderts migriert – bis hin zur grotesken Überhöhung –, wurden passende Attribute wie Bergstock oder Pickel, Seil und vor allem die Bundhose mit festen Schuhen oder Stiefeln ins Bild gebracht. Dazu kam ein gemalter Hintergrund mit Bergmassiven und Almhütten. Auch das, aus der medial fest im Bewusstsein der BildbetrachterInnen verankerten PanoramaMalerei übliche Faux Terrain im Vordergrund – hier also dicke Steine als Felsbrocken – wurde ins Bild gestellt, bei Hermann von Barth sogar in einer ausgesprochen dilettantisch angefertigten Collage aus mehreren Fotografien, die quasi unter seinen linken Schuh retuschiert wurden.14 Mit der Zeit wurden auch derlei Inszenierungen etwas aufwändiger und interessanter ; so lässt sich der Innsbrucker Uhrmacher Julius Pock mit seiner Wilden Bande fotografieren, ein Gruppenbild, das sich einerseits in die Traditionen einfügt, mit der der Sport international salon-, förderungs- und medienfähig gemacht wird, andererseits aber schon etwas von dem bürgerlich-pro-

14 Carl Bünsch/Max Rohrer (Hg.), Hermann von Barth – gesammelte Schriften, München 1926, unpag. Frontispiz.

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letarischen Aufbegehren spüren lässt, das den Sport kurz vor und vor allem nach dem Ersten Weltkrieg zur Massenbewegung werden lässt.15 Und eine zweite, mindestens ebenso schwierige und langwierige Emanzipation deutet sich in den Sportfotografien an, die der Frauen. Um 1880 mehren sich Informationen über erfolgreiche Bergsteigerinnen, 1893 berichtet die Niederländerin Jeanne Immink von ihren Bergtouren – und macht mit ihrer sportlichen Bekleidung auch deutlich, dass sie den Männern gleichgestellt wahrgenommen werden will. Für die Fotografie scheint dies nicht so zu gelten, denn die Bilder zeigen noch, wie sich Bergsteigerinnen in langen Röcken auf den Weg machen müssen, selbstverständlich auch immer nur inmitten von männlichen Gruppen – diese Bild- und Bergwelt ändert sich erst mit der Modernisierung der 1920erJahre. Wie weit mediale Formen in ihrer Adaption und Diffusion immer hinter dem eigentlichen Stand der Technik und/oder Ästhetik hinterherhinken, kann kurz an den zahllosen Illustrationen angedeutet werden, die ab den 1870erJahren in Zeitungen und Zeitschriften erscheinen. Ein gutes Beispiel und in dieser Hinsicht noch nicht zufriedenstellend erforscht ist der Maler, Grafiker und Fotograf Emil Terschak, der um 1900 auch ein mehrfach neu aufgelegtes Buch zur Fotografie im Bergsport schrieb.16 Er arbeitete in allen Medien parallel, entweder nach den Möglichkeiten der Fotografie, soweit dies überhaupt machbar war, oder in der geraden Umkehrung des medialen Workflows: Ein Bild mit Rodlern hat Terschak als Holzstich umarbeiten lassen, und gleichzeitig war die Drucktechnik doch schon so weit, dass ein illustriertes Blatt einen Text zum Wintersport in Gröden mit seinem Bild als fotografisches Klischee publizieren konnte.17 Das wichtigste Medium zur Einführung diverser Sportarten in der Öffentlichkeit ist zugleich auch das wohl vergessenste: die Bildpostkarte. Postalisch ab 1869 zugelassen (in Österreich als erstem Land der Welt!), wurden um 1890 auch die Bestimmungen zur Illustration von Postkarten gelockert, und um 1895 setzt ein allgemeiner Boom von Bildpostkarten ein, die sowohl fotografisch als auch in allerlei Drucktechniken grafisch gestaltet wurden. Zum einen dienen sie der lokal organisierten Tourismus-Werbung, sollen aber andererseits auch als Animation für Sportarten und Freizeit-Möglichkeiten wirken. Gerade die Besteigung von Gletschern oder schwierigen Passagen galten als Herausforderungen für junge Menschen, die sich bereits in ihrem bürgerlichen Dasein unterfordert fühlten – genau diese Klientel wurde mit Bildpostkarten aller Art dazu gebracht, sich für eine Form der körperlichen Ertüchtigung zu interessieren. Postkarten 15 Günter Amor, Die Bergsteigergesellschaft »Wilde Bande« Innsbruck, Veröffentlichungen des Innsbrucker Stadtarchivs Bd. 41, Innsbruck 2010. 16 Emil Terschak, Die Photographie im Hochgebirg. Praktische Winke in Wort und Bild, Berlin 1900. 17 Der Rodlsport in Gröden, in: Illustrierte Zeitung Leipzig 110 (1898), 2852.

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dieser Art hatten im Durchschnitt Auflagen von mehreren Tausend Stück, erreichten somit durchaus größere Publica. Die BesucherInnen der touristischen Hotspots hatten damit allerdings meist wenig im Sinn und sandten den ZuhauseGebliebenen eher derbe und obszöne Scherzpostkarten – aber die hatten mit der Sportfotografie nun gar nichts mehr zu tun.

III.

Lehren

Die Geschichte des Skisports in seiner fotografischen Illustration läuft, mutatis mutandis, durchaus ähnlich ab wie die des Bergsteigens. Es gibt eine Vorgeschichte, die allerdings nicht so stark auf feudale Vergnügungen und deren Ableitung ins Bürgertum angelegt ist, daher eher ethnografisch vermittelt wurde. Wer immer mit dem Skilaufen angefangen hatte, wird es nicht zum Vergnügen getan haben – in dieser Hinsicht ist es sportgeschichtlich gut mit dem Eislauf zu vergleichen, auf den noch zurückzukommen ist. Was die bildliche und speziell die fotografische Inszenierung des Skilaufens angeht, so scheint diese von Anfang an über pädagogische Bemühungen erfolgt zu sein – Jede/r, die oder der Skilaufen möchte, muss einige Haltungen und Aktionen erlernen. Und das hat sich offensichtlich gleich in die Anfänge des Skifahrens als Sport eingeschlichen, anders als es beim Bergsteigen war, wo die Bergführer als Lehrer eher keine große Rolle spielten, vor allem nicht in den Bildern, auf denen sie halt als Erste oder Letzte einer Gruppe zu sehen waren und nicht als Pädagogen wie beim Skilaufen. Die Einführung des Skisports als pädagogisch instrumentierter Bewegung ist wohl hauptsächlich dem Zeichner und Lehrer Mathias Zdarsky zu verdanken, der 1897 den ersten Ski-Verband gründete, zuvor seine Stahlsohlenbindung patentieren ließ und im selben Jahr das erste Lehrbuch seiner sogenannten Lilienfelder Schule des Ski-Fahrens herausbrachte, das bis in die 1930er-Jahre hinein 25 Auflagen erlebte und mit immer neuen Abbildungen erweitert wurde. Zur Erläuterung seiner Technik ließ sich Zdarsky immer wieder aufs Neue fotografieren, zunächst noch im Atelier eines Fotografen, mit gemaltem Hintergrund und einem üppigen Faux Terrain aus Sand, rund ein Jahrzehnt später dann tatsächlich im Schnee, wenn auch unter trübem Himmel, damit die Kontraste auch für den Fotografen beherrschbar bleiben. Durch Zeitungsberichte und medizinische Lehrbücher dürfte Zdarsky auch von den ersten chronofotografischen Experimenten erfahren haben18 und baute 18 Laurent Mannoni, Geburt und Kommerzialisierung der Chronophotographie, in: Bodo von Dewitz (Hg.), Ich sehe was, was Du nicht siehst! Sehmaschinen und Bilderwelten. Die Sammlung Werner Nekes, Göttingen 2002, 362–377.

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seine Bildreihen auch genauso auf: Der – anonym gebliebene – Fotograf achtet genau darauf, dass der Körper des Skifahrers immer exakt in derselben Haltung bleibt, sodass man die Bilder nahezu exakt übereinander legen könnte, und dass dadurch der filmische Effekt entsteht, der erst kurz zuvor erfunden worden war. Zdarsky war offensichtlich bis weit in die 1920er-Jahre hinein konstant damit beschäftigt, nicht nur seine Technik und die dazu gehörige Pädagogik weiter zu entwickeln, sondern ihr auch neue Märkte zu erschließen, wie etwa das Skilaufen für Frauen. Zudem wurde er Ausbilder des österreichischen Militärs und erfand dazu auch ein nach ihm benanntes Biwak-Zelt, mit dem man auch bei starker Kälte einigermaßen sicher übernachten konnte. Dass das Skilaufen ein unmittelbarer Erfolg war, lässt sich auch an der Tätigkeit des Illustrators Gustav Jahn ermessen, der bis zum Ersten Weltkrieg Gemälde, Grafiken und vor allem auch Plakate schuf, die sich diesem Sport widmen.19 Dennoch dauerte es bis zu den ersten olympischen Winterspielen der Welt in Chamonix 1924, dass das Skilaufen als Sport angemessen berücksichtigt wurde. Bis dahin galten Skirennen für Herren wie Damen eher als eine Form der Volksbelustigung, wie Bildpostkarten etwa eines Rennens aus St. Anton am Arlberg aus dem Jahr 1908 belegen mögen. Beim Eislauf ist die Situation der Verbildlichung eine ganz andere als bei den anderen Sportarten: Hier gibt es eine Jahrhunderte alte Tradition, sogar Ikonen der Bürgerlichkeit wie Henry Raeburns Bild des Skating Minister von 1797 – auch wenn das Bild selbst international bis in die 1950er-Jahre hinein nahezu unbekannt blieb, hat sich das Motiv schon früh durchgesetzt.20 Wie stark die Ikone wirkt, lässt sich an nahezu unendlich vielen Bildvergleichen nachvollziehen, die die Fotografen fast immer vollkommen un- oder vorbewusst, also ohne Reflexion über die Herkunft ihrer Sicht, hergestellt haben. Wenn Gillis Grafströms Kür bei den ersten Olympischen Winterspielen 1924 in Chamonix vorgeführt wird, dann ist das Gemälde als Bildmuster im Kopf eines jeden Bildjournalisten, ganz gleich, ob er das Bild je zuvor gesehen hat oder nicht. Bilder von Eislaufplätzen, wie sie um 1895 in Wien, Berlin, Graz und anderen Städten entstehen, ähneln, wenn sie denn als Fotografie auftauchen, oft den winterlichen Szenen, wie sie Vater und Sohn Brueghel um 1600 gemalt haben, teilweise bis in kleine Details hinein – wie dem gezogenen oder geschobenen Schlitten, den Otto Haeckel 1908 genauso auf einem Berliner Eislaufplatz sehen und fotografieren kann. Auch hier wird um 1890 damit begonnen, aus dem Eislauf einen kommerzialisierbaren Sport zu machen, allerdings zunächst ohne fotografische Il19 Wolfgang Krug, »Für den wahren Alpinisten ist doch nur das Beste gut genug!« Gustav Jahn und Mizzi Langer Kauba. Illustrationen für Wiens führendes Touristen-Fachgeschäft, in: Erika Oehring (Hg.), Alpen. Sehnsuchtsort & Bühne, Salzburg 2011, 115–119. 20 Lynne Gladstone-Millar, The Skating Minister: The Story Behind the Painting, Woodstocker NY 2005.

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lustration, und die Zeitungen, die nun mit Bildseiten oder illustrierten Stories beginnen, kümmern sich um die Freizeit oder das Überleben auf dem Eis, aber nicht um den Sport. Personalisiert ändert sich dies erst mit den Londoner Olympischen Spielen von 1908, wo die Stars mit eigenen Bildpostkarten auftreten, immerhin auch schon auf einer Eisbahn fotografiert, deren Architektur – es könnte sich um die Wiener Eislaufhalle handeln – mit optischen Mitteln aufgehellt und in den Hintergrund gedrängt wird. EiskunstläuferInnen sind hier in der Visualisierung direkt mit Opernstars, Feudalherrschern, UnterhaltungskünstlerInnen und berühmten Wissenschaftlern gleichgestellt – was sicher enorm zur Popularisierung nicht nur dieser Personen, sondern auch ihres Sports beiträgt. Die ersten Winterspiele von Chamonix 1924 stellen dann auch eine breite Palette von Sportarten auf dem Eis vor, vom Eiskunstlauf über den Eisschnelllauf zum Eistanz und auch Eishockey – doch die Bildqualität des Gezeigten ist zumeist schlecht, geht kaum über die Steifheit der Bildpostkarten aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg hinaus und findet wohl auch nicht die große Käuferschaft, die man sich von diesem Ereignis erträumt hat. Da war man 1908 in London schon sehr viel weiter gewesen: Das französische Sportblatt »La Vie au Grand Air«, dem die (vor allem auch die illustrierte) Sportjournalistik unendliche viele Anregungen verdankt, berichtet nicht nur mit dieser – von Aufmachung und Fotografie her überaus modernen – Doppelseite von den Olympischen Spielen, sondern setzt auch die wichtigen Eckmarken für die Sportgeschichte.21 Sämtliche Sportarten sind in dieser Zeitschrift vertreten, im Winter wie im Sommer, aber sporthistorisch scheint das Blatt noch immer weniger rezipiert worden zu sein als in der Fotogeschichte.22 Nahezu wichtigste Sportart in »La Vie au Grand Air« war der Radsport, und auch in Österreich wird er ab den 1890er-Jahren außerordentlich populär – mit der Herstellung von Fahrrädern und Reifen war zudem eine ganze Industrie verbunden, aus der sich später relativ übergangslos die Automobilindustrie entwickeln sollte. Nur ist das Radfahren medial vor der Erfindung des Films alles andere als einfach zu vermitteln: Aufwändige Inszenierungen sind die Folge, etwa in der Art, die ein anonymer Grazer Fotograf 1892 für fünf Damen des dortigen Bicycle Clubs vornahm (Abb. siehe den Beitrag von Sturm/Pilz in diesem Band). Die Frauen sitzen ernst, aber entspannt auf ihren Rädern, beide Füße auf den Pedalen und die Hände am Lenker, unter den blank geputzten Reifen ein Faux Terrain aus Reisig und Ästen, im Hintergrund ein gemalter Wald. Möglich wird dieses Bild durch einen sinnreichen Trick: Hinter den Radlerinnen ist je ein 21 Vgl. URL: http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/cb32888685g/date (abgerufen 24. 1. 2018). 22 Cl8ment Ch8roux, Avant l’avant-garde. Du jeu en photographie 1890–1940, Paris 2005.

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schwerer Ausleger durch den Vorhang gesteckt, der sie auf den Rädern hält. Ein solches Bild bedurfte durchaus großer Anstrengungen und hatte daher klar den Auftrag, den ganzen Sport zu nobilitieren. Die Einzelportraits von Radfahrerinnen markieren denn auch die Spannweite der möglichen Sozialbindung: Auf der einen Seite sind es Comtessen, die mit dem Rad unterwegs sind, auf der anderen Seite eine Gewerkschafterin, die das Fahrrad wie viele andere zum wahrhaft sozialistischen Basis-Fahrzeug erkoren hat, was ja teilweise bis in die letzten Jahre nachgewirkt hat, nur nicht im Sport. Ansonsten folgt dieser Sport auch dem typischen Muster einer sozialen Etablierung durch vorhandene Bildformen: Gruppenfotos vor dem Klubheim und auf der Rennbahn ziehen sich durch die ganze, relativ kurze Geschichte des Grazer Radfahrer-Clubs, hinzu kommen Einzelbilder von wichtigen Protagonistinnen und Protagonisten des Clubs – in Graz insofern eine Besonderheit, als die Frau des Fahrradhändlers und Klubbetreibers, der auch die Rennbahn bauen ließ, selbst aktive Radsportlerin war und somit viel für die Gleichberechtigung in diesem Sport tun konnte. Inwieweit sich dies als für den Frauensport nachhaltig erwies, scheint jedoch eine andere Frage zu sein. Insgesamt ist die gesamte Etablierung des Radfahrens eher mit einer Verschiebung des Reitens auf ein Fahrgestell zu vergleichen als mit einer sportlichen Handlung, jedenfalls soweit es die Werbung angeht, die ja beim Skilaufen ganz auf die sportliche Seite hin abgestimmt war. Die letzte Sportart, die mindestens in Europa vom Umsatz wie der sozialen Wirkung her alle anderen weit hinter sich lässt, ist der Fußball. Hier ist in der fotografischen Frühzeit wenig zu holen, zu komplex sind die Aufgaben für die Fotografen. Es gibt Trainingsbilder, ganz wie die vom Zdarsky’schen Ski-Training im Fotostudio, aber es gibt auch vereinzelte Versuche, das Ballgeschehen direkt abzulichten – dabei ist zu bedenken, dass einem einfachen Fußball die Fläche eines ganzen Feldes als horizontale Ausdehnung und eine mittlere Haushöhe als vertikale Ausdehnung gegenübersteht, eine für frühe Fotografen kaum zu bewältigende Arbeit.23 Daher bleibt die zeichnerisch-druckgrafische Illustration in der Fußball-Berichterstattung bis weit in die 1920er-Jahre hinein bestehen, und nur selten traut sich ein Amateur oder junger Berufsfotograf an die Aufgabe heran, direkt vom Platz ein Geschehen in Bilder zu fassen. Dieses Geschehen ist zwar durch ein großes Regelwerk definiert, hat aber auch, und das sei ganz am Ende angemerkt, eine soziale Komponente bei den RezipientInnen, die ein Spiel anschauen. Insofern hat sich – im Gegensatz zu allen anderen Sportarten, die hier als spezifisch 23 Rolf Sachsse, Bilder ohne Ball. Marginalien zur Fotografie vom Fußball des Nationalsozialismus, in: Markwart Herzog (Hg.), Fußball zur Zeit des Nationalsozialismus, Alltag – Medien – Künste – Stars, Stuttgart 2008, 275–282.

Fotografische Inszenierungen des Sports in Österreich vor 1914

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österreichisch in ihrer visuellen Frühgeschichte zu schildern waren – für den Fußball früh eine Bildgeschichte der ZuschauerInnen und Fans etabliert, die selbst mit einer Moderne der Medien gleichzusetzen ist. Deren Verhalten mag wieder eine eingangs geschilderte Unterscheidung zwischen Spiel und Sport hervorholen, die sich in einer – von Michael Ponstingl dankenswerterweise hervorragend edierten – Bildserie des Ferdinand Ritter von Staudenheim widerspiegelt.24 Er zeigte bei seinen Aufnahmen des Abreißens der Wälle an der Wiener Stadtmauer zur Freilegung dessen, was wir heute als den »Ring« bezeichnen: Hier spielen Männer und Kinder, und wir wissen nicht, was sie tun – ob das Sport ist, müssen Andere entscheiden.

24 Michael Ponstingl, Leben und Treiben des Ferdinand Ritter von Staudenheim im Sommer 1894. Eine fotografische Inspektion auf den Wiener Linienwällen, in: Werner Michael Schwarz/Margarethe Szeless/Lisa Wögenstein (Hg.), Ganz unten. Die Entdeckung des Elends. Wien, Berlin, London, Paris, New York, Wien 2007, 91–97.

Petra Sturm / Katrin Pilz

Fehlende (Vor-)Bilder? Österreichische Rennradpionierinnen der 1890er-Jahre und Zwischenkriegszeit

Abb. 1: Die Wiener Rennfahrerin Cenci Flendrofsky. (Quelle: Draisena, 28. 11. 1898, ÖNB/ ANNO)

Ausgangspunkt dieses Textes ist ein Foto in dem deutsch-österreichischen Damenradsportblatt »Draisena« aus dem Jahr 1898.1 Das Besondere an dieser Abbildung ist, dass die Radfahrerin in gebückter Haltung und aktiver Pose auf dem Rad sitzend zu sehen ist. Ihr Rad ist ein Herrenrad, kein Damenrad. Sie trägt Hosen bzw. Pumphosen (wenn auch sehr weite) und ein schlichtes Oberteil. Sie 1 Draisena, 28. 11. 1898, 502.

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wirkt ernsthaft, wenn auch vielleicht nicht ganz selbstbewusst. Vor allem zeigt das Foto eine explizit sportliche Radfahrerin – eine Rennfahrerin – und keine Freizeitfahrerin.2 Es handelt sich um die Wiener Rennfahrerin Cenci Flendrofsky.3 Nach Bildern wie diesem sollte man im Kontext der Sportgeschichte bzw. Kultur- und Sozialgeschichte des Fahrradfahrens suchen, weil solche Darstellungen dem Mythos des Rennradsports als historisch bedingter Männerdomäne ein alternatives Narrativ entgegenstellen. Für Radsportlerinnen von heute können progressiv-sportliche Frauen als Role-Models dienen, die ihnen Rückenwind geben und ihr Selbstverständnis stärken. Bilder von Männern in aktiver, heroischer Rennpose auf Rennrädern sind seit den Anfängen des Radfahrens weit verbreitet. Sportler werden bis heute signifikant häufiger in sportlichen Aktionen dargestellt, Sportlerinnen eher in passiver Situation.4 Und, so Rosa Diketmüller, »Geschlechterunterschiede manifestieren sich besonders in medialen Darstellungen der Sportkultur.«5 Aufzuzeigen, welche Faktoren, Prozesse und Ausschlussdiskurse für das vermeintliche Fehlen des Bildes der Rennradfahrerin im kollektiven Gedächtnis des Sports verantwortlich sind und warum in der österreichischen (Sport)-Geschichtswissenschaft bis heute kein souveränes Subjekt der frühen Rennradfahrerin verankert ist, ist Intention dieses Beitrages. Für das ephemere Bildmaterial und seine weiblichen Subjekte gilt: je sportlicher, desto marginalisierter, je früher, desto weniger Material. Ausgehend von medialen Darstellungen rennfahrender Frauen in der Formierungsphase des österreichischen Sports werden Teilbereiche der Geschichte dieses sich über Generationen manifestierenden Images rekonstruiert. Untersucht werden die diskursiven Praktiken und (Kontroll-)Räume, mit denen Frauen durch Radfahren zwar schrittweise neue Bewegungsräume erschließen und körperliche Erfahrungs- und Aktivitätsfelder ausloten konnten, ihnen im kompetitiven Sport aber durch männliche Hegemoniekonzepte weiterhin der Zugang erschwert wurde. Der zeitliche Fokus liegt auf den Jahren 1893 bis 1900, der kurzen Blütezeit des weiblichen Radrennsportes in den experimentellen Radboom-Jahren. Kontrastiert werden diese mit einer Momentaufnahme der 1920er-Jahre, in denen trotz vieler gesellschaftlicher Aufbrüche die Radrennfahrerin (medial) absent blieb. Für beide Phasen gilt: Selbst im Kontext des emanzipatorischen Aufbruchs, bei dem Radfahren als Katalysator für die Be2 In den 1890er-Jahren ist das Fahrrad noch nicht als alltägliches Transportmittel etabliert. 3 Die Schreibweisen des Namens variieren in den unterschiedlichen Quellen, zu lesen ist auch Flendrowsky oder Flendrovsky. In unseren Ausführungen verwenden wir Flendrofsky, in Zitaten die jeweilige Variante. 4 Vgl. dazu etwa Rosa Diketmüller, Macht- und Genderdiskurse in Bewegungskulturen, in: Matthias Marschik/Rudolf Müllner/Otto Penz/Georg Spitaler (Hg.), Sport Studies, Wien 2009, 85–98, 89. 5 Ebd., 88.

Österreichische Rennradpionierinnen der 1890er-Jahre und Zwischenkriegszeit

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freiung der Frau und ihres Körpers gehandelt wurde, blieb die Partizipation der Frauen im professionellen Radsport und die Teilhabe am öffentlichen Wettbewerb und Sportgeschehen ein durch die männliche Sportcommunity kontrolliertes Privileg. Symbolische, sozialpolitische, kulturelle und moralische Bedenken bestimmten die Verfügbarkeit der Frau als Radsportlerin im öffentlichen Diskurs und hatten weitreichende Auswirkungen für die Professionalisierung bzw. Nichtprofessionalisierung des Frauenradrennsports. Für die Etablierungsphase des Sports gilt: »Sport war männlich konnotiert. […] Frauen spielten, behindert durch den Mythos vom ›schwachen Geschlecht‹, unbequeme Kleidung und die Normen der Schicklichkeit nur eine Außenseiterrolle.«6

I.

»Bitte nicht zu sportlich«, Bilder der Frau am Rad

Der visuelle Vergleich der gleichen Zeitperiode zeigt, warum das Foto Cenci Flendrofskys besonders ist. Weit verbreiteter war die Darstellung der in passiver Pose neben einem Damenfahrrad (Tiefeinsteiger) stehenden Frau in Rock. Vordergründig geht es um die Inszenierung weiblicher Attraktivität und Schönheit, nicht von Sportlichkeit. Gerne wird Frau auch als Partnerin gezeigt, etwa auf einem Tandem, oder als Teilnehmerin bei einem Blumencorso. Vor allem Schauspielerinnen oder Sängerinnen, Vertreterinnen von Berufsständen, die ohnehin in der Öffentlichkeit exponiert waren, durften sich selbstbewusst oder verführerisch am Rad zeigen. Tänzerisches Reigenfahren, turnerischspielerische Geschicklichkeitsrennen, wie die Gymkhana-Spiele oder Kunstfahren, gehörten zu den Radsportarten, bei denen Frau Ambitionen zeigen durfte, weil sie dem gesellschaftlichen Verständnis von weiblicher Sportlichkeit und Körperlichkeit entsprachen.7 Auch auf Werbeplakaten von Fahrradmarken und Zubehörherstellern durfte die oft zu einer Göttin ikonisierte Radlerin – zu Marketing- und Werbezwecken leicht bekleidet –, schnell und dynamisch sein oder sogar Rennen fahren, um das Rad an den Mann und vermehrt auch an die Frau zu bringen. Sex sells. Eine mögliche Lesart dieser Werbebotschaften: schaut her, Radfahren ist so einfach, sogar Frauen können es. In einem Kalender des »Wiener Radfahrer-Club Künstlerhaus« von 1898 ist die Radlerin in verschieden Rollen von Muse, Venus, Nymphe, Emanze, Sportkollegin bis zur Ehefrau zu sehen.8 Ein Foto von 1892, das scheinbar diesem Klischee widerspricht, ist das 6 Gertrud Pfister, Die Darstellung von Frauen im Mediensport – Kontinuitäten und Veränderungen, in: Daniela Schaaf/Jörg-Uwe Nieland (Hg.), Die Sexualisierung des Sports in den Medien, Köln 2011, 57–80, 59. 7 Vgl. dazu Gudrun Maierhof/Katinka Schröder, Sie radeln wie ein Mann Madam: Als die Frauen das Rad eroberten, Dortmund 1992, 103–119. 8 Wiener Radfahrer-Club Künstlerhaus, Radlerei! 40 Kunsttafeln, Wien 1898.

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Gruppenbild von fünf Gründungsmitgliedern des Grazer Damen-Bicycle-Club (1893–1898).9 Doch auch hier gibt es Unterschiede in Inhalt und Bildsymbolik zum Ausgangsfoto. Die Damen tragen zwar eine sportliche Schirmkappe, aber auch langen Rock und weisen eng geschnürte Taille und aufrechte Haltung auf.10 Tatsächlich zeigt das Foto die Damen als Reigenfahrerinnen – die Mitglieder des Grazer Damen-Bicycle-Club fuhren in ihrer rund fünfjährigen Vereinsgeschichte keine Rennen, sondern unternahmen vorwiegend gemeinsame Clubausfahrten und Fahrübungen.11

Abb. 2: Gründungsmitglieder des Grazer Damen-Bicycle-Club in Reigenfahrmontur. (Quelle: Archiv Gerhard Kindlinger)

9 Vgl. Hilde Harrer, Der Grazer Damen-Bicycle-Club. Rad fahrende Frauen gegen Ende des 19. Jahrhunderts, in: Carmen Unterholzer/Ilse Wieser (Hg.), Über den Dächern von Graz ist Liesl wahrhaftig. Eine Stadtgeschichte der Grazer Frauen, Wien 1996, 101–113, 104. 10 Vgl. den Beitrag von Rolf Sachsse in diesem Band. Er erwähnt darin Hintergründe zur Entstehung dieses Fotos (Stichwort »Studiofotografie«), u. a. die Verwendung einer Halterung zur Aufrichtung und Fixierung des Oberkörpers. 11 Harrer, Damen-Bicycle-Club.

Österreichische Rennradpionierinnen der 1890er-Jahre und Zwischenkriegszeit

1.1

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Machtsymboliken, Körper- und Geschlechterpolitik

Die Frau, die sich auf das Rad wagt, war Ende des 19. Jahrhunderts generell vielen Anfeindungen ausgesetzt. Zu den gesellschaftlich verbreiteten Vorurteilen und Polemiken12 gegen das Frauenradfahren zählten etwa die vom Katzenbuckel oder vom verzerrten Gesicht (Bicycle Gesicht) entstellte Frau, der Vorwurf von Onanie am Sattel, die unbeholfene, stürzende Radlerin, oder umgekehrt die besonders emanzipierte oder auch liebestolle Radlerin, die mit dem Rad auf Partnersuche unterwegs ist. In zeitgenössischen nationalen und internationalen Printmedien existieren dafür unzählige Beispiele, in Form von Karikaturen fanden sie auch auf Grußpostkarten Verbreitung. Die Basis der Argumentation gegen das Rennfahren der Frauen waren medizinischer, modischer, ästhetischer und vor allem erzieherischer und moralischer Natur. Je mehr in männliche Machtbereiche vorgedrungen wurde, desto stärkeren Widerstand seitens der Männer sowie Legitimationszwang und Kampf um Anerkennung seitens der Frauen gab es. Ausgrenzungsmechanismen gegenüber Frauen und ihrer Partizipation am Radsport zeigen sich darin, dass ihnen die Teilhabe an »Männerspielen« verweigert wurde.13 »Die männliche Herrschaft konstituiert die Frauen als symbolische Objekte, deren Sein (esse) ein Wahrgenommenwerden (percipi) ist.«14 Das Feld des Sportes beschrieb Bourdieu als besonderen Ort der Ordnungsrufe und Diskriminierung gegenüber Frauen.15 Die zeitgenössischen medizinischen und gesundheitspolitischen Aussagen zum Radfahren richteten sich vor allem auf den Frauenkörper. Die Äußerungen aus dem (pseudo-)medizinischen Feld sind mitunter wild und widersprüchlich,16 aber es gibt einen gemeinsamen Tenor. Die Richtlinien für die weibliche Fahrradfahrerin lauten: Hauptsache »mäßig«, keine langen anstrengenden Fahrten, Bergauffahrten oder »Rekordjagden«, bloß nicht zu aktiv oder selbstständig, dann sei es für sie auch gesund und verträglich.17 12 In der deutschsprachigen populärwissenschaftlichen Basisliteratur zum Frauenradfahren werden diese Kämpfe der Frauen um Anerkennung und Emanzipation detailliert geschildert. Vgl. Maierhof/Schröder, Sie radeln; Dörte Bleckmann, Wehe wenn sie losgelassen: Zu den Anfängen des Frauenradfahrens in Deutschland, Weil am Rhein 1998; Maria Borgmann, Frau und Fahrrad, in: Jutta Franke (Hg.), Illustrierte Fahrrad-Geschichte, Berlin 1987. 13 Vgl. Pierre Bourdieu, Die männliche Herrschaft, Frankfurt am Main 2005. 14 Ebd., 117. 15 Ebd., 164. 16 Auch vor dem Hintergrund, dass sich die Sportmedizin selbst gerade erst in der Formierungsphase befand. 17 Vgl. z. B. Th. Bohrn, Ist das Radfahren gesund?, in: Frauenleben. Beiblatt »Reform« für Sport, Hygiene und Verbesserung der Frauen-Kleidung, 1. 7. 1897, 9–10; N. N., Das Fahrrad und die Frau, in: Allgemeine Sportzeitung, 18. 3. 1894, 247–248; C. d. Cahier, Die Radlerin, in: Radfahr-Sport, 22. 10. 1897, 743–744.

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Rennradsport entsprach nicht dem weiblichen Körperideal und einer ihm zuträglichen Bewegungsform. Diese Vorstellung basierte auf einem fundamentalen Einteilungsprinzip in männlich-aktiv, weiblich-passiv, kräftig-schwach usw. Faktoren wie Anmut, Kraftaufwand, Wettbewerbsorientiertheit und Ästhetik entschieden darüber, ob eine Sportart für Frauen, und damit war Ende des 19. Jahrhunderts vor allem die bürgerliche Frau adressiert, akzeptabel war.18 Nach Feuchtner erklärt sich daraus, warum Frauen in Sportarten wie Eislaufen, Schwimmen, Wandern oder Tennis leichter Zugang fanden.19 Bis heute halten sich im Sport stereotype Vorstellungen von Geschlecht beharrlicher als in anderen Bereichen. Nach Hartmann-Tews hängt die differentielle Inklusion von Frauen und Männern im Sport eng mit dessen körperzentriertem Leistungs- und Wettbewerbsgedanken zusammen. Die Körper und deren unterschiedliche Leistungsfähigkeit werden als sichtbare »Beweise natürlicher Unterschiede« angeführt.20 Auf ästhetischer Ebene waren Frauen besonders in der Kleidungsfrage einer Double-Bind-Situation ausgesetzt. Sportliche Betätigung verlangt nach Kleidung, die Bewegungsfreiheit bietet. Modediktate verordneten aber »Weiblichkeit« auf allen Ebenen. Vom Korsett konnten sich Radlerinnen relativ einfach befreien. Hosen zu tragen, wie es beim Radeln eben am praktischsten ist, galt als gesellschaftlich nicht akzeptabel und war eines der größten Hemmnisse auf dem Weg zum Frauenradfahren. Eines der Grunddilemmata, denen Frauen ausgesetzt waren, lautete, entweder auf das Rad zu steigen comme il faut, also mit Rock – und damit Geschwindigkeitseinbußen und das Risiko einzugehen, dass sich der lange Rock in den Speichern verhedderte –, oder zu progressiverer Kleidung zu greifen, Knöchel zu entblößen und sich damit gesellschaftlicher Kritik auszusetzen. In diesem Setting gab es jedoch auch Spielräume, und so rutschten die Säume immer weiter nach oben, von Rock bis zu unterschiedlichen Arten von Hosen bzw. Rockhosenkombinationen – also Hosenröcke, sogenannte Zuavenröcke (außen Rockoptik, darunter trägt Frau Hose) und Pumphosen, genannt Bloomers, bis zur kurzen, engen Hose, in die sich nur einige wenige ProfiRennfahrerinnen wagten.21 Mit der Etablierung des Niederrads Anfang der 18 Vgl. Carmen Feuchtner, Rekord kostet Anmut, meine Damen. Zur Körperkultur der Frau im Bürgertum Wiens (1880–1930), in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 21 (1994), 127–151, insb. 131 u. 149. 19 Ebd., 142. 20 Ilse Hartmann-Tews, Forschung in Bewegung: Frauen- und Geschlechterforschung in der Sportwissenschaft, in: Angelika Cottmann/Beate Kortendiek/Ulrike Schildmann (Hg.), Das undisziplinierte Geschlecht. Frauen- und Geschlechterforschung – Einblick und Ausblick, Wiesbaden 2000, 17–34, 19. 21 Zeitgenössische Modezeitschriften wie etwa das einflussreiche Modejournal »Wiener Mode«, das 1897 auch das Radfahrer-Benimmbuch »Vademecum für Radfahrerinnen« verlegte, repräsentierten diese modischen und gesellschaftlichen Vorstellungen. Vgl. dazu Petra Sturm,

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1890er-Jahre kam es auch zur Entwicklung des Frauenradmodells, wie wir es bis heute kennen. Dieses ermöglichte Frauen auf der einen Seite die Teilhabe am Radboom, mit eigens für sie geschaffenen Rädern mit gebogenem Oberrohr, die auch mit Rock besteigbar waren. Nach einer Studie der Historikerin Sarah Hallenbeck waren amerikanische Frauen dabei einerseits selbst maßgeblich an der Entwicklung des Frauenrades beteiligt.22 Zum anderen manifestierten sich durch eigene Fahrradmodelle Geschlechterstereotype weiter und erschwerten die Radsportausübung von Frauen.

II.

Warum Cenci Flendrofsky kaum jemand kennt

Die physischen, sozialen und mentalen Hindernisse für Frauen sportlich am Rad unterwegs zu sein, waren groß. Dennoch hat es die frühen Rennradpionierinnen gegeben, wie unser Ausgangsfoto belegt. Sie haben sich in Österreich-Ungarn von Anbeginn auf die von der Geometrie her stabileren Herrenräder und schnittigeren Rennmodelle gewagt und Rennen und lange Distanzen bewältigt. Bereits in der Etablierungsphase des Rennradsports auf dem Niederrad fanden vereinzelt (Gemischt- und Einzel-) Rennwettbewerbe für Frauen statt. 1893 wurde in Baden bei Wien das erste österreichische Damenrennen durchgeführt.23 Mitte der 1890er-Jahre wurden einige wichtige internationale Bewerbe veranstaltet, zu erwähnen sind etwa die Frauenweltmeisterschaften in Ostende, diverse Rekordrennen in ganz Europa oder ein öffentlichkeitswirksam inszeniertes Zwölf-Tage-Rennen in London. Im Zuge der zunehmenden Institutionalisierung des Rennradsportes und der Herausbildung von Dachverbänden wurden Frauenwettbewerbe jedoch schrittweise unterbunden und Ende des 19. Jahrhunderts ausdrücklich von nationalen und internationalen Verbänden verboten.24 Erst seit 1990 gibt es in Österreich offizielle Straßenmeisterschaften für Frauen. Am Beispiel von Cenci Flendrofsky lässt sich eine weibliche Rennsportkarriere im Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn, genauer in seiner Metropole Wien in Wiener Radmode in den Boom-Jahren. Zwischen »Actionsfreiheit« und »Comme il faut«, in: Bernhard Hachleitner/Matthias Marschik/Rudolf Müllner/Michael Zappe (Hg.), Motor bin ich selbst. 200 Jahre Radfahren in Wien, Wien 2013, 46–49, 48; Petra Sturm, Schneller als erlaubt, in: Frauen.Wissen.Wien 6 (2017) 7, 39–54, 40, 43. 22 Sarah Hallenbeck, Claiming the Bicycle. Women, Rhetoric, and Technology in NineteenthCentury America, Carbondale 2016. 23 Siehe dazu die Ankündigung in Allgemeine Sportzeitung, 30. 7. 1893, 795. 24 Im Rahmen dieser Institutionalisierung bildeten sich auch Bewertungen wie »offiziell« und »inoffiziell« aus. Der Kampf um offizielle Rennen für Frauen charakterisierte die Entwicklung bis etwa in die 1890er-Jahre. Solange noch nicht alle Vereine einem Dachverband unterstellt waren, gab es Freiräume.

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Grundzügen skizzieren.25 Cenci Flendrofsky wuchs als »Zuwandererkind« in Favoriten auf. Sie war Mitglied des Landstraßer Fahrradvereins »Velocitas«.26 Über diesen Verein bestritt sie ihre ersten Rennen im Wintervelodrom der Wiener Rotunde im Prater, vertrat Österreich-Ungarn beim 1. internationalen Damenrennen Deutschlands in Berlin 1898 und errang in ihrer kurzen Zeit als Rennfahrerin über 15 Preise, zumeist im Tandem oder in gemischten Bewerben.27 Zwei Jahre später, im Jahr 1900, starb Flendrofsky, wie wir ihren Nachrufen entnehmen können, in jungen Jahren an den Folgen einer bei einem Radunfall in einem Tripletrennen auf der Wiener Bellaria zugezogenen Blutvergiftung. Sie wurde in Favoriten öffentlich beigesetzt und posthum in diversen Zeitungen als eine in der Sportwelt »bekannte Persönlichkeit, die als Rennfahrerin bedeutende Erfolge aufzuweisen hatte und eine Renntechnik besaß, wie man sie bei keiner anderen Rennfahrerin findet«,28 gewürdigt.

2.1

Fehlende Forschung

Die weibliche Sportgeschichte ist in Österreich wenig bis gar nicht aufgearbeitet. International sieht die Ausgangslage ähnlich aus. Erst 2014 erschien etwa ein umfassender Überblicksband zur englischen Frauensportgeschichte.29 Die britische Historikerin Jean Williams äußert darin ihr Erstaunen, warum vielen im Sport tätigen Frauen bisher keine akademische Aufmerksamkeit geschenkt wurde und ihre Biographien nicht aufgearbeitet sind.30 Bei Sparten wie der Radsportgeschichte ist grundsätzlich Grundlagenforschung zu leisten. Anke Timmerberg setzt bei ihrer Geschichte des Frauenradsports in Deutschlands um 1900 an.31 Cenci Flendrofsky wurde das erste Mal 2013 in einem Artikel mit radhistorischem Kontext erwähnt.32 Es ist schwer, beinahe unmöglich, eine lückenlose Biographie von einer dieser Rennradpionierinnen zu eruieren, wenn 25 Vgl. Sturm, Schneller, 45. 26 1897 traten 29 Vereinsmitglieder laut Mitgliederversammlung in den »Bund deutscher Radfahrer Oesterreichs« (B.d.R.Oe.) ein, der nicht zu den Förderern des Frauenradsports gehörte und um 1900 die Macht besaß, diese offiziell zu verbieten. Vgl. Radfahr-Sport, 5. 11. 1897, 792. 27 Draisena, 28. 11. 1898, 502. 28 Deutsches Volksblatt, 5. 12. 1900, 15. 29 Jean Williams, A Contemporary History of Women’s Sport, Part One: Sporting Women, 1850–1960, London 2014. 30 Ebd., 19. 31 Anke Timmerberg, Die Entwicklung des Frauenradsports in Deutschland von 1900 bis heute, Darmstadt 2001. 32 Petra Sturm, Die bewegte Frau. Rad fahrende Frauen in Wien um 1900, in: Hachleitner/ Marschik/Müllner/Zappe (Hg.), Motor, 62–65, 64.

Österreichische Rennradpionierinnen der 1890er-Jahre und Zwischenkriegszeit

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Abb. 3: Die Wiener Neustädter Rennfahrerin Herma Schredl. (Quelle: Radfahr-Sport, 9. 10. 1896, ÖNB/ANNO)

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weder Nachlass noch Vereinsakten vorhanden sind und etwa auch historische Meldedaten kein Ergebnis bringen. Medienberichte sind in Österreich meist die vorrangigen Primärquellen, die zur Verfügung stehen. Die Geschichte zeigt, dass Radsportverbände und (Sport-)Medien bis heute nicht zu den großen Förderern des Frauenradsports zählen: es herrschten launische Verbote, eingeschränkte Mitgliedschaften und mangelnde Berichterstattung. Dennoch fanden Rennradfahrerinnen – je nach Goodwill einzelner Redakteure und Chronisten – Erwähnung in Fahrradfachzeitschriften, Tageszeitungen oder Vereinsmeldungen.33

2.2

Vergessene Role-Models

Cenci Flendrofsky ist kein Einzelphänomen. In österreichisch-ungarischen Fachzeitungen finden sich Namen von anderen frühen Rennradfahrerinnen in Rennberichten aufgelistet, zum Teil existieren auch Kurzporträts und Fotos von ihnen. Wie von den Gründerinnen des ersten Grazer Damen-Bicycle-Clubs und anderen sportlich radfahrenden Frauen belegt,34 ist anzunehmen, dass Cenci Flendrofsky und andere österreichische Rennradpionierinnen durch ihr Umfeld mit dem Fahrradfahren in Berührung kamen oder besondere Ermutigung erfuhren, aufs Rad zu steigen. Oft waren Väter, Brüder, Ehepartner oder sonstige Verwandte in der Fahrradbranche (etwa als Fahrradhändler) tätig oder in einem der zahlreichen Vereine als Fahrradfahrer aktiv. Viele Frauen dürften zunächst auch in anderen, den Frauen gemäßen Sportdisziplinen oder -vereinen tätig gewesen sein, wie etwa dem Eislauf oder Turnen.35 Um 1896 zählte man in Wien alleine 175 Radfahrvereine.36 Einige davon waren gemischtgeschlechtlich, wobei viele Frauen nicht als volle, sondern nur als außerordentliche Mitglieder zugelassen wurden. Mit dem Erfolg und Karriereverlauf von weiblichen Rennradikonen aus klassischen Rennrad-Ländern wie Frankreich, England, Amerika oder Belgien konnten die österreichischen Rennradpionierinnen aus strukturellen Gründen nicht mithalten. Zum Vergleich, die belgische Berufsrennfahrerin H8lHne Dutrieu stellte 1894 den Stundenweltrekord für Frauen auf, 1896 33 Vgl. Sturm, Schneller, 45. 34 Vgl. Harrer, Damen-Bicycle-Club. 35 Forschungsergebnisse von Jean Williams zu britischen Rad- bzw. Multisportlerinnen in der Etablierungsphase decken sich mit diesbezüglichen Hinweisen in österreichisch-ungarischen Zeitschriften. Vgl. auch Deutsche-Turn-Zeitung für Frauen, 1900, 33, zit. n. Rüdiger Rabenstein, Radsport und Gesellschaft, Hildesheim/München/Zürich 1996, 142, bzw. Feuchtner, Rekord. 36 Roman Sandgruber, Cyclisation und Zivilisation. Fahrradkultur um 1900, in: Hubert Ch. Ehalt (Hg.), Glücklich ist, wer vergißt? Das andere Wien um 1900, Wien/Köln/Graz 1986, 285–303, 288.

Österreichische Rennradpionierinnen der 1890er-Jahre und Zwischenkriegszeit

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wurde sie im belgischen Ostende erste Frauenweltmeisterin im Sprint und Siegerin des Zwölf-Tage-Rennens für Frauen in London.37 Ihr Foto für das Werbeplakat der Fima Chaine Simpson, für die sie auch unter großer medialer Aufmerksamkeit Rennen fuhr, zählt zu den im Internet verbreitetsten Abbildungen einer weiblichen Radsportpionierin in Rennpose jener Zeitperiode. Von Toulouse-Lautrec existiert eine bekannte Grafik der Chaine Simpson,38 auf der Dutrieu zu sehen sein soll.39 Nach Beendigung ihrer kurzen Radkarriere erlangte sie weitere Bekanntheit als eine der ersten Pilotinnen.40 Die Schwedin Tilli Anderson, Spitzname »Tillie the Terrible Swede«, wanderte für die Möglichkeit einer Profi-Radkarriere nach Amerika aus und gewann in den experimentierfreudigen 1890er-Jahren viele der dort ausgeschriebenen Frauenwettbewerbe.41 Von ihr ist ein umfangreicher Nachlass vorhanden, der viele Fotos, Dokumente und Medaillen umfasst und unter anderem 2014 bei einer großen Fahrradausstellung im Swedish Design Museum Stockholm ausgestellt wurde. Auch in puncto Sportmode zeigten sich die Wienerinnen eine Spur vorsichtiger als ihre internationalen Kolleginnen. Was bei den Darstellungen von H8lHne Dutrieu, Tillie Anderson und Co. auffällt: sie zeigten sich selbstbewusst in enganliegender Rennkleidung, d. h. kurze enge Hose und enges Oberteil. Heimische Rennfahrerinnen radelten mit weitaus bauschigeren Hosen, den erwähnten Bloomers, die im Alltagseinsatz durchaus bereits als emanzipiert galten, als aerodynamische Radkleidung jedoch nur bedingt taugten.

III.

Das medial transportierte Bild der Rennradsportlerin

Laut Schätzungen von Sandgruber gab es in den 1890er-Jahren in Wien rund 20 Radfahrzeitungen.42 Radfahrmeldungen der populären »Allgemeinen Sportzeitung«, des einflussreichen »Radfahr-Sport« und der Frauenradzeitschrift »Draisena« werden im Folgenden für eine exemplarische Diskursanalyse der Ausschlussmechanismen weiblicher Sportlerinnen näher betrachtet. So hieß es 37 Vgl. Maierhof/Schröder, Sie radeln, 117–118; Biography, URL: http://www.earlyaviators.com/edutrie1.htm (abgerufen 31. 1. 2018). Die Jahreszahlen zu den Rennen werden in Quellen unterschiedlich angegeben. Da die Frauenradsportgeschichte lückenhaft ist, ist die Erhebung der tatsächlichen Daten schwierig. 38 Henri de Toulouse-Lautrec, La cha%ne Simpson, 1896. 39 Vgl. z. B. Philip McCouat, Toulouse-Lautrec, the bicycle and the women’s movement, URL: http://www.artinsociety.com/toulouse-lautrec-the-bicycle-and-the-womens-movement.html (abgerufen 31. 1. 2018). 40 Gertrud Pfister, Fliegen – ihr Leben. Die ersten Pilotinnen, Berlin 1989, 44, 80. 41 Vgl. Sue Stauffacher/Sarah McMenemy, Tillie the terrible Swede: how one woman, a sewing needle, and a bicycle changed history, New York 2011. 42 Sandgruber, Cyclisation, 288.

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1896 im »Radfahr-Sport«: »Wenn wir auch über Damenwettfahrten unsere eigenen Ansichten haben, so hat uns gerade Fräulein Schredl durch ihre bisherige Leistung alle Achtung abgerungen«.43 Die frühere Eissportläuferin und Mitglied des Wr. Neustädter Bicycleclub »Rapid« Herma Schredl hatte Glück. Trotz der oft gegenläufigen Blattlinie des »Radfahr-Sport« wurde ihre Leistung gewürdigt und sie schaffte es, mit vielen Auszeichnungen dekoriert, im züchtigen Brustbild mit schwarzer hochgeschlossener Bluse sogar in Rennpose und mit Rennrad aufs Cover der Zeitschrift (siehe Abb. 3). Andere Artikel im »Radfahr-Sport« aus dem gleichen Jahr zeigen, dass dies nicht selbstverständlich war. Ein Rennleiter wurde für die Ausschreibung eines »Damen-Meiterschaftsfahren« mit Verweis auf den B.d.R.OE. kritisiert. »Unsere geehrten Leser wissen, dass eine dergestaltete ›Damenmeisterschaft‹ vor kurzem vom Mödlinger Rennverband ausgeschrieben und vom B.d.R.Oe nicht anerkannt worden ist«.44 Ein andermal wurden Rennergebnisse nicht publiziert: »Die ›Damenmeisterschaft‹ wollen wir unerwähnt lassen.«45 Das Nichterwähnen von Frauen hatte System bzw. unterstützte der »Radfahr-Sport« – oder zumindest einzelne seiner Autoren – als offizielles Organ des »Bund deutscher Radfahrer Oesterreichs« deren Agenden. Argumentativ stützten sich die Gegner des Damenwettfahrens im »RadfahrSport« auf gängige Vorurteile, so schade einer »gesunden, normal gebauten Frau« dieser Sport nicht, solange sie sich »nicht durch zu lange und schnelle Fahrten oder durch Bergauffahrten überanstrengt« oder »sie die schlechte Gewohnheit hat, in vorgebeugter Stellung zu sitzen.«46 Ein Kollege von der »Allgemeinen Sportzeitung«, der das Frauenradfahren prinzipiell befürwortete, sah das ähnlich: Der Sport könne der Dame nur nützlich sein, »solange er auf mässige und verständnisvolle Art geübt wird« und sie auf »unsinnige[…] Recordrennen, welche sie ihren männlichen Genossen überlassen soll«47 verzichtet. Beispiele solcher medizinisch-biologistischen Rechtfertigungen finden sich in beiden Medien zahlreich, wobei sich die »Allgemeine Sportzeitung« tendenziell aufgeschlossener zeigte, wenn sie denn über Frauenrennen berichtete. »Das Damenfahren war eine vollkommen sichere Sache für Frau Hladik«, sie fuhr »im Bewusstsein ihrer Ueberlegenheit ein sehr hübsches Rennen«, »liess sich überholen« und schlug die Gegnerin »mit einem schönen Endspurt.«48 Ästhetische Beurteilungskriterien schlugen sich hier vielleicht in der Wahl der Adjektive nieder. Verlässlicher ist dieser Gebrauch geschlechterstereotyper Stilmittel in längeren Artikeln wie etwa den raren Rennfahrerinnen-Porträts verortbar. Über 43 44 45 46 47 48

Radfahr-Sport, 9. 10. 1896, 1. Radfahr-Sport, 28. 8. 1896, 843. Radfahr-Sport, 17. 7. 1896, 703. Radfahr-Sport, 22. 10. 1897, 743. Allgemeine Sportzeitung, 18. 3. 1894, 247. Allgemeine Sportzeitung, 7. 2. 1897, 123.

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die erwähnte Herma Schredl, Siegerin im Damencorso des Mödlinger Radfahrervereins, wird geschrieben: »eine anmuthige Erscheinung« die »Haupterfordernisse für diesen Sport, Gewandtheit, Kraft und Ausdauer in seltenster Weise mit Eleganz und Schicklichkeit zu vereinigen weiß.«49 Mit Fachzeitschriften wie der »Draisena. Erstes und ältestes Sportblatt der radfahrenden Frauen« (1895 gegründet, seit 1897 mit eigener Wiener Redaktion) bekamen Radlerinnen erstmals ein eigenes Forum. Die »Draisena« förderte radfahrende Frauen im Allgemeinen, sollte in ihrer Blattlinie aber als durchaus gesellschaftskonformes Medium verstanden werden. Der Herausgeber und Chefredakteur der Österreichausgabe war ein Mann. In der »Draisena« finden sich unter anderem Porträts radfahrender Frauen oder von Ehepaaren, wobei Rennsportlerinnen dabei nur einen geringen Anteil ausmachten, dazu ReiseErlebnis- oder Veranstaltungsberichte aus dem In- und Ausland, Artikel zu Radmode, Schönheitspflege und Werbeanzeigen. Der Artikel einer Autorin, die unter dem Pseudonym »una pro multis« (eine für Viele) für die »Draisena« 1898 über das Internationale Damenrennen in Berlin berichtete,50 offenbart das umkämpfte und komplexe Image von Rennfahrerinnen, ihren Fürsprecherinnen sowie die Rolle der Medien. Zunächst distanzierte sich die »Draisena«-Redaktion als »Gegnerin […] des Rennsports durch die Frau« von dem Artikel und hielt fest, sie bezweifle »dass das Gebiet des Damenrennfahrens das geeignete Feld ist, auf dem die nach Befreiung ringende Frau ihren Zielen nachgeht.« Dennoch wolle man »eine Stimme aus dem gegnerischen Lager« zu Wort kommen lassen.51 In dem Artikel selbst gibt »una pro multis« einen professionellen Bericht aller Rennen, wobei sie auch Kritik an einer uns bekannten Fahrerin aus Wien übt, die sich im Tandembewerb durch ihre Kleidungswahl ein Handicap zufügte: »Es mag aber an dem geringen Erfolge der Damen Flendrowsky und Schuster nicht zum kleinen Teile ihr weites Kostüm die Schuld getragen haben. Weite Pumphosen und weite Blusen sind beim Wettfahren nicht am Platze, sind bei so einem flotten Tempo 5000 Meter in 7 Mi. 53 Sek nur hinderlich, durch ihre enganliegenden Kostüme waren daher die Französinnen an und für sich schon im Vorteile«.52

Danach unternimmt »una pro multis« eine hellsichtige Analyse der Berichterstattung rund um das Sportereignis. Sie prangert jene Sportkritiker und Journalisten an, die sich als Sittenrichter aufspielen, ohne auf die sportliche Natur der Rennen einzugehen und Rennfahrerinnen herabwürdigen, indem sie, statt über deren Leistung zu berichten, anzügliche und moralisierende Bemerkungen zu 49 50 51 52

Radfahr-Sport, 9. 10. 1896, 1. Una pro multis, Das Damenrennen in Berlin, in: Draisena, 15. 10. 1898, 533–537. Ebd., 533. Ebd., 534.

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Kleidung und Aussehen machten. Beispiele ihrer Aufzählung: »[E]ine unkeusche Zurschaustellung mangelhaft bekleideter weiblicher Körper«, »die Krone alles sportlichen Blödsinns«, »sie fuhr in weitem, bauschigem Kostüm in graziösen schwarzen Pumphosen und in süsser gelber Pumpbluse aus veritabler Seide«.53 Das Resümee von »una pro multis«: »Bedarf der ganze Kampf nun noch weiterer Erklärung? Konkurrenzfurcht. ›Nieder mit den Rennfahrerinnen‹! Lautet die Parole der Rennfahrer und ihrer Presse.«54

IV.

Momentaufnahme 1920er-Jahre

Die Periode von der Jahrhundertwende bis zur Zwischenkriegszeit zeichnet sich durch eine besonders lückenhafte historische Quellenlage zum Damenradsport aus. Während sich in der Formierungsphase öffentliche Debatten zu Frauen am Rad mit Kampfbegriffen wie Emanzipation, Freiheit und Dynamik etablierten und sich andererseits kritische Berichte in der Presse der Frage nach physiologischer, biologischer, hygienischer und geistiger Eignung widmeten, blieb eine breitere Auseinandersetzung mit der Entwicklung des Frauenradsportes für diesen Zeitraum aus. Für die Frau wurde das Rennradfahren als kompetitiver Sport nur als vorübergehende Mode erklärt. 1931 beschrieb ein nostalgischer Rückblick auf die Anfänge des Radfahrens »[d]ie jungen Damen von damals«, die »sich sehr ›revolutionär‹ und ›emanzipiert‹ vor[kamen], wenn sie im kurzen ›Radrock‹, mit der Sportkappe auf der Turmfrisur daherradelten.«55 Die Sportbewegung blühte nach dem Ersten Weltkrieg u. a. als Folge der Beschränkung der Arbeitszeit und der dadurch verfügbaren Freizeit auf. Sport war zugleich Freizeitaktivität und ideologische Körperkultur ; durch seine Ausbreitung und Professionalisierung wurde er zum Wirtschaftszweig. Sportverbände stellten Gesundheit, Moral und die politisch motivierte Idee von Leibeserziehung und Wettbewerb in den Mittelpunkt. So beabsichtigten z. B. VertreterInnen der Arbeitersportbewegung mit der Organisation von eigenen Sportstrukturen den sozialistischen Gedanken, Solidarität und Klassenbewusstsein im Sportkollektiv zu stärken. In diesem Kontext wurde explizit auch der Frauensport gefördert. Marie Deutsch-Kramer (1884–1973) war als Funktionärin des Frauenausschusses des »Arbeiterbund für Sport und Körperkultur in Österreich« (ASKÖ) tätig und publizierte regelmäßig Texte, die den Arbeitersport als »Befreiung der Frau durch den Sport«56 bewarben. Zwar erwähnte sie auch die Radfahrerinnen 53 54 55 56

Ebd., 535–537. Ebd., 537. Lilian., Vom Hochrad zum Motorrad, in: Das Wort der Frau (30. 8. 1931) 26, 3. Marie Deutsch-Kramer, Die Befreiung der Frau durch den Sport, in: Die Frau 38 (Juni 1929) 6, 10–13, 13.

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als Teil der weiblichen Sportbewegung,57 der Rennradsport blieb jedoch offenbar trotzdem unberührt von diesen frauenrechtlichen Interventionen. »Es war wirklich nur ein Zufall, daß wir nicht schon längst auch vom Radfahren gesprochen haben«,58 heißt es in der sozialdemokratischen Frauenzeitschrift »Die Unzufriedene« 1925 als Antwort auf einen Leserinnenkommentar über die unzureichende Berichterstattung zum Radsport für Frauen. Die Leserin wandte sich mit folgender »Unzufriedenheit« an die Redaktion: »In jeder Nummer wird geschrieben, die Frauen sollen gleich den Männern, soweit es Zeit und Gelegenheit zuläßt, Sport betreiben. Und zu allem wird angeeifert: Turnen, Wandern, Schwimmen usw. Und nie ist auch nur eine Silbe vom Radfahren die Rede.« Es gebe »so viele Arbeiterradvereine mit einer großen Zahl weiblicher Mitglieder«, woran zu sehen sei, »daß sich auch auf diesem Gebiet Frauen von Männern nicht zurücksetzen lassen.«59 Die Redakteurin der »Unzufriedenen« versprach in Zukunft öfter über den Radsport zu berichten (was nicht geschehen sollte) und gab ganz im Ton der Pressekommentare des ausgehenden 19. Jahrhunderts zu bedenken: »[N]ur übertreiben darf man nicht. Und es geht bergauf, dann lieber absteigen!«60 In einem weiteren Schreiben zu dieser Beschwerde wandte sich ein Leser an die »Unzufriedene« und meinte »daß an der geringen Beteiligung der Frauen nur diese selbst schuld« seien und »viele Frauen dem Radfahren ablehnend gegenüberstehen.«61 Auch hier gab es einen Verweis darauf, dass sich die Damen eher im Reigenfahren messen sollten und hierbei durchaus eine gute Figur machen würden. Das Fahrrad war mittlerweile zum erschwinglichen Transportmittel avanciert und Frauen, die damit Einkäufe erledigten, in die Arbeit fuhren und Wochenendausfahrten mit der Familie unternahmen, prägten durchaus das Straßenbild. Die Arbeitervereine schmückten sich ebenso mit der formalen Aufnahme von Frauen, diese waren allerdings meistens nur aktiv beim Turn- und Kunstfahren. Die Akzeptanz bei FunktionärInnen und Vereinen erschien weiterhin ungleich verteilt. Diese empfahlen bestimmte Sportarten wie Fußball nur für männliche Mitglieder.62 Weder Werbung noch die Aufstellung eines Sportprogrammes, wie es Ende der 1920er-Jahre der Frauenausschuss des ASKÖ für Sportarten wie

57 58 59 60 61 62

Marie Deutsch-Kramer, Aufstieg, in: Arbeiter-Zeitung, 19. 7. 1931, 8. Für das Radfahren, in: Die Unzufriedene 3 (1925) 37, 4. Ebd. Ebd. Franz Plach, Noch etwas über das Radfahren, in: Die Unzufriedene 3 (1925) 40, 5. Programm für den Frauensport in der Sasi, in: Hans Gastgeb (Hg.), Der ASKÖ 1930 und 1931. Tätigkeitsbericht, Wien 1932, 70–71, 71.

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Gymnastik, Schwimmen und Tennis bestimmte, schien für den Rennradsport vorgesehen zu sein.63 Die meisten Tageszeitungen der Zeit berichteten im Rahmen ihrer UnfallChronik mit Vorliebe von Radfahrerinnen, die entweder Verkehrsunfälle verursachten oder dabei schwer verletzt wurden. Die Absenz des Frauenradsports – selbst im Kontext der Arbeitersportbewegung – auf der einen Seite und das populäre Bild der Alltagsradfahrerin als Verkehrsrisiko auf der anderen Seite konstruierte wesentlich das Image der Frau am Rad. Die Medien ignorierten kritische Stimmen, die diesen Zustand beklagten. Während humoristische Blätter und Sportzeitungen das »geschwinde Mädchen«64 als kuriose schneidige Radfahrerin zitierten und Radfahrerinnen mehrfach als Teil der neuen Sportbewegung erwähnt wurden, las man kaum von Wettbewerben, die von diesen auch ausgetragen wurden.65 Das Bild der Neuen Frau66 und ihrem aktiven, rhythmisch bewegten dynamischen Frauenkörper im Sport war an bestimmte Bedingungen geknüpft. Der katzenbucklige, Hinterteil-exponierende, von Anstrengung gezeichnete Frauenkörper am Rennrad entsprach noch immer nicht der sportästhetischen Programmatik der Radverbände. Während das sports girl in den 1920er-Jahren immer größere Beliebtheit erfuhr, sucht man das Wiener Bild der Neuen Frau am Rennrad in zeitgenössischer Literatur vergebens.

V.

Fragen für die kuratorische Praxis und weitere Forschung

Welche Auswirkungen hat das mutmaßliche Fehlen von sportlichen Vorbildern bzw. der Ausschlussdiskurs von Radsportlerinnen in der Formierungsphase, in der sich Radsport als Männerdomäne etablieren konnte, für das heutige Selbstund Fremdverständnis von Radsportlerinnen – und welchen gesellschaftlichen Mehrwert bringt umgekehrt die Aufarbeitung dieser (Vor)-Geschichte für die Beurteilung von weiblichen Körperleistungen allgemein? Zu fragen ist, mit welchen Diskursen Frauen im Radsport bis heute konfrontiert sind, und welche 63 Ebd. 64 Neues Wiener Tagblatt, 25. 12. 1923. 65 Damenfahrten wurden z. B. im Anschluss an reguläre Radrennen veranstaltet und nicht selten im gleichen Atemzug mit Seniorenfahrten genannt: Vgl. Salzburger Wacht 30. 6. 1922, 5. 66 Vgl. z. B. Gesa Kessemeier, Sportlich, sachlich, männlich: das Bild der ›Neuen Frau‹ in den Zwanziger Jahren. Zur Konstruktion geschlechtsspezifischer Körperbilder in der Mode der Jahre 1920 bis 1929, Dortmund 2000. Olaf Stieglitz, Ikonen einer neuen Freiheit? Das Frauenschwimmen und die Ambivalenzen seiner Sichtbarmachung in den USA zwischen den Weltkriegen, in: Tanja Thomas/Lina Brink/Elke Grittmann/Kaya de Wolff (Hg.), Anerkennung und Sichtbarkeit. Perspektiven für eine kritische Medienkulturforschung, Bielefeld 2017, 69–86.

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Images weiblicher Körperpolitik und traditioneller Geschlechterordnung sich in der medialen Darstellung manifestieren. Nach wie vor sind stereotypisierende Stilmittel im Sportjournalismus weit verbreitet. Leistungen von Frauen werden trivialisiert, als weniger beachtenswert befunden oder schlichtweg ignoriert – Mechanismen, die die Macht des ohnehin dominierenden Männersports aufrechterhalten.67 Oftmals wird von Rennfahrerinnen eine klischeehafte Weiblichkeit erwartet. Sie sollen schnell, aber bitte auch schön sein. Noch 2009 wurde beim Grande Boucle F8minine, der Tour de France für Frauen, täglich nach Etappenende der sogenannte »Preis der Eleganz« verliehen. Junge Sportarten, selbst solche wie der extreme Ultratriathlon, sind so gesehen durchlässiger, was Geschlechterrollen anbelangt, um eine Einschätzung der österreichischen Ultratriathlon-Athletin Alexandra Meixner aufzugreifen.68 Tradierte Geschlechterunterschiede konnten sich hier weniger oder gar nicht manifestieren. Für die kuratorische Praxis stellt sich generell die Frage, welche konkreten Bilder zur Schau gestellt werden, um Frauensportgeschichte richtig und fair darzustellen. Die Geschichtsaufarbeitung sollte im besten Fall weder männliche Sichtweisen reproduzieren, noch einen vereinfachenden Heldinnenmythos schreiben. Ebenso wenig sollte sie Gemeinplätze reproduzieren, wie es zum Teil auch mit dem vielzitierten Ausspruch Rosa Mayreders69 zum Beitrag des Radfahrens zur Emanzipation der Frauen passiert. Ein theoriegeleiteter Zugang, der einen Rahmen für kollektive Kämpfe und Leistungen schafft und diese kontextualisiert, ist, um Jennifer Hargreaves Forschungsansatz70 aufzugreifen, besser geeignet, diese Geschichte zu erzählen, als das erwähnte heroische Narrativ. Dieses, so Hargreaves, sei ohnehin nur Teil der Symbolik einer maskulinistischen und sexistischen Kultur. Werden individuelle Biographien – die angesprochene »runde Biographie«, die es im Fall der österreichischen Rennradpionierinnen und der vielen vergessenen Frauen der österreichischen Sportgeschichte oft gar nicht geben kann – in den Mittelpunkt gestellt und ein Heldinnenmythos gestrickt, schafft dies zwar Aufmerksamkeit für einzelne Leistungen, aber lässt auch vieles ungesagt. Gendergeschulte Sportwissenschaftlerinnen wie Rosa Diketmüller plädieren dafür, Sportlerinnen als Akteurinnen in einem ausdifferenzierten sportlichen Handlungsfeld zu präsentieren, in dem Macht- und Geschlechterverhältnisse verwoben sind und sowohl Pro67 Vgl. dazu etwa Diketmüller, Macht- und Genderdiskurse, 88–89. 68 Vgl. Petra Sturm, Wir sind dann mal weg. Vier Frauen unterwegs in einer ehemaligen Männersphäre, in: Wolfgang Gerlich/Othmar Pruckner (Hg.), Rennradfieber, Wien 2016, 118–120, 120. 69 Rosa Mayreder, Die Dame (1905), in: Gisela Brinker-Gabler (Hg.), Zur Psychologie der Frau. Die Frau in der Gesellschaft. Frühe Texte, Frankfurt am Main 1979, 156. 70 Jennifer Hargreaves, Heroines of Sport: The Politics of Difference and Identity, London 2000, 5–10.

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zesse des Machterhalts als auch deren Dekonstruktion möglich sind.71 Das gleiche Bewusstsein über diese Prinzipien des Undoing-Gender sollte für die historische Erforschung von weiblichen Sportpraxen und ihren Protagonistinnen eingefordert werden.

71 Diketmüller, Macht- und Genderdiskurse, 86.

Gilbert Norden

Turnen und Sport an Knabenmittelschulen in Österreich 1890 bis 1914. Am Beispiel der Vorarlberger und Wiener Schulen

I.

Prolog

Ausgangspunkt der folgenden Ausführungen sind vier Fotos, die auf der Seite eines Mitteilungsblattes paarweise angeordnet sind (Abb. 1). Die Fotos zeigen Schüler des Jesuiten-Gymnasiums Stella Matutina1 beim Rodeln auf einer anstaltseigenen Rodelbahn in Feldkirch 1911. Auf einem dieser Fotos, nämlich jenem im rechten oberen Quadranten der Seite, ist (im linken Bildvordergrund) ein Mann zu erkennen, der beim Zieleinlauf die Fahrzeit stoppt. Die kürzeste Fahrzeit auf der 280 m langen, »mit Schnee- und Eisdämmen eingefassten« Bahn betrug – wie uns der entsprechende Begleittext wissen lässt – 30 Sekunden.2 Also war der schnellste Rodler mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 9,3 m pro Sekunde oder 33,5 km pro Stunde unterwegs. Rodeln mit derartiger Geschwindigkeit erfordert ein gewisses Ausmaß an Wagemut und fahrtechnischen Fertigkeiten. Davon zeugen nicht zuletzt die Fotos, welche die Einführung von Sport – in Ergänzung zum traditionellen Turnen – in Mittelschulen symbolisieren, indem sie die »sportlich überaus hoch entwickelte Kunst« des Feldkircher Schülerrodelns3 soweit kameratechnisch möglich ins Bild bringen. Über die Verbreitung solcher Bilder können Images gebildet oder stabilisiert werden, in diesem Fall der Ruf einer Vorzeigeanstalt in Bezug auf die sportliche Betätigung der Schüler. Dieses Image hatte die Stella Matutina nicht zu Unrecht, verfügte sie doch über mehrere Rodelbahnen, mehrere Spielplätze, die im Winter zu Eislaufplätzen umgewandelt wurden, mehrere Spielsäle, ein Freibad und ab 1912 – als einzige Mittelschule im damaligen Österreich – über eine eigene Schwimmhalle. Die nahezu optimale Ausstattung wurde entsprechend genutzt, zumal an der Anstalt täglich mindestens eineinhalb Stunden Sport zum 1 Stella Matutina = »Morgenstern« – eine Bezeichnung der Mutter Jesu Maria. 2 Aus der Stella Matutina 3 (März 1911) 1, 29. 3 Zit. n. Alois Koch, Spiel und Sport am Jesuitenkolleg »Stella Matutina« in Feldkirch, in: Willi Schwank/Alois Koch (Hg.), Begegnung (Schriftenreihe zur Geschichte der Beziehung zwischen Christentum und Sport, Band 4), Aachen 2003, 13–35, 23.

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Gilbert Norden

Abb. 1: Rodeln auf einer Rodelbahn der Stella Matutina, vierteilige Fotoserie. (Quelle: Aus der Stella Matutina 3, März 1911, 1, 30)

Turnen und Sport an Knabenmittelschulen in Österreich 1890 bis 1914

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Pflichtprogramm eines jeden Zöglings gehörten. Weil so viel Sport betrieben wurde, war das Niveau in verschiedenen Sportarten hoch: »Selbst größere Knaben (big boys), die aus englischen Collegien ins Pensionat kommen«, stellte die Schuldirektion voll Stolz fest, »müssen gute Spieler sein, um es einem alten Feldkircher im Fußball, Hockey, Rounders […] gleich thun zu können«.4 Brauchte also die Stella Matutina als »Sportakademie« – wie sie später in Thomas Manns Roman »Der Zauberberg« bezeichnet wurde – den Vergleich mit Schulen in England, dem »Mutterland des Sports«, nicht zu scheuen, so stellt sich die Frage, wie es im Hinblick auf Sport und Turnen um andere Knabenmittelschulen in Österreich bestellt war. Genau dieser Frage soll im Folgenden nachgegangen werden.

II.

Forschungsstand und Untersuchungsrahmen

Versucht man diese Frage auf Basis der vorhandenen Forschungsliteratur zu klären, so stellt man fest, dass nur wenige Studien zum Thema Turnen und Sport5 an Mittelschulen (Gymnasien, Realgymnasien und Realschulen) im Österreich des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts vorliegen. Es handelt sich dabei einerseits um Fallstudien über einzelne Schulen,6 andererseits um eine Übersichtsstudie von Strohmeyer, die hauptsächlich schulrechtliche und curriculare Rahmendaten und in einer späteren Fassung auch statistische Angaben zur Entwicklung des Sports an den Mittelschulen in der gesamten westlichen Reichshälfte (»Cisleithanien«) der Österreichisch-Ungarischen Monarchie enthält.7 Was daher fehlt sind – wie Strohmeyer ausdrücklich anmerkt8 – differenziertere Untersuchungen, die sich eingehend mit der nämlichen Entwicklung in den dem heutigen Österreich entsprechenden Kronländern oder Teilen dieser Länder befassen. Einen Schritt zur Füllung dieser Forschungslücke stellt der vorliegende Beitrag dar. Sein Ziel ist es, die Entwicklung von Turnen und Sport 4 I. Jahresbericht des öffentlichen Privat-Unter-Gymnasiums an der Stella matutina zu Feldkirch 1891/92, Feldkirch 1892, 35; Rounders = Schlagball. 5 Unter »Sport« wird hier im engeren Sinne jenes System der Leibesübungen verstanden, das vorwiegend in England entstanden und durch die Prinzipien Leistung, Wettkampf und Rekord gekennzeichnet ist. Im weiteren Sinne dazugehörig sind alle anderen Arten von Leibesübungen und somit auch das in Deutschland begründete und auf Vielseitigkeit der Übungen ausgerichtete Turnen. 6 Z. B. Koch, Spiel und Sport. 7 Johannes Strohmeyer, Untersuchungen zur Entwicklung der Leibesübungen an den Schulen Wiens im 19. Jahrhundert (bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges), phil. Diss., Universität Wien 1959, 185–232; Hannes Strohmeyer (hg. vom Bundesministerium für Unterricht und Kunst), Der Spielerlaß 1890 und die Entwicklung der frühen schulischen Leibeserziehung in Österreich, Wien 1991, 17–22. 8 Strohmeyer, Untersuchungen zur Entwicklung der Leibesübungen, 399.

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an den Knabenmittelschulen in der Metropole Wien und im Lande Vorarlberg in den letzten zweieinhalb Jahrzehnten vor Beginn des Ersten Weltkrieges zu beschreiben. Im Zuge der Darstellung sollen sowohl Gemeinsamkeiten in der Entwicklung, als auch diesbezügliche Unterschiede zwischen Schulen herausgearbeitet werden. Als Rahmen, in dem sich die Arbeit bewegt, wird die Theorie sozialer Institutionen verwendet.9 Institutionen dienen – so die Theorie – der Befriedigung wichtiger Bedürfnisse in einer Gesellschaft. Eines dieser Bedürfnisse ist jenes nach körperlicher Bewegung. Dieses Bedürfnis kam – wie damals zunehmend erkannt wurde – im Schulbetrieb, wo die Schüler zum stundenlangen Sitzen auf Holzbänken gezwungen waren, zu kurz.10 Um dem Abhilfe zu verschaffen wurden seitens des »k. k. Ministeriums für Cultus und Unterricht« im letzten Vierteljahrhundert vor Kriegsbeginn wichtige Schritte zur Institutionalisierung von Turnen und Sport an Mittelschulen gesetzt. Einer dieser Schritte war die Obligaterklärung des bis dahin an Gymnasien fakultativen Turnunterrichts zunächst probeweise an verschiedenen Gymnasien, dann, 1909, grundsätzlich an allen Knabengymnasien. Der Obligaterklärung ging der Erlass »betreffend die Förderung der körperlichen Ausbildung der Jugend an den staatlichen und an den mit dem Öffentlichkeitsrechte beliehenen Mittelschulen«, kurz »Spielerlass« oder – unter Hinzufügung des Ministernamens – »Gautsch’scher Spielerlass« genannt, voraus. Sein Verlautbarungsjahr 1890 wurde als Beginn des Untersuchungszeitraumes gewählt, weil die Verlautbarung eine Zäsur in der Entwicklung der körperlichen Ausbildung an Mittelschulen bedeutete. In diesem Erlass ging es nämlich nicht bloß – wie die Kurzbezeichnung nahelegt – um die Erweiterung des traditionellen Hallenturnens durch Sport- und Bewegungsspiele, sondern viel umfassender um die Einführung einer sportlichen Freiluftbetätigung überhaupt.11 Zu diesem Zweck sollten sich die Direktionen der Schulen wegen Begünstigungen für Schüler in Bädern und bei der Erteilung des Schwimmunterrichts an die betreffenden Einrichtungen wenden und sollten die Schüler zur »fleißigen Benützung« dieser Einrichtungen »aufgemuntert« werden. In analoger Weise war im Winter das Eislaufen zu fördern. Die Einrichtung besonderer Plätze zur Pflege der »Jugendspiele« sollte »angestrebt« und die Einführung der Spiele als Freigegenstand – ergänzend zum 9 Kurt Weis, Sport und Olympische Spiele als moderne soziale Institution, in: Hans-Joachim Hoffmann-Nowotny (Hg.), Kultur und Gesellschaft. Gemeinsamer Kongress, DeutscheÖsterreichische-Schweizerische Gesellschaft für Soziologie, Zürich 4.–7. 10. 1988, Zürich 1989, 435–437. 10 Ernst Gerhard Eder, Schüler/innen, Schulen und Bildungspolitiken seit 1770, in: Andreas Weigl/Peter Eigner/Ernst Gerhard Eder (Hg.), Sozialgeschichte Wiens 1740–2010. Soziale und ökonomische Ungleichheiten, Wanderungsbewegungen, Hof, Bürokratie, Schule, Theater, Innsbruck/Wien/Bozen 2015, 585–780, 693–697. 11 Hannes Strohmeyer, Der »Spielerlaß« von 1890. Eine Idee ist hundert Jahre alt!, in: Leibesübungen – Leibeserziehung (LÜ-LE) 44 (1990) 5, 2–6, 2.

Turnen und Sport an Knabenmittelschulen in Österreich 1890 bis 1914

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obligaten oder fakultativen Turnunterricht – versucht werden. Außerdem galt es – den Intentionen der Unterrichtsbehörde gemäß – vermehrt Wanderungen mit den Schülern in die freie Natur zu unternehmen. Darüber hinaus, und gleichsam als Vorahnung der kommenden militärischen Auseinandersetzung, empfahl ein Ministerialerlass 1910 die Einplanung von fakultativen Schießübungen für die beiden obersten Jahrgänge der Knabenmittelschulen. Zudem wurde kurz darauf die Aufnahme vormilitärischer Übungen in einem neuen Turnlehrplan für die Knabenmittelschulen festgeschrieben. Hinzu kamen noch Regelungen für einen fakultativen Fechtunterricht. Über die Umsetzung all dieser Regelungen und Empfehlungen sowie die dabei erzielten Erfolge mussten die Schulen in einem eigenen Kapitel in den gedruckten Jahresberichten Bericht erstatten. Die Berichte stellen eine informationsreiche Quelle dar. Sie wurde freilich in der österreichischen Sporthistoriographie bislang – von einer Examensarbeit zum Turnunterricht in einem früheren als in der vorliegenden Studie behandelten Zeitraum abgesehen12 – kaum genutzt. Umso mehr macht sich die vorliegende Untersuchung diese Quelle zunutze, indem sie die Jahresberichte von fünf Vorarlberger und 37 Wiener Knabenmittelschulen einer systematischen Auswertung unterzieht. Damit wurden sämtliche Vorarlberger und ca. 85 Prozent der Wiener Knabenmittelschulen in die Untersuchung einbezogen.13

III.

Untersuchungsergebnisse

Die Ergebnisse werden zunächst in Form einer Zusammenschau der untersuchten Schulen dargestellt. Anschließend wird ein Vergleich zwischen Vorarlberger und Wiener Schulen angestellt.

12 Robert Mader, Die Jahresberichte österreichischer höherer Schulen als sportwissenschaftlicher Quellenbereich (Zusammenfassende Darstellung für Wien und Niederösterreich für die Jahre 1850–1890), Hausarbeit, Institut für Sportwissenschaften, Universität Wien Wintersemester 1978/79. 13 Der Erhebung in Wien wurden die heutigen Stadtgrenzen zugrunde gelegt. Mangels Verfügbarkeit der entsprechenden Jahresberichte konnten das Leopoldstädter Realgymnasium, das Neubauer und das Penzinger Gymnasium, die Militäroberrealschule im 3. Bezirk und die Simmeringer Realschule nicht in die Untersuchung einbezogen werden. Ausgeklammert wurde zudem die Landstraßer Realschule, weil es sich hierbei um eine reine Unter-Realschule handelte.

90 3.1

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Turnen und Sport an Knabenmittelschulen: Zusammenschau der Vorarlberger und Wiener Schulen

3.1.1 Turnen An Realschulen war Turnen seit geraumer Zeit ein obligates Fach und wurde so auch an allen untersuchten Schulen dieses Typs unterrichtet. An Gymnasien war Turnen – wie erwähnt – grundsätzlich Freifach, ehe 1909 die diesbezüglichen Bestimmungen an jene der Realschulen angeglichen wurden (nur für männliche Jugendliche). Immerhin hatte zuvor schon ca. ein Fünftel der untersuchten Gymnasien das Turnen unter die obligaten Gegenstände aufgenommen. Umgekehrt führten annähernd genauso viele Gymnasien das Turnen im letzten Schuljahr vor Kriegsbeginn, fünf Jahre nach der allgemeinen Obligaterklärung also, noch immer als Freifach. Es handelte sich dabei einerseits um Gymnasien ohne eigenen Turnsaal, andererseits um das Sophien-Gymnasium im 2. Wiener Gemeindebezirk, das über den größten Turnsaal unter allen Wiener Mittelschulen verfügte, aber dessen ungeachtet das Turnen weiterhin nur als Freifach betrieb.14 Weshalb die Unterrichtsverwaltung dem Sophien-Gymnasium diese Ausnahme gestattete, ist nicht klar. Mehr Klarheit besteht in einem anderen, ähnlich gelagerten Fall, nämlich in jenem der Stella Matutina: Ihr wurde die Abhaltung des Turnunterrichts im Umfang von nur einer anstatt der sonst vorgeschriebenen zwei Wochenstunden genehmigt – mit Rücksicht auf die in »so ungewöhnlichem Ausmaß« gepflegten sportlichen Aktivitäten, wie es in der Begründung der Genehmigung hieß.15 Wurde also an der Stella Matutina weniger geturnt als allgemein verlangt, so pflegten andere Schulen das Turnen mehr als vorgeschrieben: Zwei Drittel der Schulen hielten gegen Ende des Untersuchungszeitraumes zusätzliche Turnstunden ab, die von den Schülern auf freiwilliger Basis besucht werden konnten. Diese als »Kürturnen« bezeichneten Stunden dienten auch der Heranbildung von Vorturnern. Zu eben diesem Zweck wurden an der Währinger Realschule zusätzlich eigene »Vorturnerstunden« abgehalten.

14 Max Guttmann, Das zweite Dezennium körperlicher Jugendbildung an den Mittelschulen Österreichs, 1901–1911, in: Zeitschrift für die österreichischen Gymnasien 62 (1911), 1117–1138, 1124. 15 Koch, Spiel und Sport, 20.

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3.1.2 Sport »Jugendspiele« Alle Schulen haben Spiele abgehalten, wenn auch nicht alle den gesamten Untersuchungszeitraum hindurch. So führte etwa die Margaretner Realschule jahrelang keine Spiele durch und begründete diese Vernachlässigung mit dem Fehlen eines geeigneten Spielplatzes. Die Beschaffung eines solchen war auch für viele andere Schulen schwierig. Und selbst wenn Schulen das Problem gelöst zu haben glaubten, konnte es leicht sein, dass im damaligen, bevölkerungsmäßig rasch wachsenden Wien ein Spielplatz dem Bauboom zum Opfer fiel und die Platzsuche von neuem begonnen werden musste. Unterstützung seitens der Unterrichtsverwaltung gab es dabei wenig, vielmehr waren die Schulen auf das Entgegenkommen privater Grundbesitzer, platzbesitzender Jugendspiel-, Turnund Sportvereine, des Hofärars, der kommunalen Verwaltung oder Militärbehörden angewiesen. Das Mariahilfer Gymnasium etwa hätte jahrelang überhaupt keine Spiele durchführen können, wenn ihm nicht das k.u.k. Platzkommando Wien den Schmelzer Exerzierplatz für Spielzwecke überlassen hätte. Der Platz war von der Schule aus nur nach längerem Anmarsch erreichbar. Damit war die Schule nicht alleine, denn lange Wege zum Spielplatz mussten auch andere Schulen in Kauf nehmen. Wieder andere Schulen mussten mit dem größenmäßig oft wenig geeigneten Schulhof als Spielplatz vorliebnehmen und konnten größeren Raum erfordernde Spiele lediglich im Rahmen von Ausflügen durchführen. Nur wenige Schulen waren in der glücklichen Lage, über ausreichend große und zugleich günstig gelegene Plätze dauerhaft zu verfügen. Zu nennen sind hier – neben der eingangs erwähnten Stella Matutina – vor allem das JesuitenGymnasium in Kalksburg und die Theresianische Akademie im 4. Wiener Gemeindebezirk. An diesen Eliteschulen wurden denn auch täglich Spiele veranstaltet und zwar im Rahmen des Internatsbetriebes. An den Schulen ohne Internatsbetrieb variierte die Spielhäufigkeit, um sich gegen Ende des Untersuchungszeitraumes meist auf zweimal wöchentlich zu belaufen.16 Einer der beiden wöchentlichen Spieltermine war oft der Samstagnachmittag, mitunter sogar Sonntag. Selbst während der Sommerferien wurden Schulspiele abgehalten, wenn auch nur an wenigen Schulen, an denen sich besonders engagierte Lehrer oder Assistenten zur Abhaltung bereitfanden. Die Beteiligung der daheimgebliebenen Schüler an diesen »Ferienspielen« war rege. Hingegen war die Beteiligung an den Spielen während des Schuljahres an den einzelnen Schulen sehr unterschiedlich. Sie variierte im letzten Schuljahr vor Kriegsbeginn – wenn man von den beiden Schulen mit obligater Teilnahme, nämlich der Stella Matutina und dem Gymnasium Kalksburg, absieht – zwischen 16 Prozent an der Maria16 Gemäß einer entsprechenden Anordnung der niederösterreichischen Landesschulbehörde.

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hilfer Realschule und 80 Prozent an der Favoritner Realschule. An der Mehrzahl der Schulen betrug sie unter 50 Prozent. Diese mehrheitlich doch eher niedrige Beteiligung ist nicht zuletzt vor dem Hintergrund fehlender Spielgeräte und der schon erwähnten großen Entfernung und geringen Geeignetheit von Spielplätzen zum Vollbetrieb bestimmter Spiele zu sehen. Das Fußballspiel etwa konnte an manchen Schulen – mangels Spielfelder in ausreichender Größe – nur mit verringerten Spielerzahlen praktiziert werden. Es war aber an den meisten Schulen das attraktivste Spiel. Am Döblinger Gymnasium führte ein Wegfall entsprechender Spielgelegenheiten zu einer Reduktion der Teilnahme der Schüler der oberen Klassen an den Schulspielen überhaupt. Ohnehin beteiligten sich die Schüler dieser Klassen an den Spielen weniger als jene der unteren Klassen, aber das Fußballspiel betrieben sie mit wahrer Leidenschaft. Kaum weniger leidenschaftlich betrieben wurde das Tennisspiel und zwar dort, wo Schulen den Schulhof zum Tennisplatz adaptiert oder sonst wo einen Platz angelegt oder einen solchen für die Schüler gemietet hatten. Dies war in jener Zeit an jeder vierten Schule der Fall. Da der Andrang zum Tennisspiel groß war, wurde am Landstraßer Gymnasium und Floridsdorfer Realgymnasium nicht nur nachmittags, sondern auch schon frühmorgens, vor Beginn des Unterrichts, bzw. Sonntag vormittags gespielt. Neben Tennis, Fußball und einigen anderen Sportspielen (z. B. Cricket, Tischtennis) wurden noch zahlreiche Turn- und bodenständige Bewegungsspiele betrieben. Es handelte sich dabei meist um Ball- und Laufspiele. Beispiele für Erstere sind Faust-, Korb- und Tamburinball,17 für Letztere Barlaufen, Drittenabschlagen und Fuchs aus dem Loch. Hinzu kamen noch Kampfspiele wie Tauziehen, und Spiele mit Kugeln (z. B. Boccia) oder verwandten Gegenständen (z. B. Watschelen).18 In der Vielfalt der betriebenen Spiele wichen die einzelnen Schulen mitunter stark voneinander ab. So wurden etwa am Gymnasium Bregenz und an der Realschule Dornbirn dreimal bzw. mehr als dreimal so viele verschiedene Spiele durchgeführt wie am Zisterzienser-Gymnasium Mehrerau. Leichtathletik Die damals meist als »volkstümliche Übungen« bezeichnete Leichtathletik wurde an etwas mehr als der Hälfte der Schulen im Rahmen der »Jugendspiele« oder im Turnunterricht praktiziert. Dazu gehörten verschiedene Übungen im Werfen, Laufen und Springen. Die schwierigste Übungsart dieser Reihe, das 17 Ein Spiel, bei dem ein kleiner Gummiball mittels einer Trommel über eine Leine ins gegnerische Spielfeld gebracht wurde. Es ist heute in Vergessenheit geraten. 18 Watschelen = ein im damaligen Vorarlberg verbreitetes Wurfspiel mit Metallplatten oder -scheiben.

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Stabhochspringen, wurde an knapp jeder vierten Schule gepflegt, wobei die Leistungen im Laufe der Jahre deutlich anstiegen. Schließlich wurde am Elisabeth-Gymnasium (im 5. Wiener Gemeindebezirk) eine Höhe von 3,10 m übersprungen. Wassersport Mit eigenen Schwimmbädern waren in den letzten Friedensjahren nur drei Schulen, nämlich die Theresianische Akademie, das Gymnasium Mehrerau und – wie einleitend erwähnt – die Stella Matutina, ausgestattet. Mehr als dreimal so viele Schulen, ca. ein Viertel aller Schulen also, mieteten Bäder stundenweise an, um den Schülern Gelegenheit zum gemeinsamen Schwimmen unter Ausschluss sonstiger Badegäste zu bieten. Zusätzlich noch erwirkten manche dieser Schulen den Schülern Begünstigungen bei der Benützung anderer Bäder. Ebensolche Begünstigungen für die Schüler erreichten alle übrigen Schulen, viele sogar den gesamten Untersuchungszeitraum hindurch. Lediglich für Schüler der Realschulen in Fünfhaus und Favoriten gab es jahrelang keine Begünstigungen bei der Benützung von Bädern. In Favoriten bestand im ganzen Bezirk kein Bad und es bedurfte wiederholter Ansuchen seitens der dortigen Realschule und langer Verhandlungen mit Badbesitzern anderer Bezirke, um solche Begünstigungen für die Schüler zu erlangen. Ungeachtet der Bezirkszugehörigkeit gewährte schließlich der Wiener Stadtrat wenige Wochen vor Kriegsbeginn allen Mittelschülern eine Begünstigung, nämlich die unentgeltliche Benützung des Strandbades »Gänsehäufel«. Begünstigungen wie diese bezogen sich oft nicht nur auf den Eintritt in die Bäder, sondern auch auf den dort von den Betreibern und Vereinen angebotenen Schwimmunterricht bzw. -sport. Um Schüler auf den Schwimmunterricht vorzubereiten, führten einzelne Schulen Übungen im »Trockenschwimmen«, auf Schwimmböcken und Schwimmgurten, im Turnsaal oder Schulhof durch. An knapp jeder vierten Schule wurde der Schwimmunterricht vom Turnlehrer selber, an der Theresianischen Akademie von einem eigens angestellten Schwimmlehrer erteilt. Schwimmen zu können war Voraussetzung für die Teilnahme an Übungen im Rudern, die an zwei Fünftel der Schulen angeboten wurden. Es handelte sich dabei sowohl um Übungen im Wanderrudern, als auch um solche im Wettrudern. Die Übungen wurden oft in Zusammenarbeit mit Rudervereinen veranstaltet. Ebenfalls in Zusammenarbeit mit einem entsprechenden Verein wurden am Erzherzog Rainer-Gymnasium (im 2. Wiener Gemeindebezirk) Übungen im Segelsport abgehalten. Sie blieben aber – ebenso wie die an einzelnen Schulen durchgeführten Wasserballspiele – eine Randerscheinung.

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Wandern und Radsport An allen Schulen wurden Wanderungen durchgeführt, aber Häufigkeit, Dauer und Art derselben waren unterschiedlich. Das Spektrum reichte von einer Wanderung jährlich bis zu alle 14 Tage in einzelnen Klassen,19 von halbtägigen, über Tages- bis zu mehrtägigen Wanderungen etwa während der Oster- oder Pfingstferien, von Kurzwanderungen bis zu Wanderungen, bei welchen mehr als 30 km am Tag zurückgelegt wurden, von Klassenwanderungen, über Schulwanderungen bis zu Wanderungen unter Beteiligung der Eltern der Schüler, von reinen Wanderungen, über Wanderungen in Verbindung mit Ball-, Scherz- und Neckspielen bis zu Wanderungen in Verbindung mit militärischen Bewegungsspielen, von beschaulichen Wanderungen bis zu »Übungsmärschen ohne Rast oder Einkehr in ein Wirtshaus«, von Wanderungen mit Gesang und Trommelmusik bis zu »Wanderungen in sehr scharfem Schritte« oder »schnellen Märschen«, von einfachen Wanderungen bis zu schwierigen Bergtouren mit Kletterpartien am Seil, von »Wanderungen soweit es die Witterungsverhältnisse gestatteten« bis zu »Dauerwanderungen bei Schlechtwetter«, die der Abhärtung dienten und nicht ungefährlich waren. Ein Beispiel für Letztere ist eine an der Neubauer Realschule durchgeführte Wanderung »auf die Sophienalpe (4 Stunden) auf teils vereisten, teils durchweichten Wegen bei Schneegestöber zum größeren Teile in der Dunkelheit«.20 Daraus wird ersichtlich, dass den Schülern bei solchen Wanderungen einiges an Mut und Anstrengung abverlangt wurde. Dies galt mehr noch für Bergtouren, wie sie an der Dornbirner Realschule und insbesondere an der Stella Matutina durchgeführt wurden. An Letzterer waren Marschzeiten von sieben bis elf Stunden am Tag und das Besteigen von bis zu 2.700 m hohen Gipfeln auch für die Jüngsten fast selbstverständlich. Lediglich die Besteigung des 3.300 m hohen Piz Buin blieb einer Gruppe auserlesener Schüler vorbehalten. Neben Berg- oder anderen Wanderungen wurden an jeder zweiten Schule Radtouren veranstaltet. Dem ging ein Unterricht im Radfahren voraus oder die Teilnahme beschränkte sich auf Schüler, die anderswo das Radfahren erlernt hatten. Die Wegstrecken, die mit im Radfahren versierten Schülern zurückgelegt wurden, waren – wenn man die damaligen Straßenverhältnisse berücksichtigt – beachtlich. Sie beliefen sich z. B. am Josefstädter Gymnasium im Schuljahr 1911/ 12 auf 30 bis 42 km im Falle von Halbtagestouren und 67 bis 83 km im Falle von Ganztagestouren. Mitunter wurden auch zweitägige Touren unternommen. Eine solche, von der Mariahilfer Realschule veranstaltete Tour führte von Wien über Wiener Neustadt, Frohsdorf und Burg Forchtenstein nach Ödenburg und am nächsten Tag über Mörbisch, Rust, Donnerskirchen, Ebreichsdorf und Laxen19 Nicht berücksichtigt sind hier »Spaziergänge«. 20 60. Jahresbericht der k. k. Staats-Realschule im VII. Bezirke in Wien 1910/11, Wien 1911, 69.

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burg zurück. Über solche Tourenfahrten hinaus wurde vereinzelt auch Radpolo oder -ball gespielt sowie das Reigenfahren geübt. Eis-, Rodel-, Ski- und »Schneeburgsport« Alle Schulen haben das Eislaufen gefördert, indem sie Begünstigungen für Schüler bei oft mehreren Eislaufplätzen erwirkten oder eigene Eislaufplätze anlegten. Solche schuleigenen Plätze – häufig handelte es sich dabei um entsprechend umgewandelte Schulhöfe – wurden von jeder siebenten Schule bereitgestellt. Zudem hatten sich die Direktoren der Mittelschulen im 1., 2., 3., 9. und später auch 20. Wiener Gemeindebezirk zusammengeschlossen und ein Comit8 gebildet, welches für die Verwaltung eines Eislaufplatzes im Augarten (im 2. Bezirk) verantwortlich zeichnete. Der Platz war vom Obersthofmeisteramt zur Verfügung gestellt worden, wurde später verpachtet und konnte von den Schülern der betreffenden Schulen stets zu sehr günstigen Bedingungen benützt werden. Dadurch und aufgrund der Vielzahl anderer zu ermäßigten Preisen oder gratis benutzbarer Eislaufplätze ergaben sich reichlich Gelegenheiten zum Eislaufen und dies auch für unbemittelte Schüler, zumal etliche Schulen diesen Schülern Eislaufschuhe leihweise zur Verfügung stellten. Weiters übernahmen Schulen die Beaufsichtigung ihrer eislaufenden Schüler auf näher gelegenen Plätzen oder veranstalteten Exkursionen zu weiter entfernten Plätzen wie von Wien zum zugefrorenen Laxenburger Schlossteich. Dort und auf einigen anderen Plätzen wurde auch das Eishockeyspiel gepflegt. Auch für das Eiskunstlaufen, Eistanzen und Eisschießen gibt es vereinzelte Beispiele. Neben dem Eissport wurde an drei Viertel der Schulen das Rodeln betrieben. An den Gymnasien Kalksburg, Theresianische Akademie und Stella Matutina boten sich dazu auf dem jeweiligen Anstaltsgelände ausreichend Gelegenheiten. An den übrigen Schulen, die Rodeln anboten, wurden zu diesem Zweck Ausflüge durchgeführt. In ähnlicher Weise veranlasste auch das damals erst in den Anfängen stehende Skilaufen Ausflüge. So führten skibegeisterte Lehrer ihre Schüler zu Skiübungen oder -kursen hinaus in die nahe oder entfernte Schneelandschaft. Den Anfang machte dabei ein Lehrer an der Zweiten Leopoldstädter Realschule im Jahre 1906. Sein Beispiel und jene anderer Pioniere des Schulskilaufs in ganz Österreich21 machten bald Schule, sodass Skiübungen oder -kurse schließlich an knapp zwei Drittel der Schulen durchgeführt wurden. Für Wiener Schüler wurden solche Übungen in der Dauer von einem halben oder ganzen Tag und Kurse in der Dauer von zwei bis sieben Tagen meist im Wienerwald bzw. in Lilienfeld, Mariazell, Mitterbach, Mürzzuschlag, St. Ägyd a. 21 Rudolf Müllner, Skilauf als »Volksübung« – Die Frühphase der Entwicklung von Schulskilauf und Schulskikursen in Österreich bis 1930, in: Spectrum der Sportwissenschaften 25 (2013) 1, 44–63, 49–50.

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Neuwalde, Steinhaus a. Semmering, Türnitz oder im Rax-, Schneeberg-, Wechselgebiet, vereinzelt auch in Admont, Bad Aussee, Radstadt oder Schladming, abgehalten. Um Schülern die Teilnahme an den Kursen und Übungen zu erleichtern, stellten manche Schulen Leihski zur Verfügung oder erwirkten entsprechende Leihmöglichkeiten bei Skivereinen. Dazu kamen noch Preisermäßigungen bei der Anreise und vereinzelt auch Zuschüsse aus der Schülerlade. Trotzdem waren die Kosten erheblich, sodass sich etliche Schüler eine Teilnahme nicht leisten konnten. Für jeden Schüler leistbar war hingegen die Beteiligung am »Schneeburgsport«. Es handelte sich dabei um keine Sportart im engeren Sinne, sondern um den Bau von Schneeburgen und Verwendung derselben – dem Zeitgeist entsprechend – für Kriegsspiele. Einen Eindruck davon gibt der folgende Auszug aus einem diesbezüglichen Bericht der Stella Matutina: »Einige Türme [der Schneeburg, d. Verf.] erreichten bei einem Durchmesser von 4 bzw. 6 m die ansehnliche Höhe von 8–9 m und ein anderer hatte noch in 6 m Höhe einen Umfang von 19 m. Die Mauern waren 11/2 - 21/2 m dick […]. Damit aber der kriegerische Einschlag nicht fehlte, wurden wiederholt auf die ganz oder fast vollendete Burg regelrechte Stürme ausgeführt, wobei die eine Hälfte der Division mit Schneeballen und Kletterkünsten die Burg zu nehmen, die andere von den Zinnen und Türmen herab die Angreifer abzuwehren suchten«.22 Solchen Kriegsspielen im Schnee wurde etwa am Gymnasium Kalksburg viel Zeit gewidmet, wie uns eine diesbezügliche Stundenaufstellung im Jahresbericht wissen lässt.23 Reiten, Fechten, Schießen, Exerzieren und kriegerische Geländespiele Das gerade erwähnte Gymnasium Kalksburg war neben der einst als »Ritterakademie« gegründeten und eine entsprechende Tradition wahrenden Theresianischen Akademie die einzige Schule, die Reitunterricht und -übungen abhielt. Und ebenso wie die Theresianische Akademie pflegte diese Schule traditionell einen weiteren »ritterlichen Sport«, nämlich das Fechten (Abb. 2), welches sich als Schulsport erst in den letzten Jahren vor Kriegsbeginn weit verbreitete, um schließlich an insgesamt drei Viertel der Schulen unterrichtet zu werden. Für die Teilnahme an diesem Unterricht mussten die Schüler in der Regel einen monatlichen Beitrag bezahlen, wobei aber Mittellose von dieser Gebühr befreit waren und meist auch die Fechtutensilien kostenlos zur Verfügung gestellt bekamen. Als Fechtlehrer fungierten Turnlehrer, Fechtmeister und 22 XIX. Jahresbericht des öffentlichen Privatgymnasiums an der Stella matutina zu Feldkirch 1909/10, Feldkirch 1910, 34 u. 36. 23 Jahresbericht des Gymnasiums der Gesellschaft Jesu in Kalksburg für das Schuljahr 1909/10, Kalksburg 1910, 84.

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Armeeoffiziere. Letztere leiteten in der Regel auch den Schießunterricht, der in den letzten Vorkriegsjahren an zwei Drittel der Schulen erteilt wurde. Der Unterricht fand meist im Schulgebäude oder -hof statt, bevor auf Schießständen mit scharfer Munition geschossen wurde. Die hierin zum Ausdruck kommende »Militarisierung der Schulen« zeigte sich mitunter auch in der Abhaltung von Exerzierübungen und großangelegten kriegerischen Geländespielen. Solche Spiele ähnelten Militärmanövern und an der Alsergrunder Realschule nahmen daran 240 bis 260 Schüler, an der Ottakringer Realschule 180 Schüler teil.

Abb. 2: Fechtunterricht am Jesuiten-Gymnasium Kalksburg. (Quelle: Jahresbericht des Gymnasiums der Gesellschaft Jesu Kalksburg über das Schuljahr 1906/07, Kalksburg 1907, unpaginiert zwischen den Seiten 87 und 88)

3.1.3 Wettkampfveranstaltungen Der Schießunterricht schloss fast immer mit einem Bestschießen ab, wofür Schuldirektionen, Lehrkörper, Militärbehörden, Offizierskorps, patriotische Verbände, Gemeinden und prominente Persönlichkeiten Preise spendeten. Das Bestschießen wurde von den einzelnen Schulen meistens als Fest veranstaltet. Darüber hinaus organisierten Schulen vielfach noch andere interne turnerische und sportliche Wettkämpfe. Hinzu kamen Wettkämpfe zwischen Schulen. Der erste derartige Wettkampf fand bereits 1891 in Wien statt: Eine Mannschaft des Franz Joseph-Gymnasiums (1. Bezirk) maß sich mit jener des Akademischen

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Gymnasiums (gleicher Bezirk) in verschiedenen leichtathletischen Disziplinen und Turnspielen.24 Später wurden Wettkämpfe zwischen Schulen insbesondere auch im Fußball und noch später Mittelschulmeisterschaften von Wien, Niederösterreich (einschließlich Wiens) oder Österreich in dieser und einigen anderen Sportarten (z. B. Eiskunst- und -schnelllauf, Fechten, Landhockey, Schwimmen, Tennis) veranstaltet. Höhepunkte des Wettkampfbetriebes und zugleich »Glanzpunkte aller Vorkehrungen zur Förderung der körperlichen Ausbildung der Schüler«25 waren die ersten und zugleich letzten beiden »Schul-, Turn- und Sportfeste der Niederösterreichischen Mittelschulen«, die 1913 und 1914 unter maßgeblicher Beteiligung der Wiener Schulen auf dem Platz des Wiener Athletiksport-Clubs im Prater stattfanden. Sie wurden durch patriotische Festreden eingeleitet, erstreckten sich jeweils über zwei Tage und hatten schwerpunktmäßig einen leichtathletischen Zehnkampf um einen vom Ehrenpräsidenten des Olympischen Comit8s, Fürsten Otto zu Windischgrätz, gestifteten Wanderpreis auf dem Programm. Neben dem Zehnkampf, an dem sich beim ersten Fest 836, beim zweiten 637 Schüler beteiligten, gab es – militärmusikalisch umrahmt – Vorführungen von Turn- und Gymnastikübungen und als besonderen Programmpunkt beim letzten Fest das Entscheidungsspiel um die Mittelschulmeisterschaft im Fußball.26 Den Wettkämpfen und Vorführungen, an denen ausschließlich männliche Schüler teilnahmen, wohnten zahlreiche, auch weibliche Zuschauer bei, 1914 sollen es 5.000 gewesen sein.27 Unter den Zuschauern (auch weiblichen) befanden sich – neben Lehrern, Schülern und Angehörigen der Schüler – Verantwortungsträger aus den Bereichen Schule, Politik, Polizei, Militär und Verwaltung sowie sonstige Prominente (Abb. 3). Daraus und aus der Ausführlichkeit, in der Zeitungen über die Feste berichteten, wird der gestiegene Stellenwert der körperlichen Ausbildung an Mittelschulen ersichtlich.

24 Wiener Jugendspiele, in: Neue Freie Presse, 7. 7. 1891, 6. 25 28. Jahresbericht der Öffentlichen Unter-Realschule in Wien III, 1913/14, Wien 1914, 30. 26 Das Niederösterreichische Schul-, Turn- und Sportfest, in: Illustriertes Österreichisches Sportblatt, 31. 5. 1913, 3-14, 4; Das zweite Niederösterreichische Schul-, Turn- und Sportfest, in: Illustriertes Österreichisches Sportblatt, 28. 5. 1914, 3–11; Das Sport- und Turnfest der Mittelschulen, in: Neues Wiener Tagblatt (Tages-Ausgabe), 22. 5. 1914, 11. 27 Das zweite niederösterreichische Schul-, Sport- und Turnfest, in: Reichspost, 24. 5 . 1914, 6–7, 6.

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Abb. 3: Erzherzog Karl Franz Josef (der spätere letzte österreichische Kaiser) und andere hochgestellte Persönlichkeiten bei der Besichtigung des Weitsprungs beim »Schul-, Turn- und Sportfest der Niederösterreichischen Mittelschulen« 1913. (Quelle: Wiener Athletiksport-Club 1913, Wien 1913, 9)

3.2

Turnen und Sport an Knabenmittelschulen: Vergleich der Vorarlberger und Wiener Schulen

Im Hinblick auf den Umfang des Sportangebotes unterschieden sich die Vorarlberger und Wiener Schulen nur wenig voneinander. Gewiss blieben einzelne teure Sportangebote wie Reiten und Fechten ganz bzw. weitgehend den Wiener Schulen vorbehalten, desgleichen groß aufgezogene Wettkampfveranstaltungen. Immerhin wurden aber auch in Vorarlberg Fußballspiele zwischen Auswahlmannschaften von Schulen und schulinterne Wettkämpfe in verschiedenen Sportarten veranstaltet. Das 1914 in Feldkirch vom dortigen Gymnasium veranstaltete Skirennen dürfte das einzige von einer Schule im Untersuchungszeitraum organisierte derartige Rennen in den Untersuchungsstädten überhaupt gewesen sein. Was schließlich das Turnen betrifft, so ist hervorzuheben, dass alle

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untersuchten Gymnasien, die das Fach nach der allgemeinen Obligaterklärung weiterhin als Freifach führten, in Wien angesiedelt waren: Dort, wo der Mangel an geeigneten, schulnahe gelegenen Übungsstätten besonders gravierend war.

IV.

Resümee

Im letzten Vierteljahrhundert vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges hat es zweifelsohne einen starken Aufschwung der körperlichen Ausbildung an Knabenmittelschulen gegeben. Nicht nur wurde das Turnen grundsätzlich an allen Gymnasien verpflichtend, sondern es verbreiteten sich ergänzend dazu die freiwilligen, geleiteten »Jugendspiele«, wobei das Fußballspiel eine besondere Beliebtheit erreichte. Die Schulspiele entwickelten sich in Verbindung mit Schwimmen, Radfahren, Wandern, Eislaufen, Rodeln und Skilaufen – um nur die wichtigsten Aktivitäten anzuführen – zur zweiten Säule der körperlichen Ausbildung neben dem Turnen. Dabei gab es aber große Unterschiede zwischen den einzelnen Schulen. Aus heutiger Sicht mag es erstaunen, wie intensiv manche Schulen sportliche Aktivitäten gepflegt und welche körperliche Leistungen diese Schulen ihren Schülern abverlangt haben. Weiters mag heute überraschen, in welchem Ausmaß die Schulen in den letzten Vorkriegsjahren »militarisiert« wurden. Zunehmend ging es im Schulturnen und -sport um Wehrertüchtigung und Wehrerziehung der männlichen Jugend. Von dieser »Militarisierung« waren sogar die von geistlichen Orden geführten Schulen erfasst, wenn auch nicht so stark wie die übrigen Bildungsinstitutionen. So hielt das Jesuiten-Gymnasium Stella Matutina – um abschließend auf die im Prolog vorgestellte Schule zurückzukommen – zwar keinen Schießunterricht ab, veranstaltete aber sehr wohl paramilitärische Übungsmärsche und kriegerische Geländespiele.

Alojz Ivanisˇevic´

Die Anfänge des modernen kroatischen Sports in Österreich-Ungarn im Kontext der Nationalitätenverhältnisse und der nationalen Integrationsbewegungen

Abb. 1: Postkarte zum II. Allgemeinen Sokol-Kongress 1911 in Zagreb. (Quelle: Kroatische National- und Universitätsbibliothek Zagreb. Ostavsˇtina Franjo Bucˇar / Aus dem Nachlaß Franjo Bucˇar)

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Im Bild des kroatischen Sokol, auf den im Text näher eingegangen wird, spiegelt sich die erste Entwicklungsphase des modernen kroatischen Sports in der Habsburgermonarchie wider. Sie war von einer engen Verflechtung zwischen Sport, Politik und Nationalismus geprägt. Damit folgte der kroatische Sport dem damaligen Trend in den beiden Teilen der Donaumonarchie und dem herrschenden Zeitgeist in den übrigen europäischen Ländern.

I.

Sportpolitik und Nationalitätenverhältnisse in Österreich-Ungarn im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert

Im ausgehenden 19. Jahrhundert hat sich der Sport in Wien und in Budapest als ein wichtiges Segment des gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Lebens etabliert. Die wirtschaftliche, soziale und kulturelle Marginalisierung und Benachteiligung der peripheren Gebiete der Donaumonarchie, zu denen die Kronländer Kroatien und Slawonien im ungarischen, Dalmatien, Istrien und das (kroatische) Küstenland im österreichischen Teil der Monarchie gehörten, wirkte sich auch auf die Entwicklung des Sports in diesen Ländern aus. Die zahlreichen, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstandenen »Nationalparteien« forderten die Rekonstruktion der Doppelmonarchie nach dem ethnischen Prinzip und – in letzter Konsequenz – die Bildung eines Bundes autonomer Nationalstaaten. Die Forderungen nach nationalen, ethnisch homogenen Kronländern bzw. Staaten förderten letztlich auch den Prozess der Nationalisierung des Sports. In den Kronländern entstanden Sportvereine und -verbände, die bald nach ihrer Gründung zu Festungen des ethnischen Nationalismus wurden. Sie strebten die Gründung nationaler Dachorganisationen und damit auch eine selbständige Teilnahme an internationalen Wettbewerben an. In Wien und Budapest stießen diese Versuche des »ethnischen Separatismus« auf Ablehnung. Die Zentralverbände in Wien und Budapest gaben klar zu verstehen, dass sie ihre Präsenz und Macht in den internationalen Sportverbänden dazu nutzen werden, alle Versuche des »Sportseparatismus« auf dem Gebiet Österreich-Ungarns zu verhindern. Da die österreichische und die ungarische »Reichshälfte« nach dem Ausgleich 1867 de facto als zwei mehr oder weniger eigenständige Staaten fungierten, traten sie auch im Sport international getrennt – als Österreich und Ungarn – in Erscheinung, wenn auch »das sportpolitische Wien« immer wieder Versuche unternahm, den Sport als eine gemeinsame Angelegenheit der beiden Reichsteile zu definieren und damit den gemeinsamen Auftritt der Doppelmonarchie bei internationalen Sportbewerben und vor allem bei den Olympischen Spielen zu

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erwirken. Ohne Erfolg allerdings, denn die ethnisch magyarischen politischen Eliten in Budapest nutzten den Sport ebenfalls dazu, das Ganze, ethnisch heterogene Transleithanien (das Königreich Ungarn) in einen einheitlichen ungarischen (oder magyarischen) Nationalstaat umzuwandeln.1 Die Dachverbände der einzelnen Sportarten oder -zweige in Wien und Budapest erklärten sich für »ganz Österreich« bzw. für das gesamte »einheitliche Königreich Ungarn«, einschließlich der nach dem Ausgleich autonomen »Nebenländer« (die ungarische Leseart) Kroatien und Slawonien, zuständig, vertraten aber de facto Interessen deutschösterreichischer bzw. magyarischer Vereine und Sportverbände, die den überwiegenden Teil der Vereine und Verbände in der Gesamtmonarchie ausmachten. Zusätzliche Komplikationen entstanden dadurch, dass sich deutschösterreichische Vereine aus verschiedenen Sportzweigen wie Leichtathletik, Radsport, Pferdesport, Eislaufen, Schwimmen, Rudern u. a. unmittelbar nach ihrer Gründung – aus finanziellen und organisatorischen Gründen – in der Regel den entsprechenden Dachverbänden des Deutschen Reiches anschlossen und an »Deutschen Meisterschaften« teilnahmen, die nicht selten in Wien ausgetragen wurden. Mit der Zeit emanzipierte sich jedoch der Großteil der österreichischen Sportvereine von der »Berliner Zentrale« und trat den neu entstandenen österreichischen Sportverbänden bei. Bis zur Auflösung der Monarchie gab es im deutschösterreichischen Sport wie auch im politischen Leben Spannungen und Konflikte zwischen jenen Vereinen, die den »gesamtösterreichischen Patriotismus« pflegten, und jenen, die sich zum »Gesamtdeutschtum« bekannten. Der Emanzipationsprozess des österreichischen Sports vom deutschen lief parallel zu den Emanzipationsversuchen einzelner Nationalitäten der Doppelmonarchie (nicht nur) im Sportbereich von Wien und/oder Budapest. So wurden die sportpolitischen Konflikte zwischen Berlin und Wien mindestens so heftig ausgetragen wie jene zwischen den einzelnen »Sportnationalitäten« und den Wiener und Budapester Zentralverbänden. Von allen Kronländern der Monarchie, außer Ungarn, gelang es nur Böhmen, das in sportlicher Hinsicht auf Augenhöhe mit Wien und Budapest war, vor allem dank der 1862 gegründeten, nationalpolitisch stark engagierten Sokolbewegung, eine relative Autonomie im Sportbereich zu erkämpfen. So konnte z. B. Böhmen bei den Olympischen Spielen von 1900 bis 1912 selbständig antreten, allerdings unter der (gemeinsamen) österreichischen Flagge, an der ein Fähnchen mit tschechischen Nationalfarben angehängt war. Im IOC wurde Österreich anfangs 1 Siehe dazu: Zˇivko Radan, Franjo Bucˇar i gimnasticˇki i sportski pokret u Hrvatskoj, Decembar 1966. Izdanje Savezne komisije za historiju fizicˇke kulture [Franjo Bucˇar und die Turn- und Sportbewegung in Kroatien, Dezember 1966. Hg. von der Bundeskommission für die Geschichte der Leibeskultur (unveröffentl. Manuskript), 181–215. Hrvatski sportski muzej [Das Kroatische Sportmuseum], Zagreb.

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de facto vom Tschechen Jirˇ& Guth-Jarkovsky´ (1861–1943), einem der Gründungsmitlieder dieser Organisation (gegründet 1894 in Paris), vertreten, der 1899 zum Präsidenten des im gleichen Jahr gegründeten tschechischen bzw. böhmischen Olympischen Komitee gewählt wurde, womit er als Vertreter des gesamten Cisleithanien gewissermaßen delegitimiert wurde. In Wien wurde die sportliche Unabhängigkeit Böhmens bekämpft und der Ausschluss Guth-Jurkowsky´s aus dem IOC vergeblich gefordert.2 Der Präsident des Tschechischen OK war im IOC sehr einflussreich und mit Pierre de Coubertin persönlich eng befreundet. Der Präsident des IOC argumentierte gegenüber den Wiener Beschwerdeführen mit der sog. »Sportgeographie«, die sich nicht unbedingt mit der politischen decken müsse. Einen offiziellen Vertreter im IOC hatte Österreich erst seit 1905. In jenem Jahr wurde Prinz Alexander Solms-Braunfels in diese Organisation aufgenommen. Das Österreichische Olympische Comit8 wurde – unter diesem Namen – erst 1908 gegründet (davor gab es nur Komitees für die Organisation der einzelenen Olympischen Spiele). Das Ungarische Olympische Komitee existierte hingegen seit 1895 und war damit, nur ein Jahr »jünger« als das IOC, in dem Ungarn durch Ferenc Kem8nyi sehr prominent vertreten war.

II.

Die Rolle der Sportpublizistik

Eine wichtige oder gar entscheidende Rolle im Prozess der Politisierung und Nationalisierung oder Ethnisierung des Sports (nicht nur in Österreich-Ungarn) spielte zweifellos die Sportjournalistik und -publizistik, die von Anfang an darum bemüht war, den Sport in den allgemeinen gesellschaftlichen, kulturellen und parteipolitischen Kontext einzubetten. Die Anfänge des (deutsch-)österreichischen Sportjournalismus sind aufs Engste mit Victor Silberer (1846–1924) verbunden, der bereits 1880 die einflussreichste Sportzeitung der Donaumonarchie – die »Allgemeine Sport-Zeitung« (ASZ) gegründet hatte und bis 1919 ununterbrochen deren Herausgeber und Chefredakteur war. Silberers Sportblatt kultivierte einen scheinbar trans- oder supranationalen, österreichisch-ungarischen Staatspatriotismus und berichtete folgerichtig fast gleichberechtigt über die Sportereignisse in Österreich und Ungarn, vor allem aber in Wien und Budapest. In der Praxis war es jedoch das Sprachrohr des »deutschen Sports« im österreichischen Teil der Doppelmonarchie. Dementsprechend propagierte die ASZ die »gesamtdeutsche Solidarität«, die »deutsche Kultur« und unterstützte den Zweibund, was im Großen und Ganzen der Ideo2 Radan, Franjo Bucˇar, 191–192.

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logie der Christlich-sozialen Partei entsprach, deren Mitglied und Abgeordneter zum Wiener Gemeinderat, dem Niederösterreichischen Landtag und später auch zum Reichsrat Silberer war. Daneben betrieb er aktiv verschiedene Sportarten wie Fechten, Rudern, den Schwimm- und Radsport, die Aeronautik u.v.m. Silberer war außerdem (Mit)begründer oder »das einfache Mitglied« vieler Vereine in verschiedenen Sportarten sowie der Organisator, Schirmherr und/oder Sponsor zahlreicher Wettbewerbe, womit er zum Symbol der unzertrennlichen Symbiose zwischen Sport und Politik wurde.3 Nationale Homogenisierungstendenzen im Sport jener Zeit, die nur ein Abbild entsprechender Homogenisierungstendenzen im politischen Bereich waren und die Nationalitätenkonflikte schürten, kamen in der Bericherstattung der ASZ – bis zur Auflösung der Monarchie 1918 – immer wieder deutlich zum Ausdruck. Wenn von Nationalitätenkonflikten in verschiedenen Sportverbänden und -vereinen berichtet wurde, ergriff die Zeitungsredaktion erwartungsgemäß die Partei der Deutsch-Österreicher, deren Interessen mit den Interessen der Gesamtmonarchie gleichgesetzt wurden.

III.

Die Anfänge des modernen kroatischen Sports

Von den Anfängen des modernen Sports auf dem Gebiet des heutigen Kroatiens kann ab Anfang der 1870er-Jahre gesprochen werden. Die ersten Impulse für die Entwickung des Sports und der Körperkultur kamen, keineswegs überraschend, aus dem österreichischen Teil der Monarchie (Cisleithanien), zu dem von den kroatischen Ländern staatsrechtlich nur Dalmatien, Istrien und das Küstenland gehörten. In Österreich wurde die Leibeserziehung oder das Turnen bereits 1848/49 als Schulfach eingeführt. Das österreichische System wurde damit auch in Istrien, dem Küstenland und später auch in Dalmatien gültig, wobei die Einführung desselben im letztgenannten Kronland wegen des schlechten Zustands des gesamten Schulwesens und der wirtschaftlichen Rückständigkeit des Landes kaum Wirkung gezeigt hat.4

3 Siehe dazu: Walter Gibbs, Victor Silberer war der Primus inter pares, in: Josef Strabl (Hg.), Wir Sportreporter. 100 Jahre österreichische Sportpresse, Wien 1980, 4–6. Rudolf Müllner, Perspektiven der historischen Sport- und Bewegungskulturforschung, Wien 2011, 225–250. 4 Franjo Bucˇar, Über die körperliche Erziehung in Kroatien und Slavonien, Zagreb 1904, 2–4.

106 3.1

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Die Bedeutung des Schulsports

In den Kronländern Kroatien und Slawonien gab es zwar nach dem Ende des Neoabsolutismus, ab 1860, einige Initiativen zur Einführung des Turnens in Gymnasien, aber erst in den 1870er und 80er-Jahren wurden diese langsam in die Tat umgesetzt. Mehr Aufmerksamkeit widmete man dem Schulturnen auf dem Gebiet der Militärgrenze, die zu jener Zeit sukzessive aufgehoben und in das zivile Kroatien-Slawonien integriert wurde. Die Lehrer in der in Auflösung bergriffenen Militärgrenze, die sich hauptsächlich aus dem Militärpersonal rekrutierten, waren überwiegend Deutschösterreicher, aber es kamen auch Tschechen und Slowenen zum Einsatz. Der Hauptzweck der Leibesübungen und des Sports im weiteren Sinne des Wortes war die Verbesserung der Kondition und der Gesundheit des Militärnachwuches.5 Nach Zagreb wurde die Leibeserziehung als Schulfach direkt aus Wien »verpflanzt«. Dafür war vor allem der Wiener Sportpädagoge Friedrich Singer verantwortlich, der gleich nach seiner Ankunft in Zagreb 1859 begonnen hatte, den Unterricht an einigen öffentlichen und an einer privaten Schule abzuhalten. In ganz Kroatien und Slawonien wurde Leibeserziehung als Pflichtfach für Grundund Bürgerschulen im Umfang von jeweils zwei Wochenstunden mit einem Schulgesetz von 1874 eingeführt. Anfangs wurde dieses Fach mehr oder weniger deutsch unterrichtet, d. h. die Lehrer verwendeten im Unterricht die deutsche Fachterminologie. Doch bereits im Jahr 1875 wurde mit der Einführung der kroatischen Terminologie begonnen, vor allem nach der Veröffentlichung des ersten Lehrbuchs für »Gymnastik« in kroatischer Sprache durch einen einheimischen Lehrer namens Andrija Hajdinjak. Kroatische Fachbegriffe für Leibesübungen existierten zwar seit 1868 – diese entlehnte man der militärischen Terminologie, die für die »kroatische Landwehr« (Domobranstvo) im Rahmen des Ungarischen Honved vorgeschrieben war – , im zivilen Bereich setzten sich diese aber erst viel später durch.

3.2

Die Sokolbewegung

Singers Werk – er starb 1876 – setzte in Kroatien der Tscheche Frantisˇek Hochman (1850–1893) fort, ein Aktivist des Prager Sokols, der vor seiner Ankunft in Zagreb Ende der 1870er-Jahre Vorsteher einer Sokol-Abteilung in Prag und danach Turnlehrer in Lemberg und in Vrsˇac in Serbien gewesen war. Hochmann hat die tschechische Sokolbewegung in Kroatien populär gemacht 5 Bucˇar, Körperliche Erziehung, 6–9.

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bzw. 1874 eine eigene kroatische Sokolorganisation in Zagreb gegründet.6 Er hat sozusagen das tschechische Sokol-System im schulischen und im außerschulischen Bereich in Kroatien als Lehrer an mehreren Grund- und Mittelschulen eingeführt und damit »das Wiener System« Singers verdrängt. Er verfasste zwei Lehrbücher für Leibeserziehung für die Grundschule in kroatischer Sprache (1874 u. 1884) und sorgte dafür, dass in einigen Bürgerschulen Turnhallen gebaut oder Räumlichkeiten für Leibesübungen, freilich in einem bescheidenen Ausmaß, eingerichtet wurden. Außerdem organisierte er in Zagreb und Osijek mehrwöchige Kurse für Turnlehrer, die sich meistens aus den Reihen des Sokol rekrutierten. In die Mittelschulen wurde das Turnen in Kroatien und Slawonien (zumindest teilweise) erst 1883 von der Landesregierung als Pflichtschulfach eingeführt. Allerdings wurde das Gesetz aus finanziellen, personellen und raumtechnischen Gründen (keine geeigneten Räume oder gar Turnhallen) in der Praxis nur lückenhaft realisiert. Die Situation in den kroatischen Mittelschulen verbesserte sich nach einer Revision des Schulgesetzes im Jahr 1888 etwas, nachdem Leibesübungen als Pflichtschulfach in allen Mittelschulen in Kroatien und Slawonien – jeweils zwei Wochenstunden in allen Klassen – eingeführt wurde. Spürbare Verbesserungen waren jedoch erst nach einer Novellierung des Gesetzes im Jahr 1902 zu registrieren.7 Aber zurück zu Frantisˇek Hochmann. Mindestens so wichtig wie seine Tätigkeit als Turnlehrer war sein bereits erwähntes außerschulisches, sportpädagogisches, -journalistisches und -politisches Engagement. Er gründete die ersten Sportfachzeitschrifeten in Kroatien – Sokol (1878) und Gimnastika (1890) – und verhalf der Sokolbewegung zur Verbreitung in Kroatien und Slawonien und – zumindest indirekt – im gesamten südslawischen Raum. Die Sokolbwegung erlangte in den kroatischen Ländern eine große sport- und nationalpolitische Bedeutung, die jedoch mit jener der tschechischen Sokolbewegung keineswegs vergleichbar war. 1904 wurde der kroatische Sokolverband mit mehreren regionalen Abteilungen gegründet.8 Obwohl die Sokolbewegung aus den Böhmischen Ländern, unter anderem 6 Die tschechische »Mutterorganisation« wurde 1862 in Prag von Miroslav Tyrsˇ und Jindrˇich Fügner – als »Slawischer Sokol« – gegründet, der sich schnell auch im slawischen Süden – innerhalb und außerhalb der Monarchie – ausbreitete. Bereits 1863 wurde der erste slowenische und zugleich südslawische Sokolverein (Juzˇni sokol/Der Südliche Sokol) in Ljubljana ins Leben gerufen. Die slowenische Sokol-Organisation spielte eine entscheidende Rolle bei ˇ argo, Arhivsko gradivo der Gründung des Kroatischen Sokol. Siehe dazu Daniela Jurcˇic´ C Ljubljanskega Sokola v Arhivu Republike Slovenije [Das Archivmaterial des Laibacher Sokol im Archiv der Republik Slowenien], in: Arhivi 26/1, Ljubljana 2003, 139–144, u. D. Stepisˇnik, Sokolstvo [Die Sokolbewegung], in: Enciklopedija fizicˇke kulture, Bd. 2, Zagreb 1977, 278–286. 7 Bucˇar, Körperliche Erziehung, 18–23. ˇ asopis hrvatskog sokolskog saveza, 8 (Juni 1909) 6, 53–57. 8 Zˇupe, Hrvatski Sokol. C

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auch durch die slowenische Vermittlung, nach Kroatien »verpflanzt« wurde, unterschied sich der Kroatische Sokol in ideologischer Hinsicht von Anfang an von der tschechischen »Mutterorganisation«. Zwar hielt die kroatische Sokolorganisation genauso wie die tschechische die Ideen des Austroslawismus und der gesamtslawischen Solidarität hoch und stand in enger Verbindung mit den national orientierten politischen Parteien, aber im Gegensatz zur tschechischen Organisation, die stark antikatholisch und antikerikal war, vertrat der kroatische Sokol eine nationale »Mischideologie« zwischen exklusivem Kroatismus und kroatozentrischem Jugoslawismus, die auch von der konservativen katholischen Geistlichkeit zunehmend mitgetragen wurde. Auch der sozialdarwinistische Gedanke9 war in der Ideologie des Kroatischen Sokol im Gegensatz zu jener der tschechischen Organisation kaum vertreten.

Abb. 2: Vorsteher der kroatischen Sokol-Vereine 1906. (Quelle: Spomen Spis I. hrvatskog svesokolskog sleta u Zagrebu, 2.–3. rujna 1906 [Gedenkbuch zum I. Allgemeinen Sokol-Kongress in Zagreb, 2.–3. September 1906], Zagreb 1907, 70)

9 Zum sog. Sozialdarwinismus bzw. Spencerismus bei Tyrsˇ und in der Ideologie des Tschechischen Sokol siehe Willy Welwarsky, Der Sokol, die völkische Turnbewegung der Tschechen, Volk und Leibesübungen 7 (1941), 17. Juli 1941, 133–136, 133 u. J. Krˇen, Posl#ni cˇesk8ho ˇ asopis zajmu˚m teˇlocvicˇny´m veˇnSokolstva [Die Mission des tschechischen Sokol], Sokol. C ovany´. 20 (1896) 1, 2–4. Der Militarismus war allerdings auch dem Kroatischen Sokol nicht fremd. Siehe dazu: Uloga Sokola kao narodne vojske [Die Rolle des Sokol als nationale Armee], Hrvatski Sokol, 11 (1913), 1.

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3.3

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Der außerschulische Sport

Die ersten, sehr bescheidenen Anfänge des außerschulischen, organisierten Sports in Kroatien reichen in die 1870er-Jahre zurück. Im Jahr 1870 wurde der erste kroatische »Touristenverein«, der Alpinverein (Prvo hrvatsko planinanrsko drusˇtvo) und der erste kroatische Ruderverein in Zagreb, sowie der erste kroatische Schwimmverein im slawonischen Osijek gegründet. 1876 folgte der erste Eislaufverein (Sklizacˇko drusˇtvo) in Zagreb. Ebenfalls in der Hauptstadt Zagreb wurde 1885 der erste kroatische Fahrradklub (Koturasˇki klub) gegründet, der bald nach seiner Gründung über ein eigenes Velodrom verfügte, was zu einer, für die damaligen Verhältnisse starken Entwicklung und Popularisierung des Radssports in Kroatien in den 1880er- und 1890er-Jahren führen sollte. 1894 wurde der Bund der kroatischen Radfahrer (Savez hrvatskih koturasˇa) ins Leben gerufen. Im Rahmen der Sokolorganisation, die hauptsächlich das Kunstturnen pflegte, wurden seit 1894 auch »Lawn Tennis« und Fußball gespielt, die erste kroatische Fußballmannschaft formierte sich allerdings erst im Rahmen des 1903 in Zagreb gegründeten Kroatischen Akademischen Sportklubs (Hrvatski akademski ˇsportski klub, HASˇK). Im gleichen Jahr wurde ebenfalls in Zagreb der erste Fußball- und Sportklub (Prvi nogometni i ˇsportski klub, PNISˇK) gegründet, dem dann bald andere Fußballvereine in der Hauptstadt und in einigen anderen kroatischen Städten folgten. 1912 wurde der Kroatische Fußballbund (Hrvatski nogometni savez) ins Leben gerufen. Auch wenn der kroatische Fechtsport auf eine bescheidene Tradition seit den 1880er-Jahren verweisen kann, wurde der erste Fechtverein (Macˇilacˇki klub) in Zagreb erst 1903 gegründet.10 Bereits Mitte der 1890er-Jahre wurden in Kroatien Anstrengungen unternommen, alle Sportvereine und -verbände der damals existierenden Sportzweige unter einer Dachorganisation zu vereinen. Die Zeitschrift Hrvatski sport, die von 1894 bis 1898 in Zagreb erschien, propagierte zwar diese Idee, aber die Gründung eines eigenständigen Kroatischen Sportverbandes (Hrvatski ˇsportski savez) gelang erst 1909. In diesem, in Zagreb gegründeten Dachverband war der Großteil der Sportvereine und -verbände auf dem Gebiet Kroatiens und Slawoniens vertreten, während den Sportvereinen und -verbänden aus Dalmatien, Istrien und dem Küstenland »aus staatsrechtlichen Gründen« eine Mitgliedschaft im Zagreber Kroatischen Sportverband untersagt wurde. Dasselbe galt auch für die damaligen, wenigen kroatischen Sportvereine aus Bosnien und der Herzegowina, die bis zur Annexion durch Österreich-Ungarn im Jahr 1908 staatsrechtlich noch zum Osmanischen Reich gehörten und nach der Annexion einen Sonderstatus im Rahmen der Doppelmonarchie erhielten.11 Abgesehen vom Wi10 Vgl. Bucˇar, Körperliche Erziehung, 43–52 u. Radan, Franjo Bucˇar, 173–174. 11 Vgl. Radan, Franjo Bucˇar, 194–196.

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derstand, auf den der Kroatische Sportverband auf sportpolitischer Ebene in Wien und Budapest stieß, hatte die junge und schwache nationale Dachorganisation mit innerer Zerissenheit zu kämpfen. Die im Verband vertretenen Vereine und Verbände waren in jeder Hisicht sehr heterogen und zogen keineswegs an einem Strang. Der 1909 gergündete Kroatische Sportverband wurde bereits 1919, nach dem Zerfall Österreich-Ungarns und der Gründung des Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen, aus politischen Gründen aufgelöst.

IV.

Franjo Bucˇ ar (1866–1946) als Vater des modernen kroatischen Sports: Zwischen Sport und Politik

Franjo Bucˇar, der zurecht als Vater des modernen kroatischen Sports gilt, wurde 1866 in Zagreb geboren, wo er die Volksschule und das Gymnasium absolvierte. Da sein Vater Slowene und seine Mutter Kroatin war, wuchs er zweisprachig auf. Diese slowenisch-kroatische Symbiose wird später in der sportpolitischen Tätigkeits Bucˇars eine wichtige Rolle spielen. Sein Geschichtslehrer im Gymnasium, der bekannte Historiker Vjekoslav Klaic´, der ein aktives Mitglied der Staatsrechtspartei war, hatte Bucˇar zweifellos auch ideologisch und wahrscheinlich auch bezüglich seiner Studienwahl beeinflusst. Bucˇar studierte nämlich später Geschichte und Geographie in Zagreb und Wien. An der Universität Zagreb begegnete er wieder Klaic´ als Professor, wo auch der damals bekannteste kroatische Historiker und Hauptrivale Klaic´s, Tadija Smicˇiklas, lehrte.12 Auch Smicˇiklas, der im Gegensatz zu Klaic´ ein Anhänger der jugoslawischen Ideologie war, übte zweifellos einen Einfluss auf die ideologisch-politische Orientierung Bucˇars, die er im Übrigen häufig wechselte bzw. dem jeweiligen Zeitgeist oder der aktuellen Politik anzupassen pflegte, aus. Sowohl im Gymnasium als auch während seines Studiums in Zagreb und Wien betrieb Bucˇar aktiv und intensiv mehrere Sportarten, vor allem aber das Eislaufen und den Radsport. Das war zu jener Zeit in Kroatien in der Regel ein Privileg der gebildeten und reichen adeligen und großbürgerlichen Eliten. Sehr früh begann er sich in der Sokolbwegung zu engagieren. Nach seinen eigenen Worten war er »im Herzen immer ein alter slawischer Sokol«,13 auch während der Amtszeit des berüchtigten Banus K#roly Khuen-H8derv#ry (1883–1903), der im Auftrag der Budapester Zentralregierung eine harte Magyarisierungspolitik in Kroatien praktizierte und u.a auch die Sokolbewegung bekämpfte. In dieser 12 Vgl. Franjo Bucˇar, Curriculum vitae (Moj zˇivotopis) (1945) [Franjo Bucˇar, Curriculum vitae (Mein Lebenlauf) 1945] Hrvatski sportski muzej, Zagreb, Osobni fond Franjo Bucˇar [Der persönliche Nachlass Franjo Bucˇars], unpaginiert. 13 Ebd.

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Situation verhielt sich Bucˇar, wie auch sonst sehr häufig, opportunistisch. Er distanzierte sich im wahrsten Sinne des Wortes (räumlich) vorübergehen vom Sokol-System, indem er zum Studium nach Schweden ging.14 Während seines zweijährigen Aufenthaltes in Skadinavien (1892–1894) studierte er an der Universität Stockholm bzw. am dortigen Zentralinstitut für Gymnastik und begeisterte sich schnell für die schwedische, respektive skandinavische »Gymnastik«. Von Bucˇars Förderer und Stipendiengeber Iso Krsˇnjavi, dem damaligen Leiter der Abteilung für Kultus und Unterricht in der Regierung des Banus Khuen-H8derv#ry, wurde »das schwedische Modell« als unpolitisch und national neutral eingeschätzt und sollte daher als solches das »gefährliche« SokolSystem in Kroatien zumindest vorübergehend ersetzen. Bucˇar als »alter slawischer Sokol« konnte sich jedoch nach seiner Rückkehr aus Schweden mit dieser de facto Abschaffung des Sokol-Systems nicht einfach abfinden. So versuchte er – theoretisch und nach außen hin – das Nationale vom Politischen zu trennen. Die nationale Gesinnung (der Patriotismus) des Sokol sei nicht politisch, meinte Bucˇar, was jedoch nicht besonders überzeugend klang. Er wollte damit ganz offensichtlich eine zeitgeistkonforme Sprachregelung finden, um sich weiterhin politisch legal betätigen zu können.15 Nach dem Ende des Khuen-Regimes und dem Beginn der so genannten Kroatischen Nationalbewegung 1903 engagierte sich Bucˇar wieder mit voller Kraft national- und sportpolitisch, wobei nun im Mittelpunkt seiner Tätigkeit der Kampf um die sportpolitische Autonomie Kroatiens stand. Bucˇar wurde 1909, keineswegs überraschend, zum ersten Vorsitzenden des Kroatischen Sportverbandes gewählt und blieb in dieser Funktion bis 1914. Zu erwähntem Kampf um die sportpolitische Autonomie Kroatiens gehörten zweifellos auch die Bemühungen Bucˇars um die Gründung eines kroatischen nationalen Olympischen Komitees und die Aufnahme Kroatiens in das IOC. Eine günstige Voraussetzung dafür war zweifellos seine Freundschaft mit Pierre de Coubertin und J&rˇi Guth-Jurkowsky´, die die Aufnahme Kroatiens in die »olympische Familie« befürworteten. Seine diesbezüglichen Bemühungen scheiterten aber am heftigen Widerstand Wiens und vor allem Budapests.16 Bucˇar selbst wurde erst 1920 Mitglied des IOC und zwar als Vertreter des Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen, das auch einen zweiten Vertreter in dieser Organisation hatte, nämlich den Präsidenten des Serbischen Olympischen Komitees, Svetomir Wukic´. Dieser stand an der Spitze des 1910 gegründeten Serbischen OK, das vor den Olympischen Spielen von Stockholm 1912 in 14 Siehe dazu: Franjo Bucˇar, U spomen dru. Isidoru Krsˇnjavome [In memoriam Isidor Krsˇnjavi], Hrvatski sokol. Glasilo Hrvatskog sokolskog saveza (Zagreb), (März 1927) 3, 87–93. 15 Bucˇar, Curriculum vitae. 16 Radan, Franjo Bucˇar, 193–194.

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das IOC aufgenommen worden war. Bereits 1919 wurde Bucˇar zum Präsidenten des neu gegründeten Jugoslawischen OKs (Jugoslovenski olimpijski odbor, JOO17) gewählt. Sein Stellvertreter wurde Svetomir Wukic´. Bucˇar blieb Präsident des JOO bis 1927, als dieses nach Belgrad verlegt wurde und den Namen in Jugoslovenski olimpijski komitet (JOK)18 änderte. Bucˇar war ein sehr produktiver Publizist. Er gab mehrere kroatische Sportzeitungen heraus,19 verfasste viele Bücher und Aufsätze in diversen Sprachen (ca. 1600 Titel in 60 Jahren) – überwiegend aus dem Bereich der Sportpädagogik und Sportgeschichte –, war Herausgeber mehrerer Sportzeitschriften, galt aber auch, nach seiner Promotion in Graz 1897 zu einem historischen Thema, als Fachmann für die kroatische protestantische Literatur, über die er einige Bücher verfasste. Außerdem schrieb er auch über skandinavische (schöne) Literatur.20 In der sportpolitischen Karriere Bucars spiegeln sich sowohl die engen Verbindungen zwischen dem gesamtösterreichischen und dem kroatischen Sport, als auch die enge Verflechtung des Sports – nicht nur in Kroatien – mit der Politik und dessen Einbettung in die kroatischen nationalen Integrations- und Autonomiebewegungen in den letzten Jahrzehnten Österreich-Ungarns wider.

17 Die kroatische Sprachversion. 18 Die serbische Sprachversion. Bis 1927 war Zagreb de facto die »Sporthauptstadt« des SHSKönigreichs, bevor es sukzessive – bis zum Zweiten Weltkrieg – durch die Verlegung der meisten anderen Dachorganisationen nach Belgrad von diesem abgelöst wurde. Siehe dazu: Franjo Bucˇar – bard hrvatskog sˇporta [Franjo Bucˇar – Doyen des kroatischen Sports], in: Povijest ˇsporta 22 (1991) 88, 7–8; Branko Salaj, Franjo Bucˇar (1866–1946). Predavanja u Hrvatsko-sˇvedskom drusˇtvu, Gradska knjzˇnica Zagreb, 8. svibnja 2001 [Ein Vortrag in der Kroatisch-schwedischen Gesellschaft, Stadtbücherei Zagreb, am 8. Mai 2011], veröffentlicht online am 6. April 2007, URL: http://dkd-org.hr/web/index.php: drusˇtvo za kulturu demo kracije, 1–8 (abgerufen am 20. 10. 2016); Hrvoje Macanovic´, Jugoslavenski olimpijski komitet (JOK) [Das Jugoslawische Olympische Komitee (JOK)], in: Enciklopedija fizicˇke kulture, Bd. 1, Zagreb 1975, 410–411. Das heutige Serbische Olympische Komitee sieht eine ungebrochene Kontinuität von 1910 bis zur Gegenwart. Auch alle Medaillengewinner und -gewinnerinnen von 1912 bis 2008 werden für das »Serbische Olympische Komitee« reklamiert. Vgl. die Homepage des SOK: URL: www.oks.org.yu/s.10101.htm (abgerufen 18. 2. 2018). 19 Zur frühen Geschichte der kroatischen Sportpublizistik siehe: Zdenko Jajcˇevic´, Sportska periodicˇna ˇstampa u Hrvatskoj od 1870 do 1918 [Die periodische Publizistik in Kroatien von 1870 bis 1918]. Povijest sporta, Zagreb 1 (1970), 30–41. 20 Hier seien nur die wichtigsten seiner Veröffentlichungen aus den Bereichen Sportgeschichte und -pädagogik genannt: Obuka u plivanju sa 37 slika [Der Schwimmunterricht mit 37 Bildern], Zagreb 1896; Floretovanje [Das Florettfechten], Zagreb 1901; Klizanje [Das Eislaufen], Zagreb 1901; O zˇenskom tjelesnom uzgoju [Über die Leibeserziehung der Frauen], Zagreb 1904; Über die körperliche Erziehung in Kroatien und Slavonien, Zagreb 1904; Macˇevanje [Das Fechten], Zagreb 1912. In den Zeitschriften Gimnastika und Sˇport veröffentlichte Bucˇar regelmäßig ausführliche Beiträge über die in Kroatien noch unbekannten Sportarten, die er selbst zum großen Teil praktiziert hatte und die er in seinem Heimatland popularisieren wollte und zu deren Kulturgeschichte er zugleich einen Beitrag leistete.

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V.

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Zusammenfassung und Ausblick

Die erste Entwicklungsphase des modernen kroatischen Sports innerhalb Österreich-Ungarns Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Untergang der Doppelmonarchie war, keineswegs überraschend, ein Spiegelbild der damaligen Politik und Gesellschaft. Die Zersplitterung, die periphe Lage und die ungünstige staatsrechtliche und realpolitische Stellung der kroatischen Länder in den beiden Teilen der Monarchie schlugen sich selbstverständlich auch im Sport nieder. In dieser Situation war es naheligend, dass sich der junge und unterentwickelte kroatische Sport hauptsächlich an den beiden Metropolen der Doppelmonarchie ausrichtete – an Wien und Budapest, aber auch an der »slawischen Metropole« Prag, in der der Sport, mit allen seinen politischen und nationalen Begleiterscheinungen einen ähnlichen Stellenwert und eine ähnliche Qualität hatte wie in Wien und Budapest. Auch die in statu nascendi befindliche kroatische Sportpublizistik orientierte sich stark an den drei genannten Zentren der Doppelmonarchie, wobei der Pionier des modernen kroatischen Sports und Doyen der Sportpublizistik in den kroatischen Ländern, Franjo Bucˇar, auch einige Elemente des skandinavischen Sportsystems nach Kroatien zu übertragen versuchte. Die unvermeidliche Politisierung und Nationalisierung des kroatischen Sports schon in seiner frühesten Phase äußerte sich in den Bemühungen der Vertreter der neu entstandenen Vereine und Verbände um die internationale Sichtbarkeit und Anerkennung des kroatischen Sports, wie etwa in der Aufnahme in das IOC und in andere internationale Sportorganisationen und Dachverbände, die um die Jahrhundertwende in einen regelrechten Kampf um die »sportpolitische Selbständigkeit Kroatiens« mündeten, der in der späteren Sportpublizistik stark mythologisiert und heroisiert wurde. Dieser Kampf wurde hauptsächlich gegen die beiden sportpolitischen Metropolen, Wien und Budapest, bzw. gegen die österreichischen und ungarischen Zentralverbände, die als Bollwerke des politischen und »sportlichen Zentralismus« und als die erbitterten Gegner der »kroatischen Sportautonomie« wahrgenommen wurden, geführt. Nach dem Untergang der Donaumonarchie und der Gründung des Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen begann eine neue Entwicklungsphase des kroatischen Sports, in der die bisherige Provinzhauptstadt Zagreb zur Sportmetropole des neuen südslawischen »Nationalstaates« wurde und als solche bis zum Zweiten Weltkrieg mit der politischen Metropole Belgrad um die Vorrangstellung zu kämpfen hatte.

Dariusz Wojtaszyn

Fußballstadt Lemberg. Eine österreichisch-polnisch-jüdisch-ukrainische Verflechtungsgeschichte

Abb. 1: Ein Derby zwischen den Mannschaften Pogon´ Lwjw und Czarni Lwjw (1910). (Quelle: Archiwum Foto Muzeum Sportu i Turystyki w Warszawie)

Auf dem Foto (Abb. 1) wird eines der ersten offiziellen Fußballspiele auf polnischem Gebiet, das damals zum Österreichischen Kaiserreich gehörte, dargestellt. Es war ein Derby zwischen zwei der ältesten und bekanntesten Klubs in der Geschichte des polnischen Fußballs – Pogon´ Lemberg und Czarni Lemberg. Es ist wohl kaum ein anderer Ort als Lemberg besser geeignet, die gemeinsame österreichisch-polnisch-jüdisch-ukrainische Verflechtungsgeschichte zu illustrieren. Die Stadt gilt heute sowohl Polen als auch Ukrainern als Wiege ihres nationalen Fußballs. Lemberg (polnisch Lwjw, ukrainisch Lviv, jidisch Lemberik) gelangte nach der ersten Teilung Polens 1772 an das Kaisertum Österreich und war dann bis 1918 die Hauptstadt des Kronlandes Galizien und Lodomerien, einer Provinz der österreichisch-ungarischen k.u.k. Monarchie. Das multikulturelle Lemberg war in dieser Zeit die viertgrößte Stadt in der Habsburgermonarchie. Kein Land und

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keine Stadt der österreichischen Monarchie konnte so viele unterschiedliche Ethnien verzeichnen wie Galizien und seine Hauptstadt. Neben den Polen, die den größten Anteil ausmachten, lebten hier vor allem Ruthenen (Ukrainer) und Juden, aber auch Deutsche, Österreicher, Russen, Armenier, Moldauer, Ungarn, Roma und Sinti, Lipowaner und viele andere.1 Lemberg war jedoch immer schon eine wichtige Hochburg der polnischen Kultur.2 Mitte des 19. Jahrhunderts wurde die relative Autonomie des Königreichs Galizien eingeführt. 1866 wurde Polnisch zur internen Verwaltungssprache bei den Behörden und Gerichten in Galizien erklärt und ab 1869 zur offiziellen Amtssprache erhoben. 1870 etablierte sich Polnisch auch als Unterrichtssprache im Schulwesen und an der Universität. Im Jahre 1873 wurde Galizien die vollständige Autonomie zuerkannt. Das Ergebnis dieser Maßnahmen waren Nationalisierungsprozesse, die die polnische Vorherrschaft in allen Bereichen gewährleistete.3 Die polnisch dominierte Autonomie hatte für andere Minderheiten in Galizien nachteilige Folgen. Denn obwohl die gesamte Bevölkerung die einheitliche österreichische Staatsbürgerschaft besaß und alle Nationalitäten offiziell gleichberechtigt waren, waren andere Lemberger Minderheiten in der politischen und ökonomischen Repräsentation massiv benachteiligt.4 In der gleichen Zeit war aber Lemberg auch ein Brennpunkt des ukrainischen und teilweise auch jüdischen Nationalgefühls. In ganz Europa blühte zu dieser Zeit der Nationalismus auf. Die nationalen Bestrebungen der Polen (und viel weniger der Ukrainer und Juden) konnten in Galizien dank der liberalen Nationalitätenpolitik nach Bildung der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn 1867 besser gedeihen als in den russischen und deutschen Teilgebieten. Eine bedeutende Rolle in diesem Prozess spielten die Turnbewegungen »Sokol« (deutsch: Falke) und später auch der Fußball. Die Geschichte des Lemberger »Sokol« (polnisch: Sokjł) ist beeindruckend.5 1867 entstand in Lemberg der erste polnische »Sokjł«-Verein als dritter weltweit nach dem tschechischen (1862)6 und slowenischen (»Juz˙ni Sokol« – 1863).7 Die

1 Ludnos´c´ Lwowa pod wzgle˛dem narodowos´ciowym, in: Filareta 3 (1913), 6. 2 Isabel Röskau-Rydel, Kultur an der Peripherie des Habsburger Reiches. Die Geschichte des Bildungswesens und der kulturellen Einrichtungen in Lemberg von 1772 bis 1848, Wiesbaden 1993, 235–239. 3 Henryk Batowski, Die Polen, in: Adam Wandruszka/Peter Urbanitsch (Hg.), Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Bd. 3: Die Völker des Reiches, Wien 1980, Teilband 1, 522–554. 4 Martin Pollack, Galizien. Eine Reise durch die verschwundene Welt Ostgaliziens und der Bukowina, Frankfurt am Main/Leipzig 2001, 216–219.; Anson Rabinbach, The Migration of Galician Jews to Vienna, in: Austrian History Yearbook, Bd. 9, Houston 1975, 51–53. 5 Vgl. Jan Snopko, Polskie Towarzystwo Gimnastyczne »Sokjł« w Galicji 1867–1914, Białystok 1997. 6 Mehr dazu siehe Marek Waic, Die tschechische Sokolbewegung. Schule der Nation, in: Petra Gieß-Stüber/Diethelm Blecking (Hg.), Sport – Integration – Europa. Beitra¨ ge fu¨r die Sportlehrerbildung, Baltmannsweiler 2008, 79–88.

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Turnaktivitäten der »Sokjł«-Mitglieder waren an slawisch-nationalistischen Zielen orientiert. Dazu gehörte neben der körperlichen Ertüchtigung auch die patriotische Erziehung der Polen. Der Verein richtete darüber hinaus im Auftrag der Stadtverwaltung den Turnunterricht in den Schulen aus.8 Unabhängig von »Sokjł« waren in Lemberg Ende des 19. Jahrhunderts auch andere Turn- und Sportvereine gegründet worden wie z. B. 1869 die Lemberger Gesellschaft der Schlittschuhläufer (Lwowskie Towarzystwo Łyz˙wiarzy), 1878 der Fechtkreis des Akademischen Lesesaals (Kjłko Szermierzy Czytelni Akademickiej), 1886 der Lemberger Klub der Radsportler (Lwowski Klub Cyklistjw) und die Gesellschaft der Fechter in Lemberg (Towarzystwo Szermierzy we Lwowie), 1897 die Lemberger Rennradler-Gesellschaft (Lwowskie Towarzystwo Kolarzy Wys´cigowcjw) und der Akademische Fahrradklub (Akademicki Klub Cyklistjw).9 Als Pendant zum polnischen »Sokjł« wurde 1894 der ukrainische Turnverein »Sokił Bat’ko« gegründet. Auch in diesem Fall war ein Ziel der Organisation die Entwicklung der spezifisch ukrainischen Körperkultur. Ähnliche Ziele hatte auch die Turn- und Feuerwehrgesellschaft »Sicz«, die sich auf die historische Kosakentradition berief.10 »Sicz« war 1900 in Galizien in dem Dorf Zawale gegründet worden. Von 1912 bis zur Auflösung durch die Behörden des wiederhergestellten polnischen Staates 1924 existierte in Lemberg eine Zentrale der Organisation als Ukrainisches Komitee der »Sicz«. Im Jahre 1914 sollen bereits 50.000 Mitglieder von »Sokił Bat’ko« und »Sicz« in 974 Vereinen organisiert gewesen sein.11 Beide Organisationen verbanden die Arbeit für die Nationalbewegung mit körperlich-sportlichen Praktiken. Gleichzeitig schufen sie auch die organisatorischen Voraussetzungen für die Gru¨ ndung der modernen Sportvereine, insbesondere der Fußballclubs. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts gab es in Galizien auch jüdische Turnvereine.12 Die Entstehung des jüdischen Sports war eng mit der Geschichte des Zionismus verbunden. Schon 1901 auf dem Zionistenkongress in Basel wurde die Losung zur Begründung eines »Muskeljudentums« formuliert. Das »Muskelju7 Mehr dazu siehe Damijana Zelnik/Dusˇ an Gerlovicˇ /Ivan Cˇ uk (Hg.), 150 let sokolstva v Sloveniji (1863–2013), Ljubljana 2014. 8 Przemysław Matusik, Der polnische »Sokjł« zur Zeit der Teilung und in der II. Polnischen Republik, in: Diethelm Blecking (Hg.), Die slawische Sokolbewegung. Beiträge zur Geschichte von Sport und Nationalismus in Osteuropa, Dortmund 1991, 104–135. 9 Czesław Michalski, Pierwsze kluby sportowe we Lwowie do 1914 roku, in: Kazimierz Karolczak (Hg.), Lwjw. Miasto, społeczen´stwo, kultura. Studia z dziejjw Lwowa, Bd. 4, Krakjw 2002, 247–248. 10 Vgl. Tadeusz Da˛bkowski, Ukrain´ski ruch narodowy w Galicji Wschodniej 1912–1923, Warszawa 1985, 50. 11 Diethelm Blecking, Muskeljuden, Ukrainer und Deutsche. Multikultureller Sport in Polen in: Gieß-Stüber/Blecking (Hg.), Sport – Integration – Europa, 72. 12 Diethelm Blecking, Marxismus versus Muskeljudentum. Die jüdische Sportbewegung in Polen von den Anfängen bis nach dem Zweiten Weltkrieg, in: SportZeit 1 (2001) 2, 34.

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dentum« sollte sich durch sportliches Training herausbilden, um »das Bild des schwächlichen, körperlich untauglichen Juden, das nicht nur in der Wolle gefärbte antisemitische Diskurse beherrschte, zu konterkarieren«.13 Vor allem die junge Generation sah die Leibesübungen als wichtigen Bestandteil einer Kultur an, welche die eigene Identität stärken sollte. Die älteste jüdische Sportvereinigung in Lemberg war der 1901 entstandene Jüdische Turn- und Sportverein . (Zydowskie Towarzystwo Gimnastyczno-Sportowe) »Dror« (jiddisch: Schwalbe). In der ersten Entwicklungsphase hatte der Verein keine große Bedeutung für die jüdische Gesellschaft von Lemberg. Erst 1905 – als die Leitung von Ingenieur Izrael Zinn übernommen wurde – kam es zu einem sportlichen und organisatorischen Aufblühen.14 Lemberg entwickelte sich damals zum Zentrum der galizischen jüdischen Turnerschaft.15 Doch die nationalen Bestrebungen der Polen, Ukrainer bzw. Juden kamen im Fußball am deutlichsten zum Ausdruck. Die Unterstützung der einzelnen Mannschaften stellte unter diesen Bedingungen einen patriotischen und national-befreienden Akt dar.16 Der Fußball wurde von Edmund Cenar, einem Professor an einem Lemberger Lehrerseminar, langjährigem Mitglied und enthusiastischem Anhänger von »Sokjł« und einem der wichtigsten und besten damaligen Sport-Spezialisten in Galizien, nach Lemberg gebracht.17 Jedes Jahr unternahm er Auslandsreisen, um seine Sportkenntnisse zu erweitern. Im Jahre 1892 brachte er von einer Reise nach England den ersten echten Lederball mit. Den Ball übergab er den Schlagballspielern, die mit ersten Fußballtrainingseinheiten begannen – damals aber noch ohne Regelkenntnisse. So waren etwa Straf-, Eck- und Freistöße noch weitgehend unbekannt. Erst ein Jahr später führte das »Sokjł«-Mitglied Ingenieur Niedzielski die ersten richtigen Trainings – schon nach den Vorschriften der englischen Football Associacion – ein. Niedzielski hatte das Spiel bei Engländern in Odessa gelernt.18 Die grundlegenden Regeln des Fußballs wurden von Edmund Cenar schon vorher, 1891, in

13 Blecking, Muskeljuden, 73. . . 14 Jarosław Rokicki, Pocza˛tki zydowskich organizacji sportowych, in: Biuletyn Zydowskiego Instytutu Historycznego, 4 (1998), 70. 15 Anke Hilbrenner, Sport und die jüdische Suche nach Gemeinschaft in (ost-)europäischen Metropolen der Zwischenkriegszeit, in: Aschkenas 27 (2017), 81. 16 Dariusz Wojtaszyn, Politics at the Football Stadium, Public History Weekly, 5 (2017) 31, URL: https://public-history-weekly.degruyter.com/5-2017-31/politics-at-the-football-stadium/ (abgerufen 6. 1. 2018). 17 Vgl. Kazimierz Toporowicz, Cenar Edmund, in: Wychowanie Fizyczne i Sport 2 (1967), 117–119. 18 Tadeusz Dre˛giewicz/Stanisław Polakiewicz/Rudolf Wacek, Cze˛s´c´ I (lata 1900–1904–1914), in: Rudolf Wacek/Tadeusz Dre˛giewicz/Marian Kobiak/Stanisław Polakiewicz (Hg.), Ksie˛ga pamia˛tkowa pos´wie˛cona 35-leciu działalnos´ci Lwowskiego Klubu Sportowego Pogon´ 1904– 1939, Lwjw 1939, 23–24.

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einem Buch für die Schuljugend19 erklärt, dann 1896 aus dem Englischen ins Polnische übersetzt20 und später von einem Redakteur namens Kazimierz Hemerling in Presseartikeln in der ersten polnischen Sport-Zeitung, der »Gazeta Sportowa«21, verbreitet. Die öffentliche Premiere eines Fußballmatches der polnischen Sportbewegung fand am 14. Juli 1894 auf den großen Wiesen im Lemberger Stryjski-Park statt. Leider ist keine Aufnahme dieses Ereignisses erhalten. Laut Jjzef Hałys wollten ursprünglich einige Gymnasiallehrer erstmals 1892 auf dem ersten Verbandstreffen der »Sokjł« in Lemberg das Fußballspiel öffentlich präsentieren, wozu es aber nicht kam.22 Eine Präsentation war erst 1894 auf dem zweiten Verbandstreffen der »Sokjł«-Bewegung möglich, als die Mannschaften aus Lemberg (in weißen Hemden und grauen Hosen) und Krakau (in weißen Hemden und schwarzen Hosen) vor etwa 7.000 ZuschauerInnen gegeneinander antraten. Nicht nur Zuschauer, sondern auch die Spieler kannten sich wahrscheinlich noch nicht so recht mit den Regeln aus. Das Spiel soll dann nicht nach englischen, sondern nach »einheimischen Regeln«23 stattgefunden haben. Nach einem kurzen chaotischen Spiel erzielte nach sechs Minuten der damals 16jährige Schüler und spätere Gymnasiallehrer Włodzimierz Chomicki – aus einer angeblich abseitsverdächtigen Position – das erste Tor für die Lemberger Mannschaft und damit gleichzeitig das allererste Tor in der Geschichte des polnischen Fußballs. Direkt danach beendete der aus Krakau stammende Schiedsrichter, der Medizin-Student und spätere Professor der Jagielloner Universität in Krakau, Zygmunt Wyrobek, gemäß der Anweisung des Leiters des Verbandstreffens Antoni Durski das Match, um Platz für den Schwerpunkt des »Sokjł«-Treffens – die Turnerübungen – zu machen. Die Proteste der Gäste aus Krakau und des Schiedsrichters waren vergeblich.24 In der Erinnerungskultur der Polen markiert dieses Spiel heute das allererste Fußballspiel in der nationalen Geschichte, und die Stadt Lemberg gilt als die Wiege des polnischen Fußballs. Die Propaganda der kommunistischen Volksrepublik Polen versuchte jahrzehntelang vergeblich das Spiel als Erinnerungsort der Polen zu löschen. Nach der Westverschiebung Polens nach dem Zweiten

19 Edmund Cenar, Gry gimnastyczne młodziez˙y szkolnej, Lwjw 1891. 20 Edmund Cenar, Gry piłka˛, Lwjw 1896. 21 Kazimierz Hemerling, Prawidła gry w piłke˛ noz˙na˛ (Football Asociation), Gazeta Sportowa, 8. 7. 1900, 3; vgl. Kazimierz Toporowicz, Hemerling Kazimierz, in: Wychowanie Fizyczne i Sport 2 (1968) 109–111. 22 Jjzef Hałys, Polska piłka noz˙na, Krakjw 1986, 13–14; Piotr Chomicki/Leszek S´ledziona, Rozgrywki piłkarskie w Galicji do roku 1914, Mielec 2015, 10–12. 23 Dre˛giewicz/Polakiewicz/Wacek, Cze˛s´c´ I, 24. 24 Hałys, Polska, 14–15; Robert Kalimullin/Martin Brand, Fussball und Nation in Ostgalizien, in: Inter Finitimos 9 (2011), 50.

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Abb. 2: Fußball-Denkmal in Lviv, das 2004 im Stryjski-Park errichtet wurde. (Quelle: Privatarchiv Dr. Maryan Lopata, Lviv)

Weltkrieg wurde Lemberg ein Teil der Sowjetunion und das erste polnische Spiel in einer somit sowjetischen Stadt zu einem Tabuthema. Aber auch im öffentlichen Diskurs der Ukraine fungierte das Spiel als die erste ukrainische Fußballpartie. Am 15. Juni 1999 erklärten der Ukrainische Fußballverband (Federacija Futbołu Ukrajiny) und das ukrainische Parlament diese Begegnung zum Beginn des Fußballs in der Ukraine.25 Sogar der damalige ukrainische Präsident Leonid Kutschma gab dazu eine Erklärung ab: »Unser Fußball ist älter als der russische, fast so alt wie der brasilianische oder der italienische. Man muß darüber laut sprechen: alle sollen wissen, dass die Ukraine

25 Robert Kalimullin/Martin Brand, Kicken in der kleinen Filiale der großen Welt – Lemberger Fußball von 1894–1945, in: Diethelm Blecking/Lorenz Peiffer/Robert Traba (Hg.), Vom Konflikt zur Konkurrenz. Deutsch-polnisch-ukrainische Fußballgeschichte, Göttingen 2014, 201.

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eine lange Sport- und Fußballtradition hat«.26 Um diese Sichtweise zu festigen wurde 2004 im Stryjski-Park in Lemberg ein Denkmal errichtet, das unter anderem dem angeblich 110. Jahrestag des ukrainischen Fußballs gewidmet wurde. In einer Inschrift wird das Spiel als jenes Match, das die Geschichte des nationalen ukrainischen Fußballs in Gang gebracht und Lemberg zum Ursprung des ukrainischen Fußballs gemacht habe, dargestellt.27 Auch im Kontext der FußballEuropameisterschaft 2012 in Polen und der Ukraine wurde das Lemberger Spiel vom 14. Juli 1894 offiziell der internationalen Öffentlichkeit als das erste Fußball-Match in der nationalen Geschichte der Ukraine präsentiert.28 Eine große Brauerei führte die nationale ukrainische Erinnerung an das Spiel ad absurdum: Zum vermeintlichen 115-jährigen Jubiläum des ukrainischen Fußballs brachte sie eine neue Biermarke auf den Markt; in der begleitenden Werbung wurde das Ergebnis des Spieles als 1:0-Sieg der Ukraine gegen Polen bezeichnet.29 Die Entwicklung des Fußballs in Lemberg sollte nach der ersten, recht kurzen offiziellen Demonstration der Sportart, mit den Aktivitäten von Dr. Eugeniusz Piasecki30 verbunden sein, der 1899 nach Lemberg kam und eine Stelle als Lehrer im Vierten Gymnasium übernahm. Piasecki hat damals die Körpererziehung in der Schule gründlich reformiert, indem er statt Turnübungen auf breiter Basis Mannschaftsspiele sowie andere Sportarten einführte. Eine besondere Rolle spielte dabei der Fußball. Die Tätigkeit von Eugeniusz Piasceki und von anderen einheimischen, aber auch ausländischen Fußball-Enthusiasten31 führte dazu, dass Fußball in kürzester Zeit zu den populärsten Sportarten wurde.32 Bald kam es auch zur Gründung von ersten Fußballmannschaften in Lemberg.33 Im Sommer 1903 entstanden die zwei ersten polnischen Klubs – im Sechsten Gymnasium wurde der Lemberger Sportklub Lechia gegründet und etwa eine Woche später ging aus den Sportgruppen der Ersten und Zweiten Realschulen der Lemberger Fußballklub Sława hervor. Im Frühjahr 1904 wurde 26 Zit. n. Waldemar Kowalski, »Match footballowy« miał byc´ ciekawostka˛, a przeszedł do historii. To było pierwsze 6 minut polskiej piłki, Na Temat, URL: http://natemat.pl/148563, match-footballowy-mial-byc-ciekawostka-a-przeszedl-do-historii-to-bylo-pierwsze-6-minut -polskiego-futbolu (abgerufen 6. 1. 2018). 27 Kalimullin/Brand, Kicken, 201. 28 Dies bestätigte auch ein Referat des bekannten polnischen Fußball-Journalisten Stefan Szczepłek: Stefan Szczepłek, Mundiale pełne polityki, Internationale Konferenz »Piłka noz˙na na celowniku polityki«, Wrocław, 23.–25. 4. 2012. 29 Kalimullin/Brand, Fussball, 55. 30 Vgl. Kazimierz Toporowicz, Eugeniusz Piasecki (1872–1947). Z˙ycie i dzieło, Krakjw 1987. 31 Zu dieser Gruppe gehörte auch der tschechische Radsport-Trainer Jjzef Vejtruba, vgl. Z lwowskiego toru cyklistjw, Gazeta Sportowa, 8. 7. 1900, 3. 32 In »Gazeta Sportowa« wurden 1900 die zwei ersten polnischen Fußballberichte veröffentlicht: Gazeta Sportowa, 15. 10. 1900, 121; Gazeta Sportowa, 1. 11. 1900, 129. 33 Siehe ausführlich: Encyklopedia piłkarska Fuji kolekcja klubjw, Bd. 4: Lwjw i Wilno w ekstraklasie. Dzieje polskiego futbolu kresowego, Katowice 1997.

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in Piaseckis Schule, dem Vierten Gymnasium, der Klub Gimnastyczno-Sportowy (Sport- und Turnklub) gegründet. 1905 wurde Sława Lwjw in Lemberger Fußballklub Czarni umbenannt und zwei Jahre später erhielt der Klub Gimnastyczno-Sportowy des Vierten Gymnasiums den Namen Lemberger Sportklub Pogon´.34 Zum ersten Präsidenten von Pogon´ wurde Eugeniusz Piasecki gewählt. Nach der polnischen Unabhängigkeit sollte Pogon´ Lwjw unter der Leitung des österreichischen Meistertrainers Karl Fischer zu einer der erfolgreichsten polnischen Vorkriegs-Fußballmannschaften avancieren (vier Meistertitel: 1922, 1923, 1925, 1926; drei Vizemeistertitel: 1932, 1933, 1935). 1938 erhielt Pogon´ Lwjw den Titel des »besten und verdientesten Sportklubs in Polen«.35

Abb. 3: LKS Pogon´ Lwjw – 1907. (Quelle: Archiwum Foto Muzeum Sportu i Turystyki w Warszawie)

Die Vereinsfarben von Czarni (deutsch: Schwarz) Lwjw waren schwarze Hosen und schwarze Hemden mit einem von links unten nach rechts oben quer verlaufenden roten Balken. Die Farben Pogon´s waren Blau und Rot. Die Gründer von Pogon´ hatten 1907 überlegt, welche Farben sie auswählen sollten. Zwei von ihnen, Karol Szajdek und Stanisław Polakiewicz, fanden in der ausländischen Presse die Information, dass die Vereinsfarben von Everton in Liverpool blau und rot waren. Und gerade, weil sie sich die besten Mannschaften zum Vorbild

34 Siehe ausführlich: Dre˛giewicz/Polakiewicz/Wacek, Cze˛s´c´ I, 27–34. 35 Wste˛p in: Wacek/Dre˛giewicz/Kobiak/Polakiewicz (Hg.), Pogon´, 5.

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nehmen wollten und die offiziellen Farben der Stadt Lemberg auch blau und rot waren, entschieden sie sich für diese Farben.36 Danach entstanden in Lemberg auch andere Fußballmannschaften: der Lemberger Sportklub Sparta Lwjw (1910), Lemberger Sportklub Amatorzy (1913), der Arbeiter Sportklub (Robotniczy Klub Sportowy – RKS) Lwjw (1920), in dem die Arbeiterjugendlichen über eine eigene Sportorganisation verfügten sowie die Sportklubs S´witez´ Lwjw (1925) und Biały Orzeł Lwjw (Weißer Adler Lemberg – 1925). In Lemberg wurde auch der überregionale organisatorische Rahmen des polnischen Fußballsports geschaffen. 1911 entstand dort der autonome Zwia˛zek Polski Piłki Noz˙nej (Polnischer Fußball-Bund) als Mitglied des Österreichischen Fußball-Verbandes (ÖFV).37 Die Lemberger Klubs dienten als Anstoß für die Gründung von weiteren Fußballmannschaften in ganz Galizien. Nachdem Czarni und der Klub Gimnastyczno-Sportowy 1906 zu einem Demonstrationswettkampf in Krakau waren, gründete man dort die auch heute noch existierenden bekannten Vereine Cracovia und Wisła. 1909 eröffnete Pogon´ seine Filiale in westgalizischen Jarosław – Pogon´ Jarosław. Wenige Jahre nach der Gründung der ersten polnischen Mannschaften entstanden ukrainische und jüdische Fußballklubs: Am Anfang des 20. Jahrhunderts gehörte Fußball auch zu den Lieblingsaktivitäten der ukrainischen Jugend. 1906 wurde von einem Pionier und Patron des ukrainischen Fußballs in Lemberg, Professor Ivan Boberskyj, einem Mitbegründer des »Sokił Bat’ko« und Lehrer am Ukrainisch-Akademischen Gymnasium in Lemberg, der Ukrainische Sportkreis (Ukrainskyj Sportywnyj Kruz˙ok – USK) gegründet. Um den ukrainischen Fußball zu professionalisieren und in Konkurrenz zu den polnischen Kollegen zu treten, engagierte er einen Fußballlehrer aus Böhmen. Ein Jahr darauf entstand der Sportklub Dnipro, dem die ukrainischen Schüler der polnischen Gymnasien in Lemberg angehörten. 1911 gründeten die ukrainischen Studenten den Fußballklub Ukraina Lviv, um auch an der Universität weiterhin Fußball spielen zu können. Das erste Match spielte Ukraina gegen den USK, weitere, auch gegen tschechische und polnische Fußballmannschaften, folgten.38 Auch in der jüdischen Gemeinde der Stadt wurde um die Jahrhundertwende begeistert Fußball gespielt. Im Juni 1908 gründete eine Gruppe junger Fußballbegeisterter, die auch Mitglieder des Jüdischen Turn- und Sportvereins »Dror« waren, den Sportklub Hasmonea.39 Der Name stammt vom Königs- und Priestergeschlecht der Hasmonäer ab. Der Klub wurde vom konservativen, 36 Stefan Szczepłek, Moja historia futbolu, Bd. 2: Polska, Warszawa 2007, 12; blau und rot waren nur für eine kurze Zeit um die Jahrhundertwende die Vereinsfarben von Everton. 37 Szczepłek, Moja, 14; Chomicki/S´ledziona, Rozgrywki, 96. 38 Vgl. Encyklopedia, 114–115; Michalski, Pierwsze, 256. 39 Vgl. Rokicki, Pocza˛tki, 70–71; Encyklopedia, 92–107; Michalski, Pierwsze, 257.

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bu¨ rgerlichen Judentum unterstützt.40 Bald fand Hasmonea seinen Platz unter den besten Fußballvereinen nicht nur in Lemberg, sondern zählte zu den wichtigsten und besten jüdischen Mannschaften in der österreichischen Monarchie. 1910 wurde das Team in die zweite Klasse des Österreichischen FußballVerbandes einbezogen. Zugleich war der Klub unter den jüdischen Jugendlichen auch deshalb so beliebt, weil er ihnen ein organisiertes jüdisches gesellschaftliches Leben bot.41 1909 entstand darüber hinaus in Lemberg auf Initiative der . jüdischen akademischen Jugend der Jüdische Sportklub (Zydowski Klub Sportowy).42 Erst 1923, nach der Gründung des unabhängigen polnischen Staates nach dem Ersten Weltkrieg, wurde in Lemberg auch der Verein der deutschen Minderheit (VIS Lwjw) gegründet.43 Die Fußballvereine Lembergs waren national geprägt und verstanden sich selbst als Orte des nationalen Bewusstseins.44 Der Fußballsport in Lemberg war von der Elite der Stadt, von der Intelligenz und Bourgeoisie, gestaltet und geprägt. Die Klubgründer kamen aus der Schul- und Universitätsjugend, dem Bürgertum und waren meist Lehrer und Dozenten der Hochschulen.45 Sie waren sich der kulturellen Bedeutung des Fußballs für die lokale Gemeinschaft bewusst und schätzten seine Rolle in der Entwicklung der nationalen Identität richtig ein. Sehr wichtig war in diesem Zusammenhang die Haltung Wiens. Die zuständigen Behörden haben die nationalistisch orientierte Fußballtätigkeit nicht nur toleriert, sondern sogar unterstützt. Die national geprägten Vereine aus Lemberg wurden in die einzelnen Klassen des Österreichischen Fußball-Verbandes einbezogen und der Polnische Fußballbund wurde offiziell registriert. Von der Atmosphäre bei Spielen der polnischen, jüdischen und ukrainischen Klubs ist leider nicht viel bekannt. In den ersten Spielberichten in der Lemberger Presse, vor allem der Sportzeitung »Gazeta Sportowa«, war etwa das Verhalten der Anhänger noch kein Thema. Die Zuschauerlandschaft war vor allem von der Rivalität zwischen Pogon´ und Czarni geprägt. Alle Lemberger Klubs hatten ihre Anhänger, aber die meisten EinwohnerInnen waren entweder Pogon´- oder Czarni-Sympathisanten. Das erste »Große Derby« wurde 1907 ausgetragen. Die Spiele waren durchwegs immer von mehreren Tausend ZuschauerInnen besucht. 40 Thomas Urban, Schwarze Adler, weiße Adler. Deutsche und polnische Fußballer im Räderwerk der Politik, Göttingen 2011, 97. 41 Michalski, Pierwsze, 257; Kalimullin/Brand, Kicken, 194–195. 42 Michalski, Pierwsze, 257. 43 Vgl. Sepp Müller, Von der Ansiedlung bis zur Umsiedlung. Das Deutschtum Galiziens, insbesondere Lembergs 1772–1940, Marburg/Lahn 1961, 182–184; Kalimullin/Brand, Fussball, 54; Dariusz Kimla, Derby. Czarni Lwjw-Pogon´ Lwjw, Slow Foot, URL: http://slowfoot.pl/der by-24-czarni-lwow-pogon-lwow/ (abgerufen 6. 1. 2018). 44 Kalimullin/Brand, Fussball, 51. 45 Szczepłek, Moja, 13.

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Es war dies das größte Publikum in ganz Galizien.46 Den Antagonismus zwischen beiden Mannschaften beschrieb der Lemberger Dichter und große Fan von Pogon´, Kazimierz Schleyen: »Das sportbegeisterte Publikum in Lemberg war im Prinzip gerecht. Einzige Ausnahme waren die Partien zwischen Pogon´ und Czarni. Da hat der Klubchauvinismus alles verdeckt. […] Manchmal war es so, dass zwei Brüder zu antagonistischen Blöcken gehörten. Und das war eine richtige Familien-Katastrophe. […] Ein Anhänger von Pogon´ konnte nicht mit einem Fan von Czarni befreundet sein. Sogar in der Schule konnten sie nicht zusammen in einer Bank sitzen«.47

Die späteren Presseberichte zu den Partien zwischen den polnischen und jüdischen Mannschaften im neugegründeten polnischen Staat lassen vermuten, dass auch die früheren Begegnungen in angespannter Atmosphäre stattfanden. Die Spiele von Hasmonea gegen Pogon´ bzw. Czarni Lwjw waren aber nicht so spannungsgeladen, wie etwa die spätere polnisch-jüdische Rivalität im westgalizischen Krakau, Jutrzenka bzw. Makkabi gegen Wisła, wo es oft zu Handgreiflichkeiten unter den Fans kam. Gravierendere Fanausschreitungen fanden nämlich immer wieder zwischen den Anhängern der einzelnen jüdischen Vereine statt, welche als »politische« Kontroversen zwischen verschiedenen jüdischen Gruppierungen betrachtet wurden.48 Anders sahen wahrscheinlich die Spiele zwischen polnischen und ukrainischen Klubs aus. Der ukrainische Sportjournalist Oleksandr Pauk ist der Ansicht, dass ZuschauerInnen diese Partien zwar immer sehr hitzig, aber meist friedlich begleitet hätten.49 Das hängt wahrscheinlich auch damit zusammen, dass das Niveau der ukrainischen Klubs nicht so hoch war. Ukraina Lviv oder UKS hatten damals gegen die besten polnischen Clubs – z. B. Pogon´ oder Czarni – keine Chance. Sie gehörten nicht zu den besten Mannschaften in Lemberg und ihre Auftritte riefen nicht derart große Emotionen hervor. Die Geschichte des Lemberger Fußballs unter der österreichischen Herrschaft – vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Ende der österreichischen Monarchie – zeigt, dass sich der Fußball entlang nationaler Volkszugehörigkeiten entwickelt hat und sich die nationalen Spannungen in Lemberg auch im Fußball wiederfanden.50 Noch heute spielt die Fußballgeschichte der Stadt eine wichtige Rolle in den nationalen Diskursen Polens. Die Namen der Lemberger Klubs Lechia und Pogon´ werden bis heute in Polen benutzt. Nach der Westverschiebung Polens nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Lemberg zu einer sowjetischen Stadt und die 46 47 48 49 50

Kimla, Derby. Kazimierz Schleyen, Lwowskie gawe˛dy, Warszawa 1999, 45. Urban, Schwarze, 96–99. Encyklopedia, 114–116; Kalimullin/Brand, Kicken, 195–196. Kalimullin/Brand, Kicken, 200.

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ehemaligen EinwohnerInnen wurden nach Westen zwangsumgesiedelt. Die vertriebenen Lemberger initiierten in der neuen Heimat, in den ehemaligen deutschen Ostgebieten, die Gründung bzw. Umbenennung der Mannschaften, die heute zu den bekanntesten polnischen Vereinen gehören – Pogon´ Szczecin/ Stettin51 und Lechia Gdan´sk/Danzig.52 Auf die Tradition von Pogon´ Lwjw rekurrierte auch der oberschlesische Verein Polonia Bytom.53

Abb. 4: Die reaktivierte Mannschaft Pogon´ Lviv vor einem Ligaspiel am 1. Oktober 2017. (Quelle: Organizacja Społeczna Lwowski Klub Sportowy Pogon´)

Im Jahr 2009 wurde von der polnischen Minderheit in Lviv der Verein Pogon´ Lwjw reaktiviert.54 Die Mannschaft wird vom polnischen Konsulat, polnischen Firmen und der Stiftung »Semper Fidelis« unterstützt. Auch die polnischen Fans von verschiedenen Klubs sammeln – mit Unterstützung der größten polnischen Radio- und Fernsehsender – Spenden für Pogon´. Aktuell spielt das Team in der Premier Liga des Lemberger Bezirks (vierthöchste Spielklasse). Heutzutage kicken hier sowohl Spieler mit polnischen als auch ukrainischen Wurzeln. Das historische Kapital und die Tradition des Vorkriegsvereines Pogon´ werden dabei

51 Vgl. Florian Krygier, 50 lat piłki noz˙nej w MKS Pogon´ Szczecin 1948–1998, Szczecin 1998. 52 Historia, Lechia Gdan´sk, URL: http://www.lechia.pl/historia-25 (abgerufen 6. 1. 2018). 53 Krzysztof Kawe˛cki, Pogon´ Lwjw z˙yje! Prawy.pl, URL: http://prawy.pl/231-pogon-lwow-zyje/ (abgerufen 6. 1. 2018). 54 Vgl. LKS Pogon´ Lwjw, URL: http://pogon.lwow.net (abgerufen 6. 1. 2018).

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von den Klub-Verantwortlichen durchaus offensiv eingesetzt, um die Mannschaft in Richtung des Profi-Fußballs weiterzuentwickeln.55 Aber auch die Ukrainer bedienen sich an der Lemberger Fußballgeschichte, was vor allem an doch recht eigenwilligen Geschichtskonstruktionen abzulesen ist. Trotz anderslautender historischer Fakten wird etwa das erste Lemberger Fußballspiel von 1894 für eigene politischen Zwecke und Identitätskonstruktionen genutzt. Von großer Relevanz für die Belebung der Lemberger Fußballtradition ist die Erinnerung – besonders bei der polnischen Minderheit in Lviv – an den polnischen Traditionsverein Pogon´ Lwjw, die ihren deutlichsten Ausdruck in der Reaktivierung des Vereins im Jahr 2009 fand.

55 Kalimullin/Brand, Kicken, 202.

Sport in der Etablierungsphase

Roman Horak

»Seid umschlungen, Billionen!« Josef Uridil und die Formation einer frühen sportlich geprägten Massenkultur

Josef Uridil war ein Star in den Anfangszeiten von stardom, seine Formation als ›Star‹ in den Jahren nach 1918 verortet sich in der Spannung der Erfahrung der Nachkriegszeit und den Versprechungen der frühen Kulturindustrie. Gewiss war er nicht der erste populäre Fußballspieler Wiens, aber – und hier ist das wesentlich Neue anzusiedeln – er wurde, mehr als Objekt denn als Subjekt, wie eine Autobiografie am Höhepunkt seiner Popularität festhält,1 Teil einer multimedialen Inszenierung, die zu jener Zeit ihresgleichen sucht.2 Knapp zwei Jahrzehnte hatte es gedauert, bis sich aus dem weithin unbeachteten Steckenpferd einer noblen, anglophilen bürgerlich-liberalen Minderheit der moderne Zuschauersport Fußball zu entwickeln begonnen hatte. Mit der Einführung eines regulären Meisterschaftsbetriebes in Wien (1911/12) waren die Grundlagen jener Entwicklung gelegt worden, die nach dem Ende des Ersten Weltkriegs aus dem Sport der Gentlemen ein popularkulturelles Vergnügen werden ließen. Nun bevölkerten Woche um Woche zehntausende ZuschauerInnen die Spielplätze, Länderspiele mobilisierten bis zu 80.000 Fanatiker dieses relativ neuen Spektakels.3 Die notwendige Grundlage für die Ausformung neuer Freizeitpraxen bildete die von der Arbeiterbewegung erkämpfte Sozialgesetzgebung, vor allem die im Dezember 1918 gesetzlich festgeschriebene Regelung des Acht-Stunden-Tages. Erst vor dem Hintergrund eines fixierten Ausmaßes »arbeitsfreier« Zeit der Erwerbstätigen konnte deren massenhafte Aneignung und damit die Umdefinierung des Fußballs vonstatten gehen. 1 Josef Urildil, Was ich bin und wie ich wurde. Die Lebensgeschichte des berühmten Fußballspielers von ihm selbst erzählt, Wien/Leipzig 1924, 79. 2 Dieser Beitrag stellt eine Umarbeitung und Aktualisierung des Aufsatzes: Josef Uridil. Über Kriegsfolgen, Fußball und frühe Massenkultur, in: Matthias Marschik/Georg Spitaler (Hg.), Helden und Idole. Sportstars in Österreich, Wien/Innsbruck/Bozen 2006, 142–148, dar. 3 Vgl. Roman Horak/Wolfgang Maderthaner, Mehr als ein Spiel. Fußball und populare Kulturen im Wien der Moderne, Wien 1997; Matthias Marschik, Vom Herrenspiel zum Männersport. Die ersten Jahre des Fußballs in Wien, Wien 1997.

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Zu einer ›Leitfigur‹ (vor allem) männlich geprägter popularer Kultur wurde der Fußball nicht zuletzt wegen des ihn umgebenden Diskurses. Die Rede über Fußball, wie wir sie in ihrer veröffentlichten Form den diversen, damals zahlreich publizierten (Sport-)zeitschriften entnehmen können, strotzt vor teilweise vertrauten, teilweise heute schwer zu dekodierenden Anspielungen auf Mannschaften, Spieler, Trainer etc. Sie enthält gleichermaßen sexistische und antisemitische Untertöne, wie sie, oft indirekt, proletarisch-lokal gefärbte Formen von Widerstand aufnimmt. Kurz: sie ist in hohem Ausmaß widersprüchlich und sie bleibt nicht auf das Spektakel beschränkt, das ihr eigentlicher, erster Gegenstand ist. Die Geschichte der Wandlung des Fußballspielers Pepi Uridil zum Star ist Ausdruck und Teil jener Entwicklung. Wir befinden uns im Jahre 1922. Es ist das Jahr, in dem der Schlager »Heute spielt der Uridil« erschien, als dessen Mitautor der bekannte Klavierhumorist Hermann Leopoldi firmierte. Das Lied, ein flotter Foxtrott, der auf der Partitur durch die Bezeichnung »Football-walk« näher bestimmt ist, wurde zu einem der erfolgreichsten Schlager der frühen Zwanzigerjahre. Eine Fotografie, aufgenommen im Herbst 1923, zeigt eine Musikkapelle zusammengesetzt aus Rapidanhängern, die ihre Mannschaft bei Betreten des Platzes zum Meisterschaftsspiel gegen den Erzrivalen Wiener Amateursportverein (der spätere FK Austria) mit dem »Uridil-Lied« begrüßt. Der Schlager, der den Rapid-Fußballer Uridil als unwiderstehlichen Stürmer feiert, machte diesen zum einen jenseits der stetig steigenden Zahl der Fußballinteressierten weiter bekannt, wie er andererseits zur Popularisierung des Fußballspiels beitrug.

Abb. 1: »Heute spielt der Uridil«. Vor dem Derby, Das Rapid-Blatt, September 1923. (Quelle: VGA, Wien)

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Die Popularität Josef Uridils jedenfalls stieg und stieg – und so ist es auch nicht weiter verwunderlich, dass der Film, das neue junge Massenmedium, auf ihn kam. In dem leider verschollenen Streifen »Pflicht und Ehre«4 spielt er sich selber, einen (Sports-)Mann aus dem Volke, der einem verarmten, aber redlichen Ex-Aristokraten dabei behilflich ist, »seine verlorene Existenz durch ernste Arbeit zu retten.«5 Die Dreharbeiten fanden 1923 statt, neben Uridil durften auch seine Mannschaftskameraden vom Sportklub Rapid sowie Kollegen des Wiener Amateursportvereines mitspielen, wenngleich nur als Fußballer auf dem Felde. Der Film wurde im Herbst und Winter 1923 mehrfach angekündigt, ja geradezu hochprofessionell beworben. Bereits im Oktober schaltet der »Filmbote« eine doppelseitige Anzeige, in der der Streifen folgendermaßen angepriesen wird: »In einer spannenden dramatischen Handlung bietet dieser Film mit seiner erlesenen Besetzung, seiner prunkvollen Ausstattung, seinen glänzenden Spiel- und Sportszenen eine Meisterleistung der österreichischen Kinematographie.«6 Am 3. November bringen sowohl der »Filmbote« als auch das »KinoJournal« ganzseitige Anzeigen, die allesamt zentral mit Josef Uridil aufmachen. In beiden Fällen heißt es da: »Der internationale populäre Fußballspieler Josef Uridil zum erstenmal im Film.« Die anderen Mitwirkenden, also die Schauspieler, kommen deutlich schwächer hervorgehoben zur Erwähnung.7 Vierzehn Tage darauf finden wir in beiden Zeitschriften erneut ganzseitige8 Werbeeinschaltungen, und der »Filmbote« hält redaktionell dazu zusätzlich fest: »Es ist schon heute mit Sicherheit vorauszusagen, dass dieser Film auf alle Kreise des Publikums die größte Anziehungskraft ausüben wird und sollte es daher von keinem Kinobesitzer unterlassen werden, sich rechtzeitig für diesen einzig dastehenden Geschäftsfilm Termine zu sichern.«9 Im Dezember verdichtet sich die Werbekampagne noch einmal, eine »PresseFestvorführung« im Löwenkino im dritten Bezirk wird für Sonntag, den 16. Dezember 1923, halb 11 Uhr vormittags, angekündigt. Die Filmwerke A.G., offenbar die Vertriebsgesellschaft, lässt zwei Anzeigen im »Filmboten« vom 8. Dezember schalten,10 die Ideal-Film Ges.m.b.H., wohl die Produktionsfirma, eine weitere.11 An übliche Praxen gegenwärtigen Boulevards erinnernd, passiert hier der ersteren Gesellschaft ein Missgeschick. In einer doppelseitigen Anzeige wird auf die bevorstehende Festvorführung verwiesen, weiter hinten im Blatt die 4 5 6 7 8 9 10 11

»Pflicht und Ehre«, in: Wiener Kino-Bibliothek, Nr. 954, 1924. Unser Uridil, in: Das Rapid-Blatt, 28. 10. 1923, 5. Pflicht und Ehre, in: Der Filmbote, 27. 10. 1923, 52–53. Das Kino-Journal, 3. 11. 1923, 25; Der Filmbote, 3. 11. 1923, 32. Das Kino-Journal, 17. 11. 1923, 9; Der Filmbote, 17. 11. 1923, 32. Was der Filmbote bringt, in: Der Filmbote, 17. 11. 1923, 21. Der Filmbote, 8. 12. 1923, 24–25; 61. Der Filmbote, 8. 12. 1923, 22.

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Abb. 2: Plakat »Pflicht und Ehre«, in: Kino-Journal, 3. November 1923, 25. (Quelle: ÖNB/ANNO)

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noch ausstehende Veranstaltung als »beispielloser Erfolg« gefeiert.12 Immerhin erfahren wir aber auch, dass der Film »bis jetzt von 80 Kinotheatern in Wien gemietet«13 wurde. Auch im »Rapid-Blatt«, der vereinseigenen Zeitschrift des SC Rapid, findet sich ein interessanter Bericht. Der Film sei als »österreichischer Propagandafilm speziell auf Wirkung im Ausland berechnet.« In die Handlung des Films eingewoben finde eine Fahrt durch die Wachau statt, »die größten österreichischen Industrieunternehmungen werden gezeigt und eine Salome-Aufführung der Oper wird gefilmt (mit Uridil im Stehparterre) usw.«14 In dieselbe Kerbe schlägt ein auf die schon genannte Festvorführung verweisender Kurzbericht im »Sport-Tagblatt«, der festhält: »Der Film ›Pflicht und Ehre‹, der der heimischen Schauspielkunst ein ebenso ehrenvolles Zeugnis ausstellt wie der österreichischen Filmtechnik, zeigt den Wiederaufbau unseres Landes (Hervorhebung im Original, R.H.) an dem Schicksal eines Menschen, der sich aus den Lebenstrümmern einer verlorenen Existenz durch die Arbeit zu retten vermochte.«15

Wie gut die Werbemaschinerie funktionierte, oder wie faul Journalisten (schon) damals waren, bekundet der Umstand, dass die eben zitierte Passage sich wortgleich im »Neuen Wiener Tagblatt« findet.16 Nach besagter Presse- und Festvorführung im Löwenkino finden sich Rezensionen in der »Neuen Freien Presse« (eher kurz gehalten) und im »Neuen Wiener Tagblatt« (recht ausführlich). Die »Neue Freie Presse« bespricht den Film durchaus positiv und sieht ihn als »geschickte Verbindung von Erzählung und Propaganda […]. Propaganda vor allem für Oesterreich und seine Bewohner, für die Donau, die Wachau und ihre pittoresken Ruinen.«17 Das wichtigste, das der Film aber propagiere, wären, so das bürgerliche Blatt, »neue zeitgemäße Ehrbegriffe, die über veraltete Vorurteile den Sieg davon tragen«, »so dass, wenn es einst hieß: ›Es gibt keine andere Pflicht als die Ehre‹, es heute heißen muß: ›Es gibt keine andere Ehre als die Pflicht.‹«18 Ob diese ideologische Figur nun dem Film innewohnt, oder bloß die Leseweise der »Neuen Freien Presse« wiedergibt, ist hier m. E. nicht so wichtig; sichtbar wird jedenfalls der Versuch, ein aristokratisches Narrativ durch ein 12 13 14 15 16

Der Filmbote, 8. 12. 1923, 61. Ebd. Unser Uridil, in: Das Rapid-Blatt, 28. 10. 1923, 7. Der Film »Pflicht und Ehre«, in: Sport-Tagblatt, 14. 12. 1923, 4. Fest- und Pressevorführung des Films »Pflicht und Ehre«, in: Neues Wiener Tagblatt, 14. 12. 1923, 8. 17 »Pflicht und Ehre«, in: Neue Freie Presse, 18. 12. 1923, 26. 18 Ebd.

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Abb. 3: Rapid-Blatt, 11. November 1923. (Quelle: VGA, Wien/ÖNB)

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bürgerliches zu ersetzen. Der Krieg ist noch nicht so lange vorbei und Österreich ringt um eine neue (demokratisch-bürgerliche) Identität. Zu Uridils Präsenz im Film weiß die »Neue Freie Presse« jedenfalls zu berichten: »Erstaunlich übrigens die Natürlichkeit, mit der er sich der ungewohnten Aufgabe entledigt.«19 Der Bericht im »Neuen Wiener Tagblatt« beschreibt launig das Treiben rund um die Pressevorführung, um dann ausführlich die Handlung und die Figuren des Films wiederzugeben.20 Nicht ohne Stolz verweist hingegen die Klubzeitschrift Rapids darauf, dass es sich bei dem Film um einen »richtigen kilometerlangen Großfilm« handelt und Uridil als Schauspieler, nicht bloß als einer von 22 Akteuren eines kurzen filmischen Spielberichts, ja sogar als Träger einer Hauptrolle darin vorkomme. Das »Rapid-Blatt« gibt auch die Besetzungsliste an – und dabei fällt dem Redakteur etwas auf. »Wie man sieht, befindet sich Uridil in guter Gesellschaft, und die feine Differenzierung im Programm, die den neuen Kollegen Uridils ihre Vornamen und die Attribute ›Herr‹ und ›Frau‹ gönnt, während Uridil eben bloß Uridil ist, beweist, dass auch die Kinoleinwand dem Rapidmann jenen Grad wienerischer Popularität einräumt, in dem man eben nicht mehr ein Herr Josef usw., sondern ganz einfach der Uridil ist. Wie es in Wien ja auch nie einen Herrn Alexander Girardi gab, sondern ganz einfach den ›Girardi‹.«21

Dieser Vergleich taucht immer wieder auf, er ist zwar nahe liegend, wenn er das Ausmaß der Verehrung andeuten soll, die Uridil genoss, aber er hinkt, wenn es um Genese, Beschaffenheit und Struktur dieser Verehrung geht. Girardi war ein Schauspieler, als solcher wurde er zum Gegenstand der Anbetung, Uridil hingegen war zuallererst Fußballspieler. Wir haben es beim ersteren, wie auch immer volkstümlich gebrochen, mit einem Künstler und Vertreter der hohen Kultur zu tun, beim zweiten handelt es sich um die erste Verkörperung eines Stars, der von einem sich gerade zu einem popularkulturellen Phänomen entwickelnden modernen Massenspektakel, dem Sportspiel Fußball, herkommt.

I.

Die Produktion eines Stars

Es ist die Konstruktion dieses ›Stars‹ im Rahmen einer frühen Freizeit-, ja Kulturindustrie, die uns hier interessiert und der wir weiter nachgehen wollen. Der Regisseur des Films »Pflicht und Ehre«, Alfred Deutsch-German, hat sich um die 19 Ebd. 20 Pflicht und Ehre. Der Film des Tages, in: Neues Wiener Tagblatt, 18. 12. 1923, 7. Zur Handlung des Filmes siehe auch die Zusammenfassung der Ideal-Filmgesellschaft: Pflicht und Ehre, in: Das Kino-Journal, 22. 12. 1923, 10–11. 21 Unser Uridil, in: Das Rapid-Blatt, 28. 10. 1923, 7.

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Definition und Vermarktung des Produkts »Uridil« besonders verdient gemacht. So verfasste er auch einen kleinen Roman mit demselben Titel und mit ähnlicher Story.22 In beiden Fällen agiert Fritz Reuter (Uridil) als wackerer Mann aus dem Volke, der, wenn es gegen das Böse geht, durchaus zu drastischen Mitteln zu greifen bereit ist. Die Titelseite des Buches, eine kolorierte Zeichnung, zeigt den Helden im grünweißen Fußballdress, der eben im Begriff ist, den Bösewicht mittels eines kräftigen Trittes mit seinem linken Fuß durch die Tür ins Freie zu befördern. Deutsch-German erkennt nicht nur das exzeptionelle Ausmaß von »Volkstümlichkeit«, das Uridil erlangt hatte, er beschreibt es im Roman bzw. im Film – also er verdoppelt dieses – und wendete es in einer geradezu pionierhaft anmutenden Strategie. Kaum ist der Roman erhältlich, hat auch der Film Premiere. Am 1. Februar 1924 läuft er in acht Wiener Kinos an, darunter in den beiden größten Kinos der Inneren Stadt, dem Gartenbau- und dem Burgkino mit jeweils knapp 500 Sitzplätzen.23 In den nächsten beiden Wochen kommt der Film auch in die Vorstadt, auch hier wird er in den großen Sälen vorgeführt. Insgesamt kann man Uridil in 23 Kinos der Hauptstadt bewundern, darunter im Zirkus Busch-Kino im Prater, dem damals größten Wiener Lichtspielheater mit einem Fassungsraum von 1.767 BesucherInnen und im Weltsspiegel-Kino am Lerchenfeldergürtel, das mit 926 Plätzen das imposanteste Vorstadtkino war.24 Man kann also – ohne die Besucherzahlen zu kennen – annehmen, dass der Film einigermaßen präsent war. Ein cineastisches Meisterwerk dürfte er aber nicht gewesen sein, denn Bela Balazs, der seit Dezember 1922 regelmäßig in der Rubrik »Film-Reporter« der Zeitschrift »Der Tag«, wie er selber rückblickend nicht ohne Stolz bemerkt, »zum ersten Mal in Wien eine ernste Filmkritik«25 betrieb, war »Pflicht und Ehre« keine Zeile wert. Dabei hatte gerade der »Tag« den Film anlässlich seiner Premiere entsprechend beworben, u. a. erfuhr man dort, dass der Roman »in allen Lichtspieltheatern bei den Billeteuren erhältlich« wäre.26 Als Filmvorlage ein Dreigroschenroman, der zudem in den Kinos verkauft wird, der Verfasser, der zugleich Regisseur des Films ist – deutliche Indikatoren für ein geschicktes, auf den Markt hingedachtes Vorgehen. Die Premiere des Streifens fiel mit einer Revue mit dem Titel »Seid umschlungen, Billionen« zusammen, bei der der Fußballstar allabendlich in Gesellschaft von u. a. Hans

22 Alfred Deutsch-German, Pflicht und Ehre. Das Herz der Madelaine Antonitsch, Wien o. J. (1923). 23 Der Tag, 1. 2. 1924, 16. 24 Wiener Lichtspieltheater, in: Arbeiter-Zeitung, 7. 2. 1924, 12. 25 Film-Reporter, in: Der Tag, 25. 12. 1923, 5. 26 Der Tag, 1. 2. 1924, 16.

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Moser auftrat und im grünweißen Fußballdress ein Couplet zum Vortrag brachte.27 Besagte Revue wurde von Deutsch-German gemeinsam mit Armin Friedmann, der in der Zwischenkriegszeit als Autor zahlloser Operetten, Sketche und Theaterstücke eine gewisse Berühmtheit genoss, gestaltet. Auch hier finden wir eine recht ansehnliche Werbekampagne, zahlreiche Zeitungen kündigen die Veranstaltung an und Anzeigen werden geschaltet.28 In den Kritiken kommt die Revue unterschiedlich gut weg, Uridils Auftritt jedenfalls wird als durchaus gelungen, aber gelegentlich nicht unironisch, besprochen. Im »Neuen Wiener Journal« heißt es etwa: »Selbst Josef Uridil, der Fußballer, den seine bisherige Karriere nur verpflichtet, viele Goals zu schießen, nicht aber auch Couplets zu singen, zog sich mit erstaunlicher Sicherheit aus der Affäre.«29 Der »Wiener Zeitung« fehlt der Witz, »diesmal will es nicht so recht, das Lachen«, schreibt der Rezensent, um resignierend zu schließen: »Aber wir leben ja im Fasching der Shimmys. Da gilt nicht Raimund noch Nestroy, da ist – Uridil Trumpf.«30 Der »Arbeiter-Zeitung« ist »Seid umschlungen, Billionen« nur einen kurzen Verriss wert, wenn sie festhält, es handle sich um ein »Machwerk übelster Gattung […]. Dabei von einer Ordinärheit der Sprache, die selbst an dieser Stätte verblüffend wirkt.«31 Selbst der Auftritt des Fußballspielers Uridil (der als Aufputz fungiere) konnte den Abend nicht retten. »Die erhoffte Sensation blieb aus […], schade um die Zeit und die verlorene Mühe der Schauspieler!«32 Dass hier wohl ein gewisser sozialdemokratischer Puritanismus durchschimmert, sei an dieser Stelle nur kurz erwähnt.33 Alfred Deutsch-German war vermutlich derjenige, der am strategischsten an der Produktion des Stars Uridil gearbeitet hat, aber er war nicht der einzige. Die unterschiedlichsten Firmen rissen sich um den Fußballer, als Werbeträger war er allerorten gefragt. Bald prangte sein Name auf Bonbonpackungen und auf Limonadenflaschen; Schnäpse, Seifen, Wäsche, Weine, Liköre, Sportbekleidung 27 Seid umschlungen, Billionen, in: Neues Wiener Tagblatt, 4. 2. 1924, 12. 28 Ankündigung, Illustrierte Kronen-Zeitung, 23 . 1. 1924, 8; Theater und Kunst, Neues Wiener Journal, 26. 1. 1924, 10; Neues Wiener Journal, 1. 2. 1924, 12, 16; Ankündigung, Reichspost, 1. 2. 1924, 8. 29 (Roland-Bühne), in: Neues Wiener Journal, 5. 2. 1924, 12. 30 Rolandbühne, in: Wiener Zeitung, 4. 2. 1924, 5. 31 Kunst und Wissen, in: Arbeiter-Zeitung, 7. 2. 1924, 7. 32 Ebd. 33 Ich habe anhand eines anderen Gegenstandes versucht, seine Wirkungsweisen in der Zwischenkriegszeit zu analysieren. Vgl. Roman Horak, Josephine Baker in Wien – oder doch nicht? Über die Wirksamkeit des ›zeitlos Popularen‹, in: Roman Horak/Wolfgang Maderthaner/Siegfried Mattl/Gerhard Meissl/Lutz Musner/Alfred Pfoser (Hg.), Metropole Wien. Texturen der Moderne, Bd. I, Wien 2000, 167–210.

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und alle möglichen sonstigen Alltagsgebrauchsartikel wurden nach ihm benannt. Auch die bildende Kunst nahm sich seiner an. Ein bekannter Bildhauer fertigte eine Uridil-Büste an, die im Rahmen einer Sonderausstellung der Öffentlichkeit präsentiert wurde. Maler stritten sich um die Ehre, ihn porträtieren zu dürfen. Uridil war zur Mode geworden. Wo auch immer er auftauchte, gab es Applaus, ja kam es zu Begeisterungsausbrüchen.34

II.

Vertreter der Vorstadt

Wer aber war nun dieser Fußballspieler, der so einen Rummel entfachen konnte? Geboren am 24. Dezember 1895 als Sohn eines kleinen Schneidermeisters und aufgewachsen in der Hasnerstrasse im Arbeiterbezirk Ottakring, hatte er noch während der ersten Jahre seiner Fußballkarriere den Beruf eines Steinmetzes gelernt, eine Tätigkeit, die er gewählt hatte, weil sie es ihm ermöglichte, nach Arbeitsschluss um 17 Uhr 30 noch Fußball zu spielen. Über den Umweg einiger kleiner Vereine kam er knapp vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges zum Sportklub Rapid, zu jenem Verein, der im Juli 1897 als »Erster Arbeiter-Fußballklub« gegründet worden war. Es ist wohl mehr als eine zufällige Fügung des Schicksals, dass er gerade bei diesem Klub zu so großer Berühmtheit gelangen konnte. Rapid Wien, das war der Verein der Vorstadt. Regionale Verwurzelung, Vereinstreue und eine solide bis konservative Führung machte – wenigstens in der Zwischenkriegszeit – seine Besonderheit aus.35 Zu diesem Aspekt gesellte sich aber auch ein weiterer, jener der Internationalität, der schon sehr früh den Verein kennzeichnete. Im Dezember 1920 resümiert das »Wiener Sport-Tagblatt« die Aktivitäten des Sportklub Rapid. Demnach habe die erste Mannschaft der Fußballsektion im Kalenderjahr 1920 in summa 71 Spiele absolviert, darunter 36 internationale Begegnungen, wovon wiederum 31 im Ausland ausgetragen wurden.36 Die Auslandsreisen führten den Klub u. a. nach Deutschland und Italien,37 30 Spiele wurden gewonnen und nur drei verloren. Von den dabei erzielten 138 Toren gingen 33 auf das Konto von Josef Uridil, der in besagtem Jahr insgesamt 77 Mal für seine Mannschaft treffen konnte.38 Uridil war in der Tat ein begnadeter Scorer, 1.000 Tore soll er im Laufe seiner Karriere geschossen haben, aber darauf kommt es nicht so sehr an. Es war die Art 34 Kurt Schauppmeier, Heute spielt der Uridil, Regensburg 1956. 35 Hanns Fonje/Helmut Lang, Das ist Rapid! Der Weg der Grün-Weissen Meistermannschaft, Wien 1952. 36 Ein Rekordjahr, in: Wiener Sport-Tagblatt, 22. 12. 1920, 2. 37 Leo Schidrowitz, Geschichte des Fußballsportes in Österreich, Wien 1951, 119. 38 Wiener Sport-Tagblatt, 22. 12. 1920, 2.

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und Weise wie er sie erzielte, die ihn vorerst bekannt und dann berühmt gemacht hat. Ein Zeitzeuge, der spätere Radioreporter Willy Schmieger, beschrieb diese so: »Tore haben vor ihm auch andere geschossen, was aber keiner vor ihm besaß, das war die ungeheure Wucht, das unwiderstehliche Ungestüm, mit dem er über das Feld fegte. Wehe, dem Gegner, der es wagte, sich vor die daherbrausende Maschine zu werfen. Niedergerannt wurde er, fast zermalmt und in seine chemischen Bestandteile aufgelöst.«39

Selbst Mitte der 1920er-Jahre, als sein Stern langsam zu sinken beginnt, blitzen Uridils Fähigkeiten noch einmal auf, wie ein Bericht im »Sport-Tagblatt« zu vermelden weiß. »Das Geheimnis seines Erfolges liegt darin, dass Uridil bei allen technischen Mängeln und, obgleich seine Durchschlagkraft und Schnelligkeit nicht auf der alten Höhe stehen, doch noch über die alten Fähigkeiten des schnellen Ausnützens der Situation, der guten Placierung und des Schußvermögens verfügt. Es ist kein Zweifel: Uridil ist der geborene Goalgetter.«40

Der Fußballer aus der Vorstadt fungierte als die Verkörperung der rauen Seiten wie der Hoffnungen der damit verbundenen Lebenswelten, und konnte so zu einem popularen Helden werden. Uridil, der den Spitznamen der »Tank«, d. h. Panzer, führt, schießt Tore, er entscheidet – oft im Alleingang – Spiele für seine Mannschaft. Für die vorstädtischen Massen, die nun mehr und mehr die Fußballplätze bevölkern, ist er einer der ihren. Wir befinden uns recht unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg. Von der durch den Krieg bedingten »Verrohung der Sitten« ist allerorten die Rede, auch wenn es um die Erklärung der Ausschreitungen von Fußballzuschauern geht. Zuschauergewalt, das ist die eine Seite des neuen Spektakels der popularen Kultur, die Inszenierung des Josef Uridil als Star die andere. Alles in allem ist es eine frühe, ja eigentlich vormassenmediale Art der Inszenierung, darum bleibt sie auch vor allem auf Wien beschränkt. Als Fußballer, als Repräsentant der Kultur der Außenbezirke erobert Uridil die Innere Stadt. Im Variete, im Kino, als Büste im Theseustempel – anscheinend allerorten ist er als Konsumgut präsent. Das Spiel, dem er seine Bekanntheit verdankt, bleibt im Wesentlichen eine Angelegenheit der Vorstadt, er selber, als »der Uridil«, sprengt – wenigstens tendenziell – diesen Rahmen. Im Kontext der jungen, beinahe postrevolutionären Demokratie und einer entstehenden Freizeitindustrie ist er populär als Zeichen vielfältiger (möglicher) Veränderung und als Indiz für das Recht auf Vergnügen zu entziffern. Dabei verschiebt sich die fußballkulturell-maskuline Kodierung, besonders vermittelt über seine Präsenz 39 Zit. n. Fonje/Lang, 62–63. 40 Der ereignisreiche Mittwoch, in: Sport-Tagblatt, 29. 5. 1925, 2.

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Abb. 4: Uridil trifft. (Quelle: ÖNB/Bildarchiv Wien, RÜ 6770-B)

im Film, hin zu einem ambivalenteren, offeneren Bild. Gegen die Momente moderner Verregelung seitens des akzelerierten kapitalistischen Arbeitsprozesses einerseits und der moralischen Politik, nicht zuletzt in ihrer proletarischpuritanisch-sozialdemokratischen Version, andererseits, steht er für ein Leben hier und jetzt – symbolisch gerade für die, die nichts oder wenig besitzen. Im Sommer 1925, als Uridil für ein Jahr zum First Vienna Football-Club wechselt, bringt das »Sport-Tagblatt« ein Feuilleton, das durchaus als Nachruf auf den Fußballstar gelesen werden kann. Da heißt es: »Er war kein Abstinenzler, nicht beim Alkohol, nicht bei den Frauen, aber schon gar nicht im Spiel, bei dem er in jeder Sekunde seine Gesundheit, seine geraden Glieder, ja sein Leben und seine Existenz einsetzte, um seinem Verein, seinen Freunden die Freude des Sieges zu bereiten. Von ihm, dessen Zügellosigkeit gerade die Grundlage seiner großen Erfolge war, durfte man auch nicht das geradlinige Privatleben eines braven Kanzlisten fordern. Er war nie ein Durchschnittsspieler, warum hätte er gerade ein Durchschnittsmensch werden sollen? Sicherlich war er nicht das, was man einen pflichtbewußten Professional nennt; er wird’s wohl auch nie werden. Aber er war mehr : er war eben der Uridil, das auf das Fußballfeld übertragene Wiener Temperament, das keine Grenzen kennt und dem Erfolg des Augenblickes (Hervorhebung im Original) alles opfert. Er hatte Fehler, er hat sie heute noch, aber er war eine Persönlichkeit.«41 41 Der blau-gelbe Uridil, in: Sport-Tagblatt, 8. 8. 1925, 2.

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Es wäre meines Erachtens allzu kulturpessimistisch argumentiert, den Kult um Uridil einfach als Indiz für Politikflucht zu deuten. Die Vorstadt ist auf eine praktische Art skeptisch, sie unterstützte und wählte die Sozialdemokratie, ermöglichte damit das »Rote Wien«, ihren alltagsstrukturierenden Anstrengungen aber folgte sie nur bedingt und zögerlich. Entgegen den ausdrücklichen Wünschen der Partei bevölkerten die Massen weiterhin die Fußballspiele, sie besuchten die Kinos und die sonstigen Orte der niederen Vergnügungen. Sie trafen also konkrete Entscheidungen, die für sie jeweils kontextuell Sinn machten und die ihrem Leben mit all seinen Momenten von Unterdrückung, Ausbeutung und Mangel vermittelt sind. Wie aber kam Uridil selber mit seiner Vermarktung zurecht? Der »aufrechte Bursch«, »der einfache Mann aus dem Volk«, konnte damit eigentlich nach außen hin recht gut umgehen. Zu Beginn sperrt er sich etwas gegen seine neue Rolle, dann lernt er – recht rasch – damit umzugehen und seine enorme Popularität auch ökonomisch zu nutzen. Dabei bleibt er vorsichtig; wohl auch beraten von seinem Verein, nimmt er nicht jedes Angebot an. Als ihm der Rummel um seine Person und das Buhlen der Prominenz zu viel wird, vermerkt er resignierend und zugleich trotzig: »Die anderen sollen aus mir machen was sie wollen – nur einen schlechten Fußballer nicht!«42 Die andere Seite der Medaille soll nicht verschwiegen werden. Ein Beitrag im christlich-konservativen »Neuen Montagsblatt« rechnet mit dem haltlosen Privatmann Uridil – wohlgemerkt nach dem Ende seiner großen Popularität – schonungslos ab. Es werden die Anstrengungen der Vereinsführung Rapids (v. a. die des Vereinsmanagers Dionys Schönecker), die jene zum Wohle Uridils traf, extensiv berichtet. In Differenz zur oben gebrachten Darstellung des »SportTagblatts«, die drei Jahre vorher erschienen ist, schreibt man: »Der Klub bemühte sich immer wieder, ihn (Uridil, R. H.) zu einer besonneneren und sparsameren Lebensführung zu verhalten, damit seine bedeutenden Einnahmen ihm gemeinsam mit der Abfertigungssumme durch den Verein die Gründung einer selbständigen bürgerlichen Existenz ermöglichen sollte. Doch scheiterten all diese Bemühungen an Uridils Veranlagung, die nicht nur sein Ruin zu werden drohte, sondern auch eine stete Gefahr für andere Spieler im Klub bedeutete, da er speziell die jüngeren Elemente zu gesundheitsschädigenden Trink- und Sexualexzessen verführte.«43

42 Zit. nach Schauppmeier, Uridil, 33. 43 Die Wahrheit über Rapid!, in: Neues Montagblatt, 18. 6. 1928, 7.

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III.

Roman Horak

Bilder des proletarischen Helden

Die Karriere des Stars Uridil ist vorüber, auch seine Fußballerlaufbahn hat sich dem Ende zugeneigt. Nun ist keine Rede mehr vom »braven Mann aus dem Volke«; diese diskursive Figur, vor ein paar Jahren noch gebraucht, um die Popularität Uridils gleichsam semantisch zu ›normalisieren‹, hat sich in Luft aufgelöst – und dabei ihr paradox anmutendes doppeltes Konstituens sichtbar gemacht. Zum einen, im Beitrag des liberalen Feuilletons im »Sport-Tagblatt«,44 das wir oben zitiert haben, klingt ein Differenzierungsmoment des populären Stars an, jenes nämlich, das seine Herkunft aus den unteren Klassen evoziert und diese in der Kategorie der besonderen »Persönlichkeit« gleichsam aufhebt, aber dadurch auch die Faszination mit dem, was Wolfgang Maderthaner und Lutz Musner die »Anarchie der Vorstadt« genannt haben, anklingen lässt.45 Zum anderen ist es genau diese Unregulierbarkeit bzw. Ungeregeltheit, die das konservative »Neue Montagblatt« nun an Josef Uridil entdeckt und deren immanente Widersetzlichkeit gegen die Idee und Praxis »bürgerlicher Existenz« es als quasi kontaminös denunziert. Der Proletarier als Popstar, am Höhepunkt seiner kurzen Karriere geglättet zum »braven Mann aus dem Volke«, ist nun wieder idealtypischer Fußballspieler, einerseits noch »eine Persönlichkeit«, andererseits eine »Bedrohung für die Jugend«. Urdils weiterer Lebensweg verläuft nicht sonderlich spektakulär. Er bleibt – von der schon erwähnten kurzen Unterbrechung abgesehen – bis 1928 bei seinem Verein, dem Sportklub Rapid. In diesem Jahr verlässt er Österreich und geht als Trainer vorerst nach Pressburg, dann nach Bari,46 schließlich nach Holland. 1934 – bei der Weltmeisterschaft in Italien – finden wir ihn als Betreuer der rumänischen Nationalmannschaft wieder. Er arbeitet in Jugoslawien, in der Schweiz und in Deutschland, ist Soldat der deutschen Wehrmacht und kehrt nach einem Vierteljahrhundert zu seinem Klub zurück, mit dem er 1954 Meister wird.47 Im Unterschied zu seinem ganz anders gearteten Nachfolger, dem AustriaSpieler Matthias Sindelar, ist sein Ruhm heute verblasst. Sindelar, der Spielführer des Wunderteams, wurde in den 1930er-Jahren zu einem Thema des Feuilletons, 44 45 46 47

Der blau-gelbe Uridil, in: Sport-Tagblatt, 8. 8. 1925, 2. Wolfgang Maderthaner/Lutz Musner, Die Anarchie der Vorstadt, Frankfurt am Main 1999. Uridil auf Wanderschaft, in: Sport-Tagblatt, 10. 9. 1929, 4. Nicht verschwiegen werden sollen an dieser Stelle die Verstrickungen Uridils mit dem Nationalsozialismus. Jakob Rosenberg und Georg Spitaler haben Uridils NSDAP-Mitgliedschaft belegt, aber auch festgehalten, dass Uridil »schließlich als ›minderbelastet‹ eingestuft« wurde. Jakob Rosenberg/Georg Spitaler, ›Bodenständig‹ und angepasst – der Sportklub Rapid im Nationalsozialismus, in: David Forster/Jakob Rosenberg/Georg Spitaler (Hg.), Fußball unterm Hakenkreuz in der ›Ostmark‹, Göttingen 2014, 122–137, 127–128.

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man verglich seine Spielweise mit dem eines genialen Schachspielers. »Der Papierene«, wie Sindelar seines fragilen Körperbaus wegen auch genannt wurde, ist nicht nur deshalb der Antipode des »Tanks«.48 Der eine stand am Anfang der Republik, der andere an ihrem Ende, der eine wurde zum Gegenstand popularkultureller Inszenierung, der andere gab dem ästhetischen Modernismus des Feuilletons Anlass geistreich zu formulieren. Sindelar hat trotz (und wohl auch wegen) seines frühen Todes überlebt, er hat Eingang in die Welt der hohen Kultur gefunden. Uridil ist und bleibt ein Held der frühen Zwanzigerjahre. Ein Held aus der Vorstadt, der letztlich ein Held für die Vorstadt geblieben ist.

48 Vgl. Roman Horak/Wolfgang Maderthaner, A Culture of Urban Cosmopolitanism. Uridil and Sindelar as Viennese Coffee-House Heroes, in: The International Journal of the History of Sport 13 (1996) 1, 139–155.

Petra Mayrhofer / Agnes Meisinger

Wintersport in Österreichs »alpiner Peripherie« am Beispiel des »Schneepalasts« in der Wiener Nordwestbahnhalle

I.

Einleitung

Im Jahr 2016 musste der Skibetrieb auf der Hohen-Wand-Wiese, dem letzten verbleibenden Skigebiet in Wien, eingestellt werden. Zu hoch waren die Kosten für die Beschneiung der Piste und die Wartung des Schlepplifts an der Mauerbachstraße in Penzing, zu gering die Auslastung in den Wintermonaten. Dort, wo 1967 mit dem ersten Parallelslalom-Bewerb und 1986 mit dem ersten Flutlichtrennen im Weltcup Skigeschichte geschrieben worden war, betreibt heute die »Skischule Wien« auf einem kleinen Teil des Hanges eine Kunststoffpiste für Kinderkurse. Mit der durch einen Brand zerstörten »Himmelhofschanze« in Hietzing verschwand bereits 1980 die letzte Skisprungschanze aus dem Stadtbild. Dass Wintersport und Großstadt aber keinesfalls einen Gegensatz darstellen, beweisen die Entwicklungen in Wien ab der Mitte des 19. Jahrhunderts: Insbesondere der Eissport erfuhr zu dieser Zeit eine enorme Popularisierung, die sich in der Gründung zahlreicher Vereine – wie etwa dem Wiener Eislauf-Verein (1867) oder dem Eissportklub Engelmann (1871) – widerspiegelte.1 Wiens EissportpionierInnen trugen maßgeblich zur Entwicklung und Verbreitung des Eiskunstlaufs, Eisschnelllaufs und Eishockeys bei und nahmen auch international gesehen rasch eine Vorreiterrolle ein. Die Ski waren erstmals 1873 nach Wien gekommen: Bei der Weltausstellung in der Krieau wurde im norwegischen Pavillon erstmals jenes neuartige Fortbewegungsmittel präsentiert, das als Sportgerät im 20. Jahrhundert von Wien aus seinen Siegeszug in die Alpen Österreichs feiern sollte.2 Mit der Gründung des »Ersten Wiener Ski-Club« 1891, dem ersten Skiverein auf dem Gebiet des heu1 Agnes Meisinger, 150 Jahre Eiszeit. Die große Geschichte des Wiener Eislauf-Vereins (hg. vom Wiener Eislauf-Verein), Wien/Köln/Weimar 2017. 2 Franz Patzer (Hg.), Wintersport in Wien. Begleitband zur gleichnamigen Ausstellung in der Wiener Stadt- und Landesbibliothek, Wien 1984, 4.

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tigen Österreichs, erlebte der Skisport vorerst in bürgerlichen und aristokratischen Kreisen einen enormen Aufschwung.3 Der Großraum Wien bot damals für die Ausübung diverser Schneesportarten gute Bedingungen. Zu den beliebtesten Skigebieten der WienerInnen zählten die Hänge um Neuwaldegg und die Wiesen in Hütteldorf und Pötzleinsdorf, LangläuferInnen zog es auf das Hameau, die Sophienalpe, den Hermannskogel, Kahlenberg oder Bisamberg. Auch einige Skisprungschanzen waren in Wien und Umgebung (Grinzing, Hütteldorf, Neuwaldegg, Pötzleinsdorf, Auf der Schmelz) zu finden.4 Nicht zuletzt lag mit dem Semmering einer der mondänsten Wintersportorte der Monarchie vor den Toren Wiens. Durch die politischen und gesellschaftlichen Veränderungen nach dem Ersten Weltkrieg, etwa die Arbeitszeitverkürzung und die damit einhergehende Frage nach Gestaltungsmöglichkeiten für die neu gewonnene Freizeit, entwickelte sich der Sport in den 1920er-Jahren zu einem bedeutenden Aspekt der Alltagskultur. Das bedingte nicht zuletzt den massiven Aus- und Neubau von Sportstätten, primär auf privater Basis oder auf Betreiben von Vereinen und Verbänden. Aber auch die Stadtverwaltung des »Roten Wien« förderte diesen Trend durch die Errichtung neuer Anlagen, vom kleinen Spielplatz bis zum Wiener Praterstadion und zum Stadionbad: Beide wurden 1931 anlässlich der 2. Arbeiterolympiade fertiggestellt.5 Seine populärkulturelle Relevanz veränderte den Sport und seine Rezeption massiv. Am Schnittpunkt der modernen Entwicklungen von Popularisierung, Ökonomisierung und Mediatisierung6 ist – sinnbildhaft für diese Tendenzen – die im Jahr 1927 auf eine private Initiative zurückgehende Errichtung des »Schneepalasts«, der ersten, als dauerhafte Institution konzipierten IndoorSkianlage der Welt, anzusiedeln. 150 Tonnen Kunstschnee wurden dafür in der damals leerstehenden Halle des Wiener Nordwestbahnhofs aufgetürmt, zwei Pisten, eine Rodelbahn und eine Skisprungschanze sollten der Stadtbevölkerung den alpinen und nordischen Wintersport fernab der Berge nahebringen:7 Auf 3 Heinrich Frank, Die Entwicklung von Alpinistik und Wintersport in Österreich, in: Ernst Bruckmüller/Hannes Strohmeyer (Hg.), Turnen und Sport in der Geschichte Österreichs, Wien 1998, 105–132, 119–120. 4 Matthias Marschik, »Fliegen und Siegen«. Eine Geschichte des Skispringens in Wien, in: SportZeiten 4 (2004) 3, 7–25. 5 Bernhard Hachleitner, Das Wiener Praterstadion/Ernst-Happel-Stadion: Bedeutungen, Politik, Architektur und urbanistische Relevanz, Wien 2011. 6 Matthias Marschik, Moderne und Sport. Transformationen der Bewegungskultur, in: Matthias Marschik/Rudolf Müllner/Otto Penz/Georg Spitaler (Hg.), Sport Studies, Wien 2009, 23–34, 27. 7 Der vorliegende Beitrag basiert auf den Ergebnissen eines Forschungsprojekts über den »Schneepalast«, das gemeinsam mit Magdalena Neumüller im Rahmen des Vereins zur wissenschaftlichen Aufarbeitung der Zeitgeschichte (Wien), gefördert durch die ÖBB-Holding AG und Kulturabteilung der Stadt Wien (MA 7), 2015/16 durchgeführt wurde.

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ökonomischen Gewinn ausgerichtet und medienwirksam inszeniert, sollte eine sensationalistische Zurschaustellung den Sportboom nutzen und gleichzeitig verbreiten.

II.

Zur kurzen Geschichte des »Schneepalasts«8

Der Skisport konnte in Wien also durchaus auf eine – wenn auch bürgerliche – Tradition aufbauen, als der norwegische Skispringer und -lehrer, Filmstar und Weltenbummler Dagfinn Carlsen den Plan schmiedete, inmitten des sozialdemokratisch regierten »Roten Wien« eine Skihalle zu errichten. Als Vorbild diente ihm die in einer Automobilhalle errichtete Winterlandschaft, die den BesucherInnen der Ausstellung »Das Wochenende« im Frühjahr 1927 auf dem Berliner Messegelände neue Möglichkeiten der Freizeitgestaltung präsentiert hatte. Sportinteressierte erhielten dort im sogenannten »Berliner Schneepalast«, einem Teilbereich der Ausstellung, die Möglichkeit, auf zwei mit Kunstschnee präparierten Pisten das Skifahren auszuprobieren, Ski- und Skisprung-Vorführungen sorgten für Unterhaltung.9 Erstmals kam am Fürstendamm Kunstschnee, eine Erfindung des Briten Laurence Clarke Ayscough, zum Einsatz, die erst wenige Monate zuvor in London patentiert worden war.10 Es handelte sich dabei um eine als »Schneeersatz« bezeichnete Mischung aus zerstoßenem Waschsoda, dem Sägespäne und Wasser beigemengt wurden. Eine darauf aufgetragene Schicht aus pulverisiertem Glimmer (ein gesteinsbildendes Mineral) und einer Soda-Seifenlösung sollte dem Produkt die Eigenschaften von natür-

8 Das folgende Kapitel stellt eine Zusammenfassung des Artikels dar : Petra Mayrhofer/Agnes Meisinger/Magdalena Neumüller, Der »Schneepalast« in der Wiener Nordwestbahnhalle. Zur Geschichte der weltweit ersten Skihalle, in: Rudolf Müllner/Christof Thöny (Hg.), Skispuren. Dokumentationen zur Geschichte des Wintersports (Bd. 1), Bludenz 2018, 201–217 (mit zahlreichen Abbildungen). 9 Wochenendführer. Offizieller Ausstellungskatalog zur großen Ausstellung »Das Wochenende« (Berlin, 16. April – 12. Juni 1927), hg. vom Berliner Messe-Amt, Berlin 1927; Berliner Tagblatt und Handels-Zeitung, 16. 4. 1927, 1. Beiblatt; Das Kleine Blatt, 25. 4. 1927, 10; Stephan Brandt, Berlin Westend, Erfurt 2009, 75; Gerd Falkner, 100 Jahre Deutscher Skiverband: Chronik des deutschen Skilaufs von den Anfängen bis zum Ende des 2. Weltkriegs 1945, Band 1, Planegg 2005, 89. Es hatte bereits zuvor in London mehrere Wochen lang eine temporäre Indoor-Skihalle gegeben, die aber – wie die Halle am Berliner Messegelände – wegen anderweitiger Nutzung wieder aufgelassen wurde. Siehe dazu: Die Neue Zeitung, 26. 11. 1927, 5. 10 Der Winter. Illustrierte Zeitschrift für den Wintersport 20 (1926/27), 204; Reutlinger Generalanzeiger, 26. 4. 1927; Patent »Ayscough snow«, UK Patent, 26. 11. 1926, URL: http:// snow365.com/?page_id=485 (abgerufen 1. 6. 2015), in Deutschland patentiert unter der Bezeichnung »Als Schneeersatz dienendes Belagsmaterial für künstliche Gleitbahnen für Sportzwecke« mit 01. Februar 1927, veröffentlicht unter DE 489118 C, 15. 1. 1930.

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lichem Schnee verleihen.11 Der künstlich hergestellte Schnee war weder kalt, noch schmolz er.12 Dagfinn Carlsen, der inzwischen in Wien lebte und hier verheiratet war, fasste nach seinem Besuch des »Berliner Schneepalasts« kurzerhand den Entschluss, die Kunstschneelandschaft nach Wien zu bringen,13 wenngleich mit einem großen Unterschied: Im Gegensatz zum Berliner Modell, das nach dem Ende der Ausstellung abgebaut wurde, sollte seine Skihalle eine permanente und öffentlich zugängliche Sportanlage werden, die witterungsunabhängig die Ausübung des Skisports mitten in der Stadt ermöglichen sollte. Im August 1927 suchte der Norweger bei der zuständigen Polizeidirektion um eine Lizenz für den Betrieb einer kommerziellen Kunstschneeanlage an.14 Einen geeigneten Ort dafür hatte er bereits im Visier, nämlich die seit 1924 leerstehende Nordwestbahnhalle an der Taborstraße. Carlsen benötigte zur Umsetzung seines Plans ein großes Gebäude, und die Bundesbahnen Österreich freuten sich über eine gewinnbringende Nachnutzung des stillgelegten Bahnhofs. Der norwegische Bauherr war in der österreichischen Skiszene kein unbeschriebenes Blatt: Der 29-jährige gelernte Kaufmann, der in den frühen 1920erJahren in den dokumentarischen Sportfilmen »Das Wunder des Schneeschuhs« und »Eine Fuchsjagd auf Skiern durchs Engadin« mitgewirkt hatte, gehörte dem in Wien ansässigen »Österreichischen Wintersportclub« an, für den er – durchaus erfolgreich – bei nationalen und internationalen Konkurrenzen an den Start ging. Im Jahr 1927 war er zudem als Kampfrichter des Landesskiverbandes für Wien und Niederösterreich im Österreichischen Skiverband (ÖSV) tätig.15 Carlsens Intention war es, zumindest laut seinem Ansuchen bei der Wiener Polizeidirektion, in der Nordwestbahnhalle ein Wintersportzentrum für Breitenaber auch SpitzensportlerInnen aufzubauen: So führte er in seinem Antrag für den »Schneepalast« aus: »Meine grossen [sic!] Beziehungen zu den österreichischen Sportverbänden und eine von mir vorgenommene Umfrage hat das grosse [sic!] Interesse gezeigt, das von allen Seiten meinem Unternehmen entgegengebracht wird«, das auch »zur Förderung des Wintersportes und zur

11 Patent »Ayscough snow«, UK Patent, 26. 11. 1926, URL: http://snow365.com/?page_id=485 (abgerufen 1. 6. 2015). 12 Arbeiter-Zeitung, 26. 11. 1927, 6. 13 Illustriertes Sportblatt, 11. 6. 1927, 14. 14 »Ansuchen um Genehmigung der Errichtung und des Betriebes einer Ski- und Rodelbahn mit künstlichem Schnee« an die Polizeidirektion, Wien, 26. 8. 1927. Wiener Stadt- und Landesarchiv (WStLA), M.Abt.104, A8: 33 – Nordwestbahnhofhalle. 15 Der Skilauf in Österreich. Jahrbuch des Österreichischen Ski-Verbandes, Wien 1927, 167. Carlsen verfasste im Jahr 1925 ein in Wien verlegtes Buch mit dem Titel »Der Skilauf«, in dem er sich den Unterschieden zwischen norwegischem und mitteleuropäischem Skilauf widmete: Dagfinn Carlsen, Der Skilauf, Wien 1925.

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körperlichen Ausbildung viel beitragen [werde].«16 Ergänzend legte er dem Schriftstück die ausgearbeiteten Baupläne für die Anlage bei und kündigte an, ein Gutachten eines Arztes zu übermitteln, das die »Unbedenklichkeit« des künstlichen Schnees garantieren würde.17 Für die Finanzierung des Projekts, die mit rund 700.000 Schilling veranschlagt war, konnte Carlsen mit der Warenhausgesellschaft Stafa18 und dem Bier- und Likörproduzenten Puntigamer zwei österreichische Investoren gewinnen.19 Die Wiener Polizeidirektion erteilte Carlsen schließlich nach einem Lokalaugenschein im Oktober 1927 die Lizenz, in der Bahnhofshalle bis zum 31. Mai 1928 eine »Ski- und Rodelbahn mit künstlichem Schnee« zu betreiben.20 Die offizielle Baubewilligung der Gemeinde Wien ließ allerdings auf sich warten, da die Bauverhandlung mehrfach verschoben worden war. Erst am 22. November – die Skihalle war bereits seit mehreren Wochen betriebsbereit – stimmten die Verantwortlichen des zuständigen Magistrats, die dem Projekt skeptisch gegenüberstanden, der »ausnahmsweisen Eröffnung« des »Schneepalasts« zu.21

2.1

Die Innenausstattung des »Schneepalasts«

Noch bevor die offizielle Genehmigung erteilt worden war, begannen im August 1927 bereits die Bauarbeiten. Die Adaption der Bahnhofshalle mit einer 64 Meter langen, 16,60 Meter hohen und 28 Meter breiten Holzkonstruktion,22 die als Basis für die Rodelbahn, Piste und Sprungschanze diente, erfolgte zügig. Für den Kunstschnee war ebenfalls gesorgt: Nachdem Carlsen mit dem KunstschneeErfinder Ayscough in Kontakt getreten war, weilte dieser persönlich in Wien, um die Lieferung der 150 Tonnen Kunstschnee, die innerhalb einer Woche mit Zügen von einer Chemiefabrik in Moosbierbaum/Niederösterreich direkt vor die Tore des Schneepalasts gebracht wurden, zu koordinieren.23 Zudem war Ayscough 16 »Ansuchen um Genehmigung der Errichtung und des Betriebes einer Ski- und Rodelbahn mit künstlichem Schnee« an die Polizeidirektion, Wien, 26. 8. 1927. WStLA, M.Abt.104, A8: 33 – Nordwestbahnhofhalle. 17 Ebd. 18 Ab 1924 war Stafa Teil der sozialdemokratischen GÖC (der Großeinkaufsgesellschaft für österreichische Consumvereine), seit 1926 steckte das Unternehmen durch hohe Zinsschulden und darauf folgende Personalrochaden in großen Finanzproblemen. Vgl. Johann Brazda/Tode Todev/Robert Schediwy, Zur Geschichte der bürgerlichen Konsumgenossenschaften und des Allgemeinen Verbandes in Österreich, Wien 1996, 198–201. 19 Freiheit!, 30. 11. 1927, 3. 20 Brief der Polizeidirektion in Wien an Friedrich Marschalek, Bescheid an Herrn Dagfinn Carlsen, 9. 10. 1927. WStLA, M.Abt.104, A8: 33 – Nordwestbahnhofhalle. 21 Verhandlungsschrift vom 22. 11. 1927. WStLA, M.Abt.104, A8: 33 – Nordwestbahnhofhalle. 22 Ebd. 23 Das Kleine Blatt, 16. 11. 1927, 14.

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auch finanziell an Carlsens Schneepalast-Projekt beteiligt.24 Auf der Holzkonstruktion waren Kokos- und Bürstenmatten angebracht, auf die eine 10 Zentimeter hohe Kunstschneeschicht aufgetragen wurde.

Abb. 1: Bau der Sprungschanze; Dagfinn Carlsen mit Hut. (Quelle: ÖNB/Bildarchiv Wien, RÜ 8984)

Nach Veranstalterangaben konnten bis zu 300 Personen gleichzeitig auf einer rund 3000 m2 große Fläche Skifahren und -springen oder rodeln. Auf der 1200 m2 großen, zweigeteilten Skipiste mit unterschiedlichen Neigungswinkeln konnten AnfängerInnen und Fortgeschrittene nebeneinander fahren.25 Die Rodeln für die 70 Meter lange Bahn wurden durch ein elektrisches Liftsystem auf die Bergattrappe befördert. Die Schanze war Wettkampf-Springern vorbehalten, die eine maximale Weite von 20 Metern erzielen konnten. Hinter dem Auslauf befand sich auf einem Podium ein großer Zuschauerbereich mit Restaurant. Dekoriert war die Kunstschneelandschaft mit echten Fichtenbäumen, die der Halle ein alpines Flair verleihen sollten. Als »kleines Vorzimmer der großen Natur« wurde die Skihalle in der Presse gefeiert, in der man sich bei einer Raumtemperatur

24 Salzburger Volksblatt, 12. 3. 1928, 9. 25 Die Neue Zeitung, 26. 11. 1927, 5.

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knapp über dem Gefrierpunkt »wie in Sibirien fühle«, berichtete die »ArbeiterZeitung«.26 Der »Schneepalast« war von zehn Uhr morgens bis 22 Uhr abends geöffnet. Das renommierte Sporthaus der Leontine Lazar (dessen Filialen 1938 arisiert wurden) stellte vor Ort Ski- und Rodelequipment leihweise zur Verfügung. Privat mitgebrachte Ski durften an der Lauffläche nicht gewachst sein, um ein Haftenbleiben am Kunstschnee zu verhindern.27 Der Eintrittspreis für zwei Stunden Wintersportvergnügen betrug einen Schilling 50 Groschen, für RodlerInnen und ZuseherInnen der Sportkonkurrenzen einen Schilling.28

Abb. 2: Innenansicht der künstlichen Berglandschaft in der Nordwestbahnhalle. (Quelle: ÖNB/ Wien Bildarchiv, 113.397 a-D)

2.2

Eine überschattete Eröffnungsfeier

Am 26. November 1927 wurde »Dagfinn Carlsen’s Schneepalast in Permanenz«, wie der offizielle Name der Skihalle lautete, im Beisein von Bundespräsident 26 Arbeiter-Zeitung, 26. 11. 1927, 6. 27 Die Neue Zeitung, 26. 11. 1927, 5. 28 Werbeeinschaltung des »Dagfinn Carlsen’s Schneepalast« in verschiedenen Zeitungen, u. a. Sport-Tagblatt, 26. 11. 1927, 6; Der Schnee, 14. 12. 1927, 15.

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Michael Hainisch und Wiens Bürgermeister Karl Seitz eröffnet. In seiner Eröffnungsrede dankte Seitz dem Norweger für die Errichtung der Anlage, die »in diese durch Jahre vom Fremdenverkehr so verlassene Gegend« nun zu allen Jahreszeiten WintersportlerInnen anziehen würde.29 Am nächsten Tag wurde in der Presse jedoch nicht über die imposante Anlage, sondern über den Anschlag auf den Bürgermeister berichtet, der beim Verlassen des Bahnhofsgeländes Opfer eines Schussattentates geworden war. Der Schütze Richard Strebinger, ein Mitglied der Wehrformation »Ostara« aus dem rechtsradikalen, katholischkonservativen Lager, hatte mehrfach auf das wegfahrende Auto des Sozialdemokraten geschossen.30 Seitz und die zahlreichen BesucherInnen blieben unverletzt, Strebinger wurde auf der Flucht verhaftet und später wegen versuchten Mordes zu zwei Jahren Haft verurteilt.31 In den darauffolgenden Wochen konzentrierte sich die Berichterstattung dann verstärkt auf das »Winterparadies« in der Bahnhofshalle, zumal Betreiber Carlsen kräftig die Webetrommel rührte und Journalisten zur Besichtigung der als »künstliches Kitzbühel« titulierten Anlage geladen hatte.32 Im »Illustrierten Sportblatt« schwärmte man vor allem von der Sprungschanze in der Nordwestbahnhalle mit dem Verweis, dass Carlsen auch in St. Moritz an der Konstruktion der Olympiaschanze für die bevorstehenden Spiele im Jahr 1928 beteiligt gewesen war.33 Der »Schneepalast« erregte sogar die Aufmerksamkeit der US-amerikanischen Fachpresse: Das Monatsheft für Leibeserziehung »Mind and Body« berichtete in einem Artikel mit dem Titel »Viennese play in artificial snow« von langen Warteschlangen auf der Piste und bei der Rodelbahn.34 »Das Kleine Blatt« hingegen riet recht unverblümt von der Nutzung des Palasts ab: Die Anlage erfülle nicht die in sie gesetzten Erwartungen, denn der Schnee verschiebe sich nach wenigen Abfahrten. Zum Vorschein kämen die darunterliegenden bunten Matten, Stürze wären die Folge. »Das Soda wirkt auf den Körper sowie die Kleidung in denkbar ungünstigstem Sinne«, wurde des Weiteren unmissverständlich festgestellt: Schuhe und Kleider würden brüchig werden, die Hände runzlig und »die vom feinen Sodastaub geschwängerte Luft« löse bei den BesucherInnen Juckreiz und einen trockenen Rachen aus.35 Diese negative Publicity suchte Dagfinn Carlsen umgehend öffentlich zu 29 Redemanuskript »Eröffnung des Schneepalastes im Nordwestbahnhof, 26. 11. 1927«. Österreichisches Staatsarchiv, Allgemeines Verwaltungsarchiv, Nachlass Karl Seitz, E/ 1732:174, Reden 1926–1927. 30 Die Neue Zeitung, 28. 11. 1927, 1. 31 Arbeiter-Zeitung, 11. 5. 1928, 6. 32 Illustriertes Sportblatt, 3. 12. 1927, 10. 33 Ebd. 34 Mind and Body, A Monthly Journal of Physical Education, New Ulm, February 1928, 428–429. 35 Das Kleine Blatt, 6. 12. 1927, 12.

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entkräften: Ärzte und Gutachter hätten bereits die gesundheitliche Unbedenklichkeit festgestellt. Aus der löchrigen Piste machte der Norweger eine Tugend: Er erklärte, dass aus pädagogischen Gründen »Gatschflächen« in die Piste integriert wären, »um werdende Skifahrer an derartiges Terrain zu gewöhnen.«36

2.3

Sport im »Schneepalast«

Abb. 3: Der Bereich für die ZuseherInnen am Fuße der Piste. (Quelle: ÖNB/Wien Bildarchiv, RÜ 1-4-566)

Carlsen, der den »Schneepalast« primär als Sportstätte und weniger als Vergnügungsort konzipiert hatte, betätigte sich höchstpersönlich als Instruktor. Neben ihm leiteten auch andere im österreichischen Skisport namhafte Lehrer wie der Skiläufer und Skispringer Leopold Balaun oder der Gasteiner Ernst Dosenberger Einzel- und Gruppenkurse. Besonders aktiv war der Wiener Arbeiterturnverein, der regelmäßig sportliche und gesellschaftliche Veranstaltungen, wie etwa kostenlose Skikurse für die Mitglieder der Wintersportsektion, einen Erste-Hilfe-Kurs für Skiunfälle oder ein Kindersportfest, im »Schneepalast« durchführte.37 36 Das Kleine Blatt, 29. 12. 1927, 12. 37 Das Kleine Blatt, 20. 12. 1927, 12; 24. 1. 1928, 14; Arbeiter-Zeitung, 4. 3. 1928, 13.

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Im Februar und März 1928 fand jeden Donnerstag ein öffentlicher SkisprungBewerb um einen Wanderpreis statt. Außerdem wurde im März eine laut Presse gut besuchte »Messe-Sportwoche« abgehalten, bei der unterschiedliche Wettkämpfe für Frauen und Männer im Langlaufen, Hindernislaufen und Skispringen zur Austragung kamen.38

2.4

Das jähe Ende des Indoor-Wintersports in der Nordwestbahnhalle

Trotz intensiver Bestrebungen, die WienerInnen in die Skihalle zu locken, musste Dagfinn Carlsen bereits 103 Tage nach der Eröffnung, am 10. März 1928, beim Zivillandesgericht in Wien den Antrag auf Eröffnung eines Ausgleichsverfahrens stellen. Der schneereiche Winter 1927/28 hatte den Besucheransturm wohl ebenso vereitelt wie die ungünstigen Medienberichte über die Beschaffenheit des Kunstschnees. Die wintersportbegeisterte Stadtbevölkerung zog die Ski- und Rodelgebiete in und um Wien der Nordwestbahnhalle vor, die mit öffentlichen Verkehrsmitteln ebenso gut erreichbar waren. Die Hauptschuld an der wirtschaftlichen Misere schrieb Carlsen jedoch dem Umstand zu, dass durch eine fehlende Bewilligung des zuständigen Magistrats der bereits betriebsbereite »Schneepalast« später als geplant eröffnet werden konnte. Er legte dem Gericht Zahlen vor, wonach bis zum März 1928 10.000 SkiläuferInnen, 12.000 RodlerInnen und 40.000 ZuseherInnen die Skihalle besucht hätten. Durch die verzögerte Inbetriebnahme der Anlage sei für sein Unternehmen bereits vor der Eröffnung ein Schaden von 4000 Schilling entstanden.39 Jedenfalls hatte das Unternehmen im März 1928 Passiva in Höhe von 43.000 Schilling zu Buche stehen.40 Der Betrieb des »Schneepalasts« wurde trotz des laufenden Ausgleichsverfahrens fortgesetzt. Nachdem jedoch die Betreiberlizenz für die Skihalle im Mai ausgelaufen und das Ausgleichsverfahren im Juni 1928 abgeschlossen war, endete die Ära des Indoor-Skifahrens in Wien so schnell, wie sie begonnen hatte. Wenige Jahre später, so berichtete die »Arbeiter-Zeitung«, erinnerte nur noch übrig gebliebener »Haufen Mist« in der verwaisten Bahnhofshalle an die einstige Nutzung als Skianlage.41 Obwohl Dagfinn Carlsen mit dem futuristischen Projekt »Schneepalast« daran scheiterte, alpines Flair in die Großstadt zu bringen, tat dies seiner Popularität im österreichischen Skisport keinen Abbruch: Die durch den Arbei38 39 40 41

Das Kleine Blatt, 2. 3. 1928, 14; 18. 3. 1928, 13. Vorarlberger Landes-Zeitung, 13. 3. 1928, 4. Reichspost, 11. 3. 1928, 9. Arbeiter-Zeitung, 2. 1. 1932, 7.

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terturnverein Hadersdorf-Weidlingau im Jahr 1933 errichtete »Kaasgrabenschanze« vor den Toren Wiens erhielt dem Norweger zu Ehren den Beinamen »Carlsen-Dagfinn-Schanze«.

III.

Conclusio

Die Errichtung eines »Schneepalastes« in Wien im Winter 1927/28 erweist sich letztlich als Teil der populären Massenkulturen der Zwischenkriegszeit. Von privater Seite nach ökonomischen Prämissen aufgezogen, sollte einem urbanen – bürgerlichen und auch proletarischen – Publikum ein Unterhaltungsprogramm zur Nutzung angeboten werden, das in den 1920er-Jahren den Beginn eines »Erlebniskonsums« darstellt.42 In einer Mischung aus Konsumations- (Skisprungbewerbe) und Aktivitätsangebot (Rodelstrecke) wurde – darin der Operette oder Revue der Zeit durchaus nicht unähnlich – eine illusionäre Installation konstruiert, die aber – im Gegensatz dazu – Authentizität ausstrahlen sollte, von der geforderten physischen Aktivität bis zu den echten Fichten. Eingebettet war der »Schneepalast« in die Prämissen von Moderne und Urbanität. Ersteres wird durch die – auch von den Medien mitgetragene – Spektakularisierung des Produktes und der darin stattfindenden Events ebenso verdeutlicht wie durch deren werbliche Umsetzung und auch das Faktum, dass sich Sponsoren oder Investoren fanden, die an den kommerziellen Erfolg des »Schneepalasts« glaubten. Und modern war nicht zuletzt der Einsatz von Technik, die sich in der ganzen Anlage, aber besonders natürlich im Einsatz von »neuen Materialien«43 wie etwa des »Kunstschnees« manifestierte, der eine unabdingbare Basis der Umsetzung darstellte. Er war nicht zufällig dieser »Kunstschnee«, an dem sich die medialen Diskussionen um den »Schneepalast« immer wieder gruppierten, sei es in der Bewunderung der Innovation oder der Kritik an dessen Mangelhaftigkeit. Die Urbanität des Projektes manifestiert sich nicht nur in seiner Orientierung hin auf einen adäquaten Besucherzustrom sowie in seinem raumgreifenden Konzept, indem ein solches Bahnhofsgebäude wohl nur in Großstädten zur Nachnutzung zur Verfügung steht und nur dort ausreichend InteressentInnen zu finden sind. Es reflektiert vielmehr das »komplexe Beziehungsgeflecht zwischen kommunaler Sportförderung, Urbanitätsdiskursen, dem Bau sportlicher Infrastruktur und der Veranstaltung großer Sportanlässe«, wie dies die Zwischen42 Gabriele Sorgo, Events, Freizeitwelten, Erlösungshoffnungen. Voraussetzungen und Praxis des Erlebniskonsums, in: Susanne Breuss/Franz X. Eder (Hg.), Konsumieren in Österreich. 19. und 20. Jahrhundert. Innsbruck/Wien/Bozen 2006, 257–276, 262. 43 Noyan DinÅkal, Stadien, Sportparks und Musterspielplätze. Großsportanlagen und Publikum in Deutschland, 1900 bis 1930, in: Technikgeschichte 75 (2008), 215–232, 215.

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kriegszeit charakterisiert.44 Neben diese Einbettung in europäische Entwicklungsstrukturen von Sport und Sportinszenierung45 treten freilich spezifisch Wienerische Parameter : Das beginnt schon mit dem Gebäude des Nordwestbahnhofes, dessen Verfügbarkeit nur der spezifischen Situation des einstigen Eisenbahnknotenpunktes der k.u.k. Metropole zu verdanken ist,46 und reicht bis zur speziellen Verfasstheit des »Roten Wien«, indem hier neben einem bürgerlichen Publikum auch die Arbeiterschaft und besonders eine sozialdemokratische Stadtverwaltung im Auge behalten werden musste. Unter Berücksichtigung der Versuche Wiens, sich zu einer »Sportstadt« zu entwickeln,47 gelang Dagfinn Carlsen diese Einbindung in dreifacher Weise: Politisch durch die Bewilligung der Errichtung, ökonomisch durch die Einbindung der Konsumgenossenschaft und kulturell durch die Kurs- und Übungsangebote der ArbeiterturnerInnen. Dass der »Schneepalast« nicht ein Freizeitvergnügen unter vielen blieb, dafür sorgte seine Anknüpfung an die damals virulente Bergfaszination. Es gab ein wachsendes Interesse der Wiener Stadtbevölkerung für Wintersport im urbanen Raum. Für diese Entwicklung war vor allem die Änderung der sozio-ökonomischen Rahmenbedingungen in den 1920er-Jahren verantwortlich, die den Aufstieg der Freizeitkultur ermöglichten. Die Anfänge des bürgerlichen Tourismus äußerten sich auch bei jenen, die sich keine Reise leisten konnten, zumindest in einer Hinwendung der Stadt zu den Bergen.48 In Anknüpfung an die Wiener skisportlichen Traditionen der Jahrhundertwende wurde eine Illusion von Alpen und positiv konnotiertem Winter erzeugt. Üblicherweise »verwehrt« ja die Großstadt »ihren Bewohnern hartnäckig die Erfüllung des Idealbildes vom ›richtigen‹ Winter, sie eliminiert das typische Material dieser Jahreszeit, den Schnee und das Eis, vor allem, um Verkehr und Wirtschaftsleben aufrecht zu erhalten«.49 Genau dieses Begehren sollte der »Schneepalast« in unterhaltender Weise erfüllen, und zwar ohne negative Begleiterscheinungen, von der teuren und beschwerlichen Anreise bis zu den möglichen Unbilden des Wetters. Ein zweiter wesentlicher Anknüpfungspunkt des »Schneepalastes« war der 44 Christian Koller, Einleitung: Stadt und Sport, in: Christian Koller (Hg.), Sport als städtisches Ereignis. Ostfildern 2008, 7–27, 26. 45 Stefan Nielsen, Sport und Großstadt 1870 bis 1930. Komparative Studien zur Entstehung bürgerlicher Freizeitkultur (Europäische Hochschulschriften, Reihe III: Geschichte und ihre Hilfswissenschaften 935), Berlin u . a. 2002. 46 Wolfgang Kos/Günter Dinhobl, Großer Bahnhof. Wien und die weite Welt, Wien 2006, 283. 47 Matthias Marschik, Phantome der Einmütigkeit. Räume, Orte und Monumente urbaner Sportkulturen, in: Jürgen Funke-Wieneke/Gabriele Klein (Hg.), Bewegungsraum und Stadtkultur. Sozial- und kulturwissenschaftliche Perspektiven, Bielefeld 2008, 129–143, 132. 48 Christian Rapp, Schnelle neue Alpen. Schappschüsse der Moderne aus Österreichs Bergen, in: Wolfgang Kos (Hg.), Kampf um die Stadt, Wien 2010, 122–129. 49 Christoph Köck, Die Ästhetik des idealen Winters: Zur Saisonalität des Skisports, in: Markwart Herzog (Hg.), Skilauf – Volkssport – Medienzirkus. Skisport als Kulturphänomen, Stuttgart 2005, 153–165, 157.

Wintersport in Österreichs »alpiner Peripherie«

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Konnex zur urbanen Begeisterung für Sport. Zwar zeigen die Aneignungspraxen – vor Ort wie in den Medien – deutlich, dass hier an die sich etablierenden Sportkulturen Wiens angeknüpft wurde, ohne dass die Aktivitäten primär als Sport aufgefasst wurden – auch wenn Carlsen sein Projekt so zu verkaufen versuchte: Er attestierte dem »Schneepalast« folgerichtig eine doppelte Funktion: Als Trainingsstätte für SpitzensportlerInnen einerseits und als Raum für den Breitensport andererseits, in dem unter fachkundiger Anleitung das Skilaufen erlernt und verbessert werden sollte. In der Praxis allerdings erwiesen sich die Rodelbahn wie die Skihänge weit eher als Ort des Freizeitvergnügens. Das wurde von der Medienberichterstattung zumeist verdoppelt, indem ständige Hinweise auf den Sportkontext durch ironische Kommentierungen durchbrochen wurden, wenn etwa die »Freiheit!« den »Speisesodapalast in der Dresdnerstraße« charakterisiert: »Wer geglaubt hat, in der Dresdnerstraße würde ein zweites Davos erstehen, hat wohl eine arge Enttäuschung erleben müssen. Stünde der ›Schneepalast‹ ein wenig weiter südlich, etwa im Wurstelprater beim Kalafati50, würde er dort besser hinpassen, denn er ist eher eine Praterunterhaltung, sogar eine ganz nette Unterhaltung, aber doch ein Bluff, denn nach der geschickt inszenierten Reklame müßte man glauben, es mit einer wirklichen Sportförderung zu tun zu haben […] Aber es werden viele Skilaufen lernen und nicht wenige werden sich aus mancherlei Gründen gerne mit dem Nordwestbahnhof als Gebirge begnügen. Der einzige Fehler der Gründer bestand darin, daß sie dem geübten Sportler und Springer das Blaue vom Himmel und den Schnee vom Hermannskogel versprachen und ihr Wort nicht hielten.«51

Annette R. Hofmann sieht in ihrem Aufsatz zu frühen urbanen Wintersportevents daher auch nicht den Sport, sondern primär die Faktoren »leisure, individualism and freedom« verwirklicht.52 Das sind durchwegs Elemente einer bürgerlichen, urbanen Unterhaltungskultur und weichen massiv von den Idealen etwa der im Wien der 1920er-Jahre (wirk)mächtigen Arbeiterkulturbewegung ab. So gesehen ist es vermutlich auch kein Zufall, dass der »Schneepalast« just im Winter 1927/28 für Furore sorgte, zu einem Zeitpunkt also, ab dem sich, spätestens seit dem Justizpalastbrand, die Sozialdemokratie in Wien und damit auch die gesamte Arbeiterbewegung zunehmend in einer Position der Defensive wiederfand. Das kann, verbunden mit der zunehmend prekären wirtschaftlichen Lage der Stadt Wien und der Arbeiterschaft sowie dem raschen Ansteigen der Arbeits50 Der Calafati, die überlebensgroße Figur eines Chinesen, war eines der Wahrzeichen des Wurstelpraters in Wien. 51 Freiheit!, 30. 11. 1927, 3. 52 Annette R. Hofmann, »Bringing the Alps to the City«: Early Indoor Winter Sports Events in the Modern City of the Twentieth Century, in: International Journal of the History of Sport, 29 (2012) 14, 2050–2066.

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Petra Mayrhofer / Agnes Meisinger

losenrate,53 ebenso einer der Gründe für den letztlichen Misserfolg des »Schneepalastes« gewesen sein wie die Räumlichkeit des Nordwestbahnhofes selbst, die schon aufgrund ihrer Lage im 2. Wiener Gemeindebezirk – des Zentrums des jüdischen Lebens in Wien – immer wieder zu antisemitischen Anspielungen Anlass gab: Der angeblich »unsportliche« Jude auf Skiern wird ebenso karikiert54 wie darauf hingewiesen wird, dass der Österreichische Skiverband, der damals bereits den »Arierparagrafen« in seinen Statuten hatte, seinen Mitgliedern die Nutzung des »Schneepalastes« überraschenderweise auch am Samstag, also am »Schabbes«, erlaubt habe.55 Dazu kam sicher, dass sich nach der Enttäuschung über die mangelnde Sporteignung auch der Unterhaltungswert abgenutzt hatte, nachdem der Sensationseffekt verblasst war. Dennoch kann konstatiert werden, dass der Wiener »Schneepalast« einen internationalen Trend in Gang setzte, Wintersport in Großstädten populär zu machen. Obwohl es Dagfinn Carlsen nicht gelungen war, sein Modell als dauerhafte Institution zu etablieren, nahmen sich in den 1930er-Jahren einige europäische und US-amerikanische Metropolen wie Lyon, London, Boston oder New York die Bauweise der Wiener Skihalle zum Vorbild für die Errichtung großer, überdachter Wintersportanlagen, wenngleich auch diese aufgrund der immensen Bau- und Betriebskosten nicht von langer Lebensdauer waren.56

53 Franz X. Eder, Privater Konsum und Haushaltseinkommen im 20. Jahrhundert, in: Franz X. Eder/Peter Eigner/Andreas Resch/Andreas Weigl (Hg.), Wirtschaft, Bevölkerung, Konsum. Wien im 20. Jahrhundert, Innsbruck/Wien/München, 201–285, 204–205. 54 Kikeriki, 18. 12. 1927, 4. 55 Illustriertes Sportblatt, 3. 12. 1927, 10. 56 E. John B. Allen, The Culture and Sport of Skiing: From Antiquity to World War II. Amherst 2007, 167.

Hannes Leidinger

Der Durchbruch des Sports als repräsentatives Sujet in nonfiktionalen österreichischen Filmbeiträgen der Zwischenkriegszeit

I.

Einführende Bemerkungen

Der Titel des vorliegenden Textes entspricht durchaus dem Schwerpunkt der kommenden Ausführungen. Allerdings verrät er sozusagen die Pointe etwas voreilig und vermittelt dabei den Eindruck, als sei der damit bereits zum Ausdruck gebrachte Befund gesichert, als müsse dieser nur noch durch Belegmaterial untermauert werden. Dem ist nicht so! Es erscheint daher ratsam, dem Titel wenigstens vorerst ein Fragezeichen anzufügen.1

II.

Vor- und Rahmenbedingungen

Schließlich wäre es nicht allzu schwer, den Zusammenhang zwischen der Breitenwirksamkeit des Sports und einer Reihe von »neuen Medien« eher im beginnenden »Fin de SiHcle« zu verorten. Immerhin lässt sich beides mit Beschleunigungs-, »Veruhrzeitlichungs«-, aber auch Disziplinierungseffekten neuerlicher Modernisierungsschübe ab den 1870er- und 1880er-Jahren verbinden. Innovative Kommunikationsmittel, eine professionalisierte Presselandschaft und eine entstehende Unterhaltungsindustrie halfen um 1900 vor dem Hintergrund eines allgemeinen Gefühls der Schnelllebigkeit bei der Ausbildung von Massenkulturen und einer einsetzenden »Jagd« nach Ereignissen, Zeitre1 Das nonfiktionale Filmschaffen bezieht sich vor allem auf Aktualitäten, Film-Revuen beziehungsweise Wochenschau-Formate. Im Mittelpunkt stehen also staatliche und kommerzielle Produktionen beziehungsweise Organisationen mit entsprechender materieller Ausstattung. Amateurfilme sind angesichts der vor allem in den ersten Dekaden der »Kinematographie« außerordentlich kostspieligen und schwerfälligen Ausrüstung von marginaler Bedeutung. Die sich allmählich ändernde Situation in der Zwischenkriegszeit bedarf weiterer Forschungen, die augenblicklich auch durchgeführt werden. Als schwieriges Metier erweist sich zudem Material etwa aus dem Bereich von Filmgesellschaften beziehungsweise -stellen diverser politischer Parteien. Zu Letzterem etwa: Christian Dewald (Hg.), Arbeiterkino. Linke Filmkultur der Ersten Republik, Wien 2007.

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Hannes Leidinger

korden und Wettbewerben.2 Die Geburt des Kinos beziehungsweise – in zeitgenössischer Diktion – der »Kinematographie« ging Hand in Hand mit einem Bedeutungszuwachs des Sports. Aber was meinen wir damit? Gewiss ist der sozialhistorische Ansatz, hier auch angesichts eines globalen, zunehmend »organisierten Kapitalismus«, eine »spielerische Einübung und soziale Verinnerlichung wirtschaftsimmanenter Verhaltensweisen« zu erkennen, nicht von der Hand zu weisen. Hinzu kommen die politisch-ideologischen Implikationen angesichts der Betonung von kollektiven Identitäten und der Schaffung von Massenparteien im Zuge einer schrittweisen Demokratisierung. Turnbewegungen als Rückgrat nationaler Bewegungen, körperliche Betätigungen, die bestimmten Gesellschaftsschichten zugeordnet wurden, sowie die Popularisierung der Leibesübungen nicht bloß im Sinne der »Entfaltung der Leistungsgesellschaft«, sondern auch im Hinblick auf gesundheits-, vor allem aber auch wehrpolitische beziehungsweise militärische Interessen sind hier zu nennen.3 Ähnlich wie beim Kino würde man allerdings dem »Themenbündel« nicht gerecht werden, wenn man den Unterhaltungscharakter beziehungsweise den massenkulturellen Aspekt hier vernachlässigen würde. Konkret heißt das4 : Erstens entsteht ein neues Freizeitgefühl, teilweise in enger Verknüpfung mit dem Tourismus. Zweitens wird das neue Körperbewusstsein mit Konsumbedürfnissen verknüpft; allen voran die Sportartikel-Industrie findet hier ihren Anfang. Und schließlich entwickeln sich sportliche Wettkämpfe zu »Publikumsmagneten«, mit einer – wenn auch erst allmählich einsetzenden – Professionalisierung der Athleten und ihrer Verbände. Diese Betrachtungsweise schließt mit ein, historische Zäsuren wie den Ersten Weltkrieg nicht zu überschätzen, sondern eher mittel- und langfristige Transformationen im Auge zu behalten. Dabei ist schon vor 1914 gerade im Bereich der Filmwirtschaft eine wichtige Veränderung etwas mehr als eine Dekade nach der eigentlichen Geburt der »Kinematographie« (Mitte der 1890er-Jahre) festzustellen. Sowohl in Österreich als auch in vielen anderen Ländern entsteht nämlich zwischen 1907/08 und 1912/13 eine Kinoindustrie mit entsprechenden

2 Reinhart Koselleck, Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt am Main 2003, 84 und 198–199; Winfried Müller, Das historische Jubiläum. Zur Geschichtlichkeit einer Zeitkonstruktion, in: Winfried Müller (Hg.), Das historische Jubiläum. Genese, Ordnungsleistung und Inszenierungsgeschichte eines institutionellen Mechanismus, Münster 2004, 51–53. 3 Roman Sandgruber, Ökonomie und Politik. Österreichische Wirtschaftsgeschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Wien 1995, 288. 4 Ebd.

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Studios und »Professionisten«, Verleih- beziehungsweise Vertriebsstrukturen, Interessensverbänden und Fachzeitschriften.5 Exakt zu diesem Zeitpunkt setzt zudem eine Debatte über die Aufnahmen von Sportaktivitäten ein – erstmals in der jungen »Kinematographischen Rundschau« am 15. Juli 1907, als eine Zuschrift aus München Kritik an den ubiquitären »Naturaufnahmen« übte, die, wie es hieß, »den Besucher langweilen, wenn nicht auch den anderen Gebieten, Sport, Humor, aktuellen Ereignissen usw., Rechnung getragen würde«.6 Zunächst war allerdings unter den nichtfiktionalen Beiträgen nur selten Titel wie »Sport in Schweden« oder »Sport in Chamonix« zu finden.7 Abgesehen davon, dass unter diesem Gesichtspunkt nicht selten auch das »Jagdvergnügen« verstanden wurde8, waren die themenrelevanten Streifen demnach zunächst kaum als eigenes Interessensgebiet ausgewiesen. Eine Veränderung lässt sich in der Fachpresse 1909/10 erkennen. Von nun an ist in den Filmverkaufs- und vor allem -verleihlisten immer öfter eine eigene Sparte, meist unter dem Titel »Natur- und Sportaufnahmen«, zu finden. Die Produktionen stammen dabei – entsprechend der Vorreiterrollte französischer Kino-Pioniere – vor allem von den Firmen »Gaumont«, »Path8 FrHres« oder »Eclair«, die auch erste fiktionale Arbeiten über die »Sportsmänner« herstellten.9 Während der Sport als eigene Kategorie innerhalb der »Laufbild-Angebotes« etabliert wurde, entstand auch eine österreichische Produktion. Im Unterschied zu den »Spielfilm-Experten« der »Wiener Kunstfilm-Industrie-Gesellschaft« um Jakob Fleck, Anton und Luise Kolm kommt dabei im inhaltlich und konzeptionell noch unausgereiften Metier des »Dokumentarischen« Alexander Kolowrat eine Schlüsselrolle zu. Kolowrat stellte sozusagen die Verkörperung von Beschleunigungseffekten der Moderne, von Verbindungen zwischen Film, Sport und den betreffenden »Oberschichten-Vergnügungen« dar, zumal er auch ein passionierter Automobilist, Autofabrikant und sogar Rennfahrer war.10 Allerdings blieben Autorennen um 1910 vor allem beliebte Sujets der internationalen Produktion.11 Weniger der Wettkampf als vielmehr die Freizeitgestaltung stand im Gegensatz dazu bei den österreichischen Filmpionieren am Programm. Dass die aus dem Jahr 1911 stammenden Aufnahmen vom 1907 5 Verena Moritz/Karin Moser/Hannes Leidinger, Kampfzone Kino. Film in Österreich 1918–1838, Wien 2008, 24–25 u. 30. 6 Kinematographische Rundschau, 15. 7. 1907, 2. 7 Ebd., 1. 10. 1907, 3 bzw. 1. 4. 1908, 3. 8 Ebd., 1. 6. 1908, 3. 9 Ebd., 22. 7. 1909, 6 bzw. 26. 8. 1909, 6. 10 Kolowrat wurde 1886 geboren. Als Schlüsselfigur der österreichischen Stummfilmära erlag er schon 1927 einem Krebsleiden. Siehe auch: Ingrid Maria Hübl, Sascha Kolowrat – Ein Beitrag zur Geschichte der österreichischen Kinematographie, phil. Diss., Universität Wien 1950. 11 Vgl. Kinematographische Rundschau, 22. 7. 1909, 6 bzw. 26. 8. 1909, 6 bzw. 7. 10. 1909, 10.

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eröffneten »Strandbad der Commune Wien«, dem »Gänsehäufel«, auf Kolowrats Initiative zurückzuführen sind, darf jedoch bezweifelt werden.12 Seine »SaschaFilmfabrik« etablierte sich jedenfalls erst 1912 in der k.k. Haupt- und Residenzstadt an der Donau, nach ersten filmischen »Gehversuchen« im heimatlichen Böhmen. Ungeachtet dessen diente die körperliche Betätigung abseits der Arbeitswelt vor allem Fremdenverkehrsinteressen, speziell in der Wintersaison. Das belegen unter anderem die Beiträge in der Fachpresse. Demgemäß wurde im März 1914 bereits eine Art Resümee zu den vorangegangenen Veränderungen abgedruckt. »Der Sport«, konstatierte man bei dieser Gelegenheit, »hat heutzutage den Prinzen Karneval besiegt und die gesunde Jugend ergötzt sich viel lieber bei Ski-, Rodel- und Eislaufsport in der frischen Luft als beim Cakewalk, One- und Twostep in der schwülen Luft des Ballsaales.«13 Als Kulisse für die einschlägigen Aktivitäten dienten allerdings – trotz eines überaus umfangreichen und formidablen Wintersporttreibens etwa auf dem Semmering – zunächst noch skandinavische Landschaften und vor allem die Schweizer Alpen.14 Bemerkenswert genug war die zunächst quantitativ vernachlässigbare Bewerbung österreichischer Regionen durch internationale und vor allem deutsche Firmen. In diesem Sinne pries als eine der ersten »Fabriken« die »Deutsche Mutoskop- und Biograph-Gesellschaft« Bilder eines »Rodel- und Bobsleighrennens am Jeschken in Nordböhmen« an.15 Die Filmpioniere der Donaumonarchie, ebenso wie vor allem die französischen Aktualitäten über Ereignisse im Habsburgerreich, blieben demgegenüber eher traditionellen, durchaus aristokratisch-großbürgerlichen Vergnügungen verpflichtet. Erhaltene Streifen sind hauptsächlich dem Pferdesport gewidmet, etwa über das »Derby« in der Freudenau (F 1914) oder die »Sportvergnügungen« beziehungsweise den »Ausritt« der Familie von Erzherzog Leopold Salvator (A 1914).16 Ansonsten ließen sich die Aufnahmen mit pädagogischen, patriotischen beziehungsweise militärischen Zielsetzungen verbinden, etwa in Zusammenhang mit den »Laufbildern« vom »Turn- und Sportfest am Pratersportplatz« in Ge12 Filmarchiv Austria (FAA), Gänsehäufel 1911 (A 1911). 13 Kinematographische Rundschau, 1. 3. 1914, 76. Vgl. Bernhard Zehentmayer, Der alpine Schisport in Österreich. Seine Entwicklung im 20. und 21. Jahrhundert im Spannungsfeld von Schifahrtechnik, -material, Tourismus und Seilbahnen, Saarbrücken 2009; Heinz Polednik, Das Glück im Schnee. 100 Jahre Schilauf in Österreich, Wien/München 1991. 14 Kinematographische Rundschau, 1. 10. 1907 bzw. 3, 1. 4. 1908, 3 bzw. 22. 7. 1909, 6 bzw. 1. 3. 1914, 76. 15 Wöchentliche Mitteilungen der Kinematographischen Rundschau und der SchaustellerZeitung »Die Schwalbe«, 10. 3. 1910, 9. 16 FAA, Ein Tag aus dem Familienleben Seiner k.u.k. Hoheit des Herrn Erzherzog Leopold Salvator (A 1914).

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genwart des Erzherzogs und späteren Kaisers Karl (A 1910), von »gymnastischen Übungen einer Kriegsschule« (HU 1911) sowie vom »Schul-, Sport und Turnfest der niederösterreichischen Mittelschulen« (A 1914).17 Während der Pferdesport danach vereinzelt immer noch festgehalten wurde18, ließ mit dem Beginn des Ersten Weltkrieges das Interesse an Sportthemen insgesamt spürbar nach. Die Fachmagazine der Kinoindustrie brachten 1914/15 nur mehr halb so viele einschlägige Informationen, 1916 bis 1918 waren es sogar noch weniger. Erst 1919/20 kam unter anderem in der »Neuen Kino-Rundschau«, dem Nachfolgeblatt der »Kinematographischen Rundschau«, die betreffende Berichterstattung wieder auf Touren.19 Die Jahre 1914 bis 1918 gleichen unter solchen Bedingungen – wie aus manch anderer Perspektive – einer »Auszeit«. Aktions- und Aggressionspotenziale scheinen zumindest im Film gewissermaßen durch den auch mittels »Körperertüchtigung« vorbereiteten »Waffengang« gleichsam »absorbiert«. Die nun etablierten k.u.k. Wochenschauformate drücken dies durch ein beredtes Schweigen zum Thema aus.20

III.

Schwerpunkt Zwischenkriegszeit

Der gerade seitens der »Sascha-Film« verstärkte Einsatz der Kinematographie nicht nur zur Unterhaltung und Zerstreuung, sondern auch zur »vaterländischen Erziehung« führte allerdings zu veränderten Zielsetzungen. Die aus der k.u.k. Filmstelle des Kriegspressquartiers hervorgegangene »Staatliche Film-Hauptstelle« der jungen Republik setzte etwa auf »Sport in Jugendvorstellungen«21, während Fachmagazine entsprechende Laufbilder im Lehrfilm beziehungsweise in der Gesundheitspolitik bewarben.22 17 Magyar Mozgjf8nyk8p-Szemle, 3. 12. 1911, 1; FAA, Wien. Das Turn- und Sportfest am Pratersportplatz, dem Erzherzog Karl Franz Josef beiwohnte (A 1910) bzw. Schul-, Sport- und Turnfest der niederösterreichischen Mittelschulen. Wien am 22. und 23. Mai 1914 (A 1914). 18 FAA, Das österreichische Kriegs-Derby 1915 (A 1915) bzw. Das 50. Österreichische Derby am 10. Juni 1917 in der Wiener Freudenau. Einzelbeitrag eines Sascha-Messter Kriegswochenschau (A 1917). 19 Quantitative Auswertung der Filmpresse durch den Verfasser. 20 Lediglich zwei Aktualitäten setzen die Vorkriegsbewerbung des Wintersports in Skandinavien und am Semmering fort (von der »Orthofilm« 1915, von der »Sascha-Filmfabrik« 1916). Die vielen Sascha-Kriegswochenschauen, deren Inhalte in einem kürzlich abgeschlossenen Forschungsprojekt weitgehend rekonstruiert werden konnten, bringen zum Thema nur zwei Beiträge aus dem Jahr 1918: Sascha-Kriegswochenbericht Nr. 193 A (Sportfest des k.u.k. Schützenregimentes Nr. 1) und Nr. 194 B (Wettschwimmen in Perchtoldsdorf, Sportfest auf der »Hohen Warte«). 21 Neue Kino-Rundschau, 10. 1. 1920, 13. 22 Quantitative Auswertung der Fachpresse durch den Verfasser.

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Die Bemühungen der Branche, die zugleich der Aufwertung eines vielfach übel beleumdeten »Unterschichten-Mediums« dienten, nahmen nun deutlich programmatischeren Charakter an.23 An internationale Beispiele wurde dabei angeknüpft. »Man sieht«, schrieb die »Neue Kino-Rundschau« im November 1919, »der Engländer versteht es gut, den Sport mit den Zwecken des Handels zu vereinen. Wann werden wir erst soweit […] sein?«24 Wenige Monate später griff die »Rundschau« das Thema wieder auf, um kritisch zu vermerken: »Wie die Propaganda für den österreichischen Sport künstlich und unvernünftig gehemmt wird, lehrt uns ein Beispiel, das vor kurzer Zeit sich zugetragen hat. Der Leiter einer österreichischen Filmgesellschaft, ein Sportfreund im wahrsten Sinne des Wortes, setzte sich mit […] dem Präsidenten des österreichischen Fußballverbandes in Verbindung, um die Erlaubnis zur Filmaufnahme des österreichisch-ungarischen FußballLänder-Meetings machen zu können. Die Antwort des Herrn Präsidenten war kurz folgende. ›Was zahlen Sie dafür?‹«25

Die erbosten Studios erwarteten ein Umdenken, konkret also eine finanzielle Unterstützung seitens der öffentlichen Hand, gehe es doch, so die Argumentation, um »propagandistische Bestrebungen« zugunsten der »Sportverbände und Sportbehörden«.26 Da allerdings weder die Aufklärungstätigkeit der »Staatlichen Film-Hauptstelle« noch die Tätigkeit der Behörden zufriedenstellende Ereignisse zeitigte, verlegte sich die Kinoindustrie wieder auf vorrangig private Initiativen. Der Investitionsboom als Folge der Nachkriegsinflation führte zur Gründung zahlreicher Produktions- und Verleihfirmen. Hatte man gelegentlich schon in den ersten Monaten nach Ende des Weltkrieges auf ausländische »Spezial-SportFilm-Fabriken« hingewiesen, so machte man sich nun auch in Österreich daran, die Produktion anzukurbeln. »Das Kino-Journal« vom 20. Jänner 1923 meldete dementsprechend: »Im heurigen Jahre beabsichtigt die Firma Presto […] das Erscheinen einer erstklassigen Sport- und Mode-Revue […]. Alle großen sportlichen Ereignisse sollen verfilmt werden und so knapp nach ihrem Stattfinden dem Kinopublikum zur Vorführung gelangen. In erster Linie sind die großen Fußballspiele, wie Ländermatch und Meisterschaftsspiele in Aussicht genommen, Meisterschafts-Schlittschuhlaufen, Bobsleigh23 Dazu auch der umfangreichere Beitrag »Der Sport im Film« in: Die Kinowoche, Heft 5, 1919, 12. 24 Neue Kino-Rundschau, 8. 11. 1919, 11. Schon im Februar 1919 waren die Kinobesitzer zudem aufgefordert worden, »Sportfilms« in der Zeitschrift »Sportblatt am Montag« anzukündigen, in: Neue Kino-Rundschau, 15. 2. 1919, 53. 25 Ebd., 8. 5. 1920, 15 26 Ebd.

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Meetings, Ski-Meisterschaften und sollen sich diesen sportlichen Aufnahmen Verfilmungen großer Wettrennen anschließen.«27

Wenige Tage später stützte ein Experte diese inhaltliche Ausrichtung in der Fachpresse. Sein eher negatives Urteil über die »vorhandenen Filme«, die er langweilig und »noch zu trocken lehrhaft« fand, endete nämlich mit folgendem Rat: »Ganz besonders wirkungsvoll dürften aber Wettkämpfe sein«, wobei »für den Film aus Einnahmerücksichten hauptsächlich sensationellere Sportarten und vor allen Dingen Sportwettstreite und dergleichen in Frage kommen.«28 Die Verschmelzung der Darstellung von »Sportkonkurrenzen«, vom »Spektakel des Kräftemessens« mit den geschäftlichen Anliegen der privaten Filmfirmen verwies auf Kommerzialisierungsschübe, die sich zeitgleich etwa – wie aktuellere Studien beweisen – in der Etablierung des »Werbefilmes« manifestierten.29 Die Resultate blieben allerdings in Bezug auf die filmische Sportberichterstattung hinter den Intentionen zurück. Den Prinzipien, die im »Kino-Journal« betont wurden, schien eine noch erhaltene Aufnahme von der »Weltmeisterschaft im Eiskunstlaufen für Herren und Paare« zu entsprechen. Die Bilder von der in Wien 1925 abgehaltenen Veranstaltung30 fielen allerdings in eine Zeit, die für die Kinobranche mit einigen Schwierigkeiten verbunden war. Das Platzen der Inflationsblase, der Währungsstabilisierung mit entsprechenden Sparmaßnahmen sowie die Rückstufung der österreichischen Wirtschaft auf Kleinstaatsniveau bedeutete für die meisten Firmen das Aus.31 Letztlich blieben vor allem zwei Zielsetzungen: Werbefilme hauptsächlich für den Wintertourismus und die betreffenden Sportaktivitäten einerseits32 und körperliche Ertüchtigung als Ausdruck der Formierung und Festigung von »Weltanschauungslagern« vor dem Hintergrund einer zunehmenden innenpolitischen Polarisierung und Radikalisierung andererseits. Aufnahmen vom 27 Das Kino-Journal, 20. 1. 1923, 23. 28 Ebd., 10. 2. 1923, 3. 29 Vgl. Karin Moser, Der österreichische Werbefilm von seinen Anfängen bis 1938. Die Genese eines Genres, phil. Diss., Universität Wien 2017. Darüber hinaus ist in dieser Phase die Bewerbung des Sportfilms gemeinsam mit dem Bergfilm zu erkennen. Darüber etwa Arnold Fanck, in: Das Kino-Journal, 19. 7. 1924, 7. 30 FAA, Weltmeisterschaft im Eiskunstlaufen für Herren und Paare 1925 in Wien (A 1925). 31 Moritz/Moser/Leidinger, Kampfzone Kino, 128–129. 32 FAA, Winterfreuden am Arlberg (A 1930). Der Beitrag »Wintersport in Türnitz« wurde von Experten wohl fälschlich dem Jahr 1927 zugeordnet: Die Verwendung von »HakenkreuzDekor« lässt andere Rückschlüsse zu. Probleme mit der Datierung ergeben sich zudem beim Beitrag »Skispringen am Berg Isel«, der im Übrigen auch dem Schilauf gewidmet ist. Die Annahme, es handle sich um Szenen aus dem Jahr 1923, muss in Zweifel gezogen werden. Die abgebildete Berg-Isel-Schanze entstand erst 1926/27. Ein Umbau und eine Neueröffnung im Jänner 1928 wurde mit einem »zusammengesetzten Lauf (Lang- und Sprunglauf)« gefeiert. Die Aufnahmen könnten zu diesem Ereignis passen. FAA, Skispringen am Berg Isel. Vgl. Tiroler Anzeiger, 4. 11. 1927, 10 und 18. 1. 1928, 8.

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»Dritten Verbandsturnfest der christlich-deutschen Turnerschaft Österreichs in Salzburg im Juli 1930« repräsentieren Letzteres ebenso wie die ein Jahr zuvor entstandenen Bilder vom »Zweiten Internationalen Sozialistischen Jugendtreffen in Wien«, das auch viele Sportwettkämpfe beinhaltete.33 Unter solchen Bedingungen ließ sich noch einmal die entsprechende Strukturierung der Sportlandschaft veranschaulichen, etwa der Arbeitersport und schließlich die 1931 in Wien abgehaltene »Arbeiter-Olympiade«.34 Bestimmte Betätigungen galten demnach bekanntermaßen als vorrangig »bürgerlich«, wie »Golf, Hockey, Fechten, Eislaufen, Tennis, Rudern, Kajak, Schwimmen und Leichtathletik«, oder eher »links«, wie das Radfahren«.35 Umkämpft war demgegenüber das Fußballspielen, das als Beruf 1924 legalisiert wurde. Damit waren inmitten einer schweren Integrations- und Identitätskrise der Republik »lagerübergreifende Betätigungsfelder« benannt, die allerdings etwa in der zeitgenössischen Filmproduktion nur bedingt hervorgehoben wurden. In der Pionierzeit waren dafür kaum Grundlagen geschaffen worden, die Fachpresse berichtete eher selten.36 33 FAA, Das Zweite Internationale Sozialistische Jugendtreffen in Wien, 12. bis 24. Juli 1929 (A 1929) bzw. Das dritte Verbandsturnfest der christlich-deutschen Turnerschaft Österreichs in Salzburg im Juli 1930 (A 1930); Vgl. Johannes Schönner, Politische Funktionalität des Sports im Ständestaat, in: Michael Achenbach/Karin Moser (Hg.), Österreich in Bild und Ton. Die Filmwochenschau des austrofaschistischen Ständestaates, Wien 2002, 351–368, 354–355. 34 Die »Allianz-Verleih- und Vertriebs-GmbH« als »zentrale Produktionsfirma für kinematographische Wahlpropaganda der sozialdemokratischen Partei« und letztlich als eine Art »›Dokumentarstelle‹ des sozialdemokratischen Kinos« blieb im »dokumentarischen Bereich« allerdings etwa 1931 »weit hinter früheren Produktionszahlen zurück«. Entstanden sind damals immerhin »ein Film über die Arbeitersport-Olympiade in einer kürzeren (Die 2. Intern. Arb. Sport Olympiade Wien 1931) und einer längeren Fassung (Die 2. Internationale Arbeiter-Sport-Olympiade Wien 1931)«. Armin Loacker, Im Widerstreit von Kommerz und Sozialdemokratie: Die »Allianz-Filmfabrikations- und Vertriebsgesellschaft m.b.H.«, in: Christian Dewald (Hg.), Arbeiterkino. Linke Filmkultur der Ersten Republik, Wien 2007, 89–107, 101. Zur Arbeiter-Olympiade auch die kurze Werbeeinschaltung in: Österreichische Film-Zeitung, 16. 5. 1931, 6. Eine Filmografie der »Allianz« zeigt, dass der Sport im Bereich ihres »Lehr-, Kultur-, Dokumentar- und Propagandafilm«-Angebotes eher unterrepräsentiert war : Von rund 60 Produktionen aus den Jahren 1923 bis 1932 sind sechs dem Sport gewidmet, wobei hier die beiden Versionen über die Arbeiter-Olympiade sowie zwei weitere Arbeiten aus den Jahren 1931/32 bereits inkludiert sind. Es bleiben also lediglich »Die großen Fußballwettkämpfe auf der Hohen Warte« (1924) und »Die Wiener Arbeiter-Olympiade« (A 1926), eigentlich ein Bericht über das Arbeiter-Turn- und Sportfest 1926. Zu Freizeit- und Hygienethemen passen noch »Das Städtische Bäderwesen Wiens« (1925/27), »Das Städtische Amalienbad« (1927) und »Lerne Schwimmen« (1927). Loacker, Im Widerstreit, 105–107. Die Attraktivität und die hohen BesucherInnenzahlen bei Fußballspielen auf der Hohen Warte drückte sich in der »Allianz-Produktion« von 1924 wohl ansatzweise aus, findet aber in der Film- beziehungsweise Kino-Fachpresse keinen Niederschlag. 35 Sandgruber, Ökonomie und Politik, 378. 36 In der »Kinematographischen Rundschau« finden sich von 1907 bis 1917 nur sieben einschlägige Notizen. Auch hier stand allerdings der österreichische Fußball keineswegs im

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In der Zwischenkriegszeit waren dann nach den anfänglichen, unausgeführt gebliebenen Film-Plänen die Voraussetzungen vor allem ab 1931 – mit den Erfolgen des sogenannten »Wunderteams« – wesentlich günstiger.37 Hier zeigte sich aber nun vor allem ein entscheidender Faktor, der den Durchbruch des Sports als repräsentatives Filmsujet grundsätzlich behinderte. Denn anders als in der Presse und im jungen Radio-Betrieb gab es – trotz einschlägiger Erfahrungen im Ersten Weltkrieg und gewissen Vorarbeiten unter anderem mittels »Polizeijahresschauen« – keine periodische Filmberichterstattung bis zur Etablierung des »austrofaschistischen Ständestaates« und seiner Wochenschau »Österreich in Bild und Ton«, kurz »ÖBuT«. Rein quantitativ ist erst mit deren Gründung das Thema Sport nachweislich dauerhaft im Kino etabliert worden. 1933 widmete sich ungefähr jeder achte Beitrag von insgesamt rund 320 dem Sport, 1934 beinahe jeder sechste von etwa 660, 1935 und 1936 sogar ungefähr jeder fünfte von rund 800 beziehungsweise 900.38 Diese Daten können allerdings über einige Spezifika, die die Wirkung der Bilder einschränken mussten, nicht hinwegtäuschen. So wurden nur rund 26 Kopien pro Wochenschauausgabe für rund siebenhundert Kinos angefertigt. Bis eine ÖBuT-Folge auch im letzten Provinzkino zur Vorführung kam, konnte bis zu einem halben Jahr vergehen. Die Wochenschau war bis dahin völlig veraltet, ein vor allem für aktuelle Sportnachrichten ernüchternder Sachverhalt.39 Ebenso nachteilig wirkte sich die überkommene Inszenierung der jeweiligen Veranstaltungen aus. Wie bei den früheren »Turner-Bildern« waren eine schwache dramaturgische Umsetzung, eine mangelhafte Belichtungstechnik oder Umsetzung des Bewegungsablaufes, eine inadäquate Brennweite des ObMittelpunkt. Zur Weihnachtszeit des Jahres 1911 war es etwa eine deutsche Produktion, die einen original 29 Meter langen Streifen über das »Länder-Fußball-Wettspiel« Deutschland–Ungarn auf den Markt brachte. Das Spiel endete übrigens 4:1 für Ungarn. Kinematographischen Rundschau, 24. 12. 1911, 37. 37 Angemerkt sei, dass die entsprechenden Beiträge in der Filmpresse den lokalen beziehungsweise regionalen oder urbanen Charakter vieler massenwirksamer Sportaktivitäten und Wettkämpfe nur bedingt wiedergeben. Viel eher lässt sich eine seit längerem erkennbare Tendenz zur »Nationalisierung« etwa von Fußballspielen besonders im Laufe der 1930erJahre vermehrt wahrnehmen. Die Gegensätze und unterschiedlichen Perspektiven bezüglich des lokalen oder nationalen Charakters bestimmter Wettkämpfe sind von den politischen Machtverhältnissen – etwa der Kluft zwischen dem »Roten Wien« und der »bäuerlich-bürgerlichen Provinz« mit ihren jeweils eigenen starken regionalen Unterschieden – kaum zu trennen. 38 1937 war es jeder sechste von rund 970 Beiträgen. Auswertung des Verfassers auf der Basis der »Filmografie – Österreich in Bild und Ton« in: Michael Achenbach/Karin Moser (Hg.), Österreich in Bild und Ton. Die Filmwochenschau des austrofaschistischen Ständestaates, Wien 2002, 396–556. 39 Moritz/Moser/Leidinger, Kampfzone Kino, 301.

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Abb. 1: Österreich in Bild und Ton. (Quelle: Filmarchiv Austria, vgl. Achenbach/Moser, Österreich in Bild und Ton, Wien 2002, 93)

jektivs und ein zu großer Aufnahmeabstand zum Sportler augenfällig. Die AthletInnen folgten solcherart vielfach der Kamera und nicht umgekehrt. Das Wochenschau-Personal hielt an der »eingeübten Technik des Vorbeiziehens«, wie etwa bei Marschkolonnen im Zuge politischer Veranstaltungen, fest.40 40 Schönner, Politische Funktionalität, 361.

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Abb. 2: Österreich in Bild und Ton, »Das österreichische Derby 1934«. (Quelle: Filmarchiv Austria, vgl. Achenbach/Moser, Österreich in Bild und Ton, Wien 2002, 266)

Es ist wichtig festzuhalten, dass diese veralteten und ineffektiven Methoden nicht unbedingt epochenspezifisch waren, zumal Mitte der 1930er-Jahre im internationalen Vergleich bereits »schneller und lebendiger« gedreht und geschnitten wurde. Zu alldem kam hinzu, dass sich das oft rückwärtsgewandte Gesellschaftsbild des Regimes auch in der Wahl der Sportarten manifestierte. Die eher von Offizieren, Großbürgern und Adeligen geschätzten und weniger einem sportlichen Wettkampf als einem gesellschaftlichen Ereignis oder Spektakel gleichenden Pferderennen41 waren in der ÖBuT deutlich überrepräsentiert. Fußballspiele42 und Schirennen sah man – wie andere Sportarten – sehr viel seltener.43 41 Dazu auch Sandgruber, Ökonomie und Politik, 289. 42 Die geringere Zahl einschlägiger österreichischer Streifen steht im Widerspruch zu den betreffenden Aktivitäten etwa in Deutschland. »König Fußball« heißt etwa ein entsprechender Zweiteiler, der auch in der Fachpresse der Alpenrepublik beworben wurde. Vgl. Das Kino-Journal, 7. 4. 1928, 27. In derselben Zeitschrift bot man allerdings wenige Monate vorher zumindest einen Streifen von Lothar Rübelt unter dem Titel »Wiener Fußball-Potpourri« mit »allen prominenten Wiener Fußballern im Bilde« an, in: Das Kino-Journal, 12. 11. 1927, 10. 43 Eine quantitative Erfassung der Inhalte konnte für 1933 acht und für 1934 16 ÖBuT-Beiträge zum Thema Pferdesport ausfindig machen. 1935, 1936 und 1937 sind es 17, 21 und 22 einschlägige Beiträge. Fußball ist von 1933 bis 1937 mit vier, sechs, 14, zwölf bzw. 13, Schi-

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IV.

Hannes Leidinger

Kurzes Resümee – plus Ausblick

Die eigentliche Formierung einer Kinoindustrie ab 1907 brachte zwar Diskussionen über den Stellenwert des Sportes im Film mit sich. Ein anhaltender Bedeutungszuwachs der entsprechenden Sujets war damit jedoch noch nicht verbunden. Speziell während des Ersten Weltkrieges kam es vielmehr zu einer weitgehenden Ausblendung des Themas. Erzieherische und propagandistische Maßnahmen zur Stärkung des »Lehrfilms« und zur Umsetzung diesbezüglicher staatlicher Pläne im Bereich der »Leibesübungen«, aber auch private Initiativen zur Gründung von »Sport-Film-Revuen« sind in der ersten Hälfte der 1920erJahre unverkennbar, scheitern aber aus mehreren Gründen: Wirtschaftliche Engpässe und die politische Polarisierung sind hierbei zu nennen, Aspekte, die wiederum zumindest teilweise das Fehlen von Wochenschauformaten erklären. Die Erfahrungen des Ersten Weltkrieges begründeten hier keine Kontinuität. Erst die »Österreich in Bild und Ton« unter Engelbert Dollfuß und Kurt Schuschnigg brachte den Durchbruch, allerdings mit mangelhaften Organisationsmodellen und ineffektivem Bildmaterial.44

laufen mit zwei, fünf, 13, neun bzw. 16 Beiträgen vertreten. Darüber hinaus sind der Leichtathletik drei, fünf, zwölf, sechs bzw. sieben Beiträge zuzuordnen, dem Turnen zwei, zweimal sechs bzw. zweimal fünf, Autorennen drei, fünf, vier, acht bzw. zwei, dem Segelsport drei, fünf, zwei, fünf bzw. vier. 1935 bis 1937 finden außerdem der Eiskunstlauf (jeweils sechs Mal 1935 und 1937), Schispringen (fünfmal 1937) oder Tennis (sechsmal 1936 und fünfmal 1937) öfter Beachtung. Alle anderen Sportarten – ausgenommen Motorradrennen mit fünf, sieben bzw. fünf Beiträgen in den Jahren 1934 bis 1936 – sind vergleichsweise deutlich unterrepräsentiert. Auswertung des Verfassers auf der Basis der »Filmografie – Österreich in Bild und Ton«, in: Achenbach/Moser (Hg.), Österreich in Bild und Ton, 396–556. Bezüglich der nationalsozialistischen »Ostmark-Wochenschau« 1938 sind einige Spezifika vorauszuschicken. Abgesehen von der Tatsache, dass die betreffenden Ausgaben vom März bis August 1938 stammen und daher etwa wenig überraschend der Wintersport seltener Erwähnung findet, ist die Anzahl der Beiträge geringer. Dafür werden sie häufig in einzelne Kapitel untergliedert. Neben dieser strukturellen Besonderheit sind die offen politisch-weltanschaulichen Themen, des Öfteren verbunden mit Reden der NS-Prominenz, dominanter als in der ÖBuT. Ungeachtet dessen ist eine Kontinuität auffallend: Der Pferdesport dominiert weiterhin, tendenziell sogar deutlicher als in den vorangegangenen Jahren: Von den rund 60 Sportberichten unter insgesamt etwas mehr als 400 Beiträgen der »Ostmark-Wochenschau« beziehen sich 15 darauf. Es folgen, weit abgeschlagen, der Fußball mit fünf sowie die Leichtathletik und Motorradrennen mit jeweils vier Beiträgen. Auswertung des Verfassers auf der Basis der Filmografie in: Hrvoje Miloslavic (Hg.), Die Ostmark-Wochenschau. Ein Propagandamedium des Nationalsozialismus, Wien 2008, 247–271. 44 Die Filmpresse in der ersten Hälfte der 1930er-Jahre verweist auf eine Übergangsphase. Die »Österreichische Film-Zeitung« konstatiert beispielweise im November 1932, dass dem »Sport heute unbestreitbar die Begeisterung breitester Massen gilt«. Allerdings werden dem Artikel zufolge die entsprechenden Konsequenzen nicht von der österreichischen Produktion, sondern von der deutschen »Ufa« mit ihrem einschlägigen Angebot gezogen, in: Österreichische Film-Zeitung, 19. 11. 1932, 2. Noch 1934 sieht dasselbe Blatt bemerkens-

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Eine breitenwirksame Sportfilmberichterstattung als identitätsbildender Faktor des Kleinstaates Österreich entwickelte sich folglich erst Ende der 1940erJahre mit der »Austria Wochenschau«.45 Das »filmische Proporzunternehmen« der jungen Zweiten Republik griff dabei durchaus auf die Erfahrungen der Zwischenkriegszeit zurück und konnte solcherart schon früher ideologisch weniger zuordenbare Sportarten beziehungsweise Sportveranstaltungen – allen voran Fußballspiele und Schirennen – als nationale Gemeinschaftserlebnisse positionieren.46

werter Weise das »Kino im schweren Konkurrenzkampf mit Fußball, Ski-Sport, und dem Sport überhaupt«, in: Österreichische Film-Zeitung, 6. 10. 1934, 4. 45 Durchaus aussagekräftig diesbezüglich auch die quantitative Analyse der »Ostmark-Wochenschau«. Vgl. Fußnote 43. 46 Hannes Leidinger/Verena Moritz, Die Republik Österreich 1918/2008. Überblick, Zwischenbilanz, Neubewertung, Wien 2008, 270; Christoph Eric Hack, Alpiner Skisport und die Erfindung der österreichischen Nation 1945–1964, phil. Diss., Universität Graz 2013. Als Anknüpfungspunkt für die Zweite Republik etwa: FAA, Österreich als Wintersportland (A 1936).

Robert Schwarzbauer

Ein »Zeugnis vom Wirken einer Schar sportbegeisterter Jugend«. Die Chronik des Bischofshofener Sportklub 1935

Abb. 1: Das Oster-Pokalturnier des SK Bischofshofen gegen drei ÖJK1 Salzburg-Mannschaften am 12. und 13. April 1936. (Quelle: SK Bischofshofen, Chronik des Bischofshofner Sportklub 1935)

1 ÖJK steht für Österreichische Jugendkraft. Die ÖJK war ein katholischer Sportverband. In Salzburg gab es in der Zwischenkriegszeit mit ÖJK Salzburg, SK Libertas Salzburg, FC Altstadt Salzburg und FC Hertha Salzburg vier Fußballvereine, die der ÖJK angehörten.

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Ein Bild aus der Chronik des Bischofshofner Sportklubs aus dem Jahr 1936 zeigt einen fahnengeschmückten Sportplatz. Ein nicht sehr zahlreiches2 Publikum, darunter erkennbar auch einige Frauen, verfolgen offenbar einen sportlichen Wettkampf. Die dort tätigen Sportler haben nicht ganz Österreich bewegt und international für Aufsehen gesorgt. Dennoch, das Bild eines solchen Lokalereignisses mag sich – im Sinne von Mikro- und alltagsgeschichtlichen Ansätzen – für die Anwesenden stärker im individuellen und lokalen Gedächtnis festgeschrieben haben und dort größere Wirkmächtigkeit besitzen als Bilder von nationalen Sportstars wie den ganz in der Nähe heimischen Bubi Bradl und Hermann Maier.

I.

Zur Quellensituation

Die Quellensituation zum Fußball in Salzburg vor 1945 ist mehr als dürftig. Im Archiv des Salzburger Fußballverbandes (SFV) befinden sich nur wenige Dokumente: eine handgeschriebene und bebilderte Chronik des DSV3 Salzburg 1921–1923, die Chronik von Vorwärts Maxglan bzw. ATSV Maxglan4 1921–1952 (bestehend hauptsächlich aus Fotos und Zeitungsausschnitten), die (teilweise handgeschriebenen, teilweise schreibmaschinengeschriebenen) Sitzungsprotokolle der FG Salzburg5 1943–1944, sowie einige wenige Bände der SFV-Jahreschroniken.6 Dazu gibt es noch eine (unsortierte) Fotosammlung, bei der die meisten Fotos nicht beschriftet und daher auch nicht oder nur schwer identifizier- und zuordenbar sind. Im Salzburger Landesarchiv (SLA) sind in den Rehrl-Briefen7 sowie in den 2 Auch wenn es aus heutiger Sicht so wirkt, als ob das Spiel nur wenige ZuschauerInnen angelockt hat, ist dazu anzumerken, dass die Zuschauerzahl dem Durchschnitt des Salzburger Fußballs der Zwischenkriegszeit entsprach. Zuschauerzahlen über 1.000 gab es alljährlich nur zu ganz wenigen Spielen (Länderspiele, Gastspiele von Spitzenteams aus Wien oder Meisterschaftsentscheidungen). 3 DSV steht für Deutscher Sportverein. 4 Heute ASK/PSV Salzburg. 5 FG Salzburg steht für Fußballgemeinschaft Salzburg und war ein Zusammenschluss der drei Salzburger Stadtvereine SAK 1914, 1. SSK 1919 und SVAustria im April 1943 wegen Spielermangels aufgrund der zahlreichen Einberufungen zur deutschen Wehrmacht. Grundlage dafür war ein Erlass des NSRL (Nationalsozialistischer Reichsbund für Leibesübungen), der es erlaubte, solche Gemeinschaften zu gründen, um den Spielbetrieb bis zum »Endsieg« aufrecht erhalten zu können. 6 Die SFV-Jahreschroniken wurden von Karl Iser (geboren am 4. 11. 1908 in Salzburg, gestorben am 6. 9. 1987 in Salzburg), Journalist, Funktionär beim SFV und Gründer der LSO (Landessportorgansiation), zusammengestellt und bestehen aus den ausgeschnittenen und eingeklebten fußballrelevanten Zeitungsartikeln der drei Salzburger Tageszeitungen sowie diversen Fotos. 7 Franz Rehrl (geboren am 4. 12. 1890 in Salzburg, gestorben am 23. 1. 1947 in Salzburg) war

Ein »Zeugnis vom Wirken einer Schar sportbegeisterter Jugend«

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Reichstatthalter- und Präsidialakten8 vereinzelt fußballrelevante Quellen enthalten. Für personenbezogene Informationen sind die diversen Meldekarteien im SLA sowie im Archiv der Stadt Salzburg nützlich. Des Weiteren stellen die drei damaligen Salzburger Tageszeitungen9 eine enorm wichtige Quelle dar. Bei den Vereinen sind vor allem das von Walter Summersberger10 betreute SAK 1914Archiv sowie (was den katholischen Sport betrifft) das Kolping-Archiv und das Privatarchiv von Kolping-Archivar Heinz Oberhuemer zu nennen. Bei den restlichen Vereinen sind nur Fragmente und einige wenige Fotos erhalten. Die »Chronik des Bischofshofner Sportklub 1935« wurde zwar in diversen Festschriften des Vereins immer wieder erwähnt, galt jedoch als verschollen. Der Bischofshofner Vereinskassier Florian Nothdurfter machte sich 2013 auf die Suche und konnte sie nach einiger Zeit tatsächlich wiederfinden. Die Chronik ist das mit Abstand vollständigste und daher auch wichtigste Originaldokument zum Salzburger Fußball vor 1945. Mit ihren mehr als 80 Fotos aus der damaligen Zeit – und das sind nicht nur die obligatorischen Mannschaftsfotos und mehr oder weniger gelungene Schnappschüsse von Spielszenen, sondern auch zahlreiche Fotos, die nicht unmittelbar mit den Spielen der Bischofshofner zu tun haben, sondern auch das Vereinsleben außerhalb des Fußballplatzes zeigen – kann man Rückschlüsse ziehen, wie ein kleiner Verein, abseits urbaner und vor allem fußballerischer Zentren, in der Zwischenkriegszeit funktioniert hat.

II.

Der Salzburger Fußball »Innergebirg«11 bis 1945

Der Salzburger Fußball war bis zum Jahr 1945 fast vollständig auf die Landeshauptstadt und ihr Umland12 konzentriert. Vereinsgründungen gab es in Oberndorf13 (seit 1920), Hallein14 (seit 1922) und Bürmoos15 (seit 1927). Ver-

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Mitglied der Christlichsozialen Partei Österreichs (Vorläufer der ÖVP) und von 1922–1938 Landeshauptmann von Salzburg. Als Rehrl-Briefe wird seine offizielle Korrespondenz bezeichnet. In den Präsidialakten findet sich unter anderem das Register der vom Stillhaltekommissar aufgelösten Vereine. Salzburger Volksblatt (christlich-sozial), Salzburger Chronik (katholisch, bis 1938) und Salzburger Wacht (sozialdemokratisch, bis 1934). Walter Summersberger ist der Sohn des gleichnamigen SAK 1914-Spielers, der unter anderem zwischen 1926 und 1942 41 Mal für die Salzburger Landesauswahl auflief. Sein Onkel Josef (Sepp) Summersberger spielte ebenfalls für den SAK 1914 und stand von 1928–1935 in der SFV-Auswahl. Unter »Innergebirg« versteht man die drei Bezirke bzw. »Gebirgsgaue« Pongau (St. Johann), Pinzgau (Zell am See) und Lungau (Tamsweg). Die Bezirke Flachgau (Salzburg Umgebung) und Tennengau (Hallein). In Oberndorf wurde im März 1920 vom dortigen Volksschullehrer Hermann Rasp der 1. Oberndorfer SK 1920 gegründet, der noch heute besteht und damit der »älteste Provinz-

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einzelt gab es auch kurzfristig Versuche zur Etablierung von Vereinen in Neumarkt16 (1921–1923), Grödig17 (1926–1927), Strobl18 (1927) und Lamprechtshausen19 (1930). In den drei Gebirgsgauen lassen sich die ersten fußballerischen Spuren bis in den Sommer 1921 zurückverfolgen. Am 30. Juni wurde in Bischofshofen der FK

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verein« Salzburgs ist, vgl. Toni Wallinger, 50 Jahre Salzburger Fussballverband 1921–1971. Die Geschichte des Fussballsportes im Land Salzburg, Salzburg 1971, 53. Daneben gab es in der Zeit der Verbandsspaltung noch den Ende 1927 gegründeten 1. ASK Vorwärts Oberndorf (ab Jänner 1930 ASK Amateure Oberndorf), der dem Arbeiter-Fußballverband VAFÖ angeschlossen war und 1932 aufgelöst wurde, vgl. dazu unter anderem Arbeiter-Fußball, in: Salzburger Wacht, 24. 12. 1927, 8; S.-K. »Vorwärts«-Oberndorf, in: Salzburger Wacht, 10. 1. 1930, 7. In Hallein wurde Anfang 1922 unter der Initiative des Sparkassenbeamten Haimo Rumpler der 1. Halleiner SK gegründet, der eng mit der Halleiner Zellulosefabrik verbunden war und als Arbeiterverein zwischen 1926 und 1934 dem VAFÖ angehörte, vgl. Wallinger, 50 Jahre Salzburger Fussballverband, 65. Daneben gab es als bürgerliches Gegenstück den SK Vorwärts Hallein, der zwischen Sommer 1924 und 1928 existierte (vgl. Ein neuer Sportverein in Hallein, in: Salzburger Volksblatt, 25. 8. 1924, 6). Im Juni 1933 wurde mit dem Halleiner AC ein neuer Verein gegründet, dem die Mitglieder des aufgelösten 1. Halleiner SK beitraten. Nach 1945 spielte dieser als Fußballsektion des ATSV Hallein und wurde am 27. 12. 1947 als 1. Halleiner SK wieder selbständig. 2004 ging dieser im neugegründeten FC Hallein 04 auf (vgl. dazu Debut des neugegründeten Halleiner Athletiksport-Clubs, in: Salzburger Volksblatt, 8. 7. 1933, 11 sowie Archiv des SFV, Schriftverkehr 1. Halleiner SK.) Im September 1924 wurde auch von der Gründung eines SK Sturm Hallein berichtet, der jedoch nicht weiter in Erscheinung trat, vgl. Schon wieder ein neuer Fußballverein in Hallein, in: Salzburger Volksblatt, 3. 9. 1924, 6. In Bürmoos wurde Anfang 1927 von Arbeitern der dortigen Glasfabrik der FK Bürmoos gegründet. Kurios sind die zahlreichen Umbenennungen des Vereins: ab März 1927 SK Schwalbe Bürmoos, ab Februar 1928 1. ASK Union Bürmoos, ab Frühjahr 1934 SK Bürmoos, ab Jänner 1946 ATSV Bürmoos und seit März 1950 SV Bürmoos. Vgl. dazu Wallinger, 50 Jahre Salzburger Fussballverband, 61; SV Bürmoos, 75 Jahre SV Bürmoos Sektion Fußball, Bürmoos 2002, 13. Am 9. 7. 1921 wurde der SK Neumarkt unter der Führung von Obmann Josef Rieß gegründet, vgl. Gründung des Sportklub Neumarkt, Salzburger Volksblatt, 22. 7. 1921, 5. Im November 1923 wurde der Verein wegen Spielermangels aufgelöst, vgl. Der Sportklub Neumarkt, in: Salzburger Volksblatt, 8. 11. 1923, 6. Der 1946 gegründete TSV Neumarkt beruft sich trotzdem auf die Tradition des SK Neumarkt, gibt jedoch interessanterweise (unter anderem auch auf seinem Vereinswappen) das Gründungsjahr 1922 an. Vgl. Wallinger, 50 Jahre Salzburger Fussballverband, 74; www.tsv.neumarkt.at (abgerufen 9. 12. 2017). Der ATSV Grödig-Fürstenbrunn meldete sich im September 1926 beim VAFÖ an, vgl. Verbandsnachricht, Salzburger Wacht, 25. 9. 1926, 8, stellte jedoch aufgrund von Spielermangel im Sommer 1927 den Spielbetrieb ein. Wie alle Arbeitervereine wurde er im Februar 1934 zwangsaufgelöst. Der SK Strobl wurde im Mai 1927 gegründet. Das einzige Bewerbsspiel des Vereins fand am 26. Juni 1927 im Dr. Rehrl-Cup (Salzburger Landescup) statt und endete mit einer 0:18Heimniederlage gegen den 1. SSK 1919, vgl. Salzburger Fußball, in: Salzburger Volksblatt, 27. 6. 1927, 7. Kurze Zeit später stellten die Strobler den Spielbetrieb wieder ein. Erst 1952 wurde in Strobl wieder ein (gleichnamiger) Fußballverein gegründet. Vgl. Salzburger Fußball, in: Salzburger Volksblatt, 30. 6. 1930, 7.

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Bischofshofen 1921 mit den Farben Schwarz-Weiß unter der Leitung von Obmann Franz Wimmeder, Schriftführer Josef Olbricht, Kassier Franz Kinzler und Zeugwart Alois Aistleitner gegründet. Der Verein wurde als Schutzverein vom SFV aufgenommen, allerdings von der Meisterschaftsteilnahme enthoben, da es damals keinen geeigneten Sportplatz in Bischofshofen gab. Die Sportplatzfrage war auch der Grund für die baldige Vereinsauflösung im April 1922.20 Im »Salzburger Volksblatt« vom 29. Juli 1921 findet sich eine Notiz, dass in Kleinarl ein Spiel des neugegründeten FK Blitz Wagrain gegen einen unbekannten Gegner mit dem Endresultat von 9:8 stattfand, wobei »der Sieger des Spiels aus der Zuschrift nicht ersichtlich ist«21 (dies ist der einzige Zeitungsartikel, in dem der FK Blitz Wagrain jemals erwähnt wurde). Weitere kurzlebige Vereine gab es in Badgastein22 (1930), St. Johann im Pongau23 (1934), Radstadt24 (1936) und Zell am See25 (1936). In Lend wurde 1934 eine Betriebssportgemeinschaft (BSG) der AIAG26 und 1938 im Werfener Ortsteil Tenneck eine BSG der Konkordiahütte27 gegründet, die beide gelegentlich Fußballspiele durchführten, und schlussendlich gab ab Juni 1939 eine Reichsbahn SG in Saalfelden28, deren Teilnahme an der Kreisklassen-Meisterschaft29 1939/40 aufgrund des Zweiten Weltkrieges verhindert wurde.30 Aus dem Lungau sind erst nach 1945 Vereinsgründungen bzw. Fußballspiele bekannt. Der SK Bischofshofen wurde am 9. April 1935 gegründet und ist der einzige Salzburger Verein »Innergebirg«, der seit seiner Gründung eine kontinuierliche 20 Vgl. Robert Schwarzbauer, Lost Clubs der Zwischenkriegszeit in Salzburg, in: Siegfried Göllner/Albert Lichtblau/Christian Muckenhumer/Andreas Praher/Robert Schwarzbauer (Hg.), Zwischen Provinz und Metropole. Fußball in Österreich. Beiträge zur 1. Salzburger Fußballtagung, Göttingen 2016, 79–87, 85; Gründungsversammlung des Fußballklubs Bischofshofen 1921, in: Salzburger Volksblatt , 15. 7. 1921, 6; Der Salzburger Fußballverband, in: Salzburger Volksblatt, 6. 9. 1921, 5; Der Salzburger Fußballverband, in: Salzburger Volksblatt, 6. 5. 1922, 6. 21 Der Fußballsport im Lande Salzburg, in: Salzburger Volksblatt, 29. 7. 1921, 6; Wallinger, 50 Jahre Salzburger Fussballverband, 8. 22 Fußball in Badgastein, in: Salzburger Volksblatt, 7. 7. 1930, 8. 23 Wallinger, 50 Jahre Salzburger Fussballverband, 82. 24 Vgl. Aufschwung des Bundesländer-Fußballsports, in: Salzburger Chronik, 18. 9. 1936, 7. 25 Vereinsgründer in Zell am See war der ehemalige FC Altstadt Salzburg-Spieler Franz Gollackner, der als Lehrer in Zell am See tätig war, vgl. u. a. Fußball-Wettspiel in Zell am See, in: Salzburger Volksblatt, 19. 5. 1936, 9; FC Zell am See – FC Lend 4:1, in: Salzburger Chronik, 19. 5. 1936, 8. 26 Aluminium-Industrie-AG Filiale Lend, heute SAG. 27 Eisenwerk Konkordiahütte, heute ESW (Eisenwerk Sulzau-Werfen). 28 Vorläufer des ESV Saalfelden, heute FC Pinzgau Saalfelden. 29 Die Kreisklasse war die dritte Spielstufe der »Ostmark« unterhalb der Gauliga und der Bezirksliga. 30 Das Spiel der 1. Runde am 27. 8. 1939 beim 1. Salzburger SK 1919 wurde wegen Schlechtwetters abgesagt, die Meisterschaft am 28. 8. 1939 – bereits drei Tage vor Beginn des Zweiten Weltkrieges – abgebrochen.

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Fußballtradition aufweisen kann. Wie bereits erwähnt gab es von 1921–1922 schon einen Versuch zur Gründung eines Fußballvereins in Bischofshofen. Bereits seit 1920 gab es im Ort einen Arbeiter-Turnverein (ATSV), der im Mai 1933 eine Fußballsektion ins Leben rief.31 Das Bischofshofner Fußball-Debut gegen Admira Salzburg endete am 13. Juni 1933 mit einem 8:2-Sieg der Admira.32 Die ersten Spiele wurden auf dem Sportplatz Laideregg ausgetragen. Dieser wurde vom ATSV in den Jahren 1927 und 1928 errichtet33 und befand sich im Auslauf der Laideregg-Skisprungschanze.34 Der Arbeiter-Turnverein wurde (wie alle sozialdemokratischen Vereine) nach dem Bürgerkrieg im Februar 1934 zwangsaufgelöst.

III.

Die Chronik des Bischofshofner Sportklubs 1935

Die Chronik des SK Bischofshofen wurde von Sebastian Biechl35 verfasst, umfasst 253 handschriftliche Seiten mit zahlreichen (eingeklebten) Zeitungsartikeln, maschinengeschriebenen Protokollen und Fotos. Sie beginnt mit der Vereinsgründung am 9. April 1935 und folgenden Worten: »Die Aufschreibübungen in diesem Buche sollen Zeugnis legen vom Wirken einer Schar sportbegeisterter Jugend, die trotz wirtschaftlicher Not und politischen Wirrwares zusammengefunden hat und unter persönlichen und wirtschaftlichen Opfern alle Hindernisse überbrückte und so ein Werk schuf, das für die Jugend und Zukunft des Ortes von großer Bedeutung ist. Im Winter schon hatten wir die Gründung eines Sportklubes im Sinne. Unser Spielen im Jahr 1934 hatte keinen Nachdruck, es war ein wildes Sporteln. Freilich machte uns der Fremdenverkehrsverein – unter welchem Titel wir vor die Öffentlichkeit traten – Versprechungen, doch wurde nichts daraus. Darüber waren wir uns klar, daß es so nicht weitergehen kann. Der Versuch, sich mit dem Skiklub zu vereinen, scheiterte an der abweisenden Haltung seiner Funktionäre. Mit dem Beginn des Frühjahres packten wir die Sache energisch an. Zuerst Besprechungen unter uns Spielern. Das Eine stand fest, Gründung eines allgemeinen Sportklubs und Anmeldung beim Salzburger Fußballverband. Im Gasthof Beer kamen wir zusammen, 31 Vgl. Sebastian Biechl, Die Chronik von Bischofshofen, Bischofshofen 1971, 315. 32 Vgl. Andreas Praher/Robert Schwarzbauer, Der jüdische Sport im Salzburg der Zwischenkriegszeit, in: Aschkenas. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der Juden 27 (2017) 1, 57–70, 66. 33 Vgl. Biechl, Chronik von Bischofshofen, 324. 34 Die Laideregg-Sprungschanze befindet sich direkt neben der Paul-Außerleitner-Schanze. Der Sportplatz musste in den 1980er-Jahren einem Organisations- und Pressezentrum weichen. 35 Sebastian Biechl (geboren 1911 in Bischofshofen) war Gemeindebeamter in Bischofshofen (zunächst Adjunkt, ab September 1932 Revident und ab 1961 Amtsleiter). Er war in der Zwischenkriegszeit bereits Mitglied der NSDAP und SA-Rottenführer, und Spieler, Sektionsleiter und Gründungsmitglied des SK Bischofshofen am 9. April 1935.

Ein »Zeugnis vom Wirken einer Schar sportbegeisterter Jugend«

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besprachen die Statuten und stellten einen Ausschuss zusammen. Eine große Frage harrte noch der Lösung – es war die Sportplatzfrage!«36

Bereits hier spricht Biechl zwei auch aus heutiger Sicht interessante Themen an: Da wäre zunächst einmal der Versuch eine Sektion des Skiklubs Bischofshofen zu werden. Dazu ist zu sagen, dass der Skiklub Bischofshofen, den es ebenfalls heute noch gibt, auf dem Gelände der Bischofshofner Sprungschanze einen kleinen Sportplatz hatte, der sogar noch bis in die 1980er-Jahre existierte, und auf dem der ATSV Bischofshofen, also der Arbeiterturnverein, seine Turnübungen, aber auch seine Fußball- und Faustballspiele ausgetragen hatte. Leider macht Biechl keine Anmerkungen darüber, warum der Skiklub von den Fußballern nichts wissen wollte, was ein generelles Problem der Chronik aufzeigt, nämlich eine zeitgenössisch vielleicht nachvollziehbare, aus Historikersicht aber schiefe Gewichtung. Des Weiteren spricht Biechl die Sportplatzfrage an. In der Zwischenkriegszeit gab es nur sehr wenige Fußballplätze in Salzburg und kaum ein Verein hatte einen eigenen Sportplatz. Biechl zählt in der Chronik alle Grundstücke auf, um die sich der BSK bemüht hatte, ehe im April 1935 ein Grundstück der Familie Ibetsberger gepachtet werden konnten, das am 28. April mit einem Trainingspiel zwischen der A- und B-Mannschaft eingeweiht wurde. Auf Abb. 2 ist eine Szene vom offiziellen Eröffnungspiel am 5. Mai 1935 zu sehen. Gegner war der Halleiner AC, das Spiel endete 8:5 für die Halleiner (BSK mit weißen Hosen, HAC mit schwarzen Hosen und mit weißem Streifen auf dem Trikot). Der Platz befand sich in der Nähe des Bischofshofner Bahnhofes in der Hochthronstraße. Im Hintergrund ist das Tennengebirge zu sehen, in der Bildmitte das Missionshaus St. Rupert, damals wie heute eine katholische Privatschule, und rechts der Bahndamm der Eisenbahnstrecke nach Salzburg. Ab dieser Zeit nahm der BSK am regelmäßigen Spielbetrieb teil, was damals vor allem Freundschaftsspiele37 bedeutete. So trat der BSK am 18. August 1935 zu einem Freundschaftsspiel in Salzburg bei der 2. Mannschaft des SAK 1914 an. Wie kam man damals zu Auswärtsspielen? Man könnte glauben, dass in Bischofshofen, als Eisenbahnknotenpunkt und mit der BBÖ38 als größtem Arbeitgeber im Ort, bei dem auch viele der Bischofshofner Fußballer beschäftigt

36 SK Bischofshofen, Chronik des Bischofshofner Sportklub 1935, unveröffentlichte Handschrift. 37 Da die Ligen zur damaligen Zeit klein waren, gab es pro Saison in der Regel nicht mehr als 8 bis 10 Meisterschaftsspiele. Viel bedeutender für die damaligen Vereine waren daher die Freundschaftsspiele. Laut BSK-Chronik absolvierte der SK Bischofshofen 1935 15 Spiele (alles Freundschaftsspiele), 1936 28 Spiele (24 Freundschafts- und 4 Meisterschaftsspiele) und 1937 17 Spiele (9 Freundschafts- und 8 Meisterschaftsspiele). 38 Damaliger Name der ÖBB.

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Abb. 2: Der Sportplatz des SK Bischofshofen bei der offiziellen Platzeröffnung am 5. Mai 1935. (Quelle: SK Bischofshofen, Chronik des Bischofshofner Sportklub 1935)

waren, die Eisenbahn das Naheliegendste gewesen wäre, aber als Transportmittel wurden in der Regel Autobusse39 benutzt. Das Foto wurde auf der Fahrt nach Salzburg am Pass Lueg aufgenommen (im Hintergrund ist das Struber-Denkmal zu erkennen, das auch heute noch auf der Passhöhe steht). Der interessanteste Aspekt des Fotos ist, dass von den 28 Personen, die darauf abgebildet sind, zumindest fünf eindeutig als Frauen und eine als Kind zu erkennen sind. Das heißt, dass damals – nicht so wie heute, wo nur Mannschaft, Trainerteam und ein paar Funktionäre im Mannschaftsbus sitzen – ein Auswärtsspiel quasi auch ein Familienausflug war. Fotos von Auswärtsfahrten gibt es mehrere in der Chronik, die alle das gleiche Bild zeigen: Neben der Mannschaft nahmen immer auch mehrere Frauen an der Fahrt teil. So auch bei der Auswärtsfahrt nach Bad Aussee am 13. Juni 1937, zu der Biechl folgenden Kommentar schrieb: »Die Reise wurde mittels Autobus durchgeführt, doch hatten wir verschiedene Schwierigkeiten und Hindernisse zu überwinden. Einmal mussten wir umkehren, da der Motor die Steigung nicht nahm. In Radstadt wechselten wir das Auto aus, dann knapp vor dem Ziel, hatten wir einen Patschen und schließlich am Rückweg ging uns mitten auf der Landstraße das Benzin aus. Nach Besichtigung des Sportplatzes, welcher ungefähr dieselben Ausmaße ausweist wie der eigene, aber keine Rasendecke trägt, 39 Biechl schreibt in der Chronik stets von »Autobussen«, auf den Fotos sind jedoch immer nur LKWs mit Bänken auf der Ladefläche zu sehen. Offensichtlich wurden diese LKWs damals als »Autobusse« bezeichnet.

Ein »Zeugnis vom Wirken einer Schar sportbegeisterter Jugend«

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Abb. 3: Die Mannschaft des SK Bischofshofen auf dem Weg zum Auswärtsspiel nach Salzburg am 18. August 1935. (Quelle: SK Bischofshofen, Chronik des Bischofshofner Sportklub 1935)

begaben wir uns ins Klubheim. Nachdem wir uns erholt, fahren wir mit dem Auto nach Grundlsee. Hier ist es sehr schön und die Zeit verbringen wir mit Rudern. Um 4 Uhr geht’s zurück zum Platz. Da kein Schiedsrichter erschien, leitete Wenisch das Spiel zu aller Zufriedenheit. Nach dem Spiel trafen wir uns zum gemütlichen Zusammensein mit unseren Gastgebern und nur allzu bald hiess es Heimfahren.«

Auf diesem Foto ist eine Auswärtsfahrt im Juni 1936 nach Ebensee dokumentiert. Interessant ist die Aufschrift am LKW »Karolinenhof Bischofshofen«. Man könnte meinen, dass das eventuell als Hinweis auf eine Art Sponsoring gedeutet werden kann. Doch der Karolinenhof, damals das größte Wirtshaus in Bischofshofen, hatte auch einen Fuhrpark40, und das Fahrzeug wurde vom SK Bischofshofen einfach nur für die Auswärtsfahrt gemietet. Über das Spiel selbst schreibt Biechl: »Dank der Umsicht unseres Sektionsleiters kamen wir zu dieser schönen Wettspielfahrt. Um 8 h gings mit dem Autobus los. Das Wetter war ein traurig trübes, doch die Fahrt angenehm. In flotter Fahrt gings durchs Salzkammergut und nach einer kurzen Rast in Bad Ischl erreichten wir um ca. 1 h Ebensee. Dortselbst vergnügten wir uns nachmittags mit Baden und Rudern. Das Spielfeld war ein harter, grasloser Löschboden 40 Alois Seiringer, der Besitzer des Karolinenhofes, hatte auch eine »Auto-Garage« mit mehreren Bussen und führte einen Buslinienverkehr nach Mühlbach, St. Johann im Pongau, Großarl, Hüttschlag, Kleinarl und Radstadt durch, vgl. Sebastian Biechl, Bischofshofen in alten Ansichten, Zaltbommel 1980, ohne Seitenzahl.

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Abb. 4: Die Mannschaft des SK Bischofshofen auf dem Weg zum Freundschaftsspiel gegen den Ebenseer SVam 29. Juni 1936. (Quelle: SK Bischofshofen, Chronik des Bischofshofner Sportklub 1935)

mit Mugeln und Löchern. Zu allen Überfluß regnete es ein wenig, sodaß wir wie Neger ausschauten.«

Generell lässt sich feststellen, dass der BSK keine reine »Männerrunde« war, sondern Frauen im Vereinsleben zwar nicht als Spielerinnen oder Funktionärinnen tätig, aber doch präsent waren. Auf Fotos von Heimspielen lässt sich auch erkennen, dass zahlreiche Frauen im Publikum anwesend waren. Es sind zwar nicht immer alle ZuschauerInnen auf den Fotos exakt als Mann oder Frau identifizierbar, aber wenn man von der Annahme ausgeht, dass im Pongau der 1930er-Jahre alle Männer Hosen und alle Frauen Röcke trugen, kommt man bei den ZuschauerInnen auf zumindest 25 bis 30 Prozent Frauenanteil, ein Wert, der auf vergleichbaren Fotos aus Hallein oder der Stadt Salzburg bei weitem niedriger war. Gab es in den 1930er-Jahren in Bischofshofen bereits Fans oder Schlachtenbummler? Biechl schreibt dazu im Jahresbericht 1936: »Der sportliche Verkehr war ziemlich rege und besuchten viele Gäste unseren Ort. Ca. 500 Spieler, diese waren von ca. 400 Schlachtenbummlern begleitet, nicht mitgezählt jene Fremden, welche ohne Verein nach Bischofshofen kamen, ließen Geld in unserem Orte, sodaß nicht nur der sportliche, sondern auch der wirtschaftliche Erfolg gegeben war.«

Ein »Zeugnis vom Wirken einer Schar sportbegeisterter Jugend«

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Wie hat sich also der SK Bischofshofen finanziert? An Ausgaben gab es vor allem Fahrtkosten für die Auswärtsspiele sowie den Pachtbetrag für den Sportplatz von 150 Schilling jährlich. An Einnahmen gab es die Eintrittspreise sowie den Erlös aus regelmäßig durchgeführten Unterhaltungsabenden. In der Jahreshauptversammlung von 1935 wurde festgestellt, dass der Verein einen Umsatz von 1.000 Schilling und einen Aktivstand von 70 Schilling hatte. Neben den Fotos und den Ausführungen Biechls sind in der Chronik natürlich auch alle Ergebnisse, Mannschaftsaufstellungen, Resultate, Funktionäre, und Ähnliches aufgelistet. Das ist insofern interessant, da im Salzburger Fußball, im Gegensatz zur Situation in Wien, nicht einmal alle Resultate der großen Vereine wie SAK 1914 oder der Salzburger Austria bekannt sind, geschweige denn von der 2. Klasse, in der der BSK spielte, und wo von manchen Saisonen nicht einmal gesichert ist, wie viele Vereine an der Meisterschaft teilnahmen. Umso erfreulicher ist es, dass in der Chronik des BSK auch Angaben dazu zu finden sind. Biechls Aufzeichnungen zur Saison 1937/38 zeigen, dass an der Meisterschaft der 1. Salzburger Sportklub 1919 (SSK), der BSK, der FC Bürmoos (FCB), die ÖJK Libertas Salzburg (ÖJK) und der Oberndorfer Sportklub (OSK) teilnahmen. Aus heutiger Sicht ist auffällig, dass von den 20 Spielen der Meisterschaft nicht weniger als 50 Prozent durch den Verband strafverifiziert wurden. Von den acht Spielen des Bischofshofner Sportklub wurden fünf strafverifiziert, drei für und zwei gegen Bischofshofen. Was waren die Gründe dafür? Zuerst die Strafverifizierungen für Bischofshofen: Sowohl das Heimspiel als auch das Auswärtsspiel Oberndorf fand nicht statt, da die Oberndorfer nicht angetreten waren. Das Auswärtsspiel gegen Libertas fand ebenfalls nicht statt, da Libertas als katholischer Verein nach dem »Anschluss« zwangsaufgelöst worden war. Die Anlässe für die zwei Strafverifizierungen gegen Bischofshofen waren: Das Heimspiel gegen Libertas wurde in der 75. Minute beim Stand von 3:3 wegen Publikumsausschreitungen abgebrochen, und das Heimspiel gegen den SSK endete mit einem 2:0-Sieg der Salzburger und wurde wegen des Einsatzes eines nicht spielberechtigten Bischofshofners mit 3:0 für den SSK gewertet. Die Gründe für die zahlreichen Strafverifizierungen in der damaligen Zeit waren also Nichtantetreten (zumeist aufgrund von Spielermangel), Rückziehungen von Vereinen (sowohl freiwillig als auch wegen Zwangsauflösungen), Spielabbrüche aufgrund von Ausschreitungen und Entscheidungen am grünen Tisch wegen unberechtigt eingesetzter Spieler. Mit dem »Anschluss« im März 1938 fanden im Salzburger Fußball tiefgreifende Veränderungen statt, die auch den SK Bischofshofen betrafen. Der BSK wurde mit den anderen Sportvereinen des Ortes zu einem Großverein zusammengeschlossen. Biechl schreibt dazu:

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»11. 8. 1938: Aussprache der Sportinteressenten von Bischofshofen. Herr Bgm. Pum41 legte in kurzen Worten den Zweck des Sportes und unsere Pflichten auf diesem Gebiete dar : Sämtliche bestehende Vereine werden aufgelöst und die Mitglieder und verschiedenen Sportarten in der ›Deutschen Sport und Turngemeinde‹ erfasst.«

Dieser Zusammenschluss war offensichtlich nicht von Erfolg gekrönt, denn im Mai 1939 schrieb Biechl, der bereits in der Zwischenkriegszeit NSDAP-Mitglied gewesen war, relativ kritisch: »Leider gingen die in den Turnerbund gesetzten Erwartungen nicht in Erfüllung. Die anderweitig bei der Partei oder bei den Formationen beschäftigten Funktionäre konnten den Anforderungen eines emsigen und intensiven Sportbetriebes nicht gerecht werden. Auch in finanzieller Hinsicht waren, infolge keiner Tätigkeit der verantwortlichen Leiter, alle Voraussetzungen für die klaglose Abwicklung der Spiele genommen, sodaß wir aus der laufenden Meisterschaft, in welcher wir eine hervorragende Rolle innehatten, ausscheiden mußten. Es drohte die Gefahr des Verfallens jeglicher sportlicher Tätigkeit. Ein Großteil der ausübenden Spieler ist bei der Reichsbahn beschäftigt, weshalb es naheliegend war, sich dem Reichsbahnsporte anzuschließen, bei welchem sich uns viel mehr Möglichkeiten bieten, um unsere fußballerische Tätigkeit fortzusetzen.«

In der Chronik folgt noch ein kurzer Bericht über ein Spiel gegen den Halleiner AC vom 21. Mai 1939, die restlichen Seiten über die NS-Zeit wurden nachträglich mit einem Messer aus der Chronik herausgeschnitten und fehlen. Nach 1945 beginnt die Chronik erst wieder am 24. März 1946 und endet im Herbst 1955, allerdings in einer anderen Handschrift, d. h. von einem anderen (unbekannten) Chronisten, der sich jedoch (fast) ausschließlich auf Resultate und Mannschaftsaufstellungen konzentrierte, weswegen dieser Teil aus sporthistorischer Sicht weniger interessant ist.

IV.

Resümee

Mikrogeschichte eröffnet kleine Fenster in großen Narrativen, die einen Blick auf das Besondere im Alltäglichen zulassen, konkret die Alltagskultur Fußball auf regionaler Ebene. Mithilfe der Chronik des Bischofshofner SK lässt sich eine solche Alltagsgeschichte der Zwischenkriegszeit im Salzburger Land nachzeichnen, durch welche die Gesellschaft vielleicht genauso geprägt wurde, wie durch die Politik. Es ging ja schließlich um Fußball …

41 Leopold Pum (geboren am 2. 9. 1908 in Wien, gestorben am 25. 1. 1979 in Bischofshofen) kam 1922 nach Bischofshofen und war vom Beruf Goldschmied. Von 1938 bis 1943 bekleidete er das Amt des Bürgermeisters.

Politische Konfrontationen

Georg Spitaler

Ein Spuk-Bild des linken Sports: »Nie schiesst der Fascismus im roten Wien ein Goal!«

Abb. 1: Ausschnitt aus Der Kuckuck, 16. November 1930. (Quelle: VGA, Wien)

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Aus dem Endspurt des Wahlkampfes zur österreichischen Nationalratswahl 1930 stammt eine Abbildung in der sozialdemokratischen Illustrierten »Der Kuckuck«. Das in der Ausgabe vom 16. November 1930 abgedruckte Foto zeigt den Aufmarsch der Arbeiterfußballer am Wiener Karl-Volkert-Sportplatz in Fünfhaus. Ihre Transparente versprechen, den Siegeszug der Faschisten zu verhindern. »Dafür bürgen die Arbeiterfussballer«. Doch es kam anders, »die Fascisten« gewannen in Wien so manches Match, drehten das Spiel mit dem Einsatz von Gewalt: die demokratischen Nationalratswahlen am 9. November 1930 blieben die letzten der Ersten Republik.1 Das Titelbild des »Kuckuck«, das in derselben Ausgabe der Illustrierten bereits den Sieg gegen die Faschisten proklamierte (»Es ist entschieden. Der Faschismus geschlagen!«), wirkt heute wie das Bild einer alternativen Vergangenheit. Im folgenden Beitrag möchte ich daher vorschlagen, die Aufnahme der Arbeiterfußballer als Phantom-Bild einer hauntologischen Geisterbeschwörung, wie dies der britische Kulturtheoretiker Mark Fisher nannte, zu lesen, das an die Versprechen einer nicht eingetretenen Zukunft erinnert. Der Aufsatz rekonstruiert den medialen, politischen und populärkulturellen Kontext des Bildes und ruft Konzepte des Politischen und Unpolitischen im Wiener Sport der Zwischenkriegszeit in Erinnerung. Davon ausgehend werden Rezeptionsgeschichte der Aufnahme sowie das aktuelle Interesse an den verschütteten linken Traditionen des österreichischen Sports diskutiert. Zwischen rückwärtsgewandter »linker Melancholie« und der Suche nach historischen Artefakten, die die Hoffnung auf eine emanzipative Zukunft wach halten, lässt sich in diesem Zusammenhang nach der Rolle der Sportgeschichte und ihrer musealen Darstellung fragen.

I.

Propaganda des Roten Wien

Die Zeitschrift »Der Kuckuck«, in der das Bild veröffentlicht wurde, und die von 1929 bis zum Februar 1934 erschien, war, wie Stefan Riesenfellner und Josef Seiter beschreiben, eine der ersten »moderne[n] Bild-Illustrierte[n] Österreichs«.2 Initiiert vom SDAP-Funktionär und -journalisten Julius Braunthal, wurde ihr Design maßgeblich von dem Maler, Grafiker und Autor Siegfried Weyr 1 Bereits am 5. November 1930, kurz vor den Wahlen, hatten Polizei und Bundesheer Parteistellen der SDAP nach Waffen durchsucht, u. a. die Verbandsräume der Wiener Arbeiterfußballer. Vgl. Republikaner werden entwaffnet!, in: Arbeiter-Zeitung, 5. 11. 1930, 1; VAFÖ Landesgruppe Wien, Ordentliche Hauptversammlung vom 31. Jänner 1931. Verein für Geschichte der ArbeiterInnenbewegung (VGA), Parteistellenarchiv, Karton 202, Mappe 1401. 2 Stefan Riesenfellner/Josef Seiter, Der Kuckuck. Die moderne Bild-Illustrierte des Roten Wien, Wien 1995, 7.

Ein Spuk-Bild des linken Sports

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Abb. 2: Der Kuckuck, 16. November 1930. (Quelle: VGA, Wien)

bestimmt. Gedruckt im modernen Rastertiefdruckverfahren sollte das sozialdemokratische Medium in Konkurrenz zu bürgerlichen Illustrierten treten, und mit einer Mischung aus Propaganda, die sich ästhetisch u. a. an kommunisti-

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schen Vorbildern in der Sowjetunion und Deutschland orientierte, und dem vorgeblich »Unpolitischen« der Schaulust und des bildlich Spektakulären sowohl mobilisieren als auch unterhalten.3 Die Urheberschaft des Fotos der Arbeiterfußballer am Volkert-Sportplatz ist ungeklärt, die Bildüberschrift nennt keinen Fotografen. Zwei weitere Bilder der Fotogalerie zum Wiener Wahlkampf auf derselben Seite der Zeitschrift sind allerdings mit dem Namen Wide World versehen, einer US-Fotoagentur, für die in Wien die Fotografen Albert Hilscher und Leo Ernst tätig waren.4 »Der Kuckuck« bezog einen Teil seines Bildmaterials aber auch aus dem Kreis der Arbeiter-Amateurfotografie, so existierte etwa ein »ständiger Fotowettbewerb« für LeserInnen.5 Das Ausgangsbild zeigt den Ausschnitt eines Sportplatzes, junge Männer in Fußballtrikots tragen die erwähnten Transparente, im Hintergrund sind Mietshäuser zu sehen. Die Bildbeschreibung erklärt, dass wir uns am – heute nicht mehr existierenden – Red Star Platz am Vogelweidplatz im 15. Gemeindebezirk befinden, der im September 1930 nach Umbauten als laut »Arbeiter-Zeitung« »schönster Arbeitersportlatz« des Roten Wien wieder eröffnet wurde.6 Benannt wird die Anlage nach Karl Volkert, dem 1929 verstorbenen SDAP-Abgeordneten und ehemaligen Vorsitzenden des Österreichischen-Fußball-Bundes sowie des Verbands der Arbeiter- und Soldatensportvereinigungen Österreichs (VAS), der Vorgängerinstitution des ASKÖ.7 Das Foto zeigt: Wie die Sportplätze der bürgerlichen Konkurrenz verfügt auch dieser Platz über Werbebanden. Auf diesen wird jedoch, zumindest auf der erhaltenen Abbildung, für Medienprodukte aus dem sozialdemokratischen Vorwärts-Verlag geworben, für den »Kuckuck«, das Kleinformat »Das Kleine Blatt« und die Frauenzeitschrift »Die Unzufriedene«. Die Tribüne ist gut gefüllt, bei der am 1. November 1930 abgehaltenen »Kundgebung der Arbeiter-Fußballer«, wie sie vom »Kuckuck« genannt wird, handelte es sich um die erste Station einer zweitägigen Propagandaveranstaltung der Vereinigung der Amateur-Fußballvereine Österreichs (VAFÖ), die mit zwei Länderspielen gegen die deutschen Arbeiterfußballer als »Wahl- und Anschlusskundgebung« konzipiert war. Neben ASKÖ-Präsident Julius Deutsch hielt auch der deutsche SPD-Politiker Cornelius Gellert, wie Deutsch Co-Vor3 Ebd., 96. 4 Ebd., 102; Anton Holzer, Rasende Reporter. Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus. Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945, Darmstadt 2014, 239. 5 Vgl. dazu z. B. Holzer, Reporter, 251 bzw. Anton Holzer, Vorwärts! Die österreichische Arbeiterfotografie der Zwischenkriegszeit, in: Fotogeschichte (2013) 127, 17–30, 20–22; sowie Marion Krammer, Bissige Bilder. Die Fotomontage als visuelles Propagandainstrument der Sozialdemokratie in den Jahren 1929–1934, Dipl. Arb., Universität Wien 2008, 110–112. 6 Wiens schönster Arbeitersportplatz, in: Arbeiter-Zeitung, 24. 9. 1930, 11; Eröffnung des KarlVolkert-Platzes, Wien XV, in: Volkssport, 10. 10. 1930, 8–9. 7 Volkert war laut »Sport-Tagblatt« auch Präsident des Metallarbeitervereins Red Star, vgl. Sportplatzeröffnung, in: Sport-Tagblatt, 13. 9. 1930, 5.

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Abb. 3: Wahlkampfgalerie in Der Kuckuck, 16. November 1930, 14. (Quelle: VGA, Wien)

sitzender der sozialdemokratischen Arbeiter-Sport-Internationale (SASI), als Ehrengast eine Ansprache.8 8 Die Arbeiterfußballer im Dienste der Partei!, in: Arbeiter-Zeitung, 1. 11. 1930, 15; Österreich

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II.

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Politischer Arbeitersport

Die hier demonstrierte »Einigkeit von Partei und Sportbewegung« war Endpunkt eines längeren Prozesses: Erst in den Jahren zuvor waren die ArbeitersportlerInnen von der Partei als gleichberechtigte Akteure der politischen Bewegung akzeptiert worden.9 »Nur« Sport zu betreiben erschien im hochkulturell geprägten Bildungsmodell der Sozialdemokratie zunächst als Umweg von der politischen Parteiarbeit. In den pädagogischen Konzepten des Roten Wien spielten bewegungskulturelle Modelle des »Neuen Menschen« jedoch bereits eine wichtige Rolle. Sie sollten ihren Höhepunkt in der Ausrichtung der 2. Arbeiter-Sport-Olympiade 1931 finden, deren zentraler Austragungsort das neu errichtete Praterstadion war.10 Nach dem Ende des revolutionären Schwungs 1918/19 und dem auch im Sport beobachtbaren Scheitern, staatliche und zivilgesellschaftliche Institutionen nachhaltig zu erobern, setzte man institutionell auf die Bildung autonomer Vereins- und Verbandsstrukturen und den Abbruch der Wettkampfbeziehungen mit den bürgerlichen Gegnern.11 Gerade die Fußballer galten in dieser Hinsicht aber als weniger prinzipientreu als andere Sparten, vor allem die Turner und SchwimmsportlerInnen. Erst 1926, nach der Aufspaltung des Fußballverbandes in den VAFÖ, den kurzfristigen Rechtsnachfolger des in den frühen 1920er-Jahren sozialdemokratisch dominierten österreichischen Fußballbundes, und den neu gegründeten bürgerlichen Allgemeinen Fußballbund (den heutigen ÖFB), der vor allem die Vertreter des Professionalismus versammelte, traten die Arbeiterfußballer endgültig dem ASKÖ bei.12 Der 1924 eingeführte »Profi«fußball als Ausdruck einer kommerziell organisierten Massen- und Popularkultur, die nach 1918 in Wien enorme Prägekraft gewann,13 galt in den ideologischen Konzepten der Sozialdemokratie dagegen als ungeliebte »Sportartistik«, die dem Geist des sozialdemokratischen Sports widerspreche. Dieser, so etwa der Parteijournalist Jacques Hannak, fände sich stattdessen »auf dem Krautacker, wo ein paar bloßfüßige Buben sich um einen Fetzenball balgen, auf einer Wiese, wo Ausflügler fröhliche Übungen im Sprin-

9 10 11 12 13

besiegt Deutschland 3:1 und 6:2, in: Arbeiter-Zeitung, 3. 11. 1930, 6; VAFÖ Verbandsbericht 1930, in: VGA, Parteistellenarchiv, Karton 1, Mappe 8. Matthias Marschik, »Wir spielen nicht zum Vergnügen«. Arbeiterfußball in der Ersten Republik, Wien 1994, 9. Vgl. Matthias Marschik, Wien als Olympiastadt: Die Arbeiterspiele von 1931, in: Wiener Geschichtsblätter 69 (2014) 1, 27–44. Marschik, Vergnügen, 58–90. Marschik, Vergnügen, 53–54; Reinhard Krammer, Arbeitersport in Österreich, Wien 1981, 81–94 u. 117. Vgl. u. a. Roman Horak/Wolfgang Maderthaner, Mehr als ein Spiel. Fußball und populare Kulturen im Wien der Moderne, Wien 1997.

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gen und Laufen austragen, in einem Schwimmbassin, […] dort wird Sport getrieben, dort ist seine wahre Heimat, bei den Namenlosen, bei den Dilettanten.«14 Doch, so Hannak im Hinblick auf die Popularität des aus Professionals zusammengesetzten Fußball-»Wunderteams« der frühen 1930er-Jahre und seine Stars Rudi Hiden oder Matthias Sindelar, »wir müssen sehen, was ist, und wir wollen nicht einmal sagen, dass es kein Fortschritt ist. Von Hiden zu Haydn und von Sindelars Dribbelkünsten zu Goethe ist gewiß noch ein weiter Weg, den die Kultur zurückzulegen hat – aber von der Schnapsbudik zu Hiden und auf die Fußballplätze des Arbeitersports, wo die Massen nicht zuschauen, sondern selber spielen, ihren Körper erziehen und kräftigen, war der Weg noch viel, viel weiter«.15

Dass beim Länderspiel und der Wahlveranstaltung der Arbeitersportler 10.000 ZuschauerInnen auf den Volkert-Platz gekommen waren, galt der »ArbeiterZeitung« als positive Überraschung.16 Die Sportseiten des Tages dominierte aber bezeichnenderweise ein anderes Ereignis: Der »Arbeiterverein« und Professional-Sportklub Rapid hatte am selben Wochenende vor dreifachem Publikum in Prag ein Finalspiel um den Mitropacup mit 2:0 gewonnen.17 Prinzipiell blieb es bei der sozialdemokratischen Ablehnung des durch »Rekordhascherei« gekennzeichneten bürgerlichen Sports, den etwa Julius Deutsch in seiner programmatischen Schrift »Sport und Politik« als »Ausdruck kapitalistischen Wesens« bezeichnete: Er sei »ein Stück jener Gesellschaftsordnung und Kulturauffassung, die zu zerstören die historische Aufgabe und die sittliche Pflicht des Proletariats ist«.18 Ein solcher Sportbetrieb, so Deutsch, lenke »die Arbeiter von ihren Klasseninteressen ab. Er bringt sie in den Gedankenkreis bürgerlichen Strebens, in die Umwelt bürgerlicher Moral und macht sie schließlich zu Gladiatoren für fremde Zwecke, die dem Streben der eigenen Klasse verständnislos, wenn nicht gar feindlich gegenüberstehen«.19 Für den Schutzbund-Obmann Deutsch hatte der Arbeitersport auch eine wichtige paramilitärische Rolle zu erfüllen: Er begründete die Aufstellung von »Wehrturner«-Verbänden und erklärte sie zu Verteidigern gegen die Gefahr des europäischen Faschismus; die »Predigten der Lauen«, der Sport sei neutral, verkenne die politische Realität des gewaltsamen Angriffs von Rechts: Die bürgerlichen Turnvereine etwa hätten 14 Jacques Hannak, Sport und Kunst, in: Kunst und Volk. Mitteilungen des Vereins »Sozialdemokratische Kunststelle« (Okt. 1927) 7, 2–3. 15 Jacques Hannak, Nur ein Fußballspiel…?, in: Arbeiter-Zeitung, 6. 12. 1932, 6. 16 Österreich besiegt Deutschland 3:1 und 6:2, in: Arbeiter-Zeitung, 3. 11. 1930, 6. 17 Großer Erfolg Österreichs im Mitropacup, in: Sport-Tagblatt, 3. 11. 1930, 1. 18 Julius Deutsch, Sport und Politik. Im Auftrage der sozialistischen Arbeiter-Sport-Internationale, Berlin 1928, 24. 19 Ebd., 25.

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»stets eine sehr ausgeprägte politische Einstellung gehabt. […] Nachdem die Parteien des Bürgertums eine politische Organisation, die der unseren entsprechen würde, nicht oder nur in einem sehr unentwickelten Maße besitzen, sind ihre Turn- und Sportvereine die eigentlichen politischen Kampfvereine. Ohne die nationalistischen Turner und Sportler wären die nationalistischen Parteien gar nicht denkbar. Dort finden sie die Mannen, […] dort sind ihre politischen Stoßtruppen«.20

Fast 100 Jahre sind vergangen, seit Julius Deutsch diese klassenkämpferischen Worte schrieb. Der ASKÖ, dessen Vorsitz Deutsch ab 1926 innehatte, hat sich im Lauf der Zweiten Republik von den politischen Sportkonzepten der 1920erund 1930er-Jahre verabschiedet. 1971, als die SPÖ erstmals die absolute Mehrheit in Österreich errang und die Regierung Kreisky Jahre sozialdemokratischer Hegemonie versprach, änderte der Verband seinen Namen von »Arbeiterbund« auf »Arbeitsgemeinschaft für Sport und Körperkultur«. Dies sollte den Wandel von einer politischen zu einer serviceorientierten Organisation in Zeiten von »Sport for All« signalisieren. Doch Geschichte soll bekanntlich nicht von ihrem Ende her erzählt werden. Linke Sportkonzepte der Zwischenkriegszeit, so Diethelm Blecking am Beispiel der heute fast vergessenen antizionistischen jüdischen Arbeitersportorganisation »Morgnsthern«, deren »Leitmedium« Julius Deutschs Bücher darstellten,21 können heute in diesem Sinn »als reiches Feld für eine (Sport)Geschichtswissenschaft [dienen], die ihr politisches Engagement nicht aufgegeben hat und nach verschütteten historischen Möglichkeiten sucht, nach den Chancen, die in einer ›vergangenen Zukunft‹ (Reinhart Koselleck) liegen.«22

III.

Rezeptions- und Geistergeschichten

Das Bild der antifaschistischen Arbeiterfußballer tauchte im Lauf der Jahrzehnte immer wieder auf: Wiederentdeckt wurde es spätestens in den 1980er-Jahren, als im Zuge der »Geschichte von Unten« jene Arbeiterkulturen ins Zentrum rückten, die zu dieser Zeit, an der Schwelle zum Postfordismus, bereits aus dem Gedächtnis zu schwinden drohten. In der in Deutschland publizierten »Illustrierten Geschichte des Arbeitersports« wird das Foto mit der 2. Arbeiter-Sport-Olym20 Julius Deutsch, Sport und Wehrhaftigkeit. In: Erstes österreichisches Arbeiter-Turn- und Sportfest Wien (Juli 1926) 2, 1. 21 Diethelm Blecking, Zwischen »doikeyt« und Klassenkampf – Zur Rolle der linksradikalen Sportorganisation »Jutrznia/Jutrzenka« (Morgnshtern) im Sport der polnischen Juden, 7; URL: https://www.researchgate.net/publication/292642204_Zwischen_doikeyt_und_Klas senkampf_-_Zur_Rolle_der_linksradikalen_Sportorganisation_JutrzniaJutrzenka_Morgn shtern_im_Sport_der_polnischen_Juden (abgerufen 17. 9. 2017). 22 Ebd., 8.

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piade in Verbindung gebracht, die de facto ein Jahr nach dem Aufmarsch auf dem Karl-Volkert-Platz stattfand.23 In Österreich verband sich zu dieser Zeit das sozialgeschichtliche Interesse einer neuen Generation von Sozial- und KulturwissenschaftlerInnen mit ihrer Rezeption der britischen Cultural Studies. Nach englischem Vorbild rückten die jugendlichen Fankulturen des Sports, nicht zuletzt des »ungezähmten« Fußballs, ins Interesse. Historisch stießen Autoren wie Roman Horak, Matthias Marschik und Wolfgang Maderthaner auf die proletarischen Sportpraxen der Zwischenkriegszeit. Weniger der organisierte sozialdemokratische Arbeitersport im engen Sinn, als die von den Wiener ArbeiterInnen mitgetragene breitere maskuline Massen- und Popularkultur des Fußballs stand im Fokus. Doch sowohl in Matthias Marschiks grundlegender Arbeit über den Arbeiterfußball der Ersten Republik,24 als auch in einer von Wolfgang Maderthaner editierten Dokumentation des Vereins für Geschichte der Arbeiterbewegung (VGA) ist das Bild vom Volkert-Platz vertreten.25 Spürbar ist in diesen Texten die Nostalgie für eine untergegangene Welt, deren Spuren man in der Gegenwart suchte: Wenn die Sozialdemokratie »eine ehemalige Arbeiterpartei [sei], die der Kapitalismus für seine Zwecke gezähmt hat«, gelte gleiches auch für den Fußball der Arbeiter, so Matthias Marschik. Doch abseits des Spitzensports, im »Bereich der Amateurligen, der Unterklassen« hätten »sich einige Elemente des proletarischen Fußballs erhalten«.26 Auch im Vorfeld der EURO 2008 in Österreich und der Schweiz und dem damit verbundenen kleinen Boom an fußballhistorischen Projekten tauchten die Arbeiterfußballer wieder auf. In einer von Roman Horak und Wolfgang Maderthaner mit dem Film Archiv Austria kompilierten Bilddokumentation zur Kulturgeschichte des österreichischen Fußballs findet sich ein kurzer Ausschnitt von den 1932 abgehaltenen Maifestspielen des ASKÖ im Wiener Stadion.27 Doch nicht das von den feministischen Funktionärinnen Marie Deutsch-Kramer und Stephanie Endres konzipierte historische Massenspiel, das mit seiner pädagogischen Propagandainszenierung heute antiquiert anmuten dürfte,28 ist darin zu sehen, sondern eine Szene der marschierenden VAFÖ-Spieler. Es sind dieselben 23 Hans Joachim Teichler/Gerhard Hauk (Hg.), Illustrierte Geschichte des Arbeitersports, Bonn 1987, 165. 24 Marschik, Vergnügen, 33. 25 Sport – Körper – Kultur. Der Arbeitersport in der Zwischenkriegszeit. VGA Dokumentation (1992) 2, 7. 26 Marschik, Vergnügen, 207. 27 Roman Horak/Wolfgang Maderthaner, Eine Kulturgeschichte des österreichischen Fußballs, Wien 2008 (= Fussball Fieber Österreich, DVD 1). 28 Maifestspiele 1932 im Wiener Stadion. Veranstaltet vom Arbeiterbund für Sport und Körperkultur in Oesterreich, Offizielles Programm bzw. Anweisungen für das Maifestspiel 1932, beide Wien 1932.

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Transparente wie jene im »Kuckuck« abgebildeten, die die Sportler dem Publikum präsentieren.29 Die antifaschistischen Slogans und das damit verbundene Bild einer untergegangenen linken Sportkultur hatten ihre symbolische Anziehungskraft offenbar nicht verloren.

IV.

Melancholischer Blick, spukende Bilder

Die Gegenwart steht unter dem Eindruck der Rückkehr des autoritären Populismus in Europa und den USA. Selbst die Haltung der Sozialdemokratie zum »Fascismus« und, im Gegenzug, zur Idee internationalistischer Solidarität, erscheint heute weit unschärfer als auf dem Bild vor 88 Jahren. Es ist ein Gefühl der Melancholie, das viele Linke beim Blick auf das Foto im »Kuckuck« befällt. Das ist kein Zufall: In »Gespenster meines Lebens. Depression, Hauntology und die Verlorene Zukunft« beschrieb der britische Kultur-und Poptheoretiker Mark Fisher die Schwierigkeit, angesichts der traumatischen Gegenwart eines »kapitalistischen Realismus«30 eine emanzipative Vorstellung der Zukunft zu entwickeln.31 Es herrsche »das weitverbreitete Gefühl, dass der Kapitalismus nicht nur das einzig gültige politische und ökonomische System darstellt, sondern dass es mittlerweile fast unmöglich geworden ist, sich eine kohärente Alternative dazu überhaupt vorzustellen«.32 Melancholie erscheint so als (populär-)kulturelle Stimmung fehlender politischer Handlungsfähigkeit. Fisher identifiziert gleichzeitig Phänomene des »Spuks«, die durch unsere Gegenwart geistern und bezieht sich dabei auf Jacques Derridas Begriff der Hauntology [hantologie], den dieser in seinem Buch »Marx’ Gespenster« geprägt hat:33 Der kapitalistische Realismus habe den Sozialismus ausgetrieben und gebannt, als ob es ihn nie gegeben hätte, er verunmögliche die Trauer um das verlorene Objekt und werde daher von ihm heimgesucht.34 Im populärkulturellen Kontext Westeuropas und 29 Die beiden Transparente dürften mehrmals zum Einsatz gekommen sein. Auch am Vorabend des 1. Mai 1932 wurden sie von den Arbeitersportlern beim Fackelzug durch Wien getragen, vgl. Feuermarsch in den Ersten Mai, in: Arbeiter-Zeitung 1. 5. 1932, 7. 30 Mark Fisher, Kapitalistischer Realismus ohne Alternative? Eine Flugschrift, Hamburg 2013. 31 Mark Fisher, Gespenster meines Lebens. Depression, Hauntology und die verlorene Zukunft, Berlin 2015. 32 Fisher, Kapitalistischer Realismus, 8–9. 33 Jacques Derrida, Marx’ Gespenster. Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die neue Internationale, Frankfurt am Main 2004 [Original 1993]. Fisher liest Derridas hantologie – die »Lehre von der Heimsuchung« – ähnlich wie dessen Konzepte der »Spur« oder »diffHrance« als Begriff dafür, dass »alles Existierende […] seine Möglichkeit einer ganzen Reihe von Absenzen [verdankt], die ihm vorausgehen, es umgeben und ihm Konsistenz und Intelligibilität überhaupt erst erlauben«, und steht für die zeitliche Dimension dieser Denkfigur. Fisher, Geister, 29; Derrida, Marx’ Gespenster, 25. 34 Fisher, Geister, 35–36. »Die kapitalistischen Gesellschaften können erleichtert aufseufzen,

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der USA existiere andererseits eine spezifische melancholische Bindung an den »popular modernism« der Popkultur der 1950er- bis 1980er-Jahre und die damit verbundenen uneingelösten emanzipativen Zukunftsversprechen. Der Modernismus des »Kuckuck«, die progressive Ästhetik der 1920er-Jahre, die auch das Schriftbild der abgebildeten Transparente der VAFÖ-Spieler beherrscht, ruft ähnliche Assoziationen hervor. Der fehlende Buchstabe »h« der heute nicht mehr gebräuchlichen italienischen Schreibweise des »Fascismus« auf einem der Transparente wird zur Leerstelle, die als hauntologische Spur präsent bleibt. Mark Fisher argumentierte, dass Hauntology keine rückwärtsgewandte Nostalgie für den Fordismus oder die real existierende Sozialdemokratie der 1970er-Jahre beinhalten sollte. »Verfolgen sollte uns […] nicht das Nicht-Mehr jenes einst real existierenden Sozialstaats, sondern vielmehr das Noch-Nicht einer materiell nie eingetretenen Zukunft«.35 »Linke Melancholie« kann somit beides sein: Die rückwärtsgewandte nostalgische Einrichtung in einem Gefühl der Niederlage, ohne Bezug zum alternativen politischen Gefühl der »Hoffnung«, wie dies Wendy Brown mit Bezug auf Walter Benjamin in den späten 1990erJahren kritisch diagnostizierte – »a structure of melancholic attachment to a certain strain of its own dead past, whose spirit is ghostly, whose structure of desire is backward looking and punishing«.36 Oder aber melancholische Hauntology im Sinne Fishers: Als Ausdruck spukender verdrängter Vergangenheit wie nicht eingetretener Zukunft, aber auch der Weigerung, das Verlangen nach dieser möglichen Zukunft aufzugeben. HauntologInnen begeben sich auf die Suche nach verschütteten Wegen, die von der Siegergeschichte verdeckt, vergessen und nicht weiter beschritten worden sind. Sie verfremden die Vergangenheit, als Verschwörung von »Halbvergessene[m], schlecht Erinnerte[m] und Konfabulierte[m]«, als (Geister-)Beschwörung einer Vergangenheit, »die es nie gab«.37 Die gegenwärtige internationale Renaissance des Roten Wien, die sich etwa im Bereich der Urban Commons, der Einforderung von öffentlicher Wohnbaupolitik, oder der Suche nach Strategien der lokalen Bewältigung globaler ökonomischer Krise bewegt, scheint mir ein Ausdruck solcher Suchen zu sein. Kein Zufall also, dass jüngst auch Julius Deutschs Schriften zu Sport und Antifaschismus in englischer solange sie wollen, und sich sagen: Seit dem Zusammenbruch der totalitären Regime des 20. Jahrhunderts ist der Kommunismus tot, und er ist nicht nur tot, sondern er hat nicht stattgefunden, er war nur ein Phantom. Sie werden damit immer nur eines verleugnen, das Unleugbare selbst: Ein Phantom stirbt niemals, es bleibt stets zu-künftig und wiederkünftig«. Derrida, Marx’ Gespenster, 139. Ausgangspunkt von Derridas Überlegungen ist der berühmte erste Satz des »Kommunistischen Manifests« von Karl Marx und Friedrich Engels (1848) – »Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Kommunismus«. 35 Fisher, Geister, 41. 36 Wendy Brown, Resisting Left Melancholy, in: boundary 2, 26 (1999) 3, 19–27, 26. 37 Fisher, Geister, 174, 178.

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Übersetzung erschienen. Als Abbildung findet sich u. a. das Foto der Arbeiterfußballer am Karl-Volkert-Platz.38 Was bedeutet dies nun für eine museale Darstellung der österreichischen Sportgeschichte? Wenn das »verlorene Objekt« der Sozialismus ist, wie kann es sich heute im Museum materialisieren? Als flimmernder, gerissener Film? Als Leerstelle, etwa der beiden verschollenen Transparente – so sie sich nicht wiederfinden lassen, vergraben in einem Schrebergarten auf der Schmelz, oder im Keller der ASKÖ? Als Arbeit mit der modernistischen Ästhetik des »Kuckuck«? Vielleicht auch gleich durch die Darstellung der österreichischen Geschichte als »Geisterbahn«, wie es das Projekt »Graus der Geschichte« der Wienwoche 2015 im Wiener Prater getan hat?39 Oder als imaginierte Familiengeschichte der Fahnenträger der Arbeiterfußballer, etwa jenes lässigen Sportlers, dessen Kaugummikauen bei den Maifestspielen 1932 im Film festgehalten ist? Was wurde wohl aus ihm, nachdem der Faschismus in Österreich nicht nur die Goals geschossen hatte und die Massenspiele jeden Rest ihres spielerischen Charakters verloren hatten?

38 Antifascism, Sports, Sobriety. Forging a Militant Working-Class Culture. Selected Writings by Julius Deutsch. Edited and translated by Gabriel Kuhn, Oakland 2017, 30. 39 Vgl. http://www.wienwoche.org/de/364/graus_der_geschichte (abgerufen 20. 7. 2017).

Andreas Praher

»Skifahren ist für uns Deutsche in den Alpenländern mehr als nur ein Sport.« Der österreichische Skisport als politische Kampfzone der 1930er-Jahre

I.

Annäherung

Das Klima in den österreichischen Skivereinen war ab den 1920er-Jahren mehrheitlich deutschnational geprägt. Nationalsozialistisch gesinnte SportlerInnen missbrauchten Skiveranstaltungen ab den 1930er-Jahren für nationalsozialistische Propaganda. Als Anfang Februar 1937 die 5. Akademischen Weltwinterspiele in Zell am See abgehalten wurden, war das Hakenkreuz ein omnipräsenter Begleiter der sportlichen Wettbewerbe. Eine überdimensionale Hakenkreuzfahne begrüßte die deutsche Reichsnationalmannschaft am Bahnsteig, oberhalb wehte das Kruckenkreuz des austrofaschistischen Ständestaates. Die Alpen wurden als deutscher Kulturraum begriffen. Führende Protagonisten der Alpin-, Ski- und Berggemeinschaft schöpften aus den Bergen ihre Kraft für völkische Ideen. Diese Geisteshaltung hatte nicht nur eine Abgrenzung, sondern gleichzeitig eine Ausgrenzung bestimmter Bevölkerungsgruppen zur Folge. Rainer Amstädter bezeichnet diese Entwicklung in seiner Gesellschaftsgeschichte des österreichischen und deutschen Alpinismus als »Faschisierung des Alpinismus«1. Ähnliches trifft auch auf den österreichischen Skisport zu, man könnte analog von einer »Faschisierung des Skilaufs« sprechen. So sahen völkisch gesinnte VertreterInnen in Skivereinen von Wien bis Vorarlberg in den Alpen nicht nur eine heile Welt, sondern ein alldeutsches Terrain. Untermauert wurde diese Geisteshaltung mit der Einführung von »Arierparagraphen«. Diese bildeten den theoretischen Nenner für den politischen Kampf innerhalb der Skiriegen in den 1930er-Jahren.

1 Rainer Amstädter, Der Alpinismus. Kultur – Organisation – Politik, Wien 1996, 267.

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Abb. 1: Eine Hakenkreuzfahne am Bahnhofsgebäude in Zell am See begrüßte die deutschen Gäste bei den Akademischen Weltwinterspielen im Februar 1937. (Quelle: Bezirksarchiv Zell am See)

II.

Die Grundlage

Doch wer hatte die Grundlagen für die Ausgrenzungspolitik innerhalb des Österreichischen Skiverbandes zu verantworten? »Ein Konzept zur Geschichte des Skilaufes« aus den 1920er-Jahren gibt Aufschluss darüber.2 Das maschinengetippte Protokoll wurde 1925 von ÖSV-Funktionär Ignaz Karl Gsur verfasst, der auch das Präsidentenamt des Schwimmklubs EWASK bekleidete und Vizepräsident des Hauptverbandes für Körpersport war.3 In dieser nachträglich er2 Ignaz Karl Gsur, Konzept zur Geschichte des Skilaufes und 20 Jahre Oe.S.V 1905–1925 (unveröffentlichtes Manuskript), Kopie im Besitz des Verfassers. Das Vorwort zur Geschichte des Österreichischen Skiverbandes ist zwar von Alexander Rödling verfasst, der 1925 das Amt des 1. Vorsitzenden des ÖSV bekleidete. Es ist aber davon auszugehen, dass Gsur den Großteil der knapp 50 Seiten selbst geschrieben hat. 3 Der Alpinist Ignaz Karl Gsur (1888–1960) wurde im September 1921 zum Vorsitzenden des ÖSV gewählt. Gsur war gleichzeitig erster Vorsitzender des Wiener Landesskiverbandes und seit 1913 Vorsitzender des damals gebildeten Ausschusses der Wiener Ski-Vereine, der am 25. Jänner 1921 als Wiener Landesskiverband (W.L.S.V.) neu gegründet wurde. Zudem war Gsur in den 1920er-Jahren stellvertretender Vorsitzender des Deutschen Skiverbandes. Vereinsakt Landes-Ski-Verband für Wien und Niederösterreich. Wiener Stadt- und Landesarchiv (WStLA), M.Abt. 119, A32 – Gelöschte Vereine: 5500/1922-5500/1922; Gsur, Konzept zur Geschichte des Skilaufes, 41.

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stellten Niederschrift brachte Gsur die Diskussionen und Beschlüsse der ÖSVVollversammlungen zu Papier. Als eine der wenigen schriftlichen Originalquellen des ÖSV gibt das Dokument die Stimmungslage innerhalb des Skiverbandes wieder. Gleichzeitig dokumentiert das Protokoll die politische Ausrichtung einzelner Landesverbände. So steht darin zu lesen: »Die Frage des nationalen Aufbaues des Ö.S.V. war durch ein Schreiben der Schneeschuhriege des akad. Turnvereines (A.T.V.) Graz, vom 28. Oktober 1920 an die V.V. Salzburg angeschnitten worden. In diesem Schreiben […] wurde der Anschluß des Ö.S.V. an den D.S.V. unter Wahrung der vollsten Autonomie des Ö.S.V. gefordert und der Wunsch ausgesprochen, daß der Ö.S.V. den sogenannten Arierparagraphen in seine Satzungen aufnehmen und daß der österr. Skimeistertitel nur Österreichern zuerkannt werden möge.«4

Demnach war es also die Schneeschuhriege, sprich die Skilaufabteilung, des akademischen Turnvereines Graz, die im Jahr 1920 die Forderung nach einem »Arierparagraphen« aufstellte und mittels diesem nicht-deutschstämmige Mitglieder ausschließen wollte.5 Bis dato fehlen Quellen, die das belegen. Jedoch kann das von Gsur 1925 verfasste Protokoll durchaus als zuverlässig angesehen werden. Jedenfalls war bereits bei der ersten Vertreterversammlung des ÖSV nach dem Ersten Weltkrieg im November 1919 in Salzburg der »Zusammenschluß aller skilaufenden Deutschen zu einer mächtigen Vereinigung«6 begrüßt worden. Der »Arierparagraph« wurde hierbei nicht erwähnt, zumindest nicht in den Überlieferungen. In der Resolution wurde aber, wie der Skihistoriker Gerd Falkner festhält, der großdeutsche Einigungsgedanke hervorgehoben.7 In weiterer Folge drängte die Skiläuferschaft der Steiermark, die seit Oktober 1920 im steirischen Landes-Skiverband organisiert war, ebenso auf die Einführung des »Arierparagraphen«. Grund dafür war, dass der steirische Skiverband seit seiner Gründung auf »deutscharischer Grundlage« stand.8 Gleichzeitig wollte der steirische Landesverband die sich stellende Anschlussfrage an den Deutschen Skiverband (DSV) mit der »Arierfrage« verknüpft sehen. Folglich beschloss der ÖSV den grundsätzlichen Eintritt in den DSV, wobei der ÖSV den »inneren Aufbau«, sprich die politische Ausrichtung des Verbandes, selbst bestimmen

4 Gsur, Konzept zur Geschichte des Skilaufes, 32. 5 Der Akademische Turnverein (ATV) Graz gehörte ebenso wie der Verband der steirischen Skiläufer bereits 1912 dem ÖSV an. Theodor Hüttenegger/Max Pfliger, Steirische Skigeschichte, Graz 1969, 74. 6 Zit. n. Gerd Falkner, Der Arierparagraph in Satzungen mitteleuropäischer Skiverbände Anfang des 20. Jahrhunderts im verbandspolitischen Spannungsfeld zwischen nationalen Interessen und internationalen Anspruch, in: Fd Snow 30 (2012) 40, 4–24, 15. 7 Falkner, Der Arierparagraph, 15. 8 Ebd., 16 und Hüttenegger/Pfliger, Steirische Skigeschichte, 119.

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sollte.9 Somit manifestierte sich innerhalb des ÖSV kurz nach dem Ende des Ersten Weltkrieges eine deutschvölkische Ideologie, die durchwegs antisemitisch ausgerichtet und geprägt war.10 Der »Arierparagraph« wurde schließlich im Oktober 1923 im gesamten ÖSV beschlossen, nachdem schon im Jahr 1921 alle Mitgliedsvereine in einem »vertraulichen Rundschreiben« aufgefordert worden waren, eine bindende Erklärung abzugeben, und im Februar 1923 bei der deutschvölkischen Skimeisterschaft in Bad Gastein der Antrag auf Abänderung der Satzungen gestellt wurde.11 Die Beschlussfassung erfolgte bei der Vertreterversammlung am 6. und 7. Oktober in Bad Ischl. Gsur wurde im Rahmen der Vertreterversammlung erneut zum ersten Vorsitzenden des ÖSV gewählt.12 Die Konsequenz war eine Verbandsspaltung, einzelne Vereine aus dem Salzkammergutverband sowie dem Tiroler Skiverband traten in den Folgejahren aus dem ÖSV aus.13 In der 1969 herausgegebenen »Steirischen Skigeschichte« wurde über 40 Jahre später das zweifelhafte Resümee gezogen: »Damit war der ÖSV rassenrein […]«.14 Der Ausschluss von »Nicht-Ariern« war aber bereits vor der Einführung eines verbandsweiten »Arierparagraphen« im Jahr 1923 in vereinzelten Vereinen gelebte Praxis. In der Weihnachtswoche 1920 untersagte die Wintersportvereinigung St. Johann im Pongau »nichtarischen« Interessierten die Teilnahme an einem Anfänger-Skikurs.15 Wie schnell und vor allem mit welcher Vehemenz schließlich der »Arierparagraph« in die Tat umgesetzt wurde, geht aus verschiedenen Vereinsakten hervor. So verfügte der Wiener Landesskiverband in seiner Hauptversammlung vom 24. Oktober 1924 in seinen Satzungen, dass »[…] als Mitglieder nur Personen arischer Abstammung und germanischer

9 Gsur, Konzept zur Geschichte des Skilaufes, 33. Der ÖSV und der DSV gingen von Beginn an gemeinsame Wege. Die Gründung der beiden nationalen Skiverbände erfolgte 1905 in München. Nach einer »Hop on, Hop off-Beziehung« waren die beiden Verbände unter der nationalsozialistischen Herrschaft ab März 1938 im Reichsfachamt für Skilauf wieder vereint. 10 Gerd Falkner beschreibt die Entwicklung als »Radikalisierung einer sich deutschvölkisch bzw. deutscharisch empfindenden Bewegung innerhalb der deutschen Turn- Sport- und Skivereine«. Diese reicht laut Falkner bis in die Donaumonarchie zurück und muss im Zusammenhang mit der Nationalitätenfrage gesehen werden. In den 1920er-Jahren konstatiert Falkner aber eine verstärkt antisemitische Haltung im ÖSV. Falkner, Der Arierparagraph, 5–10. 11 Salzburger Volksblatt, 3. 10. 1923, 6; Gsur, Konzept zur Geschichte des Skilaufes, 33 und 41. Die deutschvölkische und akademische Skimeisterschaft fand am 14. und 15. Februar 1923 in Bad Gastein statt und sollte die politische Ausrichtung des ÖSV auf sportlicher Ebene unterstreichen. Salzburger Volksblatt, 16. 2. 1923, 7. 12 Gsur, Konzept zur Geschichte des Skilaufes, 42. 13 Falkner, Der Arierparagraph, 18–21; Salzburger Wacht, 31. 5. 1926, 5. 14 Hüttenegger/Pfliger, Steirische Skigeschichte, 121. 15 Deutsches Volksblatt, 28. 11. 1920, 17.

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Volkszugehörigkeit aufgenommen werden können.«16 Der Wiener Landesskiverband folgte damit dem Beschluss des ÖSV. Darüber hinaus verschärfte der Landesverband die »Spielregeln«, wer in den einzelnen Mitgliedsvereinen aufgenommen werden darf. So hieß es unter dem Punkt Aufnahme in den neu aufgesetzten Statuten: »Den Vereinen steht es jedoch frei, für die Mitgliedschaft engere Grenzen zu ziehen.«17 Außerdem waren für eine Aufnahme mindestens zwei Drittel der Stimmen in der Vorstandssitzung oder Hauptversammlung notwendig. Dieser Passus bedeutete für »nichtarische« BewerberInnen eine unüberwindbare Barriere. Die Statuten, die Gsur am 24. Oktober 1924 als Vorsitzender des Wiener Landesskiverbandes unterzeichnete, wurden am 14. November 1924 genehmigt. Damit war der Ausschluss unerwünschter Mitglieder nach völkischen Kriterien zur Realität geworden. Warum Gsur im Dezember 1924 seinen Rücktritt als Vorsitzender des ÖSV Medienberichten zu Folge mit der Einführung des »Arierparagraphen« begründete, erschließt sich aus den bisherigen Quellen nicht.18

III.

Die Protagonisten

Gsur war nicht der einzige Vertreter, der seinen Standpunkt durchzusetzen vermochte. Neben ihm gab es andere einflussreiche Personen innerhalb des ÖSV, die ihre Machtpositionen dank ihrer politischen Exponiertheit ausbauen konnten. Der Unterschied zu Gsur war ihre Nähe zum aufkeimenden Nationalsozialismus. Diese Nähe war durchaus hilfreich und entwickelte sich später zum Karrieremotor. »Skifahren ist für uns Deutsche in den Alpenländern mehr als nur ein Sport. Es […] gehört zu uns wie jeder andere Ausdruck unseres Wesens. So fest und notwendig ist es mit dem ganzen Volke verbunden […] Wir Deutsche in Österreich haben dabei eine ganz besondere Aufgabe für das ganze deutsche Volk zu erfüllen.«19

Diese Zeilen von Karl Springenschmid, geschrieben am Vorabend des »Anschlusses«, zeigen jene Entwicklungen, die im ÖSV und in österreichischen Skivereinen vor 1938 von statten gingen. Sie verdeutlichen, wie die »Blut und Boden-Ideologie« ihre Entsprechung im Skisport finden konnte. Springenschmid teilte diese Anschauung mit anderen führenden Gesinnungsgenoss16 Vereinsakt Landes-Ski-Verband für Wien und Niederösterreich. WStLA, M.Abt. 119, A32 – Gelöschte Vereine: 5500/1922-5500/1922. 17 Vereinsakt Landes-Ski-Verband für Wien und Niederösterreich. WStLA, M.Abt. 119, A32 – Gelöschte Vereine: 5500/1922-5500/1922. 18 Sport-Tagblatt, 16. 12. 1924, 4. 19 Karl Springenschmid, Ein Volk fährt Ski, in: Skileben in Österreich, Wien 1938, 11 und 18.

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Abb. 2: Karl Springenschmid war einer jener völkischen Vertreter im ÖSV, die den »Anschluss« herbeisehnten. (Foto: Bergland, 1933)

Innen der Berg- und Skiriege. Und er war, wie andere auch, eine zentrale Figur in der illegalen NS-Bewegung. Springenschmid war einer jener Demagogen, die sich in der Zwischenkriegszeit offen zum Nationalsozialismus bekannten. Nebenbei war er ein begeisterter Alpinist, Turner, Skiläufer und sowohl im Alpenverein als auch im Skiverband führend tätig. Springenschmid wurde 1897 in Innsbruck geboren und legte 1921 die Lehramtsprüfung ab. 1925 fand er eine Anstellung als Lehrer im Salzburger Bergdorf Wagrain. Er war zudem Schriftleiter beim Salzburger Landeslehrerverein. Im September 1934 wurde er wegen NS-Betätigung aus dem Schuldienst entlassen bzw. »in den dauernden Ruhestand« versetzt. Danach war er als freier Schriftsteller tätig. Als NSDAP-Mitglied wurde er seit 1932 geführt.20 Unter anderem schrieb Springenschmid für die ÖSV-Zeitschrift »Skileben«. Im Frühjahr 1934 veröffentlichte er seine »Österreichischen Geschichten« zum »illegalen Kampf«.21 Darin beschreibt Springenschmid die Aktivitäten einer illegalen SA-Schar auf der Lärchriedlalm in den 20 Deutsches Bundesarchiv (BArch) (ehem. BDC) PK, Springenschmid, Karl, 19. 03. 1897 und BArch R/1501/209067. 21 Karl Springenschmid, Österreichische Geschichten aus der ersten Zeit des »illegalen« Kampfes, München 1935.

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Kärntner Nockbergen.22 Im selben Bundesland führte er gemeinsam mit dem späteren Sportführer der »Ostmark« und Salzburger Gauleiter Friedrich Rainer Wehrertüchtigungslager des Deutschen Turnvereins durch.23 Der Skilauf sollte ebenso wie der Bergsport für die politischen Ziele des Nationalsozialismus genutzt werden. Das war die Botschaft Springenschmids im März 1938. Eineinhalb Monate später, am 30. April 1938 initiierte er die erste und einzige Bücherverbrennung auf österreichischem Boden auf dem Salzburger Residenzplatz und war anschließend im Gauapparat von Salzburg als Leiter des NS-Lehrerbundes führend tätig.24 Dass ausgerechnet Springenschmid die Autobiografie des österreichischen Nachkriegsskistars und Olympiasiegers von 1956 Toni Sailer verfasste, ist eine weitere Facette in der Biografie des führenden NS-Funktionärs und der österreichischen Sportgeschichte.25 Eine andere treibende Kraft war der Obmann des steirischen Landesskiverbandes Franz Martin. Geboren 1893 war der Tierarzt ab Juli 1932 NSDAP-Mitglied der Ortsgruppe Wien-Favoriten26 und saß wegen Parteitätigkeit für kurze Zeit in Haft. Im März 1938 wurde der Sportwart des ÖSV in den leitenden Verwaltungsausschuss der noch bestehenden Österreichischen Sport- und Turnfront berufen27 und unmittelbar nach dem »Anschluss« zum Gaufachwart für Skilauf ernannt. 1936 kam die Bundespolizeidirektion Wien bei der Überprüfung führender ÖSV-Funktionäre zu dem Schluss, dass es »bisher keine nachteiligen Wahrnehmungen« gegen Franz Martin gebe.28 Nachdem er aber 1920 dem Steirischen Landesskiverband vorgestanden war, dürfte Martin maßgeblich an der Einführung des »Arierparagraphen« beteiligt gewesen sein und damit eine Grundlage für die ausgrenzende Politik des ÖSV mitgeschaffen haben.29 22 Ebd., 47. 23 Der Turner. Wochenblatt des Deutschen Turnerbundes, 18 (1937) 38, 2; Andreas Praher, Sport und Körperkultur. »Ohne Widerstand bis zum Endsieg«, in: Sabine Veits-Falk/Ernst Hanisch (Hg.), Herrschaft und Kultur. Instrumentalisierung, Anpassung, Resistenz (Die Stadt Salzburg im Nationalsozialismus 4), Salzburg 2013, 268–317, 290. 24 Helmut Uitz, Erziehung und Schule in der NS Zeit in Salzburg. Weichenstellung für Generationen, in: Peter F. Kramml/Christoph Kühberger (Hg.), Inszenierung der Macht. Alltag, Kultur und Propaganda (Die Stadt Salzburg im Nationalsozialismus 2), Salzburg 2011, 186–279, 253. 25 Toni Sailer, Mein Weg zum dreifachen Olympiasieg, Salzburg 1956; Matthias Marschik, Sportdiktatur. Bewegungskulturen im nationalsozialistischen Österreich, Wien 2008, 8. 26 BArch (ehem. BDC) PK, Martin, Franz, 06. 05. 1893. 27 Vereinsakt des Österreichischen Skiverbandes 1933–1936, Bescheid der kommissarischen Führung der Österreichischen Sport- und Turnfront vom 12. 3. 1938, Österreichisches Staatsarchiv (ÖStA)/Archiv der Republik, BKA/BPD Wien, Vereinsbüro XVIII-11.336. 28 Vereinsakt des Österreichischen Skiverbandes 1933–1936, Schreiben der Bundespolizeidirektion Wien an das an das BKA, Generaldirektion für öffentliche Sicherheit, Staatspolizei vom 22. April 1936, ÖStA/Archiv der Republik, BKA/BPD Wien, Vereinsbüro XVIII-11.336. 29 Hüttenegger/Pfliger, Steirische Skigeschichte, 119–120.

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Ein Landesskiverband, der zu den vehementen Befürwortern des »Arierparagraphs« zählte, war der Salzburger. Dieser stand unter der Führung des Linzer Notars Fritz Rigele. 1878 in Wolkersdorf geboren, besuchte Rigele in Linz die Mittelschule und studierte im Anschluss an der Wiener Universität Rechtswissenschaften. Er gehörte seit der Mittelschulzeit der Burschenschaft Germania in Oberösterreich an, leitete als Vorsitzender die Skivereinigung Linz und gründete nach seinem Umzug nach Oberndorf gemeinsam mit dem Vorarlberger Skipionier Georg Bilgeri im Jahr 1910 den Skiclub Salzburg (SCS). Bei der Gründungsversammlung am 9. November 1910 wurde Rigele zum ersten Obmann des SCS gewählt und ein Jahr darauf zum Obmann des Salzburger Landesskiverbandes. Rigele saß zudem im Hauptvorstand des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins.30 Der begeisterte Alpinist engagierte sich ab Mitte der 1920er-Jahre erneut im Skisport, hielt Skikurse ab und bestritt für den SCS einige Wettrennen. Im ÖSV übernahm Rigele von 1926 bis 1928 das Amt des 2. Vorsitzenden und von 1928 bis 1931 jenes des 1. Vorsitzenden. Der Schwager von Hermann Göring pflegte nicht nur aufgrund seiner verwandtschaftlichen Bande eine Nähe zum Nationalsozialismus. Rigele war mit der Göring-Schwester Olga verheiratet und hatte mit dieser zwei Kinder. In seinem Buch »50 Jahre Bergsteiger« (1935) bekannte er sich als Nationalsozialist. Zum »nationalen und kulturellen Gedanken im Sport« schrieb er Folgendes: »Die Pflicht, möglichst vielen die Berge näherzubringen, habe auch ich schon lange vor Kriegsausbruch gefühlt, und ich glaube richtig erkannt zu haben, daß von allen Formen und Arten des Wanderns im Gebirge gerade der Skilauf besonders zur volklichen Gesundheitsstählung geeignet war […] Diese Tätigkeit war formell eine unpolitische und damit, vom Standpunkt des sich seines Deutschtums von jeher bewußten Österreichers aus betrachtet, keine nationale. Denn es wäre nie jemandem eingefallen, den Skiverband als einen politischen oder nationalen Verband zu bezeichnen. Dabei war unsere Tätigkeit in Wirklichkeit viel mehr national und volksfördernd als die mancher sogenannter politischer Vereine.«31

1933 setzte sich Rigele ins Deutsche Reich ab. Zuvor soll er noch gemeinsam mit Göring, der ihn später bei sich in Berlin wohnen ließ32, auf einer Bergtour im Watzmann-Massiv unterwegs gewesen sein. Gesichert ist, dass er 1934 bei den Deutschen Skimeisterschaften in Berchtesgaden anwesend war. Auf einem Foto, aufgenommen während des Skispringens, ist Rigele neben Göring und Reichs30 Skiclub Salzburg (Hg.), 100 Jahre Skiclub Salzburg 1910–2010 (Festschrift), Salzburg 2010, 19–20; Salzburger Volksblatt, 12. 10. 1937, 5; Alpenvereinsarchiv Innsbruck, OeAV SE/117/ 301. 31 Fritz Rigele, 50 Jahre Bergsteiger, Erlebnisse und Gedanken, Berlin 1935, 132–133. 32 Hanno Bayr, Berlin trifft Mauterndorf. Eine Reise mit Epenstein und Göring, Mariapfarr 2017, 166–167.

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sportführer Hans von Tschammer und Osten abgelichtet.33 Ebenso wie Springenschmid betrachtete Rigele die Alpen als »deutschen Kulturraum« und betonte weiters ganz im Sinne der späteren verbrecherischen Rassenpolitik des NSRegimes: »Und auch die Tatsache muß als bekannt vorausgesetzt werden, daß jede solche Leibesübung nicht etwa zur Erhaltung erbkranken Nachwuchses, sondern zur Kräftigung von Körper und Gesundheit des heranwachsenden Geschlechts dient«.34 Im selben Jahr, in dem Rigele diese Zeilen verfasste, wurde er betraut, eine deutsche Gebirgsbrigade aufzustellen und deren Ausbildung zu übernehmen. Bei einer Übung des 100. Gebirgsjägerregiments in den Berchtesgadener Bergen verunglückte Rigele im Oktober 1937.35 Bei der Beisetzung am Parkfriedhof in Berlin-Lichterfelde war Ministerpräsident Göring persönlich anwesend. In einem Nachruf wurde Rigele als »Vertrauensmann gegenüber höchsten Regierungsstellen des Reiches« bezeichnet.36 Auch der Verband Vorarlberger Skiläufer stand laut Statuten vom 4. April 1930 auf »arischer Grundlage«. Aufgenommen würden nur jene Skivereinigungen, die Mitglieder im ÖSV oder DSV sind oder werden wollen.37 Damit war »nichtarischen« und Nichtmitgliedsvereinen der Weg versperrt. Hinter dieser Politik stand der Verbandsobmann, Vize-Präsident des ÖSVund illegale NSDAPGauleiterstellvertreter Theodor Rhomberg. Der teilhabende Geschäftsführer des Textilunternehmens Herrburger & Rhomberg und Obmann des Deutschen Turnvereins war maßgeblich am Aufbau eines deutschnationalen, völkisch geprägten Netzwerkes in Dornbirn und Vorarlberg beteiligt und trat öffentlich für den nationalsozialistischen Kampf ein. Im Februar 1934 musste er wegen seiner öffentlichen Auftritte das Amt im ÖSV zurücklegen. 1938 wurde Rhomberg von den Nationalsozialisten als Vereinsführer des lokalen Skiklubs in Dornbirn wiedereingesetzt sowie zum Kreisorganisationsleiter und NS-Landessportführer ernannt.38

33 34 35 36 37

Der Winter 1934/35, 30. Jg., 169. Bayr, Berlin trifft Mauterndorf, 128–129. Ebd., 168; Salzburger Volksblatt, 12. 10. 1937, 5. Nachruf Fritz Rigele, OeAV ZV/5/1251. Akten der Sicherheitsdirektion, Vorarlberger Landesarchiv (VLA) Sicherheitsdirektion Sch. 42 Nr. 40.149 1930. 38 Stadtarchiv Dornbirn (StAD), Nr. 570, Dornbirns Kampf um die Befreiung 1933–1938 und StAD, Verwaltungsarchiv, Akz.-Nr. 125/2000, Ordner 1938–1945 NSDAPAkten, Nr. V; Ingrid Böhler, Dornbirn in Kriegen und Krisen 1914–1945, Innsbruck 2005; Andreas Praher, Zwischen Anpassung, Vereinnahmung und Mittäterschaft – Zur Rolle des österreichischen Skisports zwischen den Kriegen und in der NS-Diktatur, in: Rudolf Müllner/Christof Thöny (Hg.), Skispuren. Dokumentationen zur Geschichte des Wintersports (Bd. 1), Bludenz 2018, 217–228.

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Andreas Praher

Abb. 3: Die Skilaufriege der deutschen Turnerschaft Dornbirn stellte kurz vor dem »Anschluss« offen ihre Gesinnung zur Schau. (Quelle: Stadtarchiv Dornbirn)

IV.

Verbandsspaltung und Antisemitismus

Doch nicht alle Skivereine waren mit der ausgrenzenden Politik des ÖSV einverstanden. Jene, die 1923 aus dem ÖSVaustraten, zogen nicht mit, weil sie nicht wollten oder nicht konnten. Die jüdischen, wie die Wintersportsektion der Hakoah, konnten nicht. Ihnen war mit dem »Arierparagraphen« die Mitgliedschaft im ÖSV und die Teilnahme an ÖSV-Wettbewerben untersagt worden. Gemeinsam mit anderen Vereinen gründete die Wintersportsektion der Hakoah den Allgemeinen Österreichischen Skiverband (AÖSV).39 Zu den Gründungsmitgliedern zählte auch die Skilaufsektion des Österreichischen Touringclubs (ÖTC) Wien unter Rudolf Weishäupl. »Die im Jahre 1923 vom Oesterreichischen Skiverband vorgenommene Satzungsänderung veranlaßte die Sektion, aus demselben auszutreten und an der Gründung des Allgemeinen Oesterreichischen Skiverbandes teilzunehmen […]«, schrieb der ÖTC in einem Rückblick auf 25 Jahre Skilaufsektion in seinen Klubnachrichten im November 1935.40 Gegründet hatten den AÖSV der Wiener Rechtsanwalt Gustav Klein-Doppler und der Wiener Mediziner Alexander Hartwich. Für die Mitgliedschaft im AÖSV 39 Gsur, Konzept zur Geschichte des Skilaufes, 42. 40 Nachrichten der Skilauf- und Bergsportsektion des Österreichischen Touring-Clubs Wien, 1 (1935) 1, 2.

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sollten keinerlei Einschränkungen gelten: »Bei der Aufnahme eines Vereins oder einer Vereinssektion hat ausser Betracht zu bleiben […] welcher Abstammung, Volkszugehörigkeit, Religion und Berufsklasse ihre Mitglieder angehören.« »Der Verein hat keine wie immer geartete politische Tendenz«41, hieß es in den Gründungsstatuten vom Oktober 1923. Der AÖSV wurde am 9. November behördlich genehmigt. Dem neuen Verband traten neben den Skisektionen der Hakoah und des ÖTC der Österreichische Skiverein, die Wintersportsektion des W.A.C., die Skisektion des Wiener Amateur-Sportvereines, die Skivereinigung der Sektion Donauland, der Wintersportverein Payerbach und der Kritzendorfer Sportklub bei. Der AÖSV fristete bis zu seiner Auflösung im Juli 1939 durch die Nationalsozialisten42 in sportlicher Hinsicht ein Schattendasein und konnte dem zahlenmäßig größeren und finanzkräftigeren ÖSV wenig entgegensetzen. Der ÖSV-Vorsitzende Gsur kommentierte dies in seinem »Konzept zur Geschichte des Skilaufes« folgendermaßen: »Der AÖSV bemühte sich eifrigst, bei allen sportlichen und politischen Behörden sich als den für Österreich allein maßgebenden Skiverband durchzusetzen, was ihm jedoch nicht gelang.«43 Einer jener Skisport-Funktionäre, die in weiterer Folge angefeindet wurden, war Hannes Schneider. Nicht nur wegen der Haltung des Skiclubs Arlberg, der seine Internationalität stets betonte und sich von der antisemitischen Politik des ÖSV distanzierte und zum DSV wechselte. Der Gründer der Arlberg-Skischule wurde in der nationalsozialistischen Zeitschrift »Der rote Adler« aufgrund seiner antinationalsozialistischen Haltung und der Freundschaft zum Hotelbetreiber und Landtagsabgeordneten Walter Schuler und dessen vermeintlich jüdischer Frau als »Nazi-Fresser« bezeichnet. Er sei ein »asozialer Geschäftsmann« und hasse das »nationalsozialistische deutsche Bruderreich« hieß es.44 Schuler, der in St. Anton das Hotel Post betrieb, unterstützte Schneider mit seiner Arlberg-Skischule. Schulers Ehefrau war allerdings katholischen Glaubens.45 Vermutlich dürfte Schneiders sportpolitisches Amt innerhalb der austrofaschistischen Sport- und Turnfront auch eine Rolle gespielt haben sowie seine enge 41 Vereinsakt Allgemeiner Österreichischer Skiverband, WStLA, M. Abt. 119, A 32 – Gelöschte Vereine: 11637/1923-11637/1923. 42 Vereinsakt Allgemeiner Österreichischer Skiverband, WStLA, M. Abt. 119, A 32 – Gelöschte Vereine: 11637/1923-11637/1923. 43 Gsur, Konzept zur Geschichte des Skilaufes, 43. 44 Der rote Adler, 3/7, 2. 2. 1934, 11. 45 Die Ehefrau von Walter Schuler stammte aus Wien und war laut Angaben im Traubuch der Pfarre St. Jakob am Arlberg aus dem Jahr 1924 vom Religionsbekenntnis römisch-katholisch. Es ist aber möglich, dass sie jüdische Wurzeln hatte bzw. aufgrund ihrer Herkunft in der nationalsozialistischen Zeitschrift »Der Rote Adler« als »jüdische Frau Schulers« mit »galizianischen Manieren« bezeichnet wurde. URL: data.matricula-online.eu/de, Matriken Tirol, Pfarre St. Jakob am Arlberg, Traubuch 1865–1981 (7. 3. 2018); Der rote Adler, 3. Jg., Folge 7, 2. 2. 1934, 12.

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Andreas Praher

Freundschaft mit seinem Geschäftspartner, dem jüdischen Skisportfunktionär Rudolf Gomperz. Die beiden betrieben ab 1926 die gemeinsame Skischule in St. Anton.46 Schneider war bei den illegal tätigen Nationalsozialisten in St. Anton jedenfalls nicht gut angeschrieben, was schließlich zu seiner Inhaftierung durch eben jene lokalen Nationalsozialisten im März 1938 führte.47 Schneiders Weggefährte in England, Arnold Lunn, stand in einem engen Briefkontakt mit dem Arlberger Skipionier und erkundigte sich regelmäßig über die Situation. Die beiden hatten 1928 das Arlberg-Kandahar-Skirennen ins Leben gerufen. 1938 sollte nichts mehr daran erinnern, die Nationalsozialisten benannten das Rennen um und der Kandahar Skiclub stieg aus.48 Die Neider gegen den international erfolgreichen Skilehrer und Skischulleiter, dessen Arlberg-Technik weltweit Verbreitung fand, und der Hass gegen Jüdinnen und Juden verwandelten sich in einen offenen Antisemitismus mit tödlichem Ausgang. Schneider wurde vom früheren illegalen NSDAP-Ortsgruppenleiter-Stellvertreter von St. Anton, Ernst Glos, und SS-Führer Erwin Falch unmittelbar nach dem »Anschluss« festgesetzt49, erreichte aber dank des Präsidenten der Manufacturers Trust Company in New York, Harvey D. Gibson, am 12. Februar 1939 North Conway, wo er zuvor das Skizentrum aufgebaut hatte.50 Dafür musste sein langjähriger Freund und Skischulkollege Gomperz seine jüdische Herkunft mit dem Leben bezahlen. Er wurde 1942/43 im Vernichtungslager Maly Trostinec bei Minsk ermordet.51

46 Rudolf Gomperz wirkte 1904 als Ingenieur am Bau der Bagdadbahn mit. Eine Malariaerkrankung führte ihn im Zuge eines Kuraufenthaltes nach St. Anton. Dort engagierte er sich an einem kleinen Gewerbe und im ÖSV, dessen Vorsitz er 1908 übernahm. 1910 wechselte er an die Spitze des Mitteleuropäischen Schiverbandes, dem Dachverband des ÖSV und DSV und blieb Geschäftsführer im ÖSV. Die Leidenschaft für den Skisport führte Gomperz und Schneider in St. Anton zusammen. Nach dem Ersten Weltkrieg nahmen die beiden ihre Zusammenarbeit wieder auf und begründeten 1926 die gemeinsame Skischule. Vgl. Hanno Loewy, Wunder des Schneeschuhs? Hannes Schneider, Rudolf Gomperz und die Geburt des modernen Skisports am Arlberg. in: Hanno Loewy/Gerhard Milchram (Hg.), Hast du meine Alpen gesehen? Eine jüdische Beziehungsgeschichte, Hohenems 2009, 318–343. 47 Tiroler Landesarchiv (TLA) LG Innsbruck 10 Vr 2175/46. 48 British Ski Year Book, 10 (1939) 20, 314. 49 TLA LG Innsbruck 10 Vr 2175/46. 50 Annie Gilbert Coleman, Ski Style. Sport and Culture in the Rockies, Kansas 2004, 52–53. 51 Hanno Loewy, Wunder des Schneeschuhs?, 339; Thomas Albrich, »Wir lebten wie sie…«. Jüdische Lebensgeschichten aus Tirol und Vorarlberg, Innsbruck 1999, 143. Der genaue Zeitpunkt des Todes von Rudolf Gomperz ist nicht bekannt, sehr wohl aber, mit welchem Transport Gomperz im Vernichtungslager Maly Trostinec ankam und dass alle Frauen und Männer unmittelbar nach der Ankunft umgebracht wurden.

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V.

213

NS-Sympathiekundgebungen

Ab der Machtübernahme Adolf Hitlers in Deutschland 1933 kam es auch in österreichischen Ski-Kreisen vermehrt zu Sympathiekundgebungen für den Nationalsozialismus. Doch es blieb nicht bei Worten und Gesten. Führende Skisportler und Skisportfunktionäre beteiligten sich am Juliputsch oder traten der Österreichischen Legion bei. Gleichzeitig versuchte die austrofaschistische Regierung, die illegalen Aktivitäten im ÖSV zu unterbinden. Die österreichische Sport- und Turnfront setzte dafür einen eigenen Regierungskommissär ein, der auffällige Mitglieder beobachten und melden sollte. Auf der Liste der Verdächtigen standen vom ÖSV-Direktor Karl Merz abwärts sämtliche Vorstandsmitglieder bis hinein in die Landesverbände. Der Erfolg war bescheiden. In manchen Fällen kam es zu Verfahren, die aber mangels Beweisen bald eingestellt wurden.52

5.1

Die SA als politische Speerspitze

Eine tragende Rolle in den Skivereinen spielte ab Mitte der 1930er-Jahre die zunehmend stärker werdende SA. Die illegalen Wehrverbände speisten sich aus aktiven Spitzensportlern wie dem Salzburger Skispringer Josef Bradl oder dem Skiläufer Andreas Krallinger. Sie waren bereits vor 1938 in der SA organisiert, andere Sportkameraden in der SS. Der im Dezember 1914 geborene Krallinger trat 1936 der SA bei und gehörte dieser bis 15. November 1941 an, zuletzt im Rang eines Scharführers. Danach wechselte er als Angestellter der SS zur Kriminalpolizeistelle in Salzburg in den Sicherheitsdienst.53 1936 dürfte auch der um drei Jahre jüngere Bradl zum SASturm 1/59 in der Stadt Salzburg gestoßen sein. Bradl wurde im Sommer 1937 im Zuge einer Hausdurchsuchung verhaftet, wegen illegaler Betätigung für die NSDAP in das Polizeigefängnis Salzburg eingeliefert und später in das Gefangenenhaus überstellt.54 In einem Brief an den Salzburger Landeshauptmann beteuerte er seine Unschuld. Er sei über Sportkontakte in falsche Kreise geraten. 52 Vereinsakt des Österreichischen Skiverbandes 1933–1936, ÖStA/Archiv der Republik, BKA/ BPD Wien, Vereinsbüro XVIII-11.336. 53 BArch (ehem. BDC), RS, Krallinger, Andreas, 6. 12. 1914. 54 Salzburger Landesarchiv (SLA) LDS Vr 1937 1261/I (13 Vr 1261/37). Ein erheblicher Anteil österreichischer NS-Spitzensportler machte bereits über »Vorfeldorganisationen« wie den deutschnationalen Turnvereinen oder eben auch über Skiklubs nicht nur Bekanntschaft mit der NS-Ideologie, sondern betätigte sich auch für diese. Nicht selten schlossen sich junge Sportler – meist die Generation, der im Ersten Weltkrieg Geborenen – einem Wehrverband an.

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Andreas Praher

Bradl wurde aus der Untersuchungshaft entlassen und durfte 1938 wieder zu Wettkämpfen antreten, zu einer Verhandlung kam es nicht.55 Einen ersten Höhepunkt erreichten die politischen Aktivitäten und Demonstrationen in der ersten Jahreshälfte 1934, vor dem Juliputsch der Nationalsozialisten. Beispielgebend waren die Ausschreitungen bei den Tiroler Skimeisterschaften in Hall am 14. Jänner 1934. Mitglieder des Skiklubs Innsbruck, die den Behörden als Anhänger des Nationalsozialismus bekannt waren56, bekundeten ihre politische Zugehörigkeit beim Springen mit dem Deutschen Gruß. Unter den Teilnehmern befand sich der Innsbrucker Abfahrer Hellmut Lantschner. Lantschner war bereits 1932 der SA beigetreten und befand sich nach der nationalsozialistischen Kundgebung in Hall auf der Flucht vor den österreichischen Behörden. Ab 1935 bot Lantschner als deutscher Reichsbürger und Skilehrer der Österreichischen Legion seine Dienste an und traf dort auf gleichgesinnte Skilehrer aus Österreich.57 Der Skiklub Innsbruck musste nach den Zwischenfällen in Hall seinen Betrieb einstellen und dem Tiroler Skiverband wurden sämtliche Aktivitäten behördlich untersagt. Manch prominente Mitglieder des Skiklubs Innsbruck wie der Cousin von Hellmut Lantschner, Fritz Lantschner trieben noch bis Juli 1934 ihr nationalsozialistisches Unwesen mit manchmal tödlichem Ausgang. Der spätere NSRegierungsdirektor des Gaus Tirol und Vorarlberg Fritz Lantschner wurde von der österreichischen Nachkriegsjustiz wegen Beihilfe zum Mord an einem hochrangigen Polizeibeamten im Rahmen des Juliputsches 1934 in Innsbruck strafrechtlich verfolgt. Lantschner setzte sich 1948 nach Argentinien ab, das Verfahren wurde in den 1980er-Jahren eingestellt.58 Doch auch andernorts mutierten örtliche Skivereine zu NS-Tarnorganisationen. Im Lungau war es der Skiklub Tamsweg, der unter dem Skilehrer Julius Funcke, Rufname Olo, eine SA-Schar zusammenstellte. Der SA-Truppführer nutzte ab 1932 mit seinen Männern die abgelegene Dr.-Josef-Mehrl-Hütte in Schönfeld in den Lungauer Nockbergen an der Grenze zu Kärnten als Versammlungs- und Rückzugsort. Von hier aus sollte im Sinne des Deutschen Reiches nationalsozialistische Propaganda betrieben werden. 1938 beteiligte sich Funcke an der gewaltsamen Besetzung der Bezirkshauptmannschaft Tamsweg.59 55 Ebd. 56 TLA Präs.4163 XII-59 1933 Kart.1220-01. 57 TLA LG Innsbruck 10 Vr 2863/47; Innsbrucker Zeitung, 23. 2. 1934, S.5; BArch (ehem. BDC) PK, Lantschner, Hellmut, 11. 11. 1909; SLA LDS Gericht Salzburg Vr-1938 151-300; 13Vr 272/ 38. 58 TLA LG Innsbruck 10 Vr 924/47. 59 Volksgerichtsakt Julius Funcke, Oberösterreichisches Landesgericht (OÖLA) LG Linz Sondergerichte Sch. 370 VgVr 6478/47.

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Abb. 4: Die 1935 neu erbaute Dr. Josef-Mehrl-Hütte im Lungau ersetzte die alte Skihütte. Diese diente ab den frühen 1930er-Jahren als Versammlungsort einer SA-Schar. (Foto: Praher)

5.2

Vermeintlich unpolitisch

Der Skiklub Zell am See gab am 14. November 1934 zu Protokoll, dass der Klub »im Sinne der Verbandsstatuten und der eigenen Anschauungen stets unpolitisch geführt wurde und diesen strengen Standpunkt auch bei allen seinen Zusammenkünften und Veranstaltungen genauest eingehalten hat«.60 Wirft man jedoch einen Blick auf die Vorstands-Mitglieder des Skiklubs, ergibt sich ein anderes Bild. Als Jugendwart des Vereins agierte 1934 der 1899 in St. Michael im Lungau geborene Fritz Vogl. Dieser trat im November 1931 in die NSDAP, Ortsgruppe Zell am See, ein. Nach dem Gymnasium besuchte Vogl die Hochschule für Bergbauwesen und war anschließend als Hauptschullehrer tätig. In der illegalen Zeit besuchte er mehrere Schulungslager des NS-Lehrerbundes und war ab 1934 nicht nur Jugendwart im Skiklub, sondern ab 1935 auch Jugend- und Jungmannenwart der Alpenvereinssektion Pinzgau. Ab Mai 1938 machte er Karriere im Gauschulungsamt, war dort zuständig für »Deutsche Geschichte und Rassenpolitik« und ab 1940 Gauschulungsredner.61 Im Ausschuss des Skiklubs saßen aber noch andere honorige Personen wie

60 Protokoll des Skiklub Zell am See (unveröffentlichtes Manuskript) Kopie im Besitz des Verfassers. 61 BArch (ehem. BDC) PK, Vogl, Fritz, 30. 07. 1899.

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der Zeller Arzt Josef (Sepp) Heiß.62 Er saß 1934 nach dem Juliputsch wegen nationalsozialistischer Gesinnung einen Monat lang in Schutzhaft. Von seiner Stellung als Sprengelarzt wurde er für zweieinhalb Jahre enthoben. 1935 sei er laut eigenen Angaben der SS beigetreten, ab 1938 wurde er nachweislich in der SS als Mitglied geführt. Heiß stand nach 1945 unter Anklage wegen Beteiligung an den NS-Euthanasieprogrammen.63 Im Februar 1937 kam die pro-nationalsozialistische Stimmung in Zell am See bei den akademischen Weltwinterspielen klar zum Ausdruck. Eindeutiger hätte die Begrüßung der deutschen Gäste nicht ausfallen können. Mit einer überdimensionalen Hakenkreuzfahne wurde die deutsche Reichsnationalmannschaft am Bahnhof willkommen geheißen.64 Während die Behörden in Zell am See das Hakenkreuz duldeten, wurde die Skihütte des Turnvereins Feldkirch, in welchem der Kaufmannssohn Hermann Rhomberg Kassier war, im Winter 1937/38 observiert und mehrere Mitglieder wurden wegen Verstoßes gegen das Betätigungsverbot festgenommen.65 So unterschiedlich kann auch das Vorgehen des austrofaschistischen Ständestaates gesehen werden. Gegen März 1938 war die Stimmung dann sichtlich endgültig zugunsten der Nationalsozialisten gekippt. Im Jahresbericht des Skiklub Zell am See für die Saison 1937/38 lesen sich die Zeilen zum 1. Großdeutschen Kameradschaftsspringen folgendermaßen: »Es war wohl für alle ein erhebendes Erlebnis, den Traum der meisten unserer Skikameraden erfüllt zu wissen und zum ersten Male auf unserer Schmittenschanze die Hakenkreuzfahnen als neue Staatsflagge wehen zu sehen und die Springerkameraden aus Deutschland […] nunmehr als Landsleute bei uns begrüssen zu können.«66

Mit diesen Worten wurde der politische »Anschluss« des März 1938 sportlich willkommen geheißen.

62 Ski-Klub Zell am See (Hg.), Festschrift zum 75-Jahr-Jubläum 1906–1981, Zell am See 1981, 8. Josef Heiß wurde am 19. Februar 1900 in Mittersill geboren und war nach seinem Universitätsstudium in Innsbruck ab 1928 praktischer Arzt in Zell am See. Laut Erhebungen im Rahmen des Volksgerichtsverfahrens war Heiß bereits ab 1. Juli 1933 NSDAP-Mitglied und habe sich ab dieser Zeit für die nationalsozialistische Bewegung betätigt. Im Skiklub Zell am See wirkte Heiß unter anderem als Obmann. 63 Volksgerichtsakt Josef Heiß, OÖLA LG Linz Sondergerichte Sch. 335, VgVr 5457/47. 64 Praher, Zwischen Anpassung, Vereinnahmung und Mittäterschaft. 65 Akten der Sicherheitsdirektion, VLA Sicherheitsdirektion Sch. 6 Nr. 23. 1937. 66 Protokoll des Skiklub Zell am See (unveröffentlichtes Manuskript) Kopie in Besitz des Verfassers.

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VI.

217

Resümee

An der Spitze österreichischer Skivereine saßen nicht selten deutschnational gesinnte Obmänner und Vorstandsmitglieder, die von einer »großdeutschen Idee« beseelt waren. Viele von ihnen stammten aus dem Bildungsbürgertum, waren Ärzte, Rechtsanwälte oder Lehrer, betrieben ein Gewerbe oder waren Industrielle. Diese Männer schufen Vereinsstatuten, die »Nichtarier« ab den 1920er-Jahren vom Sportbetrieb ausschlossen. Diese Statuten waren ein Nährboden für die Radikalisierung innerhalb der Skiriege. Die Skivereine waren somit Wegbereiter des nationalsozialistischen Terror-Regimes. Die großteils auf »arischen« Grundsätzen stehenden Skivereine und eine weit verbreitete deutschnationale Geisteshaltung erleichterte der jüngeren SportlerInnengeneration das Hineinwachsen in die NS-Gesellschaft und -Ideologie. Vereinzelte Widerstände im österreichischen Skisport wurden spätestens mit März 1938 aus dem Weg geräumt. Sportpolitisch hatte der ÖSV stets mehr Macht und Einfluss als sein wesentlich kleinerer Gegenspieler, der AÖSV. Dessen Wirkungsbereich blieb vorwiegend auf Ostösterreich beschränkt. Nationalsozialistische Symbole, Gesten und Handlungen prägten das Bild des österreichischen Skisports demnach schon vor 1938. Skivereine dienten nicht nur als Rückzugsorte und Basislager deutschnationaler Gesinnung und völkischen Gedankengutes. Das Image dieser Vereine war direkt und indirekt mit Deutschnationalismus verknüpft.

Minas Dimitriou

»Sepp Bradl – der Welt bester Sprungläufer«. Zur Theatralisierung des sportlichen Erfolges im Dienste der NS-Propaganda

In der Zeit zwischen den Kriegen, also auch über den »Anschluss« hinaus, wurden oft Sportfotos in der Medienberichterstattung eingesetzt, um den informativen Mehrwert des Textes zu steigern. Die veröffentlichten Bilder trugen erheblich zur Inszenierung des Sportereignisses und konkreter der Sportakteure bei. So wurden zum Beispiel häufig Bilder des zu Ende der 1930er-Jahre bekannt gewordenen Skispringers Josef Bradl publiziert. Ein Foto von einem Sprung bei den deutschen Skimeisterschaften in Oberhof zeigt Bradl in einer damals verwendeten technischen Sprungvariante des so genannten Vorlagen-Stils mit einer Streckung der Arme nach vorne. Mit seinem Sieg bei dieser Konkurrenz erlangte Bradl große mediale Aufmerksamkeit und avancierte zum deutschen Hoffnungsträger für die bevorstehende Weltmeisterschaft in Zakopane. Sport und Turnen stellten im Nationalsozialismus nicht nur ein zentrales Instrument zur Realisierung von Leitzielen (Volksgemeinschaft, Wehrhaftigkeit, Rassenbewusstsein und Führertum)1 dar, sondern avancierten auch zum probaten Mittel zur Mobilisierung der Massen. So wurden erfolgreiche Sportler und Sportlerinnen in Texten, aber vor allem auch in Fotos, medial inszeniert und vom NS-Propagandaapparat politisch funktionalisiert, um eine Identifikationsofferte für die Menschen anzubieten. Ein Paradebeispiel für diese Strategie war der »triumphale« Sieg von Josef (Sepp) Bradl im Skispringen bei den Nordischen Weltmeisterschaften im polnischen Zakopane (Februar 1939). Der Weltmeistertitel von Bradl, der 1936 in Planica als erster Sportler über 100 Meter gesprungen war und inzwischen zu einem der wichtigsten Leistungsträger des Großdeutschen Wintersports aufgestiegen war, wurde erwartungsgemäß vom NS-Regime mit großem Enthusiasmus gefeiert. So wurde der gekrönte Skisprungweltmeister Anfang März 1939 in Salzburg feierlich empfangen. Am Südtiroler Platz fand die offizielle Begrüßung durch führende nationalsozialistische 1 Reichs- und Preußisches Ministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung (Hg.), Richtlinien für die Leibeserziehung in Jugendschulen, Berlin 1937, 7.

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Abb. 1: Josef »Bubi« Bradl beim Siegessprung anlässlich der deutschen Skimeisterschaften in Oberhof, 6. Februar 1939. (Quelle: ÖNB/Wien Bildarchiv, P 93/4)

Persönlichkeiten und Funktionäre statt2, die den Höhepunkt der von der technokratischen Verwaltung des NS-Regimes veranstalteten Zeremonie darstellte. Im Folgenden soll die Rolle der Berichterstattung über das siegreiche Ereignis unter dem Aspekt der Theatralisierung (Inszenierung, Verkörperung, Performance, Wahrnehmung)3 aufgezeigt werden. Vor dem Hintergrund der Gleichschaltung der Presse in der NS-Zeit soll konkret den Zusammenhängen zwischen den medialen Inszenierungen des Sporthelden und den ideologischen sowie ästhetischen Ansprüchen der nationalsozialistischen Herrschaft nachgegangen werden.

I.

Forschungsmethodologische und theoretische Aspekte

Im Mittelpunkt der Ausführungen steht die text- und bildspezifische Rekonstruktion des Weltmeistertitels von Sepp Bradl im Zuge einer vom nationalsozialistischen Regime kontrollierten Medienlandschaft. Der Fokus liegt auf den 2 Sepp Bradl wieder daheim, in: Salzburger Volksblatt, 6. 3. 1939, 7–8. 3 Vgl. Erika Fischer-Lichte, Inszenierung und Theatralität, in: Herbert Willems/Martin Jurga (Hg.), Inszenierungsgesellschaft. Ein einführendes Handbuch, Wiesbaden 1998, 81–90, 86.

Zur Theatralisierung des sportlichen Erfolges im Dienste der NS-Propaganda

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Darstellungen in Zeitungen, die damals in Österreich (bzw. der »Ostmark«) und primär in Salzburg herausgegeben wurden. Da die nicht-schriftlichen Medien (Fotographie, Film und Radio) Ende der 1930er-Jahre noch vorwiegend als Unterhaltungsmedien wahrgenommen wurden, galt die Presse als wesentlichster Informationslieferant und stellte eine Art Hauptmedium für die Bevölkerung dar. Abgesehen davon gehörten Printmedien zu den bedeutendsten Stützpfeilern der Regimepropaganda, die auch die Sportberichterstattung für die Durchsetzung nationalsozialistischer Herrschaftsinteressen funktionalisierte. Untersucht wurde der Zeitraum vom 6. Februar 1939 (Bradl wurde deutscher Meister im Skisprung in Oberhof, gleichzeitig der Beginn der Vorberichterstattung zur Weltmeisterschaft) bis zum 9. März 1939 (einige Tage nach dem offiziellen Empfang in Salzburg). Zur Analyse der narrativen Darstellungsformen in der Sportberichterstattung ist es in diesem Kontext erforderlich, die NS-Propaganda als »theatralisch-ästhetische Inszenierung einer emotionsmächtigen Scheinwelt«4 zu definieren und deren Sprachduktus als »demagogisches Ritual« zu verstehen.5 Während der Terminus Inszenierung »eine Form der Darstellung beschreibt, die Dramatisierungsfunktionen und -effekte in den unterschiedlichen Kontexten aufweist«6, wird unter Ritual »die ›Gewohnheit‹ und die ›Wiederholung‹ durch ›Standardisierung‹ von Inszenierungen verstanden«.7 Außerdem leisten Rituale als symbolische und fixierte Form der Kommunikation einen relevanten Beitrag zur Verstärkung sozialer Interaktion, zur Förderung des Gemeinschaftsgefühls und zur Verdeutlichung normativer Gesamtorientierungen.8 Der Topos Theatralität wird in einer ausdifferenzierten Variante durch vier Aspekte charakterisiert: Unter Performance wird der »Vorgang einer Darstellung durch Körper und Stimme vor körperlich anwesenden Zuschauern«9 verstanden und umfasst das Zusammenspiel aller beteiligten Faktoren, wie es zum Beispiel beim feierlichen Empfang von Bradl in Salzburg ersichtlich wird. Mit dem Begriff Inszenierung werden »Kulturtechniken und Praktiken, mit denen

4 Gerhard Paul, Aufstand der Bilder. Die NS Propaganda vor 1933, Bonn 1990, 16. 5 Christoph Wulf/Jörg Zirfas, ›Performative Welten‹ in: Christoph Wulf/Jörg Zirfas (Hg.), Die Kultur des Rituals. Inszenierungen, Praktiken, Symbole, München 2004, 7–45. 6 Christian Schicha, ›Das »Ereignismanagement« des nationalsozialistischen Regimes. Zur Theatralität des Führerkultes‹ in: Christian Schicha/Carsten Brosda (Hg.), Politikvermittlung in Unterhaltungsformaten. Medieninszenierungen zwischen Popularität und Populismus, Münster 2002, 88–110, 90. 7 Heinz Bonfadelli, Medieninhaltsforschung. Grundlagen, Methoden, Anwendungen, Konstanz 2002, 139. 8 Kurt Weis, Ritual, in: Bernhard Schäfers/Johannes Kopp (Hg.), Grundbegriffe der Soziologie, 9. Aufl., Wiesbaden 2006, 239–241. 9 Fischer-Lichte, Inszenierung und Theatralität, 18.

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etwas zur Erscheinung gebracht wird«10 beschrieben, wobei hier die (sport-)journalistischen Selektions- und Darstellungsprozesse in der medialen Produktion gemeint sind. Der Terminus Verkörperung (Korporalität) legt den Fokus auf »den Körper als Darstellungsmittel und Ausstellungsobjekt« und kann im konkreten Kontext im Rahmen einer Bildanalyse untersucht werden. Schließlich bezieht sich die Wahrnehmung sowohl auf »Beobachterperspektive, -modus und -funktion«11 als auch auf das »Zuschauerverhalten in sozialen und künstlerischen Prozessen«.12

II.

Sportjournalismus und Sportberichterstattung während der NS-Zeit

Generell musste die Presselandschaft aufgrund der nationalsozialistischen Politik massive organisatorische und inhaltliche Veränderungen und Anpassungen durchführen13, wobei auch die Sportberichterstattung – bis zur kriegsbedingten Reduzierung des Seitenumfangs – eine erhebliche Aufwertung erfuhr. So kam es zu einer Ausdehnung der Anzahl an Sportseiten in Zeitschriften und Zeitungen und zu einer vielfältigen Thematisierung verschiedener Sportarten. Großformatige Bilder von Sportakteuren beiderlei Geschlechts in »idealtypischer« Präsentierung14 wurden bevorzugt verwendet. Da die Sportberichterstattung ein Mittel zur Durchsetzung nationalsozialistischer Herrschaftsinteressen wurde, waren auch die Sportredaktionen von der Gleichschaltung des Pressewesens betroffen.15 Dieser Vorgang beinhaltete die »Bereinigung« der Redaktionen von politischen GegnerInnen und jüdischen JournalistInnen.16 Mit der Bestellung »kommissarischer Hauptschriftleiter und Verlagsleiter«17 in den Redaktionen erfolgte die Instrumentalisierung der Presse 10 11 12 13 14 15 16 17

Ebd., 19. Ebd. Ebd. Waltraud Jakob, Geschichte der Salzburger Zeitungen (1668–1978), phil. Diss., Universität Salzburg 1978, 282. Matthias Marschik, Sportdiktatur. Bewegungskulturen im nationalsozialistischen Österreich, Wien 2008, 119–120. Gerhard Botz, Nationalsozialismus in Wien. Machtübernahme, Herrschaftssicherung, Radikalisierung 1938/39, Wien, 2008, 115. David Forster, »Deutsche Sportpresse an die Front!« Sportjournalismus in der »Ostmark«, in: Matthias Marschik/Rudolf Müllner (Hg.), »Sind’s froh, dass Sie zu Hause geblieben sind.« Mediatisierung des Sports in Österreich, Göttingen 2010, 218–227, 218. Fritz Hausjell, »Die undeutschen und zersetzenden Elemente in Österreichs Presse werden in kürzester Zeit restlos ausgemerzt sein.« Die Maßnahmen des NS-Regimes zur Erreichung einer politisch opportunen und »rassistisch reinen« Berufsgruppe der Zeitungs- und Zeitschriftenjournalisten in Österreich 1938–1945, in: Oliver Rathkolb/Wolfgang Duchkowitsch/

Zur Theatralisierung des sportlichen Erfolges im Dienste der NS-Propaganda

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für die Machtinteressen des NS-Regimes.18 So war zum Beispiel auf der Titelseite des »Sport-Tagblatts« vom 15. März 1938 zu lesen: »Auch unser Sport wird in den Dienst des deutschen Volkes gestellt. Sportler haben das Recht, zu fordern, dass nur deutsche Volksgenossen über ihre Leistungen und über den nationalsozialistischen Sport schreiben. Wir haben die Konsequenz aus dieser unserer Überzeugung gezogen und teilen mit, dass von heute an kein Jude in der Redaktion des Sport-Tageblatts tätig ist.«19

Die Sportberichterstattung konzentrierte sich nicht mehr nur auf die Beschreibung des Wettkampfes,20 sondern vermehrt auf die Persönlichkeiten der deutschen Sportakteure, auf organisatorische Rahmenbedingungen, anwesende Gäste und auf emotionsgeladene Schilderungen von Ritualen, etwa von Preisverleihungen, Empfängen und Siegerehrungen. Der daraus entstehende narrative Rahmen ermöglichte selektive Personalisierungen, Visualisierungen, Sensationalisierungen, Melodramatisierungen und Simplifizierungen,21 die als journalistische Inhalte zur wirksamen Strategie der NS-Ideologie zwecks Machtinszenierung beitrugen. Sportveranstaltungen und Sportfeste besaßen einen hohen Stellenwert und fanden herausragenden Niederschlag in den zeitgenössischen Medien. Sportfeste dienten als charakteristisches Merkmal der NSPropaganda.22 In diesem Kontext konnten Medien über die Berichterstattung von Sportveranstaltungen und Sportfesten das Erleben eines kollektiven Gefühls einer »Volksgemeinschaft« beim Publikum erzeugen. Sportevents wurden somit zu Räumen »simultaner Partizipation«23, wobei auch der definierbare, wiederkehrende und zeremonielle Rahmen zunehmend an Bedeutung gewann. Dabei verwendete die Berichterstattung vorwiegend stereotype Erzählstrukturen, in denen vorwiegend der erfolgreiche Sportler (hier Sepp Bradl) herausgehoben wurde.

18 19 20 21 22 23

Fritz Hausjell (Hg.), Die veruntreute Wahrheit. Hitlers Propagandisten in Österreich ’38, Salzburg 1988, 183–197, 190. »[…] doch war die Gleichschaltung vielfach eher der Idee verpflichtet, dass sich in der Presse eben die gemeinsamen Vorstellungen der ›Volksgemeinschaft‹ Ausdruck verschafften«, Marschik, Sportdiktatur, 26–27. Keine Juden in der Redaktion des Sport-Tagblattes, in: Sport-Tagblatt, 15. 3. 1938, 1. Vgl. dazu Minas Dimitriou, Historische Entwicklungstendenzen des Mediensports, in: Marschik/Müllner, »Sind’s froh«, 25–37. Vgl. Ulrike Dulinski, Sensationsjournalismus im Deutschland, Konstanz 2003, 81. Werner Faulstich, Die Mediengeschichte des 20. Jahrhunderts, München 2012, 133. Bonfadelli, Medieninhaltsforschung, 139.

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III.

Minas Dimitriou

Sepp Bradl: Der Weg vom erfolgreichen Sportler zum medialen Helden

Der aus einer Bergarbeiterfamilie aus Mühlbach am Hochkönig (Salzburg) stammende Josef Bradl (1918–1982) war ein talentierter Wintersportler. Mit Erfolgen im Skisprung schaffte er in den 1930er-Jahren den sportlichen Durchbruch und erlangte auch überregional Popularität. Als Bradl am 15. März 1936 in Planica als erster Sportler die 100-Meter-Marke überbot und auf 101 Meter sprang, zog er auch internationale Aufmerksamkeit auf sich. Weitere gute Platzierungen und sportliche Erfolge zwischen 1936 und 1938 – wie zum Beispiel die Verbesserung des eigenen Weltrekordes auf 107 Meter in Planica (1938) – haben dazu geführt, dass Bradl als der einzige Springer aus Zentraleuropa dargestellt wurde, der die herrschende Vormachtstellung der Nordländer in dieser Disziplin in Frage stellen konnte. Im Vorfeld der Weltmeisterschaft in Zakopane/ Polen (1939) hatte Bradl in Oberhof den Titel des Deutschen Meisters errungen und rückte somit in den Vordergrund des medialen Interesses. Das »Salzburger Volksblatt« berichtete: »Er freut sich mit Recht, denn seine Heimat ist stolz auf ihn! Der neue deutsche Meister im Spezialsprunglauf, SA-Truppführer Sepp Bradl aus Salzburg nach seinem Sieg in Oberhof. Gauleiter Dr. Rainer beglückwünscht Josef Bradl. NSG.24 Als Gauleiter Dr. Rainer, der gerade bei den Gebietsmeisterschaften der HJ in Zell am See weilte, erfuhr, daß der Salzburger SA-Truppführer Josef Bradl deutscher Sprunglaufmeister geworden sei, sandten er und der Kreisleiter des Pongaues Rudolf Kastner ein Glückwunschtelegramm an den neuen deutschen Sprunglaufmeister nach Oberhof in Thüringen.«25

Diese ausführliche Darstellung der positiven Reaktionen von NS-Funktionären gehört zu den wichtigsten Bestandteilen der Narration in der Sportlerbiographie. Dies führt einerseits zu einer emotionsgeladenen Kommunikation zwischen politischen Akteuren und SportlerInnen und anderseits zur Auflösung gewöhnlicher sozialer Hierarchien in jenem Moment, als der SA-Truppführer (in zivilem Leben Verkäufer) und Sieger Sepp Bradl von hochrangigen NS-Leuten beglückwünscht wurde. Durch eine personalisierte und regionalorientierte Berichterstattung versuchte die Zeitung, die Bevölkerung und das Medienpublikum des Landes gezielt anzusprechen. Im Vorfeld der Nordischen Weltmeisterschaften in Polen berichtete die Presse Mitte Februar 1939 ausführlich über den Sprunglauf und legte das Hauptaugenmerk auf die Erfolgschancen des »Deutschen« Sepp Bradl. Unter dem Titel

24 »Nationalsozialistische Gemeinschaft« 25 Gauleiter Dr. Rainer beglückwünscht Josef Bradl, in: Salzburger Volksblatt, 7. 2. 1939, 3.

Zur Theatralisierung des sportlichen Erfolges im Dienste der NS-Propaganda

225

»Bradl weiß das Geheimnis. Weltmeisterschaft der Skispringer«26 thematisierte die Wiener »Volks-Zeitung« die Ausgangslage vor dem Wettkampf. Dabei wurde der Versuch unternommen, einerseits Bradl zum deutschen Hoffnungsträger hochzustilisieren und andererseits die Erwartung des authentischen Erlebens für die bevorstehende Weltmeisterschaft zu wecken.

IV.

Zur medialen Inszenierung des sportlichen Erfolges

Der Skisprungwettkampf in Zakopane und der Weltmeistertitel von Bradl fanden erwartungsgemäß ein außerordentliches Echo in der Presse. So titelte das »Salzburger Volksblatt« in einem exklusiven, auf der ersten Seite platzierten Beitrag: »Sepp Bradl – der Welt bester Sprungläufer. Unser Salzburger SATruppführer holte in Zakopane den 7. Meisterschaft[s]sieg und den 8. Meisterschaftstitel für Deutschland«.27 Auch die »Volks-Zeitung« berichtete über den Sieg von Bradl auf die Titelseite: »Bradl vollendet den Triumph. Deutschlands siebenter Weltmeistertitel in Zakopane«.28 Ähnlich berichtete auch »Das Kleine Blatt«, das auf der Titelseite über den Erfolg von Bradl, dem »besten Skispringer der Welt«, schrieb. Der Bericht behandelte vorrangig die Tatsache, dass Deutschland nach den Weltmeisterschaften nun zur »führenden Weltmacht im Skisport« aufgestiegen war und betonte den Beitrag »ihrer Ostmärker«.29 Im Gegensatz dazu thematisierte die »Linzer Tages-Post« den Erfolg von Bradl lediglich in einem kleinen Beitrag mit dem Titel: »Ein neuer Triumph! Josef Bradl Weltmeister im Sprunglauf«.30 Vergleicht man die Aufmachung der oben genannten Zeitungsbeiträge, so wird Bradl im »Volksblatt« und in der »Volks-Zeitung« jeweils in der Schlagzeile genannt, wohingegen die »Linzer Tages-Post« mit dem Titel »Ein neuer Triumph« nicht die Person, sondern den Triumph für das ganze Reich in den Mittelpunkt stellt und erst im Untertitel mit dem Wortlaut »Josef Bradl Weltmeister im Sprunglauf« auf die Person eingeht. Bei den beiden erstgenannten Zeitungen wurde Bradl in den Fokus gerückt und der »deutsche Triumph« erst im Untertitel genannt. Das »Salzburger Volksblatt« sprach vom »letzten und entscheidenden deutschen Triumph« und die Wiener »Volks-Zeitung« von »Deutschlands siebenten Weltmeistertitel in Zakopane«. Mit der Schlagzeile 26 Bradl weiß das Geheimnis. Weltmeisterschaft der Skispringer, in: Volks-Zeitung, 14. 2. 1939, 11. 27 Sepp Bradl – der Welt bester Sprungläufer, in: Salzburger Volksblatt, 20. 2. 1939, 1. 28 Bradl vollendet den Triumph, in: Volks-Zeitung, 20. 2. 1939, 1. 29 Bradl, der beste Schispringer der Welt, in: Das Kleine Blatt, 20. 2. 1939, 1. 30 Ein neuer Triumph! Josef Bradl Weltmeister im Sprunglauf, in: Linzer Tages-Post, 20. 2. 1939, 6.

226

Minas Dimitriou

»Unser Salzburger SA-Truppführer«31 wird der Versuch unternommen, eine Art Differenz hervorzuheben. Es wird eine vereinfachte Erzählpraxis umgesetzt, die einerseits zur Umkehrung der Rolle der Außenseiter (Norweger) führt, andererseits zur ästhetischen Inszenierung des NS-Regimes als Volkgemeinschaft beiträgt. Ferner ist durch die Formulierung vom »letzten und entscheidenden deutsche[n] Triumph«32 ein teleologischer Aspekt erkennbar, der gleichzeitig mit der außergewöhnlichen Leistung des Siegers in Verbindung gebracht werden kann. Einerseits komplettierte der (finale) Sieg von Bradl eine aus deutscher Sicht erfolgreiche Weltmeisterschaft, anderseits taucht zum ersten Mal der Sieger als ultimativer Held auf. Das »Salzburger Volksblatt« fokussierte nach dem Sieg auf den unerwarteten Erfolg: »Und nun schlug der zwanzig Jahre alte Salzburger Josef Bradl auch im Spezialsprunglauf […] die nordische Spitzenklasse aus dem Felde. Er, der im Vorjahre noch Jungmann war, entthronte Norwegens Springerkönige […]«.33 Dabei übernehmen die Medien die Aufgabe, die RezipientInnen in eine fiktive (märchenhafte) Scheinwelt zu versetzen, in der Bradl als talentierter junger Sportler die arrivierten Norweger (Springerkönige) besiegen konnte. Der hier attestierte offene Ausgang eines Wettkampfes – in dem der vermeintlich Schwächere den übermächtigen Gegner bezwingen kann – gehört zu den konstitutiven Aspekten des Funktionssystems Sport und trägt dazu bei, dass eine symbolische Verbindung zwischen einer mystischen Welt (repräsentiert durch die Figuren des »Jungen« und des »Königs«) und der Gegenwart (konkret der Sportrealität) konstruiert wird. Parallel dazu wurde ein Bild des Weltmeisters Bradl veröffentlicht,34 das zweifelsohne die Relevanz des Ereignisses verdeutlicht. Er posiert in Sportkleidung mit den Skiern über die Schulter gelegt, mit einem Lächeln im Gesicht. Im Hintergrund lassen sich ein verschneiter Hügel und einzelne Bäume erkennen. Die visuelle Darstellung wirkt in diesem Kontext als Symbol des Sieges und der Überlegenheit. Denn »die Symbole garantieren relativ stabile Orientierungen. Sie basieren auf den Schemata unseres Wissens und begegnen uns in der Kommunikation als Stereotypen«.35 Das publizierte Bild des sportlichen Helden besaß die Fähigkeit zu einer besonderen Art von Realitätszerstückelung und des Herausreißens einzelner Momente aus ihren jeweiligen 31 32 33 34 35

Sepp Bradl – der Welt bester Sprungläufer, in: Salzburger Volksblatt, 20. 2. 1939, 1. Ebd. Ebd. Ebd. Manfred Schmalriede, Zwischen Dokumentation und Inszenierung. Sportfotografie im Wandel, in: Thomas Schierl (Hg.), Die Visualisierung des Sports in den Medien, Köln 2004, 11@39, 27.

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Abb. 2: Titelblatt, Bildbericht über den Sieg von Josef Bradl. (Quelle: Salzburger Volksblatt, 20. 2. 1939, 1)

Zusammenhängen.36 Dabei wird deutlich, dass die mediale Inszenierung des Sieges, in einer traditionsträchtigen Disziplin wie dem Skisprung, durch die Visualisierung des Protagonisten zur Erzeugung eines kollektiven nationalsozialistischen Wir-Gefühls beitragen soll. Andererseits diente es der bildlichen Wiedergabe von Bradl in einem körperlich-makellosen Zustand, mit fröhlichem Gesicht zur Vermeidung negativer Assoziationen seitens der Leserschaft, die durch ein Foto eines verschwitzten und abgekämpften Siegers vermittelt worden wären. Der leistungsfähige Körper des Sportlers wurde im diesen Kontext als Ausstellungsobjekt (Verkörperung) hervorgehoben. Nach der Weltmeisterschafft wurden auch Informationen publiziert, die sich auf die SA-Mitgliedschaft von Bradl vor dem »Anschluss« bezogen: »Der Sturm 1

36 Vgl. dazu Minas Dimitriou, Mediale Implikationen zwischen Narration und Identifikation: Der Fall des Marathonläufers Spiridon Louis (1896), in: Sport Zeiten. Sport in Geschichte, Kultur und Gesellschaft, 7 (2007) 3, 21@40.

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der SA-Standarte, in dem Bradl schon in der illegalen Zeit stand […]«,37 »[d]er Sturm 1 der SA-Standarte, in dem Bradl auch schon in der illegalen Kampfzeit gestanden hat […]«,38 oder »Bradl ist übrigens alter SA-Mann. […] Als dann Österreich selbst frei wurde, jubelte er mit, und als ihm kurz danach der Führer zu einem neuen Erfolg bei einem internationalen Rennen telegraphisch Glückwünsche sandte, da strahlten die hellen, frohen Jungenaugen im reinsten Glück«.39

Dahinter steht die Absicht der NS-Sportberichterstattung, die Verbundenheit zwischen dem »Altreich« und der »Ostmark« hervorzuheben. Als Mittel zum Zweck wurden dazu Personen verwendet, die sich vormals als »illegale« Nationalsozialisten für die Einheit der beiden Länder eingesetzt hatten. Ferner versuchte man, die positiven Aspekte beider Länder für den Zusammenhalt zu nutzen.40

V.

Empfang für den Weltmeister. Öffentliches Feiern als Bühne für das NS-Regime

Im Zuge einer gezielten Kommunikationsstrategie wurden vom NS-Regime so genannte »Pseudoereignisse«41 veranstaltet. Diese schufen aufgrund von Planbarkeit und hohem Inszenierungsgrad günstigere Voraussetzungen als spontane Ereignisse, um die Aufmerksamkeit der Massen auf sich zu ziehen. Ein Paradebeispiel für solch ein Ereignis stellte der Empfang des Weltmeisters Josef Bradl in Salzburg dar, der aufgrund einer Grippeerkrankung verhindert war, an der Siegerzeremonie unmittelbar nach seinem Erfolg in Polen teilzunehmen. Das »Salzburger Volksblatt« berichtete am 6. März 1939 in einem sehr ausführlichen, mit zwei Bildern illustrierten Beitrag über die Feierlichkeiten. Eingangs wurde der Ort des Empfanges, der Salzburger Hauptbahnhof, beschrieben. Darüber hinaus erhielt die Leserschaft Informationen über die Bedeutung seines Sieges: »[…] denn jeder ist sich – über den großen sportlichen Erfolg hinaus den Bradl erzielt hat – bewußt geworden, welchen Dienst Bradl seiner großdeutschen Heimat und na-

37 38 39 40 41

Bradls Empfang in Salzburg, in: Linzer Tages-Post, 6. 3. 1939, 4. Empfang für Sepp Bradl, in: Salzburger Volksblatt, 3. 3. 1939, 6. Weltmeister Sepp Bradl einmal privat, in: Neues Wiener Tagblatt, 23. 2. 1939, 21. Marschik, Sportdiktatur, 120. Vgl. dazu Daniel Joseph Boorstin, The image: A guide to pseudo-events in America, New York 1961.

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türlich auch dem Salzburger Land erwiesen hat. Bradl hat den Namen Salzburg in alle Welt hinausgetragen und dadurch erneut für unseren schönen Heimatgau geworben.«42

Im Rückgriff auf frühere sportliche Erfolge vorangegangener Sportler versuchte der Autor eine semantische Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu konstruieren, wobei der Sieg von Bradl hervorgehoben wurde, da er »für ein nunmehr geeintes nationalsozialistisches Deutschland erzielt«43 wurde. Nachdem einige Personen des Empfangskomitees erwähnt wurden, kam es zur Beschreibung der Ankunft Bradls am Salzburger Bahnhof: »Durch ein dichtes, immer wieder freundlich grüßendes und ihn beglückwünschendes Spalier von Menschen wurde Bradl zum Bahnhofsvorplatz geleitet, woselbst der Kreismusikzug der NSDAP und der SA-Sturm 1/GJ 59, dem Bradl angehört, Aufstellung genommen hatten.«44 Danach folge die Auflistung der nationalsozialistischen Funktionsträger, die Bradl begrüßt hatten: »Zur Begrüßung waren SA-Gruppenführer General Haas, Oberführer Glück, Standartenführer Günther, der Gausportwart Obersturmführer Michel, Kreisleiter Burggaßner, Oberbürgermeister SA-Sturmbannführer Giger mit Bürgermeister Standartenführer Dr. Lorenz, zahlreiche Vertreter der Partei, der Wehrmacht, der SS, der Polizei (SS-Sturmbannführer Rux), des NSRL45 u. a. erschienen.«46

Die Anwesenheit der gesamten NS-Prominenz der Stadt garantierte nicht nur die glamouröse Präsentation des Regimes, sondern auch die Aktivierung einer Interaktionsebene zwischen dem »Sporthelden«, den NS-Offiziellen und dem Publikum. Danach widmete sich die Zeitung einer detaillierten Beschreibung der Empfangszeremonie, wobei das Verhalten der BesucherInnen (Wahrnehmung) eine wichtige Rolle spielte: »Heller Jubel empfing Bradl, als er unter den Marschklängen des Musikzuges auf den von Menschen überfüllten Bahnhofvorplatz trat. Der Sturmbannführer des Sturmes 1/ 59, Geretsegger, meldete zunächst seine Kameraden angetreten, worauf der Weltmeister die Front abschritt. Ein herziges kleines Mädel überreichte mit einem ›Sieg Heil unserem Weltmeister‹ einen großen Blumenstrauß des NSRL, Kreis 4 (Salzburg). SAObersturmführer Michel und Standartenführer Günther hießen hierauf in herzlichen und anerkennenden Worten Bradl in der Heimat willkommen und würdigten die Bedeutung seines Sieges für Großdeutschland, seine Kampfmoral und Einsatzbereitschaft. Schon als Bradl noch als Hitlerjunge auf der großen Schanze in Planica seinen berühmten, bisher unerreichten 107 [sic]47 Meter-Sprung tat und vom Führer ein 42 43 44 45 46 47

Sepp Bradl wieder daheim, in: Salzburger Volksblatt, 6. 3. 1939, 7. Ebd. Ebd. »Nationalsozialistischer Reichsbund für Leibesübungen« Ebd. Hier handelt es sich um einen Fehler. Bradl sprang in Planica (15. März 1936) über 101 Meter und damit überbot er als erster Sportler die 100-Meter-Marke. Im Rahmen eines Probe-

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Glückwunschtelegramm erhielt, führte der Standartenführer u. a. aus, antwortete Bradl ›Alles für Deutschland‹ und stellte schon damals echten SA-Kampfgeist unter Beweis. Mit einem dreifachen ›Sieg Heil‹ auf den Führer und dem Absingen der nationalen Lieder schloß die offizielle Begrüßung auf dem Bahnhofvorplatz.«48

In dieser Textpassage wird deutlich, dass die Veranstaltung als rituelle Bühne diente, auf der zwischenmenschliche, kommunikative »Handlungen aufeinander abgestimmt, standarisiert, koordiniert und wiederholt«49 wurden. Auch das absolute Zentrum der NS-Diktatur, in Person des Führers Adolf Hitler, fand nicht nur Erwähnung, sondern stellte den Ausgangs- und Endpunkt jeder sinngebenden Handlung dar (vom Glückwunschtelegramm vom Führer bis zum »Sieg Heil« auf den Führer). Bei der weiteren Beschreibung des Empfanges wird deutlich, dass der Weltmeister Bradl nicht mehr im Mittelpunkt steht: »Unter Vorantritt des Musikzuges begann dann der Marsch durch die Rainerstraße, über Makartplatz und Staatsbrücke zum Sternbräu. Die erste Reihe des Zuges bildeten Oberbürgermeister Giger, SA-Gruppenführer General Haas, Weltmeister Bradl, SAOberführer Glück, Kreisleiter Burggaßner und Standartenführer Günther, in den nächsten Reihen folgten die weiteren zur Begrüßung erschienen Ehrengäste und der SA-Sturm 1/59, der die Sturmfahne im Zuge mitführte.«50

Diese Verlagerung des thematischen Schwerpunktes diente sowohl der Präsentation der NS-Politiker, als auch der Inszenierung einer starken Gemeinschaft, die zielstrebig und kompromisslos in die Zukunft blicken sollte. Außerdem berichtete das »Salzburger Volksblatt« über das Mittagessen im Gasthof Sternbräu im Anschluss an den Empfang des Skispringers, »bei dem noch einmal Kreisleiter Burggaßner, Oberbürgermeister Giger und Standartenführer Günther kurz das Wort ergriffen und dem SA-Sturmführer Bradl Ehrengeschenke überreichten. Auch Sturmführer Geretsegger sprach zu seinem Kameraden.«51 In diesem Zusammenhang rückte die NS-Prominenz als Repräsentanten des Regimes in den Vordergrund des Berichts. Dabei spielt die Überreichung von Ehrengeschenken an Bradl als Zeichen der Anerkennung für die erbrachten Leistungen eine zentrale Rolle.52 Es handelte sich auch um eine inszenierte Machtdemonstration (Performance), die einen symbolischen und verbindlichen Charakter ausstrahlte.

48 49 50 51 52

sprungs (Planica / 15. März 1938) sprang Bradl 107 Meter. Vgl. Salzburger Volksblatt, 17. 3. 1938, 11. Dies könnte den Beitragsschreiber zu Irrtum geführt haben. Sepp Bradl wieder daheim, in: Salzburger Volksblatt, 6. 3. 1939, 8. Schicha, Ereignismanagement, 91. Sepp Bradl wieder daheim, in: Salzburger Volksblatt, 6. 3. 1939, 8. Ebd. Als Siegesprämie erhielt Bradl 500 Reichsmark. Vgl. Gert Kerschbaumer, Alltag, Feiern und Feste im Wandel. Nationalsozialistische Regie des öffentlichen Lebens und praktizierte Kulturen in Salzburg von 1938 bis 1945, phil. Diss., Universität Salzburg 1986, 381.

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Neben dem Text wurden dem Beitrag des »Salzburger Volksblattes« zwei Bilder beigefügt. Das linke Bild »Oberführer Glück begrüßt Sepp Bradl« zeigte Bradl beim Händeschütteln mit SA-Oberführer Hans Glück. Eine dritte Person, welche ebenso in Uniform abgebildet ist, betrachtete die beiden angesprochenen Persönlichkeiten. Auf dem linken Arm des SA-Oberführers ist das Hakenkreuz zu sehen.

Abb. 3: Bildbericht über den NS-Empfang für Weltmeister Josef Bradl vor dem Salzburger Hauptbahnhof. (Quelle: Salzburger Volksblatt, 6. 3. 1939, 8)

Das rechte Bild ist mit dem Untertitel »Marsch in die Stadt« versehen. Erkennbar ist ein Musikzug, welcher durch die Straßen zieht und am Musizieren ist. Auf beiden Straßenseiten stehen die ZuseherInnen Spalier, und bejubeln die Vorbeiziehenden. Ausgehend von der Prämisse, dass »sich Realität besser in Bildern verdichten lässt als in Worten«,53 setzte die NS-Propaganda, wie bereits erwähnt, auf die Veröffentlichung von Bildern. Die Uniformierten im linken Bild repräsentierten die (neue) hierarchische Ordnung, in welcher der Rangunterschied in Partei und Gesellschaft deutlich wurden. Um die angestrebte Gleichschaltung zu erzielen, »mehrten sich unter den abgebildeten Sportlern Uniformträger der Wehrmacht, des Reicharbeitsdienstes und der Parteiinformation«.54 Diese er-

53 Schicha, Ereignismanagement, 99. 54 Hajo Bernett, Sportpublizistik im totalitären Staat 1933–1945, in: Stadion 11 (1985) 2, 263@295, 283.

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Minas Dimitriou

weckten auch den Eindruck permanenter Präsenz der politischen und militärischen Führung im Sport.

VI.

Resümee

Vor dem Hintergrund der Gleichschaltung der Presse während der NS-Zeit können am Beispiel von Bradl exemplarisch profunde journalistische Darstellungs- und Erzählstrategien identifiziert werden. Als Instrument des journalistischen »Glaubwürdigmachens« im Dienste der NS-Propaganda wurden in der textlichen Darstellung bewusst Verbindungen mit dem komplexen Umfeld der LeserInnen hergestellt (Inszenierung – Performance). In diesem Zusammenhang sind textspezifische Personalisierungen und visuelle Darstellungen hervorzuheben. Diese hatten das Ziel, die allgemeine symbolische NS-Ordnung bei den RezipientInnen aufrechtzuerhalten. Durch die vielseitige Verwendung von narrativen und symbolischen Elementen konstruierte die Sportberichterstattung rituelle Rahmen, die unter anderem für den beschriebenen Fall der Rezeption des Wettkampfes in Zakopane und des anschließenden Empfanges in Salzburg grundlegend waren. So wurde der Skisprungweltmeister von 1939 nicht nur als sportlicher Leistungsträger gefeiert, sondern auch als medialer und nationaler Held inszeniert. Abgesehen vom erwähnten narrativen und theatralischen Ansatz liefert die Untersuchung der Bildberichterstattung einen aufschlussreichen Impuls zum besseren Verständnis identitätsstiftender Erzeugungsmechanismen. So avancierte die symbolreiche Bildinszenierung nicht nur zur stabilen Orientierungsbasis, sondern auch zum Lenkungsinstrument für eine nachhaltige Aufmerksamkeit auf spezielle Sachverhalte bei den Rezipienten (Verkörperung – Wahrnehmung). Am Beispiel der Berichterstattung über den Empfang von Bradl in Salzburg konnte die Bedeutung von Medienritualen als Generatoren und Verstärker kollektiver Identität während der NS-Zeit dargestellt und analysiert werden. Die emotionsgeladene, medienrituelle Rahmung des Ereignisses erleichterte die Heroisierung der Leistungsträger und ermöglichte den Übergang von einer erfolgreichen Gegenwart zu einer triumphalen Zukunft. Darüber hinaus leiteten die Medienrituale nicht nur einen semantischen Gratifikationsprozess55 ein, sondern forcierten auch kollektive Erfahrungen, die die RezipienInnen zu einer Gemeinschaft zusammenbringen sollten.

55 Vgl. Viktor Turner, Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur, Frankfurt am Main 1989, 24.

Magdalena Vukovic´

Sportliche Bauern als »Zuchtziel«. Anna Koppitz’ Propagandafotografien für Reichsminister R. Walther Darré

Richard Walther Darr8, Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft und »Reichsbauernführer«, engagierte zwischen 1939 und 1940 die bis dato fast unbekannte Fotografin Anna Koppitz.1 Sie fertigte für ihn Aufnahmen der Schülerinnen und Schüler der Reichsschule Burg Neuhaus an, die Darr8 1935 gegründet hatte.2 Die kleine mittelalterliche Burg Neuhaus, heute in Wolfsburg, hatte er zu einer Ausbildungsstätte umfunktionieren lassen, in der Jugendliche aus dem Bauernstand in kurzen Lehrgängen sportlich ausgebildet und ideologisch indoktriniert wurden. Nach außen hin wurde kommuniziert, dass junge Bäuerinnen und Bauern hier durch Gymnastik lernen sollten, einen Ausgleich zu finden zu der, wie man argumentierte, einseitig belastenden Landarbeit. Tatsächlich aber wurde auf der »Reichsschule des Reichsnährstandes für Leibesübungen Burg Neuhaus« eine Elite herangezogen, die den rasseideologischen Vorstellungen Darr8s entsprach. Das strenge Auswahlverfahren für die Teilnahme erfolgte nach physiognomischen, konstitutionellen und charakterlichen Kriterien. Es wurden diejenigen einberufen, die dem Idealtypus der »Nordischen Rasse« am meisten entsprachen.3 Darr8 war nicht nur davon überzeugt, dass eine »Nordische Rasse« die Zukunft des deutschen Volkes darstellte, sondern dass sie als Keimzelle im Bauerntum ruhte. Das war eine der Grundfesten der von ihm begründeten Blut-undBoden-Ideologie.4 In zahlreichen Schriften und in Zusammenarbeit mit

1 Dieser Artikel ist eine gekürzte und veränderte Version von Magdalena Vukovic´, Verkörperte Ideologie: Anna Koppitz’ Propagandafotografien, in: Magdalena Vukovic´ (Hg.), »Im Dienst der Rassenfrage«: Anna Koppitz’ Fotografien für Reichsminister R. Walther Darr8, Wien 2016, 59–105. 2 Vertiefend zur Reichsschule Burg Neuhaus: Elke Fuchs, Die Reichsschule des Reichsnährstandes für Leibesübungen Burg Neuhaus, in: Vukovic´, »Rassenfrage«, 31–57. 3 Ebd. 4 Vertiefend zu Darr8s Ideologie: Gesine Gerhard, Gesund, bäuerlich und deutsch: Das Körperideal in der nationalsozialistischen Rassenideologie Darr8s, in: Vukovic´, »Rassenfrage«, 13–29. Gesine Gerhard, Richard Walther Darr8 – Naturschützer oder »Rassenzüchter«?, in:

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Magdalena Vukovic´

Gleichgesinnten verbreitete er die Annahme, dass sich fernab der Städte die »Nordische Rasse« reiner erhalten habe und durch gezielte Zucht »aufzunorden« sei. 1933 ließ er das Reichserbhofgesetz verfügen, eines der ersten »Rassengesetze« im »Deutschen Reich«, nach dem »erbgesunde« Bauern unter staatlichen Schutz gestellt und an deren Höfe gebunden wurden. Um die dem Bauernstand zugedachte Rolle zu popularisieren, suchte Darr8 gezielt nach jungen, dynamisch-attraktiven Vorbildfiguren, die er in der Reichsschule Burg Neuhaus sammeln und ausbilden ließ. Die Fotografie war das geeignete Medium für deren zeitgemäße Inszenierung. Darr8 betraute damit vor allem die Wiener Fotografin Anna Koppitz sowie den Berliner Sportfotografen Hanns Spudich (auf den in diesem Beitrag nicht näher eingegangen werden kann), mit denen er mehrere Jahre lang eng zusammenarbeitete und sie in Sachen Fotografie auch immer wieder zu Rate zog. Die Kooperation lässt sich anhand von umfangreich überliefertem Material in Form von Fotografien, Briefen, persönlichen Notizen und diversen Publikationen rekonstruieren.5 Dadurch ermöglicht sich ein tiefer Einblick in die Arbeitsweise einer vom Regime offensichtlich überzeugten und von diesem profitierenden Fotografin und eines die Fotografie für sich nutzbar machenden NS-Ideologen. Anna Koppitz war bis heute nicht mehr als eine Fußnote in der Biografie ihres berühmten Mannes, des österreichischen Fotografen Rudolf Koppitz.6 Selbst ausgebildete Fotografin, arbeitete sie eng mit ihm zusammen, hielt sich aber Zeit seines Lebens im Hintergrund. Erst nach seinem Tod 1936 führte sie das gemeinsame Atelier alleine und verfolgte eine eigene Karriere, die durch Darr8 ihren Höhepunkt erreichte, doch bald danach wieder endete. Anna Koppitz’ Ausstellungstätigkeit sowie auch ihre privaten Kontakte lassen darauf schließen, dass sie dem Nationalsozialismus zugetan war. Im April 1939 fand in Wien eine Ausstellung mit Fotografien von Anna Koppitz statt, unter dem Titel »Lichtbilder aus dem Jahre der Befreiung«, mit der sie die politischen Geschehnisse nach dem

Joachim Radkau/Frank Uekötter (Hg.), Naturschutz und Nationalsozialismus, Frankfurt am Main 2003, 257–272. 5 Vom 3. 4. 1939 bis 25. 8. 1944 gab es zwischen Koppitz und Darr8 sowie dessen persönlichem Stab Hanns Deetjen, Elsa Schädel und Karl August Rust einen regen Briefverkehr. Nach dem Krieg stand Darr8 aus persönlichen Gründen vom 8. 10. 1951 bis 25. 12. 1952 wieder brieflich in Kontakt mit Koppitz, auch um alte Fotos der »Neuhäuser« zu bekommen. Ein Konvolut von 44 Briefen und Notizen hat sich im Nachlass von Anna Koppitz (Nachlass AK) erhalten, von dem die 31 Briefe bis 1944 nachträglich von Koppitz durchnummeriert wurden (i. d. Anm. jeweils ausgewiesen). Des Weiteren findet sich im Bundesarchiv Koblenz im Nachlass RWD (BArch N 1094) ein Konvolut mit Schriftverkehr zum Thema »Aktfotografie« (II/1e); darin auch Briefe von und an Anna Koppitz sowie die Korrespondenz mit anderen Fotografinnen und Fotografen sowie vor allem zur »Ag. 1« (Arbeitsgemeinschaft für Auslesevorbild und Züchtungskunde). 6 Monika Faber (Hg.), Rudolf Koppitz – Photogenie, Wien 2013.

Anna Koppitz’ Propagandafotografien

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»Anschluss« glorifizierte.7 Lange vor 1938 verband die Fotografin auch ein freundschaftliches Verhältnis mit Leopold Tavs, einem prominenten »Illegalen«, der nach dem »Anschluss« zum Kreisleiter in Wien avancierte.8 Schon Rudolf Koppitz hatte sich durch seine Fotografien politisch positioniert. In seiner letzten Ausstellung »Land und Leute« im Februar 1936, zeigte er die Art von Heimatfotografie, die im konservativ-reaktionären Klima des Ständestaates regen Zuspruch fand und gefördert wurde: Typenstudien der Landbevölkerung und romantische Landschaften.9 Motive wie diese passten offensichtlich auch in die nationalsozialistische Medienlandschaft und Anna Koppitz konnte die Fotografien ihres Mannes in Deutschland und Österreich sowie später im »Großdeutschen Reich« erfolgreich veröffentlichen.10 Mag sein, dass Richard Walther Darr8 so auf sie aufmerksam wurde, denn im April 1939 schrieb sein Sekretär Hanns Deetjen mit der Bitte um Fotografien von Rudolf Koppitz.11 Anna Koppitz sandte das gewünschte Material zu und bot dabei auch ihre eigenen Dienste an. Darr8 wählte acht Bauernporträts von Rudolf Koppitz, interessierte sich dabei aber auch für ihre Arbeit und in Folge sollte sie für »alle einschlägigen Aufgaben des Reichsnährstandes im weitesten Umfange herangezogen werden«.12 Die Bauernköpfe wurden in der Juniausgabe 1939 von »Odal – Monatsschrift für Blut und Boden« abgedruckt.13 Die Zeitschrift, die in Darr8s »Blut und Boden Verlag« erschien, war das Sprachrohr für seine rassistische biologistische Weltauffassung, in der dem Bauernstand vor allem aus Gründen der vermeintlichen rassischen Reinheit eine tragende Rolle zukam. Darr8 hatte zahlreiche eigene Bücher und Schriften von Gleichgesinnten in seinem Verlag veröffentlicht, wo er sich ausführlich zu »Zucht«, »Rasse« und Bauerntum äußerte. Er war sich der Macht fotografischer Bilder bewusst und griff zur Illustration seiner Ideologie nicht nur auf Pressebilder, sondern auf künstlerisch anspruchsvolles Material zurück, das sich offensichtlich auch bestens für Propagandazwecke eignete. Anna Koppitz machte bald nach der Kontaktaufnahme R. Walther Darr8s Fotos der Mädchen und Jungen der Reichsschule Burg Neuhaus.14 Sie traf sie zum 7 Jahrbuch der Photographischen Gesellschaft in Wien 1939, Wien [1940], 8, 14. 8 Robert Kriechbaumer, Österreich! und Front Heil!: Aus den Akten des Generalsekretariats der Vaterländischen Front. Innenansichten eines Regimes, Wien 2005, 361. 9 Elizabeth Cronin, Rudolf Koppitz und die österreichische Heimat, in: Faber, Koppitz, 43–53, 48–49. 10 Cronin, Koppitz, 50–52. 11 Brief Hanns Deetjen an Rudolf Koppitz, Nr. 1, 3. 4. 1939, Nachlass AK. 12 Brief Hanns Deetjen an Rudolf Koppitz, Nr. 2, 20. 5. 1939, Nachlass AK. 13 Hanns Deetjen, Das bäuerliche Antlitz, in: Odal – Monatsschrift für Blut und Boden, 8 (Juni 1939) 6, Bildbeilage 465–467. 14 Im Nachlass von Anna Koppitz haben sich neben 10 Negativen etwa 26 verschiedene Motive der Reichsschule Burg Neuhaus erhalten. Der Großteil sind ca. 18 V 18 cm große Silberge-

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ersten Mal auf der Reichsnährstandsausstellung im Jahr 1939 in Leipzig, zu der sie als Ehrengast eingeladen worden war.15 Für diese Veranstaltung wurden nicht wahllos einige Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus den aktuellen Jahrgängen herausgenommen, sondern Hunderte sorgfältig ausgesuchte Bauernmädchen und -jungen monatelang auf die regimetypischen Massensportdarbietungen vorbereitet. Die Presse wurde von dem Auswahlverfahren und den langwierigen Vorbereitungen wohl nicht informiert und schien begeistert, dass Bauern sich in kürzester Zeit graziös und sportlich zu bewegen gelernt hätten.16 Gerade die »rassische« Vorbildwirkung wurde betont: »Beim Anblick solch rassisch einwandfreier Menschen mit dieser rassisch fundierten Leibeskultur wird man überzeugt, daß vom Bauernstand die Gesundung Deutschlands auch in kultureller Beziehung ausgehen muß.«17 Darr8 trachtete danach, das Bild des Bauern zu modernisieren und zu revitalisieren, wobei Fotografie eine wesentliche Rolle spielte. Gerade die dynamischen Propagandafotos der athletischen »Neuhäuser« fanden in Zeitschriften rege Verbreitung.18 Im Auftrag des Reichsnährstandes waren dafür auch einige Bildjournalisten tätig, Darr8 arbeitete aber überwiegend mit Anna Koppitz und Hanns Spudich.19 Ihre Aufnahmen erschienen zwischen 1939 und 1942 in Darr8s Propagandaschriften, allen voran »Odal«, aber auch in anderen Publikationen

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latineabzüge, z. T. mit »Rudolf Koppitz« gestempelt, aber handschriftlich mit »Anna« versehen. 12 Stück sind größer im Format und z. T. in Originalpassepartouts erhalten und von ihr signiert (sie waren aller Wahrscheinlichkeit nach Teil der Ausstellung »Porträt- und Freilichtaufnahmen« im Februar 1941 in der Photographischen Gesellschaft; s. Photographische Korrespondenz, Bd. 77 [1941], Nr. 4–6, 31). Diese und weitere Motive sind in Zeitschriften im Zusammenhang mit dem Reichsnährstand abgedruckt. 5. Reichsnährstandsausstellung, 4.–11. 6. 1939, Leipzig. Anna Koppitz korrespondierte dazu mit dem Reichsnährstand über organisatorische Details wie Unterkunft und dgl.: Briefe Nr. 3–6, 25. 5.–2. 6. 1939, Nachlass AK. U. a. (alle aus BArch R 8034 II/5766): [o. A.], »Leibesübungen auf dem Lande: Das ist die junge Bauernschaft«, in: Wochenblatt der Landesbauernschaft Hessen-Nassau, 5. 6. 1937, o. S.; Otto Buchmann, Weshalb Neuhaus? Der große Erfolg auf der 4. Reichsnährstandsschau, in: Nationalsozialistische Landpost, 18. 6. 1937, o. S.; Ad. Löffler, Was will Bode?, in: Völkischer Beobachter, 19. 3. 1939, o. S. Otto Schmidt, Leipzig: Die Vorführungen der Reichsschule Burg Neuhaus, in: Mitteilungen der Reichsschule des Reichsnährstandes Burg Neuhaus, (Dezember 1939) 2, 13. »Zunächst konnte ich einige Bilder unterbringen, während für Artikel kein sonderliches Interesse besteht.« Brief Karl August Rust an Hanns Deetjen, 10. 5. 1940, BArch N 1094 II/1e. Gerade bei öffentlichen Veranstaltungen waren Fotografen speziell für den Reichsnährstand beschäftigt, u. a. Dinges, Doerk, Pongratz [Vornamen unbekannt], dann z. T. anonym als »Reichsnährstand« Ausgewiesene sowie vereinzelt Curt Bieling, Siegfried Enkelmann und Otto Kurt Vogelsang. Hierzu ist im Gegensatz zu Spudich und Koppitz keine ausführlichere Korrespondenz erhalten; es handelt sich auch eher um bildjournalistisches Material. In von Darr8 unabhängigen Zeitungen und Zeitschriften wurden solche Aufnahmen häufig veröffentlicht, u. a. auch von Friedrich Franz Bauer, Heinrich Hoffmann, Kurt Huhle, Max Schirner und Umbo.

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und in der Schulzeitung von Burg Neuhaus.20 Die Nähe der Fotografien zu Leni Riefenstahls »Olympia«-Filmwerk von 1938 war mit Sicherheit kein Zufall und stellte die »Neuhäuser« in den Kontext einer damals ungemein populären Bildwelt. Riefenstahl hatte neue Maßstäbe für die Sportfotografie gesetzt und sie in den Fokus der NS-Bildwelt gerückt. Der Film war sicher auch an Spudich und Koppitz nicht vorübergegangen. Beiden gemein sind die in Untersicht aufgenommenen, aufs Äußerste gespannten, kunstvollen, aber statisch wirkenden Posen vor dramatischen Wolkenhintergründen. Die Untersicht hatte aus der avantgardistischen Bildsprache des »Neuen Sehens« Eingang in die fotografische Ästhetik der 1930er-Jahre gefunden. Sie kam in zahlreichen »unverdächtigen« Fotostrecken in Zeitschriften zum Einsatz, gewann aber mit dem Konzept des »Herrenmenschen« und der Heroisierung desselben eine neue Brisanz. Darr8 hatte das Bauerntum zum »Lebensquell der Nordischen Rasse« erklärt.21 Diese Rolle als Träger eines »reinrassigen« Genpools musste aber erst mit dem hünenhaften Menschenbild vereint werden. Mit der Heimatschutzbewegung des ausgehenden 19. Jahrhunderts war vom urbanen Bürgertum ein romantisch verbrämtes und nationalistisches Bild auf die ländliche Bevölkerung projiziert worden: Ursprünglichkeit, Fleiß, Zähigkeit und Bescheidenheit waren die mit Bauern assoziierten Eigenschaften. Im zunehmend konservativen politischen Klima der späten Zwanzigerjahre hatte sich das Bauernporträt in der Fotografie als beliebtes Sujet etabliert.22 Erna Lendvai-Dircksen, aber auch Rudolf Koppitz oder Simon Moser waren die ProtagonistInnen dieser Entwicklung, die das altertümliche Leben der Landbevölkerung zum Ideal erhoben, das dann mit dem Nationalsozialismus wesentlich rassistisch zugespitzt wurde.23 Das weit verbreitete Bildgenre von harter Arbeit gezeichneter, verhärmter Bäuerinnen und Bauern stieß im Hinblick auf Darr8s Vorhaben, das Bild des »linkischen Bauern«24 zugunsten einer jugendlichen, attraktiven und zeitgemäßen Wahrnehmung zu korrigieren, an seine Grenzen. Darr8 förderte das Bauernporträt zwar weiter, war sich aber wohl auch bewusst, dass es dem Klischee der altmodischen Landbevölkerung zuspielte. Er wandte sich konkret gegen solche »Bauernromantik«, die er zwar als Einführung für »entfremdete« Städter lobenswert fand, aber als isoliertes Phänomen hinderlich für die Stärkung eines wirtschaftlich potenten Bauerntums, welches das Fundament des nationalso-

20 Mitteilungen der Reichsschule des Reichsnährstandes Burg Neuhaus, Goslar, Blut und Boden Verlag, erschienen in acht Folgen von April 1939 bis Dezember 1941. 21 R. Walther Darr8, Das Bauerntum als Lebensquell der Nordischen Rasse, München 1929. 22 Elizabeth Cronin, Heimatfotografie in Österreich: Eine politisierte Sicht von Bauern und Skifahrern (Beiträge zur Geschichte der Fotografie in Österreich, Bd. 10), Wien 2015, 97–114. 23 Ebd. 24 Fuchs, Neuhaus, 31.

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zialistischen Staates sei.25 Nur wenige Monate nachdem Rudolf Koppitz’ Bauernköpfe in »Odal« erschienen waren, wetterte man dort in einem von Anna Koppitz’ Fotos der »Neuhäuser« begleiteten Artikel gegen die typischen Bauernporträts im Stile Lendvai-Dircksens und vieler anderer, wie sie in der Heimatfotografie seit den späten Zwanzigerjahren populär geworden waren: »[Das Gesicht der neuen Bauernjugend, Einfügung M.V.] spiegelt in seinem Schnitt und in der Tiefe seines Ausdrucks die Befreiung aus der typenhaften Erstarrung wider, der man auf einer Mehrzahl älterer Bildnisse bäuerlicher Menschen begegnet.«26 Die alten Topoi, die bei Rudolf Koppitz in der Darstellung der Bauerntypen zur Anwendung gekommen waren, mussten für Burg Neuhaus von Anna Koppitz überdacht werden. Während die Heimatfotografie auf Heterogenität setzte, was sich schon allein in den verschiedenartigen Trachten und den physiognomischen Überlegungen des Gesichts als Landschaft widerspiegelt, sollte Anna Koppitz einer straff organisierten Homogenität huldigen. Der Dualismus von Leibesertüchtigung und Heimattümelei, den auch Darr8 mit Nachdruck propagierte, findet in den Motivgruppen der Wiener Fotografin seine Entsprechung: die »Neuhäuser« bei Volkstänzen, vor idyllischen Naturszenerien in einheitlicher Tracht oder Sport treibend in modernen Gymnastiktrikots.27 Der als Schulleiter agierende und weithin bekannte, völkisch orientierte Sportpädagoge Rudolf Bode, hatte in Entsprechung dazu eigens die »NeuhausGymnastik« entwickelt. Sie stellte eine Mischung aus Ausgleichs- und Kraftübungen dar sowie Volkstänzen und -gesängen, um neben dem leiblichen Training auch die Verbundenheit mit ländlichen Traditionen zu stärken. Anna Koppitz überließ in ihrer Arbeit nichts dem Zufall und auch unbedeutend wirkende Details lassen sich auf Vorstellungen Darr8s oder Bodes zurückführen. Architektur oder sonstige Objekte, die eine zeitliche Verortung möglich machen würden, sparte sie aus: Die Aufnahmen sind allesamt im Freien bei strahlendem Sonnenlicht gemacht und haben einen tiefliegenden oder gar keinen Horizont, wodurch sich der Hintergrund auf Wolken oder auf den Boden beschränkt. Darr8 rechtfertigte seine Ideologie durch einen als gegeben konstruierten historischen und erbbiologischen Anspruch. Die »Nordische«

25 R. Walther Darr8, Zur Wiedergeburt des Bauerntums, in: R. Walther Darr8, Um Blut und Boden: Reden und Aufsätze, München 1940, 60–68. 26 Obgleich hier ganz allgemein von »Bildnissen« gesprochen wird, ist es wohl eine Anspielung auf jenen weit verbreiteten Bildtypus (in der Fotografie, aber auch generell in der Kunst). [o. A.], Das neue Gesicht bäuerlicher Jugend, in: Odal, 8, (Dezember 1939) 12, 1018. 27 Im Stile des BdM/der HJ trugen auch die »Neuhäuser« Uniformen, spezielle Sporttrikots sowie ein eigens kreiertes Tanzgewand in Form eines volkstümlichen Dirndls.

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Abb. 1: Anna Koppitz, Schüler und Schülerinnen der Reichsschule Burg Neuhaus, 1939, Silbergelatine. (Quelle: Nachlass Anna Koppitz, Wien)

Schönheit wurde als »rassegebunden«28 von einer Modeerscheinung klar abgegrenzt: Aufnahmen in der Natur spielten diesem Anspruch auf die »ewige« Überlegenheit der »Nordischen Rasse« zu.29 Durch die Gleichförmigkeit der Kleidung, der Gesichter und Konstitutionen sowie die synchronen Bewegungen verschmelzen die Individuen oft zu rhythmischen Strukturen. Koppitz hierarchisierte die Gruppen auffällig oft und so finden sich immer wieder Anführerinnen kleiner selbstständiger Kader, die im Dienst der Sache einsatzbereit gemacht werden können. Die auffällige Heiterkeit der Fotografien war essenziell,

28 Paul Schultze-Naumburg, Nordische Schönheit: Ihr Wunschbild im Leben und in der Kunst, München 1937, 19–21. 29 Vgl. George L. Mosse, Nationalismus und Sexualität: Bürgerliche Moral und sexuelle Normen, Hamburg 1987, hier Kapitel 3.

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Abb. 2: Rudolf Koppitz, »Trachten aus Dornbirn«, um 1934, Silbergelatine. (Quelle: Nachlass Anna Koppitz, Wien)

um ein positives Bild anzuregen und den militärischen Drill als einen Bestandteil des Deutschen zu konstruieren. Das korreliert mit Rudolf Bodes Ansichten über »politische Leibeserziehung«. In seinen antisemitisch argumentierenden Schriften erklärte er sie zur Sache der »Rasse«, und seine Gymnastik stellte er der »kanalisierenden Funktion des Intellekts«30 entgegen, was letzten Endes den wahren Kern aller Bemühungen offenbart, nämlich die Vorbereitung zum Krieg.31 Die Bereitschaft zum Kampf stilisierte Bode zum rasseimmanenten Ethos der Deutschen und er verherrlichte

30 Rudolf Bode, Politische Leibeserziehung, in: Odal – Monatsschrift für Blut und Boden, 8, (Mai 1939) 5, 359–365, 362. 31 Etwa zwei Jahre vor Kriegsbeginn kam es zur allmählichen Militarisierung der NS-Jugendorganisationen. Siehe Rolf Sachsse, Die Erziehung zum Wegsehen: Fotografie im NS-Staat, Dresden 2003, 139.

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Abb. 3: Anna Koppitz, Schülerinnen der Reichsschule Burg Neuhaus, 1940, Silbergelatine. (Quelle: Nachlass Anna Koppitz, Wien)

seine Leibesübungen als kunstvollen Ausdruck davon.32 Gerade in Anna Koppitz’ Neuhäuserin mit wild entschlossenem Blick und zum Wurf angesetzten Speer, manifestiert sich jene kampfbereite Jugend. Anna Koppitz widmete sich verstärkt dem durchtrainierten weiblichen Körper und auch darin spiegelt sich Darr8s Ideologie präzise wider. Da im Herbst 1939 die »Kriegslehrgänge« der Reichsschule auf weibliche Teilnehmerinnen beschränkt waren, lässt sich die einseitige Modellwahl zunächst auch aus zweckbedingten Gründen erklären. Aber es gibt noch eine weitere, ideologisch motivierte Lesart, die auch Darr8s gleich näher ausgeführte Hinwendung zur 32 Herbert Illgen, Die organische Bewegung als Grundlage bäuerlicher Erziehung, in: Rudolf Bode, Der Rhythmus als Erzieher, Berlin 1941, 38–41, 40.

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Abb. 4: Anna Koppitz, Speerwerfende Schülerin der Reichsschule Burg Neuhaus bei der Reichsnährstandsausstellung in Leipzig, Juni 1939, Silbergelatine. (Quelle: Nachlass Anna Koppitz, Wien)

ausschließlich weiblichen Aktfotografie zu erklären vermag. In seinem Essay »Wir und die Leibesübungen« beschrieb er den »Schönheitskult jüdischer Prägung«, dem er ausschließlich niedriges, erotisches Verlangen andichtete. Im Gegensatz dazu wäre die »Schönheit des Weibes« dazu da, »den Blick des Volkes für ein rassisches Auslesevorbild zu schärfen«.33 Die Landjugend müsse bei der Gattenwahl folgende Punkte beachten: »Blut, Gesundheit und Tauglichkeit«. Die letzten beiden seien durch Leibesübungen zu verbessern, der erste sei natürlich 33 R. Walther Darr8, Wir und die Leibesübungen (Odal, H. 10, 1935), in: R. Walther Darr8, Um Blut und Boden, 107–132, 117.

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vorbestimmt. Nun erschließt sich auch der eigentliche Zweck der Reichsschule Burg Neuhaus, die offensichtlich nicht nur zur körperlichen Ertüchtigung gegründet wurde, sondern zur Ausbildung der Fähigkeit, die richtige »Gattenwahl« zu treffen – die »Neuhäuser« sollten sich also nur mit den Besten mehren und gleichzeitig den anderen als Vorbild dienen. Darr8 betonte mehrfach, dass der Blick für die Auslese für den Mann von größerer Bedeutung sei, da dieser dem Reichserbhofgesetz folgend ohnehin den Hof erbte und dementsprechend auch die Partnerwahl vornahm: »Man kann unsere Jungbauern nicht hart und klar genug an die züchterische Aufgabe heranführen, die ihrer durch die Eheschließung harrt, und kann nicht genug ihren Blick schärfen, das andere Geschlecht vom Gesichtspunkt dieser Aufgabe her zu werten.«34 Obwohl die »Gattenwahl« im Vordergrund stand, waren die Fotografien Anna Koppitz’ weniger eine zweckgerichtete Anleitung zur Identifikation des idealen »Nordischen« Menschen, sie stellten vielmehr die Jugendlichen weitab von jeder »Bauernromantik« in einen neuen, zeitgemäßen Kontext. Die Modelle entsprachen ausnahmslos der Vorstellung eines »Nordischen« Typs (waren sie doch eigens nach diesen Kriterien ausgewählt worden) mit hellen Haaren und Augen, schlank und »lebensbejahend«. Anna Koppitz konstruierte eine der Mode der Zeit entsprechende attraktive Atmosphäre der heiteren, sportlichen Vitalität – ein Charakteristikum, das man wohl nicht im bäuerlichen Kontext suchen würde. Viele der Bilder erscheinen dabei so harmlos, dass sie fast über Darr8s menschenverachtende, rassenhygienische Zuchtvorhaben hinwegtäuschen könnten. Eine Publikation aber, die 1940 in seinem Auftrag veröffentlicht wurde, also im gleichen Jahr als Anna Koppitz zum zweiten Mal für ihn fotografierte, eröffnet eine dem entgegengesetzte Bildsprache: Horst Rechenbachs »Die Beurteilung des menschlichen Körpers«35 hatte ein Ausleseschema entwickelt, das ab 1932 für die Bewerber der SS Anwendung fand und neben dem »Körperbau« auch die »rassische Bewertung« erfasste.36 Die Kategorien reichten von »Idealgestalt« bis »Mißgestalt«, von »rein nordisch« bis »Vermutung außereuropäischen Blutseinschlages«.37 Sie kamen wohl in ähnlicher Form auch bei den Neuhaus-Rekrutinnen und Rekruten zum Einsatz, für deren Auswahl Rechenbach von Darr8 persönlich angestellt wurde.38 »Die Beurteilung des menschlichen Körpers« war nicht für die Augen der Öffentlichkeit bestimmt, sondern sollte explizit als »Lehrbuch für einen eng be-

34 Ebd., 126; R. Walther Darr8, Neuordnung unseres Denkens, Goslar 1940, 48–49. 35 Horst Rechenbach, Die Beurteilung des menschlichen Körpers, Goslar 1940. 36 Isabel Heinemann, Rasse, Siedlung, deutsches Blut: Das Rasse- & Siedlungshauptamt der SS und die rassenpolitische Neuordnung Europas, Göttingen 2003, 55–62. 37 Ebd. 38 Fuchs, Neuhaus, 35–38.

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Abb. 5: Unbekannt, Anthropometrische Fotografien, Autotypie, aus: Horst Rechenbach, Die Beurteilung des menschlichen Körpers, Goslar 1940. (Quelle: Institut für Zeitgeschichte, München)

grenzten Kreis dienen«.39 In der Tradition ethnologischer, anthropologischer und in letzter Instanz rassistischer »Wissenschaften« bediente sich Rechenbach 39 Rechenbach, Beurteilung, 7.

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der Fotografie, verglich Aufnahmen nackter Männer und Frauen miteinander und kam letzten Endes immer wieder darauf zurück, jenes rigorose Schönheitsideal der »Nordischen Rasse« zuzuschreiben und alles andere abzuwerten. Unter den Abgebildeten waren vermutlich auch Schülerinnen und Schüler der Reichsschule Burg Neuhaus, doch diese Aufnahmen hätten sich wohl im Gegensatz zu Anna Koppitz’ durchkomponierten Fotografien, kaum dazu geeignet, Darr8s Ideologie zu popularisieren. Im Oktober 1940 ließ Darr8 überraschend alle Neuhaus-Bilder bis auf Weiteres verbieten; sie wurden weder allgemein noch für die Reichsnährstandspresse freigegeben.40 Dieser Schritt ging darauf zurück, dass er mit den Fotos Hanns Spudichs vom Mai 1940 unzufrieden war : Die Bilder würden die Öffentlichkeit verwirren, da »das Problem technisch nicht gelöst« sei. Darr8 sah »den Versuch der klassischen Darstellung als gescheitert an«.41 Mag sein, dass sich bei Spudich inmitten einer Gruppe junger Mädchen sinnliche Sehweisen vor die rassischen gedrängt hatten – was Darr8 nachweislich vermieden sehen wollte.42 Obwohl er Erotik ablehnte, lag die Verbindung zwischen »Rasse« und Aktfotografie für Darr8 nahe und war ein Thema, mit dem er sich eingehend beschäftigte. Als nächsten logischen Schritt im Zuge der Propagierung seiner »Rassentheorien« widmete er sich dementsprechend der Aktfotografie. Er gründete Ende 1939 die »Ag. 1« (Arbeitsgemeinschaft für Auslesevorbild und Züchtungskunde) und berief ein ehrenamtliches Kuratorium ein, dem unter anderen Paul Schultze-Naumburg, die Künstler Wolf Willrich und Oskar Just sowie Anna Koppitz und Hanns Spudich angehörten.43 Zahlreiche Briefe belegen den regen Austausch darüber, wie der (vorwiegend weibliche) Körper darzustellen sei – ob eine dunkle Brustwarze beispielsweise retuschiert oder das Modell als »minderwertig« ausgemustert werden sollte. Den wortreichen Diskussionen folgte letztlich keine Umsetzung und aus diesem Projekt ging kein einziges Foto hervor. Das größte Problem stellte der Mangel an Modellen dar. Gerade Koppitz und Spudich beklagten, dass sie kaum geeignete Kandidatinnen 40 Die Bilder der Reichsschule Burg Neuhaus sollten zumindest bis 1942 verboten bleiben. Auf die Gründe wird nicht näher eingegangen. Brief Hanns Deetjen an Karl August Rust, 24. 10. 1940, BArch N 1094 II/1e. 41 Keine Details, die Fotos sind heute verschollen. Vermerk R. Walther Darr8 für Karl August Rust, 13. 7. 1940, BArch N 1094 II/1e. 42 »Frau [Gertrud] Scholtz-Klink will auf dem nächsten Parteitag mit einem hauchdünnen Schleier erscheinen, da die ausgezogenen Frauen in den Zeitschriften ersichtlich dem Wunsche der Regierung entsprächen. […] [Martin] Bormann meint, es täte ihm sehr leid, aber es sei vom Führer befohlen, da die Homosexualität sich in Deutschland erschreckend vermehre. Ich beteilige mich nicht an dieser Unterhaltung. Die Wurzel liegt woanders. […] Wie sauber ist Neuhaus?« Darr8 Tagebuch-Eintrag, 26. 4. 1939, BArch N 1094 I/65a. Vgl. Darr8, »Wir und die Leibesübungen«, 117–118. 43 Vukovic´, Propagandafotografien, 91–105.

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und Kandidaten finden könnten, denn die Ansprüche an die »Auslesevorbilder« ließen sich nur schwer mit der Realität vereinen. Darr8s Entmachtung 1942 bedeutete die abrupte Einstellung dieses Projekts, ebenso wie der Reichsschule Burg Neuhaus und auch das Ende von Anna Koppitz’ Karriere. 1951 nahm Darr8 noch einmal Kontakt mit Koppitz auf, hatte ihm doch die kurze Zeit, die er im Gefängnis verbracht hatte, den »Bauern-Gedanken« nicht austreiben können.44 Er wünschte sich eine Auswahl der alten Neuhaus-Bilder und wie immer kam die Fotografin seinem Wunsch nach.

44 Ebd.

Gunnar Mertz

Fritz Kasparek und die Erstbesteigung der Eiger-Nordwand in den österreichischen Erinnerungskulturen

I.

Der Mythos Fritz Kasparek

Nur wenige Berge auf der Welt haben so viel Emotionen und so viel mediales Echo ausgelöst wie der Eiger (3.970 m) in der Schweiz. Der französische Alpinhistoriker Sylvain Jouty meint sogar, keine Besteigung habe mehr Aufsehen in der breiten Öffentlichkeit erregt als jene der Eiger-Nordwand.1 Schon Mitte der 1930er-Jahre hatte das »Eiger-Fieber«, die Bewältigung eines der letzten großen Bergabenteuer auf europäischem Boden, enorme Ausmaße angenommen und zahlreiche Todesopfer gefordert. Alpinisten aus dem Deutschen Reich und aus Österreich hatten an diesem Fieber nicht unwesentlichen Anteil. Und mit der Etablierung des »Ostmark-Sportes« nach dem »Anschluss« Österreichs an das Deutsche Reich sollte, Matthias Marschik zufolge, die Erstbesteigung der Eiger-Nordwand im Juli 1938 vom NS-Regime zu jenem Ort stilisiert werden, »wo aus der Zusammenführung der besten deutschen und österreichischen Kräfte das neue ›Großdeutschland‹ greifbar werden sollte.« Zwei getrennt aufgestiegene Seilschaften aus Österreich und dem »Altreich« hatten in der Wand zusammengefunden und die erfolgreiche Bezwingung sollte als Beleg der Überlegenheit Großdeutschlands dienen.2 Der vorliegende Beitrag behandelt auf der ersten Ebene biografische Aspekte zum Wiener Fritz Kasparek, der als einer der Nordwand-Erstbesteiger zu den bedeutendsten österreichischen BergsportlerInnen der 1930er- und 40er-Jahre zählte. In der durch Primärquellen gestützten Untersuchung wird dargelegt, dass Kasparek dem Nationalsozialismus näherstand als in der bisherigen Forschung angenommen: Obwohl er kein überzeugter Anhänger des NS-Regimes war, trat er der Waffen-SS bei, ließ sich von der NS-Propaganda instrumentalisieren und 1 Sylvain Jouty, Die Faszination der Eigernordwand, in: Daniel Anker (Hg.), Eiger, die Vertikale Arena (4. Aufl.), Zürich 2008, 8–35, 10. 2 Matthias Marschik, Sportdiktatur. Bewegungskulturen im nationalsozialistischen Österreich, Wien 2008, 213.

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versuchte mit der Beteiligung an einem enteigneten Geschäft von der Entrechtung, Beraubung und Vertreibung von Menschen mit jüdischem Hintergrund zu profitieren. Vor dem theoretischen Hintergrund der historisch-kulturwissenschaftlichen Mythosforschung soll auf einer zweiten Ebene die mythisierende Heldenverehrung Kaspareks untersucht werden, die ihn in einem konkreten Überzeugungssystem zu einem Vorbild verklärt: Kasparek wird dabei in einer selektiven Interpretation der Vergangenheit zu einem möglichst makellosen Wesen stilisiert und von Eigenschaften befreit, die in diesem System negativ bewertet werden.3 Im konkreten Fall ist das die Verklärung des Naheverhältnisses von Kasparek zum Nationalsozialismus, die am Beispiel von kleinen Erzählungen und Anekdoten zu seiner Person aufgezeigt und in den Kontext historischempirischer Befunde gestellt wird. Die dritte Ebene des Beitrages fokussiert auf erinnerungskulturelle Repräsentationen zu Kasparek, die ihn nach seinem Ableben in der Öffentlichkeit präsent halten. Anhand der Beispiele der Fritz-Kasparek-Gedenkfahrt im Jahr 1968, weiters der ab 2005 in Kaspareks sozialem Umfeld, der »Bergsteigergruppe des Österreichischen Gebirgsvereins«, für bergsportliche Leistungen vergebenen Wandertrophäe »Kasparek-Eisbeil« sowie an der Verkehrsflächenbenennung Kasparekgasse in Wien soll das Konfliktpotenzial aufgezeigt werden, das die Verehrung eines ehemaligen SS-Angehörigen in sich birgt.

II.

Vom Peilstein zur Eiger-Nordwand

Der im Jahr 1910 geborene Fritz Kasparek wuchs in Wien-Ottakring als zweiter Sohn einer Arbeiterfamilie auf. Im Alter von vier Jahren verlor er seinen Vater, der im Ersten Weltkrieg fiel.4 Kasparek trat der Sozialistischen Arbeiterjugend bei und erlernte nach dem Schulbesuch das Schlossergewerbe, in dem er kurze Zeit auch Beschäftigung fand. Am Höhepunkt der Wirtschaftskrise, im Jahr 1932, wurde Kasparek arbeitslos. Mit 18 Jahren hatte er begonnen, statt in die Tanzschule zum Klettern auf den Peilstein, einer Felsformation in der Nähe von Wien, zu fahren. In der Alpinistengilde des sozialdemokratischen Touristenvereins Naturfreunde lernte er neue Leute für Unternehmungen kennen und machte bereits wenig später Erstbegehungen schwieriger Kletterrouten. Nach dem Verbot der Naturfreunde im Februar 1934 wechselte Kasparek in die 3 Peter Tepe, Entwurf einer Theorie des politischen Mythos. Mit einem Analysemodell für politische Helden, in: Peter Tepe (Hg.), Mythos No. 2. Politische Mythen, Würzburg 2006, 46–65. 4 Wiener Stadt- und Landesarchiv (WStLA), Bundespolizeidirektion Wien, Historische Meldeunterlagen, Prominentensammlung, Kasparek Friedrich.

Fritz Kasparek und die Erstbesteigung der Eiger-Nordwand

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Bergsteigergruppe des Österreichischen Gebirgsvereins, wo er mit einigen der besten Kletterer jener Zeit, aber zugleich mit antisemitischem und nationalsozialistischem Gedankengut in Kontakt kam. Diese rein männliche und von einem Nationalsozialisten geführte Gruppe hatte eine elitäre bergsteigerische Selbstwahrnehmung und einen Arierparagrafen.5 Ab 1934 dürfte Kasparek die meiste Zeit des Jahres in den Bergen unterwegs gewesen sein. Im Winter 1936/1937 soll er – dem Alpinisten, Bergsportfunktionär und antifaschistischen Widerstandskämpfer Eduard Rabofsky zufolge – linken Freiwilligen für den spanischen Bürgerkrieg geholfen haben, illegal über die Berge zu gelangen.6 Die Sicherheitsbehörden zerschlugen im Sommer 1937 einen großen Teil des österreichischen Transfernetzes für die Internationalen Brigaden und in Ermittlungsakten wird auch ein Fritz Kasparek genannt, der im Juni 1937 mit einer Gruppe verdächtiger Personen in einem Gasthaus in Feldkirch übernachtet haben soll. Da sich das genannte Geburtsdatum sowie die Anschrift von Kaspareks Daten unterscheiden, ist eine zweifelsfreie Zuordnung nicht möglich, zumal Kasparek von Strafverfolgung unbehelligt blieb.7 Alpinistisch schaffte Kasparek den großen Durchbruch Ende Juli 1938 mit der Erstbesteigung der damals als »letztes Problem« der Alpen erachteten EigerNordwand. Sein üblicher Kletterpartner Sepp Brunhuber war verhindert, deshalb stieg Kasparek mit Heinrich Harrer in die Wand ein, wo sie auf die Deutschen Anderl Heckmair und Ludwig Vörg stießen.8 Die Seilschaft Kasparek/Harrer war wesentlich schlechter ausgestattet als Heckmair/Vörg, die mit ihren modernen Steigeisen deutlich schneller im Eis unterwegs sein konnten und daher die Führung übernahmen. Der Bergsporthistoriker Peter Grupp vermutet, dass die Erstbesteigung ohne den Einsatz des neuen Steigeisenmodells nicht gelungen wäre.9 Die herausragende alpinistische Leistung der vier Erstbesteiger bescherte ihnen damals weltweite Aufmerksamkeit – und steht auch heute noch außer Zweifel. Die nationalsozialistische Propaganda verstand die eigentlich zufällige Vereinigung der beiden Seilschaften am Berg als ein Symbol für den Erfolg des »Anschlusses« Österreichs an das Deutsche Reich und wertete die Besteigung als Beleg der im wahrsten Sinne 5 Archiv der Bergsteigergruppe des Österreichischen Gebirgsvereines (ABG), Mappe: Verunglückte der BG im ÖGV; Bundesarchiv Berlin (BArch), ehem. Berlin Document Center, (BDC), Parteikorrespondenz (PK), VBS 1/1070002278. 6 Eiger Nordwand entnazifiziert, Volksstimme, 15. 6. 1988, 2. 7 Johann-August-Malin-Gesellschaft (Hg.), Von Herren und Menschen. Verfolgung und Widerstand in Vorarlberg 1933–1945, Bregenz 1985, 240; Niederschrift mit Agatha Allgäuer beim Gendarmerieposten Altenstadt, 26. 7. 1937, Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes, 19.512/4. 8 Rainer Amstädter, Hitler kletterte mit, in: Anker, Eiger, 218–225; Rainer Rettner, Eiger. Triumphe und Tragödien 1932–1938, Zürich 2008, 211. 9 Peter Grupp, Faszination Berg. Die Geschichte des Alpinismus, Köln/Weimar/Wien 2008, 202.

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grenzenlosen Überlegenheit »Großdeutschlands«.10 Die »Großdeutsche Seilschaft« hätte »für Deutschland gerungen und gesiegt«, wurde Harrer nach der Begehung zitiert: »Zwei Österreicher, zwei aus dem Altreich. Ist’s ein Symbol?«11 Empörend und abstoßend fanden viele in der Schweiz – wie die »Neue Zürcher Zeitung« später berichtete – die von der deutschen Botschaft in der Schweiz veranstaltete »völkische Siegesfeier« und den anschließenden Empfang durch Adolf Hitler.12 Die nationalsozialistische Propaganda verwertete den Erfolg am Eiger auch in Erlebnisbüchern. Wegen der unter Kaspareks Namen erschienenen Autobiografie »Ein Bergsteiger« sowie dem im Zentralverlag der NSDAP erschienenen Band »Um die Eiger Nordwand« suchte Kasparek um Mitgliedschaft in der Reichsschrifttumskammer an, von der er als nebenberuflicher Schriftsteller aber befreit wurde.13 Laut Eduard Rabofsky übernahm der begeisterte Nationalsozialist Sepp Dobiasch die Aufgabe des Ghostwriters, stilisierte die Besteigung als »Symbol des deutschen Schicksals« und erfand für Kasparek Sätze, »die schon bei Erscheinen völlig unglaubwürdig waren« und nach der NSZeit zu Kritik an Kasparek führten: »Konnten wir als Deutsche anders handeln? Mußte vor unseren Augen nicht immer wieder der Führer entstehen?«14 Neben seiner Tätigkeit als Bergführer sowie dem Auftreten als Autor hielt Kasparek Vorträge in Wien und der Schweiz und versuchte diese Tätigkeit im Rahmen des »Deutschen Volksbildungswerkes« weiter auszubauen. Obwohl er in einer Beurteilung der Hauptstelle Kulturpolitisches Archiv als »politisch wie charakterlich […] einwandfrei« beschrieben wurde, lehnte ihn das Volksbildungswerk ab, da er aus nationalsozialistischer Perspektive »keine Vorträge von innerem Wert« halten könne.15 Den vom Wiener Bürgermeister angebotenen festen Beruf als Lagerverwalter in St. Marx oder als Hausverwalter, selbst unter Zusicherung von sechs Monaten Urlaub jährlich, wollte Kasparek nicht annehmen, was ihm die Nationalsozialisten als »wesentlichen Mangel der Haltung« ankreideten. Daher sollte er nicht als Vortragender gefördert werden, »um ge10 Marschik, Sportdiktatur, 213–215. 11 Wie wir die Eiger-Nordwand bezwungen haben. Heini Harrer erzählt, in: Neues Wiener Tagblatt, 20. 8. 1938, Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien, Archiv des Gaupresseamtes der NSDAP-Gauleitung Wien, Karton MA 136, Mappe 51, Sportwesen 2133. 12 Im Banne der Eigernordwand, Neue Zürcher Zeitung, 18. 6. 1988, 53–54, 53. 13 Anderl Heckmair/Ludwig Vörg/Fritz Kasparek/Heinrich Harrer, Um die Eiger Nordwand, München 1938; Fritz Kasparek, Ein Bergsteiger. Einer der Bezwinger der Eiger-Nordwand erzählt von seinen Bergfahrten, Salzburg 1939; Fragebogen zur Bearbeitung des Aufnahmeantrages für die Reichschrifttumskammer, 19. 9. 1939, BArch, ehem. BDC Personenbezogene Unterlagen der Reichskulturkammer (RKK) und Schreiben der Reichsschrifttumskammer an Kasparek, 25. 10. 1940, R/9361/V/23986. 14 Eiger Nordwand entnazifiziert, in: Volksstimme, 15. 6. 1988, 2. 15 Hauptstelle Kulturpolitisches Archiv an Deutsches Volksbildungswerk, 24. 2. 1939 und 11. 3. 1939, BArch, Auskunftserteilung an das Deutsche Volksbildungswerk – Einzelfälle (Tageskopien), NS 15/66.

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nügend Geld zu verdienen, um dann die übrige Zeit wieder in den Bergen zubringen zu können.«16

III.

Der Bergsteiger und die »Wurzn«

Von dem Geschichtenerzähler Karl Lukan, selbst Mitglied der Bergsteigergruppe im Österreichischen Gebirgsverein, existiert in der Alpinbelletristik über Kaspareks Vortragstätigkeit eine Anekdote, in der Kasparek eine Widerstandshandlung gegenüber den Mächtigen zugeschrieben wird. Kasparek hätte es gewagt, einen prominenten Nationalsozialisten öffentlich zu verspotten, doch nicht einmal die Nazis hätten dem »Frohmenschen« böse sein können. Er hielt im Oktober 1938 (großer Uraniasaal) und im Jänner 1939 (großer Konzerthaussaal) zwei größere Vorträge über die Eiger-Besteigung. Bei einem dieser Vorträge hätte er der Anekdote zufolge unbekümmert Folgendes erzählt: »Vom Bürgermeister der Stadt Wien bekam ich das hochherzige Angebot, mir eine komplette Bergsteigerausrüstung anzuschaffen. Da hab ich mir gedacht, wenn schon eine Wurzn da ist, dann ist sie da – und hab mir alles dreifach und vierfach angeschafft!« Eine »Wurzn« ist auf Wienerisch – so Karl Lukan weiter erklärend – »ein harmloser Mensch, der leicht ausgenützt, ausgenommen werden kann«. Diese »Wurzn« – und das ist die Pointe der Anekdote – wäre bei Kaspareks Vortrag in der ersten Reihe gesessen: Wiens Bürgermeister Hermann Neubacher.17 Im Hinblick auf den von Karl Stadler formulierten breiten Widerstandsbegriff müsste »[a]ngesichts des totalen Gehorsamkeitsanspruches der Machthaber und der auf seine Verletzung drohenden Sanktionen […] jegliche Opposition im Dritten Reich als Widerstandshandlung gewertet werden.«18 Allerdings war Bürgermeister Neubacher vermutlich nie Zuhörer bei einem von Kaspareks Vorträgen, sondern empfing Kasparek und Harrer im Rathaus, wo er sich deren Erlebnisse persönlich schildern ließ.19 Die zitierte Aussage bei dem Vortrag kann daher kaum in Gegenwart Neubachers öffentlich gefallen sein. Zudem wurden bis auf die Haken und Karabiner die Ausrüstungsgegenstände nicht dreifach oder vierfach angeschafft, sondern 16 Paul Bauer an Meinhard Sild, 14. 2. 1939, BArch, Seyß-Inquart, N 1180, 2, zit. n. Peter Mierau, Nationalsozialistische Expeditionspolitik: Deutsche Asien-Expeditionen 1933–1945, München 2006, 180. 17 Karl Lukan, Ein Stück vom Himmel, Als Bergsteigen noch wild und gefährlich war, Innsbruck/Wien 2013, 76. 18 Karl R. Stadler, Österreich 1938–1945 im Spiegel der NS-Akten, Wien 1966, 12. 19 Empfang der Eiger-Nordwand Besteiger, WStLA, MD, A11 – Magistratsdirektion – Präsidialabteilung: Pr.Z. 1699/1938.

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Abb. 1: Die Originalrechnung des Bürgermeister-Geschenkes zeigt den Stand der BergsportAusrüstungstechnik Ende der 1930er-Jahre. (Quelle: WStLA, MD, A11 – Magistratsdirektion – Präsidialabteilung: Pr.Z. 1553/1938)

jeweils nur einmal für Kasparek und einmal für Harrer. Eine Kamera und einen Höhenmesser mussten sich die beiden teilen.20 Mit dem Ausrüstungsgeschenk 20 Ausrüstung für die Eiger-Nordwandbesteiger, WStLA, MD, A11 – Magistratsdirektion –

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hat die Erzählung zwar einen faktenbasierten Kern, eine widerständige Auflehnung Kaspareks gegen den mächtigen Wiener Bürgermeister ist in Hinblick auf die Quellenlage jedoch wenig wahrscheinlich. In den Quellen nachweisbar ist die Absicht des Bürgermeisters, Kasparek und Harrer für eine Fahrt in den Himalaja zu unterstützen.21 Bei der Zusammenstellung des Teams für die geplante deutsche Expedition zum Nanga Parbat (8.126 m) fand dann aber trotz der Förderung durch Wiener Parteikreise nur Harrer Berücksichtigung, während Kasparek weiterhin mit dem Klettern in den Alpen vorliebnehmen musste. Dem Historiker Peter Mierau scheint es in Bezug auf die Auseinandersetzungen um die Zusammenstellung des Expeditions-Teams, dass »ein Sozialist wie Kasparek jegliche Rechte auf eine Teilnahme verwirkt hatte.«22 Laut Heinrich Harrer könnte von einer eigentlichen Seilschaft mit Kasparek nicht gesprochen werden: »Kasparek war Kommunist gewesen, und es hat den Anschein, dass dies der Grund war, warum er von allen Seiten übergangen wurde.«23

IV.

Kletterschuh »Kasparek«

Anstatt sich mit Vorträgen sein Einkommen zu verdienen oder in den Himalaja zu fahren, versuchte sich Kasparek ein – in der Forschung bislang nicht bekanntes – wirtschaftliches Standbein aufzubauen. Sein Freund und Seilpartner, der Metalldruckergehilfe Karl Kinzl, war Sportartikelerzeuger und in der NSZeit Presseamts- und Propagandaleiter der NSDAP-Ortsgruppe Neu-Penzing.24 Nach dem »Anschluss« wollte er den Großhandel mit Reiseandenken und Sportartikeln von Leopold Neuron in der Wiener Lindengasse übernehmen. Neuron wurde vom NS-Regime wegen seines jüdischen Hintergrunds verfolgt und unter massivem Druck zum Zwangsverkauf seines Unternehmens und zur Flucht gezwungen. Da Kinzl nicht über einflussreiche Kontakte und die Reputation für den Zuschlag bei der »Arisierung« verfügte, kam ihm sein Freund, der gerade berühmt gewordene Kasparek, als Partner für die Übernahme des geraubten Geschäftes gelegen. Gemeinsam wollten sie den Kletterschuh »Kasparek« auf den Markt bringen. Kasparek intervenierte mehrmals bei verschiedenen Parteistellen, wobei er Präsidialabteilung: Pr.Z. 1553/1938. 21 Der Vortrag Fritz Kaspareks für das Winterhilfswerk, Austria Nachrichten, 3/1939, 37. 22 Mierau, Expeditionspolitik, 185; zum Nanga Parbat und Harrer vgl. zudem: Harald Höbusch, Mountain of Destiny : Nanga Parbat and Its Path into the German Imagination, Rochester 2016; Gerald Lehner, Zwischen Hitler und Himalaya: Die Gedächtnislücken des Heinrich Harrer, 2. Auflage, Wien 2017. 23 Mierau, Expeditionspolitik, 180. 24 Der Gebirgsfreund 2/2003, 44; WStLA, Gauakten, A1, Personalakten des Gaues Wien: 84.193.

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Abb. 2: Werbung für den Kletterschuh »Kasparek«. (Quelle: WStLA, Volksgericht, A1 – Vg Vr Strafakten: Vg 8c Vr 5227/47)

sich über Reichstatthalter Seyß-Inquart den Zuspruch von wesentlichen Entscheidungsträgern sichern konnte. Der Leiter des Handelsbundes legte den beiden »Ariseuren« nahe, sie mögen zumindest vorerst für die Genehmigung eine Beteiligung Kaspareks angeben, da der Handelsbund dadurch in die Lage käme zu bescheinigen, »dass durch die Beteiligung des derzeit besten Kletterers und Bergsteigers auch die Gewähr gegeben sei [,] ein Sporthaus in einwandfreier

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Art zu führen.«25 Die für die Zwangsenteignung jüdischen Privatvermögens zuständige Vermögensverkehrsstelle stimmte der Übernahme des Betriebes »[a]uf Grund der besonderen Berücksichtigungswürdigkeit und der sportlichen Höchstleistung des Bewerbers« zu.26 Obwohl die Genehmigungen mit Verweis auf Kasparek und die von ihm erbrachten Garantien erteilt wurden, ließ er sich für die Geschäftsübernahme unter Umgehung des »normalen Dienstweges« nur als Steigbügelhalter einspannen. Kinzl erhielt von Kasparek ein Darlehen, trat aber letztlich als alleiniger Käufer auf.27

V.

Fronteinsatz und SS-Hochgebirgsschule

In einem Lebenslauf erwähnt Kasparek, dass der Tag, an dem er beim »Deutschen Turn- und Sportfest« Ende Juli 1938 in Breslau von Hitler empfangen wurde, sein Eintrittstag in die Allgemeine SS gewesen sei und er nach der Ausbildung in der »Führerschule Bad Tölz« in die Waffen-SS übergetreten wäre.28 Bemerkenswert ist, dass er die Mindestgröße für SS-Angehörige von 170 cm um fünf Zentimeter unterschritt – er dürfte intensiv vom Reichsführer-SS umworben worden sein.29 Anfang 1940 wurde Kasparek zur Waffen-SS eingezogen und war vom April 1940 bis August 1942 im Fronteinsatz am deutschen Vernichtungskrieg beteiligt. Für seinen Einsatz im Westfeldzug und mit der SS-Division Nord in Finnland und der Sowjetunion erhielt er das Eiserne Kreuz II, die Finnische Freiheitsmedaille, die Ostmedaille und das Kriegsverdienstkreuz II mit Schwertern.30 Im Herbst 1942 stellte die Waffen-SS in Neustift im Stubaital eine Hochgebirgsschule auf und Kasparek wurde nach seiner Hochzeit einer der Ausbildner. Für die Hochzeitsgenehmigung hatte sich Kasparek von seinem Seil- und Geschäftspartner Karl Kinzl noch bestätigen lassen, dass das künftige Ehepaar die nationalsozialistische Weltanschauung vertrat.31 Nach 1945 hatte sich die Per25 Schreiben Karl Kinzl, 16. 10. 1947, WStLA, Volksgericht, A1 – Vg Vr Strafakten: Vg 8c Vr 5227/47. 26 Vermögensverkehrsstelle an Handelsbund, 20. 8. 1938, Österreichisches Staatsarchiv (ÖStA), AdR, E-uReang Vermögensverkehrsstelle Vermögensanmeldung 22725. 27 Neuron verstarb 1943 in Ohio. Mit seiner Witwe einigte sich Kinzl 1955 bezüglich der Rückstellungsansprüche und führte das Geschäft weiter, ÖStA, AdR, Hilfsfonds Sammelstellen A und B Negativ-Akten Handel und Gewerbe N 252; ÖStA, AdR, E-uReang Hilfsfonds Abgeltungsfonds 1501. 28 Lebenslauf zum R.-u.S.-Fragebogen, 12. 10. 1942, BArch, ehem. BDC, Personenbezogene Unterlagen der SS und SA, R/9361/III/91984. 29 Wehrstammkarte, WStLA, Gauakten, A1, Personalakten des Gaues Wien: 164.958. 30 R.u.S.-Fragebogen, BArch, R/9361/III/91984; Ostmärkischer Gebirgsverein, Rundschreiben, 1/1944, 1. 31 Fragebogen, Sip. Nr. 321 644, BArch, R/9361/III/91984.

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spektive massiv gewandelt: Nun verbreitete sein Rechtsanwalt die Behauptung, Kasparek sei nicht freiwillig zur SS gegangen, sondern im Gegenteil den diversen Aufforderungen der SS, sich zum Dienst zu melden, nicht nachgekommen. Er hätte zudem an keinen Veranstaltungen teilgenommen, nie eine Uniform besessen oder getragen und vor allem keine Willenserklärung oder Zustimmung zu seinem Beitritt oder seiner Aufnahme in die SS abgegeben.32

Abb. 3: Fritz Kasparek in der Uniform eines SS-Unterscharführers, ca. 1942. (Quelle: Das interessante Blatt, 23. 2. 1944, 3).

Diese Behauptung war freilich gewagt, da Kasparek in der NS-Zeit in SS-Uniform Vorträge gehalten hatte und uniformiert in der Presse abgelichtet sowie zweifelsfrei 1944 zum SS-Oberscharführer befördert worden war.33 In der Bergsteigergruppe ist die Erzählung überliefert, dass Kasparek nur in die SS eingetreten wäre, um mit dem Dienst in der SS-Hochgebirgsschule einer Einberufung an die Ostfront zu entgehen. Mit dieser Erzählung ist es möglich, Kasparek trotz der Zugehörigkeit zu einer verbrecherischen Organisation als positive Figur zu konstruieren. Noch bei einer Diskussionsveranstaltung im Jahr 2012 hielt ein Redner in einer Wortmeldung fest: »[Kasparek] war ein ganz herausragender positiver Charakter, der sicher mit dem Nationalsozialismus nichts am Hut 32 Bollenberger an Beschwerdekommission beim Bundesministerium für Inneres, 4. 6. 1951, WStLA, M.Abt. 119, A42 – NS-Registrierung: XVI/6.840. 33 Fritz Kasparek vor der Jugend, in: Das Kleine Blatt, 28. 11. 1943, 6; Den Bergen verfallen, in: Das interessante Blatt, 23. 2. 1944, 2; Gebührnis-Karte, BArch, R/9361/III/91984.

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hatte.«34 Dass unmittelbar bei der SS-Hochgebirgsschule Neustift ein Außenlager des Konzentrationslagers Dachau war, wo es auch zu Tötungsdelikten gekommen ist, hat in der entlastenden Erzählung keinen Platz.35

VI.

Haft und Entnazifizierung

Im Sommer 1946 verhafteten die Sicherheitsbehörden den ehemaligen SSOberscharführer Kasparek in Tirol. Er war ein Jahr lang im US-Lager Glasenbach in Salzburg gemeinsam mit einigen Kollegen aus seiner Bergsteigergruppe interniert. Nicht nur Kaspareks NS-Nähe wird heute in den Erinnerungen verklärt, sondern, wie eine weitere Anekdote von Karl Lukan zeigt, auch sein nationalsozialistisch geprägtes soziales Umfeld in der Bergsteigergruppe, in der sich Kasparek nach seiner Freilassung rasch wieder einfand. Die als Teil des Deutschen Alpenvereins aufgelöste Gruppierung konnte sich nach 1945 rasch reorganisieren und mehr als 100 Mitglieder versammeln. Das Vereinshaus war jedoch noch einige Zeit von der US-Besatzungsmacht beschlagnahmt und die sogenannten »Heimabende« fanden daher in einem Weinhaus statt. Die Lukan-Anekdote basiert auf einem Spiel mit Buchstaben und konstruiert das Umfeld Kaspareks als fernab des Nationalsozialismus stehend: »Als einmal einige Gäste hörten, dass die Leute in dem Extrazimmer von der BG [Bergsteigergruppe, Anm. GM] seien, wäre es bald zu einer Rauferei gekommen. Großes Missverständnis. Sie hatten uns für PG (Parteigenossen der Nazizeit) gehalten.«36 Von der 20-Jahr-Feier der BG im Dezember 1947 ist eine Teilnehmerliste mit 44 männlichen Namen überliefert, 30 von ihnen konnten eindeutig identifiziert werden. Neun Personen, also 30 Prozent des Samples, waren ehemalige NS-Angehörige, darunter fünf »Illegale« (Angehörige der NS-Bewegung vor 1938) und neben Kasparek noch ein weiterer SS-Mann.37 Dieser Anteil von 30 Prozent ehemaligen NS-Angehörigen in Kaspareks sozialer Bezugsgruppe ist mehr als vier Mal so hoch wie der Anteil registrierungspflichtiger NationalsozialistInnen in der Wiener Bevölkerung (6,8 Prozent). Der Anteil an »Illegalen« bei der Veranstaltung (55,6 Prozent) war mehr als doppelt so hoch wie der Anteil 34 Diskussionsbeitrag bei der Veranstaltung »150 Jahre Alpenverein«, Gebirgsvereinshaus, Wien, 18. 10. 2012, Transkript im Besitz des Verfassers. 35 Günter Falser, Die NS-Zeit im Stubaital, Innsbruck/Wien 1996. 36 Karl Lukan, Die Bergsteigergruppe nach 1945, Der Gebirgsfreund 5/2002, 159. 37 Österreichischer Gebirgsverein (Hg.), 100 Jahre Österreichischer Gebirgsverein 1890–1990, Wien 1990, 32; ÖStA, AdR, PK 2Rep AR NS, BK 2214/48, BK 4042/48, BK 2145/47, PA 945/47; WStLA, M.Abt. 119, A42 – NS-Registrierung: XIV/5.565; WStLA, Volksgericht, A1 – Vg Vr Strafakten: Vg 7d Vr 6126/47; WStLA, Gauakten, A1, Personalakten des Gaues Wien: 288.364; BArch, VBS 1/1070002278.

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der »Illegalen« unter den registrierten ehemaligen NationalsozialistInnen in Wien (19,45 Prozent).38 In die Analyse von Kaspareks sozialem Umfeld nicht einbezogen sind die in der Teilnehmerliste nicht angeführten ehemaligen Nationalsozialisten der Bergsteigergruppe, wie etwa der ehemalige politische Leiter und Gauredner Ludwig Slupetzky.39 Die zitierte Anekdote verklärt das soziale Umfeld hingegen als ein unbelastetes: Der Nazi-Verdacht sei nur ein Missverständnis. Bei der NS-Registrierung im Rahmen der Entnazifizierung wurde Kasparek als »Belasteter« eingestuft.40 Das Interesse an Sühnemaßnahmen für die Angehörigen ehemaliger NS-Organisationen schwand nach 1948 bald drastisch und die ideologische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus wurde von den staatlichen Behörden zugunsten eines kontrollierten ökonomischen und sozialen Wiederaufbaus zurückgestellt.41 So konnte auch Kasparek 1951 seine Entnazifizierung erreichen und war wieder zur Führung eines Gewerbes berechtigt. Das erneut aufgegriffene Projekt der Kletterschuhe »Kasparek« und die Gründung einer Handelsgesellschaft für Schuhe aller Art bildeten neben der Neuauflage seiner Autobiografie die Grundlage für einen gewissen Wohlstand, der Kasparek spätestens 1951 über ein Auto verfügen ließ.42 Sein autobiografisches Erlebnisbuch »Ein Bergsteiger« wurde nach 1951 in entnazifizierter Fassung mit abgeändertem Titel mehrmals neu verlegt.43 Mit einer Auflage von zumindest 47.000 Stück war das Buch sehr erfolgreich und dürfte viele BergsportlerInnen inspiriert haben. Der Erstbesteiger des Nanga Parbats, Hermann Buhl, bezeichnete es »als sein liebstes Alpinismus-Buch«.44 Den frühen Tod fand Kasparek 1954 im Alter von 44 Jahren während seiner ersten Überseebergfahrt beim Versuch der Besteigung des Salcantay (6.271 m) in Peru, die er gemeinsam mit zwei weiteren Partnern und dem in Peru lebenden Schweizer Anton Matzenauer vorhatte. Eine Schneewechte brach und riss Kasparek und Matzenauer in die Tiefe. Sein Leichnam konnte nie gefunden werden.45

38 Dieter Stiefel, Entnazifizierung in Österreich, Wien/München/Zürich 1981, 117–119. 39 Irene Etzersdorfer, Arisiert. Eine Spurensuche im gesellschaftlichen Untergrund der Republik, Wien 1995, 45–62. 40 Meldeblatt 1947, WStLA, M.Abt. 119, A42 – NS-Registrierung: XVI/6.840. 41 Oliver Rathkolb, Die paradoxe Republik, Österreich 1945–2010, Wien 2011, 307. 42 Wirtschaftskammer Österreich-Archiv, Allgemeines Gewerbearchiv und Firmenregister der WK Wien, Kasparek & Co.; Die Entwicklung des Baues vom neuen Peilsteinhaus, Der Gebirgsfreund, 10/1951, 78. 43 Fritz Kasparek, Vom Peilstein zur Eiger-Nordwand. Erlebnisse eines Bergsteigers, Salzburg 1951; weitere Auflagen sind 1956, 1960 (Ausgabe für die Büchergilde Gutenberg) und 1968 nachweisbar. 44 Eiger-Nordwand – Kurzporträts der Erstbesteiger, Austria Presse Agentur, APA0025, 12. 7. 2013. 45 Bericht von Erich Waschak, ABG, Mappe 41; ÖStA, AdR, BKA-AA, Rechtssektion Abt. 6 A,

Fritz Kasparek und die Erstbesteigung der Eiger-Nordwand

VII.

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Erinnerungskulturelle Repräsentation

Während Lebendbenennungen von Verkehrsflächen in den meisten Orten untersagt sind, setzte sich die österreichische Bergsport-Ikone mit der ersten Begehung und der Benennung der Kletterroute »Kasparekriss« am Peilstein 1933 schon zu Lebzeiten ein Denkmal, welches heute im Sinne von Pierre Nora einen Erinnerungsort darstellt.46 Nach Kaspareks Ableben gab es mehrere Initiativen, um ihn in der öffentlichen Erinnerung präsent zu halten und im kollektiven Gedächtnis zu verankern. Im Jahr 1968 führten fünf Mitglieder der Bergsteigergruppe in Erinnerung an ihr Idol die Fritz-Kasparek-Gedenkfahrt nach Peru durch. Bei diesem sechsmonatigen Unterfangen sollten, neben weiteren alpinistischen Zielen, die Errichtung einer Gedenkstätte beim Basislager des Salcantays und die Besteigung von Kaspareks »Schicksalsberg« die Hauptaufgaben sein.47 Anlässlich des 50. Jahrestages der Nordwand-Erstbesteigung 1988 äußerte die »Neue Zürcher Zeitung« Bedenken gegenüber einer ausschließlich alpinistischen Bewertung des Eiger-Erfolges: »In der Tat ist es so, dass in der Geschichte des Alpinismus der Sieg über die Eigernordwand nicht einfach als ein außergewöhnliches bergsteigerisches Gelingen gefeiert werden kann (und heute denn auch nicht auf diese Weise in üblicher Vergesslichkeit gefeiert werden sollte).«48 Dagegen wurde in der Bergsteigergruppe des Österreichischen Gebirgsvereins die Erinnerung an Kasparek weiter tradiert und das zuvor im Archiv lagernde »Eigerwand-Eisbeil« von Fritz Kasparek seit 2005 als Wandertrophäe für »herausragende Leistungen« vergeben. Angelehnt an die französische Auszeichnung »Piolet d’Or« erhielten das Eisbeil etwa Thomas Deininger (Gasherbrum II, 8.035 m) oder Klara Kulich (Cho Oyu, 8.201 m).49 Dem Leiter der Gruppe zufolge blieb die Wahl der Trophäe nicht ohne Widerhall, indem jemand die durch die Vergabe des Eisbeils zuteilwerdende Ehrung »einer Figur, die einem Nazi-Terrorregime angehört hat« kritisierte.50 Der Österreichische Gebirgsverein, der von 1920 bis 1945 einen Arierparagrafen hatte, beschloss in

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Chile I/7E, GZ. 207.998–6a/1954; mit teils abweichender Darstellung der Geschehnisse nach dem Unglück: Erich Waschak, Schatten über den Kordilleren, Salzburg 1956. Ewald Gauster/Kurt Schall, Peilstein Kletterführer, Wien 2005, 184; Astrid Erll, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung, 3. Auflage, Stuttgart 2017, 20–24. Fritz-Kasparek-Gedenkfahrt, Der Gebirgsfreund, 1/1968, 3; Hanna Sagmeister, Eine sozialhistorische Analyse von Anden-Expeditionen mit österreichischer Beteiligung zwischen 1928 und 1978, Dipl. Arb., Universität Wien 2017, 123–132. Im Banne der Eigernordwand, 53. Harry Grün, Die Bergsteigergruppe von 1927 bis 2015, in: Österreichischer Gebirgsverein (Hg.), 125 Jahre Österreichischer Gebirgsverein 1890–2015, Festschrift, Eigenverlag, Wien 2015, 178–191, 183–184. Diskussionsbeitrag, 150 Jahre Alpenverein.

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einer Hauptversammlung die Aufarbeitung seiner Geschichte, und in einer Jubiläumsschrift wurde 2015 erstmals kritisch die eigene Vergangenheit reflektiert. Obwohl auf die SS-Zugehörigkeit des Idols Kaspareks eingegangen wird, ist in der Jubiläumsschrift festgehalten, dass bei Kasparek »ein Verurteilen nicht angemessen« wäre, da es nicht »ganz klare Nachweise für eine persönliche Verstrickung in verbrecherische Tätigkeiten« gebe.51 Im Jahr 2017 wurde der Wanderpokal nicht mehr vergeben. Mit der Kasparekgasse im 22. Gemeindebezirk schuf die Stadt Wien durch den Beschluss des Gemeinderatsausschusses für Kultur vom 8. Juni 1968 den heute öffentlich am deutlichsten sichtbaren Erinnerungsort des Bergsteigers.52 Aus den Akten der zuständigen Magistratsabteilung lässt sich ein Zusammenhang zwischen der zeitgleich mit der Straßenbenennung durchgeführten Fritz-Kasparek-Gedenkfahrt im Sinne von Erinnerungslobbying nicht ablesen, sondern mehrere Interventionen von BürgerInnen wegen Problemen bei der Auffindung der unbenannten Verkehrsfläche. Nach reger Bautätigkeit in den Wiener Randbezirken und rund 500 bis Mitte der 1960er-Jahre erfolgten Neubenennungen stieß der Ideenreichtum bei der Namensgebung neuer Verkehrsflächen an seine Grenzen. Die Stadt Wien rief 1963 in einer Ideensammlung die Bevölkerung zur Mithilfe bei der Namensgebung durch Vorschläge von verdienten Personen aus dem Bereich des Sportes und des Alpinismus auf.53 Ein Bürger legte die Kurzbiografie von Kasparek und vier weiteren bisher nicht geehrten Bergsteigern vor: Julius Kugy (Schriftsteller, Erschließer der Julischen Alpen), Hermann Buhl (Erstbesteiger des Nanga Parbat), Alfred Radio-Radiis, (Pionier der österreichischen Fahrzeugindustrie), Karl Prusik (Erfinder des »Prusik-Knotens«).54 Eine Ehrung von Radio-Radiis (»als Straßenname vielleicht schwer zu verwenden«) schloss der Magistrat sogleich aus und es sollten fünf Jahre vergehen bis Kasparek als Einziger der Genannten eine Ehrung erhalten sollte. Seine Kurzbiografie wurde wortident aus der Ideensammlung übernommen und den Abgeordneten im Gemeinderatsausschuss zur Beschlussfassung der Benennung vorgelegt. Die Biografie enthielt freilich keine Hinweise auf Kaspareks SS-Zugehörigkeit oder die Bedeutung der Eiger-Nordwand für die NS-Propaganda.55 Eine geschichtspolitische Auseinandersetzung mit der zu ehrenden Person dürfte zu diesem Zeitpunkt nicht erfolgt sein. 51 Matthias Hutter, Der ÖGV im Wandel von 125 Jahren, in: Gebirgsverein, 125 Jahre, 37–38. 52 Oliver Rathkolb/Peter Autengruber/Birgit Nemec/Florian Wenninger, Straßennamen Wiens seit 1860 als »Politische Erinnerungsorte«, Forschungsprojektendbericht, 92–94. 53 Stadt Wien such Taufpaten für ihre Straßen, Neues Österreich, 7. 6. 1963, 5. 54 Erwin R. an Magistrat der Stadt Wien, 29. 6. 1963, WStLA, M.Abt. 350, A1, Allgemeine Registratur : 47/1968. 55 M.Abt. 7 an Gemeinderatsausschuss III, 10. 6. 1968, ebd.

Fritz Kasparek und die Erstbesteigung der Eiger-Nordwand

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Im Jahr 2013 legte die von der Stadt Wien beauftragte Kommission zur Untersuchung kritischer Verkehrsflächenbenennungen ihren Bericht vor, in dem 28 Fälle mit »intensivem Diskussionsbedarf«, 26 Fälle mit »Diskussionsbedarf« und 75 Fälle mit »demokratiepolitisch relevanten biographischen Lücken« festgestellt wurden. Beim Namensgeber der Kasparekgasse befand die Kommission intensiven Diskussionsbedarf und ordnete ihn in die Gruppe der 28 Personen zu, »die offensiv und nachhaltig antisemitische Einstellungen bzw. andere gruppenbezogenen menschenfeindlichen Vorurteile vertreten haben«, aktive Mitglieder der SS oder SA waren oder denen »die Integration von rassistischem und menschenfeindlichem Gedankengut in konkrete Arbeiten bzw. Verhaltensweisen oder die Verharmlosung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit (z. B. Holocaust) oder die individuelle Verantwortung für exzessive Gewaltanwendung« nachgewiesen werden konnten.56 Die Stadt Wien ist sich ihrer historischen Verantwortung bewusst und hat die Erkenntnisse der Studie auf ihrer Website zugänglich gemacht sowie ab 2016 erste kontextualisierende Zusatztafeln für Straßenschilder vorgestellt.57

VIII. Resümee Fritz Kaspareks herausragende alpinistische Leistungen stehen außer Zweifel. In belletristischen Alpinismus-Erzählungen wird bei der Heldenkonstruktion seine Nähe zum Nationalsozialismus oft ausgeblendet oder verklärt, aber derzeit ist ein Prozess der historischen Aufarbeitung im Gange. Wie die Beispiele des Kasparek-Eisbeils und der Kasparekgasse zeigen, ist die Ehrung des Bergsportlers wegen seiner SS-Zugehörigkeit heute nämlich umstritten. Kasparek kann als ein Bergsportler beschrieben werden, der aus einfachen Verhältnissen und langer Arbeitslosigkeit kommend, mit der Erstbesteigung der Eiger-Nordwand überregional bekannt wurde und sich von der NS-Propaganda uneingeschränkt einspannen ließ. Im Jahr 1938 war er dadurch kurzfristig materiell soweit abgesichert, dass er seinem Kletterpartner Karl Kinzl ein Darlehen für die »Arisierung« eines Sportartikel-Großhandels geben konnte. Vor dem Einsatz seiner guten Verbindungen in Parteikreise schreckte er nicht zurück, um die Übernahme des geraubten Betriebes und den Vertrieb des »Kletterschuhs Kasparek« voranzutreiben. Auch nach 1938 war er kein überzeugter Nationalsozialist geworden, wollte aber dennoch von der Verfolgung und Beraubung von Menschen mit jüdischem Hintergrund profitieren. Durch seinen freiwilligen 56 Rathkolb/Autengruber/Nemec/Wenninger, Erinnerungsorte, 45. 57 Vgl. URL: https://www.wien.gv.at/wiki/index.php?title=Kommission_zur_Prüfung_der_ Wiener_Straßennamen (abgerufen 18. 1. 2018).

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Eintritt in die Waffen-SS und dem Einbringen seiner alpinistischen Fähigkeiten im Kampfeinsatz und der Ausbildung von SS-Gebirgseinheiten leistete Kasparek einen Beitrag zum nationalsozialistischen Vernichtungskrieg.

Wir und die Anderen

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Die österreichische Nation, geboren aus einer Niederlage. Das »Wunderteam«-Gemälde als Element des Nation Building zu Beginn der Zweiten Republik

Zur Fußball-Europameisterschaft 2008 in Österreich und der Schweiz kamen viele JournalistInnen nach Wien. Sie berichteten nicht nur von den Spielen, sondern waren auch auf der Suche nach Hintergrundgeschichten. Einer von ihnen, Phil Gordos, schrieb auf der BBC Website: »I never knew Austria were once quite good at football. It took a painting – apparently a very famous one here – that opened my eyes to that fact. Paul Meissner’s iconic image of the ›Wunderteam‹ of the 1930s is currently on show in the Wien Museum.«1 Dieses Beispiel zeigt die Wirkung eines Bildes auf das Verständnis von Geschichte, konkret die des österreichischen Fußballs. Doch es verweist nur auf einen – den sporthistorischen – Aspekt, und gerade das im Jahr 1948 als Auftragsarbeit entstandene »Wunderteam«-Gemälde hat eine Reihe von Bedeutungen, die über den Bereich des Sports hinausgehen. Im Folgenden sollen die Bedeutungen und die Geschichte(n) gezeigt werden, die mit dem »Wunderteam«-Gemälde verbunden sind. Viele österreichische Fußballfans und Personen, die sich für die Geschichte des österreichischen Fußballsports interessieren, wissen, dass dieses Bild die österreichische Fußball-Nationalmannschaft der frühen 1930er-Jahre zeigt, allgemein als »Wunderteam« bekannt. Weithin bekannt ist auch, dass dieses Bild die Mannschaft beim Betreten des Spielfelds an der Londoner Stamford Bridge im Dezember 1932 zeigt. Etliche Menschen erinnern sich, dass dieses Spiel gegen England das berühmteste des »Wunderteams« war. Nicht wenige sind allerdings überrascht, wenn sie hören, dass Österreich dieses Spiel mit 3:4 verloren hat. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, wie ein Gemälde, das eine Fußballmannschaft vor einer Niederlage zeigt, ein derart ikonisches Bild werden konnte. Ausgehend von den zeitgenössischen (Bild-)Berichten, von der Frage, was abgebildet wurde und in welchem Zusammenhang das geschah, soll vor 1 Phil Gordos, When Austria were good at football. Euro 2008. The Road to European Glory (June 2008), URL: http://www.bbc.co.uk/blogs/euro2008/2008/06/when_austria_were_good_ at_foot.html (abgerufen 1. 3. 2018).

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allem nach der Rolle des Gemäldes im Zusammenhang mit der Produktion eines österreichischen Nationalbewusstseins gefragt werden.

I.

Medienspektakel »Wunderteam« in London

Blicken wir dazu auf das Ereignis selbst, auf das Fußball-Länderspiel zwischen England und Österreich am 7. Dezember 1932 in London und auf die zeitgenössisch produzierten Bilder dieses Spiels. Schon lange vor dem Match brachten die Zeitungen nicht nur in Wien, sondern auch in anderen Teilen Österreichs Vorberichte. Was in diesem Zusammenhang begeisterte, war die Geschichte einer Auseinandersetzung des Mutterlands des Fußballsports gegen das kleine Österreich, der britischen Kraft gegen die verspielte Genialität der Wiener Mannschaft. Darüber hinaus wurde das Spiel auch als eine Geschichte der Konfrontation zwischen England und Kontinentaleuropa inszeniert.2 Schon eine Woche vor dem Spiel wurde die Berichterstattung auf die Titelseiten ausgeweitet. Viele Zeitungen zeigten Fotografien von der Abreise der Fußballer aus Wien. Zu sehen war die Mannschaft am Westbahnhof oder der Zug beim Verlassen der Station, mit aus den Fenstern winkenden Spielern.3 Später wurden die Tage in der englischen Hauptstadt bis zum Spiel detailliert geschildert. Die Berichterstattung bestand aus Artikeln und Bildern über die Reise, den Aufenthalt in London – vom Frühstück bis zum Abschlusstraining – und schließlich der Schilderung des Spiels selbst. Manche Zeitungen druckten sogar Sonderausgaben.4 Eine Herausforderung für die Zeitungen stellte das neue Medium der Live-Radioübertragung »via Unterseekabel« aus London dar.5 Printmedien konnten punkto Geschwindigkeit nicht mehr mithalten. Eine Reaktion darauf war es, die Radioübertragung selbst zu medialisieren: Es wurden Fotos von Personen vor ihren Radiogeräten abgedruckt – die schon vorher aufgenommen werden konnten und so die Live-Situation simulierten.6 Etwa eine Woche nach dem Match veröffentlichte »Das interessante Blatt« die Fotografie

2 Wolfgang Maderthaner, Das Wunderteam und die Krise der Gesellschaft. England-Österreich 4:3. 7. Dezember 1932, London – Stamford Bridge, in: Matthias Marschik (Hg.), Sternstunden der österreichischen Nationalmannschaft, Wien/Münster 2008, 85–98. 3 Z. B. Sport-Tagblatt, 2. 12. 1932, 1. 4 Für einen Überblick der Berichterstattung, siehe Werner Michael Schwarz, Stamford Bridge. Das Wunderteam in London, in: Peter Eppel/Bernhard Hachleitner/Werner Michael Schwarz/ Georg Spitaler (Hg.), Wo die Wuchtel fliegt. Legendäre Orte des Wiener Fußballs, Wien 2008, 124–129. 5 Vgl. Matthias Marschik, Die Geburt der Nation aus dem Unterseekabel, in: Medien & Zeit 19 (2004) 3, 16–24. 6 Z. B. Neuigkeits Welt-Blatt, 8. 12. 1932, 1.

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einer Menschenmenge, die auf dem Wiener Heldenplatz die öffentliche Radioübertragung des Spiels verfolgte.7

Abb. 1: Die Radioübertragung des Fußball-Länderspiels England gegen Österreich auf dem Wiener Heldenplatz, 7. Dezember 1932. (Quelle: ÖNB/Wien Bildarchiv, RÜ ZK 236/1)

Auch wenn, wie der Fotohistoriker Anton Holzer schreibt, die Bedeutung der Sportfotografie in den frühen 1930er-Jahren stark zunahm und die Fotografen nun zunehmend versuchten, entscheidende Momente und Dribblings festzuhalten,8 sind Fotos vom Spiel an der Stamford Bridge noch in der Minderheit: Quantitativ dominieren Fotografien, die abseits des Spielfeldes aufgenommen wurden. Das hat einerseits damit zu tun, dass naturgemäß vor dem Spiel noch keine Matchfotos vorhanden waren. Andererseits war es bei Fußballspielen mit den Kleinbild-Rollenfilm-Kameras zwar grundsätzlich möglich, aber immer noch schwierig, entscheidende Szenen in guter Qualität im Bild festzuhalten. Deshalb wurde in vielen Fällen auf Zeichnungen statt auf Fotos zurückgegriffen.9

7 Das interessante Blatt, 15. 12. 1932, 3. 8 Anton Holzer, Fotografie in Österreich. Geschichte, Entwicklungen, Protagonisten 1890–1955, Wien 2013, 119. 9 So etwa im Sport-Tagblatt (8. 12. 1932, 3), das unter dem Titel »Ein Vorstoß der Wiener« die Zeichnung einer Spielszene brachte, die neben dem ballführenden Matthias Sindelar weitere beteiligte Spieler zeigte.

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Eine andere Möglichkeit waren Funkbilder, wie sie von Agenturen – etwa Keystone – angeboten wurden. Ihre Qualität war allerdings noch eher bescheiden. Umfang und Inhalt der Medienberichte zeigen jedenfalls: Das Spiel gegen England wurde nicht erst retrospektiv, sondern bereits zeitgenössisch als das bedeutendste Spiel des Wunderteams gesehen. Insofern war es naheliegend, gerade dieses Spiel als Ausgangspunkt für ein Gemälde dieser legendären Mannschaft zu verwenden. Nun ließe sich einwenden: Das Match an der Stamford Bridge war zwar das berühmteste Spiel des Wunderteams, aber es endete mit einer Niederlage. Warum taugt es trotzdem als Identifikationspunkt? Es ist grundsätzlich nicht ungewöhnlich, dass eine Niederlage als Nukleus für Nation Building verwendet wird. Das berühmteste Beispiel ist wahrscheinlich die Niederlage der serbischen Armee am Amselfeld im Jahr 1389.10 Es gibt dazu aber ein paar entscheidende Unterschiede: Österreich hat in London ein Fußballspiel verloren, keinen Krieg. Die Niederlage wurde auch nie als Demütigung, sondern von Beginn an als ehrenvolle, sogar als glorreiche Niederlage rezipiert.11 Nicht nur von der österreichischen Presse, sondern auch von Zeitungen in anderen Ländern. Die technische Perfektion und das spielerische Können des Wunderteams wurden hoch gelobt. Das führt zu einem anderen Punkt: das Wunderteam war nicht nur wegen seiner Siege berühmt, sondern auch für seinen einzigartigen, kunstvollen Stil. Matthias Sindelar, der Superstar der Mannschaft, trug den Spitznamen »der Papierene«.

II.

Entnazifizierung eines Malers und eines Volkes

Dieser kunstvolle Spielstil ließ sich in der Entstehungszeit des Gemäldes, kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, sehr gut als starker Kontrast zum preußischen Militarismus und zum Nationalsozialismus lesen. Diese Botschaft konnte demgegenüber als ›typisch österreichisch‹ gelesen werden – mit einer Anknüpfung an Bilder von Wien als Stadt der Lebensfreude, als Stadt der Musik, besonders von Johann Strauss und seinen Walzern.12 Ein solches »Image« wurde in der unmittelbaren Nachkriegszeit nicht nur vom Fußball transportiert, ein anderes prominentes Beispiel ist die Wiener Eisrevue.13 Die intendierte Aussage ist ein-

10 Vgl. dazu Steven Mock, Symbols of Defeat in the Construction of National Identity, New York 2012. 11 See Dilwyn Porter, England 4 Austria 3. Stamford Bridge, London 7. Dezember 1932, in: Eppel/Hachleitner/Schwarz/Spitaler (Hg.), Wuchtel, 130–131. 12 Vgl. Lutz Musner, Der Geschmack von Wien. Kultur und Habitus einer Stadt, Frankfurt am Main 2009. 13 Vgl. Bernhard Hachleitner, Alt-Wien, die Gemütlichkeit und der Weltraum. Die harmlos-

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deutig: Die Österreicher, ein verspieltes, musikalisches Volk, konnten gar kein integraler Bestandteil des deutschen Nationalsozialismus und dessen Vernichtungspolitik gewesen sein. Mit diesen Konzeptionen unmittelbar verbunden ist die Entstehungsgeschichte des Gemäldes: Im Jahr 1948 hat Viktor Matejka, kommunistischer Politiker, Überlebender des KZ Dachau und ab 1945 Wiener Kulturstadtrat, den Maler Paul Meissner beauftragt, ein Bild zu malen. Es sollte ein Gruppenbild des Wunderteams sein, in Öl auf Holz mit einer Größe von 200 mal 160 Zentimetern.14 Als Vorlage für die Grundkomposition des Bildes diente eine Fotografie vom Einlaufen der Mannschaft auf das Spielfeld beim Länderspiel gegen England am 7. Dezember 1932 in London.15 Das Gemälde sollte Teil einer größeren Strategie sein: Matejka wollte weiters eine Statue von Matthias Sindelar, dem 1939 verstorbenen Superstar des Wunderteams, errichten lassen und einen Platz nach dem Verbandskapitän Hugo Meisl benennen.16 Bei einer Pressekonferenz im April 1948 sagte Matejka: »Wie kommt es, dass Wiens Sport, der das weltberühmte Wunderteam hervorgebracht hat, von dessen Eiskunstläufern und starken Männern man in der ganzen Welt spricht, wie kommt es, dass dieser Sport so wenig Beachtung seitens der Wiener Künstlerschaft findet?«17 Für Meissner wiederum war dieser Auftrag in mehrfacher Hinsicht wichtig: Einerseits brauchte er Geld, anderseits versuchte er zu diesem Zeitpunkt die Streichung seines Namens von der Registrierungsliste ehemaliger Nationalsozialisten als »Minderbelasteter« zu erreichen. Ein Auftrag von öffentlicher Stelle konnte dabei hilfreich sein. Im März 1948 schrieb Meissner einen Brief an Bundespräsident Karl Renner, in dem er um »Nachsicht von den Sühnefolgen«18 bat – und legte einen Brief von Viktor Matejka bei, in dem ihn dieser als einen der »begabtesten Porträtmaler« der Stadt bezeichnet. Und Matejka ergänzte: »Obwohl er als minderbelastet arbeitsberechtigt ist, würde eine Entlastung des Künstlers sowohl ihm, als auch uns in der Erteilung offizieller Porträtaufträge

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schönen Wien Bilder der Eisrevue, in: Bernhard Hachleitner/Isabella Lechner (Hg.), Traumfabrik auf dem Eis. Von der Wiener Eisrevue zu Holiday on Ice, Wien 2014, 38–41. Brief der Mag. Abt. 7 an Paul Meissner, 20. 5. 1948. Akt Wien Museum, GZ 1921/48. Für eine detaillierte Darstellung und Kontextualisierung der Beauftragung Meissners durch Matejka sowie eine Analyse des Bildes siehe Lisa Wögenstein, Das österreichische Wunderteam – Ein ›Film‹ von Paul Meissner und Viktor Matejka, in: Eppel/Hachleitner/Schwarz/ Spitaler (Hg.), Wuchtel, 132–133 und Lisa Wögenstein, Das österreichische Wunderteam – backstage: Facts & Figures, in: Eppel/Hachleitner/Schwarz/Spitaler (Hg.), Wuchtel, 134–137. Wögenstein, Wunderteam – backstage. Für eine detaillierte Biografie Meisls, siehe: Andreas Hafer/Wolfgang Hafer, Hugo Meisl oder die Erfindung des modernen Fußballs, Göttingen 2007. Grazer Montag, 19. 4. 1948, 10. Brief von Paul Meissner an Karl Renner, 18. 3. 1948. Wiener Stadt- und Landesarchiv (WStLA), NS-Registrierung 1945–57.

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Abb. 2: »Das Wunderteam« von Paul Meissner. (Quelle: Wien Museum)

wesentliche Erleichterung bringen. Seine baldige Entnazifizierung wäre daher zu begrüßen.«19 Für Meissner wurde das Wunderteam-Gemälde mit Matejkas Hilfe ein Werkzeug seiner persönlichen Entnazifizierung – und es wurde ein Werkzeug der Entnazifizierung Österreichs im Allgemeinen. Das Wunderteam für Nation Building einzusetzen, war 1948 übrigens keine neue Idee: So empfing der damalige Kanzler Engelbert Dollfuß 1932 die Mannschaft nach ihrer Rückkehr aus London – und zeigte sich auch bei Spielen im Wiener Stadion gerne mit dem Team. Die Spiele des Wunderteams zählten in der Ersten Republik zu den seltenen Gelegenheiten, bei denen nicht nur die Gräben zwischen den politischen Parteien überwunden wurden, sondern auch die Gegensätze zwischen Wien und Österreich. Sogar in Vorarlberger Zeitungen war die Euphorie erkennbar.20 Meissner war sich der Bedeutung des Auftrags für seinen künstlerischen Neustart nach dem Nationalsozialismus durchaus bewusst. Noch kurz vor seinem Tod bedankte sich Meissner bei Matejka in einem Brief, dass er ihm den

19 Schriftstück von Viktor Matejka, 20. 3. 1948. WStLA, NS-Registrierung 1945–57. 20 Vgl. z. B. Vorarlberger Volksblatt, 3. 12. 1932, 5.

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Start in seine künstlerische Tätigkeit ermöglicht habe.21 Das Gemälde selbst fand allerdings in keinem der späteren Ausstellungskataloge Meissners Erwähnung. Es passte nicht so recht in das Oeuvre eines Künstlers, der sich der abstrakten Malerei zugewandt hatte.

III.

Ein Aufblitzen von Österreich-Identität in der Ersten Republik

Aber wenden wir uns wieder dem Gemälde selbst zu. Die Verbindung mit dem Spiel an der Stamford Bridge ist durch Details wie den Union Jack und die österreichische Flagge ganz klar erkennbar. Meissner wurde bei seiner Arbeit am Bild von Robert Brum und Maximilian Reich, zwei bekannten Sportjournalisten und in dieser Funktion engen Weggefährten des Wunderteams, unterstützt. Ihre Aufgabe war es wohl, die historischen Details zu liefern, ganz im Sinne der Historienmalerei. Dabei ist das Historienbild Mitte des 20. Jahrhunderts eigentlich ein längst obsoletes Genre, zumindest im klassischen Verständnis, als einem Genre in dem sich »die wissenschaftliche Vorstellung von Geschichte in den entsprechenden Kunstwerken wiederfinden läßt«,22 wie der Kunsthistoriker Sven Beckstette anmerkt. »Eine direkte Verbindung von der Geschichtswissenschaft zur Kunst allgemein und zur Historienmalerei im Besonderen läßt sich kaum mehr feststellen.«23 Mit der – wenn auch nicht wissenschaftlichen, aber zumindest fachjournalistischen – Beratung, die Meissner für dieses Gemälde hat, gibt es Anknüpfungspunkte an diese Praxis. Das geht in gewisser Weise mit dem Inhalt konform, schließlich zeigt das Gemälde kein »großes« historisches Ereignis, keine Schlacht in einem Krieg, keine Generäle und Soldaten, sondern einen Fußball-Teamchef und seine Mannschaft. So nimmt die Historienmalerei ein Thema der Populärkultur auf – und wurde andererseits im 20. Jahrhundert von der Populärkultur abgelöst. »Vor allem der Film mit seinen ganz anderen Möglichkeiten der Illusion und des anschaulichen Erzählens hat das Erbe der Historienmalerei angetreten.«24 Sozialistischer Realismus wäre auch ein möglicher Bezugspunkt – vor allem, weil mit Matejka ein kommunistischer Politiker der Auftraggeber war. Anders als in der Ersten Republik hatte die österreichische KP keine Berührungsängste mit dem bürgerlichen Fußballbetrieb. Bereits über das erste Länderspiel nach 21 Vgl. Wögenstein, Wunderteam – backstage, 137. 22 Sven Beckstette, Das Historienbild im 20. Jahrhundert. Künstlerische Strategien zur Darstellung von Geschichte in der Malerei nach dem Ende der klassischen Bildgattungen, phil. Diss., Berlin 2008, 8. 23 Ebd., 8. 24 Frank Büttner, Aufstieg und Fall der Geschichtsmalerei, in: Ulrich Baumgärtner/Monika Fenn (Hg.), Geschichte zwischen Kunst und Politik, München 2002, 33–58, 54.

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dem Zweiten Weltkrieg, den 4:1-Sieg gegen Frankreich am 6. Dezember 1945, wurde in der »Volksstimme« begeistert berichtet: »Grandioser Sieg der österreichischen Fußballer« war zu lesen, und: »Das Spiel gestaltet sich zu einem wahrhaft großen Triumph der Wiener Schule. […] Das Spiel zeigte deutlich, daß unser ›Scheiberlspiel‹, auf welches wir mit Recht stolz sein können, unserer sportlichen Eigenart, gepaart mit einer Portion Mutterwitz, bei weitem mehr entspricht, als das in den letzten sieben Jahren oktroyierte ›Stopperspiel‹.«25 Hier wird an die »Systemdebatte« angeknüpft, die nach dem »Anschluss« im Zusammenhang mit der Frage der Integration der Wiener Fußballer in die deutsche Nationalmannschaft beginnt, sich aber bis in die Mitte der 1950er-Jahre in den Fußballdiskussionen weiterzieht. Das Zentralorgan der KPÖ erklärt das Spiel, mit dem das Wunderteam berühmt geworden war, zu einem quasi natürlichen Bestandteil des Österreichischen, das im Gegensatz zum Deutschen steht. Das »Wunderteam«-Gemälde gießt diesen Gedanken in Öl. Johann Skocek und Wolfgang Weisgram schreiben in einem Essay dazu: »Es sollte ein Gemälde von stiller Entschlossenheit sein, ein programmatisches, wenn man will, ein ideologisches Bild. Es sollte auf klare, eindeutige, ruhige Weise ausdrücken, wovon im Moment allerorten und fast hysterisch beschwörend die Rede war : Österreich.«26 Und dieses Bild von Österreich war (noch) nicht in den Alpen zu finden,27 es war an der Londoner Stamford Bridge zu verorten. Das führt noch einmal zur Frage nach der konkreten Vorlage: Es gibt nicht die eine ikonografische Abbildung, die sich aufgedrängt hätte. Unter den vielen Bildern lässt sich freilich eines identifizieren, das als Vorbild für das Grundraster des Gemäldes diente. Das erste Foto vom Spiel wurde als Funkbild in mehreren Zeitungen am nächsten Tag abgebildet: Es zeigt das Wunderteam beim Betreten des Spielfeldes. Es gibt aber auch bemerkenswerte Unterschiede: Das Gemälde zeigt 16 Spieler, nicht nur jene elf, die an der Stamford Bridge gespielt haben. Es sind jene 16 Spieler, die als Mitglieder des Wunderteams gelten – und nunmehr quasi amtlich in Öl festgehalten sind. Für die Darstellung mancher Spieler dienten Fotografien von anderen Spielen als Vorlage, etwa ein Mannschaftsfoto vom Spiel gegen Ungarn am 24. April 1932.28 Es ging eben nicht um den Versuch, die Faszination des 25 Österreichische Volksstimme. Zentralorgan der Kommunistischen Partei Österreichs, 7. 12. 1945, 4. 26 Johann Skocek/Wolfgang Weisgram, Wunderteam Österreich. Scheiberln, wedeln, glücklich sein, Wien/München/Zürich 1996, 36. 27 Vgl. zur »Verösterreicherung« bzw. Westorientierung des Sports: Matthias Marschik, Eine (Miss-)Erfolgsgeschichte. Fußball in Wien/Sport in Österreich, 1945 bis 1995, in: Michael Dippelreiter (Hg.), Wien. Geschichte der österreichischen Bundesländer seit 1945, Wien/ Köln/Weimar 2013, 651–680, 658. 28 Lothar Rübelt, Die österreichische Nationalmannschaft bei Österreich–Ungarn, 24. 4. 1932, Fotografie, Österreichische Nationalbibliothek, Bildarchiv Austria.

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Fußballspiels bildlich darzustellen. Es ging darum, eine konkrete Mannschaft als Repräsentant Österreichs abzubilden. Ein weiterer Unterschied ist: Die Spieler auf dem Gemälde tragen schwarze Hosen und weiße Hemden, die traditionellen Heimdressen der österreichischen Nationalmannschaft. Beim Match in London spielte Österreich dagegen in den Auswärtstrikots: Weiße Hosen und rote Leibchen. Eine Erklärung dafür könnten künstlerische Überlegungen gewesen sein, oder aber der Wunsch, die Nationalmannschaft so darzustellen, wie sie den FußballanhängerInnen vertraut ist. Im Zusammenhang mit dem Nation Building nach dem Zweiten Weltkrieg – das ja eine Abkehr von der deutschen Nation bedeutet – ist es allerdings interessant, dass das Schwarz-Weiß, wie es für das deutsche Nationalteam typisch ist, zum Einsatz kommt. Das Rot-Weiß-Rot der österreichischen Flagge kommt dafür aber in den großflächigen Wappen auf den weißen Trikots besonders gut zu Geltung.

IV.

Hugo Meisl, zurück im Fokus

Der dritte, wesentliche Unterschied ist die Präsenz Hugo Meisls. Während ihn Fotografien und Filme in dieser Szene nicht zeigen, ist er in Meissners Bildkomposition eine zentrale Figur. Das ist ein besonders interessanter Punkt: Als langjähriger Generalsekretär des Fußballbundes und Teamchef des Wunderteams war er verantwortlich für dessen Aufstellung. Meisl war eine prominente Figur in Wien, er wusste sich auch gut selbst zu vermarkten. Mitte der 1920erJahre hatte er eine feststehende Ikonographie seiner Person etabliert. Unzählige Fotografien und Zeichnungen zeigen ihn mit Mantel, Hut und Gehstock, häufig mit einer Zeitung über den Arm.29 Wie groß Meisls Popularität war, wie sehr er mit den Erfolgen des Wunderteams verbunden wurde, insbesonders auch mit dem Spiel gegen England, zeigt ein Bild aus dem Jahr 1933. Es ist ein Plakat für das Faschings-Gschnas des Künstlerhauses, das eine ironische Vision von Wien im Jahr 2999 zeigt. Neben anderen Elementen zeigt es ein Fußballstadion mit der österreichischen Flagge und dem Union Jack. Neben dem Stadion befindet sich eine Statue von Hugo Meisl – wenn auch fälschlicherweise als »Meissl« bezeichnet.30 Eine zentrale Rolle als österreichische Ikone wurde Hugo Meisl auch vom Auftraggeber des Wunderteam-Gemäldes zugeschrieben. Matejka inszenierte die Entstehung des Bildes als großes Medienereignis. Nachdem er die ersten 29 Hafer/Hafer, Meisl, 206. 30 »Wien. Die Perle des Reiches.« Planen für Hitler. Plakat zur Ausstellung im Architekturzentrum Wien, 19. März–16. August 2015.

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Skizzen von Meissner erhalten hatte, präsentierte er diese der Presse: Sie zeigen einen Mann mit Hut, Gehstock, Mantel und einer Zeitung über dem linken Arm: Hugo Meisl. Dass Meisl eine derart zentrale Rolle in diesem Gemälde erhielt, ist auch aus einem weiteren Grund interessant. Hugo Meisl starb 1937, ein Jahr vor der Annexion Österreichs durch Deutschland. Als Jude wäre Meisl im Nationalsozialismus der Verfolgung ausgesetzt gewesen. Im Jahr 1941 veröffentlichte die deutsche Fußballzeitschrift »Kicker« eine Sondernummer. Sie trug den Titel: »Das Wunderteam. Aufstieg und Ruhm der berühmtesten europäischen Fußballmannschaft«.31 Das war eine in mancherlei Hinsicht seltsame Publikation: Sie feierte die Nationalmannschaft eines Landes, das aufgehört hatte zu existieren, dessen Name nicht verwendet werden durfte. Im »Kicker« ist deshalb auch nicht von der österreichischen Nationalmannschaft die Rede, sondern vom »Wiener Wunderteam«.32 Hugo Meisl wurde kein einziges Mal erwähnt oder abgebildet. So bringt das Gemälde den Juden Meisl zurück in das Zentrum der Aufmerksamkeit. Es reinstalliert ihn als »Vater« des Wunderteams. Es legt ihn allerdings auch als eine nostalgische Figur fest, seine Rolle als Modernisierer des Fußballsports – auch in organisatorischer Hinsicht – blieb im Hintergrund. Im Sinne eines harmlos-nostalgischen Österreich-Bildes passte es allerdings sehr gut. An Meisl als polyglotten jüdischen Weltbürger, an den Modernisierer des Fußballs, die treibenden Kraft hinter der Einführung des Professionalismus, wurde 1948 in Wien kaum angeknüpft. Ein Blick auf die Spieler auf dem Bild öffnet weitere interessante Narrative: Einer der Spieler, Walter Nausch, emigrierte mit seiner jüdischen Frau in die Schweiz.33 Um Matthias Sindelar, der wie Meisl nicht mehr am Leben war, ranken sich widersprüchliche Geschichten. Hans Mock, ein anderer Spieler, war SAMitglied.34 Die Entscheidung diese Mannschaft in einem Moment der Geschichte darzustellen, als die brutale Unterdrückungs- und Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten und das Grauen des Zweiten Weltkriegs noch kaum vorstellbar waren, konnte auch als ein Appell an die Österreicher verstanden werden, die Jahre zwischen 1938 und 1945 zu vergessen und gemeinsam ein neues Österreich aufzubauen. Ohne Unterschied zwischen Opfern und Tätern. Dazu passt auch die dargestellte Szene: Beim Einlauf der Mannschaft auf das Spielfeld ist das Ergebnis des Spiels noch offen. Es hätte auch anders kommen können oder : Die Zukunft steht uns offen. 31 Der Kicker. Das Wunderteam. Aufstieg und Ruhm der berühmtesten europäischen Fußballmannschaft, 1941. 32 Ebd. 33 Vgl. Werner Michael Schwarz, Walter Nausch. Der Sir, in: Eppel/Hachleitner/Schwarz/Spitaler (Hg.), Wuchtel, 34. 34 Vgl. dazu Fußball-Sonntag, 3. 4. 1938, 6 und zahlreiche weitere Zeitungsartikel, die Mock als »SA-Mann« vorstellen.

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V.

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Nationale Ikone im Depot

Ein anderer Punkt ist, dass dieses Bild zu einer nationalen Ikone wurde, obwohl es kaum öffentlich gezeigt wurde. Im Jahr 1950 wurde es in einer Ausstellung im Künstlerhaus präsentiert, danach verschwand es in den Depots des Historischen Museums der Stadt Wien.

Abb. 3: Das »Wunderteam«-Gemälde in der Ausstellung »Sport in der Kunst«, 1950. (Quelle: ÖNB/Bildarchiv Wien, US 9109/3)

Das Museum, das heutige Wien Museum, war über Jahrzehnte an diesem Bild nicht interessiert. Ab 1964 wurde es an den Österreichischen Fußballverband verliehen. Das Gemälde hatte dort »inmitten zweier Philodendron-Stöcke einen ehrenvollen Platz an der Stirnseite eines Sitzungszimmers erhalten«,35 wie auch auf einem Foto von Margherita Spiluttini aus dem Jahr 1994 zu sehen ist.36 Trotzdem war es immer irgendwie präsent. Es wurde auf den Titelseiten mehrerer Bücher abgebildet,37 in Zeitungen veröffentlicht und war in zahlreichen Publikationen zu sehen. Es gibt auch eine Bearbeitung des Bildes, die auf ein 35 Wögenstein, Wunderteam – backstage, 137. 36 Eppel/Hachleitner/Schwarz/Spitaler (Hg.), Wuchtel, 139. 37 U. a. Skocek/Weisgram, Wunderteam Österreich; Wolfgang Weisgram, Im Inneren der Haut. Matthias Sindelars papierenes Fußballerleben, Wien 2006.

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Bernhard Hachleitner / Sema Colpan

anderes berühmtes Spiel der österreichischen Fußballnationalmannschaft verweist. In das Wunderteam-Gemälde wurden die Köpfe der Cordoba-Mannschaft von 1978 montiert. Das Ölbild selbst rückte hingegen erst im Jahr 2008 wieder in den Fokus. Im Rahmen der Ausstellung »Wo die Wuchtel fliegt. Legendäre Orte des Wiener Fußballs« spielte das »Wunderteam«-Gemälde eine zentrale Rolle.38 Stamford Bridge wurde einer der »legendären Orte des Wiener Fußballs«. Das »Wunderteam«-Gemälde und seine Präsentation in der Ausstellung waren Gegenstand umfangreicher Berichterstattung in österreichischen Medien.39 Die Reaktionen von JournalistInnen und BesucherInnen der Ausstellung lassen sich einfach zusammenfassen: Eine große Mehrheit schien das Gemälde zu kennen (weil sie Fotografien davon gesehen hatte beziehungsweise Geschichten über das Bild und seine Geschichte gehört oder gelesen hatte). Einmal war es seither wieder öffentlich zu sehen, und zwar bei einer Podiumsdiskussion. Das Wien Museum hat das Gemälde nach der Ausstellung im Jahr 2008 behalten und nicht mehr dem ÖFB als Leihgabe für weitere Jahrzehnte überlassen, es wird das Bild möglicherweise in eine neu gestaltete Dauerausstellung nach dem Umbau des Hauses integrieren.40 Das zeigt zwei Dinge: Das Gemälde wird auch aus musealer Sicht nicht mehr in erster Linie nach seiner künstlerischen Qualität beurteilt, sondern als Objekt der Zeitgeschichte betrachtet. Und, Populärkultur, konkret auch Sport, wird in Zusammenhang mit zentralen historischen Fragen in der geschichtswissenschaftlichen und museologischen Fachwelt als wichtiger Faktor gesehen. Das Gemälde wird als Beispiel für Nation Building mit Hilfe einer populären Fußballmannschaft verstanden, als ein Objekt, das Einblicke in einen bestimmenden Moment der österreichischen Geschichte liefert.

38 Wo die Wuchtel fliegt. Legendäre Orte des Wiener Fußballs. Ausstellung im Wien Museum, 28. April–4. August 2008, kuratiert von Peter Eppel, Bernhard Hachleitner und Werner Michael Schwarz. 39 Das zeigt die Mappe mit den Presseclippings der Ausstellung, Privatarchiv Bernhard Hachleitner. 40 Der Umbau wurde mehrmals verschoben, zur Drucklegung des Buchs war der weitere Zeitplan unklar. Siehe URL: http://www.wienmuseumneu.at (abgerufen 13. 5. 2018)

Martin Tschiggerl

Wir und die Anderen. Die Konstruktion nationaler Identität in der Sportberichterstattung der drei Nachfolgegesellschaften des NS-Staates in den 1950er-Jahren

I.

Einleitung

Im Fokus dieses Artikels stehen mit Anton »Toni« Sailer, Gustav-Adolf »Täve« Schur und Helmut Rahn drei Männer, die vieles gemeinsam haben: Alle drei wurden vor dem Zweiten Weltkrieg in deutschsprachigen Gebieten geboren, alle drei waren ausgesprochen erfolgreiche Sportler und alle drei gelten mit Anderen als die populärsten Athleten ihrer jeweiligen Heimatstaaten – zumindest in den 1950er-Jahren. Ihre größten Triumphe erlebten sie in eben diesem Jahrzehnt: Sailer gewann drei Olympische Goldmedaillen im Skilaufen bei den Spielen in Cortina d’Ampezzo 1956, der Radfahrer Schur siegte 1953 in der Mannschaftswertung und 1955 in der Einzelwertung der Internationalen Friedensfahrt, und Rahn war einer der wichtigsten Spieler der bundesdeutschen Fußballnationalmannschaft bei deren WM-Titelgewinn 1954 in der Schweiz. Alle drei Sportler verbrachten einen Teil ihrer Kindheit und Jugend als Bürger eines gemeinsamen Staates, des NS-Staates, traten bei den jeweiligen Sportbewerben in der Nachkriegszeit aber unter den Flaggen dreier unterschiedlicher Staaten und Nationen an: Sailer für Österreich, Schur für die DDR und Rahn spielte im Team der BRD. Diese drei Staaten1, die in den 1950er-Jahren mehr gemeinsam hatten als nur die deutsche Sprache, stehen im Zentrum dieses Artikels. Die Gesellschaften2 dieser drei Staaten waren wenige Jahre zuvor noch Teil des NS-Staats gewesen und können daher als Nachfolgegesellschaften des »Dritten Reichs« bezeichnet 1 Staat verstehe ich im Anschluss an Max Weber als eine soziale Gemeinschaft, die »innerhalb eines bestimmten Gebietes […] das Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit für sich (mit Erfolg) beansprucht«, und ein (politisch legitimiertes) »Herrschaftsverhältnis von Menschen über Menschen« darstellt. 2 Gesellschaft verstehe ich in diesem Zusammenhang als ein soziales System, das als solches politische Legitimation erhält. Für den Forschungsgegenstand und das Erkenntnisinteresse meiner Arbeit ist Gesellschaft somit deckungsgleich mit der Summe der Einwohner eines Staates und deren sozialer Interaktion miteinander. Vgl. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie (hg. von Johannes Winckelmann), Studienausgabe (5. Aufl.), Tübingen 1980, 821.

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Martin Tschiggerl

werden. Selbst bei einem nur flüchtigen Blick, wie in diesen drei Gesellschaften mit dieser Vergangenheit umgegangen wurde, wird jedoch deutlich, wie unterschiedlich deren Rezeption und dabei vor allem die sich selbst zugeschriebene Rolle der jeweiligen Gesellschaft innerhalb des »Dritten Reichs« ausgefallen ist. Kurz gefasst oszilliert diese Selbstwahrnehmung zumindest in weiten Teilen der politischen und gesellschaftlichen Eliten zwischen der Postulierung, das erste Opfer des Nationalsozialismus gewesen zu sein für Österreich, der Selbstdefinition als Sieger über den Faschismus für die DDR und der Anerkennung als Nachfolgegesellschaft des NS-Staates für die BRD.3 Bei diesen Klassifizierungen handelt es sich zwar um stark vereinfachte Idealtypen der kollektiven Auseinandersetzung mit der gemeinsamen NS-Zeit in diesen drei Staaten, die sich in der historischen Forschung deutlich differenzierter darstellt, dennoch kann einleitend festgehalten werden, dass in der BRD – trotz der vielfältigen Formierungs- und auch Abwehrprozesse bei der Aufarbeitung des nationalsozialistischen Erbes – zumindest von Seiten der Eliten deutlich aktiver und selbstkritischer mit der wahrgenommenen Vergangenheit als integraler Teil des »Dritten Reichs« umgegangen wurde als in der DDR und in Österreich.4

II.

Forschungsfrage und Methode

Ausgehend von der auf Benedict Anderson aufbauenden basalen These, dass es sich bei Nationen stets um vorgestellte Gemeinschaften handelt,5 die entlang bestimmter identitätskonkreter Metanarrative konstituiert werden, gehe ich davon aus, dass auch die hegemonialen Diskurse dieser Gesellschaften maßgeblich durch diese Metanarrative strukturiert werden. Der Umgang mit der NSZeit stellt für alle drei untersuchten Gesellschaften solch ein Metanarrativ dar. Die kulturellen Produkte, die innerhalb einer Nation zu einem bestimmten Zeitpunkt entstehen, sind somit vor allem dadurch geprägt, was zu diesem Zeitpunkt sagbar ist und was nicht. Sie bilden somit jene diskursive Rahmung, innerhalb derer diese kulturellen Produkte überhaupt erst entstehen können. Dieser Artikel basiert auf meiner gleichnamigen Dissertation, in welcher im 3 Vgl. Wolfgang Benz, »Vergangenheitsbewältigung« in Deutschland und Österreich, in: Martin Strauß/Karl-Heinz Ströhle (Hg.), Sanktionen. Die Maßnahmen der Länder der Europäischen Union gegen die Österreichische Regierung im Jahr 2000, Innsbruck/Wien/Bozen 2010, 149–161. 4 Vgl. Rainer M. Lepsius, Das Erbe des Nationalsozialismus und die politische Kultur der Nachfolgestaaten des »Großdeutschen Reiches«, in: Ders., Demokratie in Deutschland (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 100), Göttingen 1993, 229–245. 5 Vgl. Benedict Anderson, Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, Frankfurt am Main 1996.

Die Konstruktion nationaler Identität in der Sportberichterstattung

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Rahmen einer breit angelegten, qualitativen Diskursanalyse6 die massenmediale Berichterstattung7 in der DDR, der BRD und Österreich zu zwölf verschiedenen internationalen Sportgroßereignissen in den drei Nachfolgegesellschaften des NS-Staats untersucht wurden. Dabei wird der Frage nachgegangen, ob sich ein Zusammenhang zwischen den in diesen Massenmedien auftretenden Aussagen zum Themenkomplex »Nation« beziehungsweise dem dialektischen Gegensatzpaar »Identität«/»Alterität« und der sich selbst zugeschriebenen Rolle der jeweiligen Gesellschaft innerhalb des NS-Staates beobachten lässt. Drei dieser untersuchten Diskursstränge – die Olympischen Winterspiele von 1956 in Cortina d’Ampezzo, die Fußballweltmeisterschaft von 1954 in der Schweiz und die Internationale Friedensfahrt 1955 – werden nun im vorliegenden Beitrag präsentiert. Die genannten Sportereignisse verliefen für jeweils eine der drei untersuchten Nationen sehr erfolgreich, die zeitgenössische massenmediale Darstellung dieser Erfolge stellt sich in den jeweiligen Nationen aber ausgesprochen divergent dar. Das Untersuchungsfeld der Sportberichterstattung habe ich für meine Analyse deshalb ausgewählt, da die massenmediale Repräsentation von internationalen Sportereignissen einen besonders privilegierten Verhandlungsspielraum zur Diskussion identitätskonkreter Narrative darstellt. Schließlich werden dort die verschiedenen Formen der nationalen Identität und die Konstruktion einer »Wir-Gemeinschaft« oft einhergehend mit der Abgrenzung zu anderen Gemeinschaften prominent diskutiert. Große Siege und auch große Niederlagen auf der internationalen Bühne von Sportgroßereignissen wurden und werden durch deren massenmediale Repräsentation oft in einen größeren Sinnzusammenhang eingebettet und dazu genützt, die eigene Nation als vorgestellte Gemeinschaft zu konstruieren und rückzuversichern. Was den Sport als Medium für diese Konstituierung der eigenen Gemeinschaft so außerordentlich spannend macht, ist die Tatsache, dass dort speziell jene Themenkomplexe diskutiert werden, deren nationale und völkische Überfrachtung ein Hauptkennzeichen der verbrecherischen Ideologie des Nationalsozialismus waren: Identität und Alterität – also das Eigene und das Andere als gleichzeitiger Gegner und konstituierendes Ele-

6 Methodisch habe ich mich dabei stark an den Arbeiten von Achim Landwehr, Ruth Wodak und Siegfried Jäger orientiert: Achim Landwehr, Historische Diskursanalyse, Frankfurt am Main 2008; Ruth Wodak, Critical discourse analysis: history, agenda, theory, and methodology, in: Ruth Wodak/Michael Meyer (Hg.), Methods for Critical Discourse Analysis, London 2009, 1–33; Siegfried Jäger, Kritische Diskursanalyse. Eine Einführung (6. Aufl.), Münster 2012. 7 Ausgewählt wurden jeweils drei Tageszeitungen aus den untersuchten Staaten. Für Österreich: Arbeiter-Zeitung (ab 1959 durch die Kronen Zeitung ersetzt), Die Presse und Kleine Zeitung; für die DDR: Neues Deutschland, Neue Zeit und Berliner Zeitung; für die BRD: Bild-Zeitung, Frankfurter Allgemeine Zeitung und Süddeutsche Zeitung.

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Martin Tschiggerl

ment für das Eigene. Diese beiden Kategorien – Identität und Alterität – sind auch die zentralen Operatoren für die vorliegende Diskursanalyse.

III.

Die 1950er-Jahre in den drei Nachfolgegesellschaften

Trotz der teilweise extrem unterschiedlichen gesellschaftlichen und politischen Systeme standen sowohl die politischen Eliten als auch die Funktionseliten der drei in dieser Analyse untersuchten Staaten in den 1950er-Jahren vor einer sehr ähnlichen Fragestellung: Wie sollte nach den Schrecken des Zweiten Weltkriegs, der sich abzeichnenden oder bereits faktischen deutschen Teilung und der wiedererlangten österreichischen Eigenstaatlichkeit eine neue nationale Identität entstehen? Alle drei Staaten waren noch wenige Jahre zuvor Teil des NSStaates gewesen und hatten gemeinsam das »Dritte Reich« gebildet, nun sollten aus diesem Staat drei eigenständige Nationen entstehen, die alle drei von einer teilweise ähnlichen, teilweise sehr stark divergenten Ausgangsposition aus konstruiert werden mussten. Für Österreich erkennen Reinhard Sieder, Heinz Steinert und Emmerich T#los in den 1950er-Jahren gesellschaftliche Prozesse, die sie mit analytischen Begriffen einer »Re-Austrifizierung« und eines »Heimatmachens« zusammenfassen.8 Diese Prozesse waren geprägt von den Bemühungen, eine eigenständige österreichische Identität zu generieren,9 die als integrale Bestandteile zum einen die Gewissheit enthielt, das erste Opfer des Nationalsozialismus10 und zum anderen eben nicht Teil einer wie auch immer gearteten »deutschen Nation« gewesen zu sein, sondern eigenständig österreichisch.11 Während – wie auch im Zuge dieser Analyse deutlich wird – in Österreich nach 1945 eine Re-Nationalisierung entlang kollektiver Identitätssymbole zu beobachten ist, diagnostizieren zahlreiche Historiker für die BRD nach 1945 eine De-Nationalisierung,12 da der »Nationalismus […] sein moralisches Fun8 Vgl. Reinhard Sieder/Heinz Steinert/Emmerich T#los, Wirtschaft, Gesellschaft und Politik in der Zweiten Republik, in: Reinhard Sieder/Heinz Steinert/Emmerich T#los (Hg.), Österreich 1945–1995. Gesellschaft Politik Kultur, Wien 1995, 9–32, 19. 9 Zu dieser Konstruktion einer österreichischen Identität vgl. Ernst Bruckmüller, Nation Österreich. Kulturelles Bewußtsein und gesellschaftlich-politische Prozesse, Wien 1996; Peter Thaler, The ambivalence of identity. The Austrian experience of nation-building in a modern society, Wien 2001. 10 Vgl. Heidemarie Uhl, Vom Opfermythos zur Mitverantwortungsthese. NS-Herrschaft, Krieg und Holocaust im »Österreichischen Gedächtnis«, in: Christian Gerbel/Manfred Lechner/ Dagmar C. G. Lorenz/Oliver Marchart/Vrääth Öhner/Ines Steiner/Andrea Strutz/Heidemarie Uhl (Hg.), Transformation gesellschaftlicher Erinnerung. Studien zur »Gedächtnisgeschichte« der Zweiten Republik, Wien 2005, 50–85, 52–55. 11 Vgl. Bruckmüller, Nation Österreich, 35. 12 Vgl. Konrad H. Jarausch, Normalisierung oder Re-Nationalisierung?, in: Geschichte und Gesellschaft 21(1995) 4, 571–584, 572–573.

Die Konstruktion nationaler Identität in der Sportberichterstattung

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dament als Integrationsideologie in Deutschland nach 1945 verloren«13 hatte. Dies bedeutet im Umkehrschluss allerdings nicht, dass der Nationalstaat in seiner Gesamtheit von Seiten der politischen Eliten in Frage gestellt wurde, sondern lediglich dass dessen Grundmauer eine parlamentarische Demokratie mit einem normativen Wertekonsens sein musste,14 die allerdings über weite Strecken von der Suche nach einem nationalen Selbstverständnis geprägt war.15 Eine zentrale Rolle in diesem Selbstverständnis nahm auch der andere deutsche Staat, die DDR, und die Frage nach einer möglichen Wiedervereinigung ein. Der Volksaufstand vom 17. Juni 1953 in der DDR ist hierbei für beide deutsche Staaten von signifikanter Bedeutung. Zum einen wurde er in der BRD in den Mythos einer möglichen Wiedervereinigung – das Volk der DDR hatte offen seine Ablehnung des SED-Regime artikuliert – eingebettet,16 zum anderen machte er das Legitimationsproblem dem DDR-Führung mehr als deutlich. Schließlich hatte sich diese nur mit Hilfe der sowjetischen Panzer an der Macht halten können.17 In ihrem Versuch, zwischen den beiden Polen sozialistischer Internationalität und nationaler Eigenstaatlichkeit eine kollektive Identität zu konstruieren, setzten die politischen Eliten in der DDR einerseits stark auf einen antifaschistischen Gründungsmythos,18 der sich vor allem in der Externalisierung des Nationalsozialismus bei gleichzeitiger Abgrenzung zur BRD äußerte,19 andererseits auf die Selbstdarstellung als sozialistischer (Klasse)Nation, in der die dunklen Seiten des Nationalismus zwar überwunden waren,20 Heimat aber trotzdem eine wichtige Kategorie darstellen konnte.21 Diese historische Kontextualisierung deckt sich auch mit den in der Sportberichterstattung der drei Staaten aufgetretenen Aussagen: In der DDR und in Österreich wird in den untersuchten Tageszeitungen eine kollektive nationale 13 Edgar Wolfrum, Geschichtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Der Weg zur bundesrepublikanischen Erinnerung, Darmstadt 1999, 55. 14 Lepsius, Das Erbe des Nationalsozialismus, 231. 15 Vgl. Irene Götz, Deutsche Identitäten. Die Wiederentdeckung des Nationalen nach 1989, Köln/Wien 2011, 132. 16 Vgl. Wolfrum, Geschichtspolitik, 65–85. 17 Zum Volksaufstand vom 17. Juni vgl. Klaus Schroeder, Der SED-Staat. Geschichte und Strukturen der DDR 1949–1990, Köln/Weimar/Wien 2013, 137–152. 18 Vgl. Jürgen Danyel, Die Opfer- und Verfolgtenperspektive als Gründungskonsens? Zum Umgang mit der Widerstandstradition und der Schuldfrage in der DDR, in: Ders. (Hg.), Die geteilte Vergangenheit. Zum Umgang mit Nationalsozialismus und Widerstand in beiden deutschen Staaten, Berlin 1995, 31–46, 31; Anna Wolff-Poweska, Memory as Burden and Liberation. Germans and their Nazi Past (1945–2010) (Geschichte-Erinnerung-Politik 10), Frankfurt am Main 2015, 149–150; Schroeder, SED-Staat, 715–716. 19 Vgl. Danyel, Opfer- und Verfolgtenperspektive, 41–43. 20 Vgl. Lepsius, Demokratie, 229–245; Jarausch, Normalisierung. 21 Vgl. Jan Palmowski, Die Erfindung der sozialistischen Nation. Heimat und Politik im DDRAlltag, Berlin 2014, 73–75.

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Identität deutlich offensiver konstruiert als in der BRD. Sowohl der Sieger der Internationalen Friedensfahrt 1955, Gustav-Adolf »Täve« Schur, als auch der Gewinner drei Goldmedaillen bei den Olympischen Winterspielen 1956 in Cortina d’Ampezzo, Toni Sailer, werden in den jeweiligen Tageszeitungen zu Helden der Nation hochstilisiert und eingewoben in eine nationale Heldensage des Triumphs der eigenen vorgestellten Gemeinschaft. Sie erringen ihre Siege nicht nur für sich selbst, sondern für die gesamte Nation, die sie auf dem internationalen Parkett der Sportgroßereignisse nicht nur repräsentieren, sondern legitimieren. Die Inszenierung des Sports als Epos der Nation findet dabei auf mehreren unterschiedlichen Ebenen statt. Zunächst auf einer recht direkten, indem in den untersuchten Tageszeitungen sowohl Sailer als auch Schur mit deren jeweiliger Nation gleichgesetzt werden. Ihre Eigenschaften werden zu den Eigenschaften der Nation, wie zahlreiche Artikel aus dem untersuchten Zeitraum deutlich machen. Rein exemplarisch seien an dieser Stelle zwei dieser Artikel zitiert. Zum einen ein Leitartikel von Fritz Molden, in den 1950er-Jahren einer der einflussreichsten Journalisten Österreichs,22 in der bürgerlichen österreichischen Tageszeitung »Die Presse« vom 31. Januar 1956: »Aber was noch viel wichtiger ist für den jungen Spenglergesellen aus der Kitzbüheler Altstadt wie auch für seine sieben Millionen Landsleute: er hat am Sonntag bei den Siebenten Olympischen Winterspielen in Cortina d’Ampezzo die erste Goldmedaille für Österreich erkämpft. Und am Abend ging die rot-weiß-rote Fahne gleich dreimal hoch, denn sein Klubkollege Molterer und der Lermooser Walter Schuster erreichten im Riesenslalom hinter Sailer den zweiten und dritten Platz.«23

Und zum anderen ein Leitartikel aus der offiziellen Parteizeitung der SED, »Neues Deutschland«: »Gustav Adolf Schur. Sohn der Deutschen Demokratischen Republik, Sohn des ersten Arbeiter-und-Bauern-Staates in der Geschichte unseres Volkes, du hast neuen Ruhm an die Fahnen unserer jungen Republik geheftet, hast dir verdient, daß man deinen Namen am heutigen Tag in goldenen Lettern schreibt.«24

Auch wenn sich dieser Artikel mit seinen DDR-typischen Formulierungen auf sprachlicher Ebene von der österreichischen Berichterstattung über Toni Sailer unterscheidet, so ähneln einander doch die Narrative: Schurs Herkunft wird gleich mehrmals betont – er ist einer von uns, ein Bürger der DDR – und es wird auch klargestellt, für wen er diesen Erfolg errungen hat: für uns, für die DDR. Doch Schurs Gesamtsieg wurde nicht nur dazu benutzt, die eigene Identität zu konstruieren und zu bestätigen, auch die Alterität als Bezugspunkt des eigenen, 22 Vgl. Harald Fidler, Österreichs Medienwelt von A bis Z, Wien 2008, 300–301. 23 Siege in Cortina, in: Die Presse, 31. 1. 1956, 1. 24 Ebd., 6.

Die Konstruktion nationaler Identität in der Sportberichterstattung

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Abb. 1: Gustav-Adolf Schur nach seinem Gesamtsieg bei der Internationalen Friedensfahrt 1955. (Quelle: ullstein bild/Ullstein Bild/picturedesk.com – 19550101_PD1915)

nationalen Selbst wird in diesem Zusammenhang neu konstituiert. Dieser Andere ist der kapitalistische Westen: »Dieser Geist zieht, allen Verfälschungen und Verleumdungen der Feinde des Friedens zum Trotz, immer mehr Sportler der kapitalistischen Länder in seinen Bann«25 – bemerkt dazu die »Neue Zeit« mit der Schlagzeile »Unter der Taube Picassos« auf der Titelseite, die komplett im Zeichen der deutsch-deutschen Beziehungen steht. Daher überrascht es auch nicht, dass besonders die BRD die Rolle des großen Anderen und defining other in dem zitierten Artikel übernimmt. Vor allem die Tatsache, dass keine für

25 Unter der Taube Picassos, in: Neue Zeit, 18. 5. 1955, 1.

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Westdeutschland startenden Fahrer an der Friedensfahrt teilgenommen haben, wird stark kritisiert: »So sehr wir uns über die großartigen Leistungen unserer Jungens freuen, die einer wie der andere – wenn es gerade auf ihn ankam über sich selbst hinauswuchsen, so bleibt es dennoch ein Wermutstropfen im Freudenbecher, daß wohl aus dem westlichen Ausland Nationalmannschaften fuhren, aber keine deutsche. Wenn auch mit Reinecke und Grupe zwei sich gut in unser Kollektiv einfügende Kämpen dabei waren, die voriges Jahr noch zu den besten westdeutschen Fahrern zählten, so kann das doch noch längst nicht befriedigen. Eine deutsche Nationalmannschaft wäre nicht nur sportlich noch stärker und unbestrittener Sieger dieses Rennens gewesen, sondern sie hätte auch das Ansehen der Deutschen gehoben. Eine Fahrt durch deutsche Lande ohne eine deutsche Nationalmannschaft, das ist für Deutschland keine Empfehlung.«26

Während nationale Alterität, also das Andere als konstitutives Element für das Eigene, in der Sportberichterstattung der BRD und Österreichs zumindest in den 1950er-Jahren eine eher untergeordnete Rolle spielt, ist sie in der DDR von zentraler Bedeutung. Diese Alterität ist dabei stets der andere deutsche Staat, die BRD. Und das obwohl ja gar keine Sportler aus der BRD an dem Rennen teilgenommen haben. Dazu waren mitunter beachtliche propagandistische Verrenkungen nötig, die in Sätzen wie dem folgenden mündeten: »Auf den Straßen, auf denen nach den Plänen der NATO-Strategen die Panzer der westdeutschen Söldnerarmee eines Tages in Richtung Osten rollen sollen, werden jetzt die Fahrer aus 18 Ländern im friedlichen Wettstreit kämpfen.«27 So ein Zitat aus einem großen Leitartikel im »Neuen Deutschland« am 1. Mai 1955 zum Auftakt der Internationalen Friedensfahrt. Die nationale Aufladung der sportlichen Erfolge wird im untersuchten Zeitraum zumindest in den analysierten Tageszeitungen weder in der DDR noch in Österreich zu irgendeinem Zeitpunkt hinterfragt oder gar gebrochen. Hier wird der wohl größte Unterschied zur BRD deutlich. Denn nicht nur, dass die Sprache in den drei westdeutschen Tageszeitungen eine stark entnationalisierte ist und bereits während der WM gleich mehrmals betont wird, dass die Mannschaft eben nicht für die BRD, sondern in erster Linie für sich selbst gewinne, wird eine nationale Aufladung des Sports auch selbst thematisiert. Als die westdeutsche Fußball-Nationalmannschaft 1954 ihren ersten Weltmeistertitel feierte – ein Ereignis, das in der Retrospektive zur »Gründung der Bundesrepublik im Wankdorf Stadion zu Bern«28 hochstilisiert wurde – mischten sich auch skeptische Analysen in die grundsätzlich freudige Stimmung in den drei unter26 Ebd. 27 Neues Deutschland, 1. 5. 1955, 8. 28 Vgl. Arthur Heinrich, 3:2 für Deutschland. Die Gründung der Bundesrepublik im WankdorfStadion zu Bern, Göttingen 2004.

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suchten Tageszeitungen. So forderte Hans Schiefele in einem großen Leitartikel in der »Süddeutschen Zeitung« am 6. Juli 1954 mit dem bezeichnenden Titel »Großer Sieg, großer Tag, aber nur ein Spiel«29 seine LeserInnen dazu auf, den Weltmeistertitel nicht über zu bewerten: »Aber noch im Jubelrausch rufen wir allen zu: Laßt uns wieder nüchtern werden! Das Spiel ist aus, es war ja nur ein Spiel. Das Leben geht weiter… .«30 Zwei Tage später wurde ein weiterer Kommentar in der »Süddeutschen Zeitung« noch deutlicher, nachdem DFB-Präsident Peco Bauwens in der Zwischenzeit eine ausgesprochen völkische und nationalistische Rede gehalten hatte: »Warum löst denn bei uns eine FußballWeltmeisterschaft neben der natürlichen und berechtigten Freude Reaktionen aus, die im Interesse des von politischen Absichten und nationalistischen Eifer freien echten Sportgeistes besser unterbleiben würden?« Bauwens hätte durch seine Worte »Wasser auf die Mühlen jener« gegossen, »die uns bei jeder passenden Gelegenheit sagen, wir hätten aus der Vergangenheit nicht viel gelernt.«31 Auch im Feuilleton wurde am 10. Juli der Weltmeistertitel der deutschen Nationalmannschaft und die damit verbundene Euphorie aufgegriffen. Dabei war Richard Kaufmann der einzige Autor in den untersuchten Tageszeitungen, der das Absingen der ersten Strophe des Deutschlandlieds durch die Zuschauer in Bern kritisch kommentierte: »Das Deutschlandlied, schön sauber und akzentuiert gesungen. Der alte Generalmajor a.D. geht in die Ecke und singt es mit. ›Zum ersten Male…‹, sagt er gerührt. Seit neun Jahren, denkt er.«32 Bezüge auf die NS-Zeit kommen gleich mehrmals im Artikel vor, besonders hervorzuheben ist hier wohl vor allem dieser sehr deutliche Satz: »Der Wehrmachtberichterstatter, pardon, der Reporter meldet gerade, daß eine gefährliche Situation am deutschen Tor bereinigt ist […].«33 Eine derartig kritische Distanz zur nationalen Aufladung sportlicher Erfolge wenige Jahre nach dem Ende des NS-Staates lässt sich in der analysierten Sportberichterstattung der anderen beiden Staaten absolut nicht finden. Hier wird die Skepsis der journalistischen Funktionseliten zumindest in der Qualitätspresse gegenüber dem Konzept der Nation und der nationalen Aufladung sportlicher Erfolge manifest. Gleichzeitig lässt sich für die BRD allerdings ein Unterschied zwischen dem sogenannten Boulevard und der sogenannten Qualitätspresse erkennen. Die »Bild-Zeitung« ist in der Sprache deutlich offensiver und nationaler als die »Süddeutsche Zeitung« und die »FAZ«, wenngleich weniger national als alle drei ostdeutschen und auch alle drei österreichischen Zeitungen. Dieser Unterschied 29 Hans Schiefele, »Großer Sieg, großer Tag, aber nur ein Spiel«, in: Süddeutsche Zeitung, 6. 7. 1954, 11. 30 Ebd. 31 Süddeutsche Zeitung, 7. 7. 1954, 3. 32 Süddeutsche Zeitung, 10. 7. 1954, 19. 33 Ebd.

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Abb. 2: V. l. n. r.: Hans Schaefer, Helmut Rahn mit dem Jules-Rimet-Pokal, Toni Turek, Werner Liebrich bei einer Siegesfeier im Berliner Olympiastadium nach dem Titelgewinn bei der Fußballweltmeisterschaft der Herren 1954 in der Schweiz. (Quelle: ullstein bild/Ullstein Bild/picturedesk.com – 19540718_PD0003)

deckt sich unter anderem mit der Beobachtung Aleida Assmanns, wonach politische und intellektuelle Eliten in der BRD im Umgang mit der NS-Zeit oft deutlich kritischere Positionen eingenommen und die Rolle der BRD als Nachfolgegesellschaft des NS-Staats stärker betont haben als weite Teile der Gesamtbevölkerung.34 Weil die journalistischen Eliten in der Qualitätspresse die besondere Stellung der BRD als Nachfolgegesellschaft des NS-Staates signifikant stärker reflektiert und verinnerlicht haben als ihre Kollegen vom Boulevard, ist der diskursive Rahmen, in dem sie sich bei der Konstruktion von nationaler Identität und Alterität bewegen, auch ein anderer – ein deutlich engerer – als der in der »Bild-Zeitung«. Wie bereits in der Einleitung dieses Artikels ausgeführt, werden in der Untersuchung drei teilweise sehr verschiedene Staaten und Gesellschaften miteinander verglichen. Dass es dabei mitunter große Unterschiede gibt, überrascht wohl wenig, dass sich jedoch auch starke Gemeinsamkeiten finden lassen, schon 34 Vgl. Aleida Assmann, Persönliche Erinnerung und kollektives Gedächtnis nach 1945, in: Hans Erler (Hg.), Erinnern und Verstehen. Der Völkermord an den Juden im politischen Gedächtnis der Deutschen, Frankfurt am Main 2003, 126–138, 130–132.

Die Konstruktion nationaler Identität in der Sportberichterstattung

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eher. Signifikante Ähnlichkeiten weisen vor allem die Narrative über die Sportler selbst auf: Sie werden als »bescheiden« und »sympathisch« beschrieben. Immer wieder wird betont, dass es sich bei ihnen trotz der sportlichen Erfolge nicht um Stars handle, sondern um gewöhnliche Bürger : Toni Sailer ist kein Skistar, sondern ein Spenglergeselle aus Kitzbühel, Gustav-Adolf Schur kein Radstar, sondern Teil des DDR-Kollektivs der Werktätigen. Sowohl die ostdeutsche als auch die westdeutsche Mannschaft wurde als eingeschworenes Kollektiv dargestellt, das mehr ist als die Summe ihrer Teile. Während andere Mannschaften durch hervorragende Einzelspieler und artistische Ballbehandlung punkten konnten, agierte die westdeutsche Fußballmannschaft als geschlossene Einheit, in welcher der Mannschaftsgeist wichtiger war als der Einzelne. Nach dem Sieg gegen die österreichische Mannschaft im Halbfinale betonte beispielsweise die »Bild-Zeitung« diesen Zusammenhalt: »Aber sie [die österreichischen Spieler, Anm.] hatten bei weitem nicht die mannschaftliche Geschlossenheit unserer Elf.«35 Diese Unterscheidung dient auch der Differenzierung zwischen Sportlern der DDR und der BRD. Während westliche Radsportler als Einzelkämpfer gezeichnet werden, funktioniert das ostdeutsche Team als Kollektiv. Besonders erwähnenswert ist hierbei jedoch, dass sich in der Berichterstattung über die Friedensfahrt gleich mehrere an die »Wandlung des Saulus zu Paulus« erinnernde Geschichten über westliche, kapitalistische Radsportler und Mechaniker finden lassen, die scheinbar vom völkerverbindenden Geist der Friedensfahrt angesteckt, anderen Fahrern helfen und so zum Wohl des Kollektivs arbeiten.36 Alle drei BRD-Tageszeitungen sind dagegen immer wieder bemüht zu unterstreichen, wieviel internationale Sympathie die westdeutsche Mannschaft sich durch ihre Bescheidenheit bei gleichzeitigem Erfolg erarbeiten konnte: »Die reservierte Haltung der Deutschen in allen Aussagen über ihre Chancen macht dagegen bei den Urus [Uruguayer, Anm.], wie überhaupt in der Schweiz, einen guten Eindruck.«37 Und: »Überall in der Schweiz trifft man auf Anerkennung und Bewunderung für die deutsche Fußball-Elf – die einzige Außenseitermannschaft, die die Runde der letzten Vier in der Weltmeisterschaft erreichte.«38 Die Darstellung der Mannschaft der BRD erweckt den Eindruck, die westdeutschen Fußballer sollen der bundesdeutschen Nation nach dem verlorenen Krieg, den Schrecken der NS-Zeit und der immer noch anhaltenden Besatzung als leuchtendes Beispiel dienen, um bescheiden, aber aufrecht und vor allem er-

35 36 37 38

Dietrich Warwzyn, Fritz Walters Klasse-Ecken und Elfmeter, in: Bild-Zeitung, 1. 7. 1954, 5. Vgl. »Zwischen den Speichen«, in: Neues Deutschland, 6. 5. 1955, 6. »Bei der deutschen Fußballmannschaft in Spiez«, in: FAZ, 12. 6. 1954, 5. Dietrich Wawrzyn, Alle vier sind mit ihrem Los sehr zufrieden, in: Bild-Zeitung, 29. 6. 1954, 5.

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folgreich in die Zukunft zu gehen: aufrecht, aber weit entfernt von Arroganz und gar von vergangenem Herrenmenschentum. Während in den österreichischen Tageszeitungen auch Toni Sailer immer wieder eine herausragende Bescheidenheit attestiert wurde, vergessen die Journalisten aber nicht zu erwähnen, wie großartig der Athlet Sailer und mit ihm Österreich selbst ist. Immer wieder wird in der Konstruktion der nationalen Heldenfigur Sailer betont, dass er der beste Skifahrer der Welt sei, wahrscheinlich der beste aller Zeiten, der den größten Erfolg aller Zeiten eingefahren habe – immer mit dem Hinweis, dass er Österreicher ist und seine Erfolge für Österreich und für das österreichische Volk errungen habe: »Nach dem grandiosen Erfolg unseres Ski-Wunderteams am Sonntag, das erstmals in der Geschichte der Olympischen Spiele alle drei Medaillen in einer alpinen Konkurrenz gewann, wobei der ›König der Skifahrer‹, Toni Sailer, nach einer phänomenalen, unübertrefflichen Leistung die weltbesten Rennläufer einfach deklassierte, ist Österreichs Skisport in aller Munde. […] Wird Österreich, das als das beste alpine Skiland der Welt bezeichnet werden kann, wieder Grund zum Jubel haben?«39

Schon diese kurze Meldung am Titel der »Kleinen Zeitung« strotzt von Superlativen, sowohl über Toni Sailer selbst als auch über Österreich, und lässt eine besonders offensichtliche Lesart zu: »Wir« sind (wieder) wer! Auch in der »Kleinen Zeitung« wird schon am Titel die Verbindung Toni Sailers zu »ganz« Österreich klar : »Nicht nur Toni Sailer strahlt – ganz Österreich freut sich über seinen überlegenen Triumph«40 – so die Bildunterschrift eines Fotos auf der Titelseite. Und auch im Blattinneren ging es in diesem Ton weiter, gleich zwei Mal – sowohl im Untertitel, als auch im Header – der ausführlichen Reportage über den Herrenriesenslalom unter dem Titel »Einmaligen Erfolg errang unser SkiWunderteam«41 wird die »Leistung Österreichs« in einen historischen Zusammenhang gestellt: »Größter Triumph, den je eine Nation in einem alpinen Skirennen feiern konnte.«42 Die Narrative über den Skifahrer Toni Sailer decken sich mit dem hegemonialen Selbstbild Österreichs: Ein kleiner, bescheidener und einfacher Mann – oft wird auch die Formulierung »Bub« verwendet – der als Einzelkämpfer auf der großen Weltbühne für Furore sorgt und die Herzen aller im Sturm erobert. Er will kein Star sein, sondern in Ruhe in seinem kleinen Ort am Land leben – trotzdem ist er der Beste. Er tritt nicht laut und polternd auf oder überwindet seine Gegner mit schierer Kraft, sondern ist elegant und geschmeidig. Ganz anders die westdeutsche Fußballnationalmannschaft – sie wird immer wieder als 39 40 41 42

Österreich setzt Erfolgsserie fort: Schöpf erobert »Silberne«, in: Kleine Zeitung, 31. 1. 1956, 1. Ebd. Ebd., 11. Ebd.

Die Konstruktion nationaler Identität in der Sportberichterstattung

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Abb. 3: Toni Sailer mit seinen drei bei den Olympischen Winterspielen von Cortina D’Ampezzo 1956 gewonnen Goldmedaillen. (Quelle: Gerd Herold/dpa/picturedesk.com – 19560203_ PD0002)

das Gegenteil der eleganten und verspielten gegnerischen Mannschaften charakterisiert. Nicht von ungefähr erinnern die Beschreibungen der deutschen Spieler aber auch an typisch soldatische Tugenden und sind oft in einer ausgesprochen martialischen, an den Krieg erinnernden Sprache verortet. Das deutsche Team spielt nicht, es kämpft, die anderen Spieler sind keine Gegner, sondern werden quasi zu Feinden, das Aufeinandertreffen ist kein sportliches SichMessen, sondern wird als eine Schlacht bezeichnet. Es überrascht nicht, dass ein kritisch zeitgenössischer Beobachter im Feuilleton der »Süddeutschen« die Reporter ironisch mit Wehrmachtsberichterstattern verwechselt. Es wirkt mitunter so, als hätten die Redakteure vor allem in der »Süddeutschen« und der »FAZ« Schwierigkeiten, eine geeignete Sprache zu finden und wählen eine ambivalente Herangehensweise. Während die »FAZ« zurückhaltend und distanziert bleibt und beispielsweise auf das vereinnahmende »unsere« in Bezug auf die

290

Martin Tschiggerl

deutsche Mannschaft fast vollkommen verzichtet, gibt die »Süddeutsche« auch kritischen und zur Mäßigung rufenden Stimmen Platz.

IV.

Conclusio

Die Divergenz in der Konstruktion nationaler Identität und Alterität mit der DDR und Österreich auf der einen und der BRD auf der anderen Seite, zeigt die langen Schatten der NS-Zeit als identitätskonkrete Konstante des jeweiligen kollektiven Gedächtnisses auf: Die Internalisierung des Nationalsozialismus als Fragment des eigenen, nationalen Selbst hat die Sagbarkeiten zur Nation in der BRD zumindest im untersuchten Verhandlungsspielraum der Sportberichterstattung maßgeblich geprägt, ebenso wie es die Externalisierung in den anderen beiden untersuchten Gesellschaften getan hat: Sowohl die Funktionseliten der DDR als auch Österreichs haben den Nationalsozialismus in den 1950er-Jahren quasi an die BRD ausgelagert und konnten daher deutlich offensiver und ohne Rücksicht auf die Lasten der eigenen Vergangenheit eine neue nationale Identität konstruieren. »Erinnern heißt, eines Geschehens so ehrlich und rein zu gedenken, daß es zu einem Teil des eigenen Innern wird«43 ist ein viel zitierter Satz aus Richard von Weizäckers berühmter Rede vom 8. Mai 1985 und verweist auf den zentralen Anspruch dieser Analyse, die Tragweite unterschiedlich konstruierter Erinnerung für das »Innere« der jeweiligen Nationen aufzuzeigen. Die NS-Zeit als faktische Konstante44 wurde in den drei untersuchten Gesellschaften völlig unterschiedlich kollektiv erinnert, woraus sich gänzlich unterschiedliche Sagbarkeiten im diskursiven Komplex nationale Identität beziehungsweise nationale Alterität ergeben haben. Diese zeigt – so die Conclusio dieses Artikels – einmal mehr das dialektische Verhältnis von Gegenwart und historischer Vergangenheit: Beide sind als Konstruktionen Ergebnis eines diskursiven Prozesses und stets aufeinander verwiesen. Unsere Vorstellungen davon, was einmal war, bestimmen unsere Vorstellungen davon was ist und was einmal sein kann. Die in dem vorliegenden Artikel untersuchte Sportberichterstattung diente hierbei als Schablone, um eben diese Dialektik aufzuzeigen, sie sollte sich aber auch in anderen kulturellen Phänomenen dieser drei Gesellschaften erkennen lassen. Dies könnte einen Anspruch für zukünftige Arbeiten darstellen. 43 Richard von Weizäcker, Rede zum 40. Jahrestag der Beendigung des Krieges in Europa und der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft im deutschen Parlament am 8. Mai 1985, URL: http://webarchiv.bundestag.de/archive/2006/0202/parlament/geschichte/parlhist/dokumen te/dok08.html (abgerufen 28. 10. 2017). 44 Zum Begriff des historischen »Fakts« vgl. Alun Munslow, Deconstructing History, New York 2007, 6–8; Alun Munslow, The Routledge Companion to History Studies, New York 2006, 107–109.

Andreas Maier

Im patriotischen Abseits. Über die Nicht-Rezeption ausgewählter Leichtathletik-Biografien im österreichischen Sport

I.

Einleitung

In diesem Beitrag werden Biografien aus der Leichtathletik vorgestellt, deren gemeinsames augenfälliges Merkmal ihre Nicht-Rezeption durch die österreichische Sportöffentlichkeit ist, obwohl bedeutende Erfolge und markante zeitgeschichtliche Ereignisse mit ihnen verbunden sind. Es geht im Sport-Images, die es nicht ins nationale Gedächtnis Österreichs geschafft haben. Fragen von Emigration und Immigration sowie die Eingrenzung der Wahrnehmung auf den nationalen Rahmen und entsprechende identitätsbildende Narrative sind zentrale, aber nicht die einzigen Gründe für die weitgehende Unbekanntheit der Personen und der dazugehörigen Geschichten. Nicht zuletzt soll die Frage gestellt werden, was diese Nicht-Rezeption über den österreichischen Sport und die Gesellschaft erzählen kann. Der eine, Franz Stampfl, wurde 1913 in Wien geboren und ist auch dort aufgewachsen. Er hat Österreich 1937 verlassen und war Mitte der 1950er-Jahre einer der weltweit erfolgreichsten Trainer. Als Coach des britischen Läufers Roger Bannister, der als erster Mensch eine Meile unter vier Minuten gelaufen ist, ermöglichte er ein bahnbrechendes Stück Sportgeschichte. Die anderen Unbekannten, S#ndor Rozsnyji, L#szlo T#nay, Josef Cegledi und Benö Mjlnar, stammten aus Ungarn und waren zum Teil Weltklasseläufer. Sie sind Ende 1956 im Zuge des Ungarischen Volksaufstandes nach Wien geflüchtet und konnten sich dauerhaft hier niederlassen. Besonderes Augenmerk wird auf S#ndor Rozsnyji gelegt, der damals Weltrekordhalter im 3.000-Meter-Hindernislauf war und Österreich aufgrund mangelnder Arbeitsmöglichkeiten als professioneller Trainer nach sieben Jahren wieder verließ.

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Andreas Maier

Abb. 1: International höchst erfolgreich, aber in Österreich unbekannt: Der aus Wien stammende Leichtathletiktrainer Franz Stampfl (mit Kappe) mit drei von ihm trainierten Läufern. Links Chris Brasher, Olympiasieger im 3.000 m Hindernislauf 1956, daneben Roger Bannister, rechts Chris Chataway, Weltrekordläufer über 5.000 m. Das Bild ist am 6. Mai 1954 in Oxford entstanden, nachdem Roger Bannister, unterstützt von den Tempomachern Brasher und Chataway, als erster Mensch die 4-Minuten-Marke im Meilenlauf unterboten hat. (Quelle: Privatarchiv Anton Stampfl. Veröffentlicht in: Franz Stampfl, On Running, New York 1955, Illustration zwischen den Seiten 144 und 145. Fotograf: H. A. Meyer)

Über die Nicht-Rezeption ausgewählter Leichtathletik-Biografien

II.

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Franz Stampfl – das in Österreich unbekannte Trainergenie

Abb. 2: Olympia-Ausweis von Franz Stampfl für die Spiele in Berlin 1936. (Quelle: Privatarchiv Anton Stampfl)

Das Bild zeigt Franz Stampfls österreichischen Ausweis von den Olympischen Spielen in Berlin 1936 mit einem Porträtfoto von ihm, seiner Unterschrift, seinem Geburtsdatum und der Wohnadresse seiner Familie in Wien-Ottakring (Nauseagasse 15). Der Ausweis befindet sich im Nachlass von Franz Stampfl bei dessen Sohn Anton Stampfl in Sydney, Australien. Das Bild des Ausweises stellt unmittelbar die Verbindung von Franz Stampfl zu Österreich und seinen An-

294

Andreas Maier

fängen in der Leichtathletik her. Er war in Berlin 1936 als Trainer für das österreichische Team vor Ort.

2.1

Biografie und sportliche Erfolge

Franz Ferdinand Leopold Stampfl wurde am 18. November 1913 in Wien geboren und ist hier in einfachen Verhältnissen in einer Familie mit sieben Kindern aufgewachsen.1 Er besuchte für kurze Zeit die Kunstgewerbeschule (heute »Universität für angewandte Kunst«) und brachte es in der Leichtathletik zum österreichischen Juniorenmeister im Speerwurf 1935.2 Durch Interesse am Coaching und aufgrund seiner Englischkenntnisse wurde er als eine Art Assistenz-Trainer für den aus den USA nach Österreich geholten LeichtathletikCheftrainer Harold Bruce in das Olympia-Betreuerteam für Berlin 1936 aufgenommen. Im Mai 1937 verließ Stampfl Wien in Richtung London.3 Ein Mix von privaten, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Gründen führte diese Entscheidung herbei, darunter wohl auch eine Sperre durch den Österreichischen Leichtathletik-Verband in Folge der Olympischen Spiele von Berlin wegen angeblich »gröbster Unsportlichkeit«.4 Der Weggang war von Stampfl nicht auf Dauer geplant. Er wollte Erfahrungen sammeln und wieder nach Österreich zurückkehren. Die erste Zeit in London lebte Stampfl bei der aus Wien emigrierten jüdischen Familie Ronay, zu der er bereits in Wien engen Kontakt hatte. Der »Anschluss« Österreichs 1938 veränderte Stampfls Situation in England grundlegend. Nach der Machtübernahme Hitlers wollte er nicht mehr nach Wien zurückkehren, da er dem Nationalsozialismus ablehnend gegenüberstand.5 Nach Kriegsbeginn 1939 begann Großbritannien mit der Befragung und Kategorisierung der so bezeichneten enemy aliens, Ausländer, deren Staat sich im Kon1 Detaillierte Angaben zu diesem Kapitel, insbesondere zu den archivalischen Quellen, finden sich in: Andreas Maier, Franz Stampfl: Trainergenie und Weltbürger, Wien/Salzburg 2013. 2 Leichtathletik Juniorenmeisterschaften, in: Sport-Tagblatt, 24. 6. 1935, 6. 3 Franz Stampfl nach England, in: Sport-Tagblatt, 5. 5. 1937, 4. Vgl. dazu Maier, Stampfl, 41. 4 Bestrafung von Leichtathleten, in: Sport-Tagblatt, 25. 9. 1936, 1; Maier, Stampfl, 32–33. Insgesamt acht Personen aus dem österreichischen Leichtathletik-Olympiateam wurden sanktioniert. Stampfl erhielt gemeinsam mit dem 800-Meter-Läufer Emil Hübscher die längste Sperre aller Betroffenen, nämlich bis 31. 12. 1938. Die genauen Hintergründe dafür bleiben unklar. Bekannt ist, dass es in Berlin zum Streit zwischen Athleten und Funktionären gekommen war. Die Sportler fühlten sich schlecht über bevorstehende Starts informiert. Mehrere Aktive wiederum haben sich den Anordnungen der Teamleitung widersetzt und nachts das Olympische Dorf verlassen. 5 Stampfl warnte bei seiner Rückkehr von den Olympischen Spielen in Berlin 1936 im privaten Kreis vor dem Erstarken des Nationalsozialismus, wie sein Bruder Otto Stampfl berichtete (Maier, Stampfl, 30).

Über die Nicht-Rezeption ausgewählter Leichtathletik-Biografien

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fliktzustand mit Großbritannien befand. Aufgrund der durch den deutschen Vormarsch hervorgerufenen Angst vor einer »Fünften Kolonne« erfolgten im Frühjahr 1940 Masseninternierungen.6 Auch Stampfl, der eigentlich gegen NaziDeutschland kämpfen wollte, wurde verhört und in England interniert.7 Zur Entlastung der eigenen Kapazitäten versuchte Großbritannien einen Teil der Internierten nach Kanada und Australien abzuschieben. Stampfl wurde in einer 58-tägigen Überfahrt von Liverpool nach Sydney (von 10. Juli bis 6. September 1940) auf dem Truppentransportschiff HMT »Dunera« unter verheerenden sanitären Bedingungen gemeinsam mit etwa 2.500 Internierten nach Australien deportiert; mehr als 700 davon waren österreichischer Herkunft.8 Er verbrachte 16 Monate in den Internierungslagern Hay (New South Wales) und Tatura (Victoria). Ab 1942 diente er in der 8th Employment Company der australischen Armee, die hauptsächlich Arbeitseinsätze und infrastrukturelle Aufgaben zu erfüllen hatte. In dieser Zeit lernte er seine spätere Ehefrau Patricia Cussen kennen, eine Enkelin des hochrangigen australischen Juristen Leo Cussen. Stampfls Versuche, außerhalb des Militärs in Australien beruflich Fuß zu fassen, glückten zunächst nicht. 1946 kehrte er nach Großbritannien zurück, wo er an seine Vorkriegskontakte anknüpfen konnte und als angestellter Trainer in Nordirland sowie ab 1951 als Sportartikelverkäufer und freiberuflicher Trainer in London tätig war. Sein herausragender Erfolg war die erste Meile unter 4 Minuten, die Roger Bannister mit der Zeit von 3:59,4 Minuten am 6. Mai 1954 in Oxford gelaufen ist – ein Weltrekord, der aufgrund seiner modernen Herangehensweise mit exaktem Rennplan und dem Einsatz von Tempomachern, seiner Wirkungsgeschichte mit zahlreichen, auch aktuellen Publikationen9 und seiner Mythenbildung um eine vermeintlich unüberwindbare Barriere zu den prägenden Ereignissen der internationalen Leichtathletik zählt. Das Brechen der 4-Minuten-Marke wurde auf 6 Wolfgang Muchitsch, Österreicher im Exil, Großbritannien 1938–1945. Eine Dokumentation, Wien 1992, 53–56. 7 Elisabeth Lebensaft/Christoph Mentschl, The Man behind the Four-Minute-Mile, Österreichisches Biographisches Lexikon, Biographie des Monats (November 2013), URL: https:// www.oeaw.ac.at/fileadmin/Institute/INZ/Bio_Archiv/bio_2013_11.htm (abgerufen 20. 1. 2018). 8 Elisabeth Lebensaft/Christine Kanzler, Auf der Dunera nach Down Under : Deportationen deutschsprachiger Flüchtlinge nach Australien, in: Hiltrud Häntzschel/Inge Hansen-Schaberg/Claudia Glunz/Thomas F. Schneider (Hg.), Exil im Krieg 1939–1945, Osnabrück 2016, 67–76, 68. Vgl. zur Präsenz der »Dunera Boys« in Australien; Birgit Lang, The Dunera Boys: Dramatising history from a Jewish perspective, in: Richard Dove (Hg.), »Totally Un-English?«: Britain’s internment of »enemy aliens« in two world wars, Amsterdam/New York 2005, 179– 192. 9 Roger Bannister, Twin Tracks. The Autobiography, London 2014; Tom Ratcliffe, Bannister : Everest on the Track. 60 min, USA / UK 2016. URL: http://www.imdb.com/title/tt4506980/ (abgerufen 3. 3. 2018).

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Andreas Maier

eine Ebene mit der 1953 erfolgten Erstbesteigung des Mount Everest gestellt und entwickelte sich zu einem stark national aufgeladenen Ereignis für das damals noch vom Zweiten Weltkrieg geschwächte Großbritannien.10 Noch mehr als 60 Jahre danach ist die »Sub-4 Meile« im öffentlichen Diskurs präsent, sei es in der Verwendung von Motivations-Coaches oder als historische Referenzmarke bei Projekten, die 2-Stunden-Marke im Marathonlauf zu unterbieten. Das starke weltweite Medienecho auf den Tod von Roger Bannister am 3. März 2018 unterstreicht die Strahlkraft seines sportlichen Erfolges. Franz Stampfl hat dieses Meilenrennen vorbereitet und geplant. Er war nicht nur Trainer von Roger Bannister, sondern auch von beiden Tempomachern, Chris Brasher und Chris Chataway. Chataway erzielte im gleichen Jahr einen Weltrekord über 5.000 Meter. Nach diesem Erfolg publizierte Stampfl sein damaliges Trainingswissen in einem Buch mit dem Titel »On Running«11, das die Trainingsmethoden in der Leichtathletik stark beeinflussen sollte. Stampfl war ein Verfechter des Intervalltrainings und eines langfristig strukturierten Trainingsaufbaus und legte großen Wert auf die mentale Vorbereitung. 1955 nahm er das Angebot einer Trainerstelle in Australien an. 1956 wurde ihm die australische Staatsbürgerschaft zuerkannt. Mehrere Jahrzehnte war er an der Universität Melbourne als Leichtathletiktrainer tätig. Bis 1980 kam er mehrfach zu Familienbesuchen nach Wien. Es gab einzelne Kontakte zur österreichischen Leichtathletik, da sein Bruder Josef Stampfl in der Sportszene verankert und in den Jahren 1973 und 1974 Präsident des Wiener LeichtathletikVerbandes war. Bis auf wenige Ausnahmen hat aber praktisch niemand von ihm Notiz genommen.12 Einen schweren Verkehrsunfall in Melbourne Ende 1980 hat Stampfl knapp überlebt. Er blieb von den Schultern abwärts gelähmt. Bis kurze Zeit vor seinem Tod am 19. März 1995 arbeitete er weiter vom Rollstuhl aus als Trainer. Stampfl feierte zusätzlich zur »Sub-4 Meile« mit von ihm betreuten SportlerInnen zahlreiche Erfolge in der Leichtathletik. Zwei Olympiasiege 1956 (Chris Brasher im 3.000-Meter-Hindernislauf) und 1968 (der Australier Ralph Doubell im 800-Meter-Lauf), drei weitere Olympiamedaillen, mehrere Weltrekorde, Europameistertitel und Siege bei Commonwealth-Meisterschaften stehen auf seiner Erfolgsliste. In Großbritannien13, Australien14, in den USA und in Kanada 10 John Bale, Roger Bannister and the Four-minute Mile. Sports Myth and Sports History, Oxon 2004, 2–5. 11 Franz Stampfl, On Running, New York 1955. 12 Ein von ORF-Redakteur Roland Knöppel mit Franz Stampfl bei einem der Besuche in Wien geführtes Interview ist nicht erhalten geblieben. 13 Auszeichnung mit dem Orden MBE am 13. 6. 1981 »for his service to the sports of athletics«. 14 Aufnahme als Associate Member in die »Sports Australia Hall of Fame« am 5. 12. 1989. Aufnahme in die »Athletics Australia Hall of Fame« am 18. 11. 2013 (posthum) anlässlich

Über die Nicht-Rezeption ausgewählter Leichtathletik-Biografien

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wurde er von öffentlichen Stellen mit Auszeichnungen oder Hall of Fame-Aufnahmen geehrt. Von 1936 bis 1980 war er bei allen Olympischen Sommerspielen persönlich anwesend. Bis 1984 haben von ihm trainierte AthletInnen an Olympischen Spielen teilgenommen.

2.2

Gründe für die Nicht-Rezeption

Die Erfolge und die Biografie Franz Stampfls wurden in Österreich bis vor wenigen Jahren praktisch nicht rezipiert. Dies steht in deutlichem Kontrast zu seiner internationalen Bedeutung und seinen Erfolgen in einer Weltsportart. Auch Stampfl selbst setzte keine Schritte zu einer Kontaktaufnahme mit dem österreichischen Sport. Hier ein paar Erklärungsversuche: a) Räumliche und emotionale Distanz: Stampfl feierte seine Erfolge in Großbritannien und Australien mit Sportlern größtenteils aus diesen Ländern. Ab 1937, als er von Wien wegging, entwickelte sich ein völlig anderer Erfahrungshintergrund im Vergleich zu Menschen, die weiterhin in Österreich lebten. b) Innensicht und Außenwirkung: Als Stampfl in den 1950er-Jahren seine ersten Erfolge hatte, war Österreich auf eigene Probleme und das eigene (noch nicht oder gerade erst wieder selbstständige) Land fokussiert. Themen wie der Wiederaufbau und die Stärkung der Nation waren auch im Sport zentral. Österreichische Sporterfolge und die Präsenz bei internationalen Bewerben waren zudem im Sinn eines nach Außen wirkenden Nachweises von Existenz und Eigenständigkeit des Landes relevant.15 Ereignisse wie die »4-Minuten-Meile« oder Erfolge eines Wiener Trainers in Australien boten dafür keine Anknüpfungspunkte. c) Tabuisierte Vergangenheit: Die Unbekanntheit Stampfls korrespondiert mit dem damals unklaren und konfliktbeladenen Verhältnis der ÖsterreicherInnen gegenüber der Zeit des Nationalsozialismus und davor. Die oft tabuisierte Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit trat hinter materielle und alltägliche Sorgen zurück. Eine singuläre Migrationsbiografie wie jene Stampfls, der keiner Gruppe zugeordnet werden konnte, hatte es schwer, überhaupt wahrgenommen zu werden. Vielleicht gab es auch die Meinung, dass jemand, der Österreich verlassen hat, anscheinend einen leichten Weg gewählt hätte. seines 100. Geburtstages. URL: http ://athletics.com.au/About-Us/Hall-of-Fame/FranzStampfl (abgerufen 3. 3. 2018). 15 Matthias Marschik, Vom Idealismus zur Identität. Der Beitrag des Sportes zum Nationsbewußtsein in Österreich (1945–1950), Wien 1999, 174–175, 178.

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Andreas Maier

d) Stampfl fiel auch in Großbritannien bis zu einem gewissen Grad durch das Raster der öffentlichen Wahrnehmung, da die »Sub-4 Meile« zur patriotischen Feierstunde wurde. Roger Bannister selbst schrieb in seiner Autobiografie über das Meilenrennen: »The secret, I think, was that we realised it would be a first for Britain, a national achievement, and for British athletics. It was old-fashioned patriotism in the best sense, which is less popular today.«16 Ebenso sah Bannister seine Motivation zum Brechen der »4-Minuten-Meile« als eine Art Ehrensalut den gefallenen britischen Soldaten gegenüber und eine Vergewisserung der eigenen persönlichen Stärke, da er selbst während des Zweiten Weltkriegs zu jung zum Kämpfen gewesen war.17 Im sportlichen Erfolg der strahlenden jungen Briten konnte ein ausländischer Trainer, der einige Jahre davor als enemy alien interniert und deportiert worden war, keinen bedeutenden Platz einnehmen.

III.

Österreichische Läufer aus Ungarn

Abb. 3: Vier österreichische Läufer aus Ungarn, 1957. (Quelle: Privatarchiv L#szlo T#nay)

16 Bannister, Twin Tracks, 126. 17 Ebd.

Über die Nicht-Rezeption ausgewählter Leichtathletik-Biografien

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Das Bild zeigt vier aus Ungarn stammende österreichische Leichtathleten. Von links die Mittelstreckenläufer L#szlo T#nay und Josef Cegledi (1933–2017), den Sprinter Benö Mjlnar und den Hindernislauf-Spezialisten S#ndor Rozsnyji (1930–2014) im Vereinsdress des Wiener Athletik-Sport Clubs (WAC) mit dem stilisierten Doppeladler als Symbol des 1896 gegründeten Allround-Sportvereins in einer Aufnahme aus dem Jahr 1957.

3.1

Biografien und sportliche Erfolge

Rund 180.000 Menschen waren als Folge des ungarischen bürgerlich-demokratischen Volksaufstandes im Herbst 1956 binnen weniger Wochen nach Österreich geflüchtet. Verständlicherweise befanden sich unter diesen auch viele Sportler und einige Sportlerinnen.18 Dabei nahmen die Leichtathleten S#ndor Rozsnyji, L#szlo T#nay, Josef Cegledi und Benö Mjlnar in mehrfacher Hinsicht eine Sonderstellung ein. T#nay und Mjlnar waren vor der Flucht in Budapest aus politischen Gründen inhaftiert gewesen.19 Rozsnyji war nach seiner Teilnahme an den Olympischen Spielen von Melbourne im November 1956 nicht nach Ungarn zurückgereist, sondern nach Wien gekommen, wo bereits seine Familie lebte. Die vier Leichtathleten ließen sich, anders als die meisten anderen SportlerInnen, dauerhaft hier nieder oder hatten die Absicht dazu. Generell war die Sportbeziehung zwischen Österreich und Ungarn aus historischer Sicht und aufgrund der damals deutlichen Leistungsunterschiede zum Vorteil Ungarns eine spezielle. Noch in der Zwischenkriegszeit agierten die beiden Länder sportlich auf Augenhöhe, seit den späten 1940er-Jahren überholte Ungarn das Nachbarland, sowohl im Fußball als auch in der Leichtathletik. Aufgrund ihrer Leistungsstärke übten die aus Ungarn gekommenen Läufer einen bedeutenden Einfluss auf die österreichische Leichtathletik aus. Rozsnyji zählte als aktueller Weltrekordhalter und Olympia-Zweiter 1956 über 3.000 Meter Hindernis zur absoluten Weltspitze. 1954 hatte er zudem den Europameistertitel über diese Distanz gewonnen. T#nay hatte 1954 für Ungarn die Bronzemedaille bei den Weltspielen der Studenten über 800 Meter geholt. Die vier waren den damals besten österreichischen Athleten in ihren jeweiligen Disziplinen meist überlegen. Die sportliche Bilanz des Quartetts in und für Österreich in den Jahren 1957 bis 1960 fiel beeindruckend aus: 20 nationale 18 Die Angaben in diesem Kapitel beziehen sich, sofern nicht spezifisch angeführt, auf diese Veröffentlichungen: Andreas Maier/Matthias Marschik, Flucht oder Migration? Ungarische Sportler_innen in Österreich ab 1956: Debatten und Narrative in Fußball und Leichtathletik, in: SportZeiten 17 (2017) 3, 7–38; Andreas Maier, Flucht nach vorne, in: RunUp – Magazin für eine neue Lauf- und Bewegungskultur 11 (2017) 1 (Winter 2017), 30–35. 19 Interview mit L#szlo T#nay, geführt von Andreas Maier, 7. 11. 2016, Aufnahme beim Autor.

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Meistertitel, etliche zum Teil langjährige österreichische Rekorde, Erfolge bei Länderkämpfen und internationalen Meetings sowie Gold über 1.500 Meter und Silber über 800 Meter durch Josef Cegledi bei den Weltspielen der Studenten in Paris 1957, einem unmittelbaren Vorläufer der »Universiade«, stehen zu Buche. Die vier Leichtathleten wurden bei der Sportausübung sowie bei der Wohnungs- und Arbeitssuche von Sportkollegen, vom WAC und vom Österreichischen Olympischen Comit8 (ÖOC) wohlwollend unterstützt. Neben humanitären Beweggründen muss auch der Wunsch nach einer Stärkung des österreichischen Sommersports als Motiv gesehen werden. Bereits im Juli 1957 erhielten alle vier auf Betreiben von ÖOC-Generalsekretär Edgar Fried im Rahmen einer Feier im Wiener Rathaus die österreichische Staatsbürgerschaft.20 Dieser Zeitpunkt nur gut ein halbes Jahr nach ihrer Ankunft in Österreich war außergewöhnlich früh. Der Publizist Paul Lendvai musste beispielsweise zwei Jahre länger auf die Staatsbürgerschaft warten, wie er in seinen »Erinnerungen« kritisch anmerkt: »Wäre ich ein Spitzensportler wie S#ndor Rozsnyji […] gewesen, ich hätte sie schon nach ein paar Wochen gehabt, so aber dauerte es zweieinhalb Jahre.«21 Die Verleihung der Staatsbürgerschaft an Rozsnyji, T#nay, Cegledi und Mjlnar ist einer der ersten oder vielleicht der erste Fall aktiver Einbürgerung von Spitzensportlern in Österreich. Rund um die Staatsbürgerschaftsverleihung entstanden Debatten, die eine Verdrängung der österreichischen Athleten durch ungarische Sportler und ein unerwünschtes Eindringen in das nationale Sportgeschehen sahen.22 Ganz anders als die medial intensiv diskutierte Anwesenheit von Ungarns Fußball-Elite, darunter der legendäre Kapitän der ungarischen Nationalmannschaft Ferenc Pusk#s23, in Wien nach dem Volksaufstand blieben die Leichtathleten medial eher im Abseits. Die durch die Einbürgerung erhoffte Verstärkung für Österreichs Leichtathletik bei internationalen Meisterschaften trat nicht ein, da die Ex-Ungarn weder bei Europameisterschaften noch bei Olympischen Spielen eine Starterlaubnis erhielten. S#ndor Rozsnyji und Josef Cegledi waren im August 1958 sogar mit dem österreichischen Nationalteam zu den Leichtathletik-Europameisterschaften nach Stockholm gereist, um dort zu erfahren, dass sie nicht starten durften. Offenbar protestierte Ungarn gegen die Teilnahme der beiden Läufer, woraufhin die Regelkommission des Leichtathletik-Weltverbandes (IAAF) deren Start untersagte – eine Entscheidung, die man, so die »Arbeiter-Zeitung«, »mild beur20 21 22 23

Wie lange hält Klabans Rekord?, in: Arbeiter-Zeitung, 30. 7. 1957, 10. Paul Lendvai, Leben eines Grenzgängers: Erinnerungen, Wien 2013, 14. Maier/Marschik, Flucht oder Migration, 26. Matthias Marschik, Die ›undankbare‹ Aranycsapat: Die Rezeption ungarischer Fußballer in Wien nach dem Volksaufstand von 1956, in: Mitteleuropazentrum an der Andr#ssy Universität Budapest (Hg.), Jahrbuch für Mitteleuropäische Studien 2015/2016, Wien 2017, 173–202.

Über die Nicht-Rezeption ausgewählter Leichtathletik-Biografien

301

teilt, nur als konfus bezeichnen kann«.24 Rozsnyji und Cegledi mussten wieder abreisen, da eine 5-Jahres-Frist für internationale Meisterschaftsstarts nach Nationenwechsel galt. S#ndor Rozsnyji beendete nach diesem missglückten Ausflug seine aktive Laufbahn. Der gleiche Vorgang wiederholte sich bei den Olympischen Spielen in Rom 1960. Cegledi war im österreichischen Aufgebot für den 1.500 Meter Lauf und hatte in Bern eine international stark besetzte Olympiageneralprobe gewonnen. Knapp vor Beginn der olympischen Leichtathletikbewerbe wies der internationale Verband jedoch die Nennung Cegledis zurück, da er früher bereits bei einem Länderkampf für Ungarn angetreten war.25 Cegledi konnte trotz Protests von österreichischer Seite nicht bei den Olympischen Spielen antreten. Die IAAF habe dies »in nicht ganz einwandfreier Weise« entschieden, was für Cegledi einen »besonders schmerzlichen Abschied von der Aschenbahn« bedeutete, so der Österreichische Leichtathletik-Verband.26 Ob diplomatische Naivität auf Seiten Österreichs, ein nur halbherziges Engagement für die Ex-Ungarn oder geopolitische Einflüsse in Zeiten des Ost-WestKonflikts dafür ausschlaggebend waren, ist im Nachhinein nicht mehr festzustellen. S#ndor Rozsnyji blieb nach den Europameisterschaften 1958 als Trainer in der Leichtathletik tätig und wollte damit seinen Lebensunterhalt verdienen. Der in Ungarn ausgebildete Sportlehrer, ehemalige Weltklasseläufer und Spieler der ungarischen Jugend-Nationalmannschaft im Basketball brachte alle Voraussetzungen dafür mit. Er betreute viele Läufer und verbreitete sein Know-how, eine echte berufliche Basis fand er jedoch nicht. Er wurde wohlwollend unterstützt und erhielt eine Wohnung für seine Familie im Wiener »Haus des Sports« an der Adresse Prinz-Eugen-Straße 12. Mehrfach wurde ihm von politischer Seite in Aussicht gestellt, dass eine Sportakademie in Wiener Neustadt gegründet werde und er als Leiter vorgesehen sei.27 Dies erwies sich jedoch als Trugbild. Dem österreichischen Sport fehlte sichtlich eine geeignete Aufgabe für Rozsnyji. Ende 1963 wanderte er mit seiner Frau und seinen beiden Söhnen – einer war in Wien zur Welt gekommen – nach Australien aus, wo qualifizierte Einwanderer gefragt waren. Für Rozsnyji stand eine Stelle als Sportlehrer in Melbourne, später in Sydney, bereit. »Er ist in Wien nicht schlecht behandelt worden, aber es gab keinen Job, der seinen Fähigkeiten entsprochen hat. In Wien wäre er verkommen«, sagt Helmut Hofmann, ein persönlicher Bekannter Rozsnyjis und ehemaliger Präsident des Wiener 24 Die ersten Entscheidungen in Stockholm, in: Arbeiter-Zeitung, 20. 8. 1958, 10. 25 Darf Csegledi nicht starten?, in: Arbeiter-Zeitung, 3. 9. 1960, 12. 26 Bilanz der österreichischen Leichtathletik in Rom, in: Mitteilungen des ÖLV, 1960 (6), 12, URL: http://oelv.at/static/history/1960_6.pdf (abgerufen 19. 1. 2018). 27 Interview mit Helmut Hofmann, geführt von Andreas Maier, 18. 10. 2016, Aufnahme beim Autor.

302

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Leichtathletik-Verbandes.28 Rozsnyji war in Australien als Lehrer und Leichtathletiktrainer tätig und baute Basketball-Veranstaltungen auf. Am 2. September 2014 verstarb er im 84. Lebensjahr in Sydney.29 Zum Zeitpunkt der Fertigstellung dieses Beitrags im Jänner 2018 sind Laszlo T#nay und Benö Mjlnar noch am Leben. Josef Cegledi starb am 5. November 2017 in Wien.30

3.2

Gründe für die Nicht-Rezeption

Auch hier einige Erklärungsversuche, warum diese Geschichte mit ihren Protagonisten in Österreich wenig bekannt ist. a) S#ndor Rozsnyji, der sportlich erfolgreichste Läufer des Quartetts, hatte seine größten Erfolge für Ungarn erzielt, bevor er nach Österreich kam. b) Die fehlende Startmöglichkeit bei Europameisterschaften und Olympischen Spielen für Österreich verhinderte möglicherweise respektable Erfolge und damit eine größere Bekanntheit von Rozsnyji und Cegledi. c) Es spricht nicht für die Professionalität der österreichischen Sportinstitutionen jener Zeit, wenn Spitzenläufer nach ihrer Einbürgerung keine internationale Starterlaubnis bekommen und wenn ein Weltrekordler das Land wieder verlässt, weil er hier keine beruflichen Perspektiven als Trainer sieht. Eine solche Geschichte des Misserfolgs wird nicht aktiv verbreitet. d) Das Gegensatzpaar »Wir und die Anderen« ist vom lokalen bis zum nationalen und kontinentalen Rahmen konstituierend für weite Teile des Sports. Trotz persönlicher und institutioneller Unterstützung für die aus Ungarn stammenden Läufer in Wien gab es auch Konflikte und eine emotionale Reserviertheit.31 Gerade in einem Staat, der – wie damals Österreich – erst ein Jahr zuvor seine vollständige Souveränität wiedererlangt hatte und noch unsicher über seine nationale Identität war. e) Rozsnyji, Cegledi, Tanay und Mjlnar waren Leichtathleten. Damit waren sie in einer Sportart aktiv, die in Österreich nie populär war. Anders als das Laufen als Freizeit- und Aktivsportart seit den 1990er-Jahren ist die Leichtathletik im engeren Sinn nie an die Bedeutung von Fußball und Skilaufen herangekommen, auch nicht temporär. Es wird daher darüber auch weniger berichtet, kommentiert und diskutiert. Es entstehen weniger Vorbilder und 28 Ebd. 29 Former steeplechase world record-holder Sandor Rozsnyoi dies. Nachruf, zum Teil fehlerhaft, auf der Website des Leichtathletik-Weltverbandes vom 4. 9. 2014, URL: https:// www.iaaf.org/news/iaaf-news/sandor-rozsnyoi-obituary (abgerufen 19. 1. 2018). 30 Nachruf Josef Cegledi auf der Website des Österreichischen Leichtathletik-Verbandes vom 14. 11. 2017, URL: http://oelv.at/news/detail.php?id=6387 (abgerufen 19. 1. 2018). 31 Maier, Flucht nach vorne, 32.

Über die Nicht-Rezeption ausgewählter Leichtathletik-Biografien

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»Helden«-Figuren. Eine Teilerklärung dafür mag sein, dass die nominell größten österreichischen Leichtathletik-Erfolge bis 2017 fast ausschließlich von Frauen erzielt worden sind: alle sieben Olympiamedaillen, alle 15 offiziellen und alle 15 inoffiziellen Weltrekorde sowie sieben von neun Medaillen bei Freiluft-Europameisterschaften.32 Man darf annehmen, dass der Stellenwert der österreichischen Leichtathletik höher liegen würde, wären die gleichen Erfolge von Männern erzielt worden. Ein Beispiel für die geschlechtsbezogen unterschiedliche Bewertung sportlicher Erfolge bieten die Olympischen Spiele 1948 in St. Moritz (Winter) und London (Sommer).33 Allein die Teilnahmemöglichkeit von »Österreich«, noch bevor es die politische Eigenständigkeit des Landes gab, stellte ein wichtiges Element des nationalen Selbstverständnisses dar. Österreichische SportlerInnen holten, ohne Berücksichtigung der Kunstbewerbe, zwölf Medaillen, darunter die Goldmedaillen von Trude Beiser in der Alpinen Kombination im Winter und von Herma Bauma34 im Speerwurf im Sommer. Österreichs Männer konnten bei diesen beiden Spielen des Jahres 1948 »nur« Silber in der Abfahrt und Bronze im Eiskunstlauf gewinnen, wodurch das Ergebnis bei beiden Spielen in sportlicher Hinsicht als Enttäuschung gesehen wurde. Den Misserfolgen der Männer wurde in der Berichterstattung mehr Raum eingeräumt als den Erfolgen der Frauen. Der mangelnde Erfolg von männlichen Sportlern in der österreichischen Leichtathletik gemessen an Weltrekorden und Medaillen bei Olympischen Spielen sowie Freiluft Welt- und Europameisterschaften ist wohl ein Aspekt, der miterklärt, warum die Leichtathletik mit ihren Geschichten und Protagonisten, darunter die in diesem Beitrag behandelten Personen, vergleichsweise wenig im Blickpunkt steht.

IV.

Resümee: Gegenbild zu nationalen Sporthelden

Erfolg ist keine hinreichende Voraussetzung für SportlerInnen oder TrainerInnen, um Aufmerksamkeit und Bekanntheit zu erlangen. Mehrere Faktoren spielen in einem Prozess der möglichen Popularisierung in unterschiedlicher Gewichtung eine Rolle. Die Sportart, das Geschlecht, der persönliche Umgang 32 Norbert Adam, Leichtathletik: Die Königin des Sports. 100 Jahre Österreichischer Leichtathletik-Verband, Wien 2002, 133–139; Internationale Erfolge, Darstellung auf der Website des Österreichischen Leichtathletik-Verbandes, URL: http://oelv.at/lists/international_succ esses.php (abgerufen 20. 1. 2018). 33 Marschik, Idealismus, 173–178. 34 Andreas Maier/Matthias Marschik/Manfred Mugrauer, Speerwurf durchs Jahrhundert: Über das Zusammenspiel von Sport und Politik der Speerwerferin Herma Bauma, in: SportZeiten 15 (2015) 3, 47–74.

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Andreas Maier

mit Öffentlichkeit, die Unterstützung durch Institutionen und Medien, sportliche und außersportliche Schicksale und Extremsituationen sowie die Anbindung an gesellschaftliche, meist nationale Narrative ergeben einen Grad an Bekanntheit oder Nicht-Bekanntheit, kurzfristig oder langfristig, im Kreis des sportinteressierten Publikums oder darüber hinaus in weiteren Teilen der Gesellschaft. Die in diesem Beitrag beschriebenen Geschichten und ihre Rezeption berühren auch das Konzept der nationalen Gliederung des Sports. Obwohl der Leistungssport ein manchmal globales Ereignis für Akteure und Publikum ist, bleibt die Erzählung darüber oft im Rahmen des Nationalen und »Österreichischen«. Eine weitere Differenzierung ist jedoch nötig. Die Geburt, das Aufwachsen, die sportliche Betätigung in Österreich und zunächst die dazugehörige Staatsbürgerschaft, wie im Fall von Franz Stampfl, machen noch keinen »österreichischen« Trainer. Ein österreichischer Pass, Wohnort und Verein sowie die formale Unterstützung der österreichischen Sportorganisationen bedeuten noch keine Startmöglichkeit für Österreich bei internationalen Meisterschaften und auch keine Bekanntheit, wie im Fall der aus Ungarn stammenden Leichtathleten. Emigration oder Immigration ließen formale und mentale Grenzen entstehen. Stampfl, Rozsnyji, T#nay, Cegledi und Mjlnar boten im Gegensatz zu den teilweise zeitgleich agierenden männlichen Idolen des österreichischen Wintersports keine Anknüpfungspunkte an nationale Mythen. Erfolge und Rezeption des Skirennläufers Anton Sailer ab den Olympischen Spielen in Cortina d’Ampezzo 1956, wo er drei Goldmedaillen errang, machten ihn zu einem Identifikations-Objekt und kollektiven Sinnbild für »Wiederaufbau, Fortschrittsoptimismus und Wirtschaftswunder«.35 Ebenso gründet später der Heldenstatus des Skirennläufers Karl Schranz nicht allein auf seinen sportlichen Erfolgen, sondern vor allem in der massenmobilisierenden Verdichtung des »Opfermythos« in Folge seines Olympia-Ausschlusses 1972.36 Die hier vorgestellten Leichtathletik-Biografien eigneten sich hingegen nicht zur Helden- und Heimatproduktion. Der gesellschaftliche Rahmen überließ ihnen nur einen Platz im patriotischen Abseits. Die Etablierung und Stärkung des eigenen Landes Österreich waren in der Nachkriegszeit wichtiger als Offenheit und ein Blick nach außen. »Sport dient der Heimat. Der wahre Sportler ist ein Herold der Heimatliebe, ein getreuer Diener seines Landes«37, drückte der Dachverband Sport Union in der gleichnamigen Zeitschrift 1946 diese Gesinnung aus. Ziel müsste es sein, »wieder auf eigene Füße zu kommen, wieder aus 35 Rudolf Müllner, Perspektiven der historischen Sport- und Bewegungskulturforschung, Wien/Berlin 2011, 260, generell 263–299. 36 Ebd., 260. 37 Zit. n. Marschik, Idealismus, 38.

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eigener Kraft leistungsfähig zu werden«,38 wie Sportfachverbände als Reaktion auf eine begrenzte Spielberechtigung für Ausländer und Displaced Persons in Österreich 1947 formulierten und was als informelles Leitbild zumindest für das folgende Jahrzehnt gelten konnte. Die Möglichkeiten, die Bedingungen und die Wahrnehmung von internationalen Karrieren im Sport haben sich seit den 1950er-Jahren deutlich gewandelt. Es ist mittlerweile eine Selbstverständlichkeit, dass österreichische SportlerInnen oder TrainerInnen (ebenso wie SchauspielerInnen oder WissenschaftlerInnen), die im Ausland erfolgreich sind, in Österreich meist positiv rezipiert werden. Vielleicht markiert das internationale Auftreten von Arnold Schwarzenegger ab Ende der 1960er-Jahre einen diesbezüglichen Wendepunkt in der Wahrnehmung. Die Geschichten von Stampfl und den aus Ungarn stammenden Leichtathleten sind aufgrund der sportlichen Qualität ihrer Protagonisten und ihrer Anbindung an für Österreich zentrale zeitgeschichtliche Ereignisse relevant und können als Gegenbild zu bekannten nationalen Sporthelden zu einem breiteren Verständnis des österreichischen Sports beitragen.

38 Zit. n. Marschik, Idealismus, 260–261.

Anneliese Gidl

Hohe Ansprüche, große Breitenwirkung. Ein Bild des österreichischen Skisports in den 1950er- und 60er-Jahren

Den Ausgangspunkt dieses Beitrages bildet ein Bild, das eine ganze Generation von Skiläuferinnen und Skiläufern geprägt hat und nicht nur den Menschen in Österreich, sondern auch den Skibegeisterten in aller Welt vermittelte, wie man »richtig« Ski fährt. Das gewählte »Image« gehört also zu jenen legendären und populären Bildern, die das kollektive Gedächtnis der sportinteressierten Öffentlichkeit speisen. Es trug dazu bei, den alpinen Skilauf als österreichischen »Nationalsport« zu verankern und Österreich als »Skiland« zu propagieren.

Abb. 1: Stefan Kruckenhauser : Schwünge zum Hang. Aus dem österreichischen Schilehrplan 1956. (Quelle: Land Tirol/Tiroler Kunstkataster, Nachlass Stefan Kruckenhauser)

Von diesem Bild ausgehend wird ein Blick auf die Entwicklung des Skilaufs geworfen, wobei der Begriff Skilauf als »Skikultur« verstanden wird, also als

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Anneliese Gidl

»ganzheitliche[r], mehrperspektivisch-integrative[r] Ansatz, der sich nicht auf ski- und sportartspezifische Themen beschränkt, sondern auch sozioökonomische, politisch-historische, technische und räumliche Aspekte einbezieht.«1

I.

Das Ausgangsbild

Dieses Bild sportlichen Geschehens zeigt ein Kollektiv von sechs Männern bei der synchronen Ausführung einer Skitechnik vor einer beeindruckenden Bergkulisse am Arlberg. Die Männer, die einen »Schwung zum Hang« in »exakter« Körperhaltung ausführen, sind staatlich geprüfte österreichische Skilehrer. Beachtenswert ist neben der geschlossenen und sehr engen Skiführung die typische Armhaltung der Demonstratoren. Das Bild wurde vom Fotografen sorgfältig komponiert. Die Berge im Hintergrund und die Männer im Vordergrund sind feinst aufeinander abgestimmt. So verläuft etwa die Armhaltung der Männer parallel zur Kante des Berges während die Skistöcke der Männer parallel zur anderen Kante des Berges gehalten werden. Das ist beabsichtigt, um dem Bild eine besondere Harmonie zu verleihen. Der Fotograf, der dieses Bild schuf, ist Stefan Kruckenhauser, der aufgrund seines erfolgreichen Wirkens für den Skisport von vielen als »Skipapst« bezeichnet wurde. Kruckenhauser (1905–1988) war Leiter des Bundessportheims St. Christoph am Arlberg, Skitheoretiker und -methodiker, Pädagoge, Filmer und Fotograf einer Fülle von Schwarz-weiß-Aufnahmen, die als künstlerisch anspruchsvoll gelten können. Das gewählte Ausgangsbild ist ein Teil des österreichischen Schilehrplans, der erstmals im Herbst 1956 erschien. Dieses Lehrwerk wurde von Stefan Kruckenhauser in »engster Zusammenarbeit«2 mit den wichtigsten Institutionen des Skilaufs in Österreich, nämlich dem Bundesministerium für Unterricht, Abteilung Sport und Abteilung Leibeserziehung in der Schule, den Instituten für Leibeserziehungen an den Universitäten Wien, Innsbruck und Graz, der staatlichen Skilehrerausbildung und der staatlichen Prüfungskommission für Schilehrer, dem Österreichischen Skiverband, dem Pflichtverband der steirischen Berufsskilehrer und dem österreichischen Sportlehrerverband, Fachgruppe Schilauf verfasst. Durch diese Auflistung wurde gleich zu Beginn die Einheit der österreichischen SkilaufInstitutionen demonstriert und die Beteiligung der maßgeblichen Organisationen dokumentiert. Anders als vorherige Skitechniken nannte sich dieses Curriculum zum ersten 1 Bernhard Tschofen/Sabine Dettling, Spuren. Skikultur am Arlberg, Bregenz 2014, 14. 2 Dies wurde in jeder Ausgabe auf der ersten Seite vermerkt.

Ein Bild des österreichischen Skisports in den 1950er- und 60er-Jahren

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Mal österreichischer Schi-Lehrplan. Zuvor hatte es für Skitechniken Namen kleinerer Regionen wie »Lilienfelder Skilauftechnik« oder »Arlbergschule« gegeben. Dass der Staat Österreich durch die Namensgebung sozusagen »dahintersteht«, war neu und passt zum Konzept, den Skilauf als »österreichischen Nationalsport« zu etablieren. Der österreichische Skilehrplan war laut Einschätzung von Friedrich Fetz, dem Verfasser der Biografie Kruckenhausers, ein »sprödes Lehrbuch«. Umso erstaunlicher war sein großer Verkaufserfolg. »In Sorge um den Umsatz […] riet Kruckenhauser dem Otto Müller Verlag, Salzburg, zu einer sehr kleinen Auflage. Dann kam die große Überraschung. Die erste Auflage war im Nu vergriffen, der Lehrplan, der zur ›Bibel der Skilehrer‹ werden sollte, erwies sich in der kommenden Zeit als Bestseller.«3 Das 120 Seiten starke Buch erzielte eine Auflage von mehr als 115.000 Stück und wurde mindestens 14 Mal aufgelegt. In den folgenden Jahren wurde das Werk in zahlreiche Sprachen übersetzt. Die erste Fremdsprachenausgabe erschien 1957 auf Japanisch. Sie wurde von Takayuki Fukuoka, einem Sprachwissenschaft- und Germanistik-Professor der Hosei-Universität in Tokio, erstellt.4 Darauf folgten englische (aufgrund des starken amerikanischen Interesses), italienische, französische, niederländische, polnische, schwedische, und viele andere Übersetzungen, insgesamt mehr als 20 Sprachen. Das Buch wurde in Fachkreisen weltbekannt. Der Skilehrplan war bis 1971, also 15 Jahre lang gültig. Der hohe Anspruch seiner Verfasser war es, die Welt davon zu überzeugen, nach Kruckenhausers methodischem Weg Skiunterricht zu erteilen und nach seiner Technik, dem Wedeln, Ski zu fahren. Tatsächlich wurde in 15 Ländern das Skilehrwesen nach der österreichischen Methode aufgebaut und Skilehrer aus rund 20 Ländern in Österreich ausgebildet,5 die später als Multiplikatoren dieses Lehrweges fungierten.

II.

Rezeption und Wirkung des Ausgangsbildes

Neben der Funktion des Bildes als Lehrbehelf für den Skiunterricht und der fotografischen, durchaus künstlerischen Leistung der Bildkomposition, ist vor allem die Rezeption durch die Öffentlichkeit von Bedeutung. Diese und ähnliche Aufnahmen haben Generationen von Skifahrerinnen und Skifahrern beeinflusst. 3 Friedrich Fetz/Elisabeth Hagen/Gerhard Ruedl, Skipionier Stefan Kruckenhauser, Innsbruck 2000, 68. 4 Stefan Kruckenhauser, Österreichischer Skilauf in Japan, in: Leibesübungen – Leibeserziehung (1963) 8, 16. 5 Rudolf Sallinger, Impulsgeber der Wirtschaft in: Clemens Hutter (Hg.), Stefan Kruckenhauser. Festschrift zum 80. Geburtstag, Salzburg 1985, 12–13.

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Die Bildreihen aus dem Skilehrplan verankerten sich im kollektiven Gedächtnis. Eine in vielen Gesprächen mit ZeitzeugInnen wiederkehrende und durchaus typische Aussage lautet sinngemäß: »Diese Bilder [aus dem Skilehrplan] waren unsere Vorbilder. So wollten wir Ski fahren.« Einige versuchten dieses Vorhaben dadurch umzusetzen, indem sie mit dem Buch in der Hand auf den Übungshang gingen und sich daran machten, im Selbststudium die Kruckenhauser-Technik zu erlernen.6 Andere vertrauten sich einer der österreichischen Skischulen an, deren Zahl sich von 51 im Jahr 1950 auf 118 im Jahr 1970 mehr als verdoppelte,7 obwohl pro Ort nur eine Skischule erlaubt war. Ebenfalls verdoppelte sich die Zahl der Lehrkräfte im Untersuchungszeitraum.8 Zu dieser Zeit trat verstärkt das Phänomen auf, dass Menschen, die nach diesen Idealen des österreichischen Skilehrplans Ski fuhren, bewundert wurden. Anders als in den Jahrzehnten zuvor, in denen Skifahren in der breiten Öffentlichkeit eher als gefährliche »Spinnerei« abgetan wurde, war es nun möglich, durch gutes Skifahren Anerkennung zu erlangen. Ein weiterer hoher Anspruch der Zeit war es, diese Skitechnik möglichst exakt auszuführen und ZeitzeugInnen erzählen, dass sie sehr genau registrierten, wer am Skihang nach diesen Idealen fuhr. Ein »guter Skifahrer« hatte höheres öffentliches Ansehen als ein weniger Geübter. Das ging bis zur kollektiven Bewunderung für die erfolgreichen RennläuferInnen des Landes ebenso wie für die »staatlich geprüften Skilehrer«, die erst nach einer selektiven Aufnahmeprüfung, bei der hohe Ansprüche an das Können der vorwiegend männlichen Kandidaten gestellt wurden, zur Ausbildung zugelassen wurden. Die Ausbildung dauerte damals mit 138 Tagen doppelt so lange wie jene in Italien und Frankreich.9 Die eindrucksvollen Fotos der exakten Bewegungsausführung der Skilehrer vor imposanter Bergkulisse drangen in die Öffentlichkeit und bildeten fortan das »Leitbild des Schönskilaufs, dessen Hauptkriterien die geschlossene Skistellung, die typische Armhaltung und das möglichst schwunghafte, tänzerisch elegante Fahren«10 waren. Auch wenn Kruckenhauser selbst in den 1960er-Jahren dazu überging, eine offene Skistellung nicht nur zu dulden, sondern vor allem im Anfängerbereich 6 Interview mit Birgit Gidl, geführt von Anneliese Gidl, 5. 9. 2017, Aufnahme bei der Autorin. 7 Nachlass Hoppichler, Dias, Entwicklung Schischullehrwesen, Signatur ESL56 und ESL77, Archiv Verein Tiroler Skigeschichte. 8 Nachlass Hoppichler, Dias, Entwicklung Schischullehrwesen, Signatur ESL79, Archiv Verein Tiroler Skigeschichte. 9 Nachlass Hoppichler, Dias, Entwicklung Schischullehrwesen, Signatur ESL49, Archiv Verein Tiroler Skigeschichte. 10 Fetz/Hagen/Ruedl, Skipionier, 90.

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sogar zu fordern,11 war dies mit der Vorstellung der Öffentlichkeit vom »Schönskilauf« nicht mehr in Einklang zu bringen. Die Meinung, dass ein guter Skifahrer eine möglichst enge Skistellung hat, geisterte jahrzehntelang in den Köpfen herum.

III.

Das Bild in seinem historischen Kontext

Die gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Situation der 1950er- und 1960er-Jahre bot geeignete Rahmenbedingungen, um den Skilauf in Österreich zu einer Massenbewegung werden zu lassen. Besonders die technischen und medialen Entwicklungen förderten diesen Trend.

3.1

Erschließung für den Wintertourismus und Massenskilauf

Schon bald nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde damit begonnen, die touristische Infrastruktur wieder aufzubauen und zu erweitern. Dabei profitierte die Tourismuswirtschaft von Geldern der Marshall-Plan-Hilfe (ERP), welche die Instandsetzung und Modernisierung von Straßenbauten, Hotels, Liften- und Seilbahnprojekten finanziell unterstützte. Laut einer Untersuchung von Günter Bischof wurde zwischen 1950 und 1955 in 1.376 Hotelprojekte investiert. »Dabei wurden zusätzlich 46.805 Betten, 3.087 Badezimmer, 71 Lifte und Seilbahnen gebaut.«12 ERP-Mittel ermöglichten den Ausbau von wintersicheren Straßen vor allem in Westösterreich, nämlich den der Flexen-, Arlberg-, Bregenzerwald, Ötztal-, Lechtal-, Pinzgau-, Pongau- und Packer-Bundesstraße. »Zudem scheint aus Marshall-Mitteln die erste Schneefräse für die effiziente Räumung der Straßen im Arlberg-Gebiet angeschafft worden zu sein.«13 Liftund Seilbahnprojekte im Arlberggebiet, Montafon, der Dachsteinregion, im Zillertal, bei Ischgl, Obergurgl, Lienz und Kitzbühel, auf der Tauplitz, in Radstadt und auf der Villacher Alpe zeigten weithin sichtbar »die Umwandlung der Berge in Bewegungsräume und Sportstätten, in Kulturräume.«14 Auch das Bundessportheim in St. Christoph am Arlberg, in dem Stefan Kruckenhauser als Heimleiter tätig war, wurde dank staatlicher Förderung durch 11 Ebd., 92. 12 Günter Bischof, Der Marshall-Plan und die Wiederbelebung des österreichischen Fremdenverkehrs nach dem Zweiten Weltkrieg, 133–182, in: Günter Bischof/Dieter Stiefel (Hg.), 80 Dollar. 50 Jahre ERP-Fonds und Marshall-Plan in Österreich 1948–1998, Wien/Frankfurt 1999, 133–182, 161. 13 Josef Fink, Die Fremdenverkehrswirtschaft in Tirol, zit. n. Bischof/Stiefel, 80 Dollar, 161. 14 Tschofen/Dettling, Spuren, 14.

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die »großzügige Hilfe des Bautenministeriums« 1949–1951 und 1956–1957 entscheidend erweitert.15 Durch den Auf- und Ausbau dieses und anderer Skiheime, deren Leiter Bundesbeamte und dem Bundesministerium für Unterricht unterstellt waren, wird ein Aspekt der staatlichen Förderung des österreichischen alpinen Skisports sichtbar. Als ab den 1950er-Jahren vor allem die deutschen Wintersportgäste begannen, ihren Skiurlaub in Österreich zu verbringen, boomte der Skitourismus. Die Zahl der WintersportlerInnen stieg, sie verdreifachte sich bis Mitte der 1960er-Jahre. Damit erreichten auch die Übernachtungszahlen in den Skiorten neue Höchststände.16 Nicht nur in den österreichischen Alpen, auch im Osten Österreichs strömten die StädterInnen auf die Hügel rund um die Städte, um dem Skilauf zu frönen, zum Beispiel in Linz wo auf den »Skiwiesen« der umliegenden Gemeinden Hellmonsödt und Kirchschlag sowie auf den Abhängen des Pöstlingbergs zahlreiche Skifahrten unternommen wurden. Unterstützt wurde dies durch schneereiche Winter in den 1950er-Jahren. In den 1960er-Jahren ermöglichte es das eigene Auto vielen SkifahrerInnen, Tagesausflüge in weiter entfernt gelegene Skigebiete zu unternehmen beziehungsweise die beschwerliche Anreise zum Skiurlaub mit viel Gepäck, Bahn und Bus durch jene im eigenen Pkw zu ersetzen. Die gesetzliche Verankerung der Schulskikurse, die alle österreichischen Schulen zur Abhaltung von je einer Skiwoche in der Unter- und in der Oberstufe verpflichtete, das Bereitstellen von Ausrüstung für SchülerInnen aus finanziell schlechter gestellten Familien, und die zahlreichen Möglichkeiten, an Skilehrgängen teilzunehmen, bildeten weitere Rahmenbedingungen für den Massenskisport. All diese Maßnahmen, die die Voraussetzungen für einen technisierten, aufstrebenden Wintertourismus bildeten, insbesondere der Bau von Hotels, Gipfelrestaurants, Straßen und Parkplätzen bis hin zu Seilbahnanlagen, brachten eine nachhaltige Veränderung der Landschaft mit sich.

3.2

Auf in die winterlichen Berge – ein Lebensgefühl und -stil

Nachdem nun immer mehr Menschen über Freizeit, Möglichkeiten und finanzielle Mittel verfügten, um Ski zu fahren, entstand eine Generation von Skiläuferinnen und Skiläufern. Skifahren wurde zum Inbegriff eines modernen Le15 Fetz/Hagen/Ruedl, Skipionier, 37. 16 Vgl. Anneliese Gidl, Im Sog Hannes Schneiders – Zur Entwicklung des Skilaufs am Arlberg, in: Anneliese Gidl/Wolfgang Meixner/Christof Thöny (Hg.), Die internationale HannesSchneider-Konferenz in St. Anton am Arlberg 2005, Innsbruck 2006, 173–181, 175.

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bensstils, es war »in«, diese Sportart zu betreiben. Eine sonnengebräunte Gesichtsfarbe zeigte für alle sichtbar an, dass eine Person Teil dieses Trends war und zu den »beneidenswerten Zeitgenossen« zählte, die es sich leisten konnten, ihre Freizeit mit Sport und Sonnenbädern im Wintersportort zu verbringen. Mit der Masse der SkiläuferInnen hielt auch ein urbaner Lebensstil Einzug in die vormals einfachen Bergdörfer. Viele städtische Gewohnheiten wurden in die Berge transferiert. Fast genauso wichtig wie der Skilauf selbst wurden AprHs-ski und Tanzveranstaltungen mit Live-Musik, mit immer größerem Komfort ausgestattete Hotels, Treffen mit Gleichgesinnten, »Sehen und gesehen werden«, das Knüpfen von Geschäfts- und Privatbeziehungen im Skiort, und das Erleben von Gemütlichkeit und Kameradschaft, Trends, die bis heute anhalten. Die Beförderungskapazitäten der Seilbahnen und Lifte hielten dem Ansturm der Menschenmassen kaum noch stand. Obwohl die Liftanlagen laufend erweitert wurden, waren lange Wartezeiten an den Liften die Folge. Die Menschen begaben sich vom städtischen Gedränge zum Gedränge am Lift und auf der Piste im Skiort. Durch die zunehmende Spezialisierung der Ausrüstung für die Abfahrt, etwa durch härtere Skischuhe und dem festen Halt der Skischuhe in der Bindung, kam es zur Trennung von SkibergsteigerInnen und PistenfahrerInnen. Wie der Skipionier Hannes Schneider bereits 1908 vorausgesagt hatte, entwickelte sich die Abfahrt auf der Piste zur größeren Attraktion für das Massenpublikum.17

3.3

Wirtschaftliche Auswirkungen des Skilaufs

Für die Ausübung ihres Sports und dem damit verbundenen Lebensstil benötigten die SkisportlerInnen die entsprechende Ausrüstung. Nach bescheidenen Anfängen mit improvisierter Ausstattung gestaltete sich diese jedoch bald recht aufwändig. Eine Dissertation von Franz Benk zur wirtschaftlichen Bedeutung des Skilaufs aus dem Jahre 1956 listet 85 Gegenstände auf, die für den Skilauf benötigt werden. Diese reichen von Offensichtlichem wie Skiern, Skischuhen, Bindungen, Stöcken, Skiwachse, Bekleidung und Sonnenbrillen, bis hin zu ausgefallenen Gegenständen wie Schutzkappen für Skispitzen. Benk summierte, dass folgende Branchen Produkte für den Skisport erzeugten: die chemische Industrie (für Hautschutzmittel, Kunststoffe zur Skiherstellung, Skilacke, -wachse), die holzverarbeitende Industrie (hier nennt er Gerüstbau, Skier, Skistöcke), die Lebensmittelindustrie (Schokolade, Tee, Kaffee, Traubenzucker), der Maschinenbau (Bergbahnen, Schlepp- und Sessellifte) und metallverarbeitende 17 Christof Thöny, Hannes Schneider, Ausstellungskatalog zur Sonderausstellung zum 50. Todestag des Skipioniers 2005, Dornbirn 2005, 6.

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Industrie (Metallskier, Metallstöcke, Skibindungen und Beschläge, Proviantdosen, Pokale, Plaketten), die optische Industrie (Brillen, Fotoapparate und -zubehör), die Schuhindustrie (Skischuhe, AprHs-Stiefel, Hüttenschuhe) und die Textilindustrie (Sportbekleidung, Bergseile).18 Diese Produkte wurden laufend modifiziert und unterlagen einem ständigen Wandel. Besonders die Skimode in allen ihren Facetten und die Entwicklung des Werkstoffes Plastik sind hier zu nennen. Die Sportartikelindustrie rund um den Skisport boomte. Die meisten dieser Waren wurden in alle Welt exportiert. Österreichische Skimarken und Skizubehör etablierten sich auf dem Weltmarkt. Dieser exportintensive Sektor der österreichischen Wirtschaft verzeichnete eine Ausfuhrquote von mehr als 80 Prozent.19 Das österreichische Wirtschaftswunder vollzog sich auch in diesem Bereich.

3.4

Skibegeisterung in Medien und Öffentlichkeit

Großen Anteil an der Verbreitung und Popularität des Skilaufs hatten die Medien und hier vor allem die Sportberichterstattung in Radio, Printmedien sowie ab Ende der 1950er-Jahre auch im Fernsehen. Spielfilme und Romane mit Handlungen im Skimilieu ergänzten das Angebot ebenso wie lockende Werbeplakate, die Spaß auf den Pisten versprachen. Während die Sportseiten der Zeitungen unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg noch weitgehend mit lokalen und regionalen Sportereignissen gefüllt waren, wurden nun einige international erfolgreiche SportlerInnen als »Superstars«, »Skihelden« und »Hoffnungsträger der Nation« gefeiert. Besonders als Mitte der 1950er-Jahre die österreichischen SkirennläuferInnen große Erfolge feierten, kannte die Euphorie keine Grenzen. Die Siege von Toni Sailer und seinen TeamkollegInnen riefen in weiten Bevölkerungsteilen große Begeisterung hervor. Dem Jubel der Medien folgte der Jubel vieler bei den Empfängen der SportlerInnen. Im Dokumentarfilm »Österreichische Ikonen« schildert Rudi Sailer den Empfang seines Bruders Toni Sailer nach dessen dreifachem Olympiasieg 1956. »Schon an der Brennergrenze warteten Tausende Fans auf ihr Idol. Vom Brenner bis Kitzbühel war das eine Triumphfahrt. Die Euphorie der Bevölkerung war phänomenal. Da hat’s ja nichts gegeben. Da gehen wir hin. Den müssen wir feiern.«20 Beim folgenden Empfang in Wien 18 Franz Benk, Die Geschichte des Skilaufs und seine wirtschaftliche Bedeutung, phil. Diss., Universität Innsbruck 1956, 145–150. 19 Sallinger, Impulsgeber, 13. 20 Interview mit Rudi Sailer, in: Wolfgang Winkler, Österreichische Ikonen, DVD, 57 min, ORF 2017, ca. 18:43 min.

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sorgten 50.000 Menschen für eine so stürmische Begrüßung der Sportler, dass die Gefeierten fast erdrückt wurden.21 Bei wichtigen Skirennen waren die Straßen leergefegt, da sich die Menschen rund um die Radio- und später Fernsehgeräte scharten. SchülerInnen wurde kurzerhand schulfrei gegeben, um ein wichtiges Skirennen im Radio anzuhören bzw. ab den 1960er-Jahren im Fernsehen anzusehen. »Wer kann, verfolgt das Rennen vor den wenigen Fernsehgeräten, die oft in Wirtshäusern stehen oder fiebert vor dem Radio mit.«22 Insgesamt herrschte dem Skilauf gegenüber eine wohlwollende Stimmung. Karin Sulzberger, die Tochter des damaligen ÖSV-Generalsekretärs Sepp Sulzberger berichtete, dass ihr Vater oft wochenlang Sonderurlaub von seinem Beruf als Richter bekam, um für den Österreichischen Skiverband tätig zu sein.23 In vielen Orten kümmerten sich Ehrenamtliche in den Skivereinen um das Training des Nachwuchses, organisierten Rennen und förderten den lokalen Skilauf. Sportveranstaltungen wie das Hahnenkammrennen in Kitzbühel wurden zu Publikumsmagneten, Toni-Sailer-Mützen zu Verkaufsschlagern. Laut Rudi Sailer »war jeder Österreicher ein kleiner Toni Sailer.«24

3.5

Skilauf und Nationsbewusstsein

Die Rennlauf-Erfolge der österreichischen Athletinnen und Athleten gaben dem ganzen Land das Gefühl »Wir sind sehr gut« und »Wir behaupten uns international.« Auf diese Weise leisteten sie einen Betrag zum Nationsbewusstsein in Österreich. »Skisport wird zum Volkssport. Wenn österreichische Skisportler ins Rennen gehen, hält die Nation die Daumen und auch den Atem an. Die Besatzungsmacht ist gerade abgeschüttelt, die Zeit der Freiheit, des Wiederaufbaus […] Ein fescher, großer, starker, fantastischer Skifahrer […] deklassiert die gesamte Weltelite und Österreich wird Mitte der 1950er-Jahre im Sport zur Weltmacht. […] Damit haben sie einen Hero gehabt und das Selbstwertgefühl der Österreicher ist größer geworden.«25

Die Siege der SkisportlerInnen wurden als »unsere« Siege gefeiert, auf die »wir Österreicher« stolz sein konnten. Zudem passte Sailers Biografie wunderbar in das Bild des Wiederaufbaus. Wie Rudolf Müllner in seiner Untersuchung »Zur 21 Wolfgang Winkler, Österreichische Ikonen, DVD, 57 min, Wien ORF, 2017. 22 Ebd. 23 Interview mit Karin Sulzberger, geführt von Anneliese Gidl, 12. 9. 2017, Aufnahme bei der Autorin. 24 Interview mit Rudi Sailer, in: Winkler, Österreichische Ikonen. 25 Winkler, Österreichische Ikonen.

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Konstruktion von Sporthelden – das Beispiel des Skirennläufers Anton Sailer« herausarbeitete, schaffte es Sailer, der aus einfachen Verhältnissen und einer als vorbildlich dargestellten »heilen« Familie stammte, mit Fleiß und Zielstrebigkeit, seine Konkurrenz zu besiegen26 und verkörperte somit Tugenden seiner Zeit. Daneben erfüllten viele SkirennläuferInnen – wie Christoph Hack darlegte – ein weiteres Kriterium. »Das Land als Negation zur sündigen Stadt bietet die perfekte Bühne für die Inszenierung des am technisierten Holocaust unschuldigen Österreichers. […] Diese Menschen vom Land sind – als ›Hinterweltler‹ bekannt – die perfekten Botschafter der neuen Zeit. Alleine ihre geographische Entfernung zu den peinlich bürokratisierten (urbanen) Zentren der Nazis machen sie für das neue Österreich unverzichtbar ; hinzu kommt das unschätzbare finanzielle Potential ihres Lebensraums hinsichtlich einer touristischen Vermarktung.«27

Die erfolgreichen SkiläuferInnen wurden zu Identifikationsfiguren, sie repräsentierten österreichische Werte und Qualitätsprodukte. Verschiedene Untersuchungen zeigen, »dass der Skisport und vor allem der massenmedial repräsentierte Skirennlauf einen wesentlichen Beitrag zur Ausbildung einer wie auch immer definierten nationalen österreichischen Identität leistet.«28

3.6

International erfolgreich

Skilauf diente auch dazu, sich international zu etablieren, abzugrenzen und in Szene zu setzen. Anlässlich der Austragung der Olympischen Winterspiele 1964 in Innsbruck wurde in den Medien hervorgehoben, dass sich »Österreich« nur wenige Jahre nach der Besatzungszeit nun als Gastgeber beweisen konnte und ein gleichwertiges, anerkanntes Mitglied der Staatengemeinschaft war. Die Siege der eigenen Athletinnen und Athleten wurden als Überlegenheit im »friedlichen Wettstreit der Nationen« interpretiert. Die Erfolge der SkirennläuferInnen verstärkten die internationale Nachfrage nach österreichischen Skiprodukten und Dienstleistungen. Kruckenhauser, der proklamierte, viele Elemente seiner Technik durch Beobachten von RennläuferInnen gewonnen zu haben, war umtriebig tätig, um seine Skitechnik zur weltführenden zu machen. Als Voraussetzung dafür wurde ein einheitliches, »geschlossenes« Auftreten 26 Rudolf Müllner, Perspektiven der historischen Sport- und Bewegungskulturforschung, Wien/Berlin 2011, 283ff. 27 Christoph Eric Hack, Alpiner Skisport und die Erfindung der österreichischen Nation 1945–1964, phil. Diss., Universität Graz 2013, 6. Zit. n. Tschofen/Dettling, 266. 28 Müllner, Perspektiven, 282.

Ein Bild des österreichischen Skisports in den 1950er- und 60er-Jahren

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österreichischer Skiexperten »nach außen« gesehen, auch wenn innerhalb des Landes alternative Meinungen vorhanden waren und die Inhalte des Skilehrplans »immer erstritten werden mussten.«29 Das entsprechende Forum, bei dem die Vertreter der einzelnen Nationen die Überlegenheit der eigenen Skitechnik gegenüber der Technik anderer Nationen herauszustreichen suchten, waren die Interski-Kongresse. Bei diesen versuchten die Akteure durch Vorträge, Filmvorführungen und praktische Demonstrationen möglichst viele Delegierte anderer Länder von ihrer Technik zu überzeugen. 1956 gelang Kruckenhausers Wedeltechnik der Durchbruch. Damit wurden seine Innovationen weltweit verbreitet. Auch wenn die Konkurrenz etwa mit dem »Rivalen« Frankreich um die zweckmäßigere Skitechnik bestehen blieb, konnten Österreichs Vertreter eine Führungsrolle bei Interski erlangen. Kruckenhauser wurde neun Jahre lang Präsident der Organisation und später Ehrenpräsident auf Lebenszeit. Darüber hinaus setzte sich in den 1950er- und 1960er-Jahren der Trend fort, dass österreichische Skiexperten auf der ganzen Welt als SkilehrerInnen, DarstellerInnen in Skifilmen und Entwickler von Skigebieten tätig waren. »Jubel um Toni Sailer in Japan«, »Neue Skischule in Vermont von Tirolern gegründet«, »Wedeln made in Austria auch im Kaukasus gefragt«, »Ski-Österreicher in aller Welt«, »Arlberger Skilehrer in Australien«, »Auch im Libanon fährt man Ski«, lauteten Schlagzeilen in Printmedien.30 Mehrere tausend ÖsterreicherInnen verbreiteten den Skilauf in 29 Ländern, in Nord- und Südamerika, Japan, Australien und Neuseeland, Zypern, dem Kaukasus, Nordafrika und vielen anderen mehr. Die meist staatlich ausgebildeten österreichischen SkilehrerInnen verstanden sich als »Botschafter« des heimischen Skisports in aller Welt, begründeten internationale Kooperationen und knüpften zwischenmenschliche und Geschäftsbeziehungen. All dies begünstigte die Globalisierung des Skilaufs.

IV.

Fazit

Der österreichische Skisport der 1950er- und 1960er-Jahre war gekennzeichnet von hohen Ansprüchen. Österreichische RennläuferInnen, Skitheoretiker und sonstige Skiexperten strebten danach, die erfolgreichsten der Welt zu sein. Dadurch dienten sie einerseits weiten Teilen der Bevölkerung als identitätsstiftende Vorbilder, andererseits entwickelten sich in ihrem Sog profitable Geschäftsfelder wie der Winterskitourismus und die Sportartikelindustrie. Skilauf wurde zu einer Massenbewegung mit großer Breitenwirkung. Damit einher ging die 29 Fetz/Hagen/Ruedl, Skipionier, 77. 30 Herbert Gundolf, Tiroler in aller Welt, Innsbruck/Wien/München 1972, 271.

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Anneliese Gidl

nachhaltige Veränderung der Landschaft durch die Technisierung der Skigebiete. Die Berichte in Printmedien und im Fernsehen verstärkten die positive Einstellung großer Bevölkerungsteile zum Skilauf, ein Trend, der, wenngleich etwas abgeflaut und kritisch hinterfragt, bis in die Gegenwart andauert. Auch heutzutage erweckt der Skilauf öffentliches Interesse. Auch in letzter Zeit erschienen neben der ausführlichen regulären Fernsehberichterstattung über »Ski-Events« wie das Hahnenkammrennen und den Nachtslalom in Schladming, mehrere Dokumentarfilme zur Geschichte des Skilaufs sowie ausführliche Porträts der ehemaligen Skistars zu deren »runden« Geburtstagen. Noch immer ist das mediale Echo auf Neuigkeiten wie die Missbrauchsvorwürfe gegen Toni Sailer,31 der vor über sechzig Jahren Olympiasieger war und inzwischen längst verstorben ist, enorm. Bilder von triumphierenden SkirennläuferInnen wie etwa von Marcel Hirscher im Winter 2017/18 speisen noch immer das kollektive Gedächtnis der sportinteressierten Öffentlichkeit.

31 Akt Toni Sailer ; Wie man einen fallenden Stern auffängt, Der Standard, 18. 1. 2018, URL: https://derstandard.at/2000072293048/Der-Akt-Toni-Sailer-Wie-man-einen-fallenden-Stern -auffaengt (abgerufen 3. 4. 2018).

Maximilian Graf

Innsbruck 1976: Das »Skisprungwunderteam« und die Pfiffe vom Bergisel

I.

Einleitung

»Letzte Schlacht am Bergisel« titelte die »Tiroler Tageszeitung« am letzten Wettkampftag der 2. Olympischen Winterspiele in Innsbruck, die vom 4. bis 15. Februar 1976 stattfanden. Im darunter stehenden Artikel ging es aber nicht um die letzte der vier Bergiselschlachten des »Tiroler Freiheitskampfs« unter Andreas Hofer in den napoleonischen Kriegen im Jahr 1809, sondern um den finalen Skisprungwettkampf von der Großschanze.

Abb. 1: Riesenrundgemälde der dritten Bergiselschlacht im Tiroler Landesmuseum am Fuße des Bergisels. (Foto: Alexander Haiden)

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Maximilian Graf

Ein Bezug zum »Landesheiligen« Hofer und dem Tiroler Erinnerungsort par excellence wurde eingangs dennoch explizit hergestellt: »Auf dem Bergisel, wo einst auch Andreas Hofer seine letzte Schlacht lieferte, gehen heute […] mit dem Springen auf der Großschanze die sportlichen Bewerbe der XII. Olympischen Winterspiele zu Ende. Und wiederum wird eine Schlacht geschlagen – die Schlacht um die Vorherrschaft im ›Luftraum‹, die kurzfristig von den Ostdeutschen in Seefeld erobert wurde. Heute treten Österreichs Springerstars zum Gegenangriff an. Nach den in den letzten Trainingstagen gezeigten Leistungen zeichnet sich ein dramatisches Duell zwischen den Vertretern Österreichs und der DDR ab. Ein Zweikampf auf höchster Ebene, beinhart Mann gegen Mann. Denn jeder Österreicher kann jeden Springer aus der DDR schlagen, und umgekehrt ist es genauso.«1

Diese Zeilen fügen sich in die teilweise martialische Olympiaberichterstattung einiger österreichischer Medien ein. Der folgende Beitrag nimmt eine Einordnung jenes Sprungwettkampfs vor, der mit einem österreichischen Triumph in Form eines Doppelsieges durch Karl Schnabl und Toni Innauer endete, gleichzeitig aber aufgrund des Verhaltens des Publikums auch zu einem Skandal mutierte.2 Sämtliche DDR-Springer wurden gnadenlos ausgepfiffen. Um die dahinterstehende Dynamik zu verstehen, ist eine Kontextualisierung notwendig. Die Pfiffe vom Bergisel hatten vielfältige Ursachen, die im zeithistorischen Kontext und in der Ausformung des österreichischen Patriotismus zu suchen sind, dessen hässliche Seiten sich oftmals im Rahmen von Sportereignissen entladen – insbesondere, wenn es um ein Duell mit deutschen SportlerInnen geht. Das österreichische Skispringen stand trotz zeitweiliger skandinavischer Dominanz insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg in Konkurrenz mit dem deutschen – ein Umstand an dem sich bis heute nur wenig geändert hat. Gerade anlässlich der jährlich zum Jahreswechsel in Deutschland und Österreich stattfindenden Vierschanzentournee wird dieses Duell regelmäßig heraufbeschworen – vorausgesetzt beide Nationen verfügen über Sieganwärter. Es reiht sich in die »ewige« sportliche Konkurrenz des vermeintlichen »David« mit dem in Zeiten des Kalten Krieges janusköpfigen deutschen »Goliath« ein, obwohl die Kräfteverhältnisse im Wintersport meist ausgeglichener waren als im Fußball. Auch wenn diese Zuschreibung üblicherweise nicht auf die Deutsche Demokratische Republik (DDR) zutraf: Im Falle des Skispringens stellten ihre Athleten tatsächlich viele Jahre den dominanten »großen Bruder« dar – insbesondere in der ersten Hälfte der 1970er-Jahre, bis zum Aufkommen des ersten österrei1 Letzte Schlacht am Bergisel. Die ÖSV-Adler wollen sich ihre Luftherrschaft zurückerobern, Tiroler Tageszeitung, 15. 2. 1976, o.S. (Schnittsammlung). 2 Teile dieses Beitrags gehen auf frühere, bereits publizierte Forschungen des Autors zurück: Maximilian Graf, (Kalter) Krieg am Bergisel. Skispringen im Spannungsfeld von Politik, Sport und Nation: Österreich und die DDR als Fallbeispiele, in: zeitgeschichte 42 (2015) 4, 215–232.

Innsbruck 1976: Das »Skisprungwunderteam« und die Pfiffe vom Bergisel

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chischen »Skisprungwunderteams«. Und selbst wenn der Faktor des Duells mit »den Deutschen« im Falle der DDR möglicherweise geringer zu gewichten ist und weniger polarisierend war, so wirkte der gesellschaftlich weit verbreitete Antikommunismus verstärkend.

II.

Wintersport und Nation in Österreich

Sportgroßereignisse trugen früh in der Geschichte der Zweiten Republik zur Entstehung eines »Wir-Gefühls« bei.3 Die Medienberichterstattung begann das kollektive »Wir« herauszustellen – dies galt für Siege wie für Niederlagen, wobei man bei Letzteren dazu tendierte, Schuldige zu suchen. Ab den 1970er-Jahren etablierte sich so etwas wie ein österreichischer Sportraum, in dem weiterhin primär Skifahren und Fußball zur Konstruktion der nationalen Identität beitrugen.4 Das Skispringen rückte erst nach und nach in den Kreis der medial gehypten Sportarten auf, die Charakteristiken der Berichterstattung sind aber vergleichbar. Am Beispiel des alpinen Skilaufs lässt sich illustrieren, was 1976 auch das Skispringen erfasste: Wie Toni Sailer gehört auch Karl Schranz zu den sogenannten österreichischen »Heimatmachern«. Während bei Sailer die sportlichen Erfolge und damit einhergehend sein Beitrag zur österreichischen Identitätsbildung im Gedächtnis blieben, sind es bei Schranz, trotz seiner sportlichen Leistungen, insbesondere die Bilder seines Empfangs in Wien nach dem Ausschluss von den Olympischen Winterspielen in Sapporo 1972, die zu den eindrucksvollsten Beispielen für die Massenwirksamkeit des alpinen Sports in Österreich zählen. Der Sporthistoriker Rudolf Müllner sieht das dermaßen stilisierte »Opfer« Schranz auch im Kontext »des zu diesem Zeitpunkt noch uneingeschränkt dominanten ›Opfermythos‹ der Zweiten Republik«, bei dem es aber nicht nur um die Verdrängung der nationalsozialistischen Vergangenheit, sondern auch um dessen »Integrationspotential«, das »angesichts einer realen oder vermeintlichen Bedrohung« aus »dem Ausland« aktiviert werden konnte.5 Der »Fall Schranz« wurde jedenfalls »als Affäre der ganzen Nation dargestellt«. Außerhalb der Grenzen Österreichs wurde 3 Matthias Marschik, Vom Idealismus zur Identität. Der Beitrag des Sports zum Nationalbewusstsein in Österreich (1945–1950), Wien 1999, insb. 316–332, 385–397. 4 Rudolf Müllner, Perspektiven der historischen Sport- und Bewegungskulturforschung (Österreichische Kulturforschung 13), Wien 2011, 260, 262–273, 282–287, 294–295, 310–318, 321–322; Florian Labitsch, Sportereignisse in Österreich als Kristallisationspunkte kollektiver Identitäten (Österreichische Kulturforschung 10), Wien 2009, 92–94. 5 Dazu ausführlich: Müllner, Perspektiven, 287–295, 318–319; Zum Fall Schranz als »Gedächtnisort« siehe Labitsch, Sportereignisse, 96–129, insb. 121 u. 134; Florian Madl, Karl Schranz. Vom Sportidol zum Netzwerker. Eine Biografie. Mit einem Vorwort von Hermann Maier, Wien/Graz/Klagenfurt 2011, 121–139.

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Maximilian Graf

dies kritisch verfolgt, mehrheitlich aber belächelt.6 Offen zeigte sich das Bild einer beleidigten Nation, die sich gegen eine vermeintliche Verschwörung des Auslandes wandte.7 Ähnliches konnte bereits bei den Winterspielen in Grenoble 1968 beobachtet werden. Dort wurde Schranz im Slalom, nachdem er seinen Lauf wiederholen durfte und den Franzosen Jean-Claude Killy besiegt hatte, schlussendlich disqualifiziert. Die »Kronen Zeitung« titelte damals: »Um Gold betrogen«.8 Schranz hielt dazu fest: »In Österreich gingen die Wellen der Empörung über das geschehene Unrecht hoch und der Volkszorn entlud sich […].«9 In Heinz Prüllers 1970 veröffentlichter »Karl Schranz-Story«, wird der »Held« Schranz unterschwellig durchaus zum Opfer einer ausländischen, pro-französischen Jury stilisiert, von der der »Ski-Napoleon« Killy profitierte.10 Die vermeintliche »Verschwörung des Auslandes« war in Österreich also bereits 1968 greifbar. Für ausländische Beobachter war es schlicht »Chauvinismus«.11 Nun aber zurück zum Skispringen.

III.

DDR-Dominanz und österreichisches »Skisprungwunder«

Die DDR-Erfolge im Wintersport wurden in Österreich zwar grundsätzlich anerkannt, die zeitweise große Überlegenheit in manchen Disziplinen sorgte aber auch für missgünstige Spekulationen über die Ursachen dafür. Damals standen Materialfragen im Vordergrund, das organisierte Staatsdoping der DDR wurde erst später offenkundig. Bei der nordischen Skiweltmeisterschaft im schwedischen Falun 1974 stellte die DDR ihre Dominanz erneut unter Beweis und lag im Medaillenspiegel klar voran. Der DDR-Springer Hans-Georg Aschenbach eroberte sowohl auf der Klein- als auch auf der Großschanze Gold. Auch Silber ging in beiden Konkurrenzen an die DDR. Angesichts der großen Erfolge der DDR waren die vorolympischen Erwartungen entsprechend hoch. Deren Erfüllung kam jedoch das 1974/75 plötzlich auftretende österreichische SkispringerDreamteam unter der Leitung von Coach Baldur Preiml in die Quere. Für Preiml, der sich intensiv mit den DDR-Trainingsmethoden auseinandergesetzt hatte, war es »stets ein großes Ziel, die DDR-Übermacht zu brechen«. Neue Trai6 Barbara Stöber, Die Berichterstattung über den »Fall Schranz« in den Printmedien. Ein internationaler Vergleich. Dipl. Arb., Universität Wien 2004, 91–121. 7 Madl, Karl Schranz, 139. 8 Labitsch, Sportereignisse, 98–99. 9 Karl Schranz, Mein »Olympiasieg«. Aufgezeichnet von Stefan König und Gerhard Zimmer, München 2002, 18–38, 101–143, 177–209, für das wörtliche Zitat siehe 143. 10 Heinz Prüller, Weißer Lorbeer. Die Karl-Schranz-Story, Wien 1970, 213. 11 Adolf Metzner, Skandal-Olympiade? Chauvinisten, Funktionäre, Fabrikanten, in: Die Zeit, 23. 2. 1968, URL: http://www.zeit.de/1968/08/skandal-olympiade (abgerufen 23. 2. 2018).

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ningsmethoden und die von den Österreichern vorangetriebene Materialrevolution (Anzüge, Ski) führten dazu, dass Österreich plötzlich gleich mehrere Weltklasseathleten stellte, die Sieg um Sieg errangen.12 Angesichts dessen wurden seitens der ostdeutschen Sportbürokratie Maßnahmen »zur Absicherung der Leistungszielerfüllung für die Olympischen Winterspiele im Skisprung« ergriffen.13 Sowohl das Training als auch die Materialentwicklung wurden minutiös geplant. Die als »real« eingestufte »Zielstellung« für die DDR-Athleten lautete zwei Medaillen und sah Gold und Bronze als Farben vor.14 Zur Leistungssteigerung wurden, wie man heute weiß, auch verstärkt Dopingmittel eingesetzt.15 Bei den Olympischen Winterspielen in Innsbruck schien alles auf ein »Gigantenduell« zwischen den Springern aus Österreich und der DDR hinauszulaufen. Im Vorfeld der Spiele dominierte die medial beschworene Kalte-KriegsKonkurrenz, die sich vor allem der Materialdiskussionen widmete. Der DDR wurde mitunter unlautere Vorteilserschleichung unterstellt,16 am 3. Februar 1976 sogar auf der Titelseite der »Kronen Zeitung«.17 Insbesondere der Rodelsport wurde zu einem Kristallisationspunkt der Ost-West-Konkurrenz.18 Im Skispringen hatten andere Länder den österreichischen Materialvorteil der Saison 1974/75 aufgeholt,19 weshalb auch hier von einer »Nervenschlacht«20 gesprochen wurde. Selbst die Qualitätspresse übte heftige Kritik an den Verantwortlichen der DDR, die gemeinsam mit anderen Verbänden, ein Verbot

12 Toni Innauer, Der kritische Punkt. Mein Weg zum Erfolg, aufgezeichnet von Christian Seiler, 2. Auflage, Bad Sauerbrunn 1992, 50–59,114–117, 127–128; Toni Innauer, Am Puls des Erfolges, Fahndorf 2010, 92–93, 263–264, 312. Vgl. auch: Das »verhaßte« Wunder, in: Kronen Zeitung, 7. 2. 1976. 13 Maßnahmenplan zur Unterstützung der Leistungsentwicklung im Skisprung im Olympiajahr 1975/76, FG Skisprung, 20. 2. 1975, Staatssekretariat für Körperkultur und Sport. Bundesarchiv, Berlin (BArch), Abteilung DDR, DR 5/1987 (Akt ohne Paginierung). 14 Vorlage für das Sekretariat des DTSB der DDR, Nr. 50/3/75, Vertraulich, Berlin, 12. 5. 1975. Betreff: Einschätzung der vorolympischen Testwettkämpfe 1975 in Innsbruck und Seefeld, Deutscher Turn- und Sportbund. Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisation der ehemaligen DDR im Bundesarchiv, Berlin (SAPMO-BArch), DY 12/853, Bl. 73–79. 15 Deren Einsatz wurde seitens eines Betroffenen als kontraproduktiv eingeschätzt. Vgl. HansGeorg Aschenbach, Euer Held. Euer Verräter. Mein Leben für den Leistungssport, Halle (Saale) 2013, 69–77, 186–187. Innauer meinte zwar, dass Doping aufgrund des Reglements im Skispringen nichts bringt, ist aber dennoch der nachvollziehbaren Meinung, die errungenen Medaillen wären zurückzugeben. Vgl. Innauer, Am Puls des Erfolges, 289. 16 Siehe hierzu die Zeitungsausschnittsammlung in den Archivbeständen des Staatssekretariats für Körperkultur und Sport. BArch, Abteilung DDR, DR 5/1375. 17 Schwerer Angriff gegen DDR: Mit faulen Tricks zu Goldmedaillen, in: Kronen Zeitung, 3. 2. 1976, 1. 18 Sonderbeilage, in: Neue Tiroler Zeitung, 29. 1. 1976. 19 Innauer, Der kritische Punkt, 54–55. 20 Oesterreichs Helm eckt bei DDR an, in: Die Presse, 3. 2. 1976, 7.

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nahezu aller Materialinnovationen von Preiml erwirkt hatten.21 Die »Frankfurter Allgemeine Zeitung« brachte die vor allem in der Materialfrage medial aufgeheizte Stimmung polemisch auf dem Punkt, als sie am Tag vor der Eröffnung der Spiele unter dem Titel »Kriegsgeschrei: ›Jeder gegen jeden ums Überleben‹« schrieb: »In Innsbruck ist der Krieg ausgebrochen. Da toben Schlachten und Schicksalskämpfe, werden geheime Wunderwaffen eingesetzt, Ausnahmezustände ausgerufen oder Revolutionen entfacht. In dieser martialischen Form jedenfalls berichten verschiedene österreichische Zeitungen über die olympischen Vorbereitungen.«22

Die Spiele von Innsbruck begannen für Österreich mit dem Abfahrtsieg von Franz Klammer, der damit einen Heimauftakt nach Maß bescherte. Der Politologe Peter Filzmaier meint dazu: »1976 löste eben Franz Klammer den SchranzMythos ab, nur war es diesmal eine Erfolgshysterie und vier Jahre vorher eine ebenso hysterische Empörungswelle.«23 Die folgenden Skisprungkonkurrenzen stellten den Höhepunkt einer in sportlicher wie atmosphärischer Hinsicht bereits auf der Vierschanzentournee entfachten enormen Konkurrenz dar. Sowohl beim Bergiselspringen in Innsbruck als auch in der Gesamtwertung der Vierschanzentournee 1975/76 hatte der DDR-Springer Jochen Danneberg den mannschaftlich überragenden Österreichern den Sieg weggeschnappt. Toni Innauer verpasste trotz dreier Tagessiege den Tourneegesamtsieg.24 Schon damals war es vereinzelt zu Pfeifkonzerten gekommen. Obwohl sich bereits im Training für die Kleinschanze gezeigt hatte, dass die DDR-Mannschaft in guter Form zu Olympia angereist war,25 waren die Erwartungen der Österreicher vor dem ersten Springen auf der Toni-Seelos-Schanze in Seefeld hoch.26 Sogar die sonst eher zurückhaltende »Arbeiter-Zeitung« titelte im Sportteil: »Karl Schnabl: Heute wie der Franz!«27 Die hohen vorolympischen Erwartungen der Medien und der Öffentlichkeit hatten den Erinnerungen Innauers zufolge schwer auf der österreichischen Mannschaft gelastet.28 Den Bewerb auf der Kleinschanze gewannen dann die 21 Triumph trotz Serienniederlage. FIS-Sprungkomitee hat alles verboten, in: Die Presse, 4. 2. 1976, 1. 22 Kriegsgeschrei: »Jeder gegen jeden ums Überleben«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3. 2. 1976, 7. 23 Madl, Karl Schranz, 121. 24 Peter Elstner, Springerreserven erschöpft. Nach dem Triumpf Innauers in Bischofshofen fehlt Geld für die Tests vor Olympia, in: Arbeiter-Zeitung, 8. 1. 1976, 7. 25 DDR-Protest gegen Helme?, Olympia-Journal, 3. 2. 1976, BArch, DR 5/1375; Wir holen 12 Medaillen, Blickpunkt Tirol, Beilage zu: Kurier, 1. 2. 1976. 26 Angst nur vor Windlotterie. Skispringer reden sich einen Triumph ein, in: Die Presse, 7./8. 2. 1976, 7; Willi Ahstl, Schnabl kann alle schlagen, in: Kurier, 7. 2. 1976, 19. 27 Karl Schnabl: Heute wie der Franz!, in: Arbeiter-Zeitung, 7. 2. 1976, 17. 28 Innauer, Der kritische Punkt, 13–18.

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DDR-Springer überlegen: Aschenbach siegte vor Danneberg. Sie widmeten ihren Doppelsieg (wie auch die anderen DDR-Medaillengewinner) in ausschweifenden Danksagungen Staat und Partei, was von den österreichischen Medien aufs Korn genommen wurde.29 Karl Schnabl holte für Österreich Bronze. Das war den österreichischen Medien jedenfalls zu wenig. Die »Kronen Zeitung« titelte »Bronze, doch kein Jubel!«.30 Der »Kurier« sprach von einer »Niederlage«31 und auch die »Arbeiter-Zeitung« beklagte einen traurigen Tag für die österreichischen Olympiakämpfer.32 Trotz prinzipieller Anerkennung der Leistung der ostdeutschen Athleten erfolgten Seitenhiebe auf den DDR-Sport. Der Amateurstatus ihrer Sportler wurde offen in Zweifel gezogen und mit Blick auf die »sogenannte Materialschlacht« ging die Argumentation erneut in Richtung ungerechter Behandlung Österreichs durch das Ausland.33 In der nicht zum Jubel über DDR-Erfolge neigenden bundesdeutschen Presse dominierte die Schadenfreude über die Niederlage der Österreicher. Der »Münchner Merkur« übernahm die martialische Sprache des österreichischen Boulevards und schrieb: »DDR brach Österreichs ›Lufthoheit‹«.34 Die »Frankfurter Allgemeine Zeitung« kritisierte bereits jetzt das Verhalten des österreichischen Publikums.35 Österreichische Medien sannen auf Revanche, der Ton blieb kriegerisch.36 Am Tag des Springens von der Großschanze, das am letzten Wettkampftag der Spiele stattfand, ging die »Tiroler Tageszeitung«, wie eingangs erwähnt, schließlich so weit, von der »letzten Schlacht am Bergisel« zu sprechen.

29 Gerhard Zimmer, Aus anderer Perspektive: Die dankbarsten Olympiasieger, in: Die Presse, 11. 2. 1976, 5; ähnlich: Kurier, 10. 2. 1976, 15. 30 Kronen Zeitung, 8. 2. 1976, 1 sowie die Berichterstattung im Olympia-EXTRA. 31 Josef Huber/Willi Ahstl, Eine Niederlage: Schnabl – Bronze, in: Kurier, 8. 2. 1976, [o. S.]. 32 Arbeiter-Zeitung, 8. 2. 1976, 1. 33 Peter Elstner, Tests – ein Eigentor! So beurteilt Olympiasieger Aschenbach die Sprungniederlage der Österreicher, in: Arbeiter-Zeitung, 8. 2. 1976, 9; Die Sieger waren im Würstlstand, in: Kurier, 8. 2. 1976; Naive Spiele, in: Kurier, 9. 2. 1976; Taktische Finte der DDR-Springer. Weitenjagd mit kurzem Anlauf, in: Die Presse, 12. 2. 1976, 7. 34 DDR brach Österreichs »Lufthoheit«. Doppelsieg durch Aschenbach und Danneberg, in: Münchner Merkur, 9. 2. 1976, o.S. (Schnittmaterial); Eugen Vorwitt, Für »strategische Schläge« zu schwach: Preimls Luftwaffe mit drei Stukas zu Fuß, ebd. 35 Große Skisprung-Athleten auch ohne extreme Technik, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9. 2. 1976, 11. 36 »Auf dem Bergisel schlagen wir zurück«. Karl Schnabl verspricht es seinem Betreuer, in: Kurier, 8. 2. 1976, [o. S.]; Hoffnung auf Trotzreaktion am Bergisel, in: Die Presse, 9. 2. 1976, 5; Vater der Triumphe gesteht Fehler. Preiml: Gegen Superspringer verloren, in: Die Presse, 9. 2. 1976, 6.

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IV.

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Die Pfiffe vom Bergisel und österreichische Sieger

Der österreichischen Mannschaft gelang es, die Erwartung zu erfüllen und auf der Großschanze am Bergisel sportlich zurückzuschlagen. Bereits nach dem ersten Durchgang führte Innauer überlegen, konnte diese Leistung im zweiten Sprung aber nicht wiederholen und so gewann Schnabl die Goldmedaille. Innauer hatte sich bereits als sicherer Sieger gewähnt, und es fiel ihm schwer, sich mit der als Niederlage empfundenen Silbermedaille abzufinden: »Ganz Österreich feierte den Doppelsieg, nur der Zweitplatzierte hätte aus Wut am liebsten seine Skier zertrümmert. Und er glaubte sogar, Opfer einer Intrige geworden zu sein: die Weitenrichter hätten dem Schnabl Meter geschenkt.«37

Abb. 2: Gesenkten Hauptes, aber doch, hob Toni Innauer den Arm des Siegers Karl Schnabl hoch. (Quelle: AP/picturedesk.com – 19760215_PD0030)

Für die DDR holte Henry Glaß Bronze, Aschenbach und Danneberg gingen diesmal leer aus. Das Duell war mit gehörigem Respektabstand zur Konkurrenz ganz im Zeichen der Mannschaften aus der DDR und Österreich gestanden und 37 Für das Zitat und ein eingehendes Porträt Innauers siehe: Georg Sutterlüty, Höhenflüge und Bruchlandungen, in: Wiener Zeitung, 12. 2. 2010, URL: https://www.wienerzeitung.at/nach richten/archiv/61618_Hoehenfluege-und-Bruchlandungen.html (abgerufen 23. 2. 2018); zudem Birgit Egarter, Anton Innauer. Von Hausdächern abheben …, in: Matthias Marschik/ Georg Spitaler (Hg.), Helden und Idole. Sportstars in Österreich, Innsbruck/Wien/Bozen 2006, 312–318, 314.

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hatte schlussendlich mit einem Unentschieden geendet, beide Teams hatten je einen kompletten Medaillensatz ersprungen. Dieses sportliche Ausrufezeichen der Rivalen wurde aber durch das Verhalten des Publikums überschattet.

Abb. 3: Reinhold Bachler im Flug in den Kessel des Bergiselstadions. (Quelle: AP/picturedesk.com – 19760215_PD0048)

So anmutig die Aufnahme des Fluges von Reinhold Bachler aussehen mag, in der medial aufgeheizten Stimmung hatte sich das Bergisel-Stadion in einen »Hexenkessel« verwandelt. Ohne Ausnahme wurden sämtliche DDR-Springer vom österreichischen Publikum ausgepfiffen. Aschenbach spricht in seinen Memoiren von einem »Psychokrieg«: »Die Stimmung schlug förmlich in Hass auf uns, die Ausländer um. […] Ich glaube, wenn wir auf der Großschanze wieder gewonnen hätten, dann wäre das Ganze möglicherweise politisch eskaliert. Ich bin mir ehrlich gesagt nicht sicher, ob wir nach einem Doppelsieg damals heil aus der Anlage herausgekommen wären.«38

Ob es tatsächlich so weit gekommen wäre darf bezweifelt werden. Zudem empörte die Performance der Sprungrichter Kurt Becher (Österreich) und Gerhard Hochmuth (DDR). Beide hatten konsequent »national«, im Sinne der offensichtlichen Bevorzugung der Athleten ihres Herkunftslandes, gewertet. Während jene österreichischen Zeitungen, die die Stimmung vor dem Springen angeheizt hatten, versuchten, die Pfiffe mit den – als politisch motiviert klassifizierten – 38 Aschenbach, Euer Held, 78.

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Wertungen des DDR-Sprungrichters zu rechtfertigen,39 war anderen Blättern der durch das Verhalten des Publikums eingetretene Imageschaden bewusst. Die vor dem zweiten Springen im Ton erstaunlich zurückhaltende »Kronen Zeitung« titelte nach dem Doppelsieg am Bergisel: »Ende gut, alles gut« und feierte Gold und Silber für Österreich,40 im Blattinneren wurde aber sehr wohl von »totale[r] Revanche«gesprochen.41 Auf die Pfiffe wurde nicht eingegangen. Der »Kurier« berichtete auf der Titelseite und hielt in weiterhin martialischer Form fest: »[E]s war die totale Konfrontation Österreich-DDR.«42 Die Emotionen des Publikums wurden zwar als fehlgeleitet bezeichnet, aber als »Resultat des hochgepeitschten Kampfes der DDR gegen Österreich« in der Materialfrage gewertet.43 »Die Presse« sprach treffender von einem »olympischen Skandal, den das Publikum entfesselte«.44 In der »Arbeiter-Zeitung« wurde das Verhalten der Zuschauer als einmalige »Schande« und die Pfiffe als »glatter Psychoterror« bezeichnet.45 Die »Frankfurter Allgemeine Zeitung« gab sich in ihrer Wertung des Verhaltens der österreichischen Medien und Zuseher durchaus spöttisch: »›Die letzte Schlacht am Berg Isel‹ ist geschlagen, die ›Lufthoheit‹ wiedererobert, die ›Adler‹ des Baldur Preiml haben die Nation gerettet […]. Jubel, Trubel, Heiterkeit. […] Als die Außentemperaturen in und um Innsbruck weit unter Null sanken wurde künstlich geschürt: […] [A]us Tausenden von Kehlen [kamen] Pfiffe, wenn einer der Springer in blauer DDR-Montur es wagte, nach dem Sieg zu greifen. Eine ganze Nation liegt sich jetzt wieder in den Armen.«46

Das Zentralorgan der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) »Neues Deutschland« berichtete hingegen trotz der Pfiffe sehr versöhnlich: »Die Spiele endeten wie sie zehn Tage vorher begonnen hatten: mit einem Sieg für die Österreicher!« Zwar wurde angemerkt, dass das Verhalten des Publikums, welches sich bereits bei der Vierschanzentournee abgezeichnet hatte, mit Sportlichkeit nichts zu tun habe, das Thema wurde aber in erster Linie anhand distanzierender Stellungnahmen österreichischer Sportler und Politiker aufgegriffen. So zitierte man Olympiasieger Karl Schnabl: »Allerdings konnte ich es nicht verstehen, daß einige Zuschauer eine solche Stimmung gegen die DDRSpringer gemacht haben. Das war mir richtig peinlich, und ich habe mich ge39 Siehe hierzu besonders deutlich: Hochmut kommt vor dem Fall, in: Tiroler Tageszeitung, 16. 2. 1976. 40 Kronen Zeitung, 16. 2. 1976, 1. 41 Kronen Zeitung, 16. 2. 1976, Olympia-Extra. 42 Gutes Olympia-Ende: Gold, Silber, Jubel!, in: Kurier, 16. 2. 1976, 1. 43 Unsportliches vom Sport, in: Kurier, 16. 2. 1976, 11. 44 »Positive« Niederlagen, in: Die Presse, 16. 2. 1976, 5. 45 Betrifft: Unmenschliches von Olympia, in: Arbeiter-Zeitung, 17. 2. 1976, 16. 46 Christiane Moravetz, Der Chor und die Adler, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16. 2. 1976, 12.

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schämt.«47 Unter Berufung auf österreichische Zeitungen machte »Neues Deutschland« vor allem den westdeutschen Anteil der ZuschauerInnen dafür verantwortlich.48 »Böse Bundesrepublik« und »gutes neutrales Österreich«, das war für den Leser/die Leserin in der DDR bestimmt. Die internen Einschätzungen der SED sahen etwas anders aus. Mit Blick auf die Medienberichterstattung in Österreich und der Bundesrepublik wurden »umfangreiche Angriffe gegen die Sportler der sozialistischen Länder mit klaren antikommunistischen Tendenzen« konstatiert: »Besonders gegen die Mannschaft der DDR richteten sich eine Vielzahl von Verleumdungen und Provokationen, durch die eine Massenstimmung gegen die DDR angeheizt wurde, was sich besonders bei den Sprungläufen, aber auch bei Schlitten- und Bobsport-Veranstaltungen zeigte.«49 Den entschuldigenden Worten österreichischer Politiker und Sportler wurde die »reale Wirklichkeit des Kap[italismus]«50 entgegengestellt. Die »reale Wirklichkeit des Kapitalismus« war für die Ostdeutschen seit jeher und bis zum Ende der SED-Herrschaft dennoch viel anziehender als die Aussicht, in der DDR eingesperrt zu sein – Ausreisebewegung und Fluchtversuche machen dies deutlich. Immer wieder nutzten auch SportlerInnen Wettkämpfe im Ausland um sich abzusetzen. Der Nordische Kombinierer Claus Tuchscherer blieb nach den Spielen von Innsbruck in Österreich und wurde in der offiziellen Sprache der DDR dadurch zum »Sportverräter«. Ost-Berlin zeigte sich zunächst empört und zwang den Sportler unter massivem Druck der Staatssicherheit zur Rückkehr. Nach einiger Zeit zeigte die DDR aber überraschende (vermutlich der guten Entwicklung der bilateralen Beziehungen geschuldete) Toleranz und ließ ihn nach Österreich ausreisen, wo er die Frau, die der Grund für seine Flucht war, heiratete. 1980 fuhr Tuchscherer mit dem österreichischen Team zu den Olympischen Spielen in Lake Placid51 und hatte bei Innauers Olympiasieg von der Kleinschanze indirekt seine Finger – oder besser gesagt, seine Schuhe – im Spiel. Innauer erinnert sich: »Mein Olympiasieg war Glückssache. Ich hätte in Lake Placid nicht gewonnen, wenn mir nicht der Zufall Claus Tuchscherers ›Dachstein‹-Sprungschuhe in die Hände gespielt hätte. Erst mit diesen Schuhen, 47 Das zweite Springerduell gewannen die Österreicher, in: Neues Deutschland, 16. 2. 1976, 8. 48 Klaus Ullrich, Innsbrucker Nachtrag, in: Neues Deutschland, 17. 2. 1976, 5. 49 Erste Einschätzung der XII. Olympischen Winterspiele 1976 in Innsbruck (4.–15. 2. 1976), Berlin, 17. 2. 1976. SAPMO-BArch, DY 30/IV 2/1.036/32, Bl. 113–124. 50 Erster Bericht über die Ergebnisse der 12. Olympischen Winterspiele Innsbruck. – PO am 23. 2. 76. BArch, Abteilung DDR, DR 5/1375. 51 Sigi Lützow, Was wurde aus: Claus Tuchscherer. Für die Freiheit, ohne Netz und doppelten Boden, in: Der Standard, 24./25./26. 12. 2012, 25 bzw. URL: https://derstandard.at/ 1355460481681/Fuer-die-Freiheit-ohne-Netz-und-doppelten-Boden (abgerufen 5. 2. 2018); Thomas Purschke, Kalter Krieg an der Sprungschanze, in: ZEIT ONLINE, 5. 3. 2017, URL: http://www.zeit.de/sport/2017-03/claus-tuchscherer-lahti-nordische-ski-wm-ddr-doping (abgerufen 5. 2. 2018).

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Maximilian Graf

die weder ausgereift noch im Ski-Pool waren, bekam ich jenes sensible Gefühl für die Luftfahrt, das ich brauchte, um meine Goldmedaille gewinnen zu können.«52 Ende gut, alles gut, könnte man aus österreichischer Perspektive meinen. Jedoch sollte man bemüht sein, das 1976 Vorgefallene einzuordnen.

V.

Die Pfiffe und »Wir«: Versuch einer Einordnung

Gemäß dem Soziologen Otto Penz »gehören der ›Lokalpatriotismus‹ und nationale Konnotationen zu den wirksamsten Mitteln, um bei medialen Darbietungen Zuschauermassen anzuziehen.« Der Nationalismus zeigt sich insbesondere »in der regelmäßigen Beschwörung einer imagined community, eines Wir-Gefühls, das SportlerInnen und Publikum vereinen soll.«53 Im Falle Österreichs wird dies anlässlich von Wintersportwettkämpfen und Fußball-Duellen mit Deutschland offenkundig. Innsbruck 1976 förderte aber auch eine andere, zuvor am »Fall Schranz« generell erkennbare Tendenz des österreichischen Nationalismus im Zusammenhang mit dem Wintersport zutage: Im Bereich der Materialdiskussion sah man sich als »Opfer« des Auslands, das den Einsatz österreichischer Erfindungen untersagt hatte. Dafür wurde als Hauptverantwortlicher der schärfste sportliche Konkurrent ausgemacht: die DDR – ein in der österreichischen Öffentlichkeit ohnehin diskreditierter kommunistischer Staat, der selbst ein Geheimnis um sein Material machte. Der in diesem Zusammenhang stets durchschimmernde Antikommunismus konnte seitens der Medien auch dadurch ausgelebt werden, indem man die überflüssige aber systemimmanente Ehrerbietung der siegreichen AthletInnen an Staat und Partei aufs Korn nahm. Dass es sich bei den DDR-Springern um Deutsche handelte, scheint – zumindest unterschwellig – intensivierend gewirkt zu haben. Sie waren im Skispringen nun einmal für Jahre der »große Bruder« gewesen. Der Sport lag immer im Spannungsfeld von Konkurrenz mit und grundsätzlicher – aus der Staatsraison der Zweiten Republik gewachsener – Abgrenzung von »allem Deutschen«. Die nach 1945 grundsätzliche politische Distanzwahrung zu »Deutschland« wurde in Form eines Abgrenzungsdiskures auch zu einer identitätsstiftenden Komponente (der österreichischen Nationalerzählung), die in der Bevölkerung (in den ersten Nachkriegsjahrzehnten) wachsende Akzeptanz fand – der zunehmenden Verinnerlichung folgten auch überspitzte Manifestationen. Hier kann eine gewisse Kontinuitätslinie vom Bergisel nach Cjrdoba erkannt werden, wo bei der Fußball-WM 1978 der Sieg gegen den fußballerisch 52 Innauer, Der kritische Punkt, 82. 53 Otto Penz, Massenmedien. Hyperrealität des Sports, in: Matthias Marschik/Rudolf Müllner/ Otto Penz/Georg Spitaler (Hg.), Sport Studies, Wien 2009, 99–111, 109.

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»großen Bruder« gelang. Zudem wird man mit Blick auf das Publikum wohl auch noch regionale Faktoren hinzurechen müssen. Die Gewichtung der Ursachen für die über Tage, Wochen und Monate aufgebaute Spannung, die sich in den Pfiffen vom Bergisel entlud, bleibt schwierig. Im Endeffekt war es wohl Nationalchauvinismus, ein aggressiv übersteigerter Nationalismus, dessen militaristische Prägung hier im übertragenen Sinn hervortritt und mit der Nichtachtung eines anderen Staates einhergeht, der sich aus allen oben angeführten Zutaten speiste: Wintersport-Hurrapatriotismus, ein übertrieben begeisterter Patriotismus, in diesem Kontext verbunden mit einer Kriegseuphorie im übertragenen Sinne, gepaart mit dem Gefühl, ein Opfer des Auslandes zu sein und dies auch noch verstärkt durch den in Österreich – trotz offiziell guter staatlicher Beziehungen zu den sozialistischen Staaten inklusive DDR – konsequent vorhandenen Antikommunismus, der sich schließlich gegen (ost)deutsche Athleten richtete. Gerade in einem derart wintersportaffinen Land wie Österreich mit umfangreicher medialer Aufmerksamkeit für Skisprungevents würden sich insbesondere die Fernsehbilder vom Bergiselspringen der Olympischen Winterspiele 1976 für eine audiovisuelle Veranschaulichung der österreichischen Ausformung des Verhältnisses von Sport und Nation in extremer Zuspitzung im musealen Bereich eignen. Sie würden eine willkommene Abwechslung und Erweiterung der häufig memorierten Ereignisse, wie es der »Fall Schranz« und Cjrdoba sind, darstellen.

Beschleunigung und (Selbst-)aktivierung

Matthias Marschik

Österreich erfahren… Richard Menapace und der österreichische Radsport nach 1945

Abb. 1: Richard Menapace unmittelbar nach dem Sieg bei der Österreich-Rundfahrt 1949. (Quelle: ÖNB/Wien Bildarchiv, Franz Blaha, 3823/2a)

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In wenigen Minuten werden seine Teamkameraden ihn auf den Schultern tragen und das zehntausendköpfige Publikum vor dem Wiener Rathaus wird ihm zujubeln. Bald darauf wird ihm Bürgermeister Theodor Körner zum Sieg bei der Österreich-Radrundfahrt 1949 gratulieren. Doch kurz nach der Zieldurchfahrt gönnt sich der Triumphator des Rennens abseits des Trubels genussvoll eine Schale Mokka. Ein Foto des Fotografen Franz Blaha zeigt einen sichtlich erschöpften aber glücklichen, drahtigen und asketisch wirkenden, schelmisch lächelnden Mann. Richard Menapace, ein alternder Südtiroler Profi, der nach Österreich ausgewandert, 1948 reamateurisiert und österreichischer Staatsbürger geworden war, wurde mit diesem Sieg zu einem der ersten nationalen – und nicht nur lokalen – Sportidole der jungen Zweiten Republik.1

I.

Der Mangel, seine Inszenierung und Überwindung

Der Begriff des Mangels war eine zentrale Metapher zur Charakterisierung Österreichs in den Jahren nach 1945. Er ist trotz der anfangs prekären Ernährungssituation, von zerstörter Infrastruktur und vor allem persönlicher Verluste nicht nur buchstäblich zu verstehen. Der Wunsch, die jüngste Geschichte zu verdrängen, ließ auch einen Mangel an Perspektiven offenkundig werden: »Wieder«-Aufbau konnte zwar als Metapher für wirtschaftliche und bauliche Strukturen dienen, für die politischen, sozialen oder familiären Gefüge erwiesen sich Anknüpfungen an die Vergangenheit als weitgehend prekär. Es mangelte an tragfähigen Vorbildern für die Etablierung individueller wie kollektiver Identitäten wie für ein stabiles nationales Bewusstsein. Die Konsequenz war ein harter und kämpferischer Aktivismus mit einer anfangs unklaren Zielvorgabe: Die vielfach nötigen Neuanfänge konkretisierten sich vorerst nur schemenhaft.2 Gerhard Bronner und Helmut Qualtinger brachten das auf die – durchaus verallgemeinerbare – griffige Formel: »Zwar hab ich ka Ahnung wo ich hinfahr, aber dafür bin i g’schwinder durt!«3 Im gleichen Refrain heißt es nicht zufällig auch: »Schließlich liebt der Mensch von heut den Spurt«. Der sportliebende Mensch war allerdings zumeist männlich: Die enorme Bedeutungsaufladung des Sports 1 Karl Pointner, Richard Menapace. Österreicher mit italienischer Begeisterung, in: Matthias Marschik/Georg Spitaler (Hg.), Helden und Idole. Sportstars in Österreich, Innsbruck/Wien/ Bozen 2006, 208–214, 209. 2 Ela Hornung/Margit Sturm, Stadtleben. Alltag in Wien 1945 bis 1955, in: Reinhard Sieder/ Heinz Steinert/Emmerich T#los (Hg.), Österreich 1945–1955. Gesellschaft, Politik, Kultur, Wien 1995, 54–67, 56. 3 Vgl. Kurt Bauer (Hg.), Faszination des Fahrens. Unterwegs mit Fahrrad, Motorrad und Automobil (»Damit es nicht verlorengeht …«, Bd. 50), Wien/Köln/Weimar 2003, 253.

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war Teil einer »Remaskulinisierung«, die mit einer »männlich gedeuteten Funktions- und Leistungsfähigkeit verknüpft« war, die ver-rückte Geschlechterordnung wieder herstellen und das Selbstwertgefühl der Soldaten und Heimkehrer restituieren helfen sollte.4 Es war gerade der Sport, der die Erfahrungen und Gefühle des Mangels repräsentierte, aber bald auch symbolische wie konkrete Abhilfe schuf: Viel früher als in Politik und Ökonomie wurden im Sport individuelle wie kollektive Erfolgsgeschichten geschrieben. Es wurden Images eines neuen Österreich entworfen, die international Anerkennung fanden: Hatte gerade der Mangel an konkreten politischen und ökonomischen Zielsetzungen wesentlich zum enormen Sportboom ab 1945 beigetragen, realisierte er bald auch das Versprechen nationaler Selbstvergewisserung. Schon in den ersten Nachkriegsjahren lieferten die Populärkulturen des Sportes wesentliche Beiträge zur Nationswerdung und deren externer Anerkennung, die den Raum des Sportes bei weitem überstiegen.5 Der Aufbau eines nationalen Bewusstseins im Sport gelang erstmals Ende 1945, als Österreichs Fußballteam im bombengeschädigten Praterstadion Frankreich mit 4:1 besiegte.6 Die Sehnsucht nach externer Anerkennung wurde spätestens im Februar 1948 befriedigt, als Österreich – im Gegensatz zu Deutschland – bei den Winterspielen in St. Moritz wieder in die internationale Gemeinschaft aufgenommen wurde.7 Zugleich wurde dabei eine Verschiebung vom urbanen, proletarisch konnotierten Fußball zum ländlichen (und auch bäuerlichen) Skisport als nationalem »Leitsport« und damit zum Übergang von einer Donau- zur Alpenrepublik vollzogen.8 Transmissionsriemen dieses Übergangs waren primär das Boxen und der Radsport, die nicht nur deshalb enorm populär waren, weil sie beispielhaft den Mangel der Nachkriegszeit symbolisierten, sondern zugleich dessen Ende antizipierten.

4 Noyan DinÅkal, Remaskulinisierung durch Technik? Rehabilitation und Kriegsbeschädigung in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft, in: Bernhard Gotto/Elke Seefried (Hg.), Männer mit »Makel«. Männlichkeiten und gesellschaftspolitischer Wandel in der frühen Bundesrepublik, Berlin/Boston 2017, 37–48, 39–40. 5 Matthias Marschik, Vom Idealismus zur Identität. Der Beitrag des Sportes zum Nationsbewußtsein in Österreich (1945–1950). Wien 1999. 6 Matthias Marschik, Eine Art Auferstehung – Österreich-Frankreich 4:1. 6. Dezember 1945, Wien – Praterstadion, in: Matthias Marschik (Hg.), Sternstunden der österreichischen Nationalmannschaft. Erzählungen zur nationalen Fußballkultur, Wien/Berlin 2008, 99–114. 7 Gerhard Urbanek, Österreichs Olympiaauftritt 1948. Die Wiederentstehung einer verlorenen Identität, Dipl. Arb., Universität Wien 2006. 8 Matthias Marschik, Eine (Miss-)Erfolgsgeschichte. Fußball in Wien/Sport in Österreich, 1945 bis 1995, in: Michael Dippelreiter (Hg.), Wien. Geschichte der österreichischen Bundesländer seit 1945, Wien/Köln/Weimar 2013, 651–680.

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II.

Matthias Marschik

Radsport in Zeiten des Mangels

Gerade der Radsport war prädestiniert für Mangeljahre: Europaweit bildete er in den Nachkriegsjahren »eine Fundgrube für allegorische Deutungsmöglichkeiten« wie eine »Quelle für heroische Geschichten«.9 Radrennen waren leicht durchzuführen, vom kleinen Kriterium »Rund um den Kirchturm« bis zur Fernfahrt Wien-Graz-Wien, und Fahrräder waren relativ leicht zu bekommen und konnten selbst präpariert werden, vor allem weil Reifen und Radteile bevorzugte Siegespreise waren. Anfangs fuhr man meist auf selbstpräparierten Rennrädern und mit selbst geschneiderten Trikots und Startnummern. Zudem war der Radsport, so wie die anderen populären Sportarten der Nachkriegsjahre, proletarisch konnotiert. Bis etwa 1950 war das Fahrrad »fest in der Hand der Unterschichten (und der Jugend)«.10 Und während im Wiener Fußball bald wieder heftig über Gagen debattiert wurde, vermittelte der Radsport Bescheidenheit: Für Siege in Radrennen, die »wahrlich über Stock und Stein bzw. zwischen Schutthalden« ausgetragen wurden, gab es als Siegespreis »einen Sack Äpfel«.11 Die Strecken, die Räder, die Fahrer und auch die Organisation reflektierten augenfällig den Mangel und seine Überwindung: Noch beim Rennen »Quer durch Österreich« im Sommer 1947 schliefen die Fahrer auf Strohlagern und bekamen zum Abendessen »nur Salat und Polenta«.12 Dennoch – oder gerade deshalb – war die Begeisterung für den Radsport schon 1947 enorm: In Wien »unterhielten sich in den Büros, in den Werkshallen der Fabriken, ja selbst in der Straßenbahn Menschen, die nie zuvor über den Radsport gesprochen hatten, über nichts anderes als über das bevorstehende Großereignis, das Eintreffen der ›Giganten‹ auf dem Rathausplatz. Und dann geschah etwas, was man in Wien zuvor noch nicht erlebt hatte: Von den Mittagsstunden an setzte eine Art Völkerwanderung ein […]. Schon in Hietzing standen Zehntausende von Menschen Spalier, in der Mariahilferstraße wurde es noch ärger, auf der Ringstraße gab es einen zehnreihigen Kordon von ›Adabeis‹ und vor dem Rathaus erwarteten weitere 10.000 die Fahrer. Nach polizeilichen Schätzungen waren etwa 150.000 bis 180.000 Menschen auf den Beinen«.13

9 Norbert Rossbach, »Täve«. Der Radsportler Gustav-Adolf Schur, in: Silke Satjukow/Rainer Gries (Hg.), Sozialistische Helden. Eine Kulturgeschichte von Propagandafiguren in Osteuropa und der DDR, Berlin 2002, 133–146, 136. 10 Ernst Hanisch, Der lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert, Wien 1994, 167. 11 Norbert Adam, Sport, Spiel, Spektakel in Wien. Die ganze Stadt ist Spiel- und Sportstätte, Wien 1996, 130. 12 Matthias Marschik, Frei spielen. Sporterzählungen über Nationalsozialismus und »Besatzungszeit«, Wien/Berlin 2014, 418. 13 Wiener Sport in Bild und Wort, 21. 6. 1947, 2.

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Erst allmählich konnte die Radindustrie beginnen, Spitzenfahrer zu fördern und eigene Rennställe zu gründen, verstärkt durch das Duell der Wiener Firmen »Rih«, »Select« oder »Dusika« mit den Grazer Kontrahenten »Puch« und »Junior«.14 Und es traten private Sponsoren auf, etwa die Reifenfirma Semperit und die Firma Meinl, die ab 1950 die Patronanz über die Verpflegung der ÖsterreichRundfahrt übernahm.15 Zugleich aber symbolisierte der Radsport wie keine andere Sportgattung den Aufbau eines Nachkriegs-Österreich, repräsentierte er doch Weite, Ferne und die Überschreitung von Grenzen, auch wenn es anfangs nur Besatzungszonengrenzen waren. Die Österreich-Rundfahrt vereinte – in Gestalt von Sprint- und Bergetappen – die Ebenen und die Berge und machte damit »Österreich« jenseits der Spaltung in Stadt und Land, Wien und »Provinz« erfahrbar. Die »Männer auf ihren Maschinen« standen stellvertretend für die Eroberung des Raumes, wie sie speziell den Radsport prägt. Doch nicht nur die Fahrer, auch die sportinteressierte Öffentlichkeit erfuhr auf einer symbolischen Ebene die Dimensionen der – alten und zugleich neuen – Heimat, wenn sie dem Etappenverlauf von Radrundfahrten oder gar der »Tour d’Autriche« mit dem Finger auf der Landkarte folgte.16 Der österreichische Nachkriegs-Radsport produzierte spezifische Heldenfiguren. Die erste war Franz »Ferry« Dusika, der zusammen mit Max Bulla der erfolgreichste österreichische Radfahrer der 1930er-Jahre und ab 1935 Betreiber eines Sportgeschäftes war. Nach dem »Anschluss« war der SA-Mann primär als Journalist und Rennorganisator tätig. Doch nach 1945 setzte er seine Karriere als Bahnfahrer bis 1952 fort und begeisterte als »local hero« wie als Repräsentant eines beschädigten Lebens das Wiener Publikum.17 Dabei war Dusikas Biografie ebenso ramponiert wie der Ort seiner Erfolge, die Prater-Radrennbahn: »Ein Bombentrichter hat die eine Kurve schwer beschädigt, die Tribüne ist ein Opfer des Sturms und der Brennholzsammler geworden und auch die Barriere rings um die Bahn nahm den Weg allen Holzes«.18 Anfang der 1950er-Jahre trat eine junge Generation die Nachfolge Dusikas 14 Gernot Fournier/Wolfgang Wehap, Juniors Aufstieg, Kampf und Ende, in: Macht Platz, Fahrrad kommt! Geschichte und Geschichten zum Radfahren in Graz, Graz 1999, 110–115; Walter Ulreich/Wolfgang Wehap, Die Geschichte der PUCH-Fahrräder, Graz 2016, 282. 15 Christian Glaner/Otto Vesely, Triumphe und Tragödien. Ein halbes Jahrhundert ÖsterreichRundfahrt, Wien 1998, 21. 16 Matthias Marschik, Wie groß ist Österreich? In: Wolfgang Gerlich/Othmar Pruckner (Hg.), Rennrad Fieber. Lust und Leidenschaft auf dünnen Reifen. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eines schnellen Sports, Wien 2015, 195–200. 17 Matthias Marschik, Der Wiener »Radpapst«. Franz »Ferry« Dusika, in: Bernhard Hachleitner/Matthias Marschik/Rudolf Müllner/Michael Zappe (Hg.), Motor bin ich selbst. 200 Jahre Radfahren in Wien, Wien 2013, 120–121. 18 Wiener Sport in Bild und Wort, 4. 5. 1946, 4.

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und Bullas – auch er war nach 1945 noch aktiv – an: Der Grazer Franz Deutsch, Sieger der Österreich-Rundfahrt 1951 und 1952, und der Wiener Rudi Valenta, der schon 1948 zu den Profis wechselte und etliche internationale Erfolge feierte, repräsentierten das Ende des Mangels. Sie waren große, muskulöse Fahrer und konnten als Vorboten oder zumindest als Versprechen eines beginnenden Wohlstands gelten: So kam Valenta nur mehr zu wichtigen Rennen nach Österreich und bestritt mit dem Radsport seinen Lebensunterhalt, auch indem er, laut Eigendefinition, als »lebendige Plakatsäule« auftrat.19 Und Deutsch, dessen Erfolgsgeheimnis »sechs Bier und ein Underberg« lautete, wird auf Fotos zumeist inmitten der – wenn auch noch bescheidenen – Siegespreise gezeigt.20 Zwischen Dusika und Deutsch bzw. Valenta schiebt sich jedoch eine weitere Heldenfigur des Radsports: Richard Menapace, Sieger der ersten beiden Österreich-Radrundfahrten 1949 und 1950, die mit grenzüberschreitendem Blick als »Tour d’Autriche« tituliert wurden.21

III.

»Heute fährt der Menapace«

Richard Menapace, 1914 in Tramin in Südtirol geboren, war Mitglied des italienischen Amateur-Nationalteams, ehe er 1937 Profi wurde und unter anderem am Giro d’Italia 1938 und 1939 teilnahm. Nach Kriegsbeginn zunächst zum italienischen Heer einberufen, nahm er 1941 eine Arbeit in der Fahrradfabrik eines süddeutschen Freundes an, wurde in der Folge zur deutschen Luftwaffe einberufen und war als Flieger in Nordafrika, Kreta und Süditalien eingesetzt. Allerdings wurde er, als Werksfahrer für den Chemnitzer Radhersteller »Wanderer«, für Trainings und große Rennen freigestellt.22 Nach dem Krieg trat Menapace ab 1946 wieder bei Radrennen an. 1947 erhielt er ein Angebot zur Mitarbeit in einem Innsbrucker Radgeschäft. Zugleich beschloss er trotz seiner 33 Jahre, seine Karriere als Amateur fortzuführen und eröffnete mit Unterstützung der Radfirma »Rih« in Salzburg ein eigenes Radgeschäft. Trotz der Doppelbelastung erzielte er bei 25 Starts in Italien und Österreich 21 Siege. 1948 gewann er Rennen in Italien und in Westösterreich, etwa die Vorarlberg-Rundfahrt. Im Frühjahr erhielt er eine österreichische Fahrerlizenz, die Staatsbürgerschaft erlangte er erst im März 1950. Mit dem Nationswechsel, so formulierte er retrospektiv, habe er keinerlei Probleme gehabt, denn als Südtiroler sei er

19 20 21 22

Rudolf Valenta, Kampf um den Goldpokal, Wien 1956, Bildtext vor 113. Marschik, Frei spielen, 320–332. Marschik, Wie groß, 195–200. Pointner, Menapace, 209; Richard Menapace, Der Bergkönig. Menapace erzählt, Wien 1951, 83.

Richard Menapace und der österreichische Radsport nach 1945

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»Anhänger des alte[n] Österreich« gewesen.23 Für das Rennen »Quer durch Österreich« fungierte Menapace gleich als Teamkapitän, doch endete das Rennen für ihn wie das Team ohne Erfolg. Die spezifische Situation des neo-österreichischen Kapitäns wurde in den Medien intensiv diskutiert, trotz mancher Polemiken gegen ihn wurde die Schuld letztlich den lokalen Rivalitäten zwischen den übrigen Fahrern gegeben. Nach schwachen Leistungen zu Beginn des Jahres 1949 überlegte Menapace ein Ende seiner Karriere. Doch dann intensivierte er sein Training und konzentrierte sich auf die erstmals ausgetragene Österreich-Tour. Er konnte nach der zweiten Etappe die Führung übernehmen und seinen Vorsprung am Großglockner weiter ausbauen. Sein in den Medien kolportiertes Erfolgsrezept bestand aus einer Vielzahl roher Eier, die er auf der Lenkerstange aufschlug,24 aus Zuckerwürfeln und schwarzem Kaffee. Menapace gewann mit einer Ausnahme alle Bergwertungen, er siegte bei fünf der sieben Etappen und beendete die Rundfahrt schließlich mit dem Rekordvorsprung von 40 Minuten. Trotz eines respektablen Vorsprungs unternahm Menapace auf der Schlussetappe nochmals eine Soloflucht über 160 Kilometer von den Strengbergen bis Wien und eroberte so noch weitere 13 Minuten. Die Medien bezeichneten diese Tour trotz aller fußballerischen Höhepunkte als das »größte sportliche Ereignis des Jahres«.25 Alle Radiosender brachten täglich halb- oder dreiviertelstündige Berichte von der Tour und berichteten von wichtigen Etappen sogar live. Es herrschte eine regelrechte Rad-Euphorie, wie auch die ZuschauerInnenziffern belegen: »Durchschnittlich 10.000 Menschen bevölkerten die Einfallstraßen der einzelnen Etappenorte, die vielen tausend Neugierigen entlang der Landstraßen und in den Dörfern und Städten hinzugerechnet, ergibt nach ganz vorsichtigen Schätzungen nahezu eine halbe Million. Linz allein brachte über 20.000 Menschen auf die Beine und auf dem Weg bis Wien hatten sich nicht weniger als 300.000 Sensationshungrige eingefunden.«26

Im Zentrum der blumigen und metaphernreichen Berichte27 und der umfangreichen Fotostrecken standen zunächst die Torturen, denen sich die Fahrer ausgesetzt sahen, aber zunehmend natürlich die Heldenfigur Menapace: Die »Sport-Schau« formulierte, in nahezu monarchistischer Diktion, Menapace sei 23 Marschik, Frei spielen, 412; vgl. Staatsbürgerschaftsakt Richard Menapace. Salzburger Landesarchiv (SLA), LAD 1950 d03057. Ich danke Andreas Praher für die Materialien. 24 Arbeiter-Zeitung, 26. 7. 1949, 4. 25 Grazer Montag, 1. 8. 1949, 8. 26 Sportfunk, 7. 8. 1949, 6. 27 Dazu allgemein: Matthias Marschik, »Ein Schloß aus Druckerschwärze«: Sportjournalismus im Wiederaufbau, in: Matthias Marschik/Rudolf Müllner (Hg.), »Sind’s froh, dass Sie zu Hause geblieben sind«. Mediatisierung des Sports in Österreich, Göttingen 2010, 228–237.

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beim »Triumphzug« nach Wien »wie eine Majestät« gefahren: Bei der Zieldurchfahrt habe eine begeisterte Menge dem Mann zugejubelt, »der der Welt ein Loch geschlagen hatte. Der mit seinen Beinen und seinem Willen ganz Österreich umradelt hatte, und dem Glockner und der ausländischen Konkurrenz aufs Dach gestiegen war, als ob er das jeden Tag täte«.28 Zumindest in der fußballerischen Sommerpause konnte die Radsport-Euphorie die Titelseiten der Tagespresse erobern und den Fußball in den Sportwochenblättern auf die hinteren Seiten verdrängen: »Ueber Nacht ist Richard Menapace […] einer der populärsten Männer unseres Landes geworden. […] Seit den Zeiten Uridils und Sindelars hat kein österreichischer Sportsmann soviel Ehren einheimsen können wie der kleine Salzburger Radfahrer […]. Und im nächsten Sommer wird es wie einst ›Heute spielt der Uridil‹ heißen: ›Heute fährt der Menapace‹.«29

Erwähnt wurde freilich auch, dass sich Menapaces materielle Gewinne in Grenzen hielten: Für die Etappensiege und Bergwertungen erhielt er Fahrradkomponenten, der Preis für den Gesamtsieg bestand in einem Kinderwagen.30 Allerdings wurde Menapace kurze Zeit später zum Sportler des Jahres gewählt und bekam als erster Sportler das Ehrenzeichen der Stadt Wien verliehen. 1950 konnte Menapace trotz Verletzungen seinen Sieg bei der »Tour d’Autriche« wiederholen, ehe er 36-jährig seine Karriere beendete. Neben den Tagesund Sportzeitungen war 1950 auch der Rundfunk führend an der Berichterstattung beteiligt: Die Ravag berichtete nun schon mittels zweier Sendewagen von allen Etappen, zwei Reporter wurden eigens für die Tour abgestellt, an jedem Etappenort wurde noch der lokale Sportchef beigezogen.31 Abermals gewann Richard Menapace das Rennen mit über 20 Minuten Vorsprung und löste erneut riesige Begeisterung aus: »900 Polizisten waren noch zu wenig gewesen, der Begeisterung Einhalt zu gebieten, die sich vom Stadtrand bis in das Mark von Wien wie eine Welle fortpflanzte, als das gelbe Trikot des ›Rasenden Richard‹ sichtbar wurde. Alte Mütterchen in Hauskleidern waren auf die Straße geeilt und standen just neben dem Herrn mit dem amerikanischen Vielzylinder, kleine Kinder schrien und winkten, und das ›Mittelalter‹ war ganz außer Rand und Band. Ein Österreicher hat wieder gewonnen: Menapace, die radelnde Maschine!«32

Der »Grazer Montag« schrieb: »Gerührt schloß sich die greise Hand des Bürgermeisters um die Blasen und Schwielen von Richards kleiner Faust. Wien 28 29 30 31 32

Sport-Schau, 2. 8. 1949, 3. Tagblatt am Montag, 1. 8. 1949, 6. Pointner, Menapace, 212. Sport-Schau, 18. 7. 1950, 7. Grazer Montag, 31. 7. 1950, 6.

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grüßte seinen Rundfahrtsieger wie einen König […]. Es lebe Richard, der König der Rundfahrt, es lebe der Radsport und Österreich!«33 Nach Ende seiner Karriere betrieb Menapace zunächst weiter sein Radgeschäft in Salzburg und stellte aus Italien und Frankreich importierte Teile zu »Menapace Staatsmeister«-Rädern zusammen. 1958 stieg er ins Immobiliengeschäft ein. Er starb im April 2000.34

Abb. 2: Bürgermeister Körner beglückwünscht Menapace nach dem Sieg 1949. (Quelle: Archiv Toni Egger, Foto: Franz Fink)

IV.

»Der Richard ist Österreicher. Und das genügt«

Im Menapaces Erinnerung wurde die erste »Tour d’Autriche« zum deutlichen »Zeichen, dass jetzt Österreich wieder existiert. Es war wie ein Aufschrei fast, dass man ihnen zeigen konnte, dass man auch noch da ist. Auch wenn man nicht genügend zu essen hatte und keine Unterstützung hatte, dass man die Anforderungen eigentlich gar nicht erfüllen konnte. Aber das Zeichen war offensichtlich«.35

33 Grazer Montag, 31. 7. 1950, 6. 34 Pointner, Menapace, 213. 35 Marschik, Frei spielen, 418.

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Aber auch die mediale Inszenierung der Österreich-Rundfahrten 1949 und 1950 konzentrierte sich in der Person Menapaces auf die Schaffung eines ÖsterreichImages. Es war durch enorme Härte und einen ständigen Kampf gegen sich selbst wie gegen andere charakterisiert. Dies wurde der scheinbaren Leichtigkeit kontrastiert, mit der Menapace diese Herausforderung bewältigte. Bilder der enormen Strapazen während des Rennens wurden begleitet von Fotos, auf denen sich der Star selbst nach dem Sieg mit einem Schälchen Mokka begnügte. Und sein Lächeln – nicht zufällig wurde Menapace in den Zeitungen oft als »Fuchsgesicht« bezeichnet – verkündete, dass es neben dem Kampf auch einer Portion Raffinesse bedurfte. Das galt für seinen persönlichen Sieg ebenso wie für jenen Österreichs. Dies qualifizierte ihn wohl auch zum ersten Nationalhelden, denn der Südtiroler Monarchist war weder einem Bundesland noch einer Partei zuzuordnen. Etwaige Diskussionen darüber konnten rasch weggewischt werden: »[D]ie Innsbrucker und Salzburger sollen sich nicht streiten. Der Richard ist Österreicher. Und das genügt […]. [W]ir schenken den Italienern Bozen und behalten dafür den Richard.«36 Die Figur Menapace wurde eng an Österreich gekoppelt, doch noch kaum, wie etwa ab den 1970er-Jahren, patriotisch instrumentalisiert:37 Menapace wurde als Held, nicht als Star inszeniert, zum anderen wurde Menapace – vermutlich ein Zeichen einer noch unsicheren nationalen Identität – als Individuum porträtiert und nicht vollständig als nationale Ikone vereinnahmt. So konnte die »SportSchau« 1950 ohne Widerspruch formulieren: »Wieder hat Richard Menapace, der populäre Südtiroler, [das] Rennen gewinnen können, wieder war er, wie im Vorjahr, eine Woche lang der populärste Österreicher«.38 Auch in einer Autobiografie Menapaces wird die Verbindung von Sportler und Nation differenziert beschrieben: »Der greise Bürgermeister der Stadt beglückwünschte mich zum Sieg, den ich für Österreichs Farben errungen hatte. Als er dabei seinen Arm um meine Schultern legte, da erreichte der allgemeine Jubel seinen Höhepunkt […]. Es gab viele nasse Augen, als nach der Absolvierung unserer Ehrenrunde die österreichische Nationalhymne erklang«. Menapace formulierte klar, dass er nicht als Österreicher, sondern für das Land gesiegt hatte: »Ich konnte mich der Rührung nicht erwehren über die Freude, die der Triumph der österreichischen Farben allenthalben hervorrief, und war stolz auf meinen Beitrag zu diesem Triumph«.39 Wenn die vier Elemente Schlamm, Kampf, Maskulinität und Raum als konstitutive Elemente der Konstruktion des österreichischen Nationsbewusstseins 36 Sport-Schau, 2. 8. 1949, 7. 37 Dieter Reicher, Nationensport und Mediennation: Zur Transformation von Nation und Nationalismus im Zeitalter elektronischer Massenmedien, Göttingen 2013, 173ff. 38 Sport-Schau, 1. 8. 1950, 1. 39 Menapace, Bergkönig, 126–127 u. 129.

Richard Menapace und der österreichische Radsport nach 1945

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Abb. 3: Richard Menapace als Titelheld nach seinem zweiten Toursieg. (Quelle: Sport-Schau, 1. 8. 1950, 1)

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nach 1945 gelten können,40 werden sie paradigmatisch in den Medienimages des Radsports deutlich: Viele der Berichte und Bilder von Radrennen versinnbildlichten die zum Aufbau eines neuen Österreich geforderte Härte, wie sie freilich viele der heimkehrenden Soldaten ohnedies internalisiert hatten. Die Radrennfahrer kämpften gegen die Konkurrenten, aber auch mit Defekten und bewältigten schier unüberwindliche Alpenpässe. Sie arbeiteten sich durch Schlamm und Morast, waren Schnee und Regen ausgesetzt, fuhren ihre Rennen auf Kopfsteinpflaster und Schotterstraßen. Sie inszenierten eine raue, wenn auch kameradschaftliche Maskulinität. Und wie sie im Krieg Raumgewinn erringen sollten, eroberten sie nun symbolisch wie real den Raum des neuen Österreich. Sie alle trotzten dem Hunger und den Entbehrungen. Doch nur der Sieger konnte am Ende den Lorbeerkranz erobern und verschmitzt über die erfolgreich bewältigten Strapazen lächeln wie Richard Menapace. Menapace wurde mit den beiden Siegen nicht nur eines der ersten landesweit bejubelten Sportidole der Nachkriegsjahre, sondern auch zum Wegbereiter eines nationalen Selbstbewussteins. Dass der Sport damit einen Beitrag leistete, der jenen von Politik und Ökonomie vermutlich weit übertraf, das hatte der Radioreporter Heribert Meisel schon damals erkannt: Als »Richard Menapace Einzug hielt in Wien, legten sich viele Beobachter die Frage vor: Was müßte wohl in Österreich passieren – egal auf welchem Gebiet, Politik, Wirtschaft oder Kunst –, daß einem einzigen Österreicher ein derart triumphaler Empfang bereitet würde? Die Antwort lautet: Das gibt’s nur einmal, das gibt’s nur im Sport, – eben im Radsport!«41

Was dieses neue Österreich war, wie es aussah und welche Leistungen zu seiner Errichtung nötig waren, entnahm man nicht zuletzt den Images des Sports und zu dieser Zeit besonders des Radsports. Der Zieleinlauf in Wien war sicher das publikumswirksamste Ereignis der Tour, doch die Überquerung des Glockners war nicht nur das spektakulärste, sondern auch dasjenige, das den größten mythischen Wert besaß: Die Bezwingung des höchsten Berges Österreichs bedeutete speziell für die Wiener die symbolische Wieder-Inbesitznahme des Landes. Die Erringung des Titels eines Glocknerkönigs bedeutete fast so viel wie der Toursieg. Und obwohl die Rundfahrten der Jahre 1949 und 1950 im Ausland wenig Beachtung fanden, hoffte man dennoch auf Außenwirkung: »Österreichs Siege gegen stärkste internationale Konkurrenz werden dazu beitragen, den Ruf unseres Landes in der großen Welt des Sportes weiter zu festigen«.42 40 Marschik, Idealismus, 194–247. 41 Sport-Schau, 7. 3. 1950, 8. 42 Grazer Montag, 31. 7. 1950, 6.

Richard Menapace und der österreichische Radsport nach 1945

IV.

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Conclusio: Epische Images

Roland Barthes hat darauf hingewiesen, wie sehr Radrundfahrten von der »epischen Notwendigkeit der Prüfung« bestimmt sind. »Elemente und Gelände werden personifiziert, denn der Mensch mißt sich mit ihnen […]: der Mensch wird also naturalisiert, die Natur humanisiert«. Große Rundfahrten besitzen eine »echt Homerische Geographie«, das Rennen ist stets »eine Rundreise mit Prüfungen und eine vollständige Erforschung der irdischen Grenzen […]. Aufgrund ihrer Geographie ist die Tour also eine enzyklopädische Erfassung der menschlichen Räume«.43 Richard Menapace hat für das kleine, nach Selbstbewusstsein und -bestätigung suchende Österreich eine solche homerische Funktion übernommen. Genau genommen hat freilich nicht der Sportler selbst, sondern sein Image diese Bedeutung repräsentiert. Zwar besitzen Texte, Reportagen und Bilder im Sport stets eine besondere Wirkmacht, indem sie Situationen verdeutlichen, zuspitzen und ihnen einen spezifischen Sinn zuschreiben. Doch dies gilt für den Radsport in ganz besonderem Maß: Denn erstens erwies sich das Image – also das Foto, der Zeitungstext oder das in Radioreportagen gezeichnete Bild – beim Radsport als speziell bedeutsam, sah man doch, im Gegensatz etwa zum Fußball, die »Helden der Landstraße«, selbst wenn man vor Ort war, höchstens vorbeihuschen. Zum zweiten verspricht – im Sinne von Roland Barthes – jedes Bild, dass »etwas gewesen ist«. So ist es also dieses Image, das dem Sport und seinen HeldInnen Authentizität, scheinbare Realität und vor allem Konkretisierung verschafft. Drittens aber bedeuteten Menapaces Erfolge in einem übertragenen Sinn einen Beitrag zum Image, also zum neuen Bildnis Österreichs. Richard Menapace mag am Beginn seiner zweiten, seiner österreichischen Karriere umstritten gewesen sein, am Ende war er der gefeierte Nationalheld des Radsportes. So hieß es im »Neuen Österreich«, Richard Menapace »war aber zugleich Österreich.«44

43 Roland Barthes, Die Tour de France als Epos, in: Gerd Hortleder/Guter Gebauer (Hg.), Sport – Eros – Tod, Frankfurt am Main 1986, 25–36, 26–28. 44 Zit. nach Rudi Palla, Der Bergkönig. Richard Menapace – Eine Reminiszenz an ein Radsportidol, in: Wiener Zeitung, 4. 7. 2003, URL: http://www.wienerzeitung.at/themen_chan nel/wz_reflexionen/kompendium/161633_Der-Bergkoenig.html (abgerufen 14. 2. 2018).

Thomas Karny

Vom Bastler zum Dandy. Motorsport in Österreich nach dem Zweiten Weltkrieg

Der Krieg war gerade erst zu Ende, sein hinterlassenes Trümmerfeld unübersehbar, das tägliche Brot karg und vieles nur im Schleichhandel zu erwerben. Doch viele Menschen in Österreich sehnten sich abseits von Trauer- und Wiederaufbau-Arbeit – und wohl auch dem Verdrängen der unmittelbaren Vergangenheit – nach Abwechslung und Unterhaltung. Sie bekamen beides unter anderem im rasch wiederbelebten Motorrennsport geboten.1 Die Faszination des Automobils und Motorrads als Fortbewegungsmittel2 sowie die damit verbundene Begeisterung für den Automobilsport in der Zwischenkriegszeit,3 prolongiert durch das Automobil als Fortschritts- und Modernisierungsmetapher im Nationalsozialismus4, können als Grundlage dieser Entwicklung angesehen werden. Ein enormer Sportenthusiasmus nach 19455 bildete die konkrete Basis. Autos und Motorräder, die irgendwie den Krieg überstanden hatten und nun wie aus dem nichts auftauchten, bildeten das Starterfeld in Orten und auf Untergründen, die man auch nur irgendwie dafür geeignet hielt. Man fuhr auf Sand, Gras, zugefrorenen Seen, über Alpenpässe und rund um den Kirchturm. Es gab 1 Vgl. Matthias Marschik, Beschädigte Helden: Der Automobilsport der frühen Nachkriegsjahre, in: Thomas Karny/Matthias Marschik, Autos, Helden und Mythen. Eine Kulturgeschichte des Automobils in Österreich, Wien 2015, 104–107; Thomas Karny, Bolzerei ums Heustadelwasser, Wiener Zeitung Extra, 16. 9. 2017, 38. 2 Vgl. Oliver Kühschelm, Automobilisierung auf Österreichisch. Zwei Anläufe einer Nationalisierung von Kleinwagen, in: Oliver Kühschelm/Franz X. Eder/Hannes Siegrist (Hg.), Konsum und Nation. Zur Geschichte nationalisierender Inszenierungen in der Produktkommunikation, Bielefeld 2012, 163–194, 166. 3 Martin Pfundner, Vom Semmering zum Grand Prix. Der Automobilsport in Österreich und seine Geschichte, Wien/Köln/Weimar 2003, 139–222; Michael Zappe, Autosport in Österreich 1898–1938, Wien 2004. 4 Dorothee Hochstetter, Motorisierung und »Volksgemeinschaft«. Das Nationalsozialistische Kraftfahrkorps (NSKK) 1931–1945, München 2004; Eberhard Reuß, Hitlers Rennschlachten. Die Silberpfeile unterm Hakenkreuz, Berlin 2006; Uwe Day, Silberpfeil und Hakenkreuz. Autorennsport im Nationalsozialismus, Berlin 2006. 5 Matthias Marschik, Vom Idealismus zur Identität. Der Beitrag des Sportes zum Nationsbewußtsein in Österreich (1945–1950), Wien 1999.

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genügend Enthusiasten, die ihr Gerät quer durch ganz Österreich karrten, um Wochenende für Wochenende in Eisenstadt, Graz, Hallein, Korneuburg, Mattighofen, Rankweil, St. Pölten, Stockerau, Wiener Neustadt, rund ums Wiener Heustadelwasser oder auf diversen Trabrennbahnen gegeneinander in Wettstreit zu treten. Tausende Zuschauer drängten sich bei diesen Rennen gegen die nur symbolische Streckenabsperrung eines in Hüfthöhe gespannten Seils, um sich am Knattern, Kreischen und Dröhnen der im wilden Drift um die Ecke rutschenden Rennfahrzeuge zu begeistern. Unfälle waren unvermeidlich, und final Verunglückte wurden wohl im Gefühl der kriegsbedingten jahrelangen Todesnähe als unausweichliche Kollateralschäden hingenommen. Die teilweise veralteten Fahrzeuge waren dem Spalier stehenden Publikum dennoch die wochenendliche Visualisierung eines Traumes, der in ferner Zukunft erst in Erfüllung gehen sollte. Man wäre froh gewesen, hätte man ein Fahrrad besessen, aber die Sehnsucht galt dem Motorrad oder Auto. Der Rennfahrer stand als personifiziertes Symbol für diese bessere Zukunft und war wahrscheinlich schon allein deshalb ein Idol. Es sind Namen wie Otto Math8,6 Wolfgang Denzel,7 Martin Schneeweiß,8 Fritz Dirtl und Rupert Hollaus,9 deren Bekanntheit sich bis heute erhalten hat und die man untrennbar mit dem Motorsport der Nachkriegszeit in Verbindung verbringt. Der Rennbetrieb wurde bereits im Herbst 1945 im Wiener Prater mit dem Rennen »Rund ums Heustadelwasser« wieder aufgenommen, und schon im Jahr darauf folgten das »Race of the Ries« in Graz sowie einige Sandbahnrennen, für deren Wiederbelebung sich vor allem der dreifache Vizeweltmeister Leopold Killmeyer eingesetzt hatte. Es war eine recht neue Motorsportart, die da von Neuseeland über England bereits vor dem Zweiten Weltkrieg den Weg auf den Kontinent gefunden hatte und nun zum Massenspektakel wurde: Speedway. Auf Ovalbahnen (in Österreich meistens auf jenen für Traberrennen) fochten pro Lauf jeweils vier Fahrer auf Motorrädern, die weder Bremsen noch Gangschaltung aufwiesen, nach einfachen, aber harten Regeln um den Sieg. Nachdem mittels des hochschnellenden Gummibands der Start zu vier gegen den Uhrzeigersinn zu absolvierenden Rennrunden freigegeben worden war, gab es bis zur ersten Kurve einen Seite an Seite absolvierten Sprint, danach sollte im »Infight« Mann gegen Mann 6 Meinhard Neuner, Die Sammlung Otto Math8. Das Lebensbild eines Tiroler Erfinders und Motorsportlers, in: Veröffentlichungen des Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum 74 (1994), 57–84; Gabriele Geutebrück, Otto Math8. Teufelskerl mit Herz. Bild- und Textdokumentation eines rasanten Lebens, Hall/Tirol 1997. 7 Martin Pfundner/Friedrich Ehn, Wolfgang Denzel: Sein Sportwagen und der BMW 700, Purkersdorf 2008. 8 Martin Schneeweiß: Zwischen Start und Ziel. Aus meinem Rennfahrerleben, Wien 1948. 9 Thomas Karny, Rupert Hollaus. Weltmeister für 1000 Stunden, St. Pölten 2004.

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so ziemlich alles erlaubt sein: Rempeln, abdrängen, schmerzhafte Kollisionen mit der Bande und folgenschwere, manchmal tödliche Unfälle blieben nicht aus. Speedway war ein Ereignis, das die Massen in seinen Bann zog. In der Sportberichterstattung stand Speedway kurzzeitig auf Augenhöhe mit den populären Sportarten wie Skifahren und Fußball. In der Zeitschrift »Motorrad« konnten sich Fans über Rennverläufe und Fahrer, aber auch über Technik und neue Maschinen informieren. Die Fahrer genossen eine Aufmerksamkeit und Verehrung, wie sie später Formel-1-Rennfahrern zuteil wurde.10 Speedway war so populär, dass der von Karl Killmeyer, Leopolds jüngerem Bruder, verfasste und von Ferry Wunsch vertonte »Speedway-Fox«11 zu einem beliebten Schlager wurde. »Ein großer Höhepunkt der Motorradwelle jener Tage« erinnert sich Friedrich Ehn an seine Kindheit, »waren die jeden Mittwoch bei Flutlicht stattfindenden Speedwayrennen auf dem ›Tschechischen-Herz-Platz‹ im 10. Wiener Bezirk, wo heute Wohnsilos in den Himmel ragen. Dort war die Hölle los, wenn die Teams ›Austria‹, ›Vienna‹ und ›ARBÖ‹ gegen das ›Gelsen-Team‹ antraten. Das Stadion kochte, wir Gschrappen hockten als Beschwerung mit Begeisterung auf dem Holzrechen, der hinter einem LKW zur Einebnung der Schlackenbahn zwischen den Rennen über die Bahn gezogen wurde. Dass wir nachher wie die Mohnnudeln aussahen, tat der Begeisterung, unseren Helden nahe sein zu dürfen, keinen Abbruch.«12

Als bedeutendster Motorsport-Organisator trat nach der 1946 erfolgten Fusionierung des Österreichischen Automobilclubs mit dem Österreichischen Touringclub der ÖAMTC auf, bei dem auch die Oberste Nationale Sportkommission für den Kraftfahrsport (OSK des ÖAMTC) angesiedelt wurde, die den österreichischen Motorsport bei den internationalen Auto- und Motorradvereinigungen FIA und FIM vertrat. 1947 gab es die ersten regulären Rennsportveranstaltungen und auch einen nationalen Sportkalender. Motorsport in der Nachkriegszeit hieß – gemäß dem deutschen und auch österreichischen »Sonderweg [!] in die automobile Gesellschaft«13 – vor allem Motorradsport. Noch 1950, fünf Jahre

10 Vgl. Friedrich Ehn, Das Gelsen-Team und sein Sponsor : Erstes Österreichisches Motorradmuseum, Sigmundsherberg, URL: www.motorradmuseum.at/Leseecke_2.html (abgerufen 12. 11. 2017). 11 Geburtstagsehrung für Speedway-Legende Karl Killmeyer, wien.at, URL: https://archive.is/ GJd4G Geburtstagsehrung für Speedway-Legende Karl Killmeyer, 90. Geburtstag; URL: https://www.youtube.com/watch?v=jrXTKP3uuW0 (abgerufen 17. 12. 2017). 12 Ehn, Das Gelsen-Team (abgerufen 12. 11. 2017). 13 Frank Steinbeck, Das Motorrad: Ein deutscher Sonderweg in die automobile Gesellschaft. Stuttgart 2012.

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Abb. 1: Speedway war in Österreich nach dem Zweiten Weltkrieg eine höchst populäre Motorsportart, in der Fahrer wie Martin Schneeweiß, Leopold Killmeyer und Fritz Dirtl international erfolgreich reüssieren konnten. (Foto: Archiv Toni Egger)

nach dem Krieg, wies der Rennkalender von 72 Motorsportveranstaltungen 59 für Motorräder aus.14 Am zweiten Juniwochenende jenes Jahres wurde in Lustenau auf dem Dreieckskurs Altenstadt – Rankweil – Brederis sogar der »Große Preis von Österreich« für Motorräder ausgetragen. 50.000 Zuschauer und Zuschauerinnen, die großteils mit Sonderzügen angereist waren, säumten den Rennkurs, nahmen auf den eigens für das Rennwochenende gezimmerten Holztribünen Platz oder kletterten auf die Hausdächer. Lokale Feuerwehr und französische Besatzungsgendarmen sorgten dafür, dass der Publikumsandrang in einigermaßen geordnete Bahnen gelenkt und das Rennprogramm ohne große Probleme abgespult werden konnte. Ins Ländle waren internationale Topfahrer angereist, aber auch der heimische Nachwuchs, unter anderem der damals 18-jährige Rupert Hollaus, der im 250-ccm-Rennen Fünfter wurde und vier Jahre später in der 125ccm-Klasse als bislang einziger Österreicher Motorrad-Straßenweltmeister wird. Trotz der Härte der Wettkämpfe wurde dabei eine – sportliche, vielleicht auch soldatisch konnotierte – Fairness demonstriert, so etwa bei der Siegerehrung nach dem 125-ccm-Rennen, das der Dornbirner Lokalmatador Sepp Herburger für sich entschieden hatte. Nachdem Stargast Trude Jochum-Beiser, Olympiasiegerin in der Ski-Kombination von 1948, Herburger den Lorbeerkranz

14 Motorsportgeschichte Zweite Republik, Technisches Museum Wien, URL: https://www.tech nischesmuseum.at/motorsport-in-oesterreich/zweite-republik (abgerufen 4. 8. 2017).

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auf seine Schultern gelegt hatte, reichte ihn dieser postwendend an Carlo Ubbiali weiter. Der Italiener war bis kurz vor dem Ziel in Führung gelegen und musste Herburger schließlich aufgrund eines Defektes vorbeziehen lassen. Für Herburger war klar : Der moralische und auch verdiente Sieger war der Italiener. Welch handwerkliches Können in jener Zeit des Motorsports vonnöten war, demonstrierten die Vorarlberger BMW-Gespann-Fahrer Julius Beer und Gernot Zingerle nach ihrem Sieg in der 600-ccm-Klasse. Um auch in der 1000-ccmKlasse starten zu können, tauschten sie – mangels eines zweiten Motorrades – während der Mittagspause den kleineren Motor gegen den größeren aus. Belohnt wurde ihr Aufwand nicht, in Führung liegend ereilte sie ein Motorschaden.15 So erfolgreich diese Veranstaltung hinsichtlich teilnehmender Fahrerprominenz, heimischer Erfolge und Publikumsinteresse auch war, finanziell geriet sie zum Desaster. Ob es alleine daran lag, dass sich zu viele ZuschauerInnen durch zu viele Schlupflöcher hatten schummeln können und somit das Eintrittsgeld schuldig geblieben waren, sei dahingestellt. Jedenfalls musste der ÖAMTC ein gewaltiges Defizit seiner Vorarlberger Landesorganisation »schlucken«, die von nun an die Finger von Großveranstaltungen ließ.16 Ab 1951 rief der ARBÖ zum »1.-Mai-Rennen«, einem Motorradevent auf dem Autobahnstumpf Salzburg-Liefering. Es war geradezu logisch, dass die Motorradgilde als am weitest verbreitete Rennsparte mit den Sandbahnfahrern Martin Schneeweiß und Fritz Dirtl sowie dem Tourist-Trophy-Sieger und Straßenweltmeister von 1954, Rupert Hollaus, auch die ersten großen heimischen Motorsportstars hervorbrachte. Die Metapher, für die die Fahrer standen, entsprach wohl auch ihrem Selbstverständnis: Aus dem Krieg Davongekommene begannen, mit Geschick und Improvisation »ihre Welt danach« aufzubauen. Martin Schneeweiß, Sandbahn-Europameister von 1937, hatte eine von ihm bereits vor dem Krieg selbst konstruierte Gummi-Hinterradfederung in sein Rennmotorrad eingebaut, von der noch Fritz Dirtl, der in den 1950er-Jahren als der schnellste Sandbahn- und Speedwayfahrer Mitteleuropas galt, profitieren sollte. Und ehe Rupert Hollaus von NSU als Werksfahrer engagiert wurde, bildete der gelernte Kfz-Mechaniker mit seinem Vater und seinem Bruder Reinhart einen erfolgreichen Privat-Rennstall. In der eigenen Werkstatt in Traisen wurde unter anderem eine Langbeinschwinge für eine Moto Guzzi nachgebaut, für die es seitens anderer Rennfahrer eine derart große Nachfrage gegeben haben soll, dass man laut Aussagen von Reinhart Hollaus »eine Kleinserie hätte auflegen können«.17 Man war Forschungs- und Entwicklungsabteilung sowie Fertigungsstätte und Reparaturwerkstatt in einem und empfand es auch als ganz selbstverständlich, 15 Dietmar Gasser, Motorrad-GP von Österreich 1950, in: Austroclassic 1 (2011), 42. 16 Ebd., 43. 17 Karny, Hollaus, 20.

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Kollegen während der Rennwochenenden unter die Arme zu greifen oder mit Werkzeug auszuhelfen. Darüber hinaus genossen zahlreiche österreichische Spitzenfahrer die Unterstützung privater Gönner, unter anderem Karl Göls, der in Wien eine Zylinderschleiferei führte. Bis 1956 leitete er knapp zwei Jahrzehnte lang einen eigenen Rennstall, das sogenannte »Gelsen-Team«. Dazu gehörten neben Martin Schneeweiß und Fritz Dirtl auch Topfahrer wie Leo Fassl, Josef Walla, Georg Mach, Fritz Trella, Franz Schenk und Hermann Rossmann, die in knapp 20 Jahren rund 5.000 Siege18 einfuhren. Die Unterstützung durch private Sponsoren war in einer Zeit, die von Mangelwirtschaft und Improvisationstalent geprägt war, nicht zu unterschätzen. Die Siegesprämien waren, ebenso wie im Radsport, meist ein Lorbeerkranz, ein Pokal und Sachleistungen in Form von Ersatzteilen. Rennfahren war ein teures Hobby, leben konnte davon so gut wie niemand. Selbst als Rupert Hollaus NSU-Werksfahrer wurde, lag sein Monatsfixum bloß ein Drittel über dem Lohn eines Arbeiters,19 der in der Montagehalle am Band stand. Alle drei Motorsportstars der Nachkriegszeit – Martin Schneeweiß, Rupert Hollaus und Fritz Dirtl – starben den Rennfahrertod. Die Rennbahn war das pazifizierte Schlachtfeld, auf dem so mancher, der Mann gegen Mann um Ruhm, Sieg und Ehre kämpfte, auch das Leben ließ. Der aus dem Krieg entstandene Fatalismus hielt sich bis in die 1970er-Jahre. Die Fahrer sahen und inszenierten sich als Männer, das Publikum liebte den Nervenkitzel, die Medien gierten nach der von Tragödie und Heldentum verbrämten Schlagzeile, das Thema Sicherheit war bestenfalls sekundär. Analog dazu war es Motorradfahrern auch im Alltagsverkehr peinlich, einen Sturzhelm zu verwenden, der als »Quargelsturz« oder – noch schlimmer – als »Angsthäferl«20 tituliert wurde. Erst 1979 wurde dem durch die Helmpflicht Einhalt geboten. Auch wenn Autorennen nach 1945, da das Starterfeld klein und das Fahrmaterial schlecht war, zunächst nur den Status eines Anhängsels von Motorradveranstaltungen zu erdulden hatten, trat hier noch deutlicher als bei den Motorrädern der Pioniergeist innovativer und erfinderischer Mechaniker und Ingenieure in den Vordergrund. Wolfgang Denzel gewann mit seinen Eigenbausportwagen auf VW-Basis, die in kleiner Stückzahl auch in den Verkauf kamen, zahlreiche Rennen, unter anderem 1949 die erste Österreichische Alpenfahrt nach dem Krieg. Der Italo-Österreicher Karl »Carlo« Abarth erwarb Ende der 1940er-Jahre den insolventen Cisitalia-Rennstall und machte sich als Motortuner und mit Eigenbauten hauptsächlich auf Fiat-Basis einen großen

18 Ehn, Das Gelsen-Team (abgerufen 12. 11. 2017). 19 Karny, Hollaus, 85. 20 Ebd., 58.

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Namen.21 Vor dem Krieg war Abarth Sandbahnfahrer gewesen, dessen Karriere ein Sturz, bei dem er schwere Beinverletzungen erlitt, beendet hatte. Im selbst konstruierten Gespann gewann er 1934 als Beifahrer von Martin Schneeweiß eine von Castrol gesponserte medienwirksame Wettfahrt gegen den Orientexpress auf der Strecke Ostende – Wien.22 Der Innsbrucker Otto Math8 konnte 1950 auf dem von Ferdinand Porsche gebauten »Typ 64« die Österreichische Alpenfahrt für sich entscheiden und konstruierte 1953 mit seinem »Fetzenflieger« eine automotive Kuriosität, wie sie wohl nur in Zeiten des Mangels entstehen konnte: Eine 400 Kilogramm leichtes Fahrzeug, dessen eigenhändig zusammengeschweißtes Chassis auf VW-Achsen montiert und mit einem 1500-ccm-Porschemotor bestückt wurde und ihren Konstrukteur bei vielen Rennen auf Sand und Eis nahezu unschlagbar machte. Sowohl die handwerklichen als auch die fahrerischen Leistungen Math8s waren beachtlich, da er seit einer Lähmung des rechten Arms – die Folge eines schweren Motorradrennunfalls – als Linkshänder sein Leben meistern musste. Wiewohl er seine Autos, sofern sie keine Monoposti waren, in Eigenregie auf Rechtslenker umgebaut hatte, musste er vor jedem Schaltvorgang mit seinem Oberkörper das Lenkrad fixieren, damit er seinen linken Arm vom Volant lösen und den entsprechenden Gang einlegen konnte. Neben seinen motorsportlichen Aktivitäten betrieb er in Innsbruck seit 1936 eine kleine Tankstelle. Als gelernter Feinmechaniker, der die Gewerbeschule für Maschinenbau besucht und 1941 die Prüfung zum Kraftfahrzeugmechaniker abgelegt hatte, schliff und bohrte er mittels selbst konstruierter und angefertigter Maschinen Zylinder. Angeblich konstruierte er Jahre vor Felix Wankel einen Drehkolbenmotor.23 Große Bekanntheit erlangte Math8 durch einen von ihm entwickelten Schmierstoff. Wohl inspiriert von dem amerikanischen Additiv »Bardahl«, das er als Generalvertreter in Österreich vertrieb, stellte er einen eigenen Zusatzstoff her. Mittels Pumpen und Filtern wurde Altöl wiederaufbereitet, notwendige Zentrifugen besorgte sich Math8 aus der Milchwirtschaft. Als Behältnisse für die Herstellung dienten Treibstofftanks, die angeblich von V2-Raketen24 stammten und dank guter Kontakte zur amerikanischen Besatzungsmacht zu Math8 gelangt sein sollen. Die Zusammensetzung hielt er geheim, auf den Markt kam es als »Math8 Universal«. Die Geheimniskrämerei um die Mixtur polarisierte die Autowelt jahrzehntelang. Die einen hielten Math8, der von 1953 bis 1981 Gremialvorsteher des Tiroler Mineralölhandels25 war, für ein Genie, die anderen für 21 22 23 24 25

Franz Steinbacher, Carlo Abarth – King of small Cars, in: Austroclassic 2 (2016), 37. Lucciano Greggio, Abarth. Ein Genie und seine Autos, Königswinter 2004, 31ff. Neuner, Die Sammlung Otto Math8. Helmut Zwickl, Der Alchimist von Innsbruck, in: autorevue 12 (2000), 140. Neuner, Die Sammlung Otto Math8.

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einen Scharlatan. In einer Zeit zahlreicher Kriegsversehrter, die einbeinig, einarmig, blind oder im Rollstuhl ihr Leben meisterten, stand Math8 als Sinnbild für den großen Erfolg, den man trotz Behinderung durch technische Handfertigkeit, aber auch durch Schläue und Hartnäckigkeit erreichen konnte.

Abb. 2: Otto Math8 allein auf weiter Flur. Der körperlich schwer gehandicapte Innsbrucker lehrte mit seinen von großem technischen Know-how zeugenden Eigenkonstruktionen die Konkurrenz in ihren Wagen oft klangvoller Marken das Fürchten. (Foto: Archiv Toni Egger)

Da der Autorennsport im Vergleich zum Motorradrennsport deutlich kostspieliger war, schied neben dem Know-how und dessen Umsetzung auch die Finanzkraft die Spreu vom Weizen. So ist es nicht verwunderlich, dass oftmals die wohlbestallten Fahrer siegreich blieben. Einer davon war der Personaldirektor der Österreichischen Nationalbank, Kurt Koresch, der mit seinem BMWVeritas jahrelang die hubraumstarken Klassen der nationalen Autorennen beherrschte. Aber auch der Stockerauer Pumpenfabrikant Ernst Vogel konnte bei Rennen im In- wie im Ausland reüssieren. Erfolge erzielte auch der BMW-Importeur Wolfgang Denzel, dem 1954 mit seinem Sieg bei der 17. Auflage der Coup des Alpes,26 der französischen Alpenfahrt, einer der größten österreichischen Rallye-Erfolge gelang. Dem »rasenden Juwelier« Gotfried Köchert gelang es 1956 als erstem Österreicher, einen Klassensieg beim Rennen am Nürburgring zu erringen.27 Dies gilt auch für Paul (Fürst) Metternich, Spross eines berühmten 26 Pfundner, Grand Prix zum Semmering, 235. 27 Ebd., 259.

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Adelsgeschlechts und späterer FIA-Präsident, der bei der Carrera Panamericana Mexicana 1952 gemeinsam mit Baron Manuel de Teff8, Sohn des ehemaligen brasilianischen Botschafters in Rom, mit dem hubraumschwächsten Wagen, einem Porsche 1500, den achten Platz belegte.28 Es war wohl kein Zufall, dass diese unkontrollierte Phase des Motorsports nach den ersten Erfolgen des »Wiederaufbaus« und dem Erreichen des Staatsvertrags zu Ende gehen sollte: Nach einem glimpflich ausgegangenen Feuerunfall beim »Bäderpreis von Traiskirchen« und wohl auch unter dem Eindruck mehrerer Todesopfer bei der »Mille Miglia« beschloss die OSK 1956 ein Verbot für Automobil-Straßenrennen. Ausgenommen waren eigens angelegte Rennstrecken, die es in Österreich allerdings noch nicht gab.29 Ein Jahr zuvor, als bei der Katastrophe in Le Mans über 80 Menschen zu Tode gekommen waren, wäre ein solches Verbot – nach dem Vorbild der Schweiz – allerdings eher nachvollziehbar gewesen. In dieser Situation entstand Ende 1956 mit dem Österreichischen AutomobilSport-Club (ÖASC) ein neuer Veranstalter. Dessen treibende Kräfte Willy Löwinger, Ernst Vogel und Martin Pfundner organisierten 1957 erstmals auf dem Flugplatz in Aspern ein internationales Rundstreckenrennen, trugen am Salzburger Gaisberg den ersten FIA-Meisterschaftslauf Österreichs aus und sorgten für die Wiederbelebung der mittlerweile sportlich bedeutungslosen Österreichischen Alpenfahrt.30 Aufgrund ihrer Streckenlänge von 1.609 Kilometern wurde sie zunächst in Anlehnung an den italienischen Rennklassiker »Mille Miglia Austria« genannt, wurde unter der Bezeichnung Semperit-Rallye zu einem festen Bestandteil der österreichischen Motorsportgeschichte und zählte in den 1960er-Jahren mehrmals zur Rallye-EM. Neben dem boomenden Rallyesport waren die späten 1950er- und 1960erJahre die Zeit der Flugplatzrennen wie etwa jene in Innsbruck, Langenlebarn, Linz, Graz, Klagenfurt und Aspern, wo Stirling Moss 1961 einen ersten – noch nicht zur Weltmeisterschaft zählenden – österreichischen Formel-1-Lauf gewann.31 Zum wichtigsten Flugplatzrennen entwickelte sich jenes in Zeltweg, wo 1963 Österreichs erster Formel-1-Grand-Prix und ein Jahr später der erste heimische Formel-1-Lauf, der zur WM zählte,32 ausgetragen wurde. Nahezu zeitgleich mit dem Aufstieg von Zeltweg erfolgte auch der Karriereverlauf des aus reicher Familie stammenden Jochen Rindt, der zudem seitens des Grazer Autohändlers Oskar Vogl schon als 20-Jähriger die kostenlose Betreuung seines 28 Als Reminiszenz an diesen Erfolg brachte Porsche drei Jahre später ein Modell unter der Bezeichnung »Carrera« heraus; vgl. Ulf Poschardt, 911, Stuttgart 2013, 61. 29 Pfundner, Grand Prix zum Semmering, 258. 30 Ebd., 261. 31 Ebd., 275. 32 End., 285.

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Wagens garantiert bekam. Später wurde er mit einem Cooper Formel-Junior Fahrer in der von Curt Barry, Rolf Markl und dem Schauspieler Gunther Philipp gegründeten »Ecurie Vienne« und schaffte schließlich mit Erfolgen in der Formel 2 und dem gemeinsam mit Masten Gregory auf einem Ferrari errungenen Sieg beim 24-Stunden-Rennen von Le Mans 1965 den Sprung in die Formel 1. Jochen Rindt verkörperte einen modernen Rennfahrertypus, der Racing und Business unter einen Hut brachte. Neben seiner erfolgreichen Karriere als Rennfahrer arbeitete er an seiner zweiten als Geschäftsmann. Mit der erstmals 1965 vom RRC 13 (Recent Racing Club 13) organisierten Jochen-Rindt-Show, die ab 1968 unter der Ägide des ÖAMTC in Wien bis 1975 lief und danach noch jeweils einmal in Linz und Essen stattfand, verfügte er über finanzielle Einkommen, die ihn vom Rennsport unabhängig machten. Die Jochen-Rindt-Show war eine logische Fortsetzung der Autosalons, deren erster in Wien nach dem Krieg 194833 veranstaltet wurde. Wurden hier die neuesten, zu Beginn noch äußerst bescheidenen Modelle für den Alltagsfahrer vorgestellt, sah man dort bald die erfolgreichen Rennwagen, aber auch Kuriositäten wie den Rekordwagen »Green Monster«, das Auto zum Film »Tschitti Tschitti Bäng Bäng«, und – als kuriosen Gegenpol – einen Stand von Rad-Ass Ferry Dusika. Der wirtschaftliche Aufschwung hatte die ÖsterreicherInnen schon längst vom Einspurigen zum Mehrspurigen getragen. Bereits 1960 war die Anzahl der neu zugelassenen Autos höher als jene der Motorräder, zehn Jahre später hatten die PKW-Neuzulassungen deutlich die Millionengrenze34 durchstoßen. Das Auto symbolisierte Wohlstand und Freiheit, auch schon für die Arbeiterschaft.35 Auch wenn sich der hegemoniale Typus des Rennfahrers vom Mechaniker zum hedonistischen Dandy wandelte,36 die Todesverachtung blieb Teil des Motorrennsports.37 Man konnte sie live an der Rennstrecke, immer öfter im TV, vor allem aber in dem einen oder anderen Spielfilm miterleben. Rennfahrerfilme wie »Der Favorit« (USA, 1955) und »Rivalen am Steuer« (D, 1957) waren bereits in den Kinos gelaufen, »Indianapolis – Wagnis auf Leben und Tod« mit Paul Newman (USA, 1969) sowie »Le Mans« mit Steve McQueen (USA, 1971) folgten. John Frankenheimer lieferte 1966 mit »Grand Prix« das cineastische Rennepos schlechthin: Gedreht wurde an acht Originalrennstrecken, mit Phil Hill, dem 33 Peter Urbanek, Wiener Autosalon: Hier kommt Curd, in: Der Standard Rondomobil, 16. 1. 2015, 15. 34 Entwicklung des österreichischen Kfz-Bestandes seit 1948, ÖSTAT, Wien 2017. 35 Matthias Marschik, Spitzkehre. Automobile Diskurse in der Arbeiter-Zeitung der 1950er Jahre, in: Thomas Karny/Matthias Marschik, Autos, Helden und Mythen. Eine Kulturgeschichte des Automobils in Österreich, Wien 2015, 108–113. 36 Mit den Veränderung der Rennfahrer-Typen ging auch ein Wechsel in der Erscheinungsform der Fahrzeuge einher : »Die Blechhülle hat die ölige Nacktheit des Motors verdeckt«: Ulf Poschardt, Über Sportwagen, Berlin 2002, 18. 37 Helmut Zwickl, Die Eroberung des Sinnlosen. Die wilden Jahre der Formel 1, Wien 2007.

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Weltmeister von 1961, am Steuer eines Ford GT 40, auf dem eine Kamera aufgebaut wurde, um die Rennszenen authentisch einzufangen, und mit 13 Formel1-Rennfahrern als Schauspielern, unter ihnen Jochen Rindt. Steve McQueen und John Sturges stellten ihr Konkurrenzprojekt »Day of the Champion« ein, dafür entstand in der DDR der Fünfteiler »Ohne Kampf kein Sieg« – eine Filmbiografie nach der Autobiografie des 1954 in die DDR geflohenen ehemaligen MercedesFahrers Manfred von Brauchitsch. Auch das Fernsehen entdeckte die Faszination des Automobilrennsports und veränderte seinerseits den Motorsport, dem dadurch enorme Gelder – nicht zuletzt aus der Werbung – zuflossen. Jochen Rindt fungierte ab 1965 als Moderator für die TV-Sendung »Motorama« und wurde damit auch zum Medienstar.38 Ihm wird nachgesagt, das vorgehabt zu haben, was Bernie Ecclestone später realisiert hat: Die Formel 1 zu strukturieren und sie professionell zu vermarkten. Rindt genoss schon sehr früh das Sponsoring von großen Unternehmen, war aber auch Werbeträger heimischer Unternehmen wie Pewag-Schneeketten, Hertz-Autovermietung und Semperit.

Abb. 3: Jochen Rindt changierte zunehmend und sehr erfolgreich zwischen Rennfahrer und Geschäftsmann. Hier als Gastgeber der Jochen-Rindt-Show 1968 gemeinsam mit dem schottischen Weltmeister Jackie Stewart und Models in zeitgenössischem Outfit. (Foto: Archiv Toni Egger)

38 Oliver Tanzer, Der Zauberer am Lenkrad, in: Profil 35 (1995), 57.

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In Werbung und Sponsoring ist aber auch der Wandel der Rennszene und seiner Proponenten zum millionenschweren Business angelegt. Während Rupert Hollaus auf einer mit blauer oder silberner, jedenfalls aber einfarbiger Verkleidung versehenen Maschine 1954 seinem WM-Titel entgegenfuhr, wurden in den späten Jahren von Jochen Rindt die Autos bereits als rasende Werbeträger verwendet. Eine Vorreiterrolle nahm hier Otto Math8 ein, der auf seinen Rennwagen bereits in den 1950er-Jahren zunächst für die Schmiermittelmarke »Bardahl«, danach für sein eigenes Produkt »Math8 Universal« warb. Und auch Fritz Dirtl wusste bereits früh, dass die Verwendung seines Namens nicht nur der Absatzsteigerung eines Produkts, sondern auch der eigenen Brieftasche und dem eigenen Image förderlich ist, und so entstand in Kooperation mit »Schneiders Mantelfabrik« in Salzburg der »Dirtl-Trench«, ein gegen Wind und Wetter schützender Mantel für den Motorrad- oder Motorrollerfahrer.39 Im Allgemeinen war aber für die Nachkriegs-Fahrer die Verbundenheit zur Nation größer als die Werbetätigkeit für eine Marke. Rupert Hollaus soll bei seiner Verpflichtung als Werksfahrer NSU eine einzige Bedingung gestellt haben, nämlich einen rotweiß-roten Helm tragen zu dürfen.40 Geändert hat sich auch der Umgang der Medien mit den Aktiven. Wahrten in Zeiten von Rupert Hollaus Reporter noch eine geradezu spröde wirkende Distanz, so war das zu Zeiten von Jochen Rindt nicht mehr ganz so, auch wenn das amikale Verhältnis zwischen JournalistInnen und SportlerInnen nicht in diesem Ausmaß wie heute zur Schau gestellt wurde. Im Gegensatz zu Rupert Hollaus, der gemessen an seinen Erfolgen wenig Medienpräsenz genoss, kam Rindt die Motorsportbesessenheit von zwei Reportern, Heinz Prüller und Helmut Zwickl, zugute, die seine – und damit auch ihre eigene – Popularität erweiterten. Vor allem deshalb ist Rindt fast ein halbes Jahrhundert nach seinem Tod zu einer legendenhaften Figur verklärt, deren Verehrung regelmäßig zu seinem Geburts- und Sterbedatum perpetuiert wird. Udo Jürgens hat ihm 1971 das Lied »Der Champion« gewidmet, seit 2000 erinnert in Graz am Haus Ruckerlberggürtel 16 eine Gedenktafel an Rindts hier verbrachte Jugendjahre, 2009 kam am Salzburgring Hubert Lepkas »Jochen Rindt Rennfahreroper« zur Uraufführung. An Rupert Hollaus hingegen erinnerten für einige Jahre ein Gedenkrennen am Salzburgring und eine anlässlich seines 25. Todestages 1979 aufgelegte Silbermedaille, danach geriet er für Jahrzehnte in Vergessenheit. Seit 2004 wird von der Interessensgemeinschaft »Formel Classic« wieder ein RupertHollaus-Gedächtnis-Rennen veranstaltet, die ersten Jahre am Salzburgring, seit 2010 am nunmehrigen Red-Bull-Ring. Natürlich sind die Epochen, in denen beide Fahrer aktiv waren, schwer mit39 Kurt Bauer (Hg.), Faszination des Fahrens, Unterwegs mit Fahrrad, Motorrad und Automobil, Wien 2003, 229. 40 Karny, Hollaus, 89.

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einander zu vergleichen. Hier der »geschnäuzte und gekampelte« Bursche aus der niederösterreichischen Provinz, der mit eigenem technischen Know-how, handwerklichem Geschick und der Unterstützung durch die väterliche Werkstatt die Grundlage für seine großen internationalen Triumphe legte. Dort der freche, gerade noch der Wohlstandsverwahrlosung entkommene Dandy, der, so ist anzunehmen, über wenig technisches Know-how und handwerkliches Geschick verfügte, aber durch entsprechendes Verständnis die professionelle Infrastruktur eines Toprennstalls für seine Erfolge zu nutzen wusste. Hier der nahezu schüchterne Champion, dem Anerkennung für seine herausragenden Leistungen nahezu unangenehm war, dort der »Narrische ohne Nosn« (oder »der Wüde mit Nosn«)41, der das Lebensgefühl der 1970er-Jahre vorweggenommen hat: »Um 9 Uhr waren wir auf der Strecke, ab 17 Uhr war Party.«42 Gesprochen hat diesen Satz Le-Mans-Sieger und Jochen-Rindt-Freund Helmut Marko – und damit wohl eine ganze Rennfahrergeneration gemeint. Darüber hinaus diente Rindt hierzulande auch als harmlose Identifikationsfigur für die Widerborstigkeit und den Oppositionsgeist einer Generation. 1969 wurde in Zeltweg – nahezu zeitgleich mit dem Salzburgring – der Österreichring eröffnet, auf dem 1970 die Formel 1 erstmals gastierte und die in Massen herangeströmten ZuschauerInnen einen Sieg des Belgiers Jacky Ickx und den Ausfall Jochen Rindts erlebten. 1970 stellte in doppelter Hinsicht eine Zäsur im österreichischen Motorsport dar : Zum einen verlor er drei Wochen nach dem Zeltweg-GP in Monza seine Lichtgestalt Jochen Rindt, zum anderen war mit der Inbetriebnahme der beiden Rennstrecken unwiderruflich die Ära seiner Professionalisierung angebrochen.

41 Herbert Völker, Jochen Rindt: Der Wilde, den wir liebten, in: Der Standard Automobil, 27 . 8. 2010, URL: https://derstandard.at/1282273736612/Jochen-Rindt-Der-Wilde-den-wir-lieb ten (abgerufen 8. 8. 2017). 42 Florian Plavec, Der Tod war immer präsent, Interview mit Dr. Helmut Marko, in: Kurier, 8. 6. 2017, URL: https://kurier.at/sport/formel-1/helmut-marko-der-tod-war-immer-praesent/ 268.053.060 (abgerufen 7. 11. 2017).

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Der Tod ist ein Karrieresprung. Das Spiel mit dem Leben ist ein idealer Stoff für Medien, gezeigt am Beispiel von Hermann Maier und Niki Lauda

Im Februar 2018 übernahm der dreifache Formel-1-Weltmeister Niki Lauda wieder die einst von ihm gegründete und später verkaufte Fluglinie »Niki«. In den Interviews mit Lauda wurde nicht thematisiert, dass er noch mit allen von ihm gegründeten Luftlinien gescheitert ist. Der ehemalige Rennfahrer Lauda gilt in der österreichischen und mit Einschränkung auch in der deutschen (Medien-)Öffentlichkeit als Guru des Fluglinienbusiness.1 Das könnte mit folgendem Ereignis zusammenhängen: Am 1. August 1976 scherte Niki Laudas Ferrari in einer Kurve des Nürburgringes aus, krachte gegen die Leitschiene, ein nachfolgender Rennwagen raste in Laudas brennendes Fahrzeug. Bevor die Rennfahrerkollegen Arturo Merzario, Brett Lunger, Guy Edwards und Harald Ertl ihn aus dem Wagen ziehen konnten, inhalierte er giftige Verbrennungsgase und erlitt schwere Verbrennungen am Kopf.2 Sechs Wochen später kehrte er, versehrt aber leistungstüchtig, in den Grand-Prix-Zirkus zurück. Ein Bild zeigt Laudas Kopf, gezeichnet von den Brandmalen des Feuers, das ihn im Ferrari-Rennwagen überwältigte. Lauda gibt Journalisten Antworten auf Fragen nach dem Unfall und dessen Ursachen sowie nach seiner Zukunft als Rennfahrer. Seine Miene ist gefasst und beherrscht wie stets, in seinen Augen kann man schon den Anflug eines ironischen Lächelns über die Grenzerfahrung lesen, der er eben erst entronnen ist. Viel später wird er in Interviews sagen, dass der Mensch »99 Prozent selber machen muss«.3 Aber als er im brennenden Rennauto saß, dachte er, vielleicht zum ersten und einzigen Mal in seinem Leben: »Wenn’s sowas wie den lieben Gott gibt, dann bitte hilf mir«.4 Hermann Maier ist in der ersten Phase seiner Luftfahrt. Er nahm den olympischen Abfahrtslauf in Nagano als haushoher Favorit auf und war auf die 1 News, 23. 4. 2010, URL: https://www.news.at/a/niki-lauda-luftraumsperre-das-fehlentschei dung-266445 (abgerufen 14. 2. 2018). 2 Kleine Zeitung, 1. 8. 2016, URL: http://www.kleinezeitung.at/sport/motorsport/formel1/5060 905/40-Jahre-nach-dem-Unfall_Lauda-erzaehlt-wie-der-Tag-sein-Leben (abgerufen 14. 2. 2018). 3 Der Falter (2016) 30, 33–34. 4 Ebd.

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Abb. 1: Niki Lauda rund einen Monat nach dem Unfall am 1. August 1976 am Nürburgring. (Quelle: Votava/Imagno/picturedesk.com – 19760908_PD0026)

Linkskurve in bisher undenkbarer Geschwindigkeit zugerast. Eine Bodenwelle diente als Absprungrampe. Der Skirennfahrer hebt ab, versucht zwar in der Luft den Körper in die Richtung der weiteren Abfahrt zu drehen, weil er damit rechnet, gleich wieder zu landen. Doch er merkt schnell, dass es nicht wieder runter, sondern immer weiter nach oben geht. Nach einer endlos wirkenden Luftfahrt durchschlägt er, sich im Tiefschnee mehrfach überschlagend, mehrere Sicherheitszäune und bleibt mit dem Gesicht im Schnee und mit dem Kopf talwärts für einige Augenblicke liegen. Dann rappelt er sich hoch und winkt in die Kameras. In diesem Augenblick ist Maiers Karriere für immer saniert und der sportliche Erfolg ist ab sofort sekundär, nur eine Draufgabe.5 Niki Laudas Unfall und Hermann Maiers Luftfahrt gehören zu den am häufigsten medialisierten Ereignissen der österreichischen (Sport-)Geschichte. In ihrer identitätsstiftenden Wirkung sind sie nur mit dem Fußball-»Wunderteam« der frühen 1930er-Jahre, Toni Sailers dreifachem Olympiasieg in Cortina d’Ampezzo 1956 und dem 3:2-Sieg der Österreicher über die Deutschen während der WM 1978 in Argentinien zu vergleichen. 5 Hermann Maier – Karriere einer Legende, URL: https://www.youtube.com/watch?v=Gbkh SkPjJ-4 (abgerufen 14. 2. 2018).

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Abb. 2: Nagano 13. Februar 1998, Hermann Maier verlässt die Abfahrtspiste. (Quelle: First Look/ picturedesk.com – 20040329_PD13847)

Maier litt einige Tage unter den Folgen des Unfalls und gewann anschließend den olympischen Riesentorlauf und den Super G. Die Abfahrt hatte sich der Franzose Jean-Luc Cretier geholt, was kaum jemanden jemals interessierte. Auch Lauda war wenige Wochen nach seinem Unfall wieder einsatzbereit, er verlor die WM 1976 nur knapp gegen James Hunt und wurde im Jahr darauf Weltmeister. Die These dieses Beitrags ist: die Bilder Laudas und Maiers als Märtyrer des Sports haben sie in einen heiligenähnlichen Status verschoben, der den üblichen Mechanismen der medialen Kritik und öffentlichen Verantwortung nicht zugänglich ist. Die beiden Karrieren zeigen, dass die Medien den Heldentod als den Optimalfall der Berichterstattung ansehen, als Fantasia desiderans oder wünschenswerte Vorstellung.6 6 Hermann Maier analysiert seinen Naganosturz, ORF Sport am Sonntag 7. 2. 1010, URL: https://www.youtube.com/watch?v=WV4_kN7I980& t=23s (abgerufen 1. 3. 2018); Juliane Ziegengeist, Niki Laudas Feuer-Unfall: Blackout war enorm wichtig, URL: http://www.motor sport-total.com/f1/news/2017/01/niki-laudas-feuer-unfall-blackout-war-enorm-wichtig-170 11503.html (abgerufen 1. 3. 2018); Niki Laudas Überlebensspiel mit dem Feuer, in: Kurier, 1. 8. 2016, URL: https://kurier.at/sport/formel-1/niki-laudas-ueberlebensspiel-mit-dem-feuer/21 2.927.818 (abgerufen 1. 3. 2018); Karin Sturm, Lauda erzählt, wie der Tag sein Leben veränderte, in: Kleine Zeitung, 1. 8. 2016, URL: http://www.kleinezeitung.at/sport/motorsport/for

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Für die Medien spielt es – fast – keine Rolle, ob der Verunfallte tatsächlich stirbt, wie beispielsweise Jochen Rindt, oder wie Maier und Lauda überlebt. Für die Protagonisten natürlich schon. Hermann Maier war wenige Tage nach seinem Abflug weltberühmt. Selbst in Regionen der Welt, wo sich Menschen niemals für Skirennen interessieren würden, war Maiers Name und vor allem seine Luftfahrt ein Begriff. Am 23. April 1998 gastierte er gemeinsam mit Arnold Schwarzenegger in der »The Tonight Show« des US-Star-Talkmasters Jay Leno. Sein Spitzname »Herminator« in Paraphrase von Schwarzeneggers »Terminator« gilt seither als globale Marke. Die Attraktivität des Todes für die Medien liegt auf der Hand. In der von Otto Penz sogenannten »Hyperrealität des Sports« mit seiner »aus einem Zeitablauf« resultierenden und »einem kriminalistischen Plot« ähnelnden Dramaturgie7 spitzt er die Spannung zu und findet seinen Platz. Skirennen, vor allem die Speed-Disziplinen Abfahrt und Super G, Formel 1 und andere Risikosportarten beziehen ihre Attraktivität zu einem Gutteil aus der latenten Erwartung des Publikums, spektakuläre Unfälle zu sehen. Mit dieser Erwartungshaltung des Publikums korrespondiert die Bereitschaft des Protagonisten, freiwillig sein Leben aufs Spiel zu setzen. Und zwar nicht als Bedingung der Erwerbsarbeit wie das Arbeiter an riskanten Baustellen oder Soldaten tun, sondern in einer quasirituellen Sphäre. Der Philosoph J. S. Russell beschrieb 2005 Risikosportarten als Plattform der Selbstdarstellung.8 Der Akt, »unnötige Hindernisse unter Lebensgefahr zu überwinden«, geschehe freiwillig, weil in einem vom »Leben« abgetrennten Bereich, und habe außerhalb des sportlichen Kontextes weder Sinn noch Mehrwehrt. Sport stellt ein eigenständiges, vielfältiges und doch in sich heterogenes gesellschaftliches Feld dar.9 Der Kulturhistoriker Johan Huizinga nennt das Spiel10 das wesentliche Element der Trennung vom Kampf um die Existenzsicherung, er bezeichnet es gar als den »Ursprung der Kultur«. Er führt aus, es stehe »außerhalb des Prozesses der unmittelbaren Befriedigung von Notwendigkeiten und Begierden, ja es unterbricht diesen Prozess«.11 Die Spannung spiele eine »ganz besonders wichtige

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mel1/5060905/40-Jahre-nach-dem-Unfall_Lauda-erzaehlt-wie-der-Tag-sein-Leben (abgerufen 1. 3. 2018). Otto Penz, Hyperrealität des Sports, in: Matthias Marschik/Rudolf Müllner/Otto Penz/Georg Spitaler (Hg.), Sport Studies, Wien 2009, 99–111, 105. J. S. Russell, The value of dangerous sport, in: Journal of the Philosophy of Sport 32 (2005) 1, 1–19. Vgl. Roman Horak/Otto Penz, Sport und Cultural Studies: Zur ungleichzeitigen Formierung eines Forschungsfeldes, in: Udo Göttlich/Lothar Mikos/Rainer Winter (Hg.), Die Werkzeugkiste der Cultural Studies. Perspektiven, Anschlüsse und Interventionen, Bielefeld 2001, 105–130. Johan Huizinga, Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel, Hamburg 1987 [1938]. Ebd., 17.

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Rolle in ihm«.12 Auch wenn der beinharte Wettkampf in Formal 1 und Skirennen der maßgebliche Aspekt dieser Betätigungen sein mag, so ist das Spielerische darin doch prägend. Laut Huizinga steht »am Anfang allen Wettkampfes […] das Spiel«. Es gehe darum, »[…] etwas fertigzubringen, was die Lösung einer Spannung bewirkt und außerhalb des gewöhnlichen Verlaufs des Lebens steht«.13 Risikosportarten unterscheiden sich in mancher Hinsicht nicht von anderen Sportdisziplinen. Sie sind in Perfektion nur durch jahrelanges Training und die dadurch herbeigeführte »größtmögliche Reduzierung der Zeit für die Bewusstseinsprozesse« auszuführen.14 In Medien und Einführungsvorlesungen für Sportlehrer heißt das: Automatisierung. In mancher Hinsicht unterscheiden sich Formel-1-Rennen von 100-MeterSprints dann doch. Der Risikosportler strebt nach einer Verwandlung und der Tod oder seine Nähe dienen als zusätzliches Motiv sich mehr anzustrengen und in der Ausführung des Sports als spannungssteigerndes Element. Und zwar für alle Beteiligten, vom Akteur über die ZuschauerInnen bis zu den Betreuern.15 Hier soll der Tod nicht in seiner existentiellen Bedeutung abgehandelt werden, noch die Rolle des Todes im Sport. Dort ist er zwar ein wichtiger Aspekt, nicht zuletzt in den Risikosportarten oder »Extremsportarten«, die ja dank der Marketingaktivitäten gewisser Konsumgüterkonzerne große öffentliche Aufmerksamkeit genießen und regelmäßig Todesopfer fordern. Die Sportwissenschaft behandelt den Tod, wenn überhaupt, nur am Rande.16 Doch gerade der Tod, die von ihm ausstrahlende Faszination für ZuschauerInnen und Beteiligte, ist im heutigen Sport-Medien-Wirtschaft-Gemenge offenbar ein idealer Karrierebeschleuniger. Insofern soll der vorliegende Aufsatz einen Hinweis dafür liefern, dass die von Russell behauptete Folgenlosigkeit des Risikosports von Mehrwert im »Leben« zumindest im Fall von Niki Lauda und Hermann Maier nicht zutrifft. Im Gegenteil scheint die Nahtoderfahrung der beiden Sportler ein entscheidender Faktor für ihre quasi sakrosankte Stellung im öffentlichen Diskurs gewesen zu sein. Wenn Arthur Schopenhauer das Leben als »Mangel, Elend, Jammer, Qual und Tod« beschreibt,17 dann kann der Risikosport den Tod um die Elemente »Glanz und Ruhm« erweitern. Als Nachweis für diese außerordentliche Stellung kann 12 13 14 15

Ebd., 19. Ebd., 119. Jean-Didier Vincent, zit. nach Paul Virilio, Die Eroberung des Körpers, Frankfurt 1996, 103. Arno Müller, Das Thema Tod in der Sportphilosophie – historische Aspekte, in: Jürgen Court/Arno Müller/Christian Wacker (Hg.), Jahrbuch 2009 der Deutschen Gesellschaft für Geschichte der Sportwissenschaft (Studien zur Geschichte des Sports 11), Berlin 2011, 141–172. 16 Ebd., 141. 17 Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, Köln 2009.

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die eingangs erwähnte Kritiklosigkeit im Umgang mit Laudas Geschäften gelten. Auch die Hintergründe des Absturzes der Lauda Air Maschine »Mozart« 1991 mit 223 Toten wurden zumindest in Österreich nie wirklich hinterfragt.18 Als Hermann Maier Mitte Oktober 2009 im Dachfoyer der Wiener Hofburg, dem ehemaligen Sitz des Kaisers der österreichisch-ungarischen Monarchie, zurücktrat, überschlugen sich die internationalen Medien mit teils bizarren Lobeshymnen:19 »Bild«: »Die Welt verliert einen seiner größten Sportler.« »Süddeutsche Zeitung«: »Nah dran an Zeus. Er ist einer der größten Skirennsportler, die die Welt je gesehen hat, und das mag vielleicht überhöht klingen, zu heroisch, kitschig, aber, was soll man sagen: so ist es nun mal.« »Frankfurter Allgemeine Zeitung«: »Der Kämpfer unter den Kämpfern. Ein kleines bisschen Unsterblichkeit bleibt bei den Besten ja auch hängen. Maier wird man lange nicht vergessen.« »Stuttgarter Zeitung«: »Die Gewissheit, dass er nicht mehr mitfährt, ist für Österreich brutal. […] Maier ist einer der Größten seines Fachs – sozusagen der Niki Lauda des österreichischen Skisports. Kein anderer ließ das Publikum so mitleiden, keiner löste mehr Emotionen aus.« »Tagesspiegel«: »Gerührter Heiliger – Hermann Maier gibt mit stockender Stimme seinen Rücktritt bekannt. In Österreich ist er so etwas wie ein Nationalheiliger, vor allem, weil er dem Land das gab, was es am meisten braucht: Siege.« »Hamburger Abendblatt«: »Maier hat […] seinem Sport zu einer enormen Popularität weit über die Grenzen der Wintersport-Nation Österreich hinaus verholfen. In Österreich nennen sie Maier auch den ›Heiland‹, und in der Tat gelang ihm nach dem Unfall eine Wiederauferstehung, die gerade dann unglaublich erscheint, wenn man seinen Unterschenkel anschaut.« »Berner Zeitung«: »Maiers Bekanntheitsgrad basiert nicht nur auf Erfolgen, sondern auch auf seiner Persönlichkeit und dem spektakulären Sturz-Flug in der Olympiaabfahrt 1998 von Nagano.« »Tagesanzeiger«: »Der populärste Skifahrer der Welt hat seinen Rücktritt erklärt. Die Hofburg zu Wien beherbergte einst die Kaiser und Könige, heute ist sie die Residenz des österreichischen Bundespräsidenten. Gestern aber war es ein Skifahrer, der in der Hofburg Hof hielt – um mitzuteilen, dass er nicht mehr weiterfahren mag.« »Gazzetta dello Sport«: »Ciao Maier, ein rätselhafter Abschied mit Tränen. Doch Herminator war stets der Mann großer Rätsel. Er ist auch deswegen ein Superstar geworden«. »Tuttosport«: »Das Phänomen Herminator sagt Basta. Vom Maurer zum Skikönig, seine Karriere war einfach fantastisch. Im Ranking der besten Athleten der Welt besiegt ihn nur Ingemar Stenmark mit 86 Erfolgen.« 18 Vgl. dazu kritisch: Niki Lauda: Hans-Dampf(plauderer) in allen Gassen?, in: Austrian Wings. Österreichs Luftfahrtmagazin, URL: https://www.austrianwings.info/2017/08/nikilauda-hans-dampfplauderer-in-allen-gassen/ (abgerufen 14. 2. 2018). 19 Die folgenden Medienberichte zit. nach: Der Standard, 14.10. 2009, URL: https://derstandard. at/1254311392198/Pressestimmen-Der-Koloss-der-zwei-Mal-gelebt-hat (abgerufen 1. 3. 2018).

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»La Repubblica«: »Maier, Abschied mit Tränen. Herminator, der für sein Temperament, seine Kraft und seine Arroganz bekannt war, weint bei der Ankündigung seines Rücktritts. Seine Karriere ähnelt mehr einem Film von Quentin Tarantino, als jener eines Athleten. Zuerst alles bergauf, dann die Erfolge, die Stürze, die Unfälle, die mehrmals seine Karriere gefährdet haben«. »Il Giornale«: »Herminator, der Koloss, der zwei Mal gelebt hat.« »L’Equipe«: »In einem Wort, er war ein Denkmal.« »Liberation«: »Maier weint über das Ende seiner Karriere. Der Rambo der Pisten mit dem Übernamen Herminator hat beschlossen, seine Bretter an den Nagel zu hängen.«

Der Profit = Öffentlichkeit Lauda und Maier waren auf der Höhe ihrer Kunst und auf dem Weg zu einem Triumph, als ihnen ihr Unfall passierte. Auch waren sie der Überzeugung, das Risiko, das Chaos in ihrer Gewalt zu haben. Lauda führte in der WM, Maier war haushoher Favorit in der olympischen Abfahrt. Um mit dem Neurologen JeanDidier Vincent zu sprechen, war die Reduktion der Bewusstseinsprozesse im Fall von Lauda und Maier bis an die Grenze des Machbaren abgeschlossen. Der Unfall riss die Athleten unvermutet aus dem sportlichen Kontinuum, konfrontierte sie mit der Todesgefahr, zu ihrer Überraschung oder nicht, das muss wohl Spekulation bleiben, und schleuste sie, Dieselben und doch Verwandelten, wieder ins Geschäft ein. Der Held erhält das alte Leben und Streben zurück, nur mehr davon. Mehr öffentliche Anerkennung, mehr Geld, mehr Glaubwürdigkeit. Im ORF-Interview zwölf Jahre später kommentierte der fragende Journalist Maiers Luftfahrt so: »Ein spektakulärer Sturz, der Sie in ungeahnte Höhen katapultiert hat, auch im positiven Sinn.«20 Die Medien nutzen die Annäherung an den Tod zu einem Spektakel, und das verschafft den Protagonisten einen Gewinn in einer der begehrtesten Währungen des Geschäftslebens: Öffentlichkeit. Die Analyse des Risikosports und seiner Wirkungen wie beispielsweise J. S. Russell unter Auslassung der medialen Tangente zu unternehmen, mutet anachronistisch an. Zwar führt Russell »glory« oder »public recognition« als ein Motiv für das Betreiben gefährlicher Sportarten an, aber er qualifiziert es als »inadequate explanation«. Viele Sportler, so Russel, betreiben gefährliche Sportarten ohne die Hoffnung, jemals irgendeine Art von Anerkennung durch Dritte erlangen zu können,21 auch wenn er einräumt, es könne keine allumfassende Erklärung für die Ausführung gefährlicher Sportarten geben. Der Psychologe Ulrich Aufmuth stellte im Essay »Risikosport und Identi20 Hermann Maier analysiert seinen Naganosturz, ORF Sport am Sonntag, 7. 2. 1010. 21 Russel, dangerous sport, 2.

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tätsbegehren« mehr als 20 Jahre zuvor ein ähnlich öffentlichkeitfernes Motiv fest.22 Aufmuth untersuchte die Beweggründe von Extremkletterern und stellte die Frage, ob nicht die Gesellschaft an einer »Heldenbedürftigkeit« leide. Aufmuth: »Ein Weiterdenken in diese Richtung könnte zu weiteren Einsichten in die Bedingungsmomente extremen sportlichen Verhaltens führen.«23 Lauda und Maier haben nie zu verstehen gegeben, dass sie ihrer Tätigkeit nachgehen, um reich und berühmt zu werden. Lauda hat seine Motive in einem Interview in der »Kleinen Zeitung« zusammengefasst: »Man musste es so sehen: Rennfahren muss eben so viel Spaß machen, dass du bereit bist, dafür zu sterben.«24 In einem Interview im »Falter« aus Anlass der 40. Wiederkehr des Unfalls stellte er in seiner lakonischen Art fest: »Angst? Ich habe keine Angst!«25 Die mediale Erzählung folgt dem Protagonisten auf diesem direkten Weg in seine innersten Bereiche. Sie ist gekennzeichnet durch die Merkmale der Öffentlichkeit, Außergewöhnlichkeit, Nationalisierung, Popularität des Protagonisten und des Ereignisses/Wettkampfs. Sie suggeriert persönliche Nähe zu den handelnden Personen und bietet damit eine Identifikationsfläche für ein Massenpublikum, das sie damit an sich bindet. Für die Inszenierung der Medien spielen die Motive der Protagonisten keine Rolle. Ihr Umgang mit dem Tod und ihre geschäftliche Verwertung des Topos Sterben ist eingebettet in die allgemeine Haltung der Gesellschaft zum Tod. Die Tabuisierung im Alltag wird konterkariert durch aggressive Nutzung des Todes in vielen Erscheinungsformen der Medien, von den ultrabrutalen »Shooter-Spielen« bis zur Spektakularisierung der Abfahrt auf der Kitzbüheler Streif, in den jedes Jahr mit denselben stereotypen Phrasen wiederkehrenden Berichten der Zeitungen und TV-Sender. Die Faszination des Todes, der neben der Liebe als das zweite große Topos der Erzählung gilt, ist unbestritten. Gilt das auch für den Risikosport? Erhält er durch die mit ihm einhergehende Gefahr eine Art höhere Weihe? Nicht unbedingt. Oscar Wilde wird das Bonmot zugeschrieben: »Etwas ist nicht unbedingt wahr, nur weil Menschen dafür sterben.« Der Psychologe Aufmuth hat in der oben angeführten Arbeit das Identitätsbegehren von Extrem-Alpinisten untersucht und ihr riskantes Unterfangen mit dem Motiv »Macht besitzen« in Verbindung gebracht.26 Außerdem könne, so Aufmuth, der Bergsteiger dadurch dem »inneren Vakuum«27 entfliehen und ein »Individualitätsbedürfnis«28 befriedigen. 22 Ulrich Aufmuth, Risikosport und Identitätsbegehren. Überlegungen am Beispiel des Extremalpinismus, in: Gerd Hortleder/Gunter Gebauer (Hg.), Sport – Eros – Tod, Frankfurt am Main 1986, 188–215. 23 Ebd., 211. 24 Kleine Zeitung, 1. 18. 2016. 25 Der Falter (2016) 30, 36–37. 26 Aufmuth, Risikosport, 188. 27 Ebd., 207.

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Gleich einer Sucht, durch das Martyrium am Berg nicht etwa abgeschreckt, sondern vielmehr bestärkt, suche der Extrem-Alpinist die Grenzerlebnisse immer wieder. Die Bilder des ramponierten Lauda und des fliegenden Maier stellen für die mediale Berichterstattung einen seltenen Glücksfall dar. Sie sprechen in emotional nachvollziehbarer und aufgeladener Weise über den Sport oder doch eine bestimmte Form des öffentlichen, kommerzialisierten Risikosports. In diesem Fall kann den KonsumentInnen durch Übertragung im Fernsehen oder Lektüre in der Zeitung nachgeholfen werden, das, was aus seinem täglichen Lebensvollzug in der modernen Welt verschwunden ist – sofern er nicht in einem der auch in Europa seit rund zwanzig Jahren häufiger auftretenden Gefahrengebiete, vom Balkan bis zur Krim, lebt – stellvertretend nachzuleben: den äußersten Kitzel des Lebens, die Todesgefahr. Der Sport, so lautet eine vor allem von den Soziologen Norbert Elias und Eric Dunning formulierte »Ventiltheorie«, »zeige eine progressive Verminderung des Gewaltniveaus«, auf dem Menschen miteinander auskommen. Die Aggression werde durch staatliche Kontrolle und interne Selbstdisziplinierung des Einzelnen im Zaum gehalten. Im Umfeld des Sports lockere sich diese Affektkontrolle, wie auch in den Räumen eines Popkonzerts und anderer Bereiche der Popularkultur, und ermögliche das »Ausleben emotionaler Bedürfnisse«.29 Elias geht gar auf Aristoteles und seine Analyse der Tragödie zurück und behauptet, im Sporterlebnis sei »Katharsis« möglich und betont seine komplexen, im historischen Ablauf wechselnden Rollen für die Selbstvergewisserung und Affektbewältigung der modernen Gesellschaft. In vereinfachter Form drückte der Politwissenschaftler Christian Graf von Krockow diesen Sachverhalt aus:30 Die dem Sport eigene »Dramatik setzt Leidenschaft frei; man kann erleben und ausleben, was sonst, wegen der beherrschenden Rationalisierungs- und ›Zivilisierungs‹-Tendenzen immer mehr unter Tabu geraten ist.« Zum Beispiel dürfen selbst Männer weinen, wenn auch nur »in der Arena im Augenblick des Sieges oder der Niederlage«. Diese Sicht des Sports als quasi komplementäre Arena des Lebens mag naiv klingen, gleichwohl wirkt sie von der Sportpädagogik bis zur Sportjournalistik bis heute als – meist unausgesprochenes – Begründungsmuster fort. Dem kollektiven Aspekt des Sports gegenüber steht der individuelle. »Hinter der spektakulären Großartigkeit der extremen Tat erkennt man bei genauerem Nachforschen ein hohes Maß an seelischer Tragik«, schreibt Aufmuth über die 28 Ebd., 202. 29 Zit. n. Georg Spitaler, Authentischer Sport – inszenierte Politik? Zum Verhältnis von Mediensport, Symbolischer Politik und Populismus in Österreich, Frankfurt am Main 2005, 35. 30 Christian Graf von Krockow, Sport – Eine Soziologie und Philosophie des Leistungsprinzips, Hamburg 1974, 41.

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»psychischen Schattenseite des ›großen‹ Alpinismus«.31 Auch wenn vergleichbare Untersuchungen über Formel-1-Piloten und Abfahrtsskirennläufer fehlen, könnte auch für diese Fälle gelten, was Aufmuth für Bergsteiger behauptet: Die dunkle Seite »wurde schon immer tabuisiert«, und zwar »von der interessierten Öffentlichkeit und den einschlägigen Medien mehr als von den oft sehr klarsichtigen Extremen selbst«.32 Nun, die »innere« oder nach Aufmuth »dunkle« Seite des Athleten wird tatsächlich nicht thematisiert, weder in der Öffentlichkeit, noch in den Medien. Nicht zuletzt sind beide Bereiche ja über weite Strecken deckungsgleich. Es ist kaum eine Öffentlichkeit neben der medialen Öffentlichkeit sichtbar. Und die Protagonisten reden über ihre etwaigen Defizite nicht. Zumindest nicht in der Öffentlichkeit. Lauda kann sich an seinen Unfall schlicht nicht mehr erinnern, sagte er 2008 in einem Interview mit Natascha Kampusch.33 Und Maier stimmt bei jeder Gelegenheit in die Anmutung der Großartigkeit ein, die ihm bei der medialen Berichterstattung zu seinem Unfall und den Folgen entgegengebracht wird. Damit fügt er sich nahtlos in den Strom der massenkulturellen Produktion von Heldenfiguren ein. Es scheint zunächst paradox, dass der Sport als ein Teil des Kapitalismus und der Unterhaltungsindustrie ausgerechnet den Tod als Karrierebeschleuniger nutzt. Doch der Blick auf die Position der modernen Medien in der Geschichte der schriftlichen Erzählung könnte eine Antwort oder zumindest eine Annäherung an das Phänomen bieten. Der Philosoph und Schriftsteller Walter Benjamin schrieb 1936 von der Krise des Erzählens und dem Phänomen, dass das »Sterben, einstmals ein öffentlicher Vorgang im Leben des Einzelnen […] im Verlauf der Neuzeit aus der Merkwelt der Lebenden immer weiter herausgedrängt« werde.34 Benjamin beobachtet also ebenfalls wie die Theoretiker des Sports das Verschwinden des Todes. Wie der Sport ein Zeichen für die Zivilisierung des Lebensalltags in modernen Gesellschaften ist, so markiert das Auftreten der »Presse«, also die massenmediale Kommunikation, das Ende der Erzählung und den Beginn der »Information«. Im Sport tobt sich der sonst gebundene Affekt aus, in den Medien wird er an die Öffentlichkeit transportiert. Die gesellschaftlichen Räume Sport und Medien sind aufeinander bezogen und der eine, Sport, ist insofern ein idealer »Content« des anderen, als er im Unterschied zur Information über Politik, Wirtschaft und Kultur die emotionale Nachricht in verhältnismäßig reiner Form enthält. Andere 31 Aufmuth, Risikosport, 211. 32 Ebd. 33 PULS 4, »Natascha Kampusch trifft Niki Lauda«, URL: https://www.ots.at/presseaussen dung/OTS_20080530_OTS0356/puls-4-natascha-kampusch-trifft-niki-lauda (abgerufen 14. 2. 2018). 34 Walter Benjamin, Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows, in: Illuminationen, Ausgewählte Schriften, Frankfurt am Main 1977, 385–410, 386.

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Nachrichten müssen bis zu einem gewissen Grad »erklärt« oder »analysiert« werden, Sport bedarf derartigen Beiwerks nicht. Er braucht keine Erklärung. Sport ist als Nachricht die bloße Aufregung, Identifikation mit Individuen oder Gruppen. Er ist, wenn überhaupt jemals ein Medium diese Bezeichnung verdiente, die Message. Bilder sind in diesem Kontext der Medien erst die exemplifizierende, veranschaulichende Beifügung und schließlich, mit dem Aufkommen des Fernsehens, die Botschaft. Sie haben keine Worte und sagen, so die stereotypische Formel, doch mehr als tausend Worte. Kein Text könnte Hermann Maiers Flug oder Niki Laudas Unfall so beredt beschreiben wie die Bilder. Walter Benjamin zufolge löste der Roman die mündliche Erzählung ab, die aus der persönlichen Erfahrung schöpfte. Die bis dahin undenkbaren Brutalitäten des Ersten Weltkriegs freilich rissen die Weitergabe persönlicher Erlebnisse in die Krise, die schon mit dem Aufkommen des Romans zu Beginn der Neuzeit und der Erfindung der Druckertechnik angefangen hatte. »Die Erfahrung ist im Kurs gefallen«, schreibt Benjamin.35 Die Verbreitung der Massenmedien stieß ihrerseits die Romanerzählung in die Krise. Die Schilderung von Erlebnissen wie die von Lauda und Maier kann nun als geliehene Erfahrung gelesen werden. Die Massenmedien simulieren aber nicht nur Nähe, sie simulieren auch in all ihrer technischen Reproduktion Einzigartigkeit. Sie besiegen in Laudas und Maiers Laudatio symbolisch den Tod und diese Geschichte ist so stark, dass ihre Wirkung beinahe ewig anhält. Stirbt ein Sportler wie Jochen Rindt an dem von ihm freiwillig eingegangenen Risiko tatsächlich, so wird auch er zum Helden hocherzählt. Allerdings fehlt ihm die Chance auf eine weitere Karriere und den Medien die Gelegenheit, ihn immer wieder in einer aktuellen Lebenssituation zu zelebrieren. Rindt ist ein Mythos. Lauda und Maier sind Vorbilder. Die Massenmedien spekulierten vor rund einhundert Jahren erfolgreich mit dem fallenden Kurswert der Erfahrung und setzten sich an deren Stelle. Sie geben freilich nicht Erfahrung und Wahrheit im Benjaminschen Sinn weiter, sie verbreiten auch nicht Weisheit, wie ein Roman, sie informieren. Information ist, schreibt Benjamin, »antithetisch« zur Erzählung. Jeder Morgen, so Benjamin, bringt uns die Weltnachrichten, aber erinnerungswerte Geschichten sind rar. Diese Lücke füllen Geschichten wie die von Lauda und Maier. Der Lohn der Massenmedien sind umfassende Aufmerksamkeit, hohe Quote oder unzählige Klicks. Der Lohn der Protagonisten, die nicht mehr wie im Zeitalter der Geschichtenerzähler ihre Erlebnisse selber weitergeben oder sie in Form eines Romans »verarbeiten«, ist ein Stockerlplatz im Wettkampf der Erinnerungen. Auf dem 35 Ebd.

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Marktplatz der Öffentlichkeit ist die unhinterfragte, unhinterfragbare Präsenz ein unschlagbarer Wettbewerbsvorteil. Wie am Beginn am Beispiel von Lauda und seinem Anspruch gezeigt, ein Unternehmer im Fluglinienbusiness zu sein, befähigt diese Dauerpräsenz zur Teilnahme am öffentlichen Diskurs, ohne einen Qualifikationsnachweis erbringen zu müssen. Die mediale Präsenz ist das Qualitätskriterium, ohne ein Qualitätskriterium vorauszusetzen. Im Gegenteil, die Medien leben vom Sieg des Banalen über das Epische und die persönliche Erfahrung. Doch Laudas und Maiers Geschichte ragt über den Medienalltag hinaus, zu viel Wahrhaftigkeit steckt in ihr, um auf dem Markt der Oberflächlichkeit korrumpiert zu werden. Sie ist ein wahrer Kern in einem scheinheiligen Getriebe. Der Tod weist in eine Richtung, die der moderne Mensch, zumindest nach Ansicht von Peter Sloterdijk, verloren hat: die Transzendenz. Die Moderne hat die »Vertikalspannung«36 verloren, es ist ein säkularer Zwang eingetreten, alle Menschen horizontal anzuordnen. Der Sport, eine nach Sloterdijk geradezu prototypische Sphäre der Übung, gibt nun vor, den Menschen vertikal, nach Siegern und den nach abfallendem Rang gereihten Verlierern, anzuordnen. Doch diese Ende des 19. Jahrhunderts nicht zufällig mit den Medien und den Maschinen sich rasch ausbreitende »Anthropotechnik«37 ist vielleicht doch nur einer horizontalen, körperlichen, eindimensionalen Ordnung fähig. Es sei denn, sie streift wie Lauda oder Maier an eine andere Sphäre, der früher Asketen, Eremiten, die spirituellen Vorläufer der sportiven Selbstdisziplinierungskünstler, durch Übung der »vita contemplativa« nahezukommen suchten. Der Tod und seine Überwindung dient unseren Helden, um einen Ausdruck des heute allgegenwärtigen Marketings zu benutzen, in der Hetze des Medienalltags als Unique Selling Propositon (USP). Der aus dem Marketinguniversum Red Bull stammende Dokumentarfilm »Streif – One Hell of a Ride« hat diesen Gedanken für einen geradezu obszön anmutenden Flirt mit der Todesgefahr des Abfahrtslaufs in Kitzbühel benutzt. Der letzte Rest an Respekt vor dem Tod und den Athleten wird zugunsten einer schamlosen Herrichtung des Spektakels für das Wohl der Marke fallen gelassen. Der Tod wird zum Markenartikel des Events degradiert und übrig bleiben bloß Nervenkitzel und Schauder vor dem Angesicht der aus Hochglanzbildern grinsenden Gefahr. Maier und Lauda sind nach der Überwindung der Todesgefahr quasi immun gegen Kritik. Maier ist das teuerste Testimonial des Landes. Er wirbt für eine Bank, ohne auch nur den Anschein erwecken zu müssen, er verfüge über Kenntnisse oder Erfahrungen im Bankwesen.38 Von Laudas Immunisierung war 36 Peter Sloterdijk, Du musst dein Leben ändern, Berlin 2014. 37 Ebd. 38 Raiffeisen und Hermann Maier – eine kongeniale Partnerschaft, URL: http://www.raiffeisen.

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schon die Rede. Die Selbsterhöhung und -perfektionierung des Menschen im Sport geht an diesen Beispielen in eine Art irdischer Transzendenz über. In einer von den Medien geschaffenen Wirklichkeit, in der alles und jeder austauschbar scheint, sind manche doch gleicher. Unvergleichlich.

at/oesterreich/1006622610903_359752072356008885_359752609495356572-3599390005819 63645-NA-30-NA.html (abgerufen 14. 2. 2018).

Rudolf Müllner

»An das letzte Kind und an den letzten Senioren herankommen …«. Der nationale »FIT-Lauf und FIT-Marsch« als biopolitische Intervention

Der Ausgangspunkt für die folgenden Überlegungen ist ein Schwarz-Weiß-Foto vom 26. Oktober 1971.1 Es wurde anlässlich des ersten »Nationalen österreichischen Fit-Laufes und Fit-Marsches« am Staatsfeiertag des Jahres 1971 aufgenommen. Der Ort, an dem die Szene »spielt«, ist nicht bekannt. Es zeigt eine, nach Alter und Geschlecht durchmischte, größere Menschenmenge einen gepflasterten Weg, der durch einen Park oder einen Wald führt, entlangwandernd. Im Bildvordergrund erkennt man eine Frau (vermutlich im Familienkontext) mit Strickjacke und Handtasche um den Unterarm gehängt, die zwei Kinder, in etwa im Volksschulalter, eines an der Hand haltend, begleitet. Am linken Bildrand befinden sich drei Teenager-Mädchen in Rock bzw. Hosen und Lederjacke. Männer in Lederjacken, andere mit Hut und Trachtenjanker, eine Frau mit Rucksack, ein Mann mit Fernglas, wie es Jäger und Wanderer verwenden, um den Hals gehängt; weitere Kinder, Gehtempo, es scheint eine Mischung zwischen Spaziergang und Sonntagswanderung zu sein. In einigen Gesichtern ist ein Lachen zu erkennen. Die Atmosphäre wirkt entspannt. Sportive Anstrengung sieht anders aus. Ein Blick auf die Kleidung zeigt, dass der überwiegende Teil der Personen im Alltagsgewand unterwegs ist. Ein spezifisches Wanderoutfit, gar sogenannte Outdoor-Funktionskleidung, findet sich nicht. Im Zentrum des Fotos überspannt ein mächtiges Transparent mit der Aufschrift »Ziel« die bewegte Menschmenge. Damit wird eindeutig auf einen sportlichen Kontext verwiesen. Aber nicht nur damit, bei genauerem Hinsehen kann man am linken oberen Bildrand auch einige Personen erkennen, die nicht bloß wandern oder mar1 Der vorliegende Text basiert auf langjährigen Vorarbeiten des Autors zu Verbesserungskulturen im und durch Sport. Er ist orientiert an Rudolf Müllner, Die österreichische Fitnesskampagne zu Beginn der 1970er Jahre. Zur Analyse einer sportpolitischen Intervention im Spätfordismus, in: Dieter H. Jütting/Michael Krüger (Hg.), Sport für alle. Idee und Wirklichkeit, Münster 2017, 31–47, jedoch um wesentliche Inhalte und neue Primärquellen erweitert. Der Titel stammt von Friedrich Holzweber, »Fit durch Sport«. Grundsätzliche Gedanken zur Förderung des Breitensports, in: Leibesübungen Leibeserziehung 15 (1971) 6, 130.

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Abb. 1: Erster Nationaler Fit-Lauf und Fit-Marsch am 26. Oktober 1971. (Quelle: Österreichisches Sportjahrbuch 1971/72, 57)

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schieren, sondern eindeutig eine Laufbewegung ausführen. Auch ihre Kleidung, wahrscheinlich eine Trainingshose oder ein Trainingsanzug, verweist auf den dynamischen, sportlichen Kontext. Das Foto wurde aus dem »Österreichischen Sportjahrbuch« des Jahres 1971/ 72 entnommen. Dieses Jahrbuch wird von der Österreichischen Bundes-Sportorganisation (BSO) herausgegeben. Die BSO ist nominell eine Nichtregierungsgorganisation, die als Dachorganisation des österreichischen Sports fungiert und die auch die österreichischen Fitnesskampagnen zu Beginn der 1970erJahre initiierte.

I.

Der Untersuchungskontext – Analyserahmen

Die Fit-Kampagne der Österreichischen Bundes-Sportorganisation mit ihrem Hauptevent, dem »Nationalen österreichischen FIT-Lauf und FIT-Marsch«, steht im Fokus der folgenden Darstellung. Die Kampagne startete 1971 und ist in Abänderungen im Grunde bis heute existent. Es war die größte Breitensportinitiative Österreichs mit TeilnehmerInnenzahlen bis zu 500.000 während der 1970er- und zu Beginn der 1980er-Jahre. Diese Initiative ist jedoch nicht nur aus organisations- und ereignishistorischer Perspektive bedeutend, sondern auch aufgrund ihrer gesamtgesellschaftlichen Einbettung im Modernisierungsprozess von Sport- und Bewegungskulturen im Spätfordismus. Es werden dazu einige jener zentralen Diskursstränge in den Blick genommen, aus denen heraus Fitnesssport argumentativ begründet wurde. Konkret sind dies: (1) Fitness als Kompensationsmittel gegen degenerative Einflüsse der »modernen Zivilisation« und (2) die allgemeine Erhöhung der Sportpartizipation in den 1970er-Jahren, vor allem durch eine vermehrte Einbeziehung von Frauen, Familien und älteren Personen. Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf einer kulturhistorischen Verortung der beiden konstituierenden Bewegungsformen »Lauf« und »Marsch« sowie auf der machtanalytischen Einordnung der Fitnessinitiativen zwischen Selbst- und Fremdoptimierung. Die Leitthese zum letzten Aspekt lautet: Die nationalen »Fit-Märsche und Läufe« in den 1970erJahren weisen sowohl Charakteristika des fordistischen Körper- und Sportverständnisses auf, zeigen aber auch schon solche des Postfordismus. Sie sind als eine Art Hybridform im Differenzierungs- und Modernisierungsprozess des Sports zu interpretieren. Ganz allgemein sind die 1970er-Jahre und die in diesem Zeitraum stattfindende Etablierung des Freizeit- und Fitnesssports, so wird gezeigt werden, im Transformationsprozess des modernen Sports von eminenter Bedeutung. Nicht zuletzt deshalb, weil in jenen Jahren die Etablierung und Durchsetzung eines

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allgemeinen Steigerungsparadigmas2 im und mit Hilfe des Sports tendenziell auf die gesamte Bevölkerung ausgedehnt und Fitness, oder allgemeiner, körperliche Verbesserungs- und Steigerungslogiken zu einem weitgehend akzeptierten Allgemeingut wurden.

II.

Organisation, Durchführung, Zielsetzungen und Effekte der nationalen Fit-Läufe und Fit-Märsche am Nationalfeiertag in den 1970er-Jahren

Am 26. Oktober 1971, dem Nationalfeiertag, fand um 9 Uhr früh der erste nationale Fit-Lauf und Fit-Marsch in Österreich statt. Der Startschuss zu dieser Breitensportveranstaltung wurde österreichweit via Rundfunk vom damaligen Bundesminister für Unterricht und Kunst, Leopold Gratz, persönlich gegeben. An etwa 150 Orten3 bewegten sich an diesem Sonntag circa 150.000 Personen in der bis dahin größten Breitensportveranstaltung, die in diesem Land jemals organisiert worden war. Die höchste Teilnehmerzahl konnte 1981 mit 500.000 Personen an 520 Veranstaltungsorten verzeichnet werden.4 Die Männer, Frauen und Kinder mussten dabei eine Streckenlänge, die in etwa zwischen acht und zehn Kilometern maß und je nach lokalen Gegebenheiten variieren durfte, laufend oder marschierend bewältigen.5 Alle, die die Strecke schafften, erhielten Urkunden und Medaillen. Die zahlenmäßig größten Events fanden mit etwa 6.000 LäuferInnen und MarschiererInnen in Wien statt.6 Das von den Veranstaltern definierte Ziel war : »Erhaltung und Förderung der Volksgesundheit und Propagierung des Fitness-Gedankens«7 Die nationalen Fit-Läufe und -Märsche wurden von der Österreichischen Bundes-Sportorganisation im Detail vorbereitet und mit einem relativ kleinen Budget durchgeführt. Teilweise hoben die veranstaltenden Vereine geringe Startgebühren ein, um die anfallenden Kosten zu decken. Die gesamte Aktion konnte vor allem durch eine starke mediale Unterstützung des österreichischen 2 Dierk Spreen, Upgrade Kultur. Der Körper in der Enhancement-Gesellschaft, Bielefeld 2015. 3 Zur Anzahl der Einzelveranstaltungen und zur Gesamtteilnehmerzahl liegen unterschiedliche Zahlenangaben vor. So gibt etwa Holzweber (1995) 120 Veranstaltungen an. Derselbe Autor nennt (1984) 275 Veranstaltungsorte mit 150.000 TeilnehmerInnen. Vgl. Friedrich Holzweber, »Fit mach mit«. Sport für alle in Österreich, in: Bundesministerium für Unterricht und Kunst (Hg.), »Sport für alle« in Österreich. Dokumentation für die Europäische Sportministerkonferenz, Malta, 14.–16. Mai 1984, Wien 1984, 45. Friedrich Holzweber, »Fit mach mit« – Österreich ist anders, in: Spectrum der Sportwissenschaften, 7 (1995) 1, 67–79, 72. 4 Ebd. 5 N.N., Ausschreibung der Fitbewerbe, in: ASKÖ Sport (1971) 6–7, 29. 6 Arbeiter-Zeitung, 26. 10. 1971, 6. 7 N.N., Ausschreibung der Fitbewerbe, 29.

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Rundfunks und Fernsehens Massenwirksamkeit erlangen. Der ORF strahlte tausende Sendeminuten und Agitationsspots auf nationaler und regionaler Ebene gratis aus. So gesehen war die Fitnessaktion zu Beginn der 1970er-Jahre auch eine Innovation im Bereich Sportmarketing.

III.

Weitere Fitsportinitiativen

Parallel dazu entwickelte die BSO eine Reihe weiterer Fitsportinitiativen, die ebenfalls mit beträchtlichen PR-Aktionen vorbereitet und begleitet wurden und die das Sporttreiben vor allem im informellen Bereich forcieren sollten. Bereits ein Jahr nach dem ersten Fit-Lauf und Fit-Marsch am Nationalfeiertag startete 1972 bis 1975 die Aktion »Fitpyramide«.8 Der administrative Aufwand für diese Aktion war enorm. Es wurden pro Jahr drei Millionen Fitpyramiden und dazugehörige Broschüren per Post verschickt. Ziel war es, die Bevölkerung zu Bewegung in homöopathischen Dosen zu animieren. Eine Fitpyramide setzte sich aus einhundert Bausteinen zusammen. Mit einer frei wählbaren sportlichen Leistung konnte man einen Baustein »befüllen«. Die Anforderungen waren bewusst niedrig gehalten. Fünf Minuten Dauerlauf, zehn Minuten Schwimmen oder eine Stunde Wandern genügten, um einen Baustein zu füllen. Wer alle hundert Bausteine gesammelt, also hundert sportliche Aktivitäten gesetzt hatte, erhielt ein Abzeichen. Die nachhaltige Wirkung dieser aufwändigen Initiative nimmt sich bescheiden aus. In den vier Jahren, in denen das Programm lief, erwarben lediglich 150.000 Österreicher und Österreicherinnen das Fitabzeichen.9 Erklärt werden kann dieser überschaubare Output mit dem überbürokratischen und dem, auch sicherlich von vielen abgelehnten, moralisierenden pädagogischen Impetus der Aktion. Ein ganz ähnliches Konzept wie der Fit-Lauf und Fit-Marsch am Nationalfeiertag verfolgte der »Nationale Schiwandertag«, der das Langlaufen und Schiwandern popularisieren sollte. Er wurde ab 1973 jeweils am letzten Sonntag im Februar durchgeführt. Doch die Langlaufaktion am »Nationalen Schiwandertag« konnte meist nur bescheidene 15.000 (1974) bis bestenfalls 85.000 Menschen (1982) bewegen.10 Weitere Aktionen hießen »Fit in den Sommer« und »Sport aktiv«, die immerhin auch mit zwei bzw. drei Millionen Broschüren beworben wurden.11 Alle diese Folgeaktionen hatten kaum noch innovativen Charakter, relativ geringe Teilnehmerzahlen und kaum nachhaltige Wirkung. In 8 9 10 11

Holzweber, »Fit mach mit«, 47. Ebd., 48. Ebd.; detaillierte Statistik dazu siehe 51. Ebd., 59–62.

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einer Kooperation zwischen der BSO und den österreichischen Fremdenverkehrsvereinen wurde 1979 die Aktion »Österreichischer Wanderschuh« mit dem Slogan »Wanderbares Österreich« eingeführt. Damit war der Schulterschluss zwischen Tourismusindustrie, Freizeitwirtschaft und Fitnessorganisationen vollzogen. Auf den Imageplakaten zu dieser Aktion ist das zu erwerbende Wanderabzeichen vor einer attraktiven Bergkulisse montiert. Die Logos zeigen die österreichische »Fit-mach-mit-Aktion« sowie das auf die bundesdeutschen Gäste abzielende »Trimm-Dich-Emblem«. Jährlich erwanderten sich etwa 90.000 Personen dieses Abzeichen. Ab 1977 veranstaltete die BSO den »Nationalen Radwandertag«. Die Teilnehmerzahlen bewegten sich zwischen 35.000 (1977) und 110.000 im Jahr 1983.12 1981 legte man, analog zum österreichischen Wanderschuh, noch mit einer Aktion mit dem Namen »Österreichisches Wanderrad« nach. Auch wenn diese Aktion nicht gerade herausragende Nachhaltigkeit und Teilnehmendenzahlen erzeugen konnte und als Werbeaktion zu Beginn der 1980er-Jahre schon etwas altbacken anmutete, so verweist sie doch bereits auf den Aufschwung des Fahrrades als ein ökologisch sinnvolles Verkehrsmittel und auf das Rad als modernes Fitnessgerät. Man muss diese Aktion daher im Rahmen jener größeren Umbrüche, die hier schlagwortartig mit dem Begriff Ökologiebewegung (Erste Erdölkrise, Antiatombewegung) subsumiert werden sollen, verorten.13 Alle diese Begleit- und Folgeaktionen sind weitgehend in Vergessenheit geraten. Was jedoch blieb, ist der 26. Oktober, der Nationalfeiertag, als traditioneller Termin für österreichweite Veranstaltungen im Bereich des Gesundheitsund Fitnesssports.14 Es ist aus heutiger Perspektive schwer festzustellen, ob diese Aktionen, und vor allem die Flaggschiffveranstaltung des nationalen Fit-Marsches und -Laufes, welche bis zu Beginn der 1980er-Jahre regelmäßig rund 500.000 Personen aktivieren konnte, als Erfolg einzuschätzen sind und ob sie nachhaltige Effekte im Sinne der Erhöhung der Sportaktivitäten nach sich zogen. In der zeitgenössischen Berichterstattung dominierten eher Erfolgsmeldungen. Ab Mitte der 12 Ebd., 63. 13 Martin Blum, Das Radfahren als Lösung, in: Bernhard Hachleitner/Matthias Marschik/Rudolf Müllner/Michael Zappe (Hg.), Motor bin ich selbst. 200 Jahre Radfahren in Wien, Wien 2013, 10; Werner Michael Schwarz, Lust, Ironie und moralischer Anspruch. Das Fahrrad und die kritischen Bewegungen seit den 1970er Jahren, in: Hachleitner/Marschik/Müllner/Zappe (Hg.), Motor, 138–141. 14 Norbert Adam, 1945–2005. 60 Jahre Sport in Österreich. Eine Erfolgsgeschichte, Wien 2011, 55–57. Die Tradition des Fitwandertags am 26. Oktober wird bis heute unter der Bezeichnung »Gemeinsam fit. Beweg dich mit!« fortgesetzt. Fit Sport Austria, URL: https://www.fit sportaustria.at/main.asp?VID=1& kat1=94& kat2=666 (abgerufen 22. 11. 2017); Gemeinsam Bewegen, URL: https://www.gemeinsambewegen.at/main.asp?VID=1& kat1=94& kat 2=666 (abgerufen 22. 11. 2017).

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1980er-Jahre war jedoch der Höhepunkt überschritten und jene Formate verloren an Attraktivität. Vor allem die Parallel- und Nachfolgeinitiativen wie der Nationale Schi- oder Radwandertag waren in Bezug auf nachhaltige Motivation zum Sporttreiben vermutlich wenig effizient. Als PR-Aktionen und zum Bewusstmachen der präventiven Bedeutung von Sport sowie in Bezug darauf, dass Fitnessaktivitäten zu etwas Selbstverständlichem15 geworden sind, leisteten sie aber sicher einen Beitrag. Somit kann man dem arrivierten österreichischen Sportmanager Christian Halbwachs durchaus zustimmen, wenn er meint, dass die Fitnessaktionen der 1970er-Jahre das »erste Highlight des Breitensports in Österreich, mit einer gesellschaftlichen Sichtbarkeit, die praktisch unerreicht bis heute« gewesen ist, waren.16

IV.

Fitness als Kompensationsmittel gegen degenerative Einflüsse der »modernen Zivilisation«

Die Aktion des nationalen »Fit-Marsches und Fit-Laufes« war keine autochthone österreichische Erfindung. Sie basierte auf einer Fülle von wissenschaftlichen Ergebnissen, Vorerfahrungen und Maßnahmen, die bereits in den 1950er-Jahren in den USA und etwas zeitversetzt später in Skandinavien und Deutschland wirksam wurden. In der Bundesrepublik Deutschland, an deren Konzepten man sich explizit orientierte, entwickelten Sportfunktionäre den sogenannten »Zweiten Weg«17, welcher dem Breiten- und Fitnesssport eine eigenständige Position mit eigenständigen Zielsetzungen, Organisationsformen und Inhalten jenseits des Leistungs- und Wettkampfsportes zuerkannte.18 Ein Hauptdiskursstrang kreiste dabei immer wieder um die Argumentation, dass der Rückgang der physischen Belastung in der Arbeitswelt in Kombination mit der Herausbildung der modernen, passiv machenden Konsumgesellschaft 15 Mc Kenzie formuliert dazu (für die USA) ganz ähnlich: The »awareness of the need for physical activity and exercise as a form of leisure was seen as normal by many people.« Shelly McKenzie, Getting Physical. The Rise of Fitness Culture in America, Lawrence 2013, 176. 16 Interview mit Mag. Christian Halbwachs am 11. 6. 2014. Halbwachs ist einer der renommiertesten Freizeitsportmanager in Österreich. Er war unter anderem Geschäftsführer von »Fit für Österreich«. 1992 folgte er Prof. Friedrich Holzweber als Generalsekretär der Bundes-Sportorganisation nach. Transkript im Besitz des Verfassers. 17 Zur durchaus komplexen Frage der Definitionen, Gemeinsamkeiten und Abgrenzungen der Termini »Zweiter Weg«, »Sport Für alle«, »Breitensport«, »Fitnesssport« oder »Trimm-Bewegung« siehe Dieter H. Jütting/Michael Krüger, Sport für alle – eine Einführung in diesen Band, in: Michael Krüger/Dieter H. Jütting (Hg.), Sport für alle. Idee und Wirklichkeit, Münster 2017, V–VI. 18 Erika Dilger, Die Fitnessbewegung in Deutschland: Wurzeln, Einflüsse und Entwicklungen, Schorndorf 2008; Ilse Hartmann-Tews, Sport für alle!?, Schorndorf 1996; Jütting/Krüger, Sport für alle.

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eine Fülle von negativen Folgen für die Gesundheit der Bevölkerung hätte. Diese Art der Argumentation findet sich in unzähligen Varianten in der zeitgenössischen Hygiene- und sportspezifischen Populär-, aber auch Fachliteratur.19 Sie bleibt im Kern immer gleich. Das Fernsehen, die zunehmende Motorisierung, die Abnahme der physischen Belastung,20 die Passivität, der Konsumfetischismus oder auch die Zunahme der psychischen Belastung in der modernen Arbeitswelt – es taucht jetzt vermehrt der Begriff der Managerkrankheit21 auf – verlangten mehr Bewegung und Fitnesssportaktivitäten von allen. Ein typischer Textbeleg dazu lautet: »Sport, Gesundheitssport, ist heute nötiger denn je. Die technische und auch die gesellschaftliche Entwicklung verleiten uns zur Inaktivität, zum passiven ›Konsumieren‹. Man geht weniger und fährt mehr. Man hat weniger aktives Erleben und sitzt mehr vor dem Fernsehschirm. Die Folgen: muskelarme, wenig strapazfähige ›Fernsehbeine‹ und Gewichtszunahme (›Fernsehmast‹). Maschinen nehmen uns die meiste Schwerarbeit ab, aber sie zwingen uns gleichzeitig oft zu stereotypen Bewegungen, die auf Dauer den Bewegungsapparat verformen. Der Mangel an gesunder Aktivität führt zu Fettleibigkeit, Zuckerkrankheit, Herzinfarkten und ›Sterben vor der Zeit‹.«22

Hier wiederholt sich eine Argumentationslinie, die in den USA bereits rund 20 Jahre früher eingesetzt hat und die zu einer Reihe von weitreichenden staatlichen Interventionen23 mit dem Ziel der Verbesserung der Fitness der AmerikanerInnen führte. Eine der Schlüsselpersonen in der Etablierung der amerikanischen Physical-Fitnessbewegung ist der New Yorker Physiologe Dr. Hans Kraus und dessen 1953 publizierte richtungsweisende Studie »Muscular Fitness

19 Siehe dazu Franz Greiter/Ludwig Prokop, Fitness für moderne Menschen, Stuttgart/New York 1983, V–VII, 25. Franz Greiter war Vorstand des Institutes für angewandte Physiologie in Klosterneuburg. Ludwig Prokop (1920–2016), seit 1959 der erste Professor für Physiologie und Sportmedizin an der Universität Wien, war der einflussreichste Sportmediziner Österreichs nach 1945. Das Büchlein »Fitness für moderne Menschen« verdichtet anschaulich die zeitgenössischen Fitness- und Hygienediskurse aus der Perspektive des sich in dieser Zeit allmählich entwickelnden Berufsstandes »Sportarzt«. Karl Hoffmann, Freizeitwelle weckt Interesse für neue Sportarten, in: ASKÖ Sport 10 (1973), 9; Norbert Adam, Die Fit-Welle rollt, in: Österreichisches Jahrbuch 1972/73 (1973), 74; Friedrich Holzweber, »Fit mach mit«, 39. 20 W. Rose, Veränderungen in der Gesellschaft. Ökonomische und technologische Entwicklung, in: Bundesministerium für Unterricht und Kunst (Hg.), »Sport für alle« in Österreich. Dokumentation für die Europäische Sportministerkonferenz, Malta, 14.–16. Mai 1984, Wien 1984, 17–22. 21 Greiter/Prokop, Fitness für moderne Menschen, 7. 22 Fritz Fabian, Gesunder Sport?, in: Wien aktuell (1980) 6, 12–13. 23 Zum Beispiel die Einsetzung des Presidents Council on Physical Fitness. Die Erfahrungen in den USA hatten starke Vorbildwirkung für die europäischen Sport-für-alle-Initiativen gehabt. Siehe dazu McKenzie, Getting Physical.

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and Health«.24 Kraus und seine Mitarbeiter verglichen dabei den Fitnessstatus europäischer mit dem amerikanischer SchülerInnen, bei dem die amerikanischen Jugendlichen besorgniserregend schlecht abschnitten. Die Ursachen dafür sahen Kraus et al. »in the fact that European children do not have the benefit of a highly mechanized society : they do not use cars, school buses, elevators or any other labor saving devices. […] Their recreation is based on the active use of their own bodies.«25

V.

Erhöhung der Sportpartizipation in den 1970er-Jahren – Frauen, Familien und SeniorInnen

Eine Imagebroschüre der »Sportstadt Wien«26 aus den späten 1970er-Jahren zeigt eine laufende Familie mit drei Kindern beim informellen Sporttreiben im Freien in relativ flottem Tempo einen Spazierweg entlangrennend. Die offensichtlich gestellte Szene symbolisiert ein idealtypisches Sujet aus dem Werkzeugkasten jener sich allmählich etablierenden SpezialistInnen biopolitischer Bewegungsinterventionen, der Sportfunktionäre, -ärzte und der Freizeit(sport)pädagogInnen. Das Bild verweist auf zwei konstituierende Aspekte moderner Fitnesskulturen: erstens auf die Gruppe der Aktiven selbst und zweitens auf die ausgeführte Bewegungsform: das Laufen. Die Familie, die Frau und die Kinder – es fehlen noch die SeniorInnen – sind ein Teil jener spezifischen Zielgruppen, welche die Proponenten des Fitnesssports identifiziert haben, um die als viel zu gering erachtete Sportpartizipation der Gesamtbevölkerung zu erhöhen. »Es geht«, schreibt Holzweber, der leitende Manager der österreichischen Breitensportinitiativen im Jahr 1971, »um die große Masse der Bevölkerung, die jeder körperlichen Betätigung passiv gegenüber steht« und es gehe darum, mit geeigneten PR-Aktionen »an das letzte Kind und an den letzten Senioren heranzukommen […]«27 Der Sportsoziologe Reinhard Bachleitner untermauert diese Einschätzung, indem er eine bescheidene Rate von lediglich 15 bis 20 Prozent der österreichischen Bevölkerung, die

24 Journal of the American Association for Health, Physical Education and Recreation 12 (1953), 17–19. 25 Eine biografische Besonderheit sei hier kurz erwähnt. Kraus, der auch als der Vater der amerikanischen Sportmedizin gilt, hat österreichische Wurzeln und promovierte 1929 an der Universität Wien im Fach Medizin. Vgl. Dr. Hans Kraus, 90, Originator Of Sports Medicine in U.S., Dies, in: New York Times, 7. 3. 1996, URL: http://www.nytimes.com/1996/03/07/nyregi on/dr-hans-kraus-90-originator-of-sports-medicine-in-us-dies.html (abgerufen 30. 10. 2017). 26 Wien aktuell (1980) 6, 6. 27 Friedrich Holzweber, »Fit durch Sport«, 130.

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Abb. 2: Die Familie als Ziel biopolitisch intendierter Sportpädagogik. (Quelle: Helga Gibs, Das große Angebot, in: Wien aktuell [1980] 6, 6)

»regelmäßig praktisch Sport« ausübten, beklagt.28 Vor allem niederschwellige, kostengünstige und familienfreundliche Bewegungsangebote, die man auch mit Kleinkindern absolvieren konnte – speziell das Wandern, welches in Österreich bereits an eine lange Tradition anschließen konnte –, boten sich demnach an. Der Zielgruppe Familie wird auch im Ratgeber des Sportmediziners Ludwig Prokop ein eigenes Kapitel mit dem Titel »Fitness und Familie« gewidmet: Dieses geht über die rein sportmedizinische Argumentation weit hinaus und offenbart ein durchaus aufschlussreiches Frauen- und Familienverständnis: »Familienmitglieder brauchen mitunter mehr als das Vorbild, an dem sie sich orientieren 28 Reinhard Bachleitner, Allgemeine Einleitung, in: Bundesministerium für Unterricht und Kunst (Hg.), »Sport für alle« in Österreich. Dokumentation für die Europäische Sportministerkonferenz, Malta, 14.–16. Mai 1984, Wien 1984, 45, 6.

Der nationale »FIT-Lauf und FIT-Marsch« als biopolitische Intervention

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können. Versuchen Sie daher gerade Ihre Familienmitglieder, vor allem Ihre oft überlastete Frau zu motivieren und sie in Ihr Fitnessprogramm einzuschließen.«29 In dieser Passage, die ganz offensichtlich an den Mann, an den Familienvater gerichtet ist, dokumentiert sich neben der »klassischen« Mehrfachbelastung der Frauen im Familiensetting auch die »selbstverständliche« hierarchische Ein- und Unterordnung der Frau als Mutter in das Fitnessprogramm ihres Mannes. Prokop intervenierte mit seiner gewichtigen, mit ärztlich-wissenschaftlicher Kompetenz ausgestatteten Stimme, auch in Richtung der Gruppe der SeniorInnen, denn er hatte erkannt: »Fitness für Ältere ist besonders wichtig. Es geht dabei nicht nur um die körperliche oder die geistige Leistungsfähigkeit, von denen jeder Jüngere annimmt, daß Sie nachlassen müssen, sondern auch um die sexuelle Aktivität, einem nicht zu unterschätzenden Indikator für ›Jungsein‹. Aktive, leistungsfähige Menschen sind motivierter. Motivierte Menschen sind glücklich und selbstsicher.«30

VI.

Laufen und Marschieren

Der zweite Kerninhalt des Fotosujets ist die Bewegungsform des Laufens, welche darin beworben wird. Die Hauptinitiative der österreichischen Fitsportbewegung in den 1970er-Jahren trägt den Titel »Fit-Lauf und Fit-Marsch«. Marschieren kann man, wenn man hier nicht spezifisch auf die durchaus auch interessante militärische Konnotation des Begriffes eingehen möchte, in etwa mit Wandern gleichsetzen. Die geringen Kosten, die Familienfreundlichkeit, die weit verbreitete Tradition sowie die geringen physischen oder technischen Voraussetzungen legten es nahe, dass die Organisatoren diese populare bewegungskulturelle Praxis aufgriffen und für ihre Zwecke propagierten.31 Etwas komplexer gestaltet sich die kulturhistorische Verortung des Laufens. Der Fit-Lauf zu Beginn der 1970er-Jahre ist in enger Verbindung mit der damals innovativen aus den USA kommenden sogenannten Joggingwelle zu verstehen. Jogging stellt zunächst, als eine Form des Langsamlaufens, eine eindeutige Abkehr von wettkampfmäßigen Laufformen dar. Ähnliche, häufig synonym verwendete Begriffe sind Traben, Trablaufen, Dauerlauf, Ausdauerlauf, Trotten oder der in Frankreich verwendete Begriff »Footing«. Kimmerle, der 1987 eine Begriffsabgrenzung von Jogging versuchte, nennt als gemeinsames zentrales Merkmal all dieser Erscheinungsformen, dass sie eine Form des Dauerlaufs mit 29 Greiter/Prokop, Fitness für moderne Menschen, 153. 30 Ebd., 148. 31 Spannend wäre es in diesem Kontext die Entwicklung des Nordic Walking in den Blick zu nehmen.

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niedriger Intensität und mit niedrigem Umfang seien. Funktional orientierte Definitionen von Seiten der Sportmedizin verweisen auf den positiven physiologischen Nutzen zur Prävention von Bewegungsmangelerkrankungen.32 Die Geschichte des Joggings ist in der Zwischenzeit gut dokumentiert.33 Als Pioniere gelten der ehemalige Neuseeländische Marathonläufer und Trainer Arthur Lydiard, der zu Beginn der 1960er-Jahre mit Langsamlauftrainings erfolgreich experimentierte und der amerikanische Leichtathletiktrainer William J. Bowerman, der zusammen mit dem Arzt Harris 1967 das erste Jogging-Buch veröffentlichte.34 Dieses Buch stellte eine Initialzündung zur weltweiten Etablierung sowohl des Begriffes Jogging als auch der gleichnamigen Fitnesspraxis dar. Als Gründe für den großen Erfolg Bowermans konstatiert Dietrich u. a., dass er sich speziell auch AnfängerInnen, Familien und Frauen zuwandte.35 Die joggende, die laufende Familie findet sich dabei auch als Leitmotiv auf dem Titelcover. Die nationalen Fit-Läufe starteten in Österreich 1971, vier Jahre nach der Erstausgabe des Buches von Bowerman. Jogging hatte in den 1970ern die westliche Gesellschaft »tief durchdrungen«.36 Es erregte wie kaum eine andere Breitensportaktivität öffentliche und politische Aufmerksamkeit. Es ist hier nicht der Raum, um alle zum Teil disparaten Bedeutungszuschreibungen und Motivlagen des Ausdauerlaufens anzuführen und zu analysieren. Jogging als nahezu omnipotentes kuratives und präventives Heilsversprechen für alle Arten physischer und psychischer Unzulänglichkeiten wurde als das Mittel gegen jedwede sogenannte Zivilisationskrankheit angesehen. Es sollte helfen, das Herz- Kreislaufsystem leistungsfähiger und gesünder zu machen, diente zur effizienten Gewichtsreduktion im »Zeitalter der Kalorienangst«37, steigerte das 32 Roland Kimmerle, Jogging. Zur Enstehung und Entwicklung einer kollektiven Bewegung im Sport, in: Sportwissenschaft 17 (1987) 2, 121–123. Weiterführend ist in diesem Zusammenhang auch auf die Entstehung der modernen Massenlaufveranstaltungen wie etwa die Stadtmarathons zu verweisen. Der erste New York-Marathon wurde am 13. September 1970 von nur 126 TeilnehmerInnen, die man damals noch für etwas sonderbar hielt, gelaufen. Der erste Wien-Marathon fand am 25. März 1984 statt. Eine weitere Laufveranstaltung, der »Zweibrückenlauf« im Überschwemmungsgebiet zwischen Floridsdorfer Brücke und Reichsbrücke, der 1964 bis ca. 1967 veranstaltet wurde, wäre noch näher zu untersuchen. (Hinweis von Andreas Maier an den Autor.) 33 Siehe dazu Tobias Dietrich, Laufen als Lebensinhalt. Körperliche Praxis nach dem Boom, in: Morten Reitmayer/Thomas Schlemmer (Hg.), Die Anfänge der Gegenwart. Umbrüche in Westeuropa nach dem Boom, München 2014, 123–134. 34 William J. Bowerman/W. E. Harris, Jogging. A physical fitness programme for all ages prepared by a heart specialist and a famous track coach, New York, 1967. 35 Tobias Dietrich, Eine neue Sorge um sich? Ausdauersport im »Zeitalter der Kalorienangst«, in: Martin Lengwiler/Jeannette Madar#sz (Hg.), Das präventive Selbst. Eine Kulturgeschichte moderner Gesundheitspolitik, Bielefeld 2010, 279–304. 36 Dietrich, Laufen als Lebensinhalt, 128. 37 Dietrich, Sorge um sich, 279–304.

Der nationale »FIT-Lauf und FIT-Marsch« als biopolitische Intervention

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allgemeine Wohlbefinden, die sexuelle Performance, sollte Depression oder Alkoholsucht zu überwinden helfen, konnte – meditativ betrieben – transzendente (runners high) oder nahezu religiöse Qualitäten erreichen, stärkte das Selbstbewusstsein von Frauen, die sich in single sex events laufend vergemeinschafteten, konnte eine antikonsumistisch-antikapitalistische Haltung (oft in Kombination mit vegetarischer Ernährung) zum Ausdruck bringen, aber auch ins Gegenteil, als elitärer, selbstreferentieller Nachweis für Willensstärke und Leistungsfähigkeit gewendet werden.38 Was auf jeden Fall bleibt, ist die Frage nach dem spezifischen Zugriff auf den Körper in Fitnesspraxen der 1970er-Jahre. Wer waren die zentralen Akteure im biopolitischen Setting39 der Fitnessbewegung? Wer war letztendlich verantwortlich für die Herstellung und Aufrechterhaltung von Fitness? Wie konstituierten sich die Körpersubjekte in der Sorge um sich und um ihre Gesundheit? »Warum«, fragten sich Prokop/Greiter in ihrem Fitnessratgeber, »bemühen sich die modernen Menschen heute zunehmend um Fitness? Warum betreiben sie Sport, wo sie doch niemand dazu zwingt?« Eine mögliche Antwort liefern die beiden Mediziner geich selbst, indem sie den Terminus »Selbstzwang« einführen. »Warum«, fragen sie sich, »wird hier eine Art Selbstzwang auf sich genommen, während die Fremdzwänge immer mehr abnehmen?«40 Die nationalen Fit-Läufe und Fit-Märsche waren Top-down-Interventionen am österreichischen »Volkskörper«. Der Verpflichtungsgrad, der Zwang von Seiten der Sportadministration zur aktiven Teilnahme war gering, er verblieb im Apellartigen. Er beschränkte sich auf zentralistische Aufrufe, auf Fernsehspots zu vermehrter sportlicher Selbstaktivität. Die nationalen Fit-Läufe und Fit-Märsche sind eine historische Zwischenphase im Modernsierungsprozess der Bewegungskultur. Sie dokumentieren, wie sich Fitness »als Leitmotiv der postfordistischen Subjektkonstitution«41 allmählich von der »repressiven« hin zur »stimulierenden Kontrolle« verschob.

38 Vgl. Mc Kenzie, Getting Physical, 109–142. 39 1968 beispielsweise initiierte der oberste Militärarzt der USA, Generalleutnant Richard Bohannon, die National Jogging Association, deren Ziel es war, die Gesundheitsförderung durch Laufen zu propagieren. Vgl. Dietrich, Laufen als Lebensinhalt, 126. Eine weitere Schlüsselfigur zur Verbreitung der Joggingidee war der amerikanische Militärmediziner Kenneth Cooper. 40 Greiter/Prokop, Fitness für moderne Menschen, V–VII. 41 Simon Graf, Leistungsfähig, attraktiv, erfolgreich, jung und gesund. Der fitte Körper in postfordistischen Verhältnissen, in: Body Politics 1 (2013) 1, 139–157, 146.

Martina Gugglberger

»Bergamazonen« und »Himalaya-Girls«. Mediale Repräsentation von Geschlecht und (Extrem)Alpinismus am Beispiel der ersten Österreichischen Frauenexpedition 1994

Abb. 1: V. l. n. r. oben: Barbara Hinterstoisser, Irmgard Schuster, Marion Feik, Gertrude Reinisch, Karin Fuchs, Irmgard Doriat; v. l. n. r. unten: Christine Eberl, Christine Teich, Vera Lindenberg, Edith Bolda, Anneliese Scharbl. (Quelle: Bogdan Winnicki, 1993)

Ein Gruppenbild in »Uniform«, Gasthof Quell, Wien 15, 27. Oktober 1993: Elf österreichische Bergsteigerinnen präsentieren ihr Vorhaben mit dem provokanten Spruch »A woman’s place is on the top«.1 Im Hintergrund deutet ein Transparent an, worum es geht. Das erste Mal wollte ein reines Frauenteam aus

1 Gertrude Reinisch, Erste österreichische Frauenexpedition »Shisha Pangma«, Wien 1995, 36.

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Österreich einen Achttausender-Gipfel im Himalaya besteigen. Ziel der Mission war die 8.027 Meter hohe Shisha Pangma2 in Tibet/China. Während in Großbritannien, Frankreich, Polen, den USA aber auch in Japan Frauenteams auf Himalaya-Expeditionen bereits seit den 1950er-Jahren unterwegs waren, kam es im »Land der Berge« erst Anfang der 1990er-Jahre zu einer derartigen Initiative. Bis dahin hatten nur vereinzelt Alpinistinnen aus Österreich an Himalaya-Expeditionen teilgenommen.3 Vor allem die Besteigung der 14 prestigeträchtigen Achttausender-Gipfel, bei deren Erstbesteigung eine Reihe von Österreichern wie Hermann Buhl, Herbert Tichy oder Kurt Diemberger in den 1950er-Jahren Pionierleistungen vollbracht hatten, galt bis weit in die 1990er-Jahre hierzulande als »Männersache«.4 Anhand der Presseberichterstattung zur ersten Österreichischen Frauenexpedition soll im Folgenden der medialen Darstellung der Bergsteigerinnengruppe und ihres Projekts nachgegangen werden. Der Medienanalyse vorangestellt ist eine theoretische und historische Einbettung des Themas.

I.

Medien, Sport, Geschlecht

Als gesellschaftliches Teilsystem tragen Massenmedien entscheidend zur Ausgestaltung und Verfestigung von Ungleichheiten bei. Dies lässt sich ebenfalls für die soziale Konstruktion von Geschlecht feststellen. Medien müssen folglich als wichtige Akteure im Prozess des gendering von Sport und Gesellschaft in den Blick genommen werden.5 2 Die Shisha Pangma weist mehrere Gipfelerhebungen über 8.000 Meter auf, wobei der Hauptgipfel 8.027 Meter hoch ist. Der Zentralgipfel mit einer Höhe von 8.008 Metern ist leichter zu erreichen und Endziel der meisten Expeditionen. 1994 benutzte die österreichische Frauenexpedition die damals gängigen Höhenangaben nach indischen Messungen, der Hauptgipfel wurde demnach mit 8.046 Meter angegeben. 3 Die erste Österreicherin, die die 8.000 Meter Höhenmarke (Vorgipfel des Broad Peak) überschritt, war Henriette Eberwein-Hölzl 1986. Edith Bolda, Mitglied der ersten österreichischen Frauenexpedition, war die zweite Österreicherin, die über 8.000 Meter kam. Gerlinde Kaltenbrunner erreichte im Juni 1994 als dritte Österreicherin eine Höhe über 8.000 Metern (Vorgipfel des Broad Peak). 4 Zum definitorischem Diskurs von Himalaya-Bergbesteigungen als »Männerjobs« siehe: Wibke Backhaus, Bergkameraden. Soziale Nahbeziehungen im alpinistischen Diskurs (1860–2010), Frankfurt/New York 2016. 5 Vgl. Daniela Schaaf/Jörg-Uwe Nieland (Hg.), Die Sexualisierung des Sports in den Medien, Köln 2011; Ilse Hartmann-Tews/Bettina Rulofs, Die Konstruktion von Geschlecht im Rahmen der visuellen Sportkommunikation, in: Thomas Schierl (Hg.), Die Visualisierung des Sports in den Medien, Köln 2008, 111–134; Bettina Rulofs, Geschlechterungleichheiten im österreichischen Sportjournalismus? – Reflexionen zur Geschlechterordnung in den Sportmedien, in: Matthias Marschik/Rudolf Müllner (Hg.), »Sind’s froh, dass Sie zu Hause geblieben sind.« Mediatisierung des Sports in Österreich, Wien 2010, 392–406.

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Die mediale Sportberichterstattung, so haben zahlreiche Studien gezeigt, verstärkt die Verknüpfung von Maskulinität und Sport.6 Sportlerinnen beziehungsweise sogenannte Frauensportarten sind sowohl in Printmedien als auch im Film generell deutlich unterrepräsentiert. Doch nicht allein die Selektion und ungleiche Gewichtung von Informationen kennzeichnet eine geschlechtsspezifische Berichterstattung, sondern vor allem die Art der Präsentation. In Berichten über Sportlerinnen finden sich häufig Sexualisierungen oder Trivialisierungen in Form von Verniedlichungen beziehungsweise Infantilisierungen (»Girls«) oder diskursiven Bezügen zur Tierwelt (»klettern wie die Gämsen«). Gleichzeitig werden Sportlerinnen häufiger als ihre männlichen Kollegen in nicht-sportlichen Zusammenhängen dargestellt (als Ehefrauen, Mütter) und psychologisiert, das heißt bezogen auf ihre Gefühlslage oder Charaktereigenschaften beschrieben.7 Die Sportberichterstattung greift zudem Normen und Logiken auf, die im Sport selbst konstitutiv sind. Ein zentrales Element ist die Vorstellung einer biologisch determinierten und unhinterfragten Geschlechterdifferenz. Das sportliche Leistungsprinzip suggeriert eine sichtbare Evidenz einer scheinbar natürlichen, biologisch festgelegten Zweigeschlechtlichkeit. Als Norm für sportliche Leistungsfähigkeit gelten männliche Körper. Weibliche Körper hingegen wurden gemäß der Vorstellung einer fundamentalen Geschlechterpolarität als minderwertig konstruiert und die körperliche Konstitution von Frauen mit Sanftheit und Anmut idealisiert.8 Bis ins späte 20. Jahrhundert diente diese Überzeugung als argumentative Grundlage für den Ausschluss von Frauen von gesellschaftlichen Bereichen, so auch von vielen Sportarten.9 Im Sport gilt die Alltagsvorstellung eines fundamentalen körperlichen Unterschieds aufgrund des Geschlechts als ein unumstößliches Prinzip und resultiert in einer stark ausgeprägten Geschlechtersegregation. Die Konsequenz 6 Vgl. Johanna Dorer, Mediensport und Geschlecht, in: medienimpulse 16 (2007) 62, 25–31; Gertrud Pfister, Gender, Sport und Massenmedien, in: Claudia Kugelmann/Gertrud Pfister/ Christa Zipprich (Hg.), Geschlechterforschung im Sport. Differenz und/oder Gleichheit (Beiträge aus der dvs-Kommission »Frauenforschung in der Sportwissenschaft«), Hamburg 2004, 59–88; Marie-Luise Klein/Gertrud Pfister, Goldmädel, Rennmiezen und Turnküken. Die Frau in der Sportberichterstattung der Bild-Zeitung, Berlin 1985; Marie-Luise Klein, Frauensport in der Tagespresse. Eine Untersuchung zur sprachlichen und bildlichen Präsentation von Frauen in der Sportberichterstattung, Bochum 1986; Ilse Hartmann-Tews/Bettina Rulofs, Sport in den Medien – ein Feld semiotischer Markierung von Geschlecht?, in: Ilse HartmannTews/Petra Gieß-Stüber/Marie-Luise Klein/Christa Kleindienst-Cachay/Karen Petry (Hg.), Soziale Konstruktion von Geschlecht im Sport, Opladen 2003, 29–68. 7 Vgl. Hartmann-Tews/Rulofs, Sport in den Medien, 31–32. 8 Vgl. Gertrud Pfister, »Auf den Leib geschrieben« – Körper, Sport und Geschlecht aus historischer Perspektive, in: Ilse Hartmann-Tews/Bettina Rulofs (Hg.), Handbuch Sport und Geschlecht, Schorndorf 2006, 26–39. 9 Vgl. Rosa Diketmüller, Frauen- und Geschlechterforschung im Sport, in: Matthias Marschik/ Rudolf Müllner/Otto Penz/Georg Spitaler (Hg.), Sport Studies, Wien 2009, 259–261.

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daraus ist eine Geschlechtertrennung, die den Zugang und die Ausübung von Sportdisziplinen (Frauensport – Männersport), die institutionellen Bedingungen (Vereine), Wettbewerbsstrukturen und die Definitionen von Leistung und Reglements beeinflusst. Der Beweis einer auf körperlichen Unterschieden basierenden Geschlechterordnung wird im sportlichen Leistungsvergleich quasi vor Augen geführt. Ilse Hartmann-Tews bezeichnet diesen Umstand als »visuelle Empirie« der scheinbar natürlichen Unterschiede und (Leistungs-)Hierarchien zwischen den Geschlechtern.10 Medien geben Diskurse einer naturalisierten Geschlechterdifferenz nicht nur wieder sondern verstärken sie.11 Dabei spielen Verknüpfungen von Geschlecht mit weiteren Achsen sozialer Ungleichheit, beispielsweise sozialer Schicht, ethnischer Herkunft aber auch Alter, Bildungsgrad, sexueller Orientierung eine wichtige Rolle.12 Für die Akzeptanz von Sportlerinnen in der Öffentlichkeit, aber auch für die Ausweitung von Handlungsspielräumen spielt demgemäß die mediale Darstellung eine wesentliche Rolle. Bereits die ersten Frauenteams in den 1950er-Jahren, die im Himalaya Touren unternahmen, sahen sich mit ambivalenten Presseberichten konfrontiert und bemühten sich um ein positives Image.13 Mitte der 1990er-Jahre kämpfte die erste österreichische Frauenexpedition nach wie vor mit Vorbehalten gegenüber einem Frauenteam.

II.

»A woman’s place is on the top« – Zur ersten österreichischen Frauenexpedition

Die Idee und Initiative zur Organisation einer Frauenexpedition ging von der österreichischen Journalistin Gertrude Reinisch aus. Die damals 42-jährige Bergsteigerin hatte bereits mehrere Bergreisen ins Himalaya-Gebiet unternommen, unter anderem nahm sie 1990 an einer Frauenexpedition zum Gasherbrum I in Pakistan unter der Leitung der polnischen Bergsteigerin Wanda Rutkiewicz teil. Diese galt Anfang der 1990er-Jahre als erfolgreichste HimalayaBersteigerin weltweit, als sie am Weg zum 8.586 Meter hohen Kangchendzönga 1992 verschollen blieb. Ihr Tod bildete für Reinisch den Auslöser für die Orga10 Ilse Hartmann-Tews, Soziale Konstruktion von Geschlecht: Neue Perspektiven der Geschlechterforschung in den Sportwissenschaften, in: Hartmann-Tews/Gieß-Stüber/Klein/ Kleindienst-Cachay/Petry (Hg.), Soziale Konstruktion, 13–27, 24. 11 Vgl. Dorer, Mediensport, 25. 12 Zum theroretischen Konzept der Intersektionalität vgl. Gabriele Winker/Nina Degele, Intersektionalität. Zur Analyse sozialer Ungleichheiten, Bielefeld 2009. 13 Vgl. Martina Gugglberger, »Mountain Femininity«. Selbstpräsentationen und Legitimierungsstrategien im Rahmen der ersten Himalaya-Frauenexpedition 1955, in: zeitgeschichte 43 (2016) 1, 5–20.

Mediale Repräsentation von Geschlecht und (Extrem)-Alpinismus

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nisation der »Wanda Rutkiewicz-Gedächtnisexpedition«, der ersten österreichischen Frauenexpedition. Als Ziel wählte Reinisch die in Tibet gelegene Shisha Pangma, mit 8.027 Metern der niedrigste der 14 Achttausender-Gipfel. Die Vorbereitungen, zu der die Auswahl der Teilnehmerinnen, das Beschaffen der finanziellen Mittel, die Organisation der Ausrüstung und der Unterstützungsmannschaft vor Ort sowie das sportliche Training gehörten, erstreckten sich über das gesamte Jahr 1993. Das Bergsteigerinnen-Team bestand letztendlich aus 14 Frauen, wobei neben den österreichischen Bergsteigerinnen auch eine Polin, eine Deutsch-Amerikanerin und drei Tibeterinnen an der Expedition teilnahmen. Vor Ort waren außerdem sechs nepalesische Sherpas, drei einheimische Köche, ein ORFFilmteam der Sendereihe »Land der Berge« mit eigenem Bergführer, ein Arzt und zwei chinesische Begleitoffiziere anwesend. Die Expedition fand von 22. März bis 22. Mai 1994 statt. Ende April und Anfang Mai erreichten insgesamt fünf Teilnehmerinnen den Gipfel, unter ihnen als einzige Österreicherin die Wiener Schuldirektorin Edith Bolda.

Abb. 2: Aufkleber zur ersten österreichischen Frauenexpedition 1994.

Das Team operierte schon in der Vorbereitungszeit medienwirksam und versuchte dadurch gemäß den kommerziellen Spielregeln einer Himalaya-Expedition, Sponsoren, Unterstützer und die dafür nötige öffentliche Aufmerksamkeit

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zu gewinnen. Finanziert wurde das Unternehmen aus Beträgen, die alpine Vereine beigesteuert hatten, (Material-)Sponsoring und privaten Geldern der Teilnehmerinnen. Ein Teil der 100.000 Schilling, die pro Teilnehmerin veranschlagt waren, stammte aus den Einnahmen aus Diavorträgen und dem Verkauf von Grußkarten beziehungsweise Shirts mit dem aufgedruckten Leitspruch der Expedition »A woman’s place is on the top«. Mit dem Verkauf von Textilien zur Finanzierung einer Frauenexpedition hatten bereits 1978 amerikanische Bergsteigerinnen Erfolg. Die österreichische Frauenexpedition konnte also bereits auf Erfahrungen und Strategien anderer internationaler Frauenteams zurückgreifen und stellte damit Bezüge zur Tradition der Frauenexpeditionen im Himalaya her.

III.

Historische Bezüge: Frauenexpeditionen seit den 1950er-Jahren

Frauenexpeditionen in den Himalaya wurden erstmals in den 1950er-Jahren unternommen, vorerst mit »moderaten« Berg-Zielen um die 6.000 Meter.14 Bei den Pionierinnen handelte es sich um britische Bergsteigerinnen, die in Kleinteams nach Indien und Nepal reisten, um dort Erstbesteigungen und Erkundungstouren durchzuführen. Ein internationales Frauenteam, geleitet von der Französin Claude Kogan, versuchte erstmals 1959 einen der 14 AchttausenderGipfel zu erreichen, musste allerdings nach einem Lawinenunglück aufgeben. Insgesamt vier TeilnehmerInnen, darunter die Leiterin Kogan, fanden dabei den Tod. Der katastrophale Ausgang der Expedition zog eine Flut negativer Presseberichte nach sich. Vor allem Boulevard-Medien bezichtigten Kogan, eine der besten Alpinistinnen ihrer Zeit, eines übertriebenen weiblichen Ehrgeizes und sprachen Frauen die Fähigkeit ab, derart schwierige Bergtouren zu bewältigen. In Frankreich und Großbritannien bewirkte dieser öffentliche Druck auf die betroffenen Alpinistinnen eine vorläufige längere Pause für Frauenexpeditionen in den Himalaya. Erst japanischen Frauenteams gelang es schließlich erstmals 1974 und 1975, einen Achttausender-Gipfel zu erreichen. 1975 betrat die Japanerin Junko Tabei als erste Frau den höchsten Gipfel, den Mount Everest (8.848 Meter). Sechs Jahre später, 1981, stand Tabei mit einem japanischen Frauenteam auch auf dem Gipfel der Shisha Pangma. Der Frauenalpinismus der 1970er- und 1980er-Jahre war gerahmt durch die jeweiligen politischen Kontexte und den damit einhergehenden Geschlechter14 Zur Geschichte von Frauenexpeditionen in den Himalaya siehe: Martina Gugglberger, Grenzen im Aufstieg. Frauenexpeditionen in den Himalaya 1955 bis 2014 aus geschlechterhistorischer Perspektive, Habilitationsschrift, Universität Linz 2016.

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verhältnissen im Alpinsport. Maßgeblich zu einer gewissen Öffnung des Extremalpinismus führten jedoch auch gesellschaftspolitische Strömungen wie die Frauenbewegung und gegenkulturelle Einflüsse.15 Zunehmend wurden auch Frauenexpeditionen im Himalaya als Bühne genutzt, um Kritik an Diskriminierung und Sexismus im Bergsteigen zu üben. Zwei Bergsteigerinnen sind für diese Phase zentral: die Polin Wanda Rutkiewicz und die US-Amerikanerin Arlene Blum. Auf beide Protagonistinnen nimmt die erste österreichische Frauenexpedition direkt Bezug, weshalb sie kurz vorgestellt werden sollen.

3.1

Wanda Rutkiewicz – Polnische Frauenexpeditionen

Die 1943 geborene Elektrotechnikerin Wanda Rutkiewicz dehnte ihre alpinistischen Aktivitäten ab 1970 auf das Expeditionsbergsteigen aus.16 1975 organisierte sie erstmals eine polnische Frauenexpedition nach Pakistan. Internationale mediale Bekanntheit bescherte ihr schließlich 1978 die Besteigung des Mount Everest als erster Europäerin. Gefördert durch den polnischen Bergsportverband verfolgte sie ab Anfang der 1980er-Jahre das Ziel, eigenverantwortlich die Leitung von Expeditionen zu übernehmen und sah dies als Bergsteigerin nur innerhalb von Frauenteams realisierbar. 1982 erhielt sie durch die Heirat mit einem Österreicher einen österreichischen Pass und knüpfte in der Folge intensive Kontakte zu Medien und Sponsoren. Rutkiewicz propagierte einen Expeditionsstil, bei dem Frauenteams ohne jegliche männliche Unterstützung auskommen sollten, also auch ohne die Dienste von Höhenassistenten (Sherpas). Nur in einem völlig eigenständigen Agieren sah sie die Chance auf Anerkennung der sportlichen Leistung von Extrembergsteigerinnen und eine Möglichkeit an der Teilnahme am extremalpinistischen Wettbewerb.17 Insgesamt führte Wanda Rutkiewicz sieben Frauenexpeditionen im Laufe ihrer alpinistischen Karriere durch. Ab Mitte der 1980er-Jahre änderte sie ihre Strategie und setzte alles daran, nach Reinhold Messner und ihrem Landsmann Jerzy Kukuczka ebenfalls alle Achttausender-Gipfel zu erreichen. Aus Marketinggründen und um die mediale Aufmerksamkeit zu steigern, wollte sie dieses Ziel in Rekordzeit bewältigen und nahm Abstand von Frauenexpeditionen. Nach acht 15 Vgl. Sherry B. Ortner, Life and Death on Mt. Everest. Sherpas and Himalayan Mountaineering, Princeton 1999, 186–188. 16 Vgl. Martina Gugglberger, Wanda Rutkiewicz – Crossing Boundaries in Women’s Mountaineering, in: Sport in Society (2016), 1–18, DOI: 10.1080/17430437.2016.1175139. 17 Rutkiewicz sprach sich mehrmals für einen puristischen Stil bei Frauenexpeditionen aus, unter anderem bei einem Vortrag in Neu Delhi 1986, vgl. Wanda Rutkiewicz, Paper on Women’s Mountaineering, in: Indian Mountaineering Foundation (Hg.), Proceedings of the Himalayan Mountaineering and Tourism Meet 1983, Neu Delhi 1986, 134–137.

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bestiegenen Himalaya-Riesen, endete ihr Vorhaben im Mai 1992 am Kangchendzönga tödlich.

3.2

Arlene Blum – Amerikanische Annapurna-Frauenexpedition

Arlene Blum, Jahrgang 1945 und Chemikerin, zählte in den 1970er- und 1980erJahren zu den bekanntesten nordamerikanischen Bergsteigerinnen und galt als feministische Protagonistin im Himalaya-Bergsteigen. Ihre nachhaltige Bekanntheit ging unter anderem auf die von ihr 1978 geleitete »American Women’s Himalayan Expedition« zurück, bei der die Besteigung des als äußerst gefährlich geltenden Annapurna-Gipfels (8.091 Meter) gelang. Ihr im Anschluss publizierter Expeditionsbericht »Annapurna, A Woman’s Place« avancierte zum alpinen Klassiker.18 Es war dies eine der ersten Veröffentlichungen, in der offen über Diskriminierung und Sexismus im Alpinismus gesprochen wurde. Eigene Diskriminierungserfahrungen hatten Blums Erkenntnis gefestigt, dass allein ein Team aus Frauen die Möglichkeit bieten würde, die herrschenden Vorurteile zu entschärfen und zu beweisen, dass auch Bergsteigerinnen einen schwierigen Gipfel selbständig erreichen konnten. Anders als Rutkiewicz verzichtete die Amerikanerin jedoch – aus Sicherheitsgründen – nicht auf die Unterstützung durch männliche Sherpas am Berg, was innerhalb des Teams zu Konflikten führte.19 Als gelungene Fundraising-Idee erwies sich der Verkauf von Expeditions-TShirts mit dem Slogan »A woman’s place is on top«. Der provokante Slogan korrespondierte mit den gesellschaftspolitischen Ansprüchen des »Women’s Liberation Movement« und verlieh im konkreten Kontext einer Gipfelbesteigung der Forderung eine hohe symbolische Aufladung. Insgesamt konnten über 15.000 Stück verkauft werden, was die Finanzierung des Unternehmens sicherte. Fünfzehn Jahre später griff die österreichische Frauenexpedition auf diese Vermarktungsstrategien zurück.

IV.

Mediale Präsentation der ersten österreichischen Frauenbewegung

Für den vorliegenden Beitrag wurden Artikel aus den gesammelten Pressespiegeln zweier Expeditionsteilnehmerinnen herangezogen. Insgesamt lagen damit über 70 Artikel vor. Über die Expedition berichteten Tageszeitungen, Regio18 Arlene Blum, Annapurna, A Woman’s Place, San Francisco 1980. 19 Vgl. ebd., z. B. 81.

Mediale Repräsentation von Geschlecht und (Extrem)-Alpinismus

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nalmedien, alpine beziehungsweise Sport-Magazine, Frauen-Zeitschriften aber auch Firmenzeitungen der Sponsoren sowie Printmedien des ORF.20 Die außerordentliche Medienresonanz erstreckte sich über einen Zeitraum von Herbst 1993 bis Herbst 1994 und vereinzelt noch auf das Jahr 1995. Dabei lassen sich drei Phasen der Berichterstattung feststellen, die sich auch hinsichtlich der vorherrschenden Themen und Diskurslinien unterschieden.

4.1

Vor der Expedition

Im Fokus der Berichterstattung im Zeitraum vor dem Aufbruch des Teams nach Tibet im März 1994 standen das Team, das Vorhaben und dessen Vorbereitung. Das Novum eines österreichischen Frauenteams, das Achttausender-Ambitionen hegte, wurde als außergewöhnlich und sensationell präsentiert. Nichtsdestotrotz konterkarierten immer wieder Ironisierungen die sportliche Ernsthaftigkeit des Vorhabens. Vor allem in Titeln und Bildunterschriften fallen ironische Formulierungen auf, wie beispielsweise »Frauen steigen der Welt aufs Dach«21 oder »Yeti, gib acht!«22. Auch wenn die Teilenehmerinnen regelmäßig in den Beiträgen vor der Expedition als vielseitige Sportlerinnen präsentiert wurden, vermittelten Übertreibungen wie »körperliche Fitness: Perfektion zum Herzeigen« und »SuperLadys«23 das Gegenteil. Eine ähnlich abwertende Wirkung erzielten verniedlichende Ausdrücke wie »Coole Girls«, »tapfere Ladys«24, oder »Sie klettern wie die Gemsen«25. Auffällig in den Artikeln zur Frauenexpedition war des Weiteren die Kampfrhetorik nach der die »Gipfelstürmerinnen« ihre Ziele »bezwangen«. Dieser militärische Jargon war bis in die 1970er-Jahre im Alpinismus gebräuchlich. Die Bezeichnung »Berg-Amazonen«26, wie sie für die Bergsteigerinnen in mehreren Artikeln Verwendung fand, verlieh diesem Diskursmuster einen weiblichen Anstrich. »Amazonen« waren der antiken Sage nach kriege-

20 Erfasste Tageszeitungen: Kronen-Zeitung, Kurier, Salzburger Nachrichten, Oberösterreichische Nachrichten, Wiener Zeitung; Alpine bzw. Sport-Magazine: Clubnachrichten verschiedener Sektionen des Österreichischen Alpenvereins, Alpin, Land der Berge, Sportmagazin; »Frauen-Zeitschriften«: Wienerin, AUF. 21 Frauen steigen der Welt aufs Dach, in: Kurier, 4. 3. 1994, 9. 22 Yeti, gib acht!, in: Unser Wien, 2/1994, 6. 23 Frauen ganz oben, in: Wienerin, 4/1994, 114. 24 Coole Girls, in: Sportmagazin, 1/1994, 12. 25 Aufwärmtraining für Achttausender, in: Krone bunt, 4. 7. 1993, 3. 26 Z. B. Elf Österreicherinnen wollen zum Gipfel, in: Salzburger Nachrichten, 10. 3. 1994, 21.

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rische Frauen, die sich Männern gleich an bewaffneten Kämpfen beteiligten.27 Im Zusammenhang mit dem Expeditionsteam implizierten »Berg-Amazonen« nicht nur das Bezwingen des Gipfels, sondern zudem einen (Wett)kampf mit männlichen Bergsteigern. Der Frauenexpedition wurde mehrfach unterstellt, generell gegen die Vormachtstellung von Männern anzutreten. Das Frauenteam wolle allein den Beweis antreten, am Berg ebenso leistungsfähig und erfolgreich zu sein wie männliche Kollegen. In diesem Zusammenhang präsentierten einige Artikel die Expedition als Provokation, in alpinistischer aber auch in gesellschaftlicher Hinsicht. Gleichzeitig wurde das Vordringen von Frauen in eine »Männerdomäne« immer wieder abgeschwächt dargestellt und die Teilnehmerinnen als gesellschaftlich konform und angepasst beschrieben. Dieser »versöhnlichen« Darstellungslinie folgten auch einige der Bergsteigerinnen, die in Interviews und eigenen Pressetexten ihr Vorhaben nicht als Provokation betrachtet sehen wollten und sich von Feminismus und Emanzipation, verstanden als radikaler Gesellschaftskritik, distanzierten. In einer Sonntagsausgabe der »Kronen-Zeitung« im Juni 1993 wurden die Bergsteigerinnen als begeisterte Sportlerinnen zitiert, die die Expedition unternahmen »nicht um zu beweisen, dass wir besser sind als die Männer, sondern aus Freude an der Herausforderung«.28 Auch die »Salzburger Nachrichten« betonten in ihrem Bericht im Frühjahr 1994, dass die Expeditionsleiterin, trotz ihres ambitionierten Zieles »um Gottes Willen nicht als Männerhasserin« gelten wollte.29 Dass das Frauenteam mit seinem Anspruch, einen der höchsten Berge der Welt zu besteigen, offensichtlich Geschlechtergrenzen überschritt, war tolerierbar, solange die Bergsteigerinnen die gesellschaftliche Geschlechterordnung aktiv bejahten. Dies betraf auch die Norm der Heterosexualität. Für ein gutes Image in der medialen Öffentlichkeit ließen sich einige Teammitglieder gemeinsam mit ihren (Ehe-)Partnern interviewen.30 Die heterosexuelle Lebensweise wurde gleichsam als Beweis herangezogen, dass es sich bei den Teammitgliedern um Frauen handelte, die gesellschaftlichen Geschlechternormen entsprachen: »Wir sind keine Emanzen oder Mannweiber, sondern haben alle einen Ehemann oder Freund.«31 Eine durchgängige Diskurslinie war die Betonung der Geschlechterdifferenz, indem zwischen Männer- und Frauenalpinismus unterschieden wird. Dies geschah nicht nur, wie bereits erwähnt, in der Andeutung eines Geschlechter27 Konrat Ziegler/Walther Sontheimer (Hg.), Kleiner Pauly, Lexikon der Antike, Bd.1, Stuttgart 1964, 291–293. 28 Aufwärmtraining für Achttausender, in: Krone bunt, 4. 7. 1993, 3. 29 Elf Österreicherinnen wollen zum Gipfel, in: Salzburger Nachrichten, 10. 3. 1994, 21. 30 Vgl. Reinisch, Frauenexpedition, 32. 31 »Wir wollen den Himmel stürmen!«, in: Krone bunt, 11. 4. 1993, 12.

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kampfes, sondern vor allem durch die Darstellung der Frauen als »andere Bergsteigerinnen«, die sich der »Gefahren voll bewusst« wären und anders als männliche Kollegen keinen »falschen Ehrgeiz«32 entwickeln würden. An vielen Stellen fanden sich in dieser Phase der Berichterstattung Relativierungen bezüglich der Motivation des Frauenteams, einen Achttausender zu besteigen. Neben der alpinistischen Ambition wurden weitere Ziele der Expedition aufgezählt: So sollten nicht nur heiße Quellen im Umfeld des Berges sondern auch die Veränderungen des weiblichen Körpers in extremer Höhe wissenschaftlich untersucht werden. Außerdem stünden auch die Auseinandersetzung mit der tibetischen Kultur und den BergbewohnerInnen auf dem Programm sowie durch Müllsammeln am Berg ein Beitrag zum Umweltschutz.33 Indem das sportliche Ziel der Expedition mit geschlechterstereotypen »sozialen« beziehungsweise »gesellschaftlichen« Zielen verknüpft wurde, trat der alpinistische Ehrgeiz der Frauen etwas in den Hintergrund und erschien damit weniger provokant.

4.2

Gipfelerfolg und Rückkehr

Die Berichterstattung in dieser Phase erstreckte sich vom Erreichen des Gipfels Anfang Mai 1994 bis zur Rückkehr der Bergsteigerinnen Ende Mai nach Österreich. Die ersten meist kurzen Meldungen über den Gipfelgang erschienen in fast allen Zeitungen fast wortident rund um den 9. Mai und folgten einem Erfolgsdiskurs. Besonders hervorgehoben wurde die Leistung von Edith Bolda, die als einzige Österreicherin am 2. Mai den Gipfel erreichte und in einigen Artikeln als »erste Österreicherin auf einem 8000er« gepriesen wurde.34 Die Berichte basierten im Wortlaut mehr oder weniger auf einer Meldung der APA (Österreichische Presseagentur).35 Auf neutrale Art fand meist das Gedenken an Wanda Rutkiewicz und der Leitspruch »A woman’s place is on the top« Erwähnung. Ähnlich gleichlautend wie die »Gipfelmeldungen« zeigten sich die Kurzartikel, meist mit Foto, zur Ankunft des Teams am Flughafen Schwechat am 22. Mai 1994. »›Großer Bahnhof‹ bei Rückkehr der Gipfelstürmerinnen« titelte die APA und berichtete vom Empfang des Teams durch Gesundheits- und Sportministerin Christa Krammer.36 Auch der Sektempfang des Teams bei Bundespräsident Thomas Klestil Anfang Juni fand seinen Niederschlag in der Tagespresse.37 32 33 34 35 36

Ebd. Frauen steigen der Welt aufs Dach, in: Kurier, 4. 3. 1994, 9. Z. B. Erste Österreicherin auf »Achttausender«, in: Salzburger Nachrichten, 9. 5. 1994. Erste Österreicherin auf dem Gipfel eines Achttausenders, APA, 8. 5. 1994. »Großer Bahnhof« bei Rückkehr der Gipfelstürmerinnen, APA, 22. 5. 1994.

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Ungebrochen positiv stellten sich die Berichte zur Frauenexpedition im Mai und Juni 1994 jedoch nicht dar. Bereits drei Tage nach den Erfolgsmeldungen zum Gipfelgang begannen mehrere Berichte die Seriosität des Unternehmens und dessen Erfolg in Zweifel zu ziehen. Die Nachricht, mit Edith Bolda die erste Österreicherin auf einen Achttausender gebracht zu haben, die von der APA lanciert in vielen Artikeln übernommen worden war, wurde als »Fehlermeldung«38 angeprangert. Laut den Zeitungsmeldungen hatte die Innsbrucker Lehrerin Henriette Hölzl-Eberwein bereits sieben Jahre zuvor die 8.000-MeterMarke im Himalaya überschritten und war demzufolge die »erste Österreicherin«. Der Frauenexpedition wurde bewusste Täuschung vorgeworfen und der positive Ausgang der Expedition als wenig beachtlich dargestellt. Die Leistungen der Bergsteigerinnen wurden in der Folge skeptisch betrachtet, die Rede ist von »Gipfelsiegen und ihren Schönheitsfehlern«, der »Vergänglichkeit einer Sensation«39 und davon, dass »gewisse Meldungen Befremden auslösen«40 würden. Dieser sogenannte »Achttausenderstreit«41, den beispielsweise der »Kurier« und die »Tiroler Tageszeitung« aufgriffen, relativierte die Leistungen des Frauenteams und unterstellte den Bergsteigerinnen, allein aus Vermarktungsgründen bewusst Unwahrheiten zu lancieren und erfolgreiche Vorgängerinnen zu ignorieren.

4.3

Berichte und Kommentare nach der Expedition

In die dritte Phase der Berichterstattung, die Artikel ab Juni 1994 subsummierte, fielen eine Reihe von Presseartikeln aus den Federn verschiedener Expeditionsteilnehmerinnen, ausführlichere Berichte in alpinen Zeitschriften oder Tageszeitungen sowie Kommentare zur Expedition. Teilweise ähnelten die Darstellungsweisen denen vor der Expedition, beispielsweise wurde wieder die Bezeichnung »Himalaya-Amazonen«42 für die Bergsteigerinnen verwendet. Neben der Beschreibung der alpinistischen Herausforderungen, die das Team zu bewältigen hatte, wird – analog zu Phase eins – das Alltagsleben im Basislager thematisiert. Vor allem der Umgang mit Hygiene und Körperpflege schien im Kontext von Frauenteams von besonderem Interesse 37 Z. B. Gipfelstürmerinnen zurück vom Himalaja, in: Kurier, 24. 5. 1994, 8; Auf den Gipfelsieg, in: Krone, 8. 6. 1994, 10. 38 Wer war die Erste auf einem 8000er?, in: Fernseh- und Radiowoche, 25. 6. 1994, 3. 39 Gefeierte Gipfelsiege und ihre Schönheitsfehler, in: Tiroler Tageszeitung 16. 5. 1994, 5. 40 Die erste Österreicherin, die in der Todeszone war, in: Kurier, 4. 6. 1994. 41 »Achttausender-Streit«, in: Kärntner Tageszeitung, 12. 5. 1994, 15. 42 Die Himalaya Amazonen, in: News, 22/1994, 63–64.

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zu sein. So wurden Fragen über »Verrichtungen wie Klo gehen«43 und zum täglichen Waschen in extremer Höhe bereits vor der Expedition aufgeworfen. Mit einem halbseitigen Bild, auf dem drei halbnackte Bergsteigerinnen in einem Zelt bei der Körperpflege zu sehen sind, schmückte die Zeitschrift »News« einen ausführlichen Bericht zur Expedition. Die Bildunterschrift evozierte ein beinah romantisches Bild vom Expeditionsleben: »Lagerleben. In 5.500 Metern Höhe entsteht, 20 Kilometer vom Berg entfernt an einem zugefrorenen Fluß, eine kleine Zeltstadt – das Basislager. Sie wird zur Oase der Erholung für die Gipfelstürmerinnen.«44 Die extreme körperliche Belastung und die mangelnden Hygienebedingungen im Hochgebirge stehen im Widerspruch zum weiblichen Schönheitsideal, ein Umstand, dem die Bergsteigerinnen mit Ironie begegneten: »Am besten, man lässt den Spiegel zu Hause, dann bleibt Schönheitsfanatikern so mancher Schock erspart.«45 Ende Juni 1994 wurde in der ORF-Sendereihe »Land der Berge« die Dokumentation zur Expedition ausgestrahlt. Regie führte die Cutterin Margit Warhanek, die selbst Teil des begleitenden ORF-Filmteams in Tibet gewesen war. Der Film zeichnete ein äußerst ambivalentes Bild der Frauenexpedition. Teamkonflikte, die Absetzung der stellvertretenden Leiterin vor laufender Kamera und der Ausschluss einer Bergsteigerin aus dem Team wurden als »Zickenkrieg am Berg« in Szene gesetzt. Die darauffolgenden Berichte in Zeitungen und Zeitschriften übernahmen zum Teil diese Darstellungsweise, beziehungsweise gingen sie verhalten bis rechtfertigend darauf ein oder nahmen eine betont gegensätzliche Darstellung vor, in dem besonders auffällig auf den guten Teamgeist hingewiesen wurde. Vor allem ein Kommentar des bekannten österreichischen Bergsteigers Edi Koblmüller in der Zeitschrift »Land der Berge« scheint interessant. Darin trivialisierte dieser nicht nur das Ziel der Expedition (»ein technisch leichter Achttausender«), sondern ließ auch kein gutes Haar an deren Durchführung. Koblmüller attestierte der Expeditionsleitung »hierarchische Methoden wie in den 1960er Jahren« und sah frauenpolitische Anliegen durch das Unternehmen diskreditiert: »Bezüglich des emanzipatorischen Anspruchs wäre es besser den Mantel des Schweigens über die Expedition zu breiten«.46 Darüber hinaus bestritt er generell die Legitimität einer Frauenexpedition, indem er ein Frauenteam als nicht mehr zeitgemäß bezeichnete. Aus seiner Sicht waren allein individuelle Fähigkeiten, wie sie Wanda Rutkiewicz besessen hatte, für erfolgreiches Himalaya-Bergsteigen entscheidend. Das Gedächtnis der polnischen Bergstei43 44 45 46

Töchter von Eis und Schnee, in: Freizeit Kurier, 5. 5. 1994, 17. Die Himalaya Amazonen, in: News, 22/1994, 63. Karawane der Träume, in: Land der Berge, 08/09 1994, 23. A woman’s place is on the top??, in: Land der Berge, 08/09 1994, 34.

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gerin sah er durch die österreichische Frauenexpedition nicht angemessen weitergeführt: »Ich hoffe doch, dass das nicht der neue Stil der alpinen Frauenbewegung ist, Wanda – schau oba!«47 Damit sprach Koblmüller der Frauenexpedition nicht nur die alpinistische Kompetenz ab, sondern auch die Berechtigung, das Vorhaben mit einer Alpin-Ikone wie Wanda Rutkiewicz zu verknüpfen.

V.

Fazit

Die erste österreichische Frauenexpedition erhielt große öffentliche Aufmerksamkeit und wurde von hochrangigen PolitikerInnen öffentlichkeitwirksam unterstützt. Die mediale Repräsentation zeigte sich geschlechtertypisierend. Während Abwertung, Ironisierung, Trivialisierung und Relativierung des Unternehmens im Vorfeld der Expedition vorherrschten, war die latent negative Berichterstattung danach inhaltlich durch die Betonung der Konflikte und Unterstellung von Falschmeldungen geprägt. Der Legitimierungsdiskurs der Teilnehmerinnen selbst hatte kaum Gewicht gegen das vor allem durch die TVDokumentation verbreitete negative Image unprofessioneller, streitender und unsolidarischer Frauen. Während Teamkonflikte in Männer-Expeditionen, die in der Geschichte des Himalaya-Bergsteiges mitunter vor Gericht landeten, eher das Bild von aufbegehrenden Helden gegenüber autoritären Leitern vermittelte,48 unterminierten sie im Falle einer Frauenexpedition die alpinistischen Fähigkeiten der Bergsteigerinnen. Das geschlechterstereotype Klischee des ›Zickenkriegs‹ stand im krassen Gegensatz zum männlich konnotierten alpinistischen Kameradschaftsideal. Gleichzeitig präsentierten sich auch die Bergsteigerinnen selbst konform zu gesellschaftlichen Geschlechterstereotypen, indem sie sich bescheiden, gefahrenbewusster und vernünftiger darstellten. Dies schließt an Strategien der Selbstpräsentation an, die beispielsweise in den 1950er- und 1960er-Jahren von Alpinistinnen angewendet wurden.49 Während in Ländern wie Großbritannien, Polen, Frankreich, USA und auch Nepal Frauenexpeditionen die Möglichkeiten für Frauen im Extrembergsteigen bis in die 1990er-Jahre erweiterten, kann davon in Österreich nicht gesprochen werden.

47 Ebd. 48 Z. B. Reinhold Messner oder Hermann Buhl, die sich gegen den autoritären Führungsstil des Expeditionsleiters Karl Maria Herrligkoffer widersetzten, vgl. Backhaus, Bergkameraden, insb. 184–193. 49 Vgl. Gugglberger, »Mountain Femininity«, 14–16.

AutorInnenverzeichnis

Sema Colpan Historikerin und Kulturwissenschaftlerin, Mitarbeiterin im Österreichischen Staatsarchiv und Alumna am Ludwig Boltzmann Institut für Geschichte und Gesellschaft. Seit 2016 Mitarbeiterin der Generaldirektion im Österreichischen Staatsarchiv. Forschungsschwerpunkte: Zeitgeschichte, Visual History, Stadtund Wirtschaftsgeschichte. Publikationen zum Filmschaffen im Ersten Weltkrieg, zum (jüdischen) Wien in der Zwischenkriegszeit, zu österreichischen Werbe- und Industriefilmen und zur Stadtgeschichte.

Minas Dimitriou Assoz. Univ.-Prof. Dr., Privatdozent, Assoziierter Professor am Interfakultären Fachbereich Sport- und Bewegungswissenschaft/USI der Paris Lodron Universität Salzburg; Fachkoordinator des Masterstudiums »Sport-Management-Medien« und Geschäftsführer des Universitätslehrganges Sportjournalismus. Lehrund Forschungsschwerpunkte: Kulturelle und zeitdiagnostische Aspekte des Sports sowie mediale, wirtschaftliche und politische Implikationen des Sports, Körper- und Freizeitsoziologie.

Anneliese Gidl Dr.in phil., MA, Forschungsschwerpunkt Wirtschafts- und Sozialgeschichte, langjährige Mitarbeit an Projekten zur Alpinismus-, Tourismus- und Skigeschichte. Derzeit Unterrichtstätigkeit an einer berufsbildenden höheren Schule in Innsbruck.

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Maximilian Graf Historiker am Department of History and Civilization des European University Institute in Florenz. Fachbereiche: Cold War Studies und Kommunismusforschung. Jüngste Buchpublikationen: gem. mit Sarah Knoll (Hg.), Franz Marek. Beruf und Berufung Kommunist. Lebenserinnerungen und Schlüsseltexte, Wien 2017; gem. mit Michael Gehler (Hg.), Europa und die deutsche Einheit. Beobachtungen, Entscheidungen und Folgen, Göttingen 2017.

Martina Gugglberger Assoziierte Universitätsprofessorin am Institut für Neuere Geschichte und Zeitgeschichte der Johannes Kepler Universität Linz; 2017 Verleihung der venia legendi im Fach »Neuere Geschichte und Zeitgeschichte« mit der Habilitationsschrift »Grenzen im Aufstieg. Frauenexpeditionen in den Himalaya 1955 bis 2014 aus geschlechterhistorischer Perspektive« an der Johannes Kepler Universität Linz; 2009 Promotion in Geschichte an der Universität Salzburg. Forschungsschwerpunkte: Frauen- und Geschlechtergeschichte, Globalgeschichte, Alpingeschichte, Missionsgeschichte, Nationalsozialismus, Biographieforschung, Qualitative Methoden, insbesondere Oral History.

Bernhard Hachleitner Dr., Historiker und Kurator in Wien. Ausstellungen und zahlreiche Veröffentlichungen zu popularkulturellen Themen, etwa zur Geschichte des Wiener Fußballs und seiner Orte, des Radfahrens, der Wiener Eisrevue und zu jüdischen SportfunktionärInnen im Wien der Zwischenkriegszeit. Assoziierter Mitarbeiter des Ludwig Boltzmann Instituts für Geschichte und Gesellschaft. www.hachleitner.at

Roman Horak Professor für Kulturwissenschaften an der Universität für angewandte Kunst. Gegenwärtig im Beirat des »European Journal for Cultural Studies« und von »Culture Unbound«. Von 2008–2016 Vorstandsmitglied der »Association for Cultural Studies (ACS)«. Arbeitsschwerpunkte: Urbane Kulturen, Cultural Studies, Popularkultur (Fußball), Ethnographie.

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Alojz Ivanisˇ evic´ Ao. Univ.-Prof. Dr., Studium der Geschichte und Ethnologie sowie der Katholischen Theologie an der Universität Wien. Seit 1999 Dozent (ao. Univ.-Prof.) am Institut für Osteuropäische Geschichte der Universität Wien. Forschungsschwerpunkte: Nation und Religion, moderner Sport und die Nationalisierung der Gesellschaft sowie die Geschichtsschreibung in Ostmittel- und Südosteuropa im 19. und 20. Jahrhundert.

Thomas Karny Sozialpädagoge, freier Journalist und Autor. Arbeitsschwerpunkte: Zeit- und Sportgeschichte. Wissenschaftliche Mitarbeit bei Ausstellungen, u. a. »Schräglage – Motorräder 1945 bis 2005« (TMW 2004). Mehrere Buchveröffentlichungen, u. a. »Rupert Hollaus – Weltmeister für 1000 Stunden« (2004), »Autos, Helden und Mythen – Eine Kulturgeschichte des Automobils in Österreich« (gem. mit Matthias Marschik, 2015).

Hannes Leidinger Univ. Doz. Mag. Dr., Gastprofessor, Dozent bzw. Assoziierter Forscher an den Universitäten Wien, Salzburg, Budapest und Bern. Mitglied der »Militärhistorischen Denkmalkommission« des Bundesministeriums für Landesverteidigung, Leiter und Mitarbeiter mehrerer Forschungsprojekte. Zahlreiche Publikationen insbesondere zur Geschichte Mittel- und Osteuropas im 19. und 20. Jahrhundert.

Andreas Maier Studium der Geographie und Deutschen Philologie (Lehramt) in Wien und Swansea. Selbstständige journalistische und publizistische Tätigkeiten zu aktuellen und historischen Themen aus dem Bereich Leichtathletik und Laufsport. Mediensprecher Vienna City Marathon. Chefredakteur des Magazins »RunUp – Die neue Laufkultur«. Buchveröffentlichung: Franz Stampfl. Trainergenie und Weltbürger, Salzburg/Wien 2013.

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Matthias Marschik Dr. phil. habil., Studium der Psychologie und Philosophie in Wien. Historiker und Kulturwissenschaftler, Lehrbeauftragter der Universitäten Wien, Salzburg und Klagenfurt. Zahlreiche Bücher und Aufsätze zum Thema Alltagskulturen insbesondere des Sports. Zuletzt: Theodor Schmidt. Ein »Apostel« der olympischen Idee, Berlin 2018; Rauchende Sportler. Ein obszönes Sujet (gem. mit Rolf Sachsse), Wien 2017. http://marschik.dorer.org/.

Petra Mayrhofer Historikerin am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien. Forschungsschwerpunkte: Österreichische politische Geschichte seit 1945, Wiener Stadtgeschichte, Memory Studies und visuelle Repräsentationen von Geschichte. Derzeit Mitarbeiterin im Projekt »Bilaterale Beziehungen zwischen Österreich und Jugoslawien unter besonderer Berücksichtigung Kärntens«.

Agnes Meisinger Historikerin, Mitarbeiterin am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien, Redaktionsassistenz der Fachzeitschrift »zeitgeschichte«. Forschungsschwerpunkte: Sportgeschichte, Cold War Studies. Aktuelle Publikation: 150 Jahre Eiszeit. Die große Geschichte des Wiener Eislauf-Vereins, Wien/Köln/Weimar 2017.

Gunnar Mertz Mag., BA, Studium der Politikwissenschaft und der Internationalen Entwicklung an der Universität Wien und der Universit8 de LiHge. Doktorand am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien. Fellow der Vienna Doctoral Academy »Theory and Methodology in the Humanities«.

Rudolf Müllner Ao. Univ.-Prof. für Sportwissenschaft, Historiker, Leiter des Arbeitsbereiches Sozial- und Zeitgeschichte des Sports am Zentrum für Sportwissenschaft der Universität Wien. Forschungsschwerpunkte: Transformationsprozesse von

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Sport und Bewegungskulturen, Machtdispositive und Körper. Rezente Publikation: Rudolf Müllner (2017): Self-Improvement In and Through Sports: Cultural-Historical Perspectives, The International Journal of the History of Sport.

Gilbert Norden Studium der Soziologie und Volkswirtschaft an der Universität Wien, 1978 Mag., 1984 Dr.rer.soc.oec.; 1979–1981 Forschungsassistent am Institut für kirchliche Sozialforschung in Wien; seit 1981 am Institut für Soziologie der Universität Wien, zuerst Universitäts-Assistent, ab 1995 Assistenz-Professor.

Katrin Pilz Historikerin und Kulturwissenschaftlerin, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Ludwig Boltzmann Institut für Geschichte und Gesellschaft. Sie arbeitet im Rahmen einer Cotutelle (joint supervision Ph.D) an der Universit8 libre de Bruxelles (ULB) in Kooperation mit der Universität Wien an einer Dissertation zum Thema der frühen medizinischen Kinematographie in Brüssel und Wien. Vorträge, Publikationen und Forschungsprojekte zur visuellen Medizin- und Wissenschaftsgeschichte sowie Körper- und Filmgeschichte.

Andreas Praher Historiker und Senior Scientist für Migrationsgeschichte am Fachbereich Geschichte an der Universität Salzburg; wiss. Mitarbeit beim Forschungsprojekt »Die Stadt Salzburg im Nationalsozialismus«; leitende Mitarbeit beim Publikationsprojekt des Landes Salzburg »Sport in der NS-Zeit«; wiss. Betreuung der Sammlung österreichischer Auswandererbriefe und -tagebücher an der Universität Salzburg; Interview-, Publikations- und Ausstellungstätigkeit im Rahmen des Projekts Migrationsstadt Salzburg, u. a. Mitarbeit an der Ausstellung »50 Jahre Anwerbeabkommen mit Jugoslawien« 2016 in Salzburg; Organisation der 1. und 2. »Salzburger Fußballtagung« 2014 und 2017; diverse Veröffentlichungen zur Sport- und Fußballgeschichte; derzeit: Dissertation zum österreichischen Skisport in der Zwischenkriegszeit und im Nationalsozialismus.

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AutorInnenverzeichnis

Rolf Sachsse Prof., Dr., Photographenlehre, Studium der Kunstgeschichte, Kommunikationsforschung und Literaturwissenschaft in München und Bonn, Promotion 1983. Freischaffender Autor, Künstler, Kurator, Photograph. 1985–2004 Professor für Photographie und elektronische Bildmedien am Fachbereich Design der Hochschule Niederrhein in Krefeld, 2004–2017 Professor für Designgeschichte und Designtheorie an der Hochschule der Bildenden Künste Saar in Saarbrücken, 2013–2017 Prorektor für Lehre und Wissenschaft. Bibliographie und weitere Hinweise unter www.rolfsachsse.de.

Robert Schwarzbauer Studium der Geschichte und Geographie in Salzburg, seit 2005 freiberuflicher Historiker und Filmproduzent, diverse Veröffentlichungen zur Salzburger Fußballgeschichte, Mitarbeiter am Projekt »Die Stadt Salzburg im Nationalsozialismus« (Stadt Salzburg) sowie am Projekt »Sport in der NS-Zeit in Salzburg« (Land Salzburg und Landessportorganisation).

Johann Skocek Journalist (»Falter«, »Presse«, »Datum«) und Buchautor, zuletzt »Mister Austria« (Falter Verlag, 2014) über das Leben des Auschwitz-Überlebenden und AustriaSekretärs Norbert Lopper (1919–2015). Derzeit arbeitet er mit den Historikern Bernhard Hachleitner, Matthias Marschik und Rudolf Müllner am Projekt »FK Austria Wien 1938–1945«.

Georg Spitaler Dr., Politologe und Historiker, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Verein für Geschichte der ArbeiterInnenbewegung (VGA) und Lehrbeauftragter am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien. Mitherausgeber des Fußballmagazins »ballesterer«. Forschungsschwerpunkte: Fragen des Politischen im Sport, Politische Theorie und Cultural Studies, ArbeiterInnengeschichte. www.GeorgSpitaler.at.

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Olaf Stieglitz Dr., Privatdozent am Historischen Institut der Universität zu Köln. Arbeitsschwerpunkte: Sozial- und Kulturgeschichte der USA seit dem späten 19. Jahrhundert, und dabei vor allem Fragen der Geschlechter- und Körpergeschichte. Aus diesem kulturhistorischen Blickwinkel heraus beschäftigt er sich auch mit der Sportgeschichte, gegenwärtig arbeitet er an einem Buchprojekt mit dem Titel: »Modern Bodies in Motion – Visualizing Athletic Bodies, 1890s–1930s«.

Petra Sturm Mag.a, Studium der Kommunikationswissenschaft/Zeitgeschichte und Filmwissenschaften, Universität Wien und Rennes II. U. a. freie Journalistin und Radhistorikerin. Seit 2007 Publikationen zum Thema Radfahren in diversen Sammelbänden und Zeitschriften. Derzeit Forschung zu den vergessenen österreichischen Rennradpionierinnen der 1890er-Jahre.

Martin Tschiggerl Universitäts-Assistent für (vergleichende) Mediengeschichte und Wissenschaftstheorie am Institut für Geschichte der Universität Wien. Forschungsschwerpunkte: Kultur- und Zeitgeschichte, Medien- und Wissenschaftstheorie, Digital Humanities. 2017 wurde sein neuerster Sammelband »Medienkulturen des Sports« bei Ferstl& Perz veröffentlicht. 2018 erscheint bei Springer die Monografie »Geschichtstheorie« (gem. mit Thomas Walach und Stefan Zahlmann).

Magdalena Vukovic Kunst- und Fotohistorikerin, Kuratorin im Photoinstitut Bonartes, Wien, und freiberufliche Kuratorin für zeitgenössische Fotografie. Publikationen: Machen Sie mich schön, Madame d’Ora: Dora Kallmus’ Fotografien in Wien und Paris (hg. gem. mit Monika Faber und Esther Ruelfs, 2017), »Im Dienst der Rassenfrage«: Anna Koppitz’ Fotografien für Reichsminister R. Walther Darr8 (2017), Tanz der Hände: Tilly Losch und Hedy Pfundmayr in Fotografien 1920–1935 (hg. gem. mit Monika Faber, 2013).

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AutorInnenverzeichnis

Dariusz Wojtaszyn Dr. habil., Historiker, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Willy-Brandt-Zentrums für Deutschland- und Europastudien der Universität Wroclaw. Studium an der Adam-Mickiewicz-Universität in Poznan (1993–1998), Promotion (2007) und Habilitation (2014) an der Universität Wroclaw. Bis 2012 Mitglied des Präsidiums der »Gemeinsamen Deutsch-Polnischen Schulbuchkommission«. Verfasser zahlreicher Publikationen zum Thema der deutsch-polnischen Beziehungen nach dem Zweiten Weltkrieg, internationaler Schulbuchforschung und Sportgeschichte.

Das Haus der Geschichte Österreich. Das erste zeitgeschichtliche Museum der Republik.

www.hdgoe.at