Im Wortfeld des Textes: Worthistorische Beiträge zu den Bezeichnungen von Rede und Schrift im Mittelalter 9783110919233, 9783110183283

This volume is devoted to an historical lexical and conceptual analysis of poetological expressions in German medieval l

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Im Wortfeld des Textes: Worthistorische Beiträge zu den Bezeichnungen von Rede und Schrift im Mittelalter
 9783110919233, 9783110183283

Table of contents :
Historische Semantik der deutschen Schriftkultur. Eine Einleitung
I. HISTORISCHE SEMANTIK - PROBLEMZUGRIFFE
Wortgeschichte oder Begriffsgeschichte? Bemerkungen zu einem wiederkehrenden Problemkomplex der Reallexikon-Arbeit
Zum Beispiel mœre: Bedeutung und Bedeutungsvielfalt aus sprachwissenschaftlicher Sicht
Historische Semantik im Widerspruch mit sich selbst. Die verhinderte Begriffsgeschichte der poetischen Erfindung in der Literaturtheorie des 12./13. Jahrhunderts
II. WORT- UND BEGRIFFSGESCHICHTEN
tihten / dichten. Zur Geschichte einer Wortfamilie im älteren Deutsch
wîsheit. Grabungen in einem Wortfeld zwischen Poesie und Wissen
Politische Beratung, Zwiegespräch, gesellige Unterhaltung. Zur Wortgeschichte von Gespräch im 15. Jahrhundert
tütsch brieff machen, och hoflich reden. Zur Terminologie deutscher Artes dictandi des 15. Jahrhunderts
Ein Feld formiert sich. Beobachtungen zur poetologischen Begrifflichkeit in den Tabulaturen der Meistersinger
III. IMPLIZITE POETOLOGIE
Licht-Bilder. Zur Metaphorik poetischer Sprechweisen in frühmittelhochdeutschen Texten
in den muot gebildet. Das innere Bild als poetologische Metapher bei Burkhart von Hohenfels
daz alte buoch von Troye [...] daz ich ez welle erniuwen. Poetologie im Spannungsfeld von ‚wiederholen‘ und ,erneuern‘ in den Trojaromanen Herborts von Fritzlar und Konrads von Würzburg
Wort- und Bildnetze zum Textbegriff im nachklassischen mittelhochdeutschen Romanprolog (Rudolf von Ems, Konrad von Würzburg)
schîn und Verwandtes. Zum Problem der ,Ästhetisierung‘ in Konrads von Würzburg Trojanerkrieg (Mit einem Nachwort zu Terminologie-Problemen der Mediävistik)
IV. AVENTIURE - EIN PARADIGMA HISTORISCHER SEMANTIK
Die Bedeutung von altfranzösisch aventure. Ein Beitrag zu Theorie und Methodologie der mediävistischen Wort- und Begriffsgeschichte
Frau Âventiure klopft an die Tür
Im Feld der âventiure. Zum begrifflichen Wert der Feldmetapher am Beispiel einer poetischen Leitvokabel
Sieben Thesen zum Begriff der âventiure
âventiure-Erzählen und âventiure-Handeln. Eine Modellskizze
Abgekürzt zitierte Literatur und Periodika
Register der Personen und Werke
Register der Wörter, Begriffe und Sachen

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Im Wortfeld des Textes

W G DE

Trends in Medieval Philology Edited by Ingrid Kasten · Nikiaus Largier Mireille Schnyder

Editorial Board Ingrid Bennewitz · John Greenfield · Christian Kiening Theo Kobusch · Peter von Moos · Uta Störmer-Caysa

Volume 10

Walter de Gruyter · Berlin · New York

Im Wortfeld des Textes Worthistorische Beiträge zu den Bezeichnungen von Rede und Schrift im Mittelalter Herausgegeben von Gerd Dicke · Manfred Eikelmann Burkhard Hasebrink

Walter de Gruyter · Berlin · New York

® Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die U S - A N S I - N o r m über Haltbarkeit erfüllt.

ISSN 1612-443X ISBN-13: 978-3-11-018328-3 ISBN-10: 3-11-018328-5 Bibliografische

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Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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Vorwort

,Das buoch und die Wahrheit' - so lautete vor einigen Jahren ein Beitrag Klaus Grubmüllers zu Quellenberufungen in der Epik des 12. Jahrhunderts. Dieser Aufsatz brachte Wortbelege zum Sprechen, indem er aus den unterschiedlichen Verwendungsweisen die Bedeutung des Ausdrucks erschloss. Wir haben den Beitrag als Anstoß verstanden, den Gebrauch von Bezeichnungen zur deutschen Schriftkultur des Mittelalters insgesamt zum Gegenstand einer Fachtagung zu machen. Sie fand als Nationales DFG-Rundgespräch vom 15.-18. März 2004 auf Schloss Hirschberg bei Beilngries statt, zu einem Zeitpunkt also, als niemand mehr an den 65. Geburtstag von Klaus Grubmüller denken musste. So konnten sich die Teilnehmer (fast) ganz auf die Diskussion konzentrieren, für die wir uns mit dem vorliegenden Band gern bei ihnen bedanken möchten. Zu danken haben wir auch der Deutschen Forschungsgemeinschaft für die Finanzierung der Tagung, der Maximilian Bickhoff-Stifitung der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, deren großzügiger Zuschuss den Teilnehmerkreis beträchtlich erweitern ließ, sowie der Katholischen Universität selbst für die Überlassung der noblen Tagungsstätte. Dank gebührt zudem den Herausgebern der Reihe für die Aufnahme dieses Bandes und dem Walter de GruyterVerlag, namentlich Heiko Hartmann, für die sorgfältige Drucklegung. Dass sie eine ansprechende und verläßliche Druckvorlage zur Basis hatte, verdanken wir der engagierten Mithilfe von Daniel Bubenzer, Benjamin Kraus, Nadine Krolla, Esther Laufer, Melanie Nieria, Sieglinde Strehler und Sabine Wahl. Schließlich wollen wir nicht verhehlen, dass dieses Buch auch eine Gabe sein will.

Gerd Dicke (Eichstätt) Manfred Eikelmann (Bochum) Burkhard Hasebrink (Freiburg i. Br.)

Inhalt

GERD DICKE, MANFRED EIKELMANN, BURKHARD HASEBRINK

Historische Semantik der deutschen Schriftkultur Eine Einleitung

I.

HISTORISCHE SEMANTIK -

1

PROBLEMZUGRIFFE

HARALD FRICKE

Wortgeschichte oder Begriffsgeschichte? Bemerkungen zu einem wiederkehrenden Problemkomplex der Reallexikon-Arbeit

15

JÜRGEN LENERZ

Zum Beispiel mcere: Bedeutung und Bedeutungsvielfalt aus sprachwissenschaftlicher Sicht

25

WALTER HAUG

Historische Semantik im Widerspruch mit sich selbst Die verhinderte Begriffsgeschichte der poetischen Erfindung in der Literaturtheorie des 12./13. Jahrhunderts

Π.

49

W O R T - UND BEGRIFFSGESCHICHTEN

KURT GÄRTNER

tihten / dichten Zur Geschichte einer Wortfamilie im älteren Deutsch

67

HANS JÜRGEN SCHEUER

wisheit Grabungen in einem Wortfeld zwischen Poesie und Wissen

83

VIII

Inhalt

CAROLINE EMMELIUS

Politische Beratung, Zwiegespräch, gesellige Unterhaltung Zur Wortgeschichte von Gespräch im 15. Jahrhundert

107

ALBRECHT HAUSMANN

tütsch brieff machen, och hoflich reden Zur Terminologie deutscher Artes dictandi des 15. Jahrhunderts

137

MICHAEL BALDZUHN

Ein Feld formiert sich Beobachtungen zur poetologischen Begrifflichkeit in den Tabulaturen der Meistersinger

165

Ι Π . IMPLIZITE POETOLOGIE A L M U T SCHNEIDER

Licht-Bilder Zur Metaphorik poetischer Sprechweisen in frühmittelhochdeutschen Texten

189

M A R K U S STOCK

in den muot gebildet Das innere Bild als poetologische Metapher bei Burkhart von Hohenfels

211

BEATE KELLNER

daz alte buoch von Troye [...] daz ich ez welle erniuwen Poetologie im Spannungsfeld von ,wiederholen' und »erneuern' in den Trojaromanen Herborts von Fritzlar und Konrads von Würzburg

231

CHRISTOPH HUBER

Wort- und Bildnetze zum Textbegriff im nachklassischen mittelhochdeutschen Romanprolog (Rudolf von Ems, Konrad von Würzburg)

263

JAN-DIRK MÜLLER

schin und Verwandtes Zum Problem der ,Ästhetisierung' in Konrads von Würzburg Trojanerkrieg (Mit einem Nachwort zu Terminologie-Problemen der Mediävistik)

287

Inhalt

I V . ÄVENTIURE

-

IX

E I N P A R A D I G M A HISTORISCHER SEMANTIK

FRANZ LEBSANFT

Die Bedeutung von altfranzösisch aventure Ein Beitrag zu Theorie und Methodologie der mediävistischen Wort- und Begriffsgeschichte

311

VOLKER MERTENS

Frau Äventiure klopft an die Tür

339

HARTMUT BLEUMER

Im Feld der äventiure Zum begrifflichen Wert der Feldmetapher am Beispiel einer poetischen Leitvokabel

347

MIREILLE SCHNYDER

Sieben Thesen zum Begriff der äventiure

369

PETER STROHSCHNEIDER

aven/iure-Erzählen und aven/iwre-Handeln Eine Modellskizze

377

Abgekürzt zitierte Literatur und Periodika

385

Register der Personen und Werke

389

Register der Wörter, Begriffe und Sachen

397

GERD DICKE, MANFRED EIKELMANN, BURKHARD HASEBRINK

Historische Semantik der deutschen Schriftkultur Eine Einleitung

Die mittelalterliche Schriftkultur sperrt sich immer wieder gegen eine klassifizierende Systematisierung. Die Ausdrücke, mit denen sich diese Kultur selbst bezeichnet, gelten als unzuverlässig und vage. Modernen wissenschaftlichen Ansprüchen genügen sie in vielfacher Hinsicht nicht, so dass sie weitgehend aus der wissenschaftlichen Begriffsbildung ausgeschlossen sind. Neuere kulturwissenschaftliche Ansätze lassen jedoch eine solche Marginalisierung zweifelhaft erscheinen, verhindert sie doch, die spezifischen Verwendungsweisen von authentischen Selbstbezeichnungen grundlegend zu erforschen. Die Zielsetzung des in diesem Band dokumentierten Nationalen DFG-Rundgesprächs auf Schloss Hirschberg bei Beilngries lag darin, ein Umdenken anzustoßen: Die ganz andere Rationalität mittelalterlicher Schriftkultur sollte über die Analyse ihrer Selbstbezeichnungen und ihrer Verwendung auf neue Weise ins Blickfeld gerückt werden.1 Die hier vorgelegten Beiträge verdanken sich dem gemeinsamen Bemühen, diesen Umschwung zu leisten. In einem breiten sachlichen, zeitlichen und methodologischen Spektrum diskutieren sie signifikante Fallbeispiele, die das spezifische Relief einer vergangenen Schriftkultur zwischen Medialität, Performativität und Textualität hervortreten lassen. Thema und Zielsetzung des Bandes stehen in Zusammenhang mit der in den letzten Jahren intensiv geführten Diskussion um die Alterität der mittelalterlichen Schriftkultur. Medialität, Performativität, Textualität - das sind nur einige Stichworte einer vielschichtigen Debatte, die auf den Status der mittelalterlichen Literatur in der Kultur ihrer Zeit zielen. Von dieser Auseinandersetzung sind auch so zentrale Kategorien wie ,Autor' und ,Werk', ,Text' und ,Schrift', ,Sinn' und .Zeichen' nicht ausgenommen. Die unterschiedlichen Positionen in dieser Diskussion sind dabei auch Ausdruck neuerer Theorieansätze, die Grundannahmen der Philologie und Hermeneutik ebenso auf den Prüfstand stellen wie Konzepte der Geschichtlichkeit und Kulturalität selbst. Das Thema des Tagungsbands steckt das Problemfeld der wort- und begriffsgeschichtlichen Analyse im weitesten Sinne poetologischer Ausdrücke der deutschen Literatur des Mittelalters ab. An seine Sondierung knüpfen sich

1

Vgl. den Tagungsbericht von ARMIN SCHULZ in: ZfdPh 123 (2004), S. 412-414.

2

Gerd Dicke, Manfred Eikelmann, Burkhard Hasebrink

im Wesentlichen zwei Erwartungen: zum einen die noch näher zu erläuternde, dass Analysen poetologischer Leitvokabeln neue Einblicke in das literarische Selbstverständnis und Wissen des Mittelalters geben und damit zu einer historischen Erklärung unserer modernen literaturwissenschaftlichen Terminologie beitragen könnten; zum anderen steht zu erwarten, dass die im Bereich der historischen Semantik seit einigen Jahren entwickelten - vor allem kulturhistorisch orientierten - Forschungsansätze einen beträchtlichen Aufschlusswert auch fur die Analyse der poetologischen Bezeichnungen geltend machen können, der beispielbezogen freilich näher zu erproben wäre. Aus beiden Vorüberlegungen ist die Zielsetzung des Rundgesprächs hervorgegangen: Es sollte eine Diskussion über die poetologischen Bezeichnungen wirksam stimulieren und dies vor allem - diejenigen sachlichen und methodologischen Forschungsperspektiven erkunden, die geeignet erscheinen, das Thema in die aktuelle Fachdiskussion um die Schriftkultur des Mittelalters einzuführen. Nicht zuletzt auch mit Rücksicht auf dieses Anliegen haben wir eine der Sache nach durchaus mögliche Begrenzung des Gegenstandsbereiches auf einzelne Literaturgattungen oder bestimmte Literaturepochen bewusst vermieden: Sie würde das erst noch zu sichtende Problemfeld allzu sehr verengen und bereits im vorhinein wesentliche Problemaspekte ausschließen. Entsprechend dieser Leitlinie soll es auch im folgenden darauf ankommen, das Gesamtprofil des Themas zu umreißen.2 Den ersten Anhaltspunkt dafür liefert das neue, 2003 abgeschlossene Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft (RLW), mit dem ein zwar prinzipiell nicht unbekannter, in seiner Tragweite aber doch überraschender wortund begriffsgeschichtlicher Befund in den Vordergrund tritt. Bekanntlich sieht die Konzeption des Reallexikons vor, neben der Sach- und Forschungsgeschichte auch die Wort- und Begriffsgeschichte der Stichwörter vorzustellen.3 Dieses explizite Interesse an der Aufhellung der Geschichtlichkeit literaturwissenschaftlicher Begriffe bringt jedoch ein beträchtliches Defizit in den Blick. Denn die entprechenden Abschnitte zu autochthon deutschen Lemmata beschränken sich in der Regel auf knappe etymologische Hinweise, fuhren

2

3

Wir haben der Darstellung vergleichsweise viele und umfängliche Anmerkungen beigegeben, um einerseits auf die bisher kaum zusammenhängend erfasste Forschungsliteratur, andererseits aber auch auf lohnende Ansatzstellen für eine weiterführende Diskussion hinzuweisen. Für ergänzende Hinweise danken wir herzlich Eberhard Nellmann (Bochum). Vgl. RLW, Bd. 1 (1997), S. Vllf.; siehe dazu auch HARALD FRJCKE: Interpretation, Kommentar, Terminologie. Methodologische Anmerkungen aus der Arbeit am neuen Reallexikon. In: Zeitenwende. Die Germanistik auf dem Weg vom 20. ins 21. Jahrhundert. Akten des X. Internationalen Germanistenkongresses Wien 2000. Hrsg. von PETER WIESINGER unter Mitarb. von HANS DERKJTS, Bd. 8, Sektion 16: Interpretation und Interpretationsmethoden. Betreut von HENDRIK BIRUS/SLOBODAN GRUBACIC/IRMGARD

WIRTZ, Bern u. a. 2003 (Jahrbuch für Internationale Germanistik, Reihe A, Kongressberichte 60), S. 303-310, hier S. 310.

Im Wortfeld des Textes. Eine Einleitung

3

vereinzelte Literatur an oder verweisen lakonisch auf fehlende Spezialstudien.4 Das charakterisiert die Forschungslage: Für die große Mehrzahl poetologischer Ausdrücke der deutschen Literatur des Mittelalters fehlen einschlägige Wortund Begriffsanalysen. Eine Geschichte der literarisch selbstreflexiven Bezeichnungen dieser Zeit ist eine erst noch in Angriff zu nehmende Aufgabe, ein Reallexikon der historischen Terminologie wäre auf diesem Gebiet erst noch ins Werk zu setzen.5 So ist bereits die Frage, welche Verwendung so zentrale Ausdrücke wie schrift, rede, buoch, were, kunst, vuoge, materia, sin usw. im deutschen Mittelalter finden, trotz einzelner Pilotstudien weitgehend unerforscht und kaum je zusammenhängend gestellt worden. Und schon die Beschränkung worthistorischer Analysen auf nominale Ausdrücke bliebe in historischer Absicht neu zu überdenken, signalisieren doch Verben wie etwa heeren, lesen, sprechen, singen, sundern, schöpfen, erniuwen, breiten, üzschriben oder voltihten bereits sprachlich, dass Produktion und Rezeption deutscher Literatur des Mittelalters als Ensemble kultureller Praktiken zu beschreiben wären.

4

5

Die Äea//e*/A:on-Herausgeber weisen selbst auf dieses Defizit hin, wenn sie eigens hervorheben, die „wort- und begriffsgeschichtlichen Untersuchungen" müssten „nicht selten ohne nennenswerte Vorarbeiten auskommen"; daher könne auch „kein fraglos bestehender Konsens festgestellt oder gar festgeschrieben" werden, sondern es würden vorerst nur „Ergebnisse terminologischer Forschung zu weiterer Nutzung und Diskussion bereitgestellt" (RLW, Bd. 1 [1997], S. VIII). Dieses generell zu konstatierende Desiderat wirkt sich für die volkssprachliche Literatur des Mittelalters freilich gravierender als für die neuzeitliche aus: Eine normative Poetik und eine, in welcher Form auch immer, systematisch ausgearbeitete Dichtungsterminologie kennt das deutsche Mittelalter nicht, beides etabliert sich letztlich erst im Zuge der barocken Rehabilitierung deutschsprachiger Poesie, wie sie Martin Opitz mit seinem Buch von der Deutschen Poeterey (1624) programmatisch eingeleitet hat. - Auf ca. acht Sammelbände angelegt ist die neue Reihe .Revisionen - Grundbegriffe der Literaturtheorie', die das Ziel verfolgt, problematisch gewordene Zentralbegriffe der Literaturwissenschaft gerade auch vor dem Hintergrund ihrer Geschichtlichkeit zu reflektieren; vgl. zunächst: Regeln der Bedeutung. Zur Theorie der Bedeutung literarischer Texte. Hrsg. von FOTIS JANNIDIS u. a., Berlin, New York 2003 (Revisionen, Grundbegriffe der Literaturtheorie 1). Auf das Desiderat einer „Geschichte der literarischen Terminologie" hat nachdrücklich bereits ERNST ROBERT CURTIUS aufmerksam gemacht (Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern 1948, hier S. 155). Bei allen seither erreichten Fortschritten fehlt es an Zugriffen, die auf die historische Besonderheit der mittelalterlichen Termini in ihren diskursiven und semantischen Kontexten zielen. Vgl. zum Stand der Diskussion: Zur Terminologie der Literaturwissenschaft. Akten des IX. Germanistischen Symposions der Deutschen Forschungsgemeinschaft Würzburg 1986. Hrsg. von CHRISTIAN WAGENKNECHT, Stuttgart 1988 (Germanistische Symposien, Berichtsbände 9); das Problem der Alterität der mittelalterlichen Selbstbezeichnungen diskutiert mit ersten wichtigen Differenzierungen BARBARA FRANK: .Innensicht' und .Außensicht'. Zur Analyse mittelalterlicher volkssprachlicher Gattungsbezeichnungen. In: Gattungen mittelalterlicher Schriftlichkeit. Hrsg. von B. F./THOMAS HAYE/DORIS TOPHINKE, Tübingen 1997 (ScriptOralia 99), S. 117-136.

4

Gerd Dicke, Manfred Eikelmann, Burkhard Hasebrink

Will man die historische Semantik der mittelalterlichen Bezeichnungen nutzen, um solche poetologischen Ausdrücke und kulturellen Praktiken der volkssprachlichen Schriftkultur zu untersuchen, muss man freilich mit einem so verbreiteten wie gravierenden Einwand rechnen. Mittelalterliche Werk- und Gattungsbezeichnungen - sie sind das wohl exponierteste Diskussionsbeispiel6 - seien in ihrem Gebrauch von solcher Unscharfe und Vielbezüglichkeit, dass sie modernen terminologischen Anforderungen nicht gerecht würden. So hat HUGO KUHN vor bereits fünfzig Jahren konstatiert, dass „die mittelalterlichen Termini einer Festigkeit in unserem Sinne widerstreben, weil sie immer Undefiniert gebraucht sind, immer occasionell, im nächsten Augenblick etwas für uns erstaunlich anderes bedeuten."7 Aber auch noch jüngst erschienene Beiträge verweisen darauf, dass die Literatur des Mittelalters jedenfalls insofern kein Gattungsbewusstsein zu erkennen gibt, als ihre Terminologie klare Auskünfte verweigert: „Sie ist undeutlich, unpräzise, oft auch widersprüchlich."8

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Für die hochmittelalterliche Erzählliteratur nach wie vor unentbehrlich: KLAUS DÜWEL: Werkbezeichnungen der mittelhochdeutschen Erzählliteratur (1050-1250), Göttingen 1983 (Palaestra 277); die Forschung zusammenfassend: OTFR1D EHRISMANN: Ehre und Mut, Äventiure und Minne. Höfische Wortgeschichten aus dem Mittelalter. Unter Mitarb. von ALBRECHT CLASSEN u. a., M ü n c h e n 1995, S. 2 4 - 3 5 . - Z u M i n n e s a n g u n d S a n g s p r u c h

fehlen Überblicksdarstellungen; eine nützliche Belegsammlung bietet etwa GÜNTHER SCHWEIKLE: Minnesang. 2., korr. Aufl., Stuttgart, Weimar 1995 (Sammlung Metzler 244), S. 116-118. Vgl. zu lief und spruch im Bereich der höfischen Lyrik den Überblick bei SABINE OBERMAIER: Von Nachtigallen und Handwerkern. .Dichtung über Dichtung' in Minnesang und Sangspruchdichtung, Tübingen 1995 (Hermaea N. F. 75), S. 303-310. Maßstabsetzend ist die Analyse der Bezeichnungspraxis in Spruchdichtung und Meisters a n g v o n GISELA KORNRUMPF/BURGHART WACHINGER: A l m e n t . F o r m e n t l e h n u n g u n d

Tönegebrauch in der mittelhochdeutschen Spruchdichtung. In: Deutsche Literatur im Mittelalter. Kontakte und Perspektiven. Hugo Kuhn zum Gedenken. Hrsg. von CHRISTOPH CORMEAU, S t u t t g a r t 1979, S. 3 5 6 - 4 1 1 ; vgl. z u d i e s e m P r o b l e m k o m p l e x j e t z t

auch MICHAEL BALDZUHN: Vom Sangspruch zum Meisterlied. Untersuchungen zu einem literarischen Traditionszusammenhang auf der Grundlage der Kolmarer Liederhandschrift, Tübingen 2002 (MTU 120), bes. Kap. IV. 7

8

HUGO KUHN: Gattungsprobleme der mittelhochdeutschen Literatur. In: Ders.: Dichtung und Welt im Mittelalter, Stuttgart 2 1969 (Η. Κ., Kleine Schriften 1), S. 41-61 u. 251254, hier S. 45. - Es wäre eine eigene forschungsgeschichtliche Aufgabe, den weitreichenden Schlussfolgerungen nachzugehen, die man aus diesem Befund gezogen hat. Wie unterschiedlich sie ausgefallen sind, zeigt die Debatte um den terminologischen Status und Wert des Wortes mcere; vgl. HANNS FISCHER: Studien zur deutschen Märendichtung. 2., durchges. und erw. Aufl. besorgt von JOHANNES JANOTA, Tübingen 1988, S. 78-88; kritisch dazu JOACHIM HEINZLE: Märenbegriff und Novellentheorie. Überlegungen zur Gattungsbestimmung der mittelhochdeutschen Kleinepik. In: ZfdA 107 (1978), S. 121-138, hier S. 123; die Diskussion resümiert HANS-JOACHIM ZIEGELER: Erzählen im Spätmittelalter. Mären im Kontext von Minnereden, Bispein und Romanen, München 1985 (MTU 87), S. 3-28. KLAUS GRUBMÜLLER: Gattungskonstitution im Mittelalter. In: Mittelalterliche Literatur und Kunst im Spannungsfeld von Hof und Kloster. Ergebnisse der Berliner Tagung, 9.11. O k t o b e r 1997. H r s g . v o n NLGEL F. PALMER/HANS-JOCHEN SCHIEWER, T ü b i n g e n

Im Wortfeld des Textes. Eine Einleitung

5

Im Lichte neuerer kulturwissenschaftlicher Forschungsansätze kehrt sich dieser Einwand freilich um, fuhrt die semantische Unschärfe der historischen Selbstbezeichnungen doch möglicherweise näher an die Eigenart der mittelalterlichen Schriftkultur und ihrer heterogenen Diskurse heran, als sie sich in einer neuzeitlich klassifizierenden Gattungsbegrifflichkeit abbilden kann. Zumindest besitzt ihre ,Vagheit' schon deshalb beträchtlichen historischen Aufschlusswert, weil sie normative Maßstäbe und wissenschaftliche Eindeutigkeitsansprüche aufdeckt, die nicht als überzeitliche Parameter missverstanden werden dürfen. Was uns aus der neuzeitlichen Außensicht als ,vage' und in terminologischer Hinsicht als Hypothek erscheint, bietet so gesehen Anreiz und Chance, vordefinitorischer und vor-poetologischer Bedeutungskonstitution und Bezeichnungsleistung ,im Wortfeld des Textes' nachzuspüren und den textuellen Verfahren beizukommen, die den vorderhand uneindeutigen Lemmata zeitgenössisch ja doch wohl Distinktivität verschafften und zumindest ihr je spezifisches Verstandenwerden sicherten. In einer nicht präskriptiv, nicht terminologisch und nicht metasprachlich verfahrenden Poetologie markieren diese Ausdrücke zunächst vermutlich nurmehr die Denkörter, an denen sich infra- und intertextuell auszulotende und auszufüllende Bedeutungsspielräume eröffneten semantische Diversitäten, von denen die Begriffswerdung mutmaßlich ihren Ausgang nahm, wenn a la longue auch nur ein Bruchteil dieses poetologischen Wortmaterials begrifflichen Status erlangte. Kaum zu übersehen ist jedenfalls, dass eine an heutigen BegrifTskriterien ausgerichtete Sichtweise immer auch Gefahr läuft, den Blick auf die andersartigen Relevanzsetzungen zu verstellen, an denen sich die Träger der literarischen Kultur des Mittelalters offenbar orientiert haben. Es muss nicht eigens betont werden, dass es dabei nicht allgemein um eine besondere .Vagheit' des Mittelhochdeutschen gegenüber dem Neuhochdeutschen geht. Zur Debatte stehen Bezeichnungen ,im Wortfeld des Textes', die mit der Ausdifferenzierung eines poetologischen und literaturwissenschaftlichen Diskurses unter den Anspruch einer begrifflichen Festlegung geraten, die das Deutsche im Mittelalter so nicht kennt. Um so ertragreicher könnte es sein, die i m p l i z i t e , nur von den Texten selbst repräsentierte Poetik einer vielstimmigen literarischen Praxis zu erforschen, die ihr Vorgehen oft indirekt, in narrativer Entfaltung oder metaphorischer Annäherung und über Vor-BegrifFe eigenen, näher zu beschreibenden Zuschnitts zur Sprache bringt.9 Auf jeden Fall wären von solchen

9

1999, S. 193-210, hier S. 196; dort auch Hinweise auf einige Ausnahmen sowie die neuere Forschungsliteratur. Vgl. dazu die mit Blick auf die frühhöfische Erzählliteratur historisch differenzierenden Überlegungen bei CHRISTIAN KIENING: Freiräume literarischer Theoriebildung. Dimensionen und Grenzen programmatischer Aussagen in der deutschen Literatur des 12. Jahrhunderts. In: DVjs 66 (1992), S. 405-449, unter dem Titel .Ansätze literarischer Theoriebildung' überarbeitet in: Ders.: Zwischen Körper und Schrift. Texte vor dem Zeitalter der Literatur, Frankfurt a. M. 2003, S. 113-129, bes. S. 113-117. Den vorbegrifflichen Status schrift- und textmetaphorischer Aussagen erörtert HORST WENZEL: Die .fließen-

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Gerd Dicke, Manfred Eikelmann, Burkhard Hasebrink

wort- und begriffsgeschichtlich ansetzenden Untersuchungen neue Erkenntnisse zu erwarten, die eine moderne wissenschaftliche Terminologie zwar keineswegs ersetzen, der noch ausstehenden Diskussion ihrer historischen Reichweite aber doch wirksame Impulse geben könnten. Wobei wir uns dem theoretisch wie praktisch immer wieder neu aufbrechenden Geltungsbedarf auch der modernen Terminologie keineswegs verschließen. Eine solche Diskussion fuhrt notwendig in interdisziplinäre Zusammenhänge. Hinsichtlich des Gegenstandes ergeben sie sich aus der selbstverständlichen Tatsache, dass viele poetologische Leitvokabeln und Schlüsselbegriffe sowohl auf dem Hintergrund ihrer lateinischen und altfranzösischen Herkunftskontexte als auch im Ausblick auf ihren Weg in die frühe Neuzeit gesehen werden müssen, so dass bereits auf dieser Ebene der Austausch mit den zuständigen Nachbarphilologien geboten ist.10 Nicht minder dringlich ist gegende' Rede und der .gefrorene' Text. Metaphern der Medialität. In: Poststrukturalismus. Herausforderung an die Literaturwissenschaft. Hrsg. von GERHARD NEUMANN, Stuttgart, Weimar 1997 (Germanistische Symposien, Berichtsbände 18), S. 481-503. Vgl. in Kürze die auch dem Mittelalter Rechnung tragende Arbeit von KATRIN POHL: Poetologische Metaphern. Formen und Funktionen in der deutschen Literatur, Berlin, New York [im Druck]. 10 Ein instruktives, im vorliegenden Band exemplarisch in verschiedenen Zugriffen entfaltetes Beispiel ist das mhd. äventiure, dessen Weg in die höfische Literatur ohne die Kenntnis der freilich erst ansatzweise erforschten Geschichte des mlat. eventura sowie des afrz. avanture nicht zu rekonstruieren sein wird; vgl. dazu vor allem: DENNIS HOWARD GREEN: T h e c o n c e p t äventiure

in Parzival.

In: Ders./LESLIE PETER JOHNSON:

Approaches to Wolfram von Eschenbach. Five Essays, Bern, Frankfurt a. M., Las Vegas 1978 (Mikrokosmos 5), S. 83-161; aus sprachwissenschaftlicher Sicht jetzt KLAUSPETER WEGERA: „mich enhabe diu äventiure betrogen". Ein Beitrag zur Wort- und Begriffsgeschichte von äventiure im Mittelhochdeutschen. In: Das Wort. Seine strukturelle und kulturelle Dimension. Festschrift für Oskar Reichmann zum 65. Geburtstag. Hrsg. von VILMOS AGEL u. a., Tübingen 2002, S. 229-244. - Auch das mittelalterliche Bedeutungsspektrum erzählpoetischer Begriffe wie das neuerdings diskutierte Konzept des .Wiedererzählens' wird sich erst über eine vergleichende Analyse seiner lateinischen, französischen und deutschen Bezeichnungen erschließen lassen; vgl. dazu die g r u n d s ä t z l i c h e n Ü b e r l e g u n g e n bei FRANZ JOSEF WORSTBROCK: W i e d e r e r z ä h l e n und

Übersetzen. In: Mittelalter und frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche und Neuansätze. Hrsg. von WALTER Η AUG, Tübingen 1999 (Fortuna vitrea 16), S. 128-142, sowie KLAUS GRUBMÜLLER: Verändern und Bewahren. Zum Bewusstsein vom Text im deutschen Mittelalter. In: Text und Kultur. Mittelalterliche Literatur 1150-1450. Hrsg. von URSULA PETERS, Stuttgart, Weimar 2001 (Germanistische Symposien, Berichtsbände 23), S. 8-33; neuerdings auch JOACHIM BUMKE: Retextualisierung in der mittelalterlichen Literatur, besonders in der höfischen Epik. Ein Überblick. In: Retextualisierung in der mittelalterlichen Literatur. Hrsg. von J. B./URSULA PETERS, Berlin 2005 (ZfdPh 124 [2005], Sonderheft), S. 6-46, bes. S. 10-12. - In der germanistischen Sprach- und Literaturwissenschaft noch kaum rezipiert sind die seit 1988 vom ,Comit0 Internationale du Vocabulaire des Institutions et de la Communication Intellectuelle au Moyen Äge' (CIVICIMA) in mittlerweile zehn Bänden herausgegebenen Etudes sur le Vocabulaire Intellectuel du Moyen Äge, die sich der Erforschung des mittellateinischen Wortschatzes und Begriffsinventars vor allem im Bereich des mittelalterlichen Schrift- und Unter-

Im Wortfeld des Textes. Eine Einleitung

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wärtig der Bedarf an einem fachübergreifenden Gespräch über die Methoden der historischen Semantik. Ein unverzichtbarer Ausgangspunkt dafür ist die kritische Rückbesinnung auf das philologische Handwerkszeug der historischen Wortforschung, das namentlich in der Sprachwissenschaft um korpusorientierte und bedeutungstheoretische Ansätze erweitert worden ist, dessen Bedeutung für eine sachgerechte Praxis der Ermittlung und Auswertung der Belege unter dem Eindruck dieser Entwicklung aber allzu leicht unterschätzt und verdrängt wird." Allerdings wäre eine so ansetzende Diskussion nicht mit dem Ziel einer bloßen ,Rephilologisierung' zu führen, die hinter die Ergebnisse der jüngsten Theoriediskussionen zurückginge: Wie ergiebig nämlich zumal neuere kulturanthropologische Fragestellungen für eine weiterfuhrende Erforschung der literarischen Selbstbezeichnungen sein können, haben bereits einige Beiträge aus

richtswesens annehmen; vgl. zuletzt MARJKEN TEEUWEN: The Vocabulary of Intellectual Life in the Middle Ages, Tumhout 2003 (CIVICIMA 10). 11 Ältere und neuere Tendenzen in der sprachwissenschaftlichen Wort- und Bedeutungsforschung erschließt vorzüglich: ANDREAS BLANK: Prinzipien des lexikalischen Bedeutungswandels am Beispiel der romanischen Sprachen, Tübingen 1997 (Beihefte zur ZfromPh 285); vgl. daneben auch die gebrauchstheoretisch orientierte Darstellung von GERD FRITZ: Einführung in die historische Semantik, Tübingen 2005 (Germanistische Arbeitshefte 42) sowie den bibliographisch breit fundierten Überblick von PETER KOCH: Bedeutungswandel und Bezeichnungswandel. Von der kognitiven Semasiologie zur kognitiven Onomasiologie. In: LiLi 121 (2001), S. 7-36. - Ein zentraler Bezugspunkt der begriffs- und diskursgeschichtlichen Methoden- und Theoriediskussion ist das von RERNHART KOSELLECK initiierte Konzept der Erforschung geschichtlicher Grundbegriffe. Nachdem zuerst von sprachwissenschaftlicher Seite auf die Probleme hingewiesen wurde, die aus den letztlich ideengeschichtlichen Prämissen des Ansatzes folgen, berücksichtigen neuere Arbeiten neben dem kotextuellen Miteinandervorkommen von Wörtern verstärkt größere Begriffsfelder und semantische Beziehungsnetze, um soziokulturelle Handlungskontexte zu erschließen; vgl. zusammenfassend PETER VON POLENZ: Deutsche Sprachgeschichte vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart, Bd. 1, 2., überarb. und erg. Aufl., Berlin, New York 2000, S. 54-56. Speziell zum Verhältnis von Begriffs- und Diskursgeschichte DIETRICH BUSSE: Historische Semantik. Analyse eines Programms, Stuttgart 1987 (Sprache und Geschichte 13); Begriffsgeschichte und Diskursgeschichte. Methodenfragen und Forschungsergebnisse der historischen Semantik. H r s g . v o n DIETRICH BUSSE/FRITZ HERMANNS/WOLFGANG TEUBERT, O p l a d e n

1994;

Begriffsgeschichte, Diskursgeschichte, Metapherngeschichte. Hrsg. von HANS ERICH BÖDEKER, Göttingen 2002 (Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft 14); FRIEDRICH VOLLHARDT: Von der Rezeptionsästhetik zur Historischen Semantik. In: Wissenschaft und Systemveränderung. Rezeptionsforschung in Ost und West - eine konvergente Entwicklung? Hrsg. von WOLFGANG ADAM/HOLGER DAINAT/GUNTER SCHANDERA, Heidelberg 2003 (Beihefte zum Euphorion 44), S. 189-209. - Die Gründe für die häufig beobachtete Kluft zwischen Theorie und Praxis der historischen Lexikologie und Lexikographie diskutiert klärend: KARL STACKMANN: Historische Lexikographie. Bemerkungen eines Philologen. In: Wörter und Namen. Aktuelle Lexikographie. Symposium Schloss Rauischholzhausen 25.-27. September 1987. Hrsg. von RUDOLF SCHÜTZEICHEL/PETER SEIDENSTICKER, Marburg 1990 (Marburger Studien zur Germanistik 13), S. 198-213.

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Gerd Dicke, Manfred Eikelmann, Burkhard Hasebrink

dem Bereich der romanistischen Mediävistik gezeigt. 1 2 Entsprechend käme es auf einen interdisziplinären Erfahrungs- und Meinungsaustausch an, der die in Linguistik, Neugermanistik und Geschichtswissenschaft entwickelten Ansätze zu einer kultur- und terminologiegeschichtlich orientierten Wort- und Begriffsforschung themenbezogen sondiert und zusammensehen lässt. 13 Die ähnlichen und zuweilen sogar gleichgerichteten Zugriffsweisen in den verschiedenen Disziplinen lohnten jedenfalls schon insofern eine Zusammenschau, als sie neben wertvollen methodischen Anregungen das noch kaum erschlossene Forschungspotential des Themas zutage fördern könnte. Unter den genannten Perspektiven lassen sich ergiebige Beispiele aus dem mittelalterlichen ,Wortfeld des literarischen Textes' schon im ersten Zugriff finden. Dabei kann bereits eine in nur heuristischer Absicht erstellte Sammlung solcher Beispiele einen Eindruck davon geben, welche Aspekte für das literarische Selbstverständnis maßgeblich sind und wie das poetologische Wissen über Literatur in dieser Zeit organisiert ist. 14 Gedacht ist etwa an Ausdrücke - für spezifische Verfahren der Textaneignung und -bearbeitung: diuten, keren, (er)niuwen, prüeven, (be)rihten, schöpfen, sundern, tihten, tiutschen, transferieren, translatieren, üzlesen, vinden, wandeln ...;

12 Vgl. etwa die ethnologisch und medienhistorisch orientierten Beiträge von BRIGITTE SCHLIEBEN-LANGE, BARBARA FRANK und MARIA SELIG in: Gattungen mittelalterlicher Schriftlichkeit (Anm. 5) sowie die dort versammelten bibliographischen Hinweise. 13 Für das Erfordernis interdisziplinärer Ausrichtung steht programmatisch der Sammelband: Die Interdisziplinarität der Begriffsgeschichte. Hrsg. von GUNTER SCHOLTZ, Hamburg 2000 (Archiv für Begriffsgeschichte, Sonderheft). - Für die in verschiedenen Zweigen der Mediävistik erprobten kultur- und mentalitätsgeschichtlichen Forschungsansätze mit begriffsgeschichtlicher Orientierung seien beispielhaft genannt: MARTIN DINGES: Die Ehre als Thema der historischen Anthropologie. Bemerkungen zur Wissenschaftsgeschichte und zur Konzeptualisierung. In: Verletzte Ehre. Ehrkonflikte in Gesellschaften des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Hrsg. von KLAUS SCHREINER/ GERD SCHWERHOFF, Köln, Weimar, Wien 1995 (Norm und Struktur 5), S. 29-62; THOMAS ZOTZ: Urbanitas. Zur Bedeutung und Funktion einer antiken Wertvorstellung innerhalb der höfischen Kultur des hohen Mittelalters. In: Curialitas. Studien zu Grundfragen der höfisch-ritterlichen Kultur. Hrsg. von JOSEF FLECKENSTEIN, Göttingen 1990, S. 392-451; WOLFGANG HAUBRICHS: Bekennen und Bekehren {confessio und conversio). Probleme einer historischen Begriffs- und Verhaltenssemantik im zwölften Jahrhundert. In: Aspekte des 12. Jahrhunderts. Freisinger Kolloquium 1998. Hrsg. von W. H./ECKART C. LUTZ/GISELA VOLLMANN-PROFE, Berlin 2000 (Wolfram-Studien 16), S. 121-156, bes. S. 151-154; FRITZ HERMANNS: Sprachgeschichte als Mentalitätsgeschichte. Überlegungen zu Sinn und Form und Gegenstand historischer Semantik. In: Sprachgeschichte des Neuhochdeutschen. Gegenstände, Methoden, Theorien. Hrsg. von ANDREAS GARDT/KLAUS J. MATTHEIER/OSKAR REICHMANN, T ü b i n g e n 1 9 9 5 ( G e r m a n i -

stische Linguistik 156), S. 69-101. 14 Vgl. die Überlegungen zu einem historisch adäquaten System poetologischer Kategorien bei BRIGITTE SCHLIEBEN-LANGE: Das Gattungssystem der altokzitanischen Lyrik: Die Kategorisierungen der Dichter und der Poetologen. In: Gattungen mittelalterlicher Schriftlichkeit (Anm. 5), S. 81-99.

Im Wortfeld des Textes. Eine Einleitung

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- fur Gattungen, Texttypen und Funktionsweisen literarischer Rede: äventiure, bispel,furgewurff leich, liet, mcere, predige, priamel, rede, spei, spruch, wort...; - für deren Herstellungs- und Auffuhrungsvorgänge: bilden, entwerfen, künden, lesen, reden, rimen, in den rinc treten, sagen, schriben, singen, wirken ...; - für die Produkte literarischen Schaffens: buoch, gesprech, getihte, ton, schöpf, schrift, were...; - fur die Bedeutungsleistungen und Sinnfunktionen der Texte: anzeigunge, diutunge,frucht, lere, meine, nutz, sin, uzlegunge, verstentnüsz ...; - für die Träger der Textproduktion: auetor, diuteere, lerer, meister, pöete, rimcere, schribcere, singeere, tihteere, tolmetsch, vindeere, wortwise ... Wie die seit 1200 einsetzende Etablierung eines semantisch spezifischen Autorbegriffs exemplarisch verdeutlicht, ist das mit diesen Bezeichnungen besetzte Wort- und Begriffsfeld keinesfalls statisch, sondern in beständiger Um-Schreibung und Verschiebung zu denken. 15 Unverzichtbar ist darum gerade in diesem Feld auch die Einbeziehung verbaler Ausdrücke, die die literarische Handlungspraxis meist noch im Vorfeld begrifflicher Fixierung ins Wort setzen. Aber unabhängig davon, ob es sich um Bezeichnungen für Gattungen, für Produktionsvorgänge, Produkte oder Produzenten handelt: Allerorten ist der Bezug zur spezifischen Medialität und Pragmatik der mittelalterlichen Schriftkultur unverkennbar, was schlaglichtartig etwa die Verwendung des Ausdrucks buoch zeigt, auf dessen Bedeutung für den Werkbegriff der höfischen Erzählliteratur J O A C H I M B U M K E hingewiesen hat: Der Werkbegriff der höfischen Epik hat zwei Seiten: die eine Seite ist die vorgegebene Geschichte; die andere ist die Gestalt, in der das Werk sein Publikum erreicht. Das Werk ist auch die Handschrift, die als Kodex von den Benutzern .aufgeschlagen' und gelesen werden kann oder die ihnen vorgelesen wird. Beide 15 Aus diesem Grund dürften Einzelwortanalysen dem Gegenstand auch nur unzureichend gerecht werden; nötig ist die Erweiterung durch Untersuchungen synchroner Wortfelder und semantischer Netze. So hat KURT GÄRTNER für den Bereich der höfischen Epik auf die bemerkenswerte Tatsache hingewiesen, dass sich die „aufgrund des Ableitungsbezugs zu tihten" semantisch klare Bezeichnung tihteere erst in der zweiten Generation der höfischen Dichter gegen das bis dahin bevorzugte, begrifflich jedoch zunächst vagere meister durchsetzt (Zu den mittelhochdeutschen Bezeichnungen fur den Verfasser literarischer Werke. In: Autor und Autorschaft im Mittelalter. Kolloquium Meißen 1995. Hrsg. von ELIZABETH ANDERSEN U. a., Tübingen 1998, S. 38-45, hier S.45). Von diesem Befund her wäre u. a. zu fragen, ob und wie sich das semantische Verhältnis von meister und tihteere in der Folgezeit in dem Sinne verschiebt, dass die dem Autor literarischer Werke zugeschriebenen Tätigkeiten und Aufgaben spezifischer gefasst werden und sich der Autorbegriff gegenüber konkurrierenden Konzepten (Schreiber, Kompilator etc.) ausdifferenziert. Möglicherweise könnte so die Entwicklung des Autorbegriffs wichtige Hinweise auf einen ersten ,Terminologisierungsschub' in der volkssprachlichen Literatur liefern. Wie sehr es darauf ankommt, gattungsspezifische Verteilungen der Bezeichnungen zu ermitteln, zeigen die Hinweise zur höfischen Lyrik bei KARL STACKMANN: Der Spruchdichter Heinrich von Mügeln. Vorstudien zur Erkenntnis seiner Individualität, Heidelberg 1958 (Probleme der Dichtung 3), S. 94-96 u. 128-130; vgl. dazu auch OBERMAIER (Anm. 6), S. 299-303.

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Gerd Dicke, Manfred Eikelmann, Burkhard Hasebrink Seiten des Werkbegriffs heißen mittelhochdeutsch buoch. Das buoch ist die Vorlage, die dem Autor konkret als Handschrift vorlag; und das buoch ist auch das eigene Werk (daz ich in tiutsch getihte diz buoch), das in Form einer Handschrift den Weg zum Publikum findet: ditz buoch zu boten ich sende an sie die ez hören oder lesen. Ob an Leser gedacht war oder vom Vorlesen gesprochen wurde, immer war das literarische Werk als Handschrift präsent. 16

Es sind nicht zuletzt solche .dichten' Wort- und Begriffsbefunde, die zu weiterfuhrenden Überlegungen anregen. Sie hätten zunächst zu prüfen, ob sich ähnliche Beobachtungen homonymer Begrifflichkeit in anderen Bereichen der weltlichen und geistlichen, fiktiven und pragmatischen Literatur bestätigen lassen. In onomasiologischer Richtung gilt es aber auch zu fragen, welche alternativen und konkurrierenden Bezeichnungen neben buoch für den mittelalterlichen Werkbegriff zur Verfügung stehen, in welchen semantischen Feldern ihre Bedeutung Profil gewinnt und was sie zum Begriffsverständnis beitragen. 17 D e s weiteren käme es - ähnlich wie für den Autorbegriff - darauf an, die in den kollokationellen Satzkontexten und argumentativen Ko-Texten der Ausdrücke bezeichneten kulturellen Praktiken etwa der Textrezeption 18 zu erschließen. V o n kaum geringerem Aufschlusswert als diese Autor-Werk-Bezeichnungen ist das Wortmaterial im Schnittfeld von Rhetorik und Metaphorik (mit Worten übergiuden, der zungen hamer slähen, geviolierte blüete kunst u. ä.). 19

16 JOACHIM BUMKE: Autor und Werk. Beobachtungen und Überlegungen zur höfischen Epik (ausgehend von der Donaueschinger Parzivalhandschrift G6). In: Philologie als Textwissenschaft. Alte und neue Horizonte. Hrsg. von HELMUT TERVOOREN/HORST WENZEL, Berlin 1997 (ZfdPh 116 [1997], Sonderheft), S. 87-114, hier S. 11 lf. 17 Für mhd. were untersucht das jetzt BRUNO QUAST: Hand-Werk. Die Dinglichkeit des Textes bei Konrad von Heimesfurt. In: ΡΒΒ 123 (2001), S. 65-77. Den lange Zeit auf nur sehr wenige Bereiche der Schriftüberlieferung beschränkten und volkssprachlich erst spät einsetzenden Gebrauch der lateinischen Ausdrücke textus und texere dokumentiert der jüngst erschienene Sammelband: ,Textus' im Mittelalter. Komponenten des Wortgebrauchs im wortsemantischen Feld. Hrsg. von LUDOLF KUCHENBUCH/UTA KLEINE, Göttingen 2006 (Veröffentlichungen des Max Planck-Instituts für Geschichte 216). 18 Unter diesem Aspekt, der auf die spezifische performative Seite mittelalterlicher Literaturrezeption hinlenkt, verdienten auch so gut erschlossene Bezeichnungen wie hoeren, lesen, sehen, schouwen eine neuerliche Diskussion; vgl. dazu die wichtigen Beiträge von MICHAEL CURSCHMANN: Hören - Lesen - Sehen. Buch und Schriftlichkeit im Selbstverständnis der volkssprachlichen literarischen Kultur Deutschlands um 1200. In: PBB (Tüb.) 106 (1984), S. 218-257; DENNIS HOWARD GREEN: Medieval Listening and Reading. The primary reception of German literature 800-1300, Cambridge 1994; MANFRED GÜNTER SCHOLZ: Hören und Lesen. Studien zur primären Rezeption der Literatur im 12. und 13. Jahrhundert, Wiesbaden 1980; HORST WENZEL: Hören und Sehen, Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mittelalter, München 1995, S. 51-56. 19 Vgl. zur Tradition der rhetorischen Terminologie: ARMIN SLEBER: Deutsche Rhetorikterminologie in Mittelalter und früher Neuzeit, Baden-Baden 1996 (Saecula Spiritalia 3 2 ) ; JOACHIM KNAPE/ARMIN SIEBER: Rhetorik-Vokabular zur zweisprachigen Termino-

Im Wortfeld des Textes. Eine Einleitung

11

Das zeigen Umsetzungen lateinischen poetologischen Vokabulars (durchliuhtec, verwen, vunt), Lemmata aus dem Gebiet der Auslegung und Kommentierung (bezeichenen, bescheiden, diuten, erliuhten, üzlegunge), die Epitheta literarischer Wertung (tiefe rede, liehter sin, wilde mcere, süeze wort), die Verwortungen des Sprach- und Stiltransfers (tiutschen, tolmetschen, verslihten, wort uz wort, aigne tiutsch, mainung uz mainung), der .Publizierung' (üzbreiten, ze liehte tragen, witren, in die gemain geben) und schließlich auch die ersten Reflexe einer dichtungstechnischen Fachsprache (binden, gemess, parat, steic, versingen, wise). Wie sehr sich bei all dem unterschiedliche Diskurs- und Aussageebenen überlagern können, sei zumindest für ein Beispiel angedeutet: Bei Heinrich Seuse erscheint zur Bezeichnung für die von ihm autorisierte Zusammenstellung seiner Schriften ein Wort, das er im Büchlein der Wahrheit als Gottesname verwendet hatte: exemplar?0 Das poetologische Wissen scheint sich in der literarischen Praxis des Mittelalters also a n d e r s zu organisieren und traditionsfähig zu halten als unter neuzeitlichen epistemologischen Bedingungen und gemäß modemer Distinktions- und Abstraktionsbedürfnisse. Für diese Annahme sprechen wiederum Beobachtungen wie etwa die, dass Verwortungen stilistischer Qualitäten ζ. B. eher poetischer und irreduzibel metaphorischer als poetologischer Art sind (cristalline wortelin, der rede glänz, blüende sprüch), Stoffe eher in Vermittlungsweisen denn in Werkidentitäten gedacht werden (in alten mceren ... geseit, die von Tristande hänt gelesen, ein lesen von Grisel), dass auch Namen für Gattungen stehen können (ein Freidank, Neidhart, Teichner, Snepperer). In jedem Fall orientiert sich die poetische Praxis weit stärker an Autoritäten und

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logie in älteren deutschen Rhetoriken, Wiesbaden 1998 (Gratia 34); SIGRID MÜLLERKLEIMANN: Gottfrieds Urteil über den zeitgenössischen deutschen Roman. Ein Kommentar zu den Tristanversen 4619-4748, Stuttgart 1990 (Helfant-Studien 6). - In diesem Kontext wären auch die Arbeiten zum sogenannten .geblümten Stil' zu resümieren (vgl. zuletzt GERT HÜBNER: Lobblumen. Studien zur Genese und Funktion der .Geblümten Rede', Tübingen, Basel 2000 [Bibliotheca Germanica 41]), doch muss hier der Hinweis genügen, dass sich in jüngster Zeit zumal Analysen der poetologischen Bedeutung verbaler Metaphern wie panieren, partiren und schrenken, die ζ. B. bei Wolfram von Eschenbach und Frauenlob spezifische Verfahren literarischer Sinnbildung bezeichnen, als lohnend erwiesen haben; vgl. JOACHIM BUMKE: Die Blutstropfen im Schnee. Über Wahrnehmung und Erkenntnis im Parzival Wolframs von Eschenbach. Tübingen 2001 (Hermaea N. F. 94), S. 143-147; CHRISTOPH HUBER: gepartiret und geschrenket. Überlegungen zur Frauenlobs Bildsprache anhand des Minneleichs. In: Studien zu Frauenlob und Heinrich von Mügeln. Festschrift fur Karl Stackmann zum 80. Geburtstag. Hrsg. von JENS HAUSTEIN/RALF-HENNING STEINMETZ, Freiburg i. Ü. 2002 (Scrinium Friburgense 15), S. 31-50. Aufschlussreich für die mittelalterliche Praxis der Werkbezeichnung ist das exemplar Seuses zudem wegen der engen Verknüpfung von Autorpräsentation, Autorisierung und Titelgebung (der Suse); vgl. dazu STEFANIE ALTROCK/HANS-JOACHIM ZIEGELER: Vom diener der ewigen wisheit zum Autor Heinrich Seuse. Autorschaft und Medienwandel in den illustrierten Handschriften und Drucken von Heinrich Seuses Exemplar. In: Text und Kultur (Anm. 10), S. 150-181.

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Gerd Dicke, Manfred Eikelmann, Burkhard Hasebrink

Mustern als an Metasprachlichem, an Regeln und Systematiken, bleiben die klassifikatorischen und vor allem die in strengerem Sinne terminologischen Zugriffe eher die Ausnahme. Die wichtigen Einzelstudien, die es fraglos gibt, lassen jedoch nicht übersehen, dass zumindest die germanistische Mediävistik von einer zureichenden Erforschung der literarischen Selbstbezeichnungen des Mittelalters noch ein gutes Stück weit entfernt ist. In dieser Situation können ein Rundgespräch und der aus ihm hervorgegangene Sammelband sicher nur ein erster Schritt zur Einlösung der beschriebenen Desiderate sein. Aber sie werden doch eine Diskussion über die skizzierten Probleme anregen, intensivieren und ihnen in der Fachöffentlichkeit zu Resonanz verhelfen können. Der erhoffte Gewinn läge nicht nur im Zuwachs an Fallstudien, die das lexikalische wie das methodische Spektrum des Gegenstandes weiter ausleuchten, er läge vor allem auch in ihrer Zusammenfuhrung: Sie könnte die Umrisse einer methodischen Neuorientierung auf die Artikulation einer Kultur zu erkennen geben, die über eine eigene Sprache für ihr Tun verfügt - eine Sprache mit besonderem literatur- und sprachwissenschaftlichen Aufschlusswert, die auf den ersten Etappen zu einer eigenen Terminologie und Fachsprache unterwegs ist. Den Erkenntniswert dieser Sprache zu nutzen, könnte in der gegenwärtigen Situation kulturanthropologischer Forschung zu wichtigen Fortschritten fuhren. Die Integration semantischer, poetologischer und kulturwissenschaftlicher Fragestellungen bietet die Chance, die Alterität des Mittelalters von einer ganz anderen Seite her zu beleuchten: Die Bezeichnungs- und Handlungspraxis mittelalterlicher Literatur bekäme das Recht, sich in ihrer eigenen Sprache Gehör zu verschaffen. Den größten Gewinn verspricht jedoch die Hinwendung des Faches auf die kulturelle Praxis der Literatur und damit auf ihren Kernbereich: Auf ureigenstem Terrain könnte es zeigen, wie es philologische Traditionen und neuere kultur- und terminologiegeschichtliche Theorieansätze zu verknüpfen weiß.

I.

Historische Semantik - Problemzugriffe

H A R A L D FRICKE

Wortgeschichte oder Begriffsgeschichte? Bemerkungen zu einem wiederkehrenden Problemkomplex der Reallexikon-Arbeit

In this article, two concepts of conceptual history are compared: the semasiologically oriented search for historically diversified variations in the meaning of a lexeme on the one hand, and, on the other, the onomasiologicaUy oriented search for historically diversified variations in naming a complex of semantic markers. The author investigates the terms fabula /Fabel, Potenzierung/Mise en abyme as well as Literatur, to demonstrate and discuss the difficulties and also the approaches to successfully connecting both perspectives in the framework of the Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. The dilemma of a 'conceptual-hermeneutical circle' can be avoided by applying Frege's solution of a 'hermeneutical helix'.

Non scholae, sed vitae discendum, sagte Josephus; [...] daher kenn' er selber für eine fürstliche Erziehung keine wichtigern Werke [...] als Reallexika oder Sachwörterbücher; denn erstlich werde in ihnen die größte alphabetische Ordnung beobachtet, bei dem übermäßigen Reichtum an allen Wissensartikeln; und zweitens könne ein geschickter Lehrer leicht aus ihr Ordnung nach Sachen zusammenklauben. Jean Paul: Der Komet1 Hör mit der Wortklauberei auf! Das ist meine Aufgabe. Judith Sarah Fricke: Zwischenwelten2

„Blick' ich umher in diesem edlen Kreise: / Welch hoher Anblick macht mein Herz erglühn!" singt Wolfram von Eschenbach in Wagners Oper v o m Sängerkrieg auf Wartburg? ,So viel der [Geistes-JHelden* aus der deutschen Mediävistik - zu der ich als Neugermanist mich nun einfach nicht zählen darf. Zu meiner Entschuldigung dafür, dass ich hier jetzt dennoch stehe und spreche,

1 2 3

Jean Paul: Der Komet [ 1822], Hrsg. von RALPH-RAINER WUTHENOW, Neudruck Zürich 2002, S. 82. Judith Sarah Fricke: Zwischenwelten. Zürich 21998, S. 187. Richard Wagner: Dichtungen und Schriften. Hrsg. von DIETER BORCHMEYER, Bd. 2 , Frankfurt a. M. 1983, S. 73.

16

Harald Fricke

kann ich nur anführen, dass die Veranstalter einfach nicht locker gelassen haben und angeblich gerade an der Teilnahme des Nicht-Mediävisten interessiert waren. Zum anderen darf ich bei dieser Gelegenheit, 30 Jahre nach Abschluss meines Göttinger Studiums der Philosophie und Deutschen Philologie, ein öffentliches Geständnis ablegen: Mögen mir fachlich philosophische und literaturwissenschaftliche Seminare auch näher gestanden haben - aber menschlich zu Hause gefühlt habe ich mich nirgends so wie im festen Kreis des Oberseminars von Karl Stackmann. Aber nicht nur deshalb bin ich dann doch sehr gern hierher gekommen: Klaus Grubmüller, den wir hier standesgemäß ehren wollen, ist schließlich nicht nur seines Zeichens Nachfolger Karl Stackmanns in Göttingen, sondern hat (unter den hier Anwesenden) gemeinsam mit Jan-Dirk Müller und mir seit 1986 nimmermüde am Hirsebrei des neuen Reallexikons der deutschen Literaturwissenschaft (RLW) mitgekocht, so wie später dann auch Friedrich Vollhardt und - last, aber beileibe nicht least - Armin Schulz (der dem Lexikon weit mehr geworden ist als sein getreuer Redaktor). Gerade Klaus Grubmüller und ich haben dabei um keine Frage so unermüdlich gerungen wie um die Titelfrage meines Beitrages: „Wortgeschichte oder Begriffsgeschichte?" Selten genug waren wir uns darüber einig, wohin in diesem oder jenem Artikel denn nun diese oder jene sprachhistorische Information gehöre - oder ob sie nicht überhaupt bislang ganz fehle und beim Autor einzuklagen, in verzweifelten Fällen: von uns selber einzufügen sei. Erst beim vorbereitenden Nachdenken über das Tagungskonzept-Papier seiner Meisterschüler ist mir plötzlich ein Licht aufgegangen, welche unterschiedlichen Konzeptionen von Wort- und vor allem von Begriffsgeschichte uns da wohl geleitet haben mögen. Diese Einsicht kommt zwar nun etwas gar spät - aber indem ich die zwei alternativen Konzeptionen hier etwas entfalte, ergeben sich vielleicht hier und da Anhaltspunkte für die folgenden mediävistischen Fachdebatten. Abstrakt betrachtet, scheint es dabei gar nicht weiter schwierig zu sein, zwischen worthistorischen und begriffsgeschichtlichen Auskünften zu unterscheiden (auch wenn überraschend viele Artikel-Verfasserinnen erkennbar von der Mitteilung überrascht schienen, dass man da überhaupt einen Unterschied machen kann). Bereits in der theoretischen Gründungs-Urkunde für das spätere Reallexikon, im Sammelband unseres DFG-Symposions Terminologie der Literaturwissenschaft von 1986, sind als „Erträge der Schlußdiskussion" eine Reihe entsprechender „Postulate an ein terminologisches Wörterbuch der Literaturwissenschaft" formuliert worden - darunter das Erfordernis, „metasprachliche und objektsprachliche Angaben zu einem Stichwort unmißverständlich zu kennzeichnen" und „beide strikt zu trennen"; dabei dann wiederum genau zu differenzieren zwischen (a) wortgeschichtlichen Belegen, (b) bedeutungsgeschichtlichen Belegen und (c) Anleitungen zur sinnvollen Ver-

Wortgeschichte- oder Begriffsgeschichte?

17

wendung des Fachausdrucks in der gegenwärtigen literaturwissenschaftlichen Fachsprache.4 An anderer Stelle des Bandes war dies präzisiert worden als das leitende Ziel, das komplexe lexikalisch-semantische Feld der Terminologiegeschichte gegebenenfalls deutlich aufzugliedern in die Wortgeschichte mit historisch variierender Semantik und in die Begriffsgeschichte mit historisch variierender Benennung einer Merkmalskombination.5 Ganz in diesem Sinne heißt es dann auch noch in den jedem RLW-Band vorausgeschickten Leitsätzen ,Über das neue Reallexikon' (nach einem frühen Memorandum von K L A U S W E I M A R ) : Im Interesse von Klärung und Präzisierung des wissenschaftlichen Sprachgebrauchs will sich das RLW zunächst darin von anderen Lexika unseres Faches abheben, daß es so deutlich wie jeweils möglich zwischen Wort-, Begriffs-, Sachund Forschungsinformation unterscheidet. Der Artikel ,Drama' ζ. B. enthält in gekennzeichneten Abschnitten Informationen darüber, woher das Wort Drama kommt, was seine Bedeutungen waren und sind (WortGeschichte), wie sich der Begriff ,Drama' konzeptuell verändert hat und ggf. alternativ benannt worden ist (BegriffsGeschichte). 6 Die lexikographische Gretchenfrage lautet hier nun natürlich: Was genau ist denn bitteschön ein . B e g r i f f , auf den hin man dann eine Begriffsgeschichte fokussieren könnte? Denn die korrespondierende Frage, was genau ein ,Wort' als Gegenstand der Wortgeschichte sei, kann ich hier wohl beiseite lassen: Dass damit in präziserer Bestimmung eigentlich eine ,Lexem-Geschichte' gemeint ist, scheint mir der überwiegenden Auslegung des Terminus ,Wortgeschichte' zu entsprechen. Nun also: Quid ergo est conceptus - was ist ein Begriff? Die bis heute maßgebliche Antwort darauf hat schon 1891 GOTTLOB FREGE gegeben, der luzide Begründer der modernen Logik und Analytischen Sprachphilosophie: „ein Begriff ist eine Funktion".7 Das hilft uns nicht weiter? Dann will ich kurz in Erinnerung rufen, was in der Mathematik als ,Funktion' gilt. Eine Funktion ist ein ungesättigter Ausdruck, also mit mindestens einer ,Leerstelle' oder ,Variablen'; und wenn wir in

4

5 6

7

Zur Terminologie der Literaturwissenschaft. Akten des IX. Germanistischen Symposions der Deutschen Forschungsgemeinschaft Würzburg 1986. Hrsg. von CHRISTIAN WAGENKNECHT, Stuttgart 1988 (Germanistische Symposien, Berichtsbände 9), S. 419 f. HARALD FRICKE: Einführung. In: WAGENKNECHT (ANM. 4), S. 1 - 8 , hier S. 4 . RLW, Bd. 1 ( 1 9 9 7 ) , S. VII; wiedergegeben in: HARALD FRJCKE/KLAUS WEIMAR: Begriffsgeschichte im Explikationsprogramm. Konzeptuelle Anmerkungen zum neubearbeiteten Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. In: Archiv für Begriffsgeschichte 3 9 ( 1 9 9 6 ) , S. 7 - 1 8 . GOTTLOB FREGE: Funktion und Begriff. In: Ders.: Funktion - Begriff - Bedeutung. Hrsg. von MARK TEXTOR, Göttingen 2 0 0 2 (Sammlung Philosophie 4 ) , S. 2 - 2 2 , hier S. 11.

Harald Fricke

18

diese Leerstelle geeignete Ausdrücke als so genanntes .Argument' einsetzen, ergibt sich für die Funktion jeweils ein definiter Wert. Ein banales Beispiel ist die Quadrat-Funktion der einfachen Potenzierung, also die Multiplikation einer Argument-Zahl mit sich selbst: ( X )

2

=>

( 2

)2

= 4

Denn wenn wir hier für die Variable ( χ ) beispielsweise die Argument-Zahl 2 einsetzen, ergibt sich der Wert 4. Genau so eine Funktion mit Leerstelle ist aber auch jeder sprachliche Begriff, etwa der philosophisch traditionsreiche Beispielfall der »Sterblichkeit1: ( χ ) ... ist sterblich

Denn je nach dem, was für eine Nominalphrase wir hier als Argument in die Leerstelle ( χ ) einsetzen, ergibt sich fur den resultierenden Satz ein unterschiedlicher Wert, nämlich jeweils ein , Wahrheitswert' : Sokrates

... ist sterblich => = WAHR

Bei Einsetzung beliebiger Menschen-Namen ergibt sich stets der Wahrheitswert WAHR. Bei anderen Einsetzungen aber nicht, ζ. B.: Die Primzahl 7 ... ist sterblich => = FALSCH

In diesem Sinne definiert F R E G E deshalb vollständig so: „ein Begriff ist eine Funktion, deren Wert immer ein Wahrheitswert ist."8 Der Begriff der Sterblichkeit' ist nun aber nicht an genau diesen nhd. Ausdruck gebunden - wir könnten einen mhd., einen englischen oder einfach einen anderen nhd. Ausdruck dafür einsetzen: Sokrates

... hat begrenzte Lebenszeit = WAHR

Dabei wird sich dann zeigen, dass hier für alle Einsetzungen der Wahrheitswert derselbe bleibt wie in dem Ausdruck „... ist sterblich": Die Primzahl 7 ... hat begrenzte Lebenszeit = FALSCH

Die beiden ungleichen Ausdrücke sind also im Hinblick auf den repräsentierten Begriff definitionsgleich: ... ist sterblich =

df

[.•• hat begrenzte Lebenszeit

Oder in unserer üblichen Ausdrucksweise: ,sterblich sein' und ,begrenzte Lebenszeit haben' stehen für denselben Begriff: Ein .Begriff ist das gleichbleibende semantische Korrelat von ungleichen Ausdrücken, deren Austausch den Wahrheitswert bei allen Einsetzungen unverändert lässt. Von ,Begriffen' und ,Begriffsgeschichten' kann man somit überhaupt erst sprechen, wenn man sich von der Fixierung auf genau ein Wort löst.

8

Ebd.

Wortgeschichte- oder Begriffsgeschichte?

19

Für die praktische Arbeit an der Terminologiegeschichte, etwa im Rahmen des Reallexikon-YLonzepts, hat diese Einsicht natürlich einige Konsequenzen. Eine davon ist bereits im (übrigens rundum vorzüglichen) Expose zu dieser Tagung deutlich ausgesprochen, aus dem ich deshalb mit Vergnügen zitieren darf: , Aus diesem Grund dürften Einzelwortanalysen dem Gegenstand auch nur unzureichend gerecht werden; nötig ist die Erweiterung durch Untersuchungen synchroner Wortfelder und semantischer Netze."9 Genau in diesem Sinne sind wir im Prinzip beim Reallexikon vorgegangen. Entsprechend forderte schon das , Postulat Nr. 5' vom Terminologie-Symposion 1986 die explizite Berücksichtigung des engen Zusammenhangs innerhalb von .terminologischen Feldern' (in dem definierten Sinne, daß die Veränderung der Extension eines Terminus zwangsläufig extensionale Veränderungen der anderen Termini desselben terminologischen Feldes nach sich zieht); gegebenenfalls müßte dieser Feldzusammenhang sogar durch Aufgabe einer rein alphabetischen Anordnung des Lexikons betont werden. 10

Nun, so weit sind wir dann nicht gegangen, weil ein Aufgeben des Alphabets viel zu umfangreiche Artikel vom Charakter sachgliedernder Enzyklopädien statt terminologischer Einzelklärungen zur Folge gehabt hätte. Aber wir haben - im Zuge der außerordentlich aufwändigen Vorarbeiten 1986-1991 - durch ein System von integrierten Unterstichwörtern und ein möglichst dichtes Netz von Verweisen das alphabetische Prinzip durch ein systematisierendes überlagert. Das begann bei der gemeinsamen Behandlung terminologischer Paare wie Inhalt und -* Form, Basis und -» Uberbau oder Anaphorik und -* Kataphorik, die jeweils gleichgewichtig in einem gemeinsamen Artikel stehen (eigentlich aus der Sache heraus einleuchtend, dennoch von Bearbeitern wie Benutzern selten gleich verstanden). Am anderen Ende der Skala reichte das Verfahren bis zu feinstrukturierten Begriffsfeldern wie als Spitzenreiter dem Lemma Reim - mit nicht weniger als 28, inklusive Subtypen sogar 48 Unterstichwörtern im selben T E R M I N O L O G I S C H E N F E L D (was, nebenbei gesagt, große und ausdauernd diskutierte Probleme hinsichtlich einer noch halbwegs lesbaren Präsentation im Artikeltext aufwarf). Entsprechend diesen Grundsätzen beziehen sich Begriffsgeschichten im Reallexikon also nie auf einen Begriff allein, sondern stets auf ganze Terminologische Felder. Das macht die Sache aber nicht unbedingt leichter. Insbesondere die Sonderung der wortgeschichtlichen Informationen von den begriffsgeschichtlichen war immer wieder schwierig; gelegentlich war sie gar nicht durchführbar - oder jedenfalls unergiebig, weil beispielsweise bei neugebildeten Termini wie ,Dialogizität' oder ,Script-Theorie' gar keine Wortgeschichte jenseits der rezenten, theorieinternen Prägung und Verwendung aufzu9

Expose zum DFG-Rundgespräch Im Wortfeld des Textes, vgl. die Einleitung zum vorliegenden Band, S. 1-12, hier S. 9 A. 15.

10

WAGENKNECHT ( A n m . 4 ) , S. 4 1 9 .

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Harald Fricke

weisen wäre. Im Ergebnis sind es so immerhin 172 Artikel unter den 948 Lemmata des Reallexikons geworden, in denen wir auf eine Trennung von Wortgeschichte und Begriffsgeschichte schließlich verzichtet haben. Aber auch in den anderen Fällen war die Zuordnung sprachhistorischer Informationen zur Begriffsgeschichte oder aber zur Wortgeschichte nicht immer leicht - und oft genug auch unter uns Herausgebern Gegenstand genussvoll ausgekosteter Dauerdiskussionen. Zur Identifikation und Erklärung solcher Dissense möchte ich nun im Folgenden eine Unterscheidung von zwei Grundkonzeptionen der Begriffsgeschichte anbieten. Das eine Konzept beschränkt den Zuständigkeitsbereich der Wortgeschichte allein auf etymologische Arbeit am Lexem, also auf das Studium historisch belegter Ausdrucksvarianten des Lemmas; demgegenüber soll die Bedeutungsentwicklung des Lexems in den verschiedenen Versionen und Kontexten seines Auftretens dann in die Begriffsgeschichte gehören. Auch die begriffsgeschichtliche Arbeit orientiert sich demzufolge durchweg an - konzeptuell aufschlussreichen - Belegfällen des Wortes bzw. doch des Lexems, das im Lemma des betreffenden Artikels steht. Hypothetisch und ganz, ganz vorsichtig - will sagen: mit der Bitte um Abwägung und Korrektur in der anschließenden Diskussion - möchte ich hier die Vermutung äußern, dass ungefähr dies die Leitvorstellung von Begriffsgeschichte bei KLAUS GRUBMÜLLER gewesen sein könnte. Zur Verdeutlichung vielleicht ein Blick in seinen eigenen MusterArtikel Fabel·. B e g r G : Die Überlegungen zum Begriff ,Fabel' setzen dort ein, wo der Wirklichkeitsgehalt des Erzählten bedacht wird, so - die antike Tradition zusammenfassend und die mittelalterliche und neuzeitliche begründend - bei Quintilian ( 5 , l l , 1 9 f . ) und vor allem bei Isidor von Sevilla (.Etymologiae' 1,40,1); im Gegensatz zu solchen Erzählungen, die wirklich geschehen sind (historiae) oder aber doch geschehen könnten (argumenta), sei das in fabulae Erzählte weder wirklich noch überhaupt möglich, weil es der Natur widerspreche („Fabulae [...] sunt quae nec factae sunt nec fieri possunt, quia contra naturam sunt"; ebd. 1,44,5)."

Hier wie im nachfolgenden Artikel-Text wird also die Begriffsgeschichte ganz an der Leitlinie des Lexems fabula / Fabel entlang verfolgt; alternative Benennungen desselben Gattungs-Konzepts bleiben unerheblich. Gerade darauf zielt aber vorrangig, im Sinne der dargestellten Überlegungen FREGES, meine eigene Leitvorstellung von Begriffsgeschichte. Demnach gehören die historisch ausdifferenzierten Bedeutungsvarianten der Bezeichnung Fabel mit der Etymologie zusammen in die Wortgeschichte, als semasiologischer Teil der sprachhistorischen Informationen. Die Begriffsgeschichte hingegen sollte Umschau in onomasiologischer Sichtweise halten: also, im Sinne des zitierten Vorwort-Leitsatzes, untersuchen, wie der Begriff (als semantischer Komplex) im Laufe der Geschichte „ggf. alternativ benannt worden ist" bzw. in welchen Bestimmungen oder gar expliziten Definitionen seine 11

KLAUS GRUBMÜLLER: Art. .Fabel'. In: RLW, Bd. 1 (1997), S. 555-558, hier S. 555f.

Wortgeschichte- oder Begriffsgeschichte?

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Merkmale formuliert wurden. Als Beispiel dafür wähle ich die Wort- und BegrifFsgeschichte meines eigenen RLW-Artikels Potenzierung. Deren zweiter Teil stellt vorrangig eine geordnete Zusammenstellung historischer Bezeichnungen für das gemeinsam thematisierte Phänomen literarischer Selbstbezüglichkeit dar: BegrG: Die konzeptuelle Konstruktion literarischer Potenzierung variiert historisch ähnlich stark wie ihre terminologische Benennung. Teilweise beruft man sich auf die Algebra der (potenziert auf sich selbst anwendbaren) .Rekursiven Funktionen' (vgl. Church) bzw. .Rekursiven Definitionen' (vgl. Fricke/Zymner, 247-252) und spricht von literarischer REKURSIVITÄT (Ζ. B. Nünning, 373 und 454); teilweise orientiert man sich an der Nomenklatur der Relationenlogik und spricht von ipsoreflexiven Strukturen (ζ. B. Joost, 114 u. ö.; Fricke 1984, 89 u. ö.) bzw. von AUTOREFLEXIVITÄT (ζ. B. Wolf 1992, 165 und 194) - mit zahllosen Varianten wie Selbstoder Autoreferentialität (Gross, Kablitz) bzw. Autothematismus (Schmeling 1977, Leuschner). Nicht gefehlt hat es demgegenüber an Versuchen terminologischer Eindeutschung: etwa als SELBSTREFERENZ bzw. Selbstanwendung (Luhmann, Scheutz), als Selbstrückbezüglichkeit (Böhn) oder Selbstreflexivität (Anton), schließlich als Spiegelung oder Selbst- bzw. Binnenspiegelung (König; Martinez/Scheffel, 115; kritisch Holdener, 7f.). Andererseits begegnen hier zunehmend die immer beliebter werdenden Wortfügungen vom Typ METAFIKTION (Wolf 1 9 9 8 , s. v.) - in begründeter Analogie zu Tarskis Metasprache (-* Terminologie) oder in weniger begründeter zur .Metaphysik' des Aristoteles (Belegsammlung bei Fricke 2001). Weit prominenter verlief die internationale Karriere einer frz. Metapher für den Sachverhalt: die M I S E EN ABYME (weltweit meist unübersetzt gebraucht; vgl. Hallyn, Wolf 1998; dt. auch als Spiegelung ζ. B. bei Zeller, 559; als Illusionsbruch bei Wolf 1993).' 2

Schon optisch verdeutlichen die zahlreichen Kapitälchen bei Unterstichworten samt ihren kursiven Wort-Varianten: Hier ist das Interesse ganz darauf gerichtet, einen gemeinsam zugrundeliegenden Begriff durch Zusammenführung möglichst zahlreicher synonymer oder teilsynonymer Benennungen aus der Terminologie-Geschichte der internationalen Literaturwissenschaft herauszuarbeiten. Nun liegt es mir hier und heute fern, von diesen zwei konkurrierenden Konzeptionen der Begriffsgeschichte einen als .richtig' oder .überlegen' zu verteidigen. Zum einen sind sie nämlich gar nicht unverträglich miteinander. Im allgemeinen haben wir wohl beide Ziele, das semasiologische wie das onomasiologische, miteinander verbinden können - wie das etwa der .Leitartikel' Literatur von K L A U S W E I M A R verdeutlichen kann. Wie an den kursivierten Stichworten abzulesen, ergänzen sich hier Informationen zur Bedeutungsentwicklung des Lemmas Literatur mit konkurrierenden Benennungen wie Dichtung: Zu Anfang des 20. Jhs. haben sich Bemühungen bemerkbar gemacht, den .wertvollsten' Teil der literarischen Texte unter der Bezeichnung Dichtung aus dem 12

HARALD FRICKE:

Art. .Potenzierung'. In:

RLW,

Bd. 3

(2003),

S.

144-147,

hierS.

145.

Harald Fricke

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engeren Literaturbegriff zu separieren. Dichtung in diesem emphatischen Sinne wurde mehr oder weniger polemisch d e m minder wertvollen Rest gegenübergestellt, der dann allein noch Literatur heißt, entsprechend d e m Begriff (4a). 1 3

Darüber hinaus kommt es einfach auf die jeweils dominierende Zielsetzung an, welcher Konzeption von Begriffsgeschichte man in einem gegebenen Kontext den Vorzug gibt. Für die leitende Zielsetzung des Reallexikons schien mir der erweiterte Blick auf ganze terminologische Feldzusammenhänge nützlicher zu sein. Denn wie die anaphorische Formel „Im Interesse von Klärung und Präzisierung des wissenschaftlichen Sprachgebrauchs" in unserem Vorwort klar zum Ausdruck bringt, ist das Reallexikon kein lexikalisches Archiv, sondern: ein terminologisches Explikations-Programm.14 Zu dessen wesentlichen Zielen gehört nun aber die Orientierung an bisherigen, weniger explizit bestimmten Termini als ,Explicandum'. Schon RUDOLF CARNAP als Begründer der ,Theory of explication', hat in diesem Sinne von dem explizierten neuen Terminus gefordert: „it should, however, correspond to the explicandum in such a way that it can be used instead of the latter."15 Das neue Explikat muss erfolgreich an die Stelle des alten Explicandums treten können. Allgemeiner gesprochen: Wie jede Wissenschaft braucht auch die Philologie eine reflektierte Fachsprache aber sie darf nicht geschichtslos sein. Und dafür braucht es die Basis terminologiehistorischer Erhebungen. Während also die Wortgeschichten wie die Begriffsgeschichten im Reallexikon nur Mittel zum Zweck, nur ein Weg zum methodologischen Ziel sind, stellt sich die Frage nach der angemessenen Konzeption ganz anders, wenn Wort- und Begriffsgeschichte um ihres historischen Eigenwertes willen untersucht werden.16 Dies trifft nun, wenn ich recht sehe, für unser jetziges Vorhaben, für ein mediävistisches Rundgespräch im Horizont historischer Poetik, entschieden zu. Und dafür bietet es sich unbedingt an, bedeutungsgeschichtliche Analysen im Sinne der Konzeption GRUBMÜLLERS vorrangig am Leitfaden der lexemhistorisch verbundenen Wortbelege (im Feld von Schrift und Literatur, Rede und Text) zu organisieren. 13

K L A U S WEIMAR: A r t . . L i t e r a t u r ' . In: R L W , B d . 2 ( 2 0 0 0 ) , S . 4 4 2 - 4 4 8 , hier S . 4 4 6 .

14 15

Vgl. dazu den Grundsatz-Beitrag von FRICKE/WEIMAR (Anm. 6). RUDOLF CARNAP: Meaning and Necessity. Α Study in Semantics and Modal Logic, Chicago, London 2 1956, S. 8. Vgl. dazu u. a. CLEMENS KNOBLOCH: Überlegungen zur Theorie der Begriffsgeschichte aus sprach- und kommunikationswissenschaftlicher Sicht. In: Archiv für Begriffs-

16

geschichte 35 ( 1 9 9 2 ) , S. 7 - 2 4 ; KURT RÖTTGERS: Philosophische Begriffsgeschichte. In:

Dialektik 16 (1988), S. 156-176; Historische Semantik und Begriffsgeschichte. Hrsg. v o n REINHART KOSELLECK, S t u t t g a r t 1 9 7 8 ; REINER WIEHL: B e g r i f f s b e s t i m m u n g u n d

Begriffsgeschichte. In: Hermeneutik und Dialektik. Hrsg. von RÜDIGER BUBNER u. a., Bd. 2, Tübingen 1970, S. 167-213. - Zum wechselseitigen Zusammenhang von Wortund Begriffsgeschichte, von unterstelltem ,Noem' und .Hyperonym' vgl. bes. HERBERT ERNST WIEGAND: Synchronische Onomasiologie und Semasiologie. Kombinierte Methoden zur Strukturierung der Lexik. In: Germanistische Linguistik 3 (1970), S. 243384.

Wortgeschichte- oder Begriffsgeschichte?

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Ein grundsätzliches Problem bleibt freilich auch hier bestehen. Jede begriffsgeschichtliche Analyse muss sich, um äquivalente oder teilsynonyme Formulierungen in ihrem historischen Co-Text erkennen zu können, von der Fixierung auf nur einen einzigen lexematischen Kern lösen. Aber um solche Kandidaten für partielle Synonymie ausfindig zu machen, haben wir nichts anderes als die überlieferten Texte und ihr lexikalisches Material. Lexematisch einschlägige Belege können semantisch in die Irre fuhren, semantisch einschlägige Belege können von ihrer Lexik her irritierend anders formuliert sein. Die relevanten Wortbelege kriegen wir nicht ohne Bedeutungsanalyse, die Bedeutungen kriegen wir nicht anders als über Wortbelege. Liegt hier also eine Art ,Begriffshermeneutischer Zirkel' vor? Philosophie, sagt WITTGENSTEIN einmal, ist dazu da, „der Fliege den Ausweg aus dem Fliegenglas [zu] zeigen".17 Den Ausweg aus unserem Fliegenglas hat wieder einmal GOTTLOB FREGE schon vor über 100 Jahren gezeigt. Der vermeintliche Zirkel in der wissenschaftlichen Arbeit ist nämlich gar keiner - er ist eine .hermeneutische Helix' 18 , eine aufwärts führende Spirale. FREGE schreibt dazu in einem ganz entsprechenden Problemfall: Mail macht sich leicht unnötige Sorgen über die Ausführbarkeit der Sache. [...] Zur Erforschung der Naturgesetze dienen die physikalischen Apparate; diese können nur durch eine fortgeschrittene Technik hervorgebracht werden, w e l c h e wieder auf der Kenntnis der Naturgesetze fußt. Der Kreis löst sich in allen Fällen auf dieselbe Weise. Ein Fortschritt in der Physik hat einen solchen in der Technik zur Folge, und dieser macht es möglich, neue Apparate zu bauen, mittels deren wieder die Physik gefördert wird. Die Anwendung auf unseren Fall ergibt sich von selbst. 1 9

Nun, auch die Anwendung auf unseren begriffsgeschichtlichen Fall ergibt sich von selbst: Man muss eben mit mehr oder weniger unzuverlässigen Wortgeschichten beginnen, anschließend ihre lexikalischen und semantischen Kontexte sorgfältig studieren, auf dieser Basis eine onomasiologische Matrix als Suchraster für neue Belege skizzieren - und so schrittweise aus der bloß historisch geordneten Wortgeschichte eine am Begriff orientierte WortfeldGeschichte entwickeln. In diesem Sinne haben wir bei der Ausarbeitung (und oft mehrstufigen Überarbeitung) des neuen Reallexikons vorzugehen versucht. Es wäre freilich eine allzu kühne Annahme, wollte man behaupten, dass die Wort- und Begriffsgeschichten, wie sie in den jetzt gedruckten Artikeln stehen, solch letztgültigen

17

18

19

LUDWIG WITTGENSTERN: Philosophische Untersuchungen. In: Ders.: Werkausgabe, Bd. 1: Tractatus logico-philosophicus, Tagebücher 1914-1916, Philosophische Untersuchungen, Frankfurt a. M. s 1993, § 309. Vgl. dazu den Frege-Spezialisten und Lorenzen-Schüler CHRISTIAN THIEL: Was heißt „wissenschaftliche Begriffsbildung"? In: Propädeutik der Literaturwissenschaft. Hrsg. von DIETRICH HARTH, München 1973,S. 95-125, hierS. 120. GOTTLOB FREGE: Über die wissenschaftliche Berechtigung einer Begriffsschrift. In: Ders., Funktion (Anm. 7), S. 70-76, hier S. 75.

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Harald Fricke

Ansprüchen bereits gerecht werden. Vielmehr wiederhole ich hier zum Abschluss gern, was ich schon auf dem germanistischen Weltkongress der IVG in Wien 2000 in dieser Sache gesagt habe: Ein Lexikon wie dieses ist zugleich ein dezidiertes .Forschungsprogramm', eine reiche Palette von nunmehr konkret lokalisierten Suchaufgaben. Das Reallexikon ordnet hier nur das künftige Arbeitsfeld und macht allfällige Lücken offen sichtbar. Mit einem Wort: Jetzt, da unsere Arbeit getan ist, kann die literarhistorische und begriffsgeschichtliche Arbeit erst so richtig losgehen. 20

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HARALD FRICKE: Interpretation, Kommentar, Terminologie. Methodologische Anmerkungen aus der Arbeit am neuen Reallexikon. In: Zeitenwende. Die Germanistik auf dem Weg vom 20. ins 21. Jahrhundert. Akten des X. Internationalen Germanistenkongresses Wien 2000. Hrsg. von PETER WIESINGER, Bd. 8, Sektion 16: Interpretation und Interpret a t i o n s m e t h o d e n . Betreut v o n HENDRIK BLRUS/SLOBODAN GRUBACIC/IRMGARD WLRTZ,

Bern u. a. 2003 (Jahrbuch für Internationale Germanistik, Reihe A, Kongressberichte 60), S. 303-310, hier S. 310.

JÜRGEN LENERZ

Zum Beispiel mcere Bedeutung und Bedeutungsvielfalt aus sprachwissenschaftlicher Sicht

In this paper, an attempt is made to explain the diversity of meaning of Middle High German literary concepts on the basis of current approaches in semantics. It is claimed that word meaning (intension) is inherently vague in order to be suited for its use in different contexts. The actual meaning (extension) may come about by referential and conceptual shifts. Referential shift leads to (in)finite, (un)specific, or generic reference. Conceptual shift is responsible for metaphorical or metonymical usage, for widening or restricting the actual use of words. This is illustrated in more detail for some central concepts of Middle High German literature such as buoch, Sprichwort, äventiure, and particularly mcere. It is argued that the Middle High German words are not applied as artificial literary terminology but are used as natural words with natural referential and conceptual shifts in various different contexts. It seems that the authors often intend to display the richness and diversity of the concepts to their audience in a highly intellectual, playful, and witty manner.

In den Vorträgen und Diskussionen des DFG-Rundgesprächs Im Wortfeld des Textes war in verschiedener Weise die Rede von der Unbestimmtheit der literarischen Termini ,mcere', ,buoch\ ,äventiure', ,rede' etc. in mhd. Texten. Im Zentrum der Vortragsdiskussionen standen wiederholt die möglichen Funktionen des meisthin als .schillernd' empfundenen Gebrauchs solcher Leitwörter des literarischen Diskurses: an diversen Textbeispielen werde eine deutliche ,Arbeit am Begriff sichtbar, die indes noch keine .reflektierte Terminologie' hervorbringe. Die konkurrierenden Termini ließen sich als .suchender Zugriff' auf Begriffe verstehen, und die Vagheit ihrer Verwendungen wollte man weniger als Hypothek denn als Chance bewertet wissen, die Spielräume auszuloten, die sich in der Unschärfe der vorbegrifflichen Bezeichnungen manifestierten. Insgesamt verstärkte die Tagung den Eindruck, in der beträchtlichen Deutungsoffenheit und der ständigen Neuverwendung der Leitwörter ein distinktes Signum gerade der volkssprachlichen Literatur des Mittelalters zu erfassen. Ob die mhd. Bezeichnungen von Rede und Schrift eine andere Art von Ausdrucksschärfe besitzen als moderne Termini, wurde zu einer Leitfrage des Rundgesprächs. In meinem Beitrag möchte ich aus sprachwissenschaftlicher Sicht der Frage nach der möglichen Andersartigkeit der mhd. Begriffe nachgehen. Dabei

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Jürgen Lenerz

möchte ich zeigen, dass sie nicht grundsätzlich verschieden sind von modernen Begriffen. Vielmehr unterscheiden sie sich lediglich in allseits verfugbaren konzeptuellen Dimensionen, und die jeweilige Begriffsbildung folgt universell gegebenen konzeptuellen Ähnlichkeiten und Unterscheidungen. Die spezifischen Unterschiede zu nhd. Begriffen müssen folglich zwar erfasst und möglichst genau beschrieben werden, aber das kann im Vergleich zu den nhd. Begriffen und mit deren Hilfe geschehen: Das Mittelhochdeutsche - so die These - hat damit (ebenso wie andere Sprachen) keine grundsätzlich andere Begriffsbildung als das Neuhochdeutsche. Das ergibt sich deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, worin letztlich die Andersartigkeit mhd. Begriffe im Vergleich zu ihren nhd. Entsprechungen besteht. Was ich im Einzelnen zeigen möchte, ist Folgendes: Es handelt sich bei den verschiedenen Lesarten nicht um Polysemie, sondern um das Ergebnis einer allen Begriffsbildungen notwendig inhärenten Vagheit, die je nach Kontext und konkreter Verwendung bestimmte konzeptuelle Verschiebungen zur Folge hat. Das ist ein in allen Sprachen natürlich vorfindbarer Prozess der Bedeutungsdifferenzierung. Allein, welche Bedeutungsdifferenzierungen ein Begriff erlaubt, ist kulturspezifisch und damit von der jeweiligen Einzelsprache abhängig. Um das darzustellen, muss ich zunächst den Bedeutungsbegriff angemessen und differenziert darlegen. Das erfordert einen Überblick über einige sprachwissenschaftliche Grundlagen. An dieser Stelle muss ich deshalb den mediävistischen Leser um etwas Geduld bitten, denn erst nach Darlegung dieser grundsätzlichen und rein sprachwissenschaftlichen Aspekte kann ich in einer exemplarischen Anwendung auf die Β edeutungsvariation der hier in Frage stehenden Leitwörter eingehen.

1. Bedeutung und Bedeutungsvielfalt Das Grundphänomen, mit dem man sich konfrontiert sieht, wird gelegentlich als ein Makel menschlicher Sprache betrachtet. Eigentlich ist es aber eine notwendige Tugend: Die Unbestimmtheit der Bedeutung oder gar die Mehrdeutigkeit von Wörtern. Die menschliche Sprache muss so flexibel sein, dass man über alles reden kann. Daraus folgt, dass Wörter (Wortgruppen, Sätze, Texte) keine allzu präzise Bedeutung haben dürfen! Die Welt, über die wir reden möchten, ist so vielgestaltig, dass wir unendlich viele verschiedene Wörter für ihre unendlich vielen Erscheinungen benötigten, wenn wir uns jeweils präzise ausdrücken möchten. Stattdessen verfügen wir über Wörter, deren Bedeutung hinreichend genau, aber eben auch hinreichend vage ist, um zur Benennung in dem weiten Spielraum von Erscheinungen der Welt zu taugen.1 1

MANFRED PINKAL: Kontextabhängigkeit, Vagheit, Mehrdeutigkeit. In: Handbuch der L e x i k o l o g i e . H r s g . v o n CHRISTOPH SCHWARZE/DIETER WUNDERLICH, K ö n i g s t e i n i. T s .

Zum Beispiel mcere

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Die Kombination von Wortbedeutungen und deren Verschiebungen, Erweiterungen, Verengungen sind dabei taugliche Mittel für die notwendige Flexibilität des Ausdrucks. Dass diese Vagheit auch Wörtern wie Wort, Bedeutung und Begriff etc. innewohnt, mit denen wir Wörter und deren Bedeutungen beschreiben, kann deshalb nicht verwundern. Dass man aber andererseits für eine genaue wissenschaftliche Beschreibung dessen, was Bedeutung ist, eine möglichst genaue und präzise festgelegte Terminologie wünscht, ist ebenfalls verständlich: Wissenschaftliche Theorien, auch solche über .Bedeutung' sollten möglichst klar, eindeutig, widerspruchsfrei und intersubjektiv konstant sein. Ich möchte deshalb zunächst eine gewisse terminologische Festlegung vorschlagen, die in der Semantik relativ weit verbreitet und anerkannt ist. Zunächst sind im Wesentlichen zwei Ansätze zu unterscheiden. Die gängigste Ansicht ist wohl die, die dem common sense, dem gesunden (?) Menschenverstand, entspricht: Wörter ,haben' eine Bedeutung, und mit Wörtern kann man .Dinge' benennen. Wörter sind sozusagen Namen für Begriffe, und Begriffe sind Abstraktionen über .Dinge'. Man kann diese geläufige Auffassung repräsentationistisch nennen. Dem steht eine Auffassung gegenüber, die man (unter Rückgriff auf WITTGENSTEIN und andere) instrumentalistisch nennen kann.2 In diesem Verständnis ,haben' Wörter keine Bedeutung, sondern wir .benutzen' Wörter, um beim Gesprächspartner bestimmte Wirkungen zu erzeugen. Ich möchte hier zunächst die repräsentationistische Auffassung erläutern.

Wörter und Begriffe Wörter sind für unser Sprachgefühl die zentralen Bedeutungsträger. Die gängige Vorstellung ist, dass sie eine in gewissem Sinne elementare Verbindung von lautlichem (schriftlichem) Ausdruck und irgendwie psychisch präsenter Bedeutung darstellen. Genauer: Wörter sind mental gespeicherte abstrakte Repräsentationen, in denen verschiedene Informationen miteinander verknüpft sind:3 - eine abstrakte Lautform (phonologische Form), die in regulärer Beziehung zu zugehörigen komplexen Schallereignissen (phonetische Realisierung) steht. - bestimmte Regeln der morphologischen (ζ. B. Flexion etc.) s o w i e der syntaktischen Realisierung (ζ. B. Verb, transitives Verb, Adjektiv, Zahlwort, Partikel etc.).

2 3

1985, S. 27-63. Diese Unterscheidung entnehme ich RUDI KELLER: Zeichentheorie. Zu einer Theorie semiotischen Wissens, Tübingen, Basel 1995, S. 22-70. Ein etwas differenzierteres Modell entwickelt ANDREAS BLANK: Prinzipien des lexikalischen Bedeutungswandels am Beispiel der romanischen Sprachen, Tübingen 1997 (Beihefte zur ZfromPh 285); vgl. auch Ders.: Einfuhrung in die lexikalische Semantik für Romanisten, Tübingen 2001 (Romanistische Arbeitshefte 45).

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Jürgen Lenerz

- eine abstrakte Repräsentation der mit dieser Lautform konventionell verbundenen Vorstellung von bestimmten Aspekten der Welt. Letzteres nennen wir die Bedeutung eines Wortes. Es handelt sich dabei allerdings nicht um ein einfach zu beschreibendes Wissen, sondern um eine Kenntnis, die psychisch so elementar ist, dass wir in der Regel kaum etwas darüber sagen können außer, dass wir diese Kenntnis haben. Man kann das in Anlehnung an den englischen Terminus (,tacit knowledge') »stummes Wissen' nennen. Menschen (aber auch andere Lebewesen) sind offenbar in der Lage, psychische Repräsentationen von Erfahrungen in Klassen zu ordnen. Diese Klassen von - für uns - ähnlichen Erfahrungen sind ihrerseits psychische Konstrukte, die für weitere (in einem für uns relevanten Sinn: ähnliche) Erfahrungen offen sind. Man kann diese Konstrukte unserer Kognition Konzepte oder Begriffe nennen.4 Auch die Bedeutung des Wortes Begriff ist umgangssprachlich vage. So wird das Wort Begriff häufig auch als Synonym für Wort verwendet.5 Die Parteivorsitzende der CDU und jetzige Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte vor einiger Zeit zur Verteidigung der Verwendung des Wortes Leitkultur durch den damaligen Fraktionsvorsitzenden der CDU im Bundestag, Friedrich Merz, treuherzig, man müsse den Begriff Leitkultur doch erst einmal mit Inhalt füllen. Dies ist ein Fall der Bedeutungsverschiebung, wie man ihn in der historischen Semantik häufig beobachten kann. Ich möchte im Folgenden das Wort Begriff fachsprachlich für den Inhalt eines Wortes, also für das mit dem Wort verbundene Konzept benutzen.

Was ist Bedeutung ? In repräsentationistischer Sicht sind Wörter schlicht Mittel, um auf bestimmte Gegebenheiten zu referieren, die als Instanziierungen des mit ihnen assoziierten Begriffs angesehen werden können. Worin aber besteht ,Referenz'? Ein sprachlicher Ausdruck referiert nicht in und aus sich selbst. Referenz entsteht

4

Einige Probleme, die sich mit einer auf Vorstellungen beruhenden Semantik ergeben, werden aus gebrauchstheoretischer Sicht diskutiert, vgl. u. a. GERD FRITZ: Ansätze zu einer Theorie des Sprachwandels auf lexikalischer Ebene. In: Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung. 2., vollständig neu bearb. und erw. Aufl. Hrsg. von WERNER BESCH u. Teilbd. 1, Berlin, New York 1 9 9 8 ( H S K 2 . 1 ) , S. 8 6 0 - 8 7 4 , b e s . S. 8 6 3 , s o w i e THOMAS GLONING: B e d e u t u n g , G e -

brauch und sprachliche Handlung. Ansätze und Probleme einer handlungstheoretischen Semantik aus linguistischer Sicht, Tübingen 1996 (Reihe Germanistische Linguistik 1 7 0 ) und KELLER, Z e i c h e n t h e o r i e ( A n m . 2 ) , S. 5 8 - 6 0 .

5

Vgl. HEINZ VATER: Wort und Begriff. Eine terminologische Klärung. In: Das Deutsche von innen und außen. Ulrich Engel zum 70. Geburtstag. Hrsg. von ANDRZEJ KATNY/CHRISTOPH SCHATTE, P o s e n 1 9 9 9 ( S e r i a F i l o l o g i a G e r m a n s k a 4 4 ) , S . 1 4 7 - 1 5 3 .

Zum Beispiel mcere

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jeweils nur dann, wenn ein Sprecher oder Hörer in einer aktuellen sprachlichen Äußerung einem Ausdruck einen Referenten (ein ,Denotat') zuweist. Insofern ist der Gebrauch eines Ausdrucks auch in einer repräsentationistischen Auffassung nicht nur ein unverzichtbarer Aspekt der Bedeutung, sondern der Ausgangspunkt für die Explikation des BedeutungsbegrifFs. Man nennt die jeweils aktuelle Referenz eines sprachlichen Ausdrucks seine Extension. Sie ist nur möglich, wenn man annimmt, dass ein Sprecher/Hörer mit einem Ausdruck die Möglichkeit assoziiert, in verschiedenen aktuellen Verwendungen jeweils verschiedene, aber in gewisser Weise charakteristisch ähnliche Referenzen zu ermöglichen. Dieser Aspekt der Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks, der von der jeweils aktuellen Referenz (Extension) abstrahiert, nennt man seine Intension. Man kann also sagen, dass die Intension eines Ausdrucks sein Extensionspotenzial ist oder, mengentheoretisch ausgedrückt: die Intension eines Ausdrucks lässt sich darstellen als die Menge genau aller seiner möglichen Extensionen in allen denkbaren Äußerungen, mit denen man sich auf alle möglichen Situationen (,mögliche Welten') beziehen kann. Zwei kleine Beispiele machen das vielleicht etwas klarer: Wenn man die intensionale Bedeutung eines Ausdrucks wie Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland kennt, dann weiß man, auf welche Individuen man damit in verschiedenen möglichen Welten extensional referieren kann, ζ. B.: Der erste Bundeskanzler der BRD war Konrad Adenauer. Wenn er die letzte Wahl gewonnen hätte, wäre der Bundeskanzler der BRD jetzt Gerhard Schröder.

Bei gleich bleibender Intension werden dem Ausdruck Bundeskanzler der BRD jeweils verschiedene Extensionen (Adenauer, Schröder etc.) in verschiedenen möglichen Welten zugeordnet. Umgekehrt liegt der Fall, wenn ein Kind am 6. Dezember abends plötzlich entdeckt: Du, Mama, der Nikolaus ist ja der Papa!

Der Nikolaus und der Papa haben verschiedene intensionale Bedeutungen; in der aktuellen Sprechsituation stellt das Kind aber eine extensionale Identität fest. - Die Unterscheidung in Extension und Intension lässt sich im Prinzip über mengentheoretische Operationen explizieren. Damit werden die entsprechenden Konzepte zwar benannt, aber nicht eigentlich inhaltlich beschrieben! Das hat damit zu tun, dass sich die Hauptströmung der modernen logischen Semantik im Wesentlichen nur für die strukturellen Aspekte der Bedeutung sprachlicher Ausdrücke interessiert, während sie die inhaltliche Beschreibung der damit verbundenen Konzepte als Gegenstand einer Mentalitäts- oder Geistesgeschichte oder schlicht als Gegenstand der kognitiven Psychologie betrachtet. Für die Zwecke einer detaillierten Beschreibung der mit den Wörtern verbundenen Bedeutung empfiehlt es sich deshalb, anstelle von Intension und Extension von Ausdrucksbedeutung und Äußerungsbedeutung zu sprechen, wenn man diese Benennungen so versteht, dass sie die eingehende inhaltliche

Jürgen Lenerz

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Beschreibung der Konzepte erfassen.6 Man muss weiter zwischen den (realen) persönlichen Konzepten und überindividuellen, idealisierten kulturellen Konzepten unterscheiden.7 Da sich Kultur- und Sprachgemeinschaften in ihrer jeweiligen Konzeptualisierung der Welt unterscheiden, kann man letztere auch kulturspezifische Konzepte nennen. Darauf kann man sich mit dem Terminus der „Anisomorphie"8 beziehen, und in diesem Sinne sind Konzepte des Mittelhochdeutschen natürlich verschieden von denen des Neuhochdeutschen. Wenn auch die Bildung von Konzepten jeweils spezifisch ist für bestimmte Kulturoder Sprachgemeinschaften und sich an deren Zwecken und Interessen orientiert, so sind die psychischen Mechanismen der Konzeptbildung doch universell und sprachunabhängig. Konzeptbildung ist eine Sache unserer kognitiven Ausstattung, nicht der Sprache! Sprachliche Ausdrücke dienen lediglich zur Benennung von Konzepten, und unsere konzeptuellen Fähigkeiten sind biologisch-psychisch gegeben, wenngleich sie zu kulturell variablen Ergebnissen führen. Daraus resultiert, dass es zwar je nach Kultur- oder Sprachgemeinschaft unterschiedliche Konzepte gibt, dass diese aber alle auch in anderen Sprachen paraphrasierbar und im Prinzip übersetzbar, jedenfalls auch für Nicht-Muttersprachler lernbar sind. Eine völlig willkürliche Sprach- oder Kulturabhängigkeit, wie sie in einem gewissen ethnologischen Romantizismus etwa in der so genannten Sapir-Whorf-Hypothese von der „sprachlichen Relativität" unterstellt wird, ist jedenfalls nachweislich falsch.9 Kulturspezifische Konzeptualisierungen unterscheiden sich zwar, aber nicht in der häufig unterstellten grundsätzlichen Weise. Solche kulturellen Konzepte sind ihrerseits in der Sprache natürlich gegeben und werden auf natürliche Weise von Kindern erlernt. Ich möchte sie deshalb natürliche kulturelle Konzepte nennen. Im Gegensatz dazu stehen künstliche kulturelle Konzepte, wie sie sich in fachsprachlicher, speziell in wissenschaftlicher Verwendung finden: Hier ist in der Regel der Bedeutungsumfang für die Zwecke der Fachsprache möglichst präzise und eindeutig festgelegt; man kann diese künstlichen Konzepte auch Termini nennen. Als 6

Ähnlich kann man natürlich auch die Differenzierung in Bedeutung (Intension, Ausdrucksbedeutung), Bezeichnung (Extension) und Sinn (Äußerungsbedeutung) verstehen, die KARL STACKMANN (Historische Lexikographie. Bemerkungen eines Philologen. In: Wörter und Namen. Aktuelle Lexikographie. Symposium Schloss Rauischholzhausen 25.-27. September 1987. Hrsg. von RUDOLF SCHÜTZEICHEL/PETER SEIDENSTICKER, Marburg 1990 [Marburger Studien zur Germanistik 13], S. 198-213, hier S. 204f.) von EUGENIO COSERIU übernimmt.

7

Vgl. SEBASTIAN LOBNER: Semantik. Eine Einführung, Berlin, New York 2003, S. 4-13. u. 3 0 0 - 3 0 2 .

8

V g l . STACKMANN ( A n m . 6 ) , S. 2 0 7 .

9

Vgl. HELMUT GIPPER: Gibt es ein sprachliches Relativitätsprinzip? Untersuchungen zur Sapir-Whorf-Hypothese, Frankfurt a. M. 1972 (Conditio humana); siehe auch GEOFFREY Κ. PULLUM: The great Eskimo vocabulary hoax. In: Ders.: The Great Eskimo Vocabulary Hoax and Other Irreverent Essays on the Study of Language, Chicago, London 1991, S. 159-171.

Zum Beispiel mare

31

Beispiel mag die oben getroffene Festlegung des Wortes Begriff im Rahmen sprachwissenschaftlich-semantischer Diskurse dienen. An dieser Stelle erscheint es mir angebracht, der skizzierten Auffassung von Semantik einige alternative Sichtweisen gegenüberzustellen, die immer wieder Erwähnung finden, aber m. E. zur adäquaten Erfassung der Bedeutungsvariation weniger geeignet sind. Dazu möchte ich zunächst etwas differenzierter darauf eingehen, was Konzepte sind. In diesem Zusammenhang wird auf die so genannte Prototypentheorie einzugehen sein und schließlich auf den oben schon erwähnten instrumentalistischen Zugang, die so genannte Gebrauchstheorie der Bedeutung, die im strengen Sinne sogar ohne die Annahme von Konzepten auskommen möchte.

Wörter und Konzepte Konzepte sind in der gängigen Auffassung mentale Repräsentationen von Kategorien von Dingen, die wir in bestimmter Hinsicht als ähnlich betrachten. Viele Konzepte können wir beschreiben. Für die Kategorie ,Buch' besitzen wir ein Konzept ,Buch', das wir kompositionell durch die Verbindung verschiedener anderer Konzepte beschreiben können: es ist ein physisches Objekt, das aus mehreren, gleich großen, meist rechteckigen Seiten Papiers besteht, die bündig aufeinander liegend an einer Seite miteinander verbunden und außen durch zwei Deckel zusammengefasst sind; auf den Seiten befindet sich visuell wahrnehmbare, in der Regel schriftlich kodierte Information. Es gibt aber auch Konzepte, für die es keine Wörter gibt und die wir folglich nur umschreiben können (,die erste Tasse Kaffee am Morgen'). Es gibt schließlich sogar Konzepte, die wir nur sehr schwer oder gar nicht beschreiben können; wir können sie aber paraphrasierend benennen: der Geschmack eines Bordeaux-Weins, die Empfindung, wenn man sich gerade in jemanden verliebt usw.10 Wie Konzepte beschaffen sind, können wir sehen, wenn wir Konzepte beschreiben: wir beschreiben stets die für das jeweilige Konzept notwendigen und hinreichenden Eigenschaften (das ist jedenfalls die auf Aristoteles zurückgehende Auffassung). Damit erfassen wir im Prinzip die Beziehungen, die zwischen unseren Konzepten bestehen. Das ist die Grundidee der strukturalistischen Methode, die ζ. B. nur die Eigenschaften benennt, in denen verschiedene Konzepte ähnlich sind oder sich unterscheiden, die so genannte Merkmalsemantik." Auch die so genannte Wortfeldtheorie geht von dieser strukturalisti10 Vgl. LÖBNER (Anm. 7), S. 256-258.

11 Vgl. u. a. ANNA WIERZBICKA: Semantic Primitives, Frankfurt a. M. 1972 (Linguistische Forschungen 22); Dies.: Semantics. Primes and Universals, Oxford 1996, aber auch MANFRED BIERWISCH: Some Semantic Universals of German Adjectivals. In: Foundations of Language 3 (1967), S. 1-36, dt. Übers, als: Einige semantische Universalien in deutschen Adjektiven. In: Vorschläge für eine strukturelle Grammatik des Deutschen. Hrsg. von HUGO STEGER, Darmstadt 1970 (WdF 146), S. 269-318, sowie Ders.: Seman-

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Jürgen Lenerz

sehen Vorstellung aus.12 Allerdings kann die Idee der Wortfelder leicht zu dem Missverständnis fuhren, der gesamte konzeptuelle Raum sei lückenlos und sauber getrennt von Konzepten erfasst, die jeweils durch eigene Wörter repräsentiert sind. Das ist sicher nicht der Fall, wie man an den vielfältigen Lücken und Überlappungen sieht: bestimmte Konzepte kann man mangels eines Wortes nur umschreiben, für andere Konzepte gibt es mehr oder weniger synonyme Wörter und teilweise sind auch Ober- und Unterbegriff durch einander ersetzbar (Metonymie). Die Vorstellung, dass sich Konzepte durch die Summe ihrer unterscheidenden und (in bestimmter Hinsicht) gleichen (d. h. ähnlichen) Merkmale erfassen lassen, impliziert also keine klaren Abgrenzungen zwischen den Konzepten. Diese wichtige Erkenntnis hat zu einer extrem entgegengesetzten Auffassung geführt, der so genannten Prototypentheorie. Sie bestreitet, dass sich Konzepte durch eine Menge notwendiger und hinreichender Bedingungen erfassen lassen.13 Ihre Ideen sind verführerisch, aber sie ist vermutlich als kognitive Theorie falsch. Auf den ersten Blick sieht es so aus, als bestehe unser Konzept ,Vogel' um ein prototypisches Beispiel (etwa: Rotkehlchen) herum aus immer weniger typischen Beispielen und sei zum Rand hin sogar unscharf. Darauf könnten auch experimentelle Befunde deuten, die die Zeit messen, die man braucht, um verschiedene Exemplare dem Konzept ,Vogel' zuzuweisen. Die Folgerung der Prototypentheorie war, Konzepte seien unscharf, graduell nach Ähnlichkeitsgraden um ein prototypisches Zentrum gruppiert und irgendwie ,ganzheitlich', jedenfalls nicht mit notwendigen und hinreichenden Bedingungen zu erfassen, sondern allenfalls über so genannte .Familienähnlichkeiten'. Das hat eine gewisse Anziehungskraft für Menschen, die analytischen Methoden skeptisch gegenüber stehen. Wirklich erhellend ist es aber nicht und aus verschiedenen Gründen sogar irreführend. Die Tatsache, dass es uns manchmal schwer fällt, eine bestimmte Erscheinung einem Konzept zuzuordnen, bedeutet nicht, dass unsere Konzepte irgendwie ,schwammig' wären. Die Erscheinungen der Welt sind vielfältig und tics. In: New Horizons in Linguistics. Hrsg. von JOHN LYONS, Harmondsworth 1970, S. 166-184, dt. Übers, als: Semantik. In: Neue Perspektiven der Linguistik. Hrsg. von JOHN LYONS, Reinbek b. Hamburg 1975, S. 150-166. 12 JOST TRIER: Der deutsche Wortschatz im Sinnbezirk des Verstandes. Die Geschichte eines sprachlichen Feldes, Bd. 1: Von den Anfängen bis zum Beginn des 13. Jahrhunderts, Heidelberg 1931 (Germanische Bibliothek, Abt. II, Nr. 31); Ders.: Das sprachliche Feld. Eine Auseinandersetzung. In: Neue Jahrbücher für Wissenschaft und Jugendbildung 10 (1934), S. 428-449, wieder in: Wortfeldforschung. Zur Geschichte und Theorie des sprachlichen Feldes. Hrsg. von LOTHAR SCHMIDT, Darmstadt 1973 (WdF 250), S. 129-161; vgl. auch PETER ROLF LUTZEIER: Wort und Feld. Wortsemantische Fragestellungen mit besonderer Berücksichtigung des Wortfeldbegriffes, Tübingen 1981 (Linguistische Arbeiten 103). 13 Vgl. GEORGES KLEIBER: Prototypensemantik. Eine Einfuhrung, 2., Überarb. Aufl., Tübingen 1998; ELEANORE ROSCH: Natural Categories. In: Cognitive Psychology 4 (1973), S. 328-350.

Zum Beispiel

mcere

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überraschend, und wir müssen oft völlig neue Erscheinungen bewerten. Unsere Konzepte selber aber sind stets randscharf: Das Konzept,Vogel' umfasst genau alle Vögel (d. h. alle Vögel und nichts sonst), gleichgültig, ob sie mehr oder weniger ,prototypisch1 sind. Wenn ich lerne oder entdecke, dass auch Pinguine Vögel sind, verändere ich mein Konzept entsprechend. Von einem Tier X kann ich immer sagen: „X ist ein Vogel" oder „X ist kein Vogel" oder „Ich weiß nicht, ob X ein Vogel ist", d. h. mir fehlt entscheidende Information, um sagen zu können, „X ist ein Vogel" oder „X ist kein Vogel". Daran ist nichts Unscharfes. Die Erscheinungen der Welt mögen relativ unscharf sein (ζ. B. das Farbspektrum) - unsere Konzepte sind stets trennscharf, klar und kategoriell (ja / nein): Wenn ich etwa sage: „Dieser Schal ist weder rot noch blau, sondern hat eine Farbe, die irgendwie dazwischen liegt", dann bestätigt das geradezu die Klarheit der Konzepte ,rot' und ,blau', die offenbar fur die Benennung eines violetten Schals nicht hinreichen.14

Gebrauchstheorie der Bedeutung Wenn es um die Bestimmung der Bedeutung von Wörtern in ihrem jeweiligen historischen Kontext geht, dann bietet sich auf den ersten Blick das methodische Vorgehen an, das im Rahmen der so genannten historischen Semantik entwickelt wurde. Hier lassen sich verschiedene Forschungsrichtungen und verschiedene Forschungsinteressen unterscheiden. Zum einen geht es um das Phänomen des Bedeutungswandels.15 Zum anderen geht es um die möglichst differenzierte Herausarbeitung aller Bedeutungsnuancen von Wörtern in bestimmten Diskursen, um zu einer Mentalitäts-, Sozial- oder Geistesgeschichte bestimmter Epochen beizutragen.16 Im Bereich der Germanistik ist beiden

14 JERRY FODOR/ERNEST LEPORE ( T h e red herring and the p e t fish: w h y c o n c e p t s still

can't be prototypes. In: Cognition 58 [1996], S. 253-270) zeigen, dass kein Konzept ,prototypisch' sein kann, da man sonst keine neuen Konzepte bilden könnte: Konzepte müssen kompositionell sein. ANNA WIERZBICKA (.Prototypes save': on the uses and abuses of the notion of .prototype' in linguistics and related Fields. In: Meaning and Prototypes: Studies in linguistic categorization. Hrsg. von SAVIS L. TSOHATZIDIS, London, N e w York 1990, S. 347-367) führt den Nachweis, dass stets eine kompositionelle semantische Beschreibung möglich ist. 15

V g l . KELLER, Z e i c h e n t h e o r i e ( A n m . 2), S. 1 6 0 - 2 1 8 , s o w i e RUDI KELLER: S p r a c h w a n d e l .

Von der unsichtbaren Hand in der Sprache, 3., durchges. Aufl., Tübingen, Basel 2003; D e r s . / I U A KIRSCHBAUM: B e d e u t u n g s w a n d e l .

Eine Einführung, Berlin 2 0 0 3 ;

GERD

FRITZ: Historische Semantik, Stuttgart, Weimar 1998 (Sammlung Metzler 313) und viele der dort genannten Untersuchungen; für den Bereich der Romania vgl. BLANK (Anm. 3): hier liegt allerdings eine strukturalistisch geprägte repräsentationistische Herangehensweise vor. 16

V g l . a l l g e m e i n d a z u FRITZ ( A n m . 1 5 ) und DIETRICH BUSSE: H i s t o r i s c h e S e m a n t i k . A n a -

lyse eines Programms, Stuttgart 1987 (Sprache und Geschichte 13), sowie die dort genannte Literatur.

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Jürgen Lenerz

Richtungen gemeinsam, dass sie von einer gebrauchstheoretischen Semantik ausgehen, also eine instrumentalistische Interpretation des Bedeutungsbegriffes zu Grunde legen. Nach dieser Auffassung ergibt sich die Bedeutung eines Wortes jeweils nur in seiner aktuellen Verwendung. Die häufig zitierte Stelle aus den Philosophischen Untersuchungen von LUDWIG WITTGENSTEIN soll hier nicht fehlen: „Man kann für eine große Klasse von Fällen der Benützung des Wortes ,Bedeutung' - wenn auch nicht fur alle Fälle seiner Benützung - dieses Wort so erklären: Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache. Und die Bedeutung eines Namens erklärt man manchmal dadurch, dass man auf seinen Träger zeigt."17 Die Hinwendung zu einem instrumentalistischen Bedeutungskonzept hat im wesentlichen forschungsgeschichtliche Gründe. Die so genannte pragmatische Wende in der Sprachwissenschaft gegen Ende der 1960er Jahre bot die ideale Gelegenheit für ein Wiederaufleben des Interesses an der aktuellen Äußerungsbedeutung und - im Gegensatz zu strukturalistischen Ansätzen in der Semantik (Merkmalsemantik) - die Anbindung der Bedeutungsanalysen an die Lebenswelt der Sprecher und Hörer im Diskurs. Damit stehen sich eine strukturalistische repräsentationistische und eine instrumentalistische Auffassung auch aufgrund diverser erkenntnistheoretischer und wissenschaftsgeschichtlicher Auseinandersetzungen ziemlich unversöhnlich gegenüber. Jedenfalls ist das für den Bereich der Germanistik zu konstatieren. In der Romanistik ist aufgrund einer anders verlaufenden Forschungsgeschichte eine Anbindung der historischen Semantik und der Erforschung des Bedeutungswandels an eine strukturalistische Tradition durchaus gegeben.18 Das Dilemma besteht gegenwärtig darin, dass eine repräsentationistische Auffassung zwar ein geeignetes begriffliches Instrumentarium zur genauen Analyse der hinter den Wörtern stehenden Konzepte bereit stellt, sie sich im Allgemeinen für diese aber in der derzeit gängigen Ausprägung der logischen Semantik kaum interessiert. Andererseits versucht der instrumentalistische Zugang der historischen Semantik, der sich eigentlich genau fur die Konzepte interessiert, ohne die Annahme von ,Konzepten' auszukommen und nur .Verwendungsweisen' anzuerkennen. Bei Licht besehen schließen sich beide Positionen aber nicht aus, sondern ergänzen einander in recht naheliegender Weise. 19 Wörter referieren ja nicht von selbst, sondern Sprecher benutzen Wörter, um auf bestimmte Aspekte der Welt zu referieren, und Hörer können diese Referenz nachvollziehen. Hierin liegt der gebrauchstheoretische Aspekt. Der repräsentationistische Aspekt 17 LUDWIG WITTGENSTEIN: Philosophische Untersuchungen. In: Ders.: Werkausgabe, Bd. 1: Tractatus logico-philosophicus, Tagebücher 1914-1916, Philosophische Untersuchungen, Frankfurt a. M. 9 1993, § 43; zur möglichen Deutung vgl. KELLER, Zeichentheorie (Anm. 2), S. 58-70 und GLONING (Anm. 4), S. 63-84; vgl. auch BLANK, Einführung (Anm. 3), S. 7. 18

V g l . d i e A r b e i t e n v o n BLANK ( A n m . 3 ) .

19 Vgl. auch KELLER, Zeichentheorie (Anm. 2), S. 65-70; GLONING (Anm. 4), S. 193-221.

Zum Beispiel mare

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sprachlicher Ausdrücke ergibt sich, wenn man sich darauf bezieht, wozu man Wörter verwendet. Auch eine Beschreibung der Gebrauchsbedingungen eines Ausdrucks wie mein Geiz muss den referenziellen Aspekt enthalten: Wenn man die Bedeutung (die richtige Verwendung) des Ausdrucks mein Geiz kennt, dann weiß man, dass man ihn (normalerweise) benutzen kann, um auf eine bestimmte Eigenschaft des Sprechers (von einem selbst also) zu referieren, die darin besteht, in einem von den Mitmenschen als übermäßig erachteten Maße die Ausgabe von Geld zu vermeiden. Man nennt dies normalerweise und von konkreten Gebrauchssituationen abstrahierend die ,Bedeutung' des Ausdrucks mein Geiz. Das gilt entsprechend iur die meisten Ausdrücke der Sprache,20 auch wenn der .Gegenstand' der Referenz ziemlich abstrakt ist. Man kann eben nicht nur auf konkrete Gegenstände referieren (mein Schreibtisch), sondern auch auf Eigenschaften (grün), Beziehungen zwischen Gegenständen (auf, unter), Ereignisse (Peter lachte gestern) usw.

Bedeutungsvielfalt: Konzeptuelle Verschiebung Kommen wir aber nun auf die Unterscheidung in Ausdrucks- und Äußerungsbedeutung zurück. Zwischen beiden vermitteln bestimmte Mechanismen unserer Wahrnehmung. Zunächst handelt es sich um die Möglichkeit der referenziellen Verschiebung, die wir meist mit den oben angesprochenen Termini intension' und »Extension' ansprechen. Der Ausdruck das Buch hat eine bestimmte, uns bekannte Intension, die sich in etwa umschreiben lässt als: ,das im gegebenen Kontext saliente Individuum aus der Menge genau aller Bücher'. 21 Die verschiedenen Extensionen Anna Karenina oder Krieg und Frieden ergeben sich in den verschiedenen Kontexten Α und B: A: B:

Ich habe gerade ,Αηηα Karenina' gelesen. Das Buch A hat mir sehr gefallen. Ich habe gerade ,Krieg und Frieden' gelesen. Das Buch B hat mir sehr gefallen.

Hier handelt es sich referenziell um verschiedene Bücher (BuchA vs. BuchB)\ Dass der jeweilige Kontext aber auch für andere Aspekte der Bedeutungsvariation verantwortlich sein kann, zeigt sich bei folgenden Beispielen: (1) (2) (3) (4)

Das Das Das Das

Buch Buch Buch Buch

ist interessant. ist dick und schwer. kostet 13,00 €. kann man sich aus dem Internet

herunterladen.

20 Neben der rein referenziellen Bedeutung gibt es auch eine soziale (du vs. Sie) und eine emotive Bedeutung (leider); vgl. LÖBNER (Anm. 7), S. 45. 21 Vgl. KLAUS VON HEUSINGER: Salienz und Referenz. Der Epsilonoperator in der Semantik der Nominalphrase und anaphorischer Pronomen, Berlin 1997 (Studia Grammatica 43).

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In diesem Fall kann eine referenzielle Identität (Buchc) gegeben sein: (5)

Das B u c h c ist interessant, aber (esc ist) auch dick und schwer, und e s c kostet 13,00 €; man kann esc sich aber auch aus dem Internet herunterladen.

In (1) ist der Inhalt des Buches angesprochen, in (2) das Buch als konkretes physisches Objekt, in (3) das Buch als Handelsware, egal, in welcher Form es vorliegt, etwa auch als elektronische Version wie in (4), wo der Text des Buches gemeint ist. Die hier exemplifizierten verschiedenen Lesarten kann man mit B I E R W I S C H 2 2 als konzeptuelle Verschiebungen ansehen. Damit ist Folgendes gemeint: Es gehört zu unserem Wissen, dass es so etwas wie ,Bücher' gibt, und wir kennen deren Eigenschaften: Das Wesentliche an Büchern ist wohl deren schriftlich oder bildlich fixierter Informationsgehalt (der ,Text') und ihre Form (rechteckig, mehrere Seiten, meist Papier, Bucheinband etc.). Dieses Wissen können wir als die Kenntnis des Konzeptes ,Buch' bezeichnen, und es steht in Verbindung zu anderen Konzepten unseres Wissens (»Handelsware1, ,physisches Objekt' etc). Wörter wie ζ. B. das Wort Buch sind also lediglich eine Art Zeiger, die auf dieses Wissen und auf die mit ihm assoziierten Konzepte verweisen. Diese so genannten konzeptuellen Verschiebungen kann man in gewisser Weise als Schablonen unseres kognitiven Apparates deuten, die die jeweils kontextadäquate Konzeptualisierung ermöglichen, und sie sind fast allgegenwärtig. Die mit einem Begriff konventionell verbundenen konzeptuellen Verschiebungen können aber von Wort zu Wort und von Sprache zu Sprache jeweils leicht verschieden sein. Und genau dies ist der Grund, weshalb es für eine historische Semantik notwendig ist, die jeweiligen Möglichkeiten einer solchen konzeptuellen Verschiebung genau zu beschreiben. Man könnte die konzeptuelle Verschiebung als eine spezifische Art der Polysemie auffassen. Es ist aber wahrscheinlich besser, beide Arten von Bedeutungsvielfalt zu unterscheiden, auch wenn die Unterscheidung im Einzelfall nicht immer leicht ist.23 Polysemie im engeren Sinn liegt nur dann vor, wenn mit einem Wort verschiedene Konzepte verbunden sind (die sich u. U. historisch durch mehrfache Verschiebungen ergeben haben). Polysemien notiert man in Wörterbüchern häufig durch verschiedene Indizierung, so etwa, wenn man Gangι

f ü r d i e A r t z u g e h e n , Gang?

f ü r e i n G e b ä u d e t e i l u n d Gangs

für eine

24

Übersetzung der Kraftübertragung bei Fahrzeugen unterscheidet. Konzeptuelle Verschiebungen wie bei Schule (Institution, Gebäude, Prozess etc.) werden in der Regel im Wörterbuch zwar vermerkt, aber nicht durch Indizierung unterschieden.25 Als Test zur Unterscheidung von Polysemie und konzeptueller 22 MANFRED BIERWISCH: Semantische und konzeptuelle Repräsentation lexikalischer Einheiten. In: Untersuchungen zur Semantik. Hrsg. von RUDOLF RÜ2ICKA/WOLFGANG MÖTSCH, Berlin 1983 (Studia Grammatica 22), S. 61-99. 23 Vgl. LÖBNER (Anm. 7), S. 60-63 u. 67-77. 24 Vgl. für diese und andere Lesarten etwa DUDEN: Deutsches Universalwörterbuch, 4., neu bearb. und erw. Ausg. Hrsg. von der Dudenredaktion, Mannheim u. a. 2001, S. 596. 25 Vgl. DUDEN (Anm. 24), S. 1409f. zum Lemma Schule.

Zum Beispiel mare

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Verschiebung mag die referenzielle Identität dienen, die oben in Beispiel (5) nachgewiesen wurde. Wie BLANK 2 6 feststellt, ist sie nur bei konzeptueller Verschiebung möglich, nicht bei Polysemie! Die wesentlichen Untertypen der konzeptuellen Verschiebung sind: Metonymie, Metapher, Bedeutungserweiterung und Bedeutungsdifferenzierung. Möglicherweise sind Bedeutungserweiterung und Bedeutungsdifferenzierung nur Sonderfälle der Metonymie, und auch Metonymie und Metapher sind nur zwei Spielarten der konzeptuellen Verschiebung, wie es auch die Definitionen im Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft nahe legen: Metonymie. Ein im übertragenen Sinne gebrauchter sprachlicher Ausdruck, der mit d e m Gemeinten durch eine Beziehung der faktischen Verknüpfung zu verbinden ist. 27 Metapher. Ein im übertragenen Sinne gebrauchter sprachlicher Ausdruck, der mit dem Gemeinten durch eine Ähnlichkeitsbeziehung zu verbinden ist. 28

Halten wir fest: Konzepte sind so beschaffen, dass sie eine Vielzahl verschiedener, aber für eine Sprach- und Kulturgemeinschaft hinreichend ähnlicher Erscheinungen der Welt zusammenfassen. Somit müssen sie von spezifischen Eigenschaften einzelner Erscheinungen abstrahieren, und in genau diesem Sinne sind sie hinreichend vage. Spezifische Einzelfalle erfordern demnach eine jeweils adäquate konzeptuelle Verschiebung oder Differenzierung. Diese Verschiebungen können ihrerseits mit dem betreffenden Begriff usuell verbunden sein, also quasi konventionell mit zur Wortbedeutung (im Sinne von .mögliche Äußerungsbedeutungen') gehören, oder sie können okkasionell sein. Usuelle konzeptuelle Verschiebungen liegen etwa vor, wenn man mit Schule, wie BlERWISCH 29 gezeigt hat, neben der Institution den Prozess und das Gebäude bezeichnen kann. Eine okkasionelle metonymische konzeptuelle Verschiebung liegt etwa im Deutschen vor, wenn man alle Hände an Deck! befiehlt; im Englischen ist diese Metonymie usuell! Im Bereich der metaphorischen Verschiebung sind der Fuß des Gebirges oder der Bergrücken durchaus als usuell zu bewerten, während der kahle Schädel des Berges sicher eine okkasionelle Metapher darstellt. Neben der metonymischen und metaphorischen konzeptuellen Verschiebung ist immer auch die Möglichkeit einer referenziellen Verschiebung vor26 BLANK, Einführung (Anm. 3), S. 108; er nennt dieses Phänomen „Kontextvarianz". 27 HENDRIKBIRUS: Art. .Metonymie'. In: RLW, Bd. 2 (2000), S. 588-591, hier S. 588. 28 Ders.: Art. .Metapher'. In: RLW, Bd. 2 (2000), S. 571-576, hier S. 571. 29

BIERWISCH ( A n m . 2 2 ) , S. 7 7 - 9 4 ; v g l . a u c h d i e A r b e i t e n v o n BIERWISCH und LANG ZU

den Dimensionsadjektiven in: Grammatische und konzeptuelle Aspekte von Dimens i o n s a d j e k t i v e n . H r s g . v o n MANFRED BIERWISCH/EWALD LANG, B e r l i n 1 9 8 7 (Studia

Grammatica 26/27). Eine gute Kurzfassung bietet: EWALD LANG: Gestalt und Lage räumlicher Objekte: Semantische Struktur und kontextuelle Interpretation von Dimensionsadjektiven. In: Grammatik und Kognition. Psycholinguistische Untersuchungen. Hrsg. von JOSEF BAYER, Opladen 1987 (Linguistische Berichte, Sonderheft 1), S. 163191.

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handen. Dies liegt vor, wenn man sich mit der Nominalphrase (NP) ein Buch sowohl auf die Kategorie (d. h. alle Bücher) beziehen kann (Ein Buch ist ein wertvoller Gegenstand), aber auch auf ein beliebiges unspezifisches oder spezifisches Buch (Ich möchte mir ein Buch kaufen, ich weiß aber noch nicht, welches / und ich weiß auch schon welches). Diese und ähnliche Lesarten sind geläufig, ihre Semantik ist einigermaßen erforscht.30

2. Zum Beispiel mcere Um den jeweils zutreffenden Sinn von Texten oder Textbestandteilen, einzelnen Wörtern oder Wortgruppen zu erschließen, bedient man sich altbewährter hermeneutischer Methoden. Bei aller möglichen Verfeinerung der Hermeneutik verlässt man sich dabei im Grunde immer auf seine Erfahrung mit Texten in gesprochener oder geschriebener Form, kurz auf das Sprachgefühl für seine Muttersprache.31 Auch fur andere Sprachen kann man in gewissem Maße ein Sprachgefühl entwickeln, also auch für das Mittelhochdeutsche. Das Problem ist lediglich, dass wir das Sprachgefühl für das Mittelhochdeutsche nicht interaktiv mit Muttersprachlern überprüfen können. Immer aber sind jeweils interpretatorisch festzustellende Bedeutungsnuancen oder Bedeutungsvarianten in ihrem jeweiligen Kontext im Grunde auf die gleichen kognitiven Mechanismen zurückzuführen, die wir aus der sprachlichen Erfahrung in unserer Muttersprache kennen: Metonymie, Metapher, Bedeutungserweiterung und Bedeutungsdifferenzierung sind mutmaßlich universelle Aspekte der Bedeutungsvielfalt. So kann man ζ. B. mit einer Geschichte} (engl, story) ein Ereignis bezeichnen oder einen Bericht über ein Ereignis; entsprechend hat das polysem zugehörige Wort Geschichte2 - historia (engl, history) mindestens die konzeptuellen Verschiebungen, mit denen man sich auf das historische Geschehen, die Wissenschaft davon oder das Schulfach beziehen kann. Auch die Lammkeule kann gefroren, roh, gebraten oder verbrannt konzeptualisiert werden, ja sogar als Rezept oder als Person, die eine Lammkeule bestellt hat usw. Referenzielle Verschiebungen sind ebenso geläufig. Immer handelt es sich um Verschiebungen, Spezifizierungen, Differenzierungen, um kontextspezifische Varianten eines abstrakten Grundkonzepts, um spezifische Äußerungsbedeutungen, die einer relativ vagen Ausdrucksbedeutung im jeweiligen Kontext zuzuordnen 30

V g l . VON HEUSINGER ( A n m . 2 1 ) .

31 Das gilt natürlich auch fur den Sprachwissenschaftler, wie CHRISTOPH HUBER (Wortund Bildnetze zum Textbegriff im nachklassischen mittelhochdeutschen Romanprolog [Rudolf von Ems, Konrad von Würzburg], im vorliegenden Band S. 263-285, hier S. 273) richtig vermerkt. Vgl. auch seinen Hinweis auf die einschlägigen Arbeiten von BUSSE ( A n m . 1 6 ) und DIETRICH BUSSE/WOLFGANG TEUBERT: Ist D i s k u r s e i n sprach-

wissenschaftliches Objekt? In: Begriffsgeschichte und Diskursgeschichte. Methodenfragen und Forschungsergebnisse der historischen Semantik. Hrsg. von D. Β ./FRITZ HERMANNS/W. T., Opladen 1994, S. 10-28.

Zum Beispiel mcere

39

sind und die sich durch zusätzlich hinzukommende Bedeutungskomponenten ergeben. Genau das Gleiche lässt sich im Bereich der literarischen Leitvokabeln in mhd. Texten beobachten. Exemplarisch zeigt das K L A U S G R U B M Ü L L E R 3 2 für den Begriff ,buoch'. Neben der konkreten Übersetzungsvorlage in Gestalt einer bestimmten Handschrift kann damit zugleich eine bestimmte Textversion gemeint sein (ebd. S. 37f.), die ihrerseits zwar konkret als physisches Objekt vorhanden ist, gleichzeitig aber den Inhalt als wahr bestätigt, über Geschehenes berichtet, den Ruhm des Protagonisten verkündet, Gewänder beschreibt etc. Eine metaphorische Verschiebung liegt vor, wenn das Buch spricht und man es hören kann; die Geläufigkeit, mit der dies Verwendung findet, deutet auf eine usualisierte Metapher hin (ebd. S. 38). Besonders deutlich wird die konzeptuelle Verschiebung dort, wo pronominal mit je verschiedener Bedeutungsvariante auf das gleiche Buch referiert wird; ein deutliches Zeichen dafür, dass keine Polysemie vorliegt, sondern lediglich eine jeweils kontextadäquate konzeptuelle Differenzierung (ebd. S. 41) wie etwa in Heinrichs von Veldeke Eneasroman", V. 13506-13: als ez dä tihte Heinrich, derz üzer welschen buchen las, da ez von latine getihtet was al nach der wärheide. diu buch heizent Eneide, diu Virgiljüs dä von screib, von dem uns diu rede bleib, der tot is über manech jär.

13510

Die Bedeutungsvarianten .konkrete Vorlage', »Handschrift', .Quelle', .Aufzeichnung der Ereignisse', ,Bericht', ,Inhalt' sind als natürlich gegebene konzeptuelle Verschiebungen, Differenzierungen, Spezifizierungen des gleichen Begriffs buoch anzusetzen. Ja, sogar der qua materieller Vorlage zunächst stets implizierte Wahrheitsanspruch wird später in parodierender Ironisierung in Fiktionalität verwandelt, so dass neben die Bedeutungsvariante ,wahre Geschichte' die kontextuelle Variante ,erfundene Geschichte' treten kann. Referenzielle Verschiebungen sind selbstverständlich zu finden. Neben der unspezifischen Verwendung die buch elliu samt in V. 7518 des Rolandslieds (vgl. ebd. S. 39) und der generischen in Hartmanns ein ritter so geleret was, / daz er an den buochen las finden sich natürlich auch spezifische und definite Referenzen. 32

KLAUS GRUBMÜLLER: D a s buoch

und d i e Wahrheit. A n m e r k u n g e n z u d e n Q u e l l e n b e r u -

fungen im Rolandslied und in der Epik des 12. Jahrhunderts. In: bickelwort und wildiu mcere. Festschrift für Eberhard Nellmann zum 65. Geburtstag. Hrsg. von DOROTHEE LINDEMANN/BERNDT

VOLKMANN/KLAUS-PETER

WEGERA,

Göppingen

1995

(GAG

6 1 8 ) , S. 3 7 - 5 0 .

33 Heinrich von Veldeke: Eneasroman. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Nach dem Text von LUDWIG ETTMÜLLER ins Neuhochdeutsche übers., mit einem Stellenkommentar und e i n e m N a c h w o r t v o n DIETER KARTSCHOKE, Stuttgart 2 0 0 2 ( R U B 8 3 0 3 ) .

40

Jürgen Lenerz

Überzeugend zeigt Ähnliches auch KLAUS PETER WEGERA in seiner Studie zum Begriff der ,äventiure', in der er versucht, „die konzeptionelle Verknüpfung der einzelnen Bedeutungsvarianten herauszuarbeiten."34 Dabei rekonstruiert er sie um einen semantischen Kern („Geschehen" -> „Wiedergabe eines Geschehens") herum und beschreibt die Bedeutungsvarianten „im Sinne von WITTGENSTEINS Familienähnlichkeit als eng auf einander bezogene Glieder (Bedeutungsvarianten) einer Bedeutungs- oder Konzeptfamilie" (ebd. S. 234). Im einzelnen zeigt WEGERA, wie die Bedeutungsvarianten „unvorhersehbares Ereignis, Zufall, Geschick, Schicksal" und „risikoreiches Unternehmen, ritterliche Herausforderung, Kampf konzeptuell zusammenhängen und sich je nach Kontext als Differenzierungen ergeben (vgl. ebd. das Schaubild S. 234). Hinzu kommt die (auch literarisch wichtige) Konnotation ,Artusdichtung". Zur literarischen Funktion findet sich der interessante Hinweis, dass der größte Grad an Differenziertheit wohl im Parzival erreicht sei. Kann man das so verstehen, dass Wolfram geradezu alle denkbaren Bedeutungsvarianten zu ergründen und zu demonstrieren versucht, um so das zentrale Konzept der äventiure möglichst umfassend darzustellen? Den gleichen Befund kontextuell bedingter Bedeutungsvarianten, die sich als konzeptuelle Verschiebungen eines relativ vagen Kernbegriffes ergeben, ermittelt MANFRED EIKELMANN, der die Verwendungsweisen des Wortes Sprichwort untersucht und dabei die Varianten »konkreter Spruch, dessen Wahrheitsgehalt durch Tradierung und Alter bezeugt sind', .formelhafte Zitateinleitung', .anonyme Sentenzen, weiteres Textgut der kollektiven Überlieferung', .Element des allgemeinen Sprachgebrauchs', .stetig wiederholte Rede' feststellt35 und zudem die übliche Metaphorisierung konstatiert, dass daz Sprichwort dä spricht (Heinrich von Freiberg, Tristan* V.154). Klar ist in allen genannten Beispielen, dass die jeweiligen Wörter nicht im Sinne nhd. (literaturwissenschaftlicher) künstlicher Termini verwendet werden, also nicht in einer bewusst gesetzten Präzisierung und Fixierung des begrifflichen Inhalts, sondern dass es sich um natürlich gegebene vage Begriffe handelt, deren Bedeutungsvielfalt in verschiedenen Kontexten demonstriert wird. EIKELMANN umreißt diese Erkenntnis für das Wort Sprichwort folgendermaßen: Führt man alle beschriebenen Einzelmerkmale zusammen, so kommt dem Ausdruck Sprichwort ein Begriffskonzept zu, das auf der kollektiven Überlieferungs- und Verwendungsweise der Texte und ihrer Präsenz im alltäglichen Sprechen basiert, 34 KLAUS-PETER WEGERA: „mich enhabe diu äventiure betrogen ". Ein Beitrag zur Wortund Begriffsgeschichte von äventiure im Mittelhochdeutschen. In: Das Wort. Seine strukturelle und kulturelle Dimension. Festschrift für Oskar Reichmann zum 65. Geburtstag. Hrsg. von VLLMOS ÄGEL U. a., Tübingen 2002, S. 229-244, hier S. 229. 35 Vgl. MANFRED EIKELMANN: Studien zum Sprichwort im Mittelalter. Gattungsbegriff, Überlieferungsformen und Verwendungsweisen. 2 Bde., Habilitationsschrift Göttingen 1994, hier Bd. 1,S. 26. 36 Heinrich's von Freiberg Tristan. Hrsg. von REINHOLD BECHSTEIN, Leipzig 1877 (Deutsche Dichtungen des Mittelalters 5).

Zum Beispiel mcere

41

das darüber hinaus vorrangig Texte mit fest geprägter und konzis gefasster Spruchform meint. Um Texte handelt es sich zumeist, die als gültige Erfahrungssätze kommentierend und belehrend auf bestimmte Lebenssituationen bezogen werden. Allerdings ist gegen eine solche Integration der einzelnen Merkmale kritisch zu halten, dass der Begriffsinhalt in dieser expliziten Fassung nirgends belegt [ist] und nur ex post rekonstruiert werden kann. 37

Der einschränkende Nachsatz („Allerdings ...") versteht sich indessen von selbst, wenn man das von mir propagierte Konzept der konzeptuellen Verschiebung in Anschlag bringt: Jede Kontextvariante kann ja nur in ihrem jeweiligen Kontext auftreten, und die zu ihrer Beschreibung notwendigen zusätzlichen Bedeutungsmerkmale sind nicht in der Ausdrucksbedeutung festgelegt, sondern stellen lediglich Optionen zur Spezifizierung in der jeweiligen Äußerungssituation dar. Eine zentrale Leitvokabel, die in den poetischen Texten selbstreflexiv verwendet wird, ist mcere. In der germanistischen Mediävistik ist um sie bekanntlich ein regelrechter ,Begriffs-' und ,Gattungsstreit' entbrannt, der hier nur kurz in Erinnerung zu rufen ist , weil die Schwierigkeiten der heutigen literaturwissenschaftlichen Begriffsbildung von Märe fraglos auch von der zeitgenössischen Bedeutungsvielfalt des mhd. mcere mitverursacht sind. Seine Verwendungsweisen lassen sich gut anhand des Beitrags von C H R I S T O P H HUBER 39 in diesem Band exemplifizieren. Meere bezieht sich in seinen Belegen auf den „Erzählvortrag" der Geschichte (ebd. S. 279), dann aber auch auf die „positive Qualität von Geschichten überhaupt" (S. 267f.; guoti meer) sowie auf die „konkrete] [...] Quelle des Dichters" (S. 268). Die konkret vorgetragene Geschichte (äventiure) erfüllt die Anforderungen an meeren überhaupt („alle möglichen Geschichten, [...], die zu erzählen und zu hören sich ziemt"; S. 268) 40 Insgesamt bewegt sich die Bedeutung „zwischen Geschehen und Geschichte, zwischen Stoff und konkretem Erzähltext, zwischen Erzähltradition und bestimmter Quelle, ja materialer Vorlage" (S. 269). Weiter kann mcere für den Stoff sowie die Äußerungsform (senemeere) stehen und inhaltlich wie stilistisch bewertet werden (wilde mcere), aber in den rezeptions- und produktionstheoretischen Passagen der Willehalm-Piologe Rudolfs von Ems auch hinsichtlich der ,,Wert[e] und Bedürfniss[e] des Wunschpublikums" oder der „Erfordernisse des Stoffes" (S. 276), also auch in ethischer oder ästhetischer Hinsicht. 37

EIKELMANN (ANM. 3 5 ) , B d . 1, S. 2 9 f .

38 Einen Überblick über die Diskussion gibt HANS-JOACHIM ZIEGELER: Erzählen im Spätmittelalter. Mären im Kontext von Minnereden, Bispein und Romanen, München 1985 (MTU 8 7 ) , S. 3 - 2 8 . 39 HUBER (Anm. 31); für die Überlassung seines Manuskripts danke ich Christoph Huber herzlich. 40 Vgl. Rudolfs von Ems Willehalm von Orlens (Hrsg. aus dem Wasserburger Codex der Fürstlich Fürstenbergischen Hofbibliothek in Donaueschingen von VICTOR JUNK, Berlin 1905 [DTM 2]), V. 119-123: Disu aventüre wert / Swes ieman von mären gert, / Des man den ere gernden sol /Sagen und in gezimet wol/Ze h6re ane missetat.

Jürgen Lenerz

42

Damit liegt nun aber wiederum kein Mangel an begrifflicher Schärfe vor, wie verschiedentlich behauptet wird, sondern eine Bedeutungsvielfalt, die sich aus sprachwissenschaftlicher Perspektive wie folgt analysieren lässt: Nicht nur die Mehrzahl der Belege, sondern auch die Möglichkeit der Attribuierung, insbesondere der Bewertung, legen nahe, als Kernbedeutung von mcere die .erzählte Geschichte' anzusehen. Das resultiert auch daraus, dass mcere in diesem Sinne verstanden wird, wenn es (im artikellosen Plural) unbestimmt oder generisch verwendet wird wie im deutschen Lucidarius (V. 4f.: Swer gerne vremde mere / von der schrift vornemen will ... 41 ) bzw. in Rudolfs von Ems Willehalm von Orlens (V. 33f.: Und lasse komen ainen man, / der güti mar erkennen kann

...42). Generische Verwendung (vgl. nhd.: die Römer spinnen) findet sich in Rudolfs Willehalm aber durchaus auch mit dem bestimmten Artikel im Plural bei diu mcere, V. 9735-39: Die dise aventüre hant Von mir vernomen und sich verstant Ze rehter guter märe wol, Als man verstan diu mare sol Bi mären, bi der Sprüche kraft ...43

9735

Gemeint ist „das Erzählen allgemein mit seinen ihm eigentümlichen Regeln"44. Damit werden die referenziellen Verschiebungen von mcere abgedeckt: die einzelne (spezifische oder unspezifische) Geschichte, Geschichten überhaupt oder die generische .Spezies' Geschichte. Dies ist insofern nichts Besonderes: Ähnliches findet sich in der Verwendung aller natürlichen Konzepte. Neben diesen referenziellen Verschiebungen liegen bei mcere aber auch konzeptuelle Verschiebungen vor: das mcere als Geschehenes, als Ereignis, von dem der Dichter berichtet, ist vermutlich eine solche metonymische Verschiebung. Diese metonymische Verschiebung von der ,Erzählung über ein Ereignis' zu .Ereignis' findet sich vielfach, auch im nhd. Wort Geschichte, wobei sich die Beziehung zwischen Kernbedeutung und konzeptuell verschobener Bedeutung offenbar im Bedeutungswandel umgekehrt hat, wie die etymologische Verwandtschaft zu Geschehen zeigt. Den Zusammenhang der Bedeutungsvarianten von mcere skizziert HUBER 4 5 selber unter Bezug auf SIGRID MÜLLER-

41 Der deutsche Lucidarius.

Bd. 1: Kritischer Text nach den Handschriften. Hrsg. von

D A G M A R GOTTSCHALL/GEORG

STEER, T ü b i n g e n

1994

(TTG

35),

S. 102*;

HUBER

(Anm. 31), S.265, übersetzt: „Jeder, der fremde Kunde in schriftlicher Überlieferung kennenlernen will...". 42 Rudolf von Ems (Anm. 40). 43 HUBER (Anm. 31), S. 278, übersetzt: „Diejenigen, die diese aventiure von mir vernommen haben und sich auf rechte, vortreffliche mcere gut verstehen, so wie man die mcere von rechts wegen verstehen soll, durch die Erzählung von mceren und durch die Kraft der sprachlichen Prägungen [, die wissen genau usw.]." 44 Ebd. S. 278. 45

HUBER ( A n m . 3 1 ) , S. 2 7 0 f . , Anm. 20.

Zum Beispiel mcere

43

KLEIMAN1M46:

Zur Kernbedeutung .Mitteilung' treten der .Vorgang des Mitteilens', der .Inhalt der Mitteilung' sowie dieser Inhalt ,in literarischer Verwendung' und schließlich auch die .Vorlage'. Vom Akt des Mitteilens verschiebt sich das Konzept auf das .Medium' der Mitteilung. Dazu gehören weitere konzeptuelle Verschiebungen, die Stoff, Form, Struktur, Inhalt etc. der Erzählung betreffen und ihrerseits bewertbar sind. Damit liegt eine Anzahl von Äußerungsbedeutungen vor, die sich systematisch als referenzielle und konzeptuelle Verschiebungen einer Kernbedeutimg ableiten lassen. Diese Ableitungen gehören zur sprachlich gegebenen Struktur natürlicher kultureller Konzepte. Insofern findet hier an sich nichts Besonderes statt. Was allerdings auffällt, ist die argumentative Dichte, das virtuose Spiel mit schnell gegeneinander gesetzten Bedeutungsvarianten, der rasche Wechsel der Äußerungsbedeutungen ohne umfängliche kontextuelle Hinweise, kurz das, was HUBER „ein Kabinettstück der Argumentationskunst"47 nennt und überzeugend analysiert. Zusätzlich zu diesen referenziellen und usuellen konzeptuellen Verschiebungen finden sich natürlich auch okkasionelle konzeptuelle Verschiebungen sowie metaphorische Verschiebungen. Dafür liefert BEATE KELLNERS Beitrag in diesem Band 48 viele Beispiele. Sie geht insbesondere der Frage nach dem Verhältnis von Autorschaft und Texttradierung nach. Dazu analysiert sie die poetologischen Leitvokabeln hinsichtlich ihrer „Stabilität respektive .Vagheit', oder besser Offenheit" (ebd. S. 235). Dabei zeigt sich in den von ihr untersuchten Texten eine größere Freiheit der begrifflichen Variation, die stärker okkasionell geprägt ist und sich über den usuell und umgangssprachlich gegebenen Rahmen der konzeptuellen Verschiebungen, wie sie natürlichen Begriffen in der Regel innewohnt, deutlich hinaus bewegt. Ich beginne mit den von KELLNER analysierten Versen aus dem Prolog von Herborts von Fritzlar Liet von Troye49 (V. 47-61), die ich hier wiederhole: Diz buch ist franzoys vnd walsch, sin fuge ist gantz vnd ane falsch. zv kriechen was sin erste stam, in latin ez dannen quam,

50

46 SIGRJD MÜLLER-KLEIMANN: Gottfrieds Urteil über den zeitgenössischen deutschen Roman. Ein Kommentar zu den Tristanversen 4619-4748, Stuttgart 1990 (Helfant-Stud i e n 6 ) , S. 1 1 - 1 4 .

47 HUBER (Anm. 31). S. 278. 48 BEATE KELLNER: daz alte buoch von Troye [...] daz ich ez welle erniuwen. Poetologie im Spannungsfeld von .wiederholen' und .erneuern' in den Trojaromanen Herborts von Fritzlar und Konrads von Würzburg, im vorliegenden Band S. 231-262. Für die Möglichkeit, ihren Beitrag hier vorab verwerten zu dürfen, danke ich Frau Kellner herzlich. 4 9 Herbort's von Fritslär liet von Troye. Hrsg. von KARL FROMMANN, Quedlinburg, Leipzig 1837 (Bibliothek der gesammten deutschen National-Literatur 5), Nachdruck Amsterdam 1966; ich folge den an der Haupthandschrift orientierten Lesungen KELLNERS.

Jürgen Lenerz

44

hinnen ist ez an daz welhishe kvmen. daz han ich also vurnvmen: Tares der aller beste den stürm von Troygen weste, wen er da mit was gewesen, der screip in vnde liz in lesen. Cornelius den strit las, als er in kriechish gescriben was, als hat er in inz latin gekart. sint ist er tutsche zvngen gelart, nach der sol ich wirken.

55

60

Auch hier lässt sich zunächst die referenzielle Identität des Buches in den ersten fünf Versen feststellen: Die jeweilige konzeptuelle Verschiebung (es handelt sich jeweils um den gleichen Text, aber insofern um verschiedene Texte, als sie in verschiedenen Sprachen abgefasst sind) entspricht dem, was wir usuell als Bedeutungsvariation von buoch kennen. Im weiteren aber handelt es sich zunächst um eine metaphorische Übertragung (sin erste stam) und dann um diverse Charakterisierungen des Inhalts (der stürm, der strit), die ihrerseits metonymisch okkasionell mit der Darstellung des Ereignisses gleichgesetzt werden, so dass der stürm aufgeschrieben und gelesen werden kann. KELLNER (S. 238) bemerkt dazu: Es [das Testimonium] verkörpert das Ereignis geradezu, so könnte man Herborts Darstellung pointieren, und das Fehlen von Differenzmarkierungen zwischen dem Ereignis des Krieges, dem Vorgang der Aufzeichnung und dem geschriebenen Buch wird im .Wortfeld des Textes' in aller Deutlichkeit über die Metonymie von stürm, strit und buch zum Ausdruck gebracht. Der Sprache steht die rhetorische Form des Tropus zur Vertilgung, in der das spezifische Verständnis von Augenzeugenschaft als Verkörperung eines Ereignisses umgesetzt werden kann, indem das Ereignis und das sich daraus ableitende textuelle Erzeugnis füreinander eintreten.

Hier wird klar, dass und wie eine für manche Wörter durchaus übliche, usuelle metonymische Verschiebung (.Ereignis' -* .Bericht') okkasionell für spezifische ereignisbezeichnende Wörter (stürm, strit) genutzt wird und wie damit eine spezifische literarische Wirkung der Aufmerksamkeitslenkung und -Steigerung erzielt wird. Ähnliches lässt sich in der Folge bei den Leitvokabeln form, sin und zunge beobachten, welche zunächst für bestimmte sprachliche Fassungen (Griechisch, Latein, Französisch, Deutsch) stehen, dann den ,Sinn' bezeichnen, der „oszilliert zwischen der Bestimmung als ,Sprache', ,Einzelsprache', als ,hermeneutische Kategorie' und als ,Kunstverstand', .künstlerische Fähigkeiten"' (ebd. S. 242, Anm. 29). - Herborts Prolog fährt fort, V. 62-70: wil ich die formen merken, so mvz ich drisinnic sin: eine ist kriechisch, ein latin vnd des welschen buches ein.

65

Zum Beispiel mcere zwischen den lesten sinnen zwein nim ich nv den dritten vnd folge im so mitten, daz er min rechte geleite ist an des lutschen buches list.

45

70

(S. 2 4 0 ) metaphorisiert die Wirkung dieser begrifflichen Verschränkung selber als .„Scharniere', die von einem Bildfeld gleitend zum nächsten fuhren." Sie fährt fort (ebd.):

BEATE KELLNER

Jene semantische Beweglichkeit können sich dabei gerade poetische Texte zu nutze machen, da sie ihre Themen nicht nach Art von Traktaten entfalten und fertige Lösungen anbieten, sondern vielfach in Aporien münden und Probleme in der Schwebe halten. So gesehen erwiese sich die .Vagheit' der Begrifflichkeiten als besonderer Ausweis der Literatur. Zudem kann nicht vorausgesetzt werden, dass Kategorien, die uns heute als verschieden erscheinen, in den mittelalterlichen epistemischen Ordnungen nicht als ähnlich verstanden wurden. Was wir heute daher in verschiedene Termini aufspalten, kann mittelalterlicher Episteme entsprechend adäquat mit e i n e m Wort und Begriff bezeichnet worden sein.

Dem ist m. E. durchaus zuzustimmen, möglicherweise aber mit dem Hinweis auf die auch für das nhd. Wort Sinn gegebenen vielfältigen konzeptuellen Verschiebungen. Auch ist möglicherweise anzunehmen, dass gerade in einem literarischen Text nicht nur alle usuellen Verschiebungen genutzt werden, sondern okkasionelle Möglichkeiten der konzeptuellen Differenzierung hinzukommen. Ob man sich bei der literarischen Wirkung damit zufrieden geben soll, dass sie zu Aporien führt und Probleme in der Schwebe belässt, erscheint mir zudem fraglich. Gerade die Demonstration verschiedener Konzeptualisierungen kann ja erkenntnisfördernd gemeint sein: Indem alle möglichen Bedeutungsvarianten evoziert werden, wird erst die Vielgestaltigkeit und der Reichtum eines Konzepts erkennbar. Deutlich sind in den behandelten Textstellen metaphorische Übertragungen zu erkennen, die weit über das normalsprachliche Verfahren der konzeptuellen Verschiebimg hinausgehen, aber die gleichen Mechanismen verwenden. So auch bei der Leitvokabel mcere in Konrads von Würzburg Prolog zum Trojanerkrieg50,

V.234-243:

ich wil ein mcere tihten, daz allen mceren ist ein her. als in das wilde tobende mer vil manec wazzer diuzet, sus rinnet unde fliuzet vil mcere in diz getihte groz. ez hät von rede so witen vloz,

235

240

50 Der Trojanische Krieg von Konrad von Würzburg. Nach den Vorarbeiten K. FROMMANNS und F. ROTHS zum ersten Mal hrsg. durch ADELBERT VON KELLER, Stuttgart

1858 (StLV 44), Nachdruck Amsterdam 1965.

46

Jürgen Lenerz

daz man ez käme ergründen mit herzen und mit münden biz üf des endes boden kan.

Wo uns die verblasste Metapher von der .Quelle' einer Erzählung geblieben ist, verwendet Konrad von Würzburg die aktuelle Metapher der vielen Flüsse, die in ein Meer münden. Dabei wird das mcere seinerseits konzeptuell verschoben als ,Einzelereignis', ,einzelne Episode', .einzelne Erzählung' und als .Gesamtwerk' begrifflich differenziert, wobei die rede sich auf die textlich umfangreiche Ausgestaltung bezieht (...diz getihte gröz. / ez hat von rede so wlten vloz). Dies sind die durchaus üblichen usuellen begrifflichen Differenzierungen. Weitere metaphorische Verschiebungen finden sich vielfach belegt. Bei den exemplifizierten Verfahren der usuellen und okkasionellen konzeptuellen Verschiebung sowohl im Bereich der Metonymie wie der Metapher drängt sich mir der folgende Eindruck auf: Bildung zeigt sich in der Kenntnis der verschiedensten Aspekte eines Konzepts und der mit ihm verwandten Konzepte, und Wortwitz ist ein beliebtes Mittel, diese Bildung und die Freude am Entdecken der Bedeutungsvielfalt von Wörtern mit dem Publikum zu teilen. Wir finden heute durchaus Ähnliches in der modernen Literatur (Arno Schmidt, James Joyce u. a.), in geistreichen Reden oder gelungenen Pointen in Kabarett-Texten. (Dabei ist die Grenze zum Kalauer leicht überschritten, insbesondere dann, wenn es sich nicht um usuelle konzeptuelle Verschiebungen handelt, sondern um Polysemie: Ich heiße Heinz Erhard und Sie herzlich willkommen.) Die Freude am Entdecken der vielfältigen Bedeutungsnuancen und der Vielzahl der Beziehungen zwischen Konzepten verbindet den Vortragenden und die Zuhörer. Mehr noch: Es macht die Zuhörer vom Vortragenden abhängig, da es den raschen Assoziationen und Bezugswechseln folgen muss. Aber neben diesem rezeptionsästhetischen Aspekt kann man vielleicht auch eine erkenntnistheoretische Seite ausmachen. Die geistreiche Rede, die mit den verschiedenen Bedeutungsnuancen spielt, soll ja alle relevanten Aspekte einer .Sache' aufdecken, und .Sachen' werden in unserer Alltagssicht durch Wörter benannt. Die Sachen sind also die (natürlichen) kulturellen Konzepte. Wenn nun der mhd. Dichter über seine Dichtung spricht, was liegt da näher, als geistreich-witzig möglichst sämtliche Aspekte der Bedeutung von mcere anzusprechen! Dies ist freilich ein deutlich anderer Zugang als wir ihn als Wissenschaftler gewohnt sind. Wir verwenden bewusst Termini für künstliche kulturelle Konzepte, von denen wir meinen, dass sie qua Festlegung wesentliche Teilaspekte einer Sache betreffen. Durch die richtige Kombinatorik solcher terminologischen Konzepte versuchen wir dann, die Komplexität der Gegenstandsbereiche, die wir beschreiben wollen, zu rekonstruieren. Die geistreiche Rede beschreibt einen anderen Weg. Sie expliziert die verschiedenen Aspekte einer Sache nicht, sondern demonstriert sie durch die in natürlichen Begriffen vorhandene Möglichkeit zur Verschiebung und evoziert sie so im Hörer, der die Komplexität der Sache für sich selber intuitiv rekonstruieren muss, indem er möglichst alle

Zum Beispiel

mcere

47

gemeinten Äußerungsbedeutungen entschlüsselt und zu einem komplexen Konzept vereint. Hinzu kommt ein erkenntnistheoretischer Aspekt, der für die ,geistreiche' Präsentation spricht: Sie handelt nicht mit künstlichen Konzepten, die abstrakt und damit in gewisser Weise unwirklich' sind. Verwendet man hingegen natürliche Konzepte, so bleibt man im Rahmen der gewohnten Wirklichkeitserfahrung, handelt also in gewisser Weise mit Aspekten oder Dingen der naiv unterstellten ,Wirklichkeit'. - H U B E R sieht das ähnlich, wenn er resümiert: Nahe liegt der Nachweis begrifflicher Unfestigkeit, der lexikalischen Aufgliederung eines jeweils differenzierten Sinnspektrums mit seinen gegenläufigen Tendenzen zur Abstraktheit oder zur sinnlichen, metaphorisch produktiven Vorstellung; höchstens in Ansätzen konnten wir eine Verfestigung von mcere, rede, äventiure in Richtung Gattungsbezeichnung wahrnehmen. Ich fuge dem eine spezifisch literaturwissenschaftliche Sicht hinzu: Die in variablen Wortnetzen versammelten Leitwörter entfalten gerade hier ihr dynamisches Potential, ihr bemerkenswertes Eigenleben.51

Und an anderer Stelle bemerkt er: Gewisse terminologische Tendenzen sind in diesem Rahmen jedoch [...] nicht auszuschließen, auch wenn sie sich in der volkssprachlichen Form in neuen Gewändern darbieten. Gerade dann kommt die ursprüngliche Semantik des den ArtesGehalt schulternden volkssprachlichen Wortes mit zum Tragen, und es ist mit kalkulierter Polysemie gerade zu rechnen. 52

Vielleicht liegt hier ein Schlüssel für die terminologisch gerade nicht festgelegten Wörter im , Wortfeld des Textes' im Mittelhochdeutschen. Die Verwendung natürlicher Konzepte sichert gerade dadurch eine umfassende Erkenntnis der ,Dinge' selbst (in unserem Fall der literarischen Präsentation), weil sie in der natürlich-sprachlichen Verwendung von den Zuhörern auf gewohnte Weise mit Hilfe des intuitiv gegebenen hermeneutischen Verfahrens der konzeptuellen Verschiebung vorgenommen werden kann.

51

HUBER (ANM. 3 1 ) , S. 2 8 4 f .

52 Ebd. S. 275.

WALTER HAUG

Historische Semantik im Widerspruch mit sich selbst Die verhinderte Begriffsgeschichte der poetischen Erfindung in der Literaturtheorie des 12./13. Jahrhunderts

In the Middle Ages (12 ,h /13' h centuries) a new kind of literature, namely fiction was created in France and Germany. Although being aware of the specific character of this epochal innovation and the creative possibilities it revealed, poets could not develop the poetological terminology necessary to deal with this literature theoretically. Therefore an answer must be found to the following question: which conditions in the intellectual history of this period prevented this step?

Die grundsätzliche Frage, die hinter dem folgenden Beitrag steht, ist diese: Wie soll die historische Semantik mit der Möglichkeit umgehen, dass es Sachen gibt, für die die Wörter fehlen, oder konkret im Zusammenhang meines Themas gefragt: Wie soll sie mit der Möglichkeit umgehen, dass es literarische Phänomene gibt, für die zeitgenössisch keine distinkten Begriffe gebildet worden sind? Ist etwa damit zu rechnen, dass es im Mittelalter ein Bewusstsein bestimmter poetischer Gattungen gab, ohne dass Termini für sie zur Verfügung standen? Ist damit zu rechnen, dass es eine Dichtungstheorie für die vulgärsprachliche Literatur gab, ohne dass man sie über ein adäquates begriffliches Vokabular hätte fassen können? Ist mit einer mittelalterlichen Ästhetik zu rechnen, obschon ein entsprechendes Begriffssystem erst Jahrhunderte später entwickelt worden ist? Wo ein Begriff fehlt, da fehlt auch die betreffende Sache: ist das ein gültiges Axiom der historischen Semantik oder ist das ein theoretischer Kurzschluss? Die meisten werden zögern, ein solches Axiom zu akzeptieren, und geraten in der Praxis doch immer wieder in seine Falle. Die Diskussion um den Begriff .mtcre' zeigt es ebenso wie die Diskussion um den Begriff .Fiktion'. Wenn es keinen Begriff für das gab, was HANNS FISCHER als Märe definiert hat, ist dann seine Definition ein bloßes Konstrukt, das kein Fundament in der Sache hat?1 Aber ist es nicht denkbar, so KLAUS GRUB-

1

Zur Diskussion um FISCHERS Märenbegriff: HANS-JOACHIM ZlEGELER: Erzählen im Spätmittelalter. Mären im Kontext von Minnereden, Bispein und Romanen, München 1985 (MTU 87), S. 3-28. - Die Unfestigkeit der mhd. poetologischen Termini demonstriert eindrucksvoll die Materialsammlung von KLAUS DÜWEL: Werkbezeichnungen der mittelhochdeutschen Erzählliteratur (1050-1250), Göttingen 1983 (Palaestra 277).

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dass es zwar gewiss nicht Gattungen unabhängig vom Bewusstsein ihrer Benutzer, aber doch unabhängig von der Formulierung dieses Bewusstseins gegeben hat? Es gab ζ. B. keinen spezifischen Terminus für den von Chretien de Troyes geschaffenen neuen Roman. Ist die Folgerung die, dass man sich der Eigenart dieser Neuerung, ihres Strukturentwurfs im Freiraum der Fiktion, nicht bewusst war? Oder: Es gab keine Theorie zur schöpferischen Einbildungskraft. Kein mittelalterlicher Romanautor sagt, dass er seine Erzählung frei erfunden habe. Hängt das damit zusammen, dass ein Begriff fur die fiktionale Erzählung fehlte? Aber waren deshalb Dichtungen, die unzweifelhaft doch frei erfunden worden sind, für den mittelalterlichen Hörer oder Leser keine Fiktionen? Man wird schwerlich annehmen können, dass das, was ζ. B. von den Rittern der Tafelrunde erzählt worden ist, schlicht als historische Wahrheit verstanden werden sollte, jedenfalls haben gerade die hervorragendsten Romanschriftsteller Strategien entwickelt, um den fiktionalen Charakter ihrer Werke zum Bewusstsein zu bringen.3 Aber das Verhältnis von Wahrheit und Fiktion bleibt ebenso in der Schwebe, wie die Ansätze zu einem Gattungsbewusstsein sich beim konkreten Zugriff verflüchtigen. MÜLLER2,

Muss man sich mit dieser semantischen Unschärfe zufrieden geben? Man wird nicht in Abrede stellen wollen, dass jedenfalls das Faktum einer mangelhaften oder vagen Begrifflichkeit in einem bestimmten Bereich eine Erklärung verlangt, und dies, wenn möglich, über eine Einbettung der Begriffsgeschichte in die Kulturgeschichte, genauer: in die Diskursgeschichte der über die Begriffe evozierten Themen.4 Doch kann man dies auch dort fordern, wo der Mangel so weit geht, dass er auch einen solchen Zugriff so gut wie unmöglich zu machen scheint? Zugespitzt formuliert: Kann es sinnvoll sein, selbst dort nach einer Diskursgeschichte zu fragen, wo eine Begriffsgeschichte, die auf einer solchen Diskursgeschichte aufruhen könnte, praktisch ausfällt? Sinnvoll dürfte ein solcher Versuch nur sein, wenn man auch die Möglichkeit in Betracht zieht, dass eine Diskursgeschichte darauf zielen kann, eine Begriffsgeschichte, die aus ihr hätte erwachsen können, zu verhindern. Somit meine These: Hinter der fehlenden Begriffsgeschichte zum thematischen Komplex: ,Fiktion', ,freie literarische Erfindung', .schöpferische Fanta2

Gattungskonstitution im Mittelalter. In: Mittelalterliche Literatur und Kunst im Spannungsfeld von Hof und Kloster. Ergebnisse der Berliner Tagung, 9.-11. Oktober 1997. Hrsg. v o n NIGEL F. PALMER/HANS-JOCHEN SCHIEWER, T ü b i n g e n 1 9 9 9 , S. 1 9 3 - 2 1 0 ,

3

4

hierS. 199. Siehe zur Debatte um Fiktionskonzepte in der mittelalterlichen Literatur WALTER HAUG: Die Entdeckung der Fiktionalität. In: Ders.: Die Wahrheit der Fiktion. Studien zur weltlichen und geistlichen Literatur des Mittelalters und der frühen Neuzeit, Tübingen 2003, S. 128-144. KLAUS GRUBMÜLLER: Historische Semantik und Diskursgeschichte: zorn, nit und haz. In: Codierung von Emotionen im Mittelalter / Emotions and Sensibilities in the Middle Ages. Hrsg. von C. STEPHEN JAEGER/INGRID KASTEN, Berlin, New York 2003 (Trends in Medieval Philology 1), S. 47-69.

Historische Semantik im Widerspruch mit sich selbst?

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sie' steht eine Diskursgeschichte, die die Entwicklung einer entsprechenden Begrifflichkeit blockiert hat; ja, sieht man genauer zu, so zeigt sich, dass man es nicht mit einem, sondern mit zwei Diskursen zu tun hat, die beide, was die erwähnte Blockade betrifft, im selben Sinne wirkten. Auf der einen Seite steht der theologische Diskurs zum Thema .Kreativität' und auf der andern der philosophisch-poetologische Diskurs zum Thema ,Wahrheit und Lüge'.

1. Der theologische Diskurs Die Textreihe, in der in der christlichen Antike und im Mittelalter der Kreativitätsdiskurs durchgespielt wurde, basiert auf zwei biblischen Theoremen, zum einen auf der göttlichen creatio ex nihilo der Genesis und zum andern auf dem nihil sub sole novum des Predigers Salomo5. Aus der biblischen Schöpfungsgeschichte ist gefolgert worden,6 dass allein Gott es vermag, aus dem Nichts zu schaffen, der Begriff creare also nur seinem Tun angemessen ist:7 solus creator est deus, sagt Augustinus in De Trinitate,8 Und Thomas von Aquin formuliert dasselbe negativ: relinquitur quod nulla creatura possit creare.9 Der Mensch kann nur aus etwas Vorgegebenem etwas herstellen, er ist immer nur factor, niemals creator ex nihilo. Auch der Künstler, der Dichter ist im Prinzip nur ein höherer Handwerker: artifex wird er bei Galfredus de Vinosalvo in seiner Poetria nova genannt.10 Und dieses Verdikt ist von hartnäckiger Persistenz über die Jahrhunderte hin. Noch Nicolaus Cusanus, der immerhin den Men-

5 6

Ecl 1.10; „es gibt nichts Neues unter der Sonne". Die These von der .Schöpfung aus dem Nichts' wird aus der Genesis (Gn 1.1) abgeleitet, s i e h e JOSEPH RATZINGER: Art. . S c h ö p f u n g ' . In: 2 L T h K , Bd. 9 ( 1 9 6 4 ) , S p . 4 6 0 - 4 6 6 , hier S p . 4 6 0 ;

7

HUBERT JUNKER: Art.

.Schöpfungsbericht'.

Ebd. Sp. 4 6 6 - 4 7 0 .

hier

Sp. 4 6 8 . Vgl. zur Geschichte dieses Theorems EUGENE N. TIGERSTEDT: The Poet as Creator: Origins of a Metaphor. In: Comparative Literature Studies 5 (1968), S. 455-488, hier S. 468; THOMAS CRAMER: Solus Creator est Deus. Der Autor auf dem Weg zum Schöpfertum. In: Literatur und Kosmos. Innen- und Außenwelten in der deutschen Literatur d e s 15. b i s 17. Jahrhunderts. Hrsg. v o n GERHILD SCHOLZ WILLIAMS/LYNNE TATLOCK,

Amsterdam 1986 (Daphnis 15. H. 2/3), S. 261-276, hier S. 261-263; WALTER HAUG: Nicolaus Cusanus zwischen Meister Eckhart und Cristoforo Landino: Der Mensch als Schöpfer und der Weg zu Gott. In: Ders., Die Wahrheit der Fiktion (Anm. 3) [zuerst 2002], S. 538-556. 8 Sancti Aurelii Augustini De Trinitate Libri XV. Hrsg. von W. J. MOUNTAIN/F. GLORIE, Turnhout 1968 (CCSL 50). lib. III, VIII,3; „der alleinige Schöpfer ist Gott." 9 S. Thomae Aquinatis Summa theologica. Hrsg. von CHARLES RENE BILLUART/LAURENTIUS DE RUBEIS, Bd. 1, Turin 1932, pars I, quaest. 45, art. 5. ad 3; „es bleibt, dass keine Kreatur schöpfen kann." 10 FRANZ JOSEF WORSTBROCK: Wiedererzählen und Übersetzen. In: Mittelalter und frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche und Neuansätze. Hrsg. von WALTER HAUG, Tübingen 1999 (Fortuna vitrea 16), S. 128-142, hier S. 137.

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sehen als secundus deus bezeichnet,11 gesteht dem menschlichen Geist nur ein abbildhaftes schöpferisches Entwerfen zu. Erstmals scheint Cristoforo Landino dezidiert mit dem Tabu gebrochen zu haben.12 Menschliche Kreativität im Sinne freier schöpferischer Erfindung ist also bis weit ins 15. Jahrhundert hinein aufgrund des Theorems von der göttlichen Schöpfung ex nihilo eine undenkbare Vorstellung. Diese Blockade wird weiterhin gestützt durch die erwähnte Prediger-Stelle: Es kann sub sole, d. h. in der natürlichen Welt, nichts Neues geben. 13 Die Schöpfung ist im Akt der göttlichen creatio abgeschlossen worden. Nur einmal hat Gott selbst sie durchbrochen, in der Inkarnation; sie ist das eminent Neue, das semper novum, mit dem sich nichts vergleichen lässt und in das man sich, um ein im eminenten Sinn neuer Mensch zu werden, zu stellen hat.14 Wer hingegen von sich aus behauptet, etwas Neues zu schaffen, maßt sich göttliche Fähigkeiten an, und wer dies tatsächlich zuwege bringt, der muss sich widergöttlicher, dämonischer Kräfte bedient haben; er ist ein Teufelsbündler. Auf geistigem Gebiet ein Neuerer zu sein heißt, dass man es mit einem Häretiker zu tun hat. Und wenn es tatsächlich zu etwas Neuem kommt, das man nicht leugnen kann, wie bei der Erfindung des Buchdrucks, so löst diese schwarze Kunst apokalyptische Ängste aus.15 Das Neue ist tabu oder teuflisch; die Idee der schöpferischen Erfindung, der poetischen Einbildungskraft ist auch von daher blockiert. Hinzu kommt eine entsprechende Sinnbindung. Mit der Schöpfung und der Inkarnation ist die Wahrheit festgelegt. Es gibt keine neuen Wahrheiten. Die Darstellung der Welt und der Geschichte im Wort kann nur das Ziel haben, die vorgegebene Wahrheit aufzudecken, d. h. die Bücher der Heilsgeschichte und der Natur nachzuerzählen und zu deuten, was jedoch, da das menschliche Verstehen verdunkelt ist, der göttlichen Inspiration bedarf. Ein imaginärer Weltentwurf mit einem eigenständigen Sinnpotential ist theoretisch ausgeschlossen.

2. Der philosophisch-poetologische Diskurs Es gibt bekanntlich seit Piaton eine Debatte über die Legitimität der poetischen Erfindung. Wenn die Dichtung, wie es in der Politeia heißt, nur der Schatten jenes Schattens ist, den diese Welt gegenüber dem Reich der Ideen darstellt, dann ist sie doppelt wertlos. Oder brüsk formuliert: Die Dichter lügen. 16 Aristo11

HAUG, Nicolaus Cusanus (ANM. 7), S. 547f.

12

TIGERSTEDT ( A n m . 7), S. 4 7 2 .

13

Grundlegend: DIETER KARTSCHOKE: Nihil sub sole novum? Zur Auslegungsgeschichte von Eccl. 1,10. In: Geschichtsbewußtsein in der deutschen Literatur des Mittelalters. Tübinger Colloquium 1983. Hrsg. von CHRISTOPH GERHARDT/NLGEL F. PALMER/BURGHART WACHINGER, Tübingen 1985, S. 175-188. II Cor 5.17. KARTSCHOKE (Anm. 13), S. 186-188. Vgl. Piaton: Politeia. In: Ders.: Sämtliche Werke, Bd. 3: Phaidon, Politeia. In der Über-

14 15 16

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teles hat dies abgeschwächt, indem er die Kategorie des Wahrscheinlichen einführte. Er argumentierte, dass etwas plausibel Erfundenes möglicherweise überzeugender sein könne als das faktisch Wahre.17 Damit hat er einer poetologischen Dreigliederung Vorschub geleistet, die dann, in Rom formuliert, fortan den Diskurs bestimmen sollte, jener Dreigliederung, die zwischen die Opposition von Wahrheit und Lüge eine dritte Möglichkeit einschob: die Erfindung, die doch Wahrheit zu vermitteln imstande ist. Prägend für dieses Konzept waren die Rhetorica ad Herennium und Cicero.18 An das Mittelalter weitergegeben wurde sie vor allem durch Isidor von Sevilla. Der kritische und immer wieder umstrittene Begriff zwischen Wahrheit und Lüge, zwischen historia und fabula, heißt argumentum. Seine Bedeutung schwankt; doch geht es immer um die relative Rechtfertigung von dichterischen Erfindungen, seien es nun Fabeln, über die eine Lehre veranschaulicht werden konnte, oder seien es Einkleidungen philosophischer Konzepte, integumenta. Ich brauche die komplexe Geschichte dieser poetologischen Dreigliederung nicht im einzelnen aufzufächern, 19 PETER VON M O O S und FRITZ PETER KNAPP haben dies zureichend getan. Entscheidend für meine Überlegungen ist, dass auch unter den Voraussetzungen dieses Diskurses eine Dichtung von eigenem Recht nicht zugelassen ist. An sich wahr ist nur die historia. Erfindungen unter dem Aspekt des argumentum sind zwar erlaubt, aber sie stehen im Dienst vorgegebener Wahrheiten. Fabulae im Sinne dichterischer Lügen sind verwerflich; sie können bei liberaleren Denkern bestenfalls als entspannende Unterhaltung einen eingeschränkten Freiraum beanspruchen.20 Und das bleibt nicht auf einer theoretischen Metaebene, vielmehr zieht sich der Lügenvorwurf gegenüber eigenständiger, d. h. weltlicher Dichtung bekanntlich penetrant durch die mittelalterlichen Jahrhunderte. Dichtung, die sich weder als historische Wahrheit legitimieren kann noch sich als Einkleidung einer Wahrheit präsentiert, ist inakzeptabel. ,Dichterische Erfindung' heißt im Mittelhochdeutschen lüge, auch da, wo man ihr ein relatives Recht zugesteht: daz war man mit lüge kleit, sagt Thomasin von Zerklaere über die seiner Meinung nach pädagogisch doch nützlichen setzung von Friedrich Schleiermacher hrsg. von WALTER F. OTTO/ERNESTO GRASSI/ GERT PLAMBÖCK, H a m b u r g 1 9 5 8 , X , 5 9 5 a - 6 0 8 b ; vgl. MANFRED FUHRMANN: E i n f ü h -

rung in die antike Dichtungstheorie, Darmstadt 1973, S. 81-86. 17

V g l . FUHRMANN (ANM. 16), S. 2 2 - 2 8 .

18

Explizite griechische Vorläufer scheint es nicht zu geben; vgl. MARTIN HOSE: Fiktionalität und Lüge. Über den Unterschied zwischen römischer und griechischer Terminologie. In: Poetica 28 (1996), S. 257-274. PETER VON MOOS: Poeta und historicus im Mittelalter. Zum Mimesis-Problem am Beispiel einiger Urteile über Lucan. In: ΡΒΒ (Tüb.) 98 (1976), S. 93-130; FRITZ PETER KNAPP: Historische Wahrheit und poetische Lüge. Die Gattungen weltlicher Epik und ihre theoretische Rechtfertigung im Hochmittelalter. In: Ders.: Historie und Fiktion in der mittelalterlichen Gattungspoetik. Sieben Studien und ein Nachwort, Heidelberg 1997 (Beiträge zur älteren Literaturgeschichte), S. 9-64. JOACHIM SUCHOMSKI: Delectatio und utilitas. Ein Beitrag zum Verständnis mittelalterlicher komischer Literatur, Bem, München 1975 (Bibliotheca Germanica 18), S. 67-73.

19

20

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äventiure-Geschichten.21 Und so ist es denn auch bezeichnend, dass es den Begriff , erfinden' in unserem Sinne im Mittelhochdeutschen gar nicht gibt: ervinden ist noch bis ins 17. Jahrhundert hinein weitgehend synonym mit vinden. Und wenn etwas in unserem Sinne .erfunden' wird, dann sagt man, dass man es vindet und bringt damit zum Ausdruck, dass man nur auf etwas stößt, was gewissermaßen schon vorhanden ist. Dem entspricht der poetologische Gebrauch: vindung übersetzt inventio, meint also das erste der fünf officio oratoris: das Heranholen und die rhetorische Präsentation eines Stoffes. 22 In diesem Sinn verwendet es schon Otfried von Weißenburg.23 Und so kann vinden schließlich soviel wie , dichten' heißen: Tristan er machete unde vant / an iegelichem seitspil / leiche und guoter noten v/7.24 Die Doppelformel machen unde vinden zeigt noch deutlich die dem ersten Diskurs verpflichtete handwerkliche Auffassung des Vorgangs. Altprovenzalisch entspricht trobar mit seiner rein formalen Bedeutung.25 So bilden denn der theologische Diskurs zum Schöpferischen, der dem Menschen alles Kreative abspricht und Innovationen verdammt, und der philosophisch-poetologische Diskurs, der von der Dichotomie von Wahrheit und Lüge geprägt ist, eine doppelte Barriere gegenüber der Idee einer Dichtung von eigenem Recht und eigenem Sinn. 21

Der wälsche Gast des Thomasin von Zirclaria. Hrsg. von HEINRICH RÜCKERT. Mit einer Einleitung und einem Register von FRIEDRICH NEUMANN, Quedlinburg, Leipzig 1852, Nachdruck Berlin 1965 (Deutsche Neudrucke, Reihe: Texte des Mittelalters), V. 111826: die äventiure sint gekleit / dicke mil lüge harte schöne: / diu lüge ist ir gezierde kröne. / ich schilt die äventiure niht, / swie uns ze liegen geschiht / von der äventiure rät, / wan si bezeichenunge hät / der zuht unde der wärheit: / daz wär man mit lüge kleit\ „Die Aventürengeschichten sind oft sehr schön in eine Menge Lügen eingekleidet. Im Lügen erscheinen sie in ihrer höchsten Kunstfertigkeit. Ich will nicht auf die Aventürengeschichten schimpfen, obgleich sie uns der Gattung gemäß in ihr Lügen hineinziehen, denn sie bieten doch Bilder für moralisches Verhalten und für die Wahrheit: Wahres wird in Lüge eingekleidet." - Vgl. WALTER HAUG: Literaturtheorie im deutschen Mittelalter von den Anfängen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts, 2., Überarb. und erw. Aufl., Darmstadt 1992, S. 232-240. 22 ARMIN SIEBER: Deutsche Rhetorikterminologie in Mittelalter und früher Neuzeit, Baden-Baden 1996 (Saecula Spiritalia 32), S. 35f.; inventio - vindung wird bei Notker als der wirkungsmächtigste Teil der Rhetorik bezeichnet und verstanden als Systematis i e r u n g d e r M a t e r i a , vgl. e b d . S. 6 7 f . ; JOACHIM KNAPE/ARMIN SIEBER: R h e t o r i k - V o k a -

23 24

25

bular zur zweisprachigen Terminologie in älteren deutschen Rhetoriken, Wiesbaden 1998 (Gratia 34), S. 59: inventio = „Stoffindung und gedankliche Vorbereitung der Rede". HAUG, Literaturtheorie (Anm. 21), S. 34f. Gottfried von Straßburg: Tristan und Isold. Hrsg. von FRIEDRICH RANKE, Berlin 1959, V. 19196-98; „Tristan machte/komponierte und erfand/dichtete für alle Saiteninstrumente Lieder und viele klangreiche Melodien". Das hat schon FRIEDRICH DIEZ festgehalten: Die Poesie der Troubadours. Nach gedruckten und handschriftlichen Werken derselben dargestellt. 2. verm. Aufl. von KARL BARTSCH, L e i p z i g 1883, S. 3 0 - 3 5 .

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Und doch gibt es sie selbstverständlich, immer und überall, denn bei der kreativen Fantasie, bei der Möglichkeit, im Geiste Neues zu schaffen und fiktive Sinnentwürfe durchzuspielen, dürfte es sich um ein anthropologisches Universale handeln. Die Frage, die sich damit stellt, ist diese: Wie verhalten sich die Dichter theoretisch und praktisch gegenüber der durch die beiden Diskurse aufgerichteten Barriere? Die Antwort lautet: Man fälscht, man lügt, man verschleiert. PETER LANDAU hat gezeigt, dass entscheidende Fortschritte im mittelalterlichen Rechtswesen über Fälschungen zustande gekommen sind, ja dass sie, da Innovationen eben tabuisiert waren, anders gar nicht möglich gewesen wären.26 In der Dichtung verfährt man im Prinzip analog. Man nimmt so gut wie die gesamte Begrifflichkeit der beiden blockierenden Diskurse auf, d. h., man akzeptiert sie, aber nur, um sie dann mehr oder weniger offen zu unterlaufen oder umzudeuten. Das heißt: während im Rechtswesen der Betrug nicht aufgedeckt werden darf, wenn sein Ziel, die Neuerung, erreicht werden soll, haben die Dichter die Möglichkeit, mit ihren Verfälschungen zu spielen und damit die Blockaden, durch die diese Verfälschungen erzwungen worden sind, zu überwinden, also letztlich doch das zu vermitteln, was nicht sein darf. Das ist nun konkret zu zeigen. Ich gehe die Begrifflichkeit der beiden Diskurse unter diesem Blickwinkel durch. Es sind fünf Punkte zu erörtern: a) Die blockierte Innovation; b) Die verbotene Kreativität; c) Die Bindung der Wahrheit an das Faktische; d) Die der inspirierten Exegese vorbehaltene Sinnkonstitution; e) Die lizenzierte Erfindung im Sinne des argumentum.

a) Die blockierte Innovation Es darf nichts Neues geben. Daher versichern die Dichter stereotyp, sie folgten nur getreu ihren Quellen, man habe nichts weggelassen, nichts hinzugefugt, nichts verändert.27 Wo wir dies kontrollieren können: bei Benoit de SainteMaure, beim Rolandslied-Dichter Konrad, bei Heinrich von Veldeke u. a., stellt man fest, dass entgegen der Behauptung, dass nur die Vorlagen wiedergegeben würden, massiv in sie eingegriffen worden ist. Wird hier also grob gefälscht, und wenn ja, vielleicht im Sinne einer verschleierten Innovation? FRANZ JOSEF WORSTBROCK hat erklärt, das Bekenntnis zur Quelle beziehe sich in solchen Fällen auf die materia, die Abweichungen bewegten sich im Rahmen des rhetorisch erlaubten, ja geforderten artificium, der dilatatio, der abbreviatio

26

27

PETER LANDAU: Gefälschtes Recht in den Rechtssammlungen bis Gratian. In: Fälschungen im Mittelalter. Internationaler Kongreß der Monumenta Germaniae Historica, München, 16.-19. September 1986, Tl. 2, Hannover 1988 ( M G H , Schriften 33,11), S. 11-49. Eine Sammlung von Quellenberufungen bietet CARL LOFMARK: The Authority o f the Source in Middle High German Narrative Poetry, London 1981 (Bithell Series o f Dissertations 5).

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und der verschiedenen Formen des ornatus. Und es gebe auch einen poetologischen Terminus dafür: afrz. reconter, mhd. erniuwen. „Wiedererzählen", so sagt er, könne als „die fundamentale allgemeinste Kategorie mittelalterlicher Erzählpoetik" verstanden werden, als jene Art des Umgangs mit der literarischen Tradition, die vor jener Grenze gelegen habe, hinter der dann „methodische Übersetzung einerseits und genuine Fiktionalität anderseits möglich" geworden seien.28 ,Vor der methodischen Übersetzung' und ,vor der genuinen Fiktionalität' - beides ist zu relativieren. Mit dem deutschen Prosa-Lancelot haben wir schon im frühen 13. Jahrhundert eine Übersetzung ohne jede rhetorische dilatatio. Und was die Einschränkung des Begriffs der Wiedererzählung auf den Spielraum des artificium betrifft, so ist damit der tiefer greifende, ja subversive Charakter des Verfahrens verkannt. Erniuwen bewegt sich nicht nur im rhetorischen Spielraum, erniuwen kann auch renovatio heißen, und man tritt damit ein in die Debatte um Alt und Neu. Die Lösung des Problems erfolgt dadurch, dass man das Neue über das Alte legitimiert, nämlich in dem Sinne, dass das Alte neu werden, d. h., dass das Ursprüngliche wiederhergestellt werden soll. Unter diesem Aspekt greift literarisches erniuwen also (theoretisch) vor die Vorlage zurück. Die Eingriffe rechtfertigen sich durch eine Neuinterpretation im Blick auf einen der unmittelbaren Quelle vorausliegenden oder in ihr bislang verborgenen Sinn. Der Begriff erniuwen unterläuft damit die Blockade der Innovation. Ob nun die Dichter dabei tatsächlich glaubten, sie stellten mit der Umdichtung und Uminterpretation ihrer Vorlage deren eigentlichen Sinn wieder her oder heraus oder ob sie mit dem Begriff ihre Innovation bewusst verschleierten - das ist nur von Fall zu Fall zu entscheiden, wenn es überhaupt möglich ist. Ein aufschlussreiches Beispiel für diesen angeblichen Rückgang nicht auf die tatsächliche Quelle, sondern auf deren Basis bietet Gottfried von Straßburg, und dies in expliziter Erörterung. Er stellt fest, dass Thomas von England, als der aventiure meister (V. 151), von Tristan die rihte und die warheit gesagt (V. 156), also: „genau und wahrhaftig berichtet" habe, und so will er denn in siner rihte (V. 161), „in dessen rechtem Sinn", seine Erzählung verfassen; doch um dies tun zu können, habe er nach den lateinischen und französischen Quellen der Tristan-Geschichte gesucht und sei auch fündig geworden (V.16366).

Gottfried gebraucht den Terminus erniuwen nicht, doch sein angebliches Verfahren beschreibt treffend, was er beinhaltet: die Legitimation der eigenen Fassung in ihrer Abweichung von der tatsächlichen Quelle durch den angeblichen Rückgriff auf eine ihr vorausliegende, ursprünglichere Version. Und seit der Entdeckung des Fragments von Carlisle wissen wir ja, wie neu sein Konzept gegenüber dem des Thomas war und wie sehr er es deshalb als nötig empfunden haben dürfte, sich durch die Vorspiegelung einer vor-Thomas'sehen

28

WORSTBROCK ( A n m . 10), S. 130.

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Überlieferung abzusichern.29 Aber hat Gottfried erwartet, dass man ihm seine Archivreise nach England wirklich glaubt? Oder sollte der Hörer/Leser sein Quellenspiel durchschauen und es als Hinweis auf die Freiheit seiner Erfindung verstehen? Es ergibt sich jedenfalls: Je mehr sich ein neues Konzept Geltung verschafft, desto deutlicher erscheint die Quellenberufung als eine poetologische List; das erniuwen der Quelle erweist sich als ein Verschleierungsbegriff fur eine Innovation, die keine sein darf.

b) Die verbotene Kreativität Obschon eine freie, schöpferische Erfindung von Neuem im Mittelalter prinzipiell tabuisiert ist, gibt es sie, wie gesagt, faktisch doch, und sie ist dort am offenkundigsten, wo für ein Werk oder für Werkteile keine Vorlagen namhaft zu machen sind. Es ist nicht unverständlich, dass man in solchen Fällen dem Vorwurf der Lüge dadurch zu entgehen suchte, dass man eine Quelle fingierte. Der Paradefall ist bekanntlich Kyot, über den Wolfram seine Abweichungen gegenüber Chretien explizit rechtfertigt,30 und es ist dies der Paradefall auch für die Möglichkeit, die fiktive Quelle zugleich auszuhebeln und sie in das zu verwandeln, was sie tatsächlich ist: in den freien Geist der Erzählung. Mit dem Diktum: disiu äventiure / vert äne der buoche stiuren diskreditiert Wolfram vorweg schon das Buch Kyots und ebenso seine Ankündigung zu Beginn, dass er ein mcere niuwen (V. 4,9) wolle. Der Widerspruch zwischen der Verleugnung einer schriftlichen Vorlage und der Berufung auf eine solche lässt die Quellenfiktion platzen und macht damit deutlich, dass die äventiure ihre Legitimation aus sich selbst bezieht. Also gerade über das Spiel mit der fingierten Quelle kann man besonders nachdrücklich auf die erzählerische Autonomie gestoßen werden, die es eigentlich nicht geben darf. Als Quelle verkleidet, als personifizierte Äventiure, klopft die schöpferische Einbildungskraft zu Beginn des 9. Parzival-Buches an des Dichters Türe. Diese frou äventiure ist nur eine weitere Maske der poetischen Autonomie.32 Und wenn Wolfram dann seinen Parzival zu Beginn des Willehalm mit dem Hinweis darauf verteidigt, dass er nur den Weisungen der äventiure gefolgt sei,33 dann mag das einmal mehr 29 30

Siehe WALTER HAUG: Gottfried von Straßburg und das 7m/R t (8./9. Jhd.) das Lehnwort entsprechend verändert worden ist. Die Form tihten gilt auch für das Mittelhochdeutsche, die nhd. Form mit anlautendem d- ist auf die binnendeutsche Konsonantenschwächung zurückzufuhren.4 Im 15. Jahrhundert wird dictäre erneut aus dem Lateinischen entlehnt,5 denn der inzwischen erfolgte Bedeutungswandel von tihten deckte den lateinischen Gebrauch von dictäre als ,zum Nachschreiben vorsagen, diktieren' nicht mehr ab. Die neue Entlehnung erfolgt mit dem seit 1200 üblichen pedantischen -/ere«-Suffix, ist also nur teilweise assimiliert, die fremde Basis und Betonung bleiben daher unverkennbar. Bevor ich die Bedeutungsentwicklung der Erstentlehnung und die Geschichte der Wortfamilie bis zum Ende des Mittelalters näher verfolge, gehe ich kurz auf den Entlehnungsprozess selber ein.

II. Lexikalische und semantische Entlehnungsprozesse Dictäre ist ein Wort der lateinischen Schriftkultur; für das es ebenso wie für .lesen' und .schreiben' keine genauen germanischen Äquivalente gab, denn die mit dictäre verbundene Tätigkeit war den Germanen von Haus aus fremd. Ihre Kultur und ihr kulturelles Wissen wurden mündlich überliefert, und für die weltliche Oberschicht war die Unkenntnis der Schrift auch im Hochmittelalter kein Makel. Karl der Große war Analphabet, ebenso waren die ersten eines Hauses, auf das der Thron überging, in der Regel Analphabeten. Noch im 12. Jahrhundert war der erste Staufer, Friedrich Barbarossa, obwohl hochgebildet, ein Analphabet, ebenso im 13. Jahrhundert noch König Rudolf, der erste Habsburger.6 Erst mit Karl IV. änderte sich das. Auch große Dichter, die

3

4 5 6

Vgl. die Wortartikel zu dictäre in: Thesaurus Linguae Latinae. Hrsg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften u. a., Bd. 5,1, Leipzig 1909-34, Sp. 1009-14, und in: Mlat. Wb., Bd. 3 (2002), Sp. 597f. Neue Mitglieder der Wortfamilie in Texten der spätantiken christlichen Autoren: dictalis ,fur Schreibübungen bestimmt 4 ; dictamen .Abfassung, Niederschrift, Werk, Text, Urkunde, Urteil'; dictatio .Bericht, Erzählung, Niederschrift, Ausdrucksweise, Gedicht, Dichtung', dictatiuncula ,Werkchen, kleine, unbedeutende Schrift'; dictatus (-üs) .Bericht, Erzählung, Diktat, Niederschrift, Werk, Abhandlung', dicticium .Spruch, Grabschrift; Brief; Verfügung'; Bedeutungserweiterung von dictator durch .einer der diktiert; Schriftsteller, Verfasser, Dichter', von dictatura durch .Diktieren, Werk, Schrift'. Vgl. EWbD, Bd. 1, S. 281 f. Vgl. ebd. S. 285. Vgl. JOACHIM BUMKE: Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittel-

tihten /dichten

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- wie Wolfram von Eschenbach - ihren Laienstatus betonen, gebrauchen ein Wort wie tihten oder ein davon abgeleitetes wie tihtcere so gut wie nie, während andere wie Hartmann von Aue mit ihrer schriftkulturellen Bildung angeben und auf ihr Lesenkönnen und ihr tihten stolz sind.7 Wie steht es mit der Entlehnung eines solchen Zentralbegriffes der Schriftkultur in die andern germanischen Sprachen? Dictäre wird nicht nur ins Althochdeutsche, sondern auch ins Altenglische und Altnordische entlehnt, doch die Entlehnung ist kaum gemeingermanisch, wie die Formen zeigen. Im Altenglischen ist die entsprechende Form ein jan-Verbum: *dihtjan > dihtan, die ersten Belege stammen aus der Zeit um 1000;8 im Althochdeutschen ist die entsprechende Form ein ön-Verbum, und sie ist sehr viel früher belegt. Ins Altnordische wird dictäre zuletzt entlehnt.9 In allen drei germanischen Sprachen wird es mit der Bedeutung .diktierend verfertigen, verfassen' gebraucht. Die Übernahme von Wörtern aus dem Lateinischen in das Frühalthochdeutsche auf dem Weg einer lexikalischen Entlehnung ist relativ selten; in der Regel werden die zentralen Ausdrücke für das Christentum und fur die mit ihm als Buchreligion verbundene Schriftkultur in Form von Lehnübersetzungen10 eingedeutscht. Ein Zentralbegriff wie re-sur-rect-io wird Glied für Glied übersetzt; unser Auf-er-steh-ung ist das Ergebnis eines solchen Lehnvorgangs. Aus dem heimischen Morpheminventar werden die semantischen Äquivalente zu den einzelnen Gliedern des lateinischen Ausdrucks gewählt; das neue Wort ist den Sprachteilhabem daher von vornherein vertraut und in der Regel unmittelbar verständlich. Die semantisch motivierte Entlehnung hat entschiedene Vorteile gegenüber der lexikalischen Entlehnung, denn ein fremdes Wort ist, auch wenn es vollständig assimiliert ist wie tihtön, zunächst isoliert. Das neue Lehnwort hat keine Verwandten im Wortschatz, es hat noch keine Familie um sich geschart, es ist daher nicht ohne weiteres verständlich. Wer die Herkunftssprache kennt, kann natürlich ein fremdes Wort sicher gebrauchen. Wer aber im Lateinischen nicht oder nur halbgebildet ist, kann sich leicht vertun, wenn er lautähnliche Fremdwörter verwechselt und ζ. B. statt Kiosk Fiasko sagt. Diese Malapropismen11 sind uns besonders aus der englischen Literatur bekannt. Für das Englische mit seinem gemischten Wortschatz und seinen redu-

7

alter, Bd. 2, München 1986 (dtv 4442), S. 601-606. Vgl. Iwein. Eine Erzählung von Hartmann von Aue. Hrsg. von GEORG FRIEDRICH BENECKE/KARL LACHMANN. N e u bearb. v o n LUDWIG WOLFF. S i e b e n t e A u s g . , 2 B d e . ,

Berlin 1968, V. 21-30, und Hartmann von Aue: Der arme Heinrich. Hrsg. von HERMANN PAUL, neu bearb. v o n KURT GÄRTNER, 17., durchges. A u f l . , T ü b i n g e n 2 0 0 1

8 9

(ATB 3 ) , V. 1-28. Vgl. Oxford English Dictionary. Second edition. Prepared by J. A. SLMPSON/E. S. C. WEINER, Bd. 4, Oxford 1989, s. v. dight, S. 652f. An Icelandic-English Dictionary. Initiated by RICHARD CLEASBY, subsequently revised, enlarged and completed by GUDBRAND VIGFÜSSON. Second edition, with a supplement b y WILLIAM A . CRAIGIE, O x f o r d 1 9 5 7 , s. v. dikta,

10 11

S. 99.

Zum Terminus vgl. WERNER BETZ: Deutsch und Lateinisch. Die Lehnbildungen der althochdeutschen Benediktinerregel, Bonn 2 1965. Nach Mrs. Malaprop in Richard Sheridans Komödie The Rivals von 1775.

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Kurt Gärtner

zierten Wortbildungsmöglichkeiten bilden die zahlreichen isolierten Wörter, die keine Wortfamilie haben, ein besonderes Problem: Man bezeichnet sie mit Recht als ,hard words', als .schwere Wörter'. 12 Betrachtet man die lexikalischen Entlehnungen in der Geschichte des Deutschen, so zeigt sich, dass entlehnte Wörter bald wieder untergehen, wenn ihre Wortstämme nicht besonders wichtige Bereiche der Sprachträger bezeichnen und bald nach der Entlehnung eine Wortfamilie um sich scharen. Von den mehreren hundert Lehnwörtern aus dem Französischen im Mittelhochdeutschen haben sich nur diejenigen behauptet, die in der Sprechsprache verankert waren, vollständig assimiliert wurden und Wortfamilien ausgebildet haben wie ζ. B. preisen und Abenteuer, die große Masse der französischen Lehnwörter hat sich jedoch nicht halten können. Ganz anders verhält es sich aber mit den semantischen Entlehnungen, den Lehnübersetzungen und den etwas freieren Lehnübertragungen; wir können kaum einen Satz ohne sie bilden. Wortfamilien sind also eine wesentliche Voraussetzung für die Verständigung über die Sachverhalte, die durch den Wortstamm bezeichnet werden.

III. Althochdeutsch tihtön und seine Wortfamilie Die Wortfamilie um tihtön ist im Althochdeutschen noch sehr klein.13 Sie umfasst gerade einmal zwei Wörter, das Verbum und ein davon abgeleitetes Substantiv. Die beiden ältesten Belege für das Verbum stammen vom Anfang des 9. Jahrhunderts. Der eine Beleg stammt aus der Exhortatio ad plebem Christianam, einer Verordnung Karls des Großen an den mit der Seelsorge betrauten Klerus, der der Gemeinde klarmachen soll, dass die wenigen Worte des Vaterunsers und Glaubensbekenntnisses heilsnotwendig und daher zu wissen sind. Der Heilige Geist habe sie den Aposteln diktiert, kurz und leicht verständlich, so dass jeder sie sich merken kann. Der Text der Exhortatio ist in zwei Handschriften überliefert, Α aus dem 1. Viertel des 8. Jahrhunderts, Β aus dem Jahr 805: uuiho atum [...] dem uuihom potom sinem deisu uuort thictota (A; t i h t ο t α Β; .diktierte') = sanctus [...] spiritus [...] sanctis apostolis ista dictau i t uerba.14

12 13

Vgl. ERNST LEISI: Das heutige Englisch. Wesenszüge und Probleme, Heidelberg 5 1969, S. 57-87. Vgl. EBERHARD GOTTLIEB GRAFF: Althochdeutscher Sprachschatz oder Wörterbuch der althochdeutschen Sprache, Tl. 5, Berlin 1840, Sp. 379f.; SPLETT, Bd. 1,2, S. 997; Althochdeutsches Glossenwörterbuch (mit Stellennachweis zu sämtlichen gedruckten althochdeutschen und verwandten Glossen). Zusammengetragen, bearb. und hrsg. von TAYLOR STARCK/JOHN C . WELLS, L f g . 2 , H e i d e l b e r g 1 9 7 3 , S. 9 9 .

14

Exhortatio ad plebem christianam. In: Die Kleineren althochdeutschen Sprachdenkmäler. Hrsg. von ELIAS VON STEINMEYER, Nachdruck Dublin, Zürich 1971 (Deutsche Neudrucke, Reihe: Texte des Mittelalters), S. 49-54, hier S. 49.

tihten /dichten

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Die Variante der Handschrift Β zeigt, dass das Lehnwort vollständig assimiliert ist. Der zweite Beleg stammt aus der Althochdeutschen Benediktinerregel vom Anfang des 9. Jahrhunderts, einer Interlinearübersetzung aus dem Kloster Sankt Gallen. Im Kap. 2 über den Abt und sein Amt heißt es, dass er keinen Unterschied machen soll zwischen Freien und Unfreien, außer es läge ein vernünftiger Grund vor. In diesem Fall, wenn es dem Abt das Recht zu gebieten scheint, verfuge er auch über die Rangordnung eines jeden: Daz ibu so r e h t d i c t ο η t e m u ... keduht ist indifona so uuelihhes kesezzidu daz tuan mac = Quodsi ita i u s t i t i a d i c t α η t e (,weil die Gerechtigkeit es vorschreibt') abbati visum fuerit et de cuiuslibet ordine idfacere potest.

Der Ablativus absolutus iustitia dictante wird mit dem Dativ reht dictontemu wiedergegeben. Der lateinische Stamm diet- wird unverändert entlehnt, aber die Flexion ist althochdeutsch, das Lehnwort also nur teilweise assimiliert bzw. die in der Exhortatio belegte Assimilation teilweise wieder rückgängig gemacht unter dem Einfluss der lateinischen Lautung. Vergleichen wir die mhd. Übersetzungen der Benediktinerregel, so wird in den Versionen aus dem 13. Jahrhundert, der Hohenfurter und der Münchener, an der entsprechenden Stelle als Äquivalent für dictare ebenfalls noch tihten bzw. getihten gebraucht. Der in der Hohenfurter Benediktinerregel16 (1. H. 13. Jhd.) überlieferte Text lautet: Ist iz also daz redeliche sache recht so tu er daz von eines iecliches ordine.

t i h t e t. vnd dem abbet also gut dunkit.

Die Münchener Benediktinerregel11 (2. H. 13. Jhd.), hat: ist daz ez also daz von ainem ieslichen

reht orden.

g e t i h t e t. vnd ez den abt gut dvnchet so tu erz

Die Bedeutung von althochdeutsch tihtön .gebieten, bestimmen' ist also auch im Mittelhochdeutschen noch bewahrt und damit eine ungebrochene Kontinuität dieser Verwendung des Lehnworts belegt. Es gibt noch einige Glossenbelege für das teilassimilierte tihtön im Althochdeutschen; in allen Fällen wird es in der Bedeutung ,diktieren' bzw. ,gebieten, vorschreiben, anordnen' gebraucht. Mit der Bedeutung .verfassen' und ,dichten' erscheint tihtön bzw. die rheinfränkische Form dihtön mit unverschobenem d- im Althochdeutschen zu18 erst und ausschließlich bei Otfried. In der Widmung seines Evangelienbuchs an König Ludwig heißt es: 15

Die Althochdeutsche Benediktinerregel des Cod. Sang. 916. Hrsg. von U R S U L A D A A B , Tübingen 1959 (ATB 50), S. 16f. 16 Hohenfurter Benediktinerregel. In: Middle High German Translations of the Regula Sancti Benedict!. The Eight Oldest Versions. Ed. with an Introduction, a Latin-Middle High German Glossary and a Facsimile Page from each Manuscript by C A R L SELMER, Cambridge/Mass. 1933 (Old German Prose Documents 1), S. 48-88, hier S. 52, Z. 9-11. 17 Münchener Benediktinerregel. In: SELMER (Anm. 16), S . 167-205, hier S . 170, Ζ. 34f. 18 Otfrids Evangelienbuch. Hrsg. von OSKAR E R D M A N N , 6 . Aufl. besorgt von LUDWIG

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Themo [König Ludwig] d i h t ο η {tihtön (L. 87; „Für den verfasse ich dieses Buch.")

Ρ) ich thiz

buah.

Zu Beginn des Werkes geht Otfried auf die Frage ein, cur scriptor hunc librum theotisce dictaverit („warum der Dichter dieses Buch auf Deutsch verfasste"). In der Beantwortung der Frage stellt er sich in die Reihe seiner Vorgänger, der griechischen und römischen Autoren, von denen er sagt, dass sie öugdun iro cleini

in thes t i h t o n n e s

reini.

( V . 1,1,6; „sie zeigten ihren Kunstverstand in der Sauberkeit des Dichtens", d. h. der Vollkommenheit ihres dichterischen Schaffens.)

Das Ergebnis des literarischen Schaffens, das er tihtön bzw. in der lateinischen Kapitelüberschrift dictäre nennt, bezeichnet er in einer Aufforderung an den Leser mit dihta (stf. ,Dichtung'): nim gouma thera dihta: thaz hürsgit thina drähta. ( V . 1,1,18; „Beschäftige dich mit dieser Dichtung, das schärft deinen Verstand.")

Die Wortfamilie von althochdeutsch tihtön hat damit ihren ersten Zuwachs erhalten. Das neue Verbalabstraktum dihta stf., ein Nomen acti, lebt auch in der von Otfried gebrauchten Bedeutung weiter. Die Wortfamilie von tihtön im Althochdeutschen ist also noch sehr klein, außer dem Verbum gibt es nur das von diesem abgeleitete stf. dihta. Bei Otfried, im literarischen Bereich also, wird tihtön ausschließlich mit der nachklassischen Bedeutung des lateinischen dictäre verwendet; es ist ein Wort der patristischen Schriftkultur und bezeichnet das literarische Schaffen. In dieser Verwendung bleibt es im Deutschen bis zur Gegenwart erhalten.

IV. Mhd. tihten: Bedeutungskontinuität und Bedeutungserweiterung19 Die drei Verwendungen, in denen tihtön im Althochdeutschen gebraucht wird - 1. .diktieren', 2. ,gebieten, vorschreiben, anordnen', 3. ,(ein literarisches Werk) verfassen, dichten' - sind auch im Mittelhochdeutschen noch belegt, am reichsten aber die dritte. 1. Der älteste Beleg für mhd. tihten findet sich im Werk der Frau Ava (vor 1127). Sie gebraucht das Wort wie Otfried zur Bezeichnung ihres literarischen

19

WOLFF, Tübingen 1973 (ATB 49). Vgl. zum Folgenden die Wörterbücher BMZ, LEXER und das Findebuch zum mittelhochdeutschen Wortschatz·, im Verbund sind sie auch online (www.MWV.uni-trier.de) sowie offline benutzbar: Mittelhochdeutsche Wörterbücher im Verbund. Hrsg. von THOMAS BURCH/JOHANNES FOURNIER/KURT GÄRTNER, C D - R O M

und

Begleitbuch,

Stuttgart 2002; vgl. auch die einschlägigen Artikel zu dichten und seinen Verwandten im Deutschen Wörterbuch (DWb; die Erstausgabe auch online unter www.DWB.unitrier.de) sowie in 2 DWB, Bd. 6, Sp. 873-899.

tihten /dichten

73

Schaffens. Im Schlussabsatz zum letzten ihrer Werke, dem Jüngsten Gericht, sagt sie von sich in der 3. Person: Dizze buoch diht ο t e /zweier chinde muoter.20 Wie bei Otfried ist es ein öH-Verbum, durch den Reim ist das Merkmal der 2. Klasse der schwachen Verba noch gut erkennbar. Das gilt auch noch für andere Belege aus dem 12. Jahrhundert. Tihten mit Angabe des literarischen Produkts wie schon bei Otfried ist im Mittelhochdeutschen zahlreich belegt. Außer buoch begegnen als Objekte äventiure, brief, getihte, mcere, liet, rede, schanzüne, wort unde wise. Auch ohne Objekt wird tihten gebraucht zur Bezeichnung des literarischen Tätigseins. Aber nicht nur für das Verfassen von poetischen Texten wird tihten gebraucht, sondern auch in der nachklassischen Bedeutung von lateinisch dictäre , verfassen (eines Schriftstücks)', also auch einer Urkunde, einer Satzung, eines Urteils (brief, reht, sentencie); tihten ohne Objekt kann auch .beurkunden' bedeuten.21 Immer wieder wird tihten parallel mit schriben,22 einem anderen Lehnwort der lateinischen Schriftkultur, gebraucht, ähnlich wie bei den spätantiken christlichen Autoren dictäre und scribere. 2. Tihten wird im Mittelhochdeutschen aber auch noch wie in der Althochdeutschen Benediktinerregel in rechtlichen Zusammenhängen in der Bedeutung vorschreiben, gebieten, anordnen, festsetzen' verwendet und wie in der Exhortatio ad plebem Christianam auch noch in der Bedeutung ,diktieren'. Im Rolandslied23 (um 1170) sagt Karl der Große im Gericht über den Verräter Genelun: also di phachte tihten so will ich über in richten. ( V . 8753f.; „Wie die Gesetze es vorschreiben, so werde ich [Karl] über ihn [Genelun] Recht sprechen.")

Die phachte, die Gesetze, hat Karl von Gott erhalten; er ist daher der große Rechtslehrer und gerechte Richter. Über den göttlichen Ursprung des Rechts heißt es an anderer Stelle im Rolandslied, V. 702-05: 20

Frau Ava: Das Jüngste Gericht, V. 393f. In: Die Dichtungen der Frau Ava. Hrsg. von

21 22

Vgl. DRWb, Bd. 2, s. v. dichten, Sp. 795f. Heinrich von Veldeke. Hrsg. von LUDWIG ETTMÜLLER, Leipzig 1852 (Dichtungen des deutschen Mittelalters 8), Eneit, V. 4350-52: einen brief si selbe tihte. / den si mit schönen worden vant, / und screib in mit ir selber hanf, Das Jüdel. In: Gedichte des XII. und XIII. Jahrhunderts. Hrsg. von Karl AUGUST HAHN, Quedlinburg, Leipzig 1840 (Bibliothek der gesammten Deutschen Nationallitteratur 20), S. 129-134, V. 38: ez [das Kind] lichte, schrceib vnt las-, Der Renner von Hugo von Trimberg. Hrsg. von GUSTAV EHRISMANN, 4 Bde., Tübingen 1908-11 (StLV 247, 248, 252, 256). Mit einem Nachwort und Ergänzungen von GÜNTHER SCHWEIKLE, Nachdruck Berlin 1970 (Deutsche Neudrucke, Reihe: Texte des Mittelalters), V. 2008predigen, schriben, tihten; V. 2959 tihten, schriben, auch V. 6181, 6643 u. ö.

FRIEDRICH MAURER, T ü b i n g e n 1 9 6 6 ( A T B 6 6 ) , S. 6 1 - 6 8 .

23

Pfaffe Konrad: Das Rolandslied.

Hrsg. von CARL WESLE, 3., durchges. Aufl. besorgt

v o n PETER WAPNEWSKI, T ü b i n g e n 1 9 8 5 ( A T B 6 9 ) .

Kurt Gärtner

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er [Karl] was recht richtere. er lerte uns die phachte: der engel si imo uore l i c h t e (,zuvor diktierte')· 24 er chonde ellu recht. 705

Ähnlich wird um 1150 in der Kaiserchronik25 berichtet, wie Karl nach seiner Krönung in Rom die phahte von oben empfängt, V. 14757-59: Karl sazte dö die pfahte, der engel si im vor tihte die wären rede von gote.

Hier ist tihten in der Bedeutung .diktieren' gebraucht; der Engel hat Karl die Gesetze zuvor diktiert, sie sind inspiriert, beruhen auf einer göttlichen Eingebung26 und sind auf die gleiche Weise entstanden wie die zentralen Gebete des christlichen Glaubens, die der Heilige Geist den Aposteln , diktierte, eingab' (vgl. oben den Beleg aus der Exhortatio adplebem Christianam). 3. Die bisher besprochenen Bedeutungen von tihten im Mittelhochdeutschen sind bereits auch im Althochdeutschen bekannt. Das Lehnwort erfährt jedoch im Mittelhochdeutschen - ähnlich wie im Mittelenglischen - eine ungewöhnliche Bedeutungserweiterung, die in Zusammenhang mit der durch Otfried etablierten Verwendungsweise steht und diese vom literarischen Schaffen auf schöpferische und geistige Tätigkeiten überhaupt überträgt. Tihten in der erweiterten Bedeutung steht daher auch fur , erschaffen, erfinden, ersinnen; gestalten; (an)ordnen, veranstalten; trachten, beabsichtigen; ins Werk setzen; bedenken' usw. Im Folgenden illustriere ich einige der neuen Bedeutungen mit wenigen Beispielen. Die Wörterbücher bieten zahlreiche weitere. In dem um 1225/30 entstandenen Barlaam Rudolfs von Ems27 wird von Gottes Schöpferkunst gesagt, dass sie die Welt getihtet, .geschaffen' hat: von nihte hat getihtet din wiser gotlicher list swaz sihtic und unsihtic ist. ( V . 52-54: „Aus dem Nichts hat deine göttliche Kunst das Sichtbare und das Unsichtbare erschaffen.")

24 25 26

27

Von LEXER, Bd. 3, Sp. 460 als Partikelverb unter vortihten (.vorschreiben') erfasst. Die Kaiserchronik eines Regensburger Geistlichen. Hrsg. von EDWARD SCHRÖDER, Hannover 1892, Nachdruck München 1984 (MGH, Deutsche Chroniken 1,1). In Konrads von Würzburg Silvester schreibt Kaiser Konstantin in einem Brief an Helena: dä bi git er [Gott] uns werden / vürsten dise meisterschaft / daz unser muot mit siner kraft /der werlde reht sol tihten (.kodifizieren, festsetzen') / und wir diu lant berihten / müezen sunder valschen wän (Konrad von Würzburg: Die Legenden, Bd. 1 : [Silvester]. Hrsg. von PAUL GEREKE, Halle a. S. 1925 [ATB 19], V. 2600-05). Rudolf von Ems: Barlaam und Josaphat. Hrsg. von FRANZ PFEIFFER, Leipzig 1843 (Dichtungen des deutschen Mittelalters 3). Mit einem Anhang [...], Nachwort und einem Register von HEINZ RUPP, Nachdruck Berlin 1965 (Deutsche Neudrucke, Reihe: Texte des Mittelalters).

lihten /dichten

75

Nicht nur für das literarische Schaffen wird das Wort gebraucht, sondern für künstlerisches Gestalten überhaupt: für das Ersinnen und Erfinden und sogar das Verursachen von Gefühlen, wie Belege aus Frauenlob28 (vor 1318) zeigen, 111,7, V. 6: wip alle wunne t iht et (.erfindet'); V,13, V. 1-5: ein wercman, der [...] / uz der fuge (»aufgrund seiner Kunstfertigkeit') t iht et (»gestaltet, entwirft') / die höhe und lenge. Abstrakta und Konkreta wie lüge, klage, list, leben, wät usw. sind jetzt Objekt zu tihten. Tihten mit ganz prägnanten neuen Verwendungen wird nicht nur von sprachbewussten Autoren wie Frauenlob gebraucht, sondern auch in der anonym überlieferten Heldendichtung aus dem letzten Viertel des 13. Jahrhunderts; in Dietrichs Flucht ist der hof Objekt zu tihten, V. 571-73: nü solt du. dich rihten / und dinen hof so tihten (,in Ordnung bringen'), / daz er dir nach eren ste; in der Rabenschlacht ist es höchgezit, Str. 35: wir wellen eine höchzit hinte tihten (,ein Fest veranstalten'). 9 Das Wirken des Teufels wird in einer Stelle aus Wolframs Willehalmi0 (um 1217) mit tihten bezeichnet, V. 38,4: wie du [Teufel] ... unsern schaden tiht e s t (,nach unserem Schaden trachtest').31 Wolfram gebraucht nur noch einmal ein Wort aus der Wortfamilie von tihten, das Kollektivum getihte stn., auch dieses wieder mit einer der prägnanten neuen mhd. Bedeutungen, Willehalm, V. 173,27: mit spcehem getihte (,νοη verfeinerter Zubereitung') / wunderlichiu tischgerichte / man uf ze vier orten truoc. ,Etwas mit Sachverstand ins Werk setzen', das bedeutet um 1185 tihten in dem Beleg aus der Eneit (Anm. 22), V. 6823f.: ir lüte daz tihten (.setzten ins Werk'), / daz si einen galgen rihten, in dem es um die Errichtung eines Galgens geht.

V. Der Ausbau der Wortfamilie 1. Der Ausbau der Wortfamilie erfolgt bereits im 12. Jahrhundert. Es sind zunächst so gut wie ausschließlich Ableitungen und Präfixbildungen, denn Zusammensetzungen spielen in der Wortbildung des hochmittelalterlichen Deutsch noch kaum eine Rolle. Die neuen Wörter, auch tihtcere, spiegeln die 28

Frauenlob (Heinrich von Meissen): Leichs, Sangsprüche, Lieder. Auf Grund der Vorarbeiten v o n HELMUTH THOMAS hrsg. v o n KARL STACKMANN/KARL BERTAU, 2 Tie.,

29

30

Göttingen 1981 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Philologisch-historische Klasse, F. 3, Nr. 119/120). Alpharts Tod, Dietrichs Flucht, Rabenschlacht. Hrsg. von ERNST MARTIN, Berlin 1866 (Deutsches Heldenbuch, Tl. 2), Nachdruck Dublin, Zürich 1967 (Deutsche Neudrucke, Reihe: Texte des Mittelalters). Wolfram von Eschenbach: Willehalm. Nach der gesamten Überlieferung krit. hrsg. von WERNER SCHRÖDER, B e r l i n , N e w Y o r k 1 9 7 8 .

31

Vgl. auch Gottfrieds Tristan, V. 13861-65: den stric [Fallstrick], den er [Maijodo] ir [Isolde] rihtete/und ufir schaden t i h t e t e (.ersonnen hatte') /da vie diu küneginne / den künec ir herren inne / mit ir Brangcenen lere (Gottfried von Straßburg: Tristan und Isold.

Hrsg. v o n FRIEDRICH RANKE, B e r l i n 1 9 5 9 ) .

Kurt Gärtner

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neue Bedeutungsvielfalt, die mit dem Wortstamm im Mittelhochdeutschen verbunden ist. Das nomen agentis tihtcere zur Bezeichnung des Schöpfers eines sprachlichen Kunstwerks erscheint zuerst um 1170/80 im König Rother2,2, V. 4853 und 5196.33 Im Liet von Troye des Herbort von Fritzlar34 (nach 1190) wird V. 17868-70 das Lehnwort poete mit tichtere glossiert. Von den drei Klassikern Hartmann, Wolfram und Gottfried wird tihtcere nicht verwendet, doch von ihren Nachfahren werden sie immer wieder als tihtcere bezeichnet. Tihtcere ist im Mittelhochdeutschen jedoch ein nicht sehr häufiges Wort, und seine Bedeutung ist auch noch nicht eingeschränkt wie die des nhd. Dichter, sondern durchaus noch in dem erweiterten Bedeutungsspektrum von mhd. tihten verankert, wie um 1225/30 ein Beleg aus dem Barlaam und Josaphat Rudolfs von Ems (Anm. 27) zeigt, V. 10034-40: Ich muoz daz von in [den heidnischen Göttern] künden, daz sie gar in ir ziten 10035 wären Sodomiten, roubcere und zoubercere und valsche trügencere, ortvrumoere unrehter trüge, t i h t ce r e (.Erfinder') schädellcher lüge. 10040

Hier erscheint tihtcere in einer Serie von Nomina agentis auf -cere und bezeichnet einen, der Unwahres als wahr vortäuscht, das Wort ist hier mit negativen Konnotationen verbunden wie tihten .erfinden, ersinnen, erdichten' oben in Wolframs Willehalm, V. 38,4. Das schon bei Otfried belegte Nomen acti tihte (stf. »Dichtung') erscheint um 1210 ebenfalls als Nomen acti in Gottfrieds Tristan (Anm. 31), V. 161 f.: daz ich in siner [des Thomas von Bretagne] rihte / rihte dise tihte. Als Nomen actionis ist tihte aber schon nach 1150 in Heinrichs Litanei35 belegt, wo es über den Hl. Gregorius heißt, V. 596-99: er [der Heilige Geist in Gestalt einer Taube] saz uf den ahsein dinen / zaller diner tihte (,bei all deinem Denken') /wir nesten ienoch an diner scrifte, / daz er dich wcerlichen lerte.

32 33

König Rother. Nach der Ausg. von THEODOR FRINGS/JOACHIM KUHNT, Halle a. S. 1954 (Altdeutsche Texte für den akademischen Unterricht 2). Weitere Belege bei KURT GÄRTNER: Zu den mittelhochdeutschen Bezeichnungen für den Verfasser literarischer Werke. In: Autor und Autorschaft im Mittelalter. Kolloquium Meißen 1995. Hrsg. von ELIZABETH ANDERSEN U. a., Tübingen 1998, S. 38-45.

34

35

Herbort's von Fritslär liet von Troye. Hrsg. von KARL FROMMANN, Quedlinburg, Leipzig 1837 (Bibliothek der gesammten deutschen National-Literatur 5), Nachdruck Amsterdam 1966. Heinrichs Litanei. In: Die religiösen Dichtungen des 11. und 12. Jahrhunderts. Nach ihren Formen besprochen und hrsg. von FRIEDRICH MAURER, Bd. 3, Tübingen 1970, S. 1 2 4 - 2 5 1 .

tihten / dichten

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Der Heilige Geist erscheint wie in anderen Belegen seit althochdeutscher Zeit als Quelle der Inspiration für das literarische Schaffen. - Das stn. tiht/tihte ist vor allem im Mitteldeutschen und Niederdeutschen verbreitet,36 es erscheint zuerst 1271/86 im Alexander Ulrichs von Etzenbach37, V. 1904: Alexander (als ich iu sage) dem heiser [Darius] botschaft rihte mit sus getanem t i h t e (,mit folgendem Wortlaut'), da mit hiez der die boten varn: 1905

Aber auch zur Bezeichnung seines eigenen Werkes gebraucht Ulrich von Etzenbach das stn. tiht, V. 27759. In zahlreichen Belegen und mit fast allen Bedeutungsnuancen, die auch das Verbum hat, ist tiht stn. um die Mitte des 14. Jahrhunderts in den Kleineren Dichtungen Heinrichs von Mügeln belegt. Die repräsentativsten Belege sind im Glossar zur Ausgabe von KARL STACKMANN zusammengestellt.38 Das oberdeutsche Pendant zum mitteldeutschen tiht, das mit ge- gebildete Kollektivum getihte stn., der Vorfahr unseres nhd. Wortes Gedicht, kommt um 1200 auf und ist von da an in dem weiten Bedeutungsumfang des mhd. Verbums tihten bis ins Neuhochdeutsche belegt.39 Eine deverbale Adjektivableitung tihtic bildet 1260/75 Albrecht im Jüngeren Titurel40, V. 6072,3: da von [für die Schöpfung] ist man im [Gott] lop und ere t i h t i k (,in der Dichtkunst darbringend') / daz moht ein kint erkennen, er geschüf iz allez, sihtik und unsihtik. Der Teichner leitet später von tihtic das Adjektivabstraktum tihtecheit ab (siehe unten). Im Bereich der verbalen Wortbildung erscheint nur die zuerst von Gottfried im Tristan (Anm. 31) V. 11432 und 16927 gebrauchte Präfixbildung betihten , etwas mit Vorbedacht zurichten' häufiger; nur wenige Belege gibt es im Zeitraum des Mittelhochdeutschen bis 1350 noch fur ertihten ,etwas aussinnen, erdenken, erfinden'. Nur einmal belegt ist vortihten vorschreiben' in der vor 1312 entstandenen Apokalypse Heinrichs von Heslers, V.4088. 41 Im 15. Jahrhundert erscheint übertihten ,umdichten', das nur in der nach 1444 entstandenen Minnerede Die Unminne von Hermann von Sachsenheim (V. 30) belegt

36

38

Niederdeutsche Belege für das Neutrum dichte, das vor allem für die schriftliche Fassung von Protokollen, Urkunden und Verordnungen gebraucht wird, bei KARL SCHILLER/AUGUST LÜBBEN: Mittelniederdeutsches Wörterbuch, Bd. 1, Bremen 1875, S. 513f. Alexander von Ulrich von Eschenbach. Hrsg. von WENDELIN TOISCHER, Tübingen 1888 (StLV 183), Nachdruck Hildesheim, New York 1974. Die Kleineren Dichtungen Heinrichs von Mügeln. Abt. 2. Mit Beiträgen von MICHAEL

39 40

Vgl. DWB, Bd. 4, Sp. 2013-2019, hier Sp. 2013-2015. Albrechts von Scharfenberg Jüngerer Titurel. Nach den ältesten und besten Hand-

37

STOLZ hrsg. v o n KARL STACKMANN, B e r l i n 2 0 0 3 ( D T M 8 4 ) , S. 2 6 8 .

s c h r i f t e n krit. hrsg. v o n WERNER WOLF/KURT NYHOLM, 4 B d e . , B e r l i n 1 9 5 5 - 9 5 ( D T M 45,55,61,73, 77,79).

41

Die Apokalypse Heinrichs von Hesler. Aus der Danziger Handschrift hrsg. von KARL HELM, Berlin 1907 (DTM 8, Dichtungen des Deutschen Ordens 1): Got hat die maze vor g e t i c h t /In sinen hosten graden / Der gütlichen genaden / [...] Mit wigetanen masen /Her uns zu gnaden lazen / Wolde. Vgl. auch Anm. 24.

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ist.42 Häufiger ist das Partikelverb voltihten in den beiden Bedeutungen ,ein literarisches Werk abschließen' und ,zu Ende dichten, erschöpfend beschreiben' gebraucht.43 Als Zusammenbildung erscheint einmal das swv. psalmtihten um 1350 im Mahrenberger Psalter™ Besonders häufig verwendet wird die Wortfamilie von tihten im 13. Jahrhundert von Rudolf von Ems und Konrad von Würzburg, freilich überwiegend in den auf das literarische Schaffen bezogenen Ausdrücken. Im 14. Jahrhundert ist es zunächst Johann von Würzburg, der in seinem 1314 abgeschlossenen Wilhelm von Österreich45 tihten mit seinen Ableitungen {betihten, getiht, tihtcere) knapp lOOmal gebraucht, doch fast ausschließlich wieder in der seit Otfried geläufigen Bezeichnung für das literarische Schaffen. Ähnlich verhält es sich nach der Mitte des 14. Jahrhunderts auch in dem Wortspiel mit den zahlreichen Bildungen vom Stamm TICHT beim Teichner46 Nr. 589, V. 8-49: Wie ein Trödler, der ein abgewetztes Kleidungsstück wendet, so ist auch einer, der Latein ins Deutsche übersetzt, V. 8-14: und dazfur ain t i c h t e η zellet. wann der mocht ain l i c h t e r wesen der latin in tütsch kan lesen, so müzzent al prediger t i c h t e η . waz er predigt, muz er richten uz latin in tütsch vernunst. daz ist nit ain t i c h 11 i c h kunst.

10

Deutsch und Latein sind zwei Sprachen, der Inhalt des Textes ist jedoch derselbe, V.23-49: daz sol niempt für t i c h t han. ez ist der ain t i c h t e η t man der von aigen sin t i c h t kür und nimpt ain frbmd mainungfür

42

25

Hermann von Sachsenheim: Die Unminne. In: Mittelhochdeutsche Minnereden, Bd. 2: Die Heidelberger Handschriften 313 und 355, die Berliner Handschrift Ms. germ. fol. 9 2 2 . A u f Grund der Vorarbeit v o n WILHELM BRAUNS hrsg. v o n GERHARD THIELE,

Berlin 1938 (DTM 41), Nr. 13. Ich zitiere den Beleg mit dem aufschlußreichen Kontext ausführlicher (V. 29-42): Wer kluger syn historigen / mit byspil über dichtet,/ by dem ist kunst verborgenn, / doch das er die krum hab geschlichtet, / unnd nit mit etlich benczen, rimen groben, / den sol man nach sym tod / gar billich rumen, brisen und auch loben : / Vonn Eschenbach der eine / herr Wolffram ist genennet, / von η Labern nit der cleyne; / der beyder kunst ich hann also erkennet / an rümen, worten, Silben wolgemessen. / ir kunst ist meisterlichen, / hoch uff g e d i c h t e s stul sind sie gesessen η. 43 44 45 46

Vgl. die Wörterbücher (Anm. 19) s. v. voltihten. Belege in den Wörterbüchern (Anm. 19); vgl. zu gedieht auch Fmhd. Wb., Bd. 6, Sp. 366-369. Johanns von Würzburg Wilhelm von Österreich. Aus der Gothaer Handschrift hrsg. von ERNST REGEL, Berlin 1906, Nachdruck Dublin, Zürich 1970 (DTM 3). Die Gedichte Heinrichs des Teichners. Hrsg. von HEINRICH NIEWÖHNER, 3 Bde., Berlin 1953-56 ( D T M 4 4 , 4 6 , 4 8 ) .

tifiten /dichten du er nie gehört noch sach oder ain geschieht du nie geschach als ain nuwer hailig gut den man erst erheben tut: waz man von dem schribt aid sait, daz ist nuwer t i c h t k a i t , wann ez ist ain nuwe tat die man nit me geschriben hat oder sust ain nuwer louff in aim lant sich wirffet u f f , wer daz bringt ze buchstaben, daz sol man fur t i c h t haben. aber tutsch latin ze machen und latin ze tutschen Sachen daz ist nit ain t i c h t i k a i t. ez ist wol ain arbait. t i c h t e η daz muz aigen wesen alz daz nimer ist gelesen. ist denn niempt ain t i c h t η e r , er sage dann nuwe mer? da spricht nu her Salamon das wir nicht nuwes hon. so ist och kain l i c h t e r sitt.

79

30

35

40

45

Auch wenn diese Beispiele auf eine zunehmende Bedeutungsspezialisierung deuten, ist dennoch auch im ganzen 14. Jahrhundert das weite mhd. Bedeutungsspektrum von tihten und seinen Ableitungen noch präsent, und zwar vor allem bei Heinrich von Mügeln, dessen Wortschatz wir jetzt dank der Ausgabe und des Glossars von KARL STACKMANN47 gut überblicken. Kein anderer Autor macht so oft Gebrauch von tihten und dessen Wortfamilie, rund 170 Belege bieten allein seine Versdichtungen. 2. Erst in den spätmittelalterlichen Glossaren beginnen die Zusammensetzungen eine Rolle zu spielen. Der 1328 in Luzern von Johannes Kotmann zusammengestellte Vocabularius optimus48 und die Straßburger Vokabularien von Closener und Twinger 49 aus der Zeit um 1390 überliefern die folgenden Zusammensetzungen und wenigen Ableitungen (die lateinischen Bezugswörter in runden Klammern): 50 briefdichter (prosator), büchdihter (poeta), büchdihterin (Musa, poetissa), büchgedihte (poema), versdichter (metrificator, versificator), lobdichter (liricus), strafdihter (satiricus), urlugdichter (tragicus); scheltgedicht (satira); dihttafel (dictica); dihter (autor, dictator), dihtunge (commentum). 47

Heinrich von Mügeln (Anm. 38).

48

ERNST BREMER: Vocabularius

49

Die Vokabulare von Fritsche Closener und Jakob Twinger von Königshofen. Überliefe-

optimus, 2 Bde., Tübingen 1990 (TTG 28/29).

rungsgeschichtliche Ausgabe. Hrsg. von KLAUS KIRCHERT/DOROTHEA KLEIN, 3 Bde., Tübingen 1995 (TTG 40-42).

50

Die Stichwörter weitgehend nach dem Ansatz der Indices zu den Ausgaben.

80

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Im Unterschied zu diesen beiden Vokabularien umfasst der um 1410 entstandene Vocabularius Ex quo, dessen Wortschatz wir nun dank des Index zur Ausgabe von KLAUS GRUBMÜLLER gut überblicken können, auch zahlreiche neue Ableitungen:51 Verben: dichten (commentari, dictare, fingere, struere), mitdichten (confingere); dichtigen (figmentum); Substantive, Ableitungen: dicht (carmen, dictamen, ficticium, poema), dichter (compilator, confictor, poeta, dictator), dichtnis (figmentum), dichtung (commentorium, figmentum, figmen, poesis), gedieht (carmen, ficticium, figmentum, poema, poetria, poesis); gedichter (poeta), gedichtnis (poesis), bedichtung (commentorium), gedichtung (figmentum, poema, poesis); Substantive, Zusammensetzungen: buchdichter (acommentator, poeta), buchdichterin (poetria), (ge)dichtbuch (poetria), dichterbuch (poetria), wetterdichter (aruspex).

Der Vocabularius Ex quo bietet mit seiner Konzentrierung auf den tatsächlich gebrauchten Wortschatz und mit seiner auf praktische Benutzbarkeit gerichteten Anlage und schließlich auf Grund seiner enormen Verbreitung und Wirkung im 15. Jahrhundert eine aufschlussreiche Bilanz der Wortgeschichte von tihten/dichten und dessen beträchtlich vermehrter Wortfamilie im Spätmittelalter. Die Belege lassen zugleich erkennen, dass das weite Bedeutungsspektrum des mhd. Verbums zu einem großen Teil noch erhalten ist und dass die bei Rudolf von Ems, Konrad von Würzburg, Johann von Würzburg und dem Teichner beobachtete Tendenz zur Verengung des Bezugs auf das dichterische Schaffen noch keine allgemeine Geltung hat. Die Bedeutungsverengung im Neuhochdeutschen mit dem dominierenden Bezug des einfachen Verbums auf das poetische Gestalten eines sprachlichen Kunstwerkes zeigen auch die wichtigsten Glieder der Wortfamilie, allen voran das nhd. Dichter. Nur in Präfixbildungen wie erdichten und Paarformeln wie dichten und trachten hat sich etwas von der alten ΒedeutungsVielfalt erhalten. Die Bedeutungsverengung geht Hand in Hand mit dem enormen Zuwachs, den die Wortfamilie von dichten erfährt. Anhand der digitalen Version des Deutschen Wörterbuchs von JACOB und WILHELM GRIMM läßt sich die Wortfamilie bequem überblicken.52 Unter den rund 300 der in der Erstbearbeitung des Wörterbuchs erfassten Gliedern der Wortfamilie mit dichten, Dichtung, Gedicht usw. als Grundwort befinden sich etwa 70 Determinativkomposita mit 51

Frühneuhochdeutsches Glossenwörterbuch. Index zum deutschen Wortgut des Vocabularius Ex quo. Auf Grund der Vorarbeiten von ERLTRAUT AUER u. a. hrsg. von KLAUS

52

GRUBMÜLLER, Tübingen 2001 (Vocabularius Ex quo, Überlieferungsgeschichtliche Ausgabe 6; TTG 27). Der Digitale Grimm. Deutsches Wörterbuch von JACOB und WILHELM GRIMM. Elektronische Ausgabe der Erstbearbeitung, bearb. von HANS-WERNER BARTZ u. a., hrsg. vom Kompetenzzentrum für elektronische Erschließungs- und Publikationsverfahren in den Geisteswissenschaften an der Universität Trier in Verbindung mit der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, 2 CD-ROMs, Benutzerhandbuch, Begleitbuch, Frankfurt a. M. 2004; auch im Internet zugänglich unter www.DWB.uni-trier.de.

tihten

/dichten

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Dichter als Bestimmungswort und ebenso viele mit Dichter als Grundwort, ferner knapp 100 mit Gedicht als Grundwort. Aber die Familie ist in Wirklichkeit noch größer; semantisch allerdings ist sie durch die Bedeutungsverengung, die sich gerade in den D/cA/er-Komposita spiegelt, verarmt. Das neue Mittelhochdeutsche Wörterbuch, das derzeit in Göttingen und Trier ausgearbeitet wird, 53 kann daher als Bedeutungsangabe zum mhd. Verbum tihten nicht einfach die ausdruckseitige Entsprechung im Neuhochdeutschen setzen, denn der Bedeutungsumfang des mhd. Wortes ist ungleich weiter als der des nhd. dichten. Dies sollte mein Überblick über die Geschichte eines früh ins Deutsche entlehnten Zentralwortes der lateinisch geprägten Schriftkultur und seiner Wortfamilie zeigen. 5 4

53 Ein neues Mittelhochdeutsches Wörterbuch. Prinzipien, Probeartikel, Diskussion. Hrsg. von K U R T GÄRTNER/KLAUS GRUBMÜLLER, Göttingen 2000 (Nachrichten der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, I. Philologisch-historische Klasse, Jg. 2000, Nr. 8). 54 Vgl. auch die kurze Darstellung der Etymologie und Bedeutungsentwicklung von dichten bei MARTIN HEIDEGGER: Hölderlins Hymnen Germanien und Der Rhein. In: Ders.: Gesamtausgabe. Hrsg. von FRIEDRICH WILHELM VON HERRMANN/INGRID SCHÜßLER, Bd. 39, Abt. 2: Vorlesungen 1923-1944, Frankfurt 1980, S. 29: „.Dichten' was meint das Wort eigentlich? Es kommt von ahd. tithön, und das hängt zusammen mit dem lateinischen dictare, welches eine verstärkte Form von dicere = sagen ist. Dictare: etwas wiederholt sagen, vorsagen, .diktieren', etwas sprachlich aufsetzen, abfassen, sei es einen Aufsatz, einen Bericht, eine Abhandlung, eine Klage - oder Bittschrift, ein Lied oder was immer. All das heißt .dichten', sprachlich abfassen. Erst seit dem 17. Jahrhundert ist das Wort .dichten' eingeschränkt auf die Abfassung sprachlicher Gebilde, die wir .poetische' nennen und seitdem .Dichtungen'. Zunächst hat das Dichten zu dem .Poetischen' keinen ausgezeichneten Bezug. [...] Trotzdem können wir uns einen Fingerzeig zunutze machen, der in der ursprünglichen Wortbedeutung von tithön - dicere liegt. Dieses Wort ist stammesgleich mit dem griechischen δείκνυμι. Das heißt zeigen, etwas sichtbar, etwas offenbar machen, und zwar nicht überhaupt, sondern auf dem Wege eines eigenen Weisens."

HANS JÜRGEN SCHEUER

wisheit Grabungen in einem Wortfeld zwischen Poesie und Wissen

The words wis and wisheit direct our quest for the leading terms of the vernacular poetics of Middle High German poetry to the field of the theory of perception and imaginology. Wisheit - which is far from being a vague term for courtly and clerical self-esteem - is related to precise strategies to deal with the avalanche and ambivalence of mental pictures. By shifting its focus from the hermeneutics of the word field to the cognitive basis of the problem field wisheit, the author of this historio-semantic study attempts to reconstruct the scale of the intensity of medieval imagination which extends from the mystical removal of the form (entbilden) via the theological conception of the s i n g l e true picture (vera icon) to the poetic reflection of phantasma-production (enargeia) and finally to the magical knowledge about the manipulative connection and emergence of mental pictures.

kan ieman kunste ane der wisheit sinne? Albrecht, Jüngerer Titurel, V. 2603,3

Moderne Interpretationen mittelalterlicher Texte bewegen sich zwischen Skylla und Charybdis. Auf der einen Seite drohen sie an der Artifizialität ihrer Gegenstände dadurch zu scheitern, dass sie deren Sinn auf die Illustration oder Didaxe von Wissen und sozialer Praxis reduzieren: als wären die diskursiven Züge eines Textes dessen letztgültiger Gehalt und nicht immer auch Elemente seiner Form und damit sowohl von der Positivität der Sachen (res) unterschieden als auch von der Deixis des Benennens (verba) entfernt. Auf der anderen Seite verleiten Schematik und Kombinatorik der epischen oder lyrischen Formen dazu, die Selbstbezüglichkeit eines autonomen ästhetischen Gebildes schon dort anzunehmen, wo statt sublimer Poetologie konkrete, uns nur nicht länger selbstverständliche Wissenssedimente oder Denkgewohnheiten den Text tragen und allenfalls Vorformen ästhetischer Reflexion ausbilden. Damit hängt zusammen, was aus der Sicht traditioneller Literaturgeschichte als Mangel verzeichnet wird: das Fehlen einer - wie H A N S B L U M E N B E R G es nannte - ,,exogene[n] Poetik"1 volkssprachlicher Dichtung. Eine solche Poetik 1

HANS BLUMENBERG: Sprachsituation und immanente Poetik. In: Ders.: Wirklichkeiten,

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Hans Jürgen Scheuer

müsste über genuine Gattungsbegriffe, durch Zeugnisse auktorialer Selbstreflexion und mittels einer kritischen Terminologie zur poetischen Verfahrensweise ein eigenes Feld abgrenzen können gegenüber dem System und Organon des mittelalterlichen Wissens. Statt dessen ordnen etwa im Kontext der Schule die accessus ad auctores2 jedes artifizielle Schriftwerk der Ethik zu (ethice supponatur) und verwenden die Prologe mhd. Epen aus dem 12. und 13. Jahrhundert wenn überhaupt Begriffe, dann solche, die den drei sprachorientierten artes liberales, vor allem den lateinischen Schulrhetoriken und der elementaren Dialektik, entlehnt sind. Diese Termini beziehen sich zumeist auf Aspekte der überlieferten materia·, auf die translatio des Stoffes, seine topische inventio und seine Bearbeitung durch Längen oder Kürzen {dilatatio bzw. abbreviatio materiae).3 Eine eigene dichtungstheoretische Reflexion, die umgekehrt Volkssprache zur Konzeptbildung nutzte, scheint sich dagegen frühestens bei Dante abzuzeichnen. Seine Schrift De vulgari eloquentia (datiert zwischen 1303 und 1305) entwickelt die wechselseitige Implikation von Poesie und Wissen aus den Definitionen der Stanze {stantia) als mansio capax sive receptaculum totius artis („geräumige Kammer oder Schrein der gesamten Kunst") und der Kanzone (cantio) als gremium totius sententie („Mutterschoß aller Aussagen").4 Sie kombiniert so ars und sententia (ich verstehe darunter die Summe des Sagbaren und seiner Aussagemodi) in einem durch volkssprachliche Metaphorik geöffneten Spielraum (stanza = mansio, receptaculum), den die von Dante zitierte und selbst produzierte Kanzonendichtung mit Elementen einer wahrnehmungstheoretisch fundierten „pneumofantasmologia" (GIORGIO AGAMBEN) 5 ausfüllt, um die Produktion innerer Bilder literarisch anzustoßen und zu intensivieren. Da ein solches Wechselspiel zwischen poetischer Praxis und PoetikDiskurs über die Grenze Latein - Volkssprache hinweg im Bereich der mhd.

2

3

4 5

in denen wir leben. Aufsätze und eine Rede, Stuttgart 1981 [zuerst 1966] (RUB 7715), S. 137-156, hierS. 140. Vgl. einführend zu den Accessus: EDWIN A. QUAIN: The medieval Accessus ad Auctores. In: Traditio 3 (1945), S. 215-264; BRUNO SANDKÜHLER: Die frühen Dantekommentare und ihr Verhältnis zur mittelalterlichen Kommentartradition, München 1967 (Münchner Romanistische Arbeiten 19), bes. S. 24-41; RICHARD W. HUNT: The Introductions to the , Artes' in the Twelfth Century. In: Ders.: The History of Grammar in the Middle Ages. Collected Papers. Ed. with an introduction, a selected bibliography and indices by GEOFFREY L. BURSILL-HALL, Amsterdam 1980 [zuerst 1948] (Amsterdam Studies in the Theory and History of Linguistic Science, Ser. 3, Bd. 5), S. 117-144. Vgl. FRANZ JOSEF WORSTBROCK: Dilatatio materiae. Zur Poetik des Erec Hartmanns von Aue. In: Frühmittelalterliche Studien 19 (1985), S. 1-30, sowie Ders.: Wiedererzählen und Übersetzen. In: Mittelalter und frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche und Neuansätze. Hrsg. von WALTER HAUG, Tübingen 1999 (Fortuna vitrea 16), S. 128-142. Dante: De vulgari eloquentia. Ed. and translated by STEVEN BOTTERILL, Cambridge/ Mass. 1996 (Cambridge Medieval Classics 5), Kap. II, 9, S. 72. GIORGIO AGAMBEN: Stanze. La parola e il fantasma nella cultura occidentale, Turin 1977, S. 111; deutsche Übersetzung: Stanzen. Das Wort und das Phantasma in der abendländischen Kultur, Zürich, Berlin 2005, S. 154 u. ö.

wisheit

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Literatur des 12./13. Jahrhunderts nicht existiert, bleibt nur die Suche nach den Spuren einer immanenten Poetik, wie sie sich erschließen lässt aus der Selbstbezeichnung der Werke, aus der Metaphorik ihres Herstellens und Darstellens oder aus den metonymischen Korrespondenzen, deren Beziehungsnetze die Texte umspannen und ihnen Kohärenz verleihen. Die Ergebnisse derartiger Analysen erweisen sich notgedrungen als abhängig von den Problemstellungen und -lösungen der jeweiligen Werke und gelten daher als vage und okkasionell. Aus diesem Grund möchte ich in meinen folgenden Ausführungen nicht die naheliegenden Leitbegriffe anvisieren, die sich auf Genres und ihre Darstellungsweisen oder auf die materielle und auktorielle Ebene der literarischen Produktion beziehen, sondern ein Konzept wählen, in dessen Rahmen das Verhältnis von Poesie und Wissen von den Grundlagen der Wahrnehmbarkeit und Rezipierbarkeit des Artefakts her gedacht werden kann. Für ein solches Konzept halte ich das Wort wis und seine nominale Ableitung wisheit. Dass gerade wis und wisheit in einem Zusammenhang auftauchen, in dem es darum geht, die Schlüsselbegriffe einer immanenten Poetik der mhd. Dichtung zu versammeln, könnte aus verschiedenen Gründen verwundern. Zum einen gilt Weisheit, wie A L E I D A A S S M A N N in ihrem Versuch einer Kulturtypologie des Phänomens erklärt, zwar als „umfassend", „tief', „schwer erreichbar" und „wirksam", doch ist ihre Wahrheit „weder schön (wie die der Kunst) noch gut (wie die der Moral), sie ist auch nicht heilig (wie die der Religion) oder interessant (wie die der Wissenschaft)."6 Wo sie verschriftlicht erscheint, konstituiere sie ein eigenes Feld der Weisheitsliteratur, in dem ein Kanon karger Formen (wie Sprichwort oder Parabel) vorherrsche, deren Wirkung nicht ästhetisch, sondern strategisch, deren Wert nicht durch Eleganz, sondern durch Anschlussfähigkeit an mündliche Gebrauchssituationen bestimmt sei. Auch epistemologisch scheint Weisheit eher von Poetik und Wissen distanziert. Denn einerseits ist sie durch Augustinus' Theologisierung der sapientia als göttliche Weisheit von menschlichem Wissen (scientia) geschieden, andererseits als metaphysische Weisheit getrennt von politischer und praktischer Klugheit (prudentia).1 Schließlich steht der wortgeschichtliche Befund J O S T T R I E R S im Raum, wonach „im Sinnbezirk des Verstandes" wis einen unspezifischen „Oberbegriff bildet; für dessen mögliche Bezüge zur künstlerisch-technischen und zur wissenschaftlichen Vernunft stehen andere, präzisere Wörter (wie lis tic, künstec, sinnec oder witzic) bereit, so dass wisheit sich im geistlichen Kontext auf die Gabe der sapientia Dei beschränke, im Wortschatz der Epik konkurrenzlos 6

7

ALEIDA ASSMANN: Was ist Weisheit? Wegmarken in einem weiten Feld. In: Weisheit. Hrsg. von Α. Α., München 1991 (Archäologie der literarischen Kommunikation 3), S. 15-44, hier S. 15-17. Siehe ASSMANN (ANM. 6), S. 23-26, zur politischen Klugheit darüber hinaus BURKHARD HASEBRINK: Prudentiales Wissen. Eine Studie zur ethischen Reflexion und narrativen Konstruktion politischer Klugheit im 12. Jahrhundert, Habilitationsschrift Göttingen 2000.

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nur die höfisch-sittliche Lebenserfahrung im weitesten Sinne bezeichne.8 Diesen Befund möchte ich in einer Reihe von Lektüren überprüfen, die prägnante Fundstellen von wis und wisheit nicht nach dem hermeneutischen Muster TRIERS an die Prämisse eines idealen Gehalts zurückbinden, sondern nach den kognitiven Implikationen des Konzepts fragen, also danach, wie sich wisheit in ihren literarischen Kontexten zu erkennen gibt. Auf diesem Weg scheint es mir möglich, den Akzent von der Struktur eines Wortfeldes auf die Anlage eines Problemfeldes zu verschieben, auf das die Texte mit ihrem Wortgebrauch, ihrer Komposition und Aussageweise Rücksicht nehmen. Vagheit und Okkasionalität seitens der Poetik, Totalität, Tiefe, Latenz und Wirksamkeit von Seiten der wisheit können so statt als Werturteile über isolierte Phänomene als Charakteristika e i n e s Problemkomplexes betrachtet werden, an dem sich die mhd. Literatur des 12. und 13. Jahrhunderts nicht weniger abarbeitet als Dante mit seinem Begriffspaar stanza und canzone. Denn wisheit, so lautet meine These, zielt vor allem auf die Frage nach der intensivierten Wahrnehmungsweise der Sinne und nach dem Umgang mit den so zustandekommenden inneren Bildern.

1. wisheit als sensus

communis

Wenn es in dem frühesten von mir untersuchten Text, dem Himmlischen Jerusalemdessen Entstehungszeit um 1140 angesetzt wird, von Johannes, dem Evangelisten und Verfasser der Apokalypse, heißt: in den himelen was er wis (Str. 3, V. 4), dann scheint der unmittelbare Kontext zu bestätigen, was JOST TRIER als die Grundbedeutung des Wortes herausgearbeitet hat. Weil der Engel des Herrn ihn entrückt und ihn die Stadt Jerusalem in ihrer messianischen Erscheinung scouwen (Str. 2, V. 6) lässt, so dass er menigiu wunder [...] da sach (Str. 2, V. 7), verfugt Johannes über eine privilegierte Einsicht in die himmlische Ordnung. Das würde die Zuschreibung des Attributs in dem Sinne rechtfertigen, dass ursprünglich [...] wis derjenige [ist], der in einer bestimmten Sache Bescheid weiß, der sachverständig ist; das ist die von der Etymologie her zu erschließende Grundbedeutung, und sie ist auch in der weiteren Entwicklung nie ganz untergegangen. 10

8

Vgl. JOST TRIER: Der deutsche Wortschatz im Sinnbezirk des Verstandes. Die Geschichte eines sprachlichen Feldes. Bd. 1: Von den Anfängen bis zum Beginn des 13. Jahrhunderts, Heidelberg 1931 (Germanische Bibliothek, Abt. II, Nr. 31), bes. S. 323f., zit. S. 324. TRIERS Analyse ergänzen und präzisieren die Befunde zur spruchdichterlichen Verwendung von wis und wisheit in KARL STACKMANN: Der Spruchdichter Heinrich von Mügeln. Vorstudien zur Erkenntnis seiner Individualität, Heidelberg 1958 (Probleme der Dichtung 3), S. 79-128. 9 Vom Himmlischen Jerusalem. In: Die religiösen Dichtungen des 11. und 12. Jahrhunderts. Nach ihren Formen besprochen und hrsg. von FRIEDRICH MAURER, 3. Bde., Tübingen 1964-70, hier Bd. 2, S. 140-152. 10 TRIER (Anm. 8), S. 322f. So ist wortwise derjenige, der sich auf den wirksamen und

wis heit

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Insofern läge ein technisches Verständnis des Ausdrucks , in den himelen wis' nahe: Das Wissen des Johannes wird zwar seiner Auserwähltheit durch Gott geschuldet, ist aber prinzipiell eine Sache der Erfahrung, mitteilbar und der Deutung zugänglich. Entsprechend kann nicht allein der Autor der Apokalypse die Eigenschaft in Anspruch nehmen sin gesinne waren tief (Str. 3, V. 2), sondern auch die wir-persona, das Sprecher-Subjekt des Textes, in seiner IncipitFormel: Nu sule wir beginnen mit tiefen gesinnen (Str. 1, V. 1). Daraus folgt eine zweite, ständisch-soziale Dimension des Ausdrucks: Die wlsheit, auf die sich der Visionstext bezieht, ist eine von Gott geschenkte, aber grundsätzlich allen Gläubigen durch die Festigkeit ihres Glaubens erreichbare Kompetenz zur Teilhabe an der sapientia und Providentia Dei. Wer in den himelen wis genannt wird, wäre folglich einer, der in allem, was die himmlische Vorsehung betrifft, kundig ist. Die dazu nötigen tiefen gesinne verschaffen ihm aber nicht nur Erkenntnisse für sich, sondern auch die Anerkennung in der Gemeinschaft aller anderen wisen, die solche Einsichten zu deuten und zu schätzen wissen. Daher lässt sich die Feststellung, die T R I E R zur ständischen Konnotation von wis mit Blick auf weltliche Erzählstoffe macht, auch auf das geistliche Beispiel übertragen: Das Wort trifft die ethische und intellektuelle Reife des geistig und ständisch erhöhten Menschen [...]. Seit dem Vorauer Moses, dem Rolandslied und der Kaiserchronik kehrt der Gegensatz wis und tumb in der Bedeutung ,hoch und niedrig' [sprich: ,adlig' vs. ,nicht-adlig', H. J. S.] immer wieder."

Beide Aspekte der Wortbedeutung, der technische und der ständische, fugen sich zu einer Wortgeschichte, die T R I E R von den althochdeutschen Belegen bis ins beginnende 13. Jahrhundert rekonstruiert hat als Geschichte eines unaufhaltsamen Aufstiegs von wis und wisheit zu Leitbegriffen höfischer Kultur - um den Preis allerdings einer kontinuierlichen Entdifferenzierung ihres begrifflichen Gehalts. Je stärker sich ihr Gebrauch im Intellektualwortschatz gegen-

wahrheitsgemäßen Gebrauch der Rede versteht (vgl. etwa: Erec von Hartmann von Aue. Hrsg. von ALBERT LEITZMANN, fortgef. von LUDWIG WOLFF, 6. Aufl. besorgt von CHRISTOPH CORMEAU/KURT GÄRTNER, T ü b i n g e n 1 9 8 5 [ A T B 3 9 ] , V . 2 5 2 1 ) ; der

werc-

wiseste man (ebd. V. 7468) kennt die Techniken, die benötigt werden, um ein Kunstwerk zu verwirklichen; waltwtse schließlich ist der Jäger, der alle Wege seines Jagdreviers kennt (Der Pleier: Meieranz. Hrsg. von KARL BARTSCH, Stuttgart 1861 [StLV 60]. Mit einem Nachwort von ALEXANDER HILDEBRAND, Nachdruck Hildesheim, New York 1974, V. 1927). Andere Wortbildungen nach demselben Muster sind der werltwise für den Philosophen {Erec, V. 7368), der welerwise man (ebd. V. 7511), der wäcwise Tristan (Heinrich von Freiberg. Mit Einleitungen über Stil, Sprache, Metrik, Quellen und die Persönlichkeit des Dichters hrsg. von ALOIS BERNT, Halle a. S. 1906, Tristan, V. 1565) oder der zuhtwise Hildebrant (Dietrichs Abenteuer von Albrecht von Kemenaten nebst den Bruchstücken von Dietrich und Wenzelan. Hrsg. von JULIUS ZUPITZA, Berlin 1870 [Deutsches Heldenbuch, Tl. 5], Virginal, Str. 234,2). Vgl. zu weiteren entsprechenden wise-Komposita: BMZ, Bd. III, S. 753a-754a. 11

TRIER ( A n m . 8 ) , S . 3 2 4 f .

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über Wörtern wie spahi und fruot, listic, gelert, chunstig, wizzig oder charc durchsetze bzw. deren Spezifika aufsauge, desto mehr verlören die beiden Leitbegriffe an Treffsicherheit und terminologischer Kontur. Schon im Resümee zum ahd. Wortgebrauch erklärt TRIER wis zum Inbegriff semantischer „Farblosigkeit"12 und am Ende seiner Analysen zum »Wortschatz der Ritterepen' konstatiert er vollends die Unmöglichkeit, „ U m s c h r e i b u n g e n fur wis zu finden, die für alle Fälle ausreichen."13 Dieser Tendenz, die mit dem Anwachsen des Wortgebrauchs das Verblassen seiner Bedeutung in Kauf nimmt, laufen textsemantische Beobachtungen zuwider, die sich - ich meine: beispielhaft - an der rhetorisch-dialektischen Struktur des Himmlischen Jerusalem machen lassen. Denn von beträchtlicher poetischer Signifikanz und Präzision erscheint der Gebrauch von wis, wenn man den weiteren Kontext der Redesituation einbezieht, in dem es um den Modus der visionären Erkenntnis geht. Während in der Apokalypse (Apk 10.111) die Schau des himmlischen Jerusalem in die prophetische Ich-Rede eingebettet und dadurch beglaubigt ist, dass Johannes die Botschaft des siebenten Engels nicht etwa selbst niederschreibt, sondern sie aus der Hand des Boten erhält und als essbare Schrift sich buchstäblich einverleibt, schweigt er im mittelalterlichen Text: menigiu wunder er da sach, die er ze niemenne redete noch nesprach (Str. 2, V. 7). Die Aufgabe der Verkündigung übernimmt an seiner statt das wir der Dichtung, dessen Autorität komplementär zur wisheit des Visionärs konzipiert ist. Dabei wird die Frage nach der Vermittlung durch die Schrift übersprungen: Dem scouwen der Stadt durch Johannes korrespondiert der eilige Wechsel vom Geheimnis zur Rede (der rede scul wir zouwen, [Str. 2, V. 6]), als ginge es darum, das Bild vor den Augen des Apokalyptikers im Vortrag möglichst direkt und ohne Verlust vor die Augen der Zuhörer zu stellen. Das w-Subjekt der Visionsdichtung erscheint dadurch größer und mächtiger als der neutestamentliche Autor, der ja in der mittelalterlichen Fassung bei aller wisheit diese niemandem mitteilt. Es spricht aus, schaut und wiederholt nicht nur, was Johannes sah, sondern es beglaubigt darüber hinaus das Geschaute aus eigener Kraft. Denn das himmlische Jerusalem ist, wie es am Anfang der tiefsinnigen Rede des wir heißt, gezimberet [...] uz den lemtigen steinen, / die Johannes sah (Str. 1, V. 3f.); jene lebendigen, selbstleuchtenden Edelsteine, aus denen die Stadt sich zusammensetzt, bezeichnen wiederum das Kollektiv der ecclesia, die künftige Messias-Braut, die aus niemand anderem als aus der wir-persona der Rede spricht: ja scol iedoch gephlasteret / diu selbe burch mit uns sin (Str. 8, V. 2f.). Das aber bedeutet, dass das wir schon in der Vision gegenwärtig ist, als der Engel den Visionär die selben burch vrone/hiez [...] scouwen (Str. 2, V. 5f.). Es verbürgt mithin die Schau des Johannes nicht weniger als die Autorität des Apokalyptikers den Heilszusammenhang des wir, das ihm in Gestalt des himmlischen Jerusalems erscheint. In paradoxer Weise 12 13

Ebd. S. 83. Ebd. S. 323 (Sperrung dort).

wisheit

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tritt es uns also gleichzeitig entgegen, 1. in seiner Nachträglichkeit (gegenüber dem buoch Apocalypsis, dessen Schlussvision es vergegenwärtigt) und 2. in seiner Unvordenklichkeit (im Verhältnis zur himmlischen Schau, der es vorausgeht als Gegenstand der Offenbarung). Durch diese Struktur wechselseitiger Inklusion von Sprecher, Visionär und Vision kann die Thematisierung des Mediums Schrift entfallen. Die Autorität des wir leitet sich nun unmittelbar aus dem Prozess der Verbildlichung (visio) und aus der Intensität ihrer poetischen Aktualisierung ab. Die wisheit ist mithin nicht länger die eines einzelnen Schauenden kraft der Botschaft, die der gotes engel ihm m a t e r i a l i t e r überbringt. Sie ist vielmehr angesiedelt in einer sinnlichen, mentalen Synthese: in jenen tiefen gesinnen, die kraft der enargeia, des Verbildlichungsvermögens der w-Rede 1 4 , Geltung beanspruchen können. Dem wortsemantischen Befund, dass wis soviel wie .kundig' bedeute und, verbunden mit einer Bestimmung des Wissensbereichs, auf besonderen technischen Sachverstand rekurriere, steht somit ein textsemantischer Befund von erheblicher struktureller Tragweite gegenüber. Er rückt das beiläufig und wie ein schmückendes Epitheton verwendete Wort in den Mittelpunkt poetischer Prozesse der Bilderzeugung. Als wis und wisheit erscheinen hier Verstandesleistungen, die sich auf ein imaginatives Vermögen beziehen: sei es, dass sie in der Lage sind, Bilder dessen zu erzeugen, was (noch) nicht ist, sei es, dass sie Bilder hervorrufen, die einen consensus unter Gleichsinnigen (in unserem Beispiel Johannes, die wir-persona und die Gemeinschaft der Ekklesia) ansprechen und definieren. Wisheit und sinne bilden insofern einen dichten Zusammenhang, der in der Lage sein müsste, das technische und das ständische Verständnis des Wortes in einem historisch charakteristischen Konsensbegriff (sensus communis) zu integrieren. Er knüpft auf der einen Seite an ein Wissen um die bilderzeugenden Abläufe im Wahrnehmungsapparat an und erscheint auf der anderen Seite an die Aktualisierung des Bildgedächtnisses gebunden, das alle adligen oder klerikalen Hörer der Dichtung vereint. Dieses Verständnis kann sich auf zweierlei übergreifende Beobachtungen stützen: 1. auf formelhafte Kollokationen wie die wisheit und de[r\ sin (Hartmann von Aue, Der arme Heinrich, V. 860), höhe wisheit... / und ... meisterliche^r] sin (Rudolf von Ems, Alexander, V. 458 f.), die wisheit und die sinne (Der Stricker, Daniel von dem Blühenden Tal, V. 1591) oder sinnerichiu wisheit (Rudolf von Ems, Der gute Gerhart, V. 2343);15 2. kann es sich darauf 14

Zur Funktion der enargeia in der mittelalterlichen Systematik und Praxis des VorAugen-Stellens vgl. HANS JÜRGEN SCHEUER: Cerebrale Räume. Internalisierte Topographie in Literatur und Kartographie des 12./13. Jahrhunderts. (Hereford-Karte, Straßburger Alexander). In: Topographien der Literatur. Deutsche Literatur im transnationalen Kontext. Hrsg. von HARTMUT BÖHME, Stuttgart, Weimar 2005 (Germanistische Symposien, Berichtsbände 27), S. 12-36. 15 Zitiert ist nach den Ausgaben: Hartmann von Aue: Der arme Heinrich. Hrsg. von HERMANN PAUL, neu bearb. von KURT GÄRTNER, 17., durchges. Aufl., Tübingen 2001 (ATB 3); Rudolf von Ems: Alexander. Ein höfischer Versroman des 13. Jahrhunderts.

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beziehen, dass das Wort und seine Derivationen immer wieder in bedeutenden ekphrastischen Textpassagen auftauchen, in denen die Möglichkeiten literarischer Bildgebung durchgespielt und deren epistemologische Voraussetzungen entwickelt werden. Wisheit und wise erscheinen in solchen Fällen, selbst wenn sie in ihrem unmittelbaren Satzzusammenhang kaum dezidiert verwendet werden, als Signalwörter eines den Texten impliziten imaginologischen Diskurses. Ich möchte im Folgenden dieser Spur nachgehen.

2. wisheit und Imagination Für die beschriebene Umwertbarkeit unseres lexikalisch .farblosen' Wortes zum Leitbegriff bildspendender Medialität der Dichtung lassen sich zahlreiche Beispiele anfuhren, die die Grenze zwischen geistlicher' Vision und der Bildlichkeit .weltlicher' Epik überspielen, wenn nicht gar als willkürlich gezogen erscheinen lassen. Ich beginne mit Herbort von Fritzlar: Sein Liet von Troyex6 enthält nämlich einen Antitypus zur Vision vom Himmlischen Jerusalem. Darin rückt die visionäre wisheit der Apokalypse in den Zusammenhang einer materia ein, die wie keine andere an der Verbildlichung adligen Selbstbewusstseins teilhat. Denn alles, was Adelskultur und -tradition ausmacht, nimmt bekanntlich von Troja seinen Ausgang - so auch die minne, die in Paris' und Helenas Kemenate ein besonderes Denkmal erhält. Wie die Braut des Herrn, das verklärte Jerusalem, kommt dieser hermetisch geschlossene Raum ohne Tageslicht oder eine andere äußere Lichtquelle aus und ist doch innerlich hell erleuchtet, da er ganz aus Edelsteinen besteht (V. 9222-27): Da endorfte niht schinen ander So clar vnd so reine Was daz gesteine Daz dar inne luchte Swer drin quam den duckte Daz da were ein paradis ...

tac:

9225

Der optische Eindruck dieses Paradieses ist derartig überwältigend, dass seine Totalität sich visueller Differenzierung und deskriptiver Wiedergabe entzieht.

16

Zum ersten Male hrsg. von VICTOR JUNK, 2 Bde., Leipzig 1928-29 (StLV 272, 274), Nachdruck Darmstadt 1970; Der Stricker: Daniel von dem Blühenden Tal. 2., neubearb. Aufl. hrsg von MICHAEL RESLER, Tübingen 1995 (ATB 92); Rudolf von Ems: Der guote Gerhart. Hrsg. von JOHN A. ASHER, 2., revidierte Aufl., Tübingen 1971 (ATB 56). Herbort's von Fritslär liet von Troye. Hrsg. von KARL FROMM ANN, Quedlinburg, Leipzig 1837 (Bibliothek der gesammten deutschen National-Literatur 5), Nachdruck Amsterdam 1966.

wis heil

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Erst der Umweg über die topische Liste der Edelsteinnamen gibt die Dimension der Architektur zu erkennen (V. 9228-38): Ouch en was nieman so wis Der die steine erkente Ez enwere ob man sie nente Iaspis rubinus saphirus Ametistes crisolitus Smaradus und topazius Berillus calzedonius Sardonix carbunculus Manie stein anders da was Die luchten an daz palas In der camern ...

9230

9235

Wieder greift an der zitierten Stelle für das Prädikatsnomen wis nach JOST „die alte Bedeutung des Sachverständigseins"17: Selbst ein Steinkundiger könnte in all dem Glanz die einzelnen Gesteinsarten nicht auseinanderhalten, es sei denn, er repetierte den Katalog der edelsten Gemmen. Dann - so impliziert es die Formulierung - ließe sich aus der Vollständigkeit der Namen auf die Vollkommenheit der Dingwelt schließen. Freilich räumt TRIER diesem speziellen Wissen, das er neben Magie und astrologischer Mantik für okkult zu halten scheint, im Kontext höfischer Literatur nur eine marginale Stellung ein. Gegenüber der ,,christlich-religiöse[n] [...] Idealbedeutung" der sapientia, wie sie der Vision des Johannes zugrunde liegt, sieht er im Fall der Steinkunde lediglich den „Grenzbereich des Wortes"18 berührt:

TRIER

Stern- und Steinkunde sind vom Schauer eines geheimnisvollen wunderbaren Wissens umwittert, das wenig mit rationaler Fachverständigkeit zu tun hat. Hier liegt eine ältere Schicht des Wortes zutage, nur kann sie in Stern- und Steinkunde unersetzt bleiben, weil die Spannung zwischen dem wis der Idealbedeutung und dem wis der Stern- und Steinkunde nicht als so widerspruchsvoll sich aufdrängt wie beim Zauber.

Auf die Problematik dieser eher geschichtsphilosophisch motivierten als empirisch nachweisbaren Aussage zum Verhältnis von Magie und höfischer Literatur werde ich noch zurückkommen. Für den Moment mag der Einwurf genügen, dass Herborts Kemenaten-Beschreibung einer solchen marginalisierenden Interpretation von wis widerspricht. Denn die Präsentation der Edelsteinnamen in Form einer Liste appelliert ja darüber hinaus an die memoria aller wisen Hörer und Leser: an ihre Kenntnisse der Jerusalem-Vision in Apk 21, deren Verse 19- 2 0 die zwölf Grundsteine der heiligen Stadt aufzählen. Damit aber nicht genug: Der Inkommensurabilität dieses Bildes bzw. der Andersartigkeit seiner Realisation in der Trojanischen ,Urzelle' der minne trägt die Ekphrasis dadurch Rechnung, dass sie die wisheit der Vorstellungskraft vor 17

TRIER ( A n m . 8 ) , S . 3 2 6 .

18 Ebd. S. 325, im Folgenden S. 326.

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die Aufgabe stellt, gleichzeitig mit der Schemaerfüllung einen Defekt derselben zu erkennen und als Vorzeichen für die Negativität der gesamten Darstellung zu interpretieren. Denn an der Stelle der perfekten Zwölfzahl der Fundamente sind nur elf explizit erwähnt, so dass der wise, der sie mittels seiner Liste in die Präsenz der inneren Anschauung ruft, immer nur eine Anspielung auf die Perfektion zuwege bringt, niemals aber diese selbst einholt. Die Denkfigur, die sich hier zeigt, setzt sich in der gesamten descriptio des Raumes fort. Sie kulminiert darin, dass in der abschließenden Allegorie der Sinne, die den minneBau tragen, gerade die letzte Säule, die den intimsten Bereich des tactus figürlich repräsentieren müsste, tatsächlich als Statue eines Dämons und als Urbild der Nekromantie dargestellt wird (V. 9368-73): Der tufel uz den bilden sprach Vnd vor sagete swaz gescah Manie wunder er treip Daz man von im screip Hin abe quam vns zoberlist. Die nigromancia geheizzen ist...

9370

Wo das Zusammenspiel aller Sinne eigentlich die Erfüllung der minne im irdischen paradis ergeben sollte, nimmt die wisheit des Kenners topischer Wissensanordnung jetzt die Differenz eines anderen Paradieses wahr: eines magischen Artefakts, das genau die unüberbrückbare Kluft zwischen perfekter göttlicher und imperfekter menschlicher Liebe ins Bild und dessen Lücke setzt. Die merkwürdig ins Negative gezogene Formulierung Herborts Ouch en was nieman so wis / Der die steine erkente (V. 9228f.)19 verschiebt den Akzent also von der Perzeption gegebener Dinge (hier: der Edelsteine als res) und von deren Benennbarkeit (also: den verba) auf eine dazwischenliegende Phänomenalität, die erkennen lässt, was weder der Kategorie der res noch derjenigen der verba zuzurechnen ist. Die Negativität, die diese Erscheinungswelt und das ihr zugeordnete Wahrnehmungsvermögen der wisheit auszeichnet, verfällt dabei nicht einfach christlicher Verdammung, auch wenn Herbort von Fritzlar neben dem himmlischen Jerusalem den Teufel bemüht.20 Sie berührt vielmehr den

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Eine entsprechend negative Wendung, die den Umgang mit Negativität als wesentliches Element der wisheit auszeichnet, findet sich in der Beschreibung des m/««e-Hündchens Petitcriu bei Gottfried von Straßburg: daz vremede were von Avalun / sach man ez widerheeres an, / son wart nie kein so wise man, / der sine varwe erkande: / si was so maneger hande / und so gar irrebcere, / als da kein varwe weere (Gottfried von Straßburg: Tristan und Isold. Hrsg. von FRIEDRICH RANKE, Berlin 1959, V. 15838^44). Auch hier geht es um die Kompetenz, dasjenige wahrzunehmen, was nicht da zu sein scheint. Eine analoge Struktur der Ambivalenz, die nach topischer Denkgewohnheit in utramque partem konstruiert ist und entsprechend kommentiert werden kann, liegt in Tristans Bildersaal vor. Nach der Überlieferung des Sir Tristrem, den GESA BONATH zur Auffüllung der Lücken im Tristan des Thomas von Bretagne heranzieht, befindet sich inmitten des Statuenarrangements eine pneumatisch belebte Figur, die äußerlich Isolde,

wisheit

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Bereich der Bilder (imagines), von denen im letzten nicht entscheidbar ist, ob sie von Gott gesandt oder von einem Dämon eingeflüstert worden sind.21 Damit erscheint wij bei Herbort von Fritzlar in einem der Ekphrasis immanenten epistemischen Kontext, der seine paradigmatische Formulierung durch Augustinus erfahren hat. Für ihn stellen die glänzenden Phantasmen (phantasmata splendida), als die er im 3. Buch der Confessiones die Schriften der Gnosis bezeichnet, nicht einfach illusionäre Trugbilder dar. Zwar bezeichnet er die corporalia phantasmata als falsa corpora ohne Existenz (vanum Phantasma)·,22 doch sind sie fur ihn zugleich wirkliche, wirkungsmächtige Größen in der Wahrnehmung: Sie haben dort eine eigene Realität. Vor ihrer Eindringlichkeit kann deshalb nur zweierlei schützen: die göttliche Gnade, die es erlaubt, die Augen vor der vanitas der insistierenden Bilder zu schließen,23 oder die innerste Gewissheit der Wahrheit Gottes, die sich nicht an eine forma corporea bindet. Freilich kann im ersten Fall das Aufschlagen der Augen ebenso gut zu einem Erwachen in Gott führen wie - ganz im Gegenteil - eine überwältigende Flut aufgestauter Phantasmen einlassen.24 Im zweiten Fall zeichnet sich die Schwierigkeit ab, ein Kriterium anzugeben, wie die quaedam vana et phantastica von gottgesandten prophetischen Traumvisionen unterschieden werden könnten. Denn es gibt keine Position außerhalb der sinnlichen Wahrnehmung durch Phantasmen. Die intuitive Sicherheit seiner frommen Mutter scheint Augustin, dem Rhetorik-Professor und Fachmann für die Erzeugung und Mobidem Bildtyp nach aber dem apokalyptischen Weib, der neuen Maria, gleicht. Bewacht wird sie von der Nachbildung eines Riesen, der in seinem ,,haarige[n] Bocksfell" sowohl an Johannes den Täufer als auch an den leibhaftigen Teufel erinnert. Gebaut ist dieser hermetische und innerlich vom eigenen Goldglanz erleuchtete Saal übrigens ursprünglich für eine Herzogstochter, die von einem afrikanischen Riesen entführt und im Inneren des Raumes durch die Last ihres minnebesessenen Entführers wie ein Schaumbild zerdrückt worden ist. Ihr Name lautet Elena nach der mythologischen Figur des Trojanischen Krieges, die seit alters das Bild der Frau, das heißt: die Frau als Bild, darstellt (vgl. Thomas: Tristan. Eingeleitet, textkrit. bearb. und übers, von GESA BONATH, München 1985 [Klassische Texte des Romanischen Mittelalters in zweisprachigen Ausgaben 21], S. 139-149, zit. S. 143). 21 Zur Rolle der Vorstellungsbilder im Verhältnis zur rhetorischen Leitdifferenz von res und verba siehe die Rekonstruktion des Augustinischen Zeichenmodells durch CHRISTOPH HUBER: Wort sint der dinge zeichen. Untersuchungen zum Sprachdenken der mittelhochdeutschen Spruchdichtung bis Frauenlob, München 1977 (MTU 64), S. 6-21. 22 Vgl. Augustinus: Bekenntnisse. Lateinisch und Deutsch. Eingel., übers, und erläutert v o n JOSEPH BERNHART. M i t e i n e m V o r w o r t v o n ERNST LUDWIG GRASMÜCK, F r a n k f u r t

23 24

a. M. 1987, lib. III, 6,10. Ebd. lib. VII, 14,20: ... et clausisti oculos meos, ne viderent vanitatem („...und schlössest mir die Augen, daß sie Eitles nicht mehr sähen"). Ebd. lib. VI, 8,13 demonstriert es Augustinus an der Geschichte seines Freundes Alypius, den das Aufschlagen der abwehrend geschlossenen Augenlider buchstäblich im Augenblick vom Verächter zum blutgierigen Fanatiker der Zirkusspiele macht. Siehe zu dieser Passage die fulminante Lektüre von WOLFGANG SOFSKY: Traktat über die Gewalt, Frankfurt a. M. 1996, S. 101-118.

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Hans Jürgen Scheuer

lisierung von Phantasmen durch Rede, jedenfalls nicht mehr gegeben.25 Unter diesen Gesichtspunkten erfasst der Begriff,Phantasma' im weitesten Sinne alle affektiv gesteigerten Formen sinnenvermittelter Präsenz. Phantasmata sind Bilder, die, angestoßen durch optische, akustische oder andere Sinneseindrücke und womöglich verstärkt durch technische oder artifizielle Mittel, dem inneren Auge vorschweben.26 Für das Verständnis von wisheit und ihrer Verknüpfung mit den Sinnen (insbesondere den sensus interiores, also den ,tiefen Sinnen') ergeben sich aus diesem Dilemma der Deutung von Phantasmen zwei unterschiedliche Optionen ethischer Wertung und poetischer Verwertung: Zum einen kann wisheit als sapientia Dei theologisch zum Vorrecht des Schöpfergottes erklärt werden, so dass die Norm seiner Schöpfung zugleich den alleinigen Urteilsmaßstab des when abgibt. In Heinrichs von Neustadt Gottes Zukunft27 wendet sich am Tag des Jüngsten Gerichts Gott mit einer entsprechenden Selbstaussage an die Gerechten (V. 7903-06): Ich bin der meister sinne rieh Der uch den ersten orden gap, Miner wisheit urhap In der wonnen paradis.

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Der Antichrist dagegen maßt sich am Ende der Tage göttliche Schöpferkraft lediglich an. Als falscher Sohn Gottes auftretend, vollbringt er Starke, groze zeichen / [...], die nie gesehen sint (V. 5243f.). Sie reichen von der Totenerweckung bis zur Erschaffung neuer Menschen - nur, dass das Bild dieser Menschen von Anfang an entstellt erscheint: Blut rot wirt gar der lip / Und wunderlich geschaffen (V. 5255f.). Warum das so ist, weiß der Text genau zu erklären (V. 5272-85): Er wil daz er zu iht duge Daz er den menschen gemachen So schone als der wise Got in dem paradise Mäht Evam und Adamen

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muge 5275

Ebd. VI, 13,23: Dicebat enim discernere se nescio quo sapore, quem verbis explicare non poterat, quid interesset inter revelantem te [sc. dominum] et animam suam somniantem („Sie behauptete nämlich, sie erkenne an einer Art Wohlempfindung, die sie mit Worten nicht zu beschreiben vermochte, den Unterschied zwischen dem, was Du [Herr] kundtust, und dem, was ihre eigene Seele träumt"). Zur Theorie der phantasmata bei Augustinus siehe auch GEORGES DlDI-HUBERMANN: Die Paradoxien des Seins zum Sehen. In: Ders.: Phasmes. Essays über Erscheinungen von Photographien, Spielzeug, mystischen Texten, Bildausschnitten, Insekten, Tintenflecken, Traumerzählungen, Alltäglichkeiten, Skulpturen, Filmbildern, Köln 2001 [zuerst 1988], S. 139-157. Heinrichs von Neustadt Apollonius von Tyrland nach der Gothaer Handschrift. Gottes Zukunft und Visio Philiberti nach der Heidelberger Handschrift. Hrsg. von SAMUEL SINGER, Berlin 1906 (DTM 7).

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wisheit

Mit allem sinem samen In der wisheit norme, Nach so gotlicher forme: Daz mag der schalg getan niht, Also ie doch er giht Ez si sin gStliche crafi. Sin wisheit und sin meisterschaff, Daz er die forme wilde Gebe an menschen bilde.

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Mögen die Gebilde des Antichrist auch auf den Betrug der Gläubigen hin angelegt sein, so steht ihrer wilden, sprich: phantasmischen Form doch die göttliche gegenüber, in der allein sich der wisheit norme verkörpert. Was an dieser keinen Anteil hat, ist schlicht äne wisheit - wie jene Götzenbilder, von denen bei Rudolf von Ems Barlääm zu Josaphat spricht (3851-82): 2 8 Krist gap durch dich zer marter sich und leit vil groze not durch dich: also tuo ouch du durch in und kere allen dinen sin, wie dü berihtes so din leben, als er dir bilde hat gegeben. dü soll durch in arbeit hän, als er ouch hat durch dich getän, so maht du im wol nähen; die gote gar versmähen, die dise heiden nennent gote nach des tiuvels geböte, die sint gegozzen unde gesniten. in allen süntlichen siten weiz ich graezer sünde niht, danne daz in iemen giht deheiner helflicher kraft. mit dem tiuvel sint behaft diu selben sinnelosen vaz: dü solt vür wär gelouben daz. ir deheinez sprechen kan, swie vil man sie geschriet an: si sint gar äne wisheit. in ist aller sin verseil, gän, sprechen, hoeren, sehen. im muoz ouch alsam geschehen, swer an ein bilde beten gät, daz mensche gemachet hät.

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Rudolf von Ems: Barlaam und Josaphat. Hrsg. von F R A N Z PFEIFFER, Leipzig 1 8 4 3 (Dichtungen des deutschen Mittelalters 3). Mit einem Anhang [...], Nachwort und einem Register von H E I N Z R U P P , Nachdruck Berlin 1 9 6 5 (Deutsche Neudrucke, Reihe: Texte des Mittelalters).

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Hans Jürgen Scheuer got hat ir gar vergezzen. der tiuvel hat besezzen diu bilde und ouch der Hute sin, die gelouben jehent in.

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Wisheit - oder vielmehr: ihr Mangel - zeigt sich hier im Ausfall aller Sinnesleistungen, die den Körper zur Selbsttätigkeit befähigen: zu Eigenbewegung und Sprache als Formen willentlich gesteuerter Aktion, zu Sehen und Hören als Voraussetzung eigenen Urteilens. Weil diese Leistungen allein v o n der Gottesebenbildlichkeit, ihr rechter Gebrauch aber aus d e m Bilde Christi, der vera icon, abgeleitet werden können, muss jedes damit unvereinbare Phantasma ein sinneloses vaz bleiben: unbeweglich, ohne eigenes Handlungs- und Urteilsvermögen, eben: äne wisheit. Das gilt zumal für die v o n Menschenhand geschaffenen Artefakte, mit denen a m entschiedensten wohl Albrecht, der Autor des Jüngeren Titurel,29 ins Gericht geht, w e n n er darüber räsoniert, ob Ungläubige überhaupt in der Lage seien, kunst hervorzubringen (Str. 2603-05): Wa von des ungelouben pflegnt so vil der heiden, an wisheit gar di touben, doch kunste rieh? daz ist gar under scheiden. kan ieman kunste ane der wisheit sinne? ja, behendicheit ist wunder, und kunnen beide äffen und effinne. Von gewonheit lere tünt hunt behendicliche und ander kunder mere, ein vogel ret etwenne der dutsch geliche. da bi verstet die kunst der heidenschefte: di kunnen aller kunste hört und sint da bi an aller witze krefte. Hoch ob aller kunste muze wir di wisen mit gotlicher vernunste über die liste und liste macher prisen. di wisen sint got ewiclich an sehende. swer dirre wisheit vcelet, dem ist man hie und dort niht wisheit

jehende.

In der e w i g e n Schau Gottes, der unausgesetzten Kontemplation des einen und einzigen wahren Bildes, finden die wisen zur Gewissheit ihrer Erkenntnis. 30 29

Albrechts von Scharfenberg Jüngerer Titurel. Nach den ältesten und besten Handschriften krit. hrsg. von WERNER WOLF/KURT NYHOLM, 4 Bde., Berlin 1955-95 (DTM 45, 55, 61, 73, 77, 79). Zum Verhältnis von wisheit und kunst in der Spruchdichtung vgl.

30

Zur Bedeutung dieser kontemplativen Reinigung der inneren imagines im Zusammenhang klösterlicher Frömmigkeitspraktiken vgl. THOMAS LENTES: Inneres Auge, äußerer Blick und heilige Schau. Ein Diskussionsbeitrag zur visuellen Praxis in Frömmigkeit und Moraldidaxe des späten Mittelalters. In: Frömmigkeit im Mittelalter. Politischsoziale Kontexte, visuelle Praxis, körperliche Ausdrucksformen. Hrsg. von KLAUS SCHREINER, München 2002, S. 179-220, bes. S. 197: „In der Zelle, die Bilder des Gekreuzigten und seiner Mutter vor Augen, wurde der Blick der Predigerbrüder und -nonnen neu ausgerichtet. Auf die Bilder in der Zelle sollten sie [...] die Augen ihres Körpers wie ihres Geistes richten, damit sie von ihnen Hilfe erhielten. [...] Die Zelle war so Schauraum des Heils." Umgekehrt bedeutet das für die Kontemplation, dass durch sie

STACKMANN ( A n m . 8), S. 90-93.

wlsheit

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Kunst, die nicht aus dieser Quelle schöpft, ist lediglich mechanische Geschicklichkeit. Die Ähnlichkeit ihrer Produkte mit der Beweglichkeit der Affen, der Lernfähigkeit der Hunde und dem Sprachvermögen des Sittichs verdeckt nur durch vernunftlose oder andressierte behendicheit das Fehlen und den eigentlichen Ursprung der wisheit. Die zweite Möglichkeit, wisheit mit der Widersprüchlichkeit der Bilder zusammenzudenken, wählt statt der theologischen Fundierung in der göttlichen sapientia den Weg über eine naturphilosophische Klärung des Wahrnehmungsvorganges. Sie macht sich die Wertambivalenz zueigen und poetisch produktiv, indem sie ihre dichtesten, imaginativ wirkungsvollsten Beschreibungen nach der Maßgabe wahrnehmungsphysiologischer Modelle gestaltet. Dabei werden die Urheber der beschriebenen Objekte oder Installationen häufig als wise in dem Sinne bezeichnet, dass sie derartige Wunderwerke zu konzipieren, herzustellen oder sich ihrer zu bedienen vermögen. Da wisheit hier nicht länger an die Position Gottes und an die dargestellte Unmittelbarkeit ihrer Schau gebunden ist, kommt es beim Nachvollzug dieser Modelle besonders darauf an zu beachten, wo die Wirkung der wisheit angesiedelt wird. Im iTtteas-Roman31 Heinrichs von Veldeke wird Geometras, der Architekt des Grabmals der Camilla, als der wise man (V. 9413) bezeichnet. Das besagt im engeren Sinne, dass er beim Bau die list von geometrien (V. 9409) anwendet, so dass ein nach Maß und Zahl geordnetes Monument vor den Augen des Hörers und Lesers entsteht. In einem umfassenden Sinne wirkt diese konstruktive wisheit des Geometras zugleich am gesamten Imaginationsgeschehen der Eneit mit. Denn das exponierte Säulengrab der Camilla komplettiert die Topographie der Erzählung durch einen imaginären Ort, der daraufhin angelegt ist, ein schonez bilde, die Königin als reiniu maget (V. 9327), so zu präparieren, dass seine Erinnerung zugleich unnahbar und doch demonstrativ präsent bleibt. Dazu wird es einerseits vor jedem direkten sinnlichen Zugang geschützt,

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das Innere zur Zelle der vera icon werden soll. Vgl. dazu JEFFREY F. HAMBURGER: The Visual and the Visionary. Art and Female Spirituality in Late Medieval Germany, New York 1998, Kap.: Vision and the Veronica, S. 317-382. - Literarisch lässt sich eine vergleichbare Praxis schon viel früher belegen. In der Kaiserchronik wird Theodosius als bedeutendster christlicher Kaiser neben Konstantin mit dem bilderverehrenden Astrolabius kontrastiert, der im Wahn seiner Idolatrie so weit geht, sich mit einer VenusStatue zu verloben. Nur knapp und durch den aufopfernden Einsatz des Priesters Eusebius, eines geläuterten Dämonenbeschwörers, kann er der ewigen Verdammnis entrissen werden (Die Kaiserchronik eines Regensburger Geistlichen. Hrsg. von EDWARD SCHRÖDER, Hannover 1892, Nachdruck München 1984 [MGH, Deutsche Chroniken 1,1], V. 13101-376). Dagegen berichtet die Chronik vom römischen Kaiser: daz der chunich Theodosius /genam im ainen site - /da genas er sit mite -: / daz er des morgenes nie nehain wort enresprach, / e er daz hailige crüce resach, / so fläch er ie die menige; / da vor suocht er sine venie, / er manete got siner wunden (V. 13078-85). Heinrich von Veldeke: Eneasroman. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Nach dem Text von LUDWIG ETTMÜLLER ins Neuhochdeutsche übers., mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort von DIETER KARTSCHOKE, Stuttgart 1986 (RUB 8303).

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indem die Form des Turmes es himmelwärts entrückt. Andererseits wird alles getan, das Bild lebendig zu erhalten: Auch in diesem hermetischen Raum fehlt es nicht an einer inneren, ewig bildgebenden Beleuchtung aus Edelsteinen und einem besonderen Lampenmechanismus, dessen Konstruktion explizit wieder mit dem wise[n] Geometras, / der ein listich man was (V. 9523f.) in Verbindung gebracht wird. Ein Epitaph verleiht dem Arrangement Sprache. Außerdem ,beleben' zwei Balsamfässer den Leichnam pneumatisch und schützen ihn durch ihre Duftströme vor Verwesung. Bekrönt wird das Mausoleum durch einen Spiegelaufbau, der alle sich nähernden Bilder im Umkreis von einer Meile sichtet. Der Sinn dieses optischen Instruments scheint mir ein apotropäischer zu sein (denn anders als beim Spiegel von Schastel marveile in Wolframs Parzival32 gibt es von vornherein keinen Benutzer, der spähend in den Spiegel blicken könnte): Er wehrt die andrängenden imagines agentes ab, die das verlebendigte Erinnerungsbild Camillas kontaminieren und entstellen könnten. Alle genannten Elemente weisen darauf hin, dass die wisheit, die sich im Bauwerk des Geometras manifestiert, gleichsam an der Pforte der memoria operiert. Sie kommuniziert mit den im Gedächtnis thesaurierten Bildern, die wie Tote in Zellen abgelegt sind, doch arbeitet sie selbst nicht in diesem Bereich, sondern, den Sinnen zugewandt, an der Belebung, der Reinigung und am Vor-Augen-Stellen der erinnerten imagines. Deutlicher noch kann diese Lozierung der wisheit im physiologischen Apparat der Wahrnehmung durch das Beispiel Hartmanns von Aue werden. In der Zelter-Beschreibung des Erec33 spielt das Wort wise schon durch seine Frequenz eine herausragende Rolle: In den 480 Versen der Ekphrasis taucht es immerhin fünfmal an Schlüsselstellen auf, die sich zwei entscheidenden Funktionen der inneren Bildsynthese zuordnen lassen: Nachdem der erste visuelle Eindruck des Tieres über seine ungewöhnliche Färbung beschrieben worden ist, geht es im folgenden Abschnitt um die Gestalt des Pferdes insgesamt (V. 736676): also was sin geschaft daz von siner meisterschafi ein werltwiser man der aller dinge ahte kan niht bezzers betrahte, ob er in siner ahte aht ganzer järe sceze unde niht vergceze wan daz erpruoße sin muot

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33

7370

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Vgl. Wolfram von Eschenbach: Parzival. Studienausgabe. Mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausg. von KARL LACHMANN. Übersetzung von PETER KNECHT. Einführung zum Text von BERND SCHIROK, Berlin, New York 1998, V. 589,1-590,16. Anm. 10

wisheit ein pherit schoene und volle also was ez gestalt.

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guot:

Ein .Weltweiser', sprich: ein Philosoph, der angesichts des Zelters acht Jahre lang an nichts anderes zu denken hätte als an die perfekte Form (species) des Pferdes, könnte sich kein besseres als das der Enite ausdenken. Selbst wenn er die Macht hätte, seine mentale Vorstellung leibhaftig vor sich hinzustellen, und alles, was an diesem individuum dann abstände, noch einmal zu bereinigen, müsste der werltwlse nicht ein Haar beseitigen, um mit seinem Kopfprodukt der Perfektion des neuen Zelters zu entsprechen. Abgesehen von der Hyperbolik des Ausdrucks bewegt sich diese Schilderung im Rahmen einer Terminologie, die sich präzise im Prozess innerer Verbildlichung verorten lässt. Die Aufgabe, daz ez [das wahrgenommene Pferd] belibe stcete (V. 7379) - und dies nicht etwa in der memoria, sondern im Medium des muotes (spiritus, pneuma) -, übernimmt nach der auf Aristoteles und Avicenna zurückgehenden Imaginationstheorie die imaginatio formalis.34 Während die reinen Sinnenreize, die in der vorderen Hirnkammer des sensus communis eintreffen, wie Bilder in einem Spiegel keinen Bestand haben, sorgt die dahintergeschaltete formgebende imaginatio für eine erste Verstetigung. Sie synthetisiert das Wahrgenommene zu einer Gestalt, die auch dann noch erkennbar bleibt, wenn das äußere Objekt aus dem Feld der Sinne verschwunden ist. Die zweite Gelegenheit, bei der wisheit ins Spiel kommt, betrifft eine höhere Ebene des prüevens. Der Erzähler spricht davon, bevor er in die descriptio des Sattels eintritt, dessen Fülle (copia) exemplarischer imagines der minne deutlich dem Bilderschatz der memoria zuzuordnen ist.35 An dieser Stelle heißt es, von disen mäterjen, den Baustoffen des Sattelgestells, habe des meisters [Umbriz] sin / geprüevet diz gereite / mit grözer wisheite (V. 7534-37). Die Prüfung, die über die Verwendbarkeit der Materien für das Sattelwerk entscheidet, ist nun eine Sache der ratio, genauer: der Urteilskraft (vis aestimativa), die zwischen Imagination und Gedächtnis den Verkehr der Bilder kontrolliert: Nur solche werden entweder in die memoria eingelassen oder als erinnerte imagines agentes in der inneren Bildsynthese aktualisiert, die den Kriterien der hier angesiedelten wisheit genügen.36 Dass es sich - wie im Falle des werltwisen bei der Ekphrasis um einen angespannten Imaginationsprozess handelt, demon34

35 36

Vgl. dazu die Rekonstruktion von MICHAEL CAMILLE: Before the Gaze. The Internal Senses and Late Medieval Practices of Seeing. In: Visuality before and beyond the Renaissance. Seeing as Others Saw. Hrsg. von ROBERT S. NELSON, Cambridge 2000 (Cambridge Studies in New Art History and Criticism), S. 197-223. Vgl. HAIKO WANDHOFF: Gemalte Erinnerung. Vergils Aeneis und die Troja-Bilddenkmäler in der deutschen Artusepik. In: Poetica 28 (1996), S. 66-96. Wiederum spielen bei der Vergegenwärtigung des Reitgeschirrs die Edelsteine des neuen Jerusalem und des irdischen Paradieses eine Rolle. Vom Zaumzeug des Zelters erfahren wir: ez wären verworht dar inne /mit schcenem sinne /die einlif edelen steine: / der zweifle der was eine / vor in den zoum geleit / in ein schiben, diu was breit, / diu nider vür den zoph gie /und vor dem houbete hie (V. 7736-43).

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striert zusätzlich der eingeschobene Dialog des Erzählers mit seinem Interlocutor, der die Beschreibung des bildbesetzten gereites noch einmal hinauszögert (V. 7493-99): , nü swic, lieber Hartman: ob ich ez errate?' ich tuon: nü sprechet dräte. ,ich muoz gedenken e dar näch.' nü vil dräte: mir ist gäch. ,dunke ich dich danne ein wiser man?' ja ir. durch got, nü saget an.

7495

Im Verlauf der Stichomythie verfehlt die hyperbolische Rede des Interlocutors bei weitem das Bild des Pferdegeschirrs und bestätigt dadurch erst recht, dass zwischen res und verba eine Kluft besteht, und dass inmitten dieser Kluft eine Poetik der Bilder wirkt, als deren Experte der weise Meister Umbriz zu gelten hat: das Muster des bildstellenden Poeten. Die Belege dafür ließen sich vermehren, dass wlsheit und vm-Sein im Kontext bildpoetisch prägnanter ,dichter Beschreibungen' an wahrnehmungstheoretisches Wissen anknüpfen.37 Für den Zweck meiner Skizze mag es an dieser Stelle genügen, noch einmal darauf hinzuweisen, dass die beiden zuletzt und zuerst geschilderten Varianten des wwAeii-Konzepts keineswegs zu zwei voneinander isolierten, disparaten Diskurswelten - hier zur Naturphilosophie, da zur Theologie - gehören. Sie bilden vielmehr nur die beiden Seiten einer Medaille: Die Fixierung auf das einzige wahre Bild einerseits und auf die Flut der im Wahmehmungsapparat kursierenden Bilder andererseits markiert lediglich entgegengesetzte Zonen e i n e s Problemfeldes, in dem es darum geht, epistemologisch, ethisch und poetisch Konsequenzen aus der Ambivalenz der Bilder zu ziehen. Für die Plausibilität der angestrebten Lösung ist die Positionierung der wlsheit entscheidend. Bezogen auf diese Position arbeitet am äußersten Rand des Diskursfeldes - in radikaler Distanz zur Theologie der vera icon38 - die Mystik

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An zwei Werken, in denen das Konzept wisheit eine zentrale Rolle spielt, habe ich das in extenso dargestellt: an der Beschreibung des Palastes der Candacia - si was listich unde wis / di riche kuninginne / mit iren tiefen sinne - im Straßburger Alexander (Lamprechts Alexander nach den drei Texten mit dem Fragment des Alberic von Besan^on und den lateinischen Quellen. Hrsg. und erklärt von KARL KINZEL, Halle a. S. 1884 [Germanistische Handbibliothek 6], hier V. 5970-72; vgl. SCHEUER [Anm. 14], S. 2031) sowie, bezogen auf die Gesamtkonstruktion eines .cerebralen Artusromans', an Strickers Daniel (HANS JÜRGEN SCHEUER: Bildintensität. Eine imaginationstheoretische Lektüre des Strickerschen Artusromans Daniel von dem Blühenden Tal. In: ZfdPh 124, [2005], S. 23-46). Vgl. dazu die grundlegende Differenz, die ERNST TUGENDHAT zwischen Religion und Mystik annimmt (Egozentrizität und Mystik. Eine anthropologische Studie, München 2003, hier S. 124): „Sowohl in der Religion wie in der Mystik rekurriert man in der Verarbeitung der (effektiven oder zu befürchtenden) Frustrationen der Wünsche auf das

wis heil

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am entbilden der Weisheit, indem sie die Seele (als das proton organon des menschlichen Wahrnehmungsapparates) auch noch ihres letzten und einzigen Bildes entkleiden möchte durch Auflösung jeglicher Unterschiedenheit und jeglichen Zweifels in der Einheit Gottes: Ze dem andern male offenbäret sich Jesus in der sele mil einer unmcezigen wisheit, diu er selber ist, in der wisheit sich der vater selbe bekennet mit aller siner veterlichen herschaft und daz selbe wort, daz ouch diu wisheit selber ist, und allez daz dar inne ist, also als daz selbe ein ist. Swenne disiu wisheit mit der sele vereinet wirt, so ist ir aller zwivel und alliu irrunge und alliu dünsternisse alzemäle abe genomen und ist gesetzet in ein lüter klärez lieht, daz selber got ist, als der prophete sprichet: „herre, in dinem liehte sol man daz lieht bekennen."Dä wirt got mit gote bekant in der sele; so bekennet si mit dirre wisheit sich selber und alliu dinc, und die selbe wisheit bekennet si mit im selben, und mit der selben wisheit bekennet si die veterliche herschaft in vruhtbcerer berhafticheit und die weseliche isticheit nach einvaltiger einicheit äne einigen underscheit,39

Vom Boden der Naturphilosophie aus aber strebt eine andere Kraft danach, sich der wisheit zu bemächtigen: die Magie. Ihr gelten meine abschließenden Überlegungen.

3. wisheit der Magie Nach dem Verständnis des rumänischen Religionswissenschaftlers I O A N P E T R U C U L I A N U ist Magie mit Hilfe des Eros und als dessen wirkungsmächtige Transformation in der Lage, die normal funktionierende ratio zu besetzen, um von dort aus die Bilder, die aus der imaginatio formalis oder aus der memoria eintreffen, zu verkehren oder zu manipulieren, ohne dass der Wahrnehmende, dem ja keine andere Realität als die des inneren Bildes zugänglich ist, eine Chance hätte, die Manipulationen hinter den Bildern zu durchschauen. Zum Magier erscheint insofern derjenige berufen, dessen wisheit aus der Erfahrung eigenen Verstricktseins sich des Operators minne zu bedienen versteht:

numinose Universum, aber in der Religion in der Weise, daß in das Universum Instanzen projiziert werden, die helfen können sollen; hingegen dient dem Mystiker das Sichbewußtmachen der Existenz des Numinosen - mag er es nun das Universum oder Sein oder Tao nennen oder es auch als Gott sehen - als Bezugspunkt, auf den hin er von seinen Wünschen - sei es schlechterdings, sei es einen Schritt - zurücktritt und so versucht, einen Zustand des Seelenfriedens zu erreichen." Im Sinne der Imaginationstheorie lassen sich jene „Wünsche" (aus gebotener Distanz zu TUGENDHATS psychologisierender Ausdrucksweise) als Bildvorstellungen verstehen, die Suche nach dem „Seelenfrieden" aber als das Aussetzen jeglicher Phantasmenproduktion. 39 Meister Eckhart: Werke I. Texte und Übersetzungen. Hrsg. von NLKLAUS LARGIER, Frankfurt a. M. 1993 (Bibliothek des Mittelalters 20), Predigt I: Intravit Jesus in templum et coepit eicere vendentes et ementes, hier S. 20,20-34.

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H a n s Jürgen S c h e u e r

Einerseits muß er peinlich darauf achten, sich nicht verfuhren zu lassen, und dafür muß er die Liebe, einschließlich der Selbstliebe bis auf den letzten Keim in sich ausmerzen; andererseits ist er nicht frei von Leidenschaften. Im Gegenteil, er muß in seinem phantasmischen Apparat gewaltige Leidenschaften entfachen, vorausgesetzt, sie sind unfruchtbar und er ist von ihnen losgelöst. 4 0

Es ist daher kein Wunder, wenn unter den prominentesten Opfern der minne immer wieder Magier und Zauberinnen genannt werden, die in fataler Fruchtlosigkeit ihren eigenen Leidenschaften unterliegen. Im Parzival Wolframs von Eschenbach41 ist dieser magische Weisheitstypus paradigmatisch ausgestaltet in der Figur Clinschors, des phaffe[n] der wol zouber las (V. 66,4). Zum erstenmal wird der gelehrte clericus mit dem Attribut der wisheit versehen, als Gawan die kemenate auf Schastel marveile betritt, in der er die äventiure um das Zauberbett Lit marveile brechen soll. Wiederum stellt dieser Raum eine aus eigener Kraft leuchtende Edelsteinkammer dar, deren estriches schin (V. 566,12) Staunen erregt, da die Glätte des Bodens dem rollenden Bett eine solche (phantasmenartige) Eigenbeweglichkeit und Schnelligkeit verleiht, dass Gawan es nur im Sprung zu erreichen vermag (566,20-26): den estrich muoz ich iu lobn: von jaspis, von crisolte, von sardin, als er wolle, Clinschor, der des erdähte, üz manegem lande brähte sin listeclichiu wisheit were daz hier an was geleit.

20

25

Als Gawan später die von ihm aus Clinschors Bann gelöste Mutter des Artus, Königin Arnive, fragt, durch waz so strengeclichen list / der wise Clinschor (655,30-656,1) die Wunder des Zauberschlosses erlangt habe, erfährt er die Vorgeschichte des Magiers. Sie charakterisiert ihn als einstmals glühenden Liebhaber von Iblis, der Gemahlin des Königs Ibert von Sizilien. Weil durch ihr Geschenk eines Minnezeltes das Geheimnis des minne-Verhältnisses aufgedeckt wird, lässt ihn der König kurzerhand kastrieren. Seither habe sich Clinschor der schwarzen Kunst zugewandt und sich ein eigenes Reich geschaffen: Terre de Labur. Alles, was durch Clinschors Machenschaften aus seinem angestammten Zusammenhang gerissen, deterritorialisiert und in Terre de Labur reterritorialisiert wird, verändert sich signifikant: Es wird, ob es sich um das minne-Bett, den zum Gralskomplex zählenden Zauberspiegel oder die entführte Artussippe handelt, unfruchtbar. Dieser Verlust an erotischer, heilsgeschichtlicher oder genealogischer Zeugungskraft ist zugleich die Voraussetzung für die Bändigung und Umleitung des Eros: Aus dem Minnenden, der sich in den Netzen seiner Leidenschaft verstrickt hat, ist dadurch ein Meister der Manipu40

IOAN P. CULIANU: Eros und Magie in der Renaissance. Mit einem Geleitwort von MIRCEA ELIADE, Frankfurt a. M . , L e i p z i g 2 0 0 1 , S . 1 5 6 .

41

Anm. 32.

wis heil

103

lation geworden, der nach Belieben die Begierden und Vorstellungen anderer bindet/entfesselt und so Kontrolle über deren guot und Territorium gewinnt. Gleichzeitig mit dem unaufhaltsamen Machtzuwachs breitet sich allerdings auch die Sterilität des Machthabers aus, als handle es sich bei Clinschors Kastration um eine Art kontagiöser Gewalt, die alles ansteckt, was mit dem Magier in Berührung kommt.42 Seine Entmannung ist folglich weniger als Strafe oder historia calamitatum des Zauberers zu verstehen denn als Signatur seiner magischen wlsheit, die auf der vollkommenen Kontrolle über Wahrnehmung und Erkenntnis durch den bezwungenen Eros beruht. Eine weitere Wendung dieses magischen Verständnisses von wlsheit lässt sich an der Figur der Medea bei Konrad von Würzburg beobachten. Von ihr heißt es im Trojanerkrieg43 (V. 7424-26): an ir lac witze und edel tugent nach volleclichem prise. der swarzen buoche wise diu riliche maget was.

7425

Es folgt eine Liste, in der Medeas magische Künste (Dämonenbeschwörung, Losorakel, Wetterzauber, Nekromantie, Schadenszauber und Astrologie) gleichberechtigt neben den sibert houbetlisten aufgeführt werden. Damit wird ein Schema mittelalterlicher Wissensorganisation aufgerufen, in dem die septem artes liberales koexistieren mit den artes mechanicae und den artes magicae, die zusammen das Feld der philosophia naturalis konstituieren.44 Zwar braucht die Subsumtion dieser diversen Künste unter dem Aspekt der Buchweisheit an sich noch keine besondere Aufmerksamkeit zu erregen, doch interessiert an Konrads Medea-Porträt die Parallelisierung von magischer Pharmakopöie (Verjüngungszauber) und ars poetica des Erzählers. Medeas medikamentöse Praxis des erniuwens kongruiert nämlich mit dem erniuwen - einem der poetologischen Schlüsselwörter des Prologs, das die Arbeit des Dichters an seiner materia charakterisiert. Seine wlsheit findet wiederum ein Analogon in den olympischen Gottheiten, die im Trojanerkrieg durchweg als Magier alter Zeiten verstanden werden.45 Unter ihnen befindet sich neben Trickstem mancher sinneriche man, der (V. 879-85) 42

43

Zur Vorstellung epidemisch sich ausbreitender Gewalt (im Kontext von Ursprungsdenken, Opferstellvertretung und mimetischer Rivalität) vgl. die Analyse des ÖdipusMythos von RENE GLRARD: Das Heilige und die Gewalt, Zürich 1987. Der Trojanische Krieg von Konrad von Würzburg. Nach den Vorarbeiten K. FROMMANNS und F. ROTHS z u m ersten Mal hrsg. durch ADELBERT VON KELLER, Stuttgart

44

45

1858 (StLV 44), Nachdruck Amsterdam 1965. Vgl. FRANK FLIRBETH: Die Stellung der artes magicae in den hochmittelalterlichen .Divisiones philosophiae'. In: Artes im Mittelalter. Hrsg. von URSULA SCHAEFER, Berlin 1999, S. 249-262. Die poetisch-epistemologische Bedeutung dieser Verschiebung ist bisher nicht wirklich erfasst, sondern auf eine mittelalterliche Form des Euhemerismus, also der Umdeutung von Göttern zu vergöttlichten historischen Gestalten, reduziert worden: so etwa von

104

Hans Jürgen Scheuer schcen unde niuwe liste vant, der wart ouch bi der zit erkant fiir einen got der selben kunst, und truogen im die liute gunst dur daz meisterliche dinc, daz also niuwerfände ursprinc von erst uz sinem herzen flöz.

880

Als ihr oberster Repräsentant gilt dem Erzähler (V. 913-16) her Jupiter, als ich ez las. wan er so künsteriche was, daz er mit zouberlicher maht ir aller wisheit übervaht.

915

Das Zusammenspiel von wisheit und zouberlicher maht lässt sich aus dieser Zitatenfolge kommentierend erschließen: Der Ausfluss des Herzens, das wie die Seele als proton organon der Wahrnehmung zu denken ist, wird zur Quelle niuwer fände, die auf die Inventionskunst des dialektisch geschulten Dichters und seines Phantasmen erzeugenden Wahrnehmungsapparates verweisen. Das dichterische erniuwen der aufgefundenen Stoffe ist dabei der Rezeptur von Medeas verjüngendem Pharmakon insofern vergleichbar, als ars magica und ars poetica eine analoge Aufgabe verfolgen, die wiederum auf das Feld der artes mechanicae verweist: Beide lassen sich als Künste verstehen, die Eigenbewegungen hervorrufen oder simulieren können - die magische Arznei am äußeren Erscheinungsbild des lebendigen, die magische Poesie am inneren Vorstellungsbild des phantasmischen Körpers. 46 Auf diese Weise führt Konrad unter dem Leitwort wisheit den Dichter mit dem Magier eng. Der eine wie der andere zieht die Faszination und Verehrung

RÜDIGER SCHNELL: Causa Amoris. Liebeskonzeption und Liebesdarstellung in der mittelalterlichen Literatur, Bern, München 1985 (Bibliotheca Germanica 27), S. 370: Die „euhemeristische Tradition blieb auch im Mittelalter bestimmend (vgl. ζ. B. Konrads von Würzburg Trojanerkrieg) und bildete sogar einen gewissen Schutz für das Fortleben der Götter, denn sie konnten nun in die Menschheitsgeschichte eingereiht werden." Wiederholt wird diese Einschätzung von MANFRED KERN, der davon spricht, dass Konrads Trojanerkrieg „den Götterhimmel euhemeristisch eine prunkvolle Fürstenwelt sein" lasse, und im Hinweis auf die Zauberkraft der vergöttlichten Menschen eine Entschärfung der „Frage des antiken polytheistischen Heidentums [...] zu einer kulturhistorischen Tatsache" sieht (Edle Tropfen vom Helikon. Zur Anspielungsrezeption der antiken Mythologie in der deutschen höfischen Lyrik und Epik von 1180-1300, Amsterdam 1998 [Amsterdamer Publikationen zur Sprache und Literatur 135], S. 389 mit Anm. 701). 46 Zum Zusammenspiel von ars poetica und ars magica vgl. auch HANS JÜRGEN SCHEUER: Die Wahrnehmung innerer Bilder im Carmen Buranum 62. Überlegungen zur Vermittlung zwischen mediävistischer Medientheorie und mittelalterlicher Poetik. In: Das Mittelalter 8 (2003), H. 2: Wahrnehmungs- und Deutungsmuster in der Kultur des europäischen Mittelalters. Hrsg. von HARTMUT BLEUMER/STEFFEN PATZOLD, Berlin 2004, S. 121-136.

wisheil

105

der liute an sich, indem er durch seine neu gehobenen Funde auf die Weltwahrnehmung - genauer: auf die memoria oder die imaginatio formalis seiner Anhängerschaft - wirkt. Wissen und Poesie kommen dabei überein in einem Konzept von wisheit, in der der poetische sensus communis durch die Produktion und Evokation bewegter, das heißt: künstlich gesteigerter oder reduzierter Bilder mit demjenigen seines wisen Publikums zum consensus verschmelzen müsste - gäbe es neben der meisterschefte über's Dichten und Denken nicht immer auch den Vorbehalt gegen den Missbrauch der Bilder: die betrügerische gougelwise (V. 875) der Idolatrie.

4. Problemfeld wisheit Damit ist das Problemfeld um die Wörter wis und wisheit abgesteckt und ausgeschritten. Der Weg führte dabei zuletzt an die Ränder: Mystik und Magie stellen die Extremformen einer weisheitlichen Bildökonomie dar. Dazwischen spannt sich eine Zone theologischer und naturphilosophischer Bewertung der Imagination aus. Während die eine den Umgang mit den Phantasmen am Maßstab des e i n e n wahren Bildes, der vera icon, zu regulieren versucht, geht die andere in Form dichter, enargetischer Beschreibung dem Verbildlichungsprozess im Detail nach. So lässt sich eine Art Skala der Bildintensitäten rekonstruieren, die vom mystischen Nullpunkt in graduellem Anstieg bis zur magisch entfesselten Bildproduktion reicht. Was in Bezug auf mittelalterliche Poetik anfangs als Okkasionalität und Vagheit bezeichnet wurde, stellt sich vor dem Hintergrund eines derartig abmessenden Denkens als konstitutiv heraus für die Erfüllung der kognitiven Voraussetzungen von Wahrnehmbarkeit: Sicht- und erkennbar wird nur, was nach Maßgabe der wisheit im Anwachsen oder Schrumpfen mentaler Vorstellungen begriffen ist (intensio/remissio formarum). JOST TRIERS Urteile über die Marginalität magischer wisheit als eines archaischen Restbestandes esoterischen Wissens im Besonderen und über die Farblosigkeit der Semantik von wis und wisheit im Allgemeinen bedürfen somit einer Revision. Sie sind das Ergebnis einer Strukturation von Wortbedeutungen im Feld des mhd. Intellektualwortschatzes, bei deren Zuschnitt der poetisch relevante Anteil des mittelalterlichen Bilddenkens zugunsten der Hypostase einer christlich-religiösen oder höfischen Idealvorstellung ausgeblendet wurde. Methodisch setzt sich die vorliegende Studie deshalb von TRIERS Wortfeldforschung ab, indem sie statt nach Bedeutungen nach den zugrunde liegenden kognitiven Konzepten fragt. Diese lassen sich nicht allein aus den unmittelbaren, syntaktisch begrenzten Kontexten des Wortgebrauchs erschließen. Sie hängen vielmehr wesentlich mit den Problemstellungen zusammen, die den gesamten Komplex der literarischen ,Rücksicht auf Darstellbarkeit1 konstituieren. Deswegen muss die lexikalische Analyse erweitert werden durch eine

106

Hans Jürgen Scheuer

Kombination von semasiologischen und onomasiologischen Aspekten47 sowie um Überlegungen zur textuellen und kulturellen Hermeneutik literarischer Formen. Erst dann kann deutlich werden, dass eine Fundstelle wie die im Mauritius von Craün"%, wo der Protagonist hövesch und wise (V. 285) genannt wird, nicht leichthin als formelhafes Epitheton omans abgetan werden darf, sondern eine wesentliche Qualität des Ritters ausspricht, der zum Bau seines kuriosen Turnierschiffes vil gröz guot und wisheit (V. 633) investiert hat. Prägnant zeigt diese wisheit sich in der standesgemäßen Fähigkeit, mit den Mitteln der Kunst ein neues, durchschlagendes Bild hervorzubringen in einer höfischen Kultur der Phantasmen.

47

Im Bereich der lexikalischen Semantik trägt dem - ebenfalls in Absetzung von der strukturellen Wortfeldtheorie TRIERS - das linguistische Modell einer kognitiven Onomasiologie Rechnung; vgl. ANDREAS BLANK: Einfuhrung in die lexikalische Semantik für Romanisten, Tübingen 2001 (Romanistische Arbeitshefte 45), S. 119-126, sowie PETER KOCH: Bedeutungswandel und Bezeichnungswandel. Von der kognitiven Semasiologie zur kognitiven Onomasiologie. In: LiLi 121 (2001), S. 7-36. Entscheidend ist dabei, dass Kognition nicht als Funktion einer biologischen Grundausstattung des Menschen verstanden wird, sondern im Sinne einer historisch-literarischen Anthropologie, die beim Beobachten versprachlichter Wahrnehmungen den kulturellen Wandel der Kognitionsmodelle berücksichtigt. 48 Mauritius von Craün. Hrsg. von HEIMO REINITZER, Tübingen 2000 (ATB 113).

CAROLINE EMMELIUS

Politische Beratung, Zwiegespräch, gesellige Unterhaltung Zur Wortgeschichte von Gespräch im 15. Jahrhundert

Based on the observation that the New High German word Gespräch has had connotations since modern times which cannot simply be derived from the medieval history of the word, the author of this article attempts to trace back its development from a word belonging to the field of reign and law to a central concept in the (early-) modem culture of sociability. Therefore, the author analysed the material provided by the new Middle High German Dictionary (Mittelhochdeutsches Wörterbuch) and the Early New High German Dictionary (Frühneuhochdeutsches Wörterbuch) supplemented by the attested forms of the Boccaccio reception written in German. The latter show that even at the end of the 15th century there was no adequate German term available to express the concept of the 'free' and 'convivial' conversation. In contrast to the Middle High German gesprceche, an extension of the spectrum of usage becomes apparent for the Early New High German gesprech, which can also denote informal and private communicative situations.

I. Präzise literaturwissenschaftliche Definitionen sind im Wortfeld zur mündlichen Kommunikation nicht leicht zu haben: ,Dialog', .Konversation', ,Unterhaltung' und .Gespräch' können weitgehend synonym verwendet werden oder sind nur unzureichend voneinander abgegrenzt. 1 Die Schwierigkeit einer lexikongerechten Systematisierung des Wortfeldes liegt vor allem in seiner immer wieder konstatierten Unscharfe. 2 Dabei liegt der Grund für die terminologische

1

2

Das zeigt schon die uneinheitliche Aufnahme der Begriffe in den literaturwissenschaftlichen Nachschlagewerken: So enthält das Historische Wörterbuch der Rhetorik (HWbRh) ebenso wie das Metzler Literatur Lexikon Artikel zu .Dialog', .Gespräch' und .Konversation' (vgl. Anm. 5, 2 u. 7). Im Unterschied zum Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte ( 2 RL), das die Artikel .Dialog' und .Gespräche' (Anm. 16) bietet, sind im neuen Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft (RLW) nur die Begriffe .Dialog' und .Unterhaltung' aufgenommen (Anm. 5 u. 2). In den chronologisch organisierten Artikeln des Fischer Lexikon Literatur sind .Gespräch' und .Dialog' zu einem Artikel zusammengefasst (Anm. 20), in dem auch .Konversation' als historischer Begriff der Frühen Neuzeit behandelt wird. Vgl. D I E T M A R TILL: Art. ,Unterhaltung2'. In: RLW, Bd. 3 (2003), S. 730-733, hier

108

Caroline Emmelius

Unfestigkeit der einzelnen Begriffe nicht zuletzt in den komplexen Überlagerungsverhältnissen von Mündlichkeit und Schriftlichkeit: Als Textwissenschaft hat es die Literaturwissenschaft vorrangig mit schriftlichen Texten zu tun, in denen Mündlichkeit in unterschiedlicher Weise und unterschiedlichem Ausmaß dargestellt sein kann, oder aber mit Texten wie Rhetoriken oder Verhaltenslehren, die Vorgaben für mündliche Kommunikation präskriptiv formulieren. In beiden Fällen aber ist Mündlichkeit sekundärer, sei es artifiziell erzeugter, sei es prospektiv modellierter Gegenstand. Für die Linguistik, die sich im Bereich der Gesprächsforschung vor allem - wenn auch nicht nur - mit gesprochener Sprache beschäftigt, ist das terminologische Problem nicht wesentlich kleiner.3 So ist .Dialog' in der Literaturwissenschaft zum einen Bezeichnung für Wechselrede in literarischen Texten, zum anderen Gattungsbezeichnung für Texte in Gesprächsform, die seit der Antike als „prototypische Form des auf Wahrheit gerichteten philosophischen Diskurses"4 gelten.5 In der Linguistik

S. 730: „Unterhaltung (synonym mit KONVERSATION) ist eine unscharfe Sammelbezeichnung für verschiedene Formen dialogischer Kommunikation". Analog konstatiert ERNEST W . B . HESS-LÜTTICH (Art. . G e s p r ä c h ' . In: H W b R h , B d . 3 [ 1 9 9 6 ] , Sp. 9 2 9 - 9 4 7 ,

3

hier Sp. 930): „Über die Abgrenzung von Nachbarbegriffen wie .Dialog', .Konversation', .Diskurs' besteht nach wie vor keine Einigkeit." Das Lexikon der Germanistischen Linguistik (Anm. 6) setzt .Dialog' und .Gespräch' synonym, das Lexikon der Sprachwissenschaft verzichtet auf eine Definition der Begriffe .Dialog', .Gespräch' und .Konversation' und führt nur die weitgehend synonymen Begriffsderivate .Gesprächsanalyse' und .Konversationsanalyse' auf (HADUMOD BußMANN: Lexikon der Sprachwissenschaft, 2., völlig neu bearb. Aufl., Stuttgart 1990, S. 280 u. 421 f.). Das Metzler Lexikon Sprache (Hrsg. von HELMUT GLÜCK, 2., Überarb. und erw. Aufl., Stuttgart, Weimar 2000) hat Einträge zu .Gespräch' und .Konversation' (vgl. Anm. 14 u. 12) und vermerkt im Art. .Dialog' (KONRAD EHLICH, S. 155-157, hier S. 156) zum Dilemma der unfesten Terminologie: „In der linguistischen Diskussion hat der Ausdruck .Dialog' bisher keine eindeutige begriffliche Bestimmung erfahren. Er dient vielmehr, ähnlich wie die Ausdrücke .Gespräch', .Diskurs', .Konversation' oder .Text' zur kompensierenden Bezeichnung von empirischen sprachlichen Phänomenen". Eine Differenzierung, die textbasierte Mündlichkeit als Gegenstand der Literaturwissenschaft und gesprochene Sprache als Gegenstand der Sprachwissenschaft definierte, ist insofern nicht aufrecht zu erhalten. Das wird besonders augenfällig in der historischen Gesprächsforschung, die methodisch notwendig auf schriftlich fixierte Mündlichkeit ang e w i e s e n ist. V g l . ANDREAS H. JUCKER/GERD FRITZ/FRANZ LEBSANFT: Historical D i a -

logue Analysis. Roots and Traditions in the Study of the Romance Languages, German and English. In: Historical Dialogue Analysis. Hrsg. von A. H. J./G. F./F. L., Amsterdam, Philadelphia 1999 (Pragmatics & Beyond, N. S. 66), S. 1-33. 4

EHLICH, D i a l o g ( A n m . 3 ) , S. 155.

5

Das RLW trägt dieser systematischen Unterscheidung von Textteil und Textganzem durch die Einführung von zwei .Dialog'-Kategorien Rechnung: Dialog/ ist entsprechend bestimmt als „Wechselrede, Unterredung, Gespräch innerhalb von dramatischen, epischen oder lyrischen Texten", wobei .Gespräch' und .Konversation' (als mündliche Gemeinschaftshandlung) als Unterbegriffe aufgefasst werden. Vgl. ERNEST W. B. HESSLÜTTICH: Art. .Dialog,'. In: RLW, Bd. 1 (1997), S. 350-353, hier S. 350. Dialog2 be-

Politische Beratung, Zwiegespräch, gesellige Unterhaltung

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kann .Dialog' ebenfalls eine Textsorte oder aber synonym mit .Gespräch' die mündliche Interaktion von mindestens zwei Sprechern unter Berücksichtigung bestimmter Regeln bezeichnen 6 .Konversation' bezeichnet in der Literaturwissenschaft weniger eine Eigenschaft oder einen Bestandteil von Texten als vielmehr eine kulturhistorisch spezifisch verortbare, normativ vermittelte und wertbesetzte Konzeption von kommunikativer Interaktion.7 Ausgehend von den italienischen Verhaltenslehren des 16. Jahrhunderts - wie Balthasar Castigliones Cortegiano (1528) oder Stefano Guazzos La civil conversazione (1574) erfährt der Begriff für allgemeinen Umgang und zwischenmenschlichen Verkehr - ital. conversazione, frz. conversation zu lat. conversatio% - vom 16. bis zum 18. Jahrhundert eine allmähliche Öffnung und Verschiebung in den Bereich sprachlicher Interaktion. Neben die sozialen treten zunehmend kommunikative Konnotationen.9 Wenn KARLHEINZ STIERLE davon spricht, dass das „Gespräch [in der Renaissance, C. E.] zum Paradigma einer neuen Geselligkeit"10 werde, zielt das auf die Beobachtung, dass kollektive Kommunikationssituationen zunehmend zu einem Ort werden, an dem normative Anforderungen zeichnet Texte in Gesprächsform; vgl. THOMAS FRIES/KLAUS WEIMAR: Art. ,Dialog 2 '. In: RLW, Bd. 1 (1997), S. 354-356. Auch das Metzler Literatur Lexikon trifft diese Unterscheidung; vgl. HANS-HUGO STEINHOFF: Art. ,Dialog'. In: Metzler Literatur Lexikon. Begriffe und Definitionen. Hrsg. von GÜNTHER SCHWEIKLE/IRMGARD SCHWEIKLE, 2. überarb. Aufl., Stuttgart 1990, S. 97f. Das Historische Wörterbuch der Rhetorik fasst den Begriff sehr weit und beschreibt seine Verwendungen für den Bereich der Philosophie, der Literatur und der Linguistik. Die „ästhetische Perspektive" auf den Dialog im Bereich der Literatur umfasst wiederum beide der oben genannten Differenzierungen; vgl. ERNEST W. B. HESS-LÜmCH: Art. .Dialog'. In: HWbRh, Bd. 2 (1994), Sp. 606621, hier Sp. 610-613. 6

GERD SCHANK/JOHANNES SCHWITALLA: Gesprochene Sprache und Gesprächsanalyse.

In: Lexikon der Germanistischen Linguistik. Hrsg. von HANS PETER ALTHAUS/HELMUT HENNE/HERBERT ERNST WIEGAND, 2., vollst, neu bearb. und erw. Aufl., Tübingen 1980, S. 313-322, hier S. 318. 7

KARL-HEINZ GOTTERT: A r t . . K o n v e r s a t i o n ' . In: H W b R h , B d . 4 ( 1 9 9 8 ) , S p . 1 3 2 2 - 1 3 3 3 ;

Ders.: Kommunikationsideale. Untersuchungen zur europäischen Konversationstheorie, München

1 9 8 8 , S. 9 - 1 9 ; CLAUDIA HENN-SCHMÖLDERS: Ars

conversations.

Zur Ge-

s c h i c h t e d e s s p r a c h l i c h e n U m g a n g s . In: A r c a d i a 10 ( 1 9 7 5 ) , S. 1 6 - 3 3 ; CLAUDIA SCHMÖL-

DERS: Einleitung. In: Die Kunst des Gesprächs. Texte zur Geschichte der europäischen Konversationstheorie. Hrsg. von C. SCH., München 2 1986 (dtv 4446), S. 9-67.

8

9

10

Zur Entwicklung von conversazione vgl.: Dizionario etimologico italiano. Hrsg. von CARLO BATTISTI/GIOVANNI ALESSIO, Bd. 2. Florenz 1975, S. 1091; sowie Grande Dizionario della lingua italiana. Hrsg. von SALVATORE BATTAGLIA, Bd. 3. Turin 1964, S. 723f. Zur Begriffsgeschichte von .Konversation' vgl. KARIN EHLER: Konversation. Höfische Gesprächskultur als Modell für den Fremdsprachenunterricht, München 1996 (Studien Deutsch 21), S. 13-16; knappe Hinweise auch bei GÖTTERT, Konversation (Anm. 7), Sp. 1322; SCHMÖLDERS, Die Kunst des Gesprächs (Anm. 7), S. 9f. KARLHEINZ STIERLE: Gespräch und Diskurs. Ein Versuch im Blick auf Montaigne, Descartes und Pascal. In: Das Gespräch. Hrsg. von K. ST./RAINER WARNING, München 1984 (Poetik und Hermeneutik 11). S. 297-334, hier S. 306.

Caroline Emmelius

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an soziale und kommunikative Interaktion nicht nur verhandelt, sondern zur Darstellung gebracht werden. In der Kombination symmetrischer, auf Wechselseitigkeit angelegter Kommunikation und temporärer sozialer Gleichrangigkeit der Beteiligten wird der kollektiven, geselligen Verwendung von Sprache eine vergesellschaftende, humanisierende und kultivierende Funktion zugeschrieben.11 In der Linguistik kann ,Konversation' ebenfalls diese spezielle Bedeutung tragen, weitaus häufiger aber bezeichnet das Wort - als deutsches Pendant zu engl, conversation und zugleich synonym mit ,Gespräch' - gesprochene Sprache vorwiegend im nicht-institutionellen Raum.12 Der Begriff Unterhaltung' wiederum kann in der Literaturwissenschaft als Synonym von Konversation' gelten; in der Linguistik hat er keinen terminologischen Status.13 Der am wenigsten feste Begriff des literaturwissenschaftlichen Wortfelds zur mündlichen Kommunikation ist schließlich .Gespräch'. In der Linguistik gilt .Gespräch' zum Teil als Sammelbezeichnung fur mündliche Interaktion schlechthin.14 Das Historische Wörterbuch der Rhetorik übernimmt diese Perspektive und gibt eine alltagssprachliche Definition: der Begriff [ist] gekennzeichnet durch die Konstellation der Gesprächspartner, durch den Wechsel ihrer Gesprächsbeiträge, durch das Medium des Mündlichen, der in einer Situation gesprochenen Sprache, durch die Gemeinsamkeit des Handelns und der inhaltlichen Orientierung. In der wissenschaftlichen Gesprächsanalyse hat man weitere einschränkende Kriterien gesucht: die Symmetrie des Rollenwechsels von Sprecher und Hörer, die Simultaneität des Handelns in unmittelbarer Situationsgebundenheit, der thematisch zentrierten Interaktion, des freien Wechsels von Themeninitiierung und Themenakzeptierung, der wechselseitigen Unterstellung der Kongruenz der Relevanzsysteme, der Natürlichkeit oder Alltäglichkeit der Kommunikationssituation. 15

Damit ist zwar eine begriffliche Grundlage für die Gesprächsanalyse in den Kommunikations- und Sprachwissenschaften gegeben, nicht aber eine dezidiert literaturwissenschaftliche Definition. Auch hier bleibt nur der Verweis, dass 11

HENN-SCHMÖLDERS

( A n m . 7),

S. 16f.;

SCHMÖLDERS,

Die

Kunst

des

Gesprächs

(Anm. 7), S. 9-16 u. 21-25; GÖTTERT, Konversation (Anm. 7), Sp. 1324; Ders., Kommunikationsideale (Anm. 7), S. 9-19. 12 KONRAD EHLICH: Art. .Konversation'. In: Metzler Lexikon Sprache (Anm. 3), S. 376. 13 Als literaturwissenschaftlicher Begriff ist .Unterhaltung' nur im RLW aufgeführt und dort als Synonym von .Konversation' aufgefasst; vgl. TILL (Anm. 2). S. 730. In dieser Bedeutung ist .Unterhaltung' aber erst seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts greifbar, prominentes Beispiel sind etwa Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. Insgesamt ist der Begriff freilich weder in der historischen Terminologie noch in der Forschung besonders stark etabliert. Die Gründe, .Unterhaltung' statt .Konversation' in das RLW aufzunehmen, sind daher nicht recht ersichtlich. 14

S o ζ. B. bei SCHANK/SCHWITALLA ( A n m . 6). S. 3 1 8 - 3 2 1 . D a g e g e n k o n z e d i e r t KONRAD

EHLICH im Metzler Lexikon Sprache ([Anm. 3], Art. .Gespräch', S. 248): „Klare begriffliche] Unterscheidungen [von ,Konversation', .Diskurs', .Dialog', C. E.] sind nicht verallgemeinert." 15

HESS-LÜTTICH, Gespräch (Anm. 2), Sp. 930.

Politische Beratung, Zwiegespräch, gesellige Unterhaltung

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eine Definition, die das .Gespräch' - etwa über die Anzahl der Sprecher (zwei oder mehrere), den Sprechgegenstand (bedeutungsvoll oder oberflächlich) oder die Sprechsituation (ernsthaft oder unterhaltend) - hinreichend und sinnvoll von .Dialog' oder ,Konversation' differenzierte, nicht existiert.16 Damit aber steht die Tauglichkeit von .Gespräch' als literaturwissenschaftlichem Begriff insgesamt in Frage, was ein Grund dafür sein mag, warum man im Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft ganz auf ihn verzichtet hat. Dass .Gespräch' terminologisch weniger gut einzugrenzen ist als die Lehnworte .Dialog' und .Konversation', bedeutet natürlich nicht, dass es nicht spezifisch verwendet würde. Als deutsches Pendant sowohl zu .Dialog' als auch zu .Konversation' ist es seit dem 16. Jahrhundert in Gebrauch.17 Im 20. Jahrhundert sind die erkenntnistheoretischen und sozialen Leistungen von .Gespräch' und ,Dialog' ausgehend von der Philosophie noch einmal besonders betont worden,18 so dass beide Begriffe häufig mit einer gewissen Emphase verwendet werden.19 In dieser Linie steht auch die Verwendung von ,Gespräch' in der literaturwissenschaftlichen Forschung.20 Für die zeitgenössische Verwendung von .Gespräch' sind drei Bedeutungsmomente zentral: 1. das strukturelle Moment der symmetrischen, auf Wechselseitigkeit angelegten Kommunikationssituation zwischen zwei oder mehreren Beteiligten, 2. das inhaltliche Moment der gemeinsamen

16 Vgl. Anm. 2 u. 14. Die noch im Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte getroffene Differenzierung zwischen fingierten und den „Aufzeichnungen wirklich gehaltener G[espräche]" kann überdies als obsolet gelten; vgl. CARLDIESCH: Art. .Gespräche'. In: 2 RL, Bd. 1 (1958), S. 576f„ hier S. 576. 17 Vgl. DWb, Bd. 5. Sp. 4161-4164. 18 Vgl. HESS-LÜTTICH, Dialog (Anm. 5), Sp. 608-610. 19 Vgl. ζ. B. WALTER JENS: Lob des Gesprächs. In: Ders.: Macht der Erinnerung. Betrachtungen eines deutschen Europäers, Düsseldorf, Zürich 2001, S. 13-28. Wenn JENS das Gespräch als „eines der höchsten Güter in einer freien Gesellschaft", sowie als „unverzichtbar, bedroht und verteidigenswert" (S. 25) apostrophiert, dann leiten sich diese Zuschreibungen zum einen aus Struktur (symmetrische Kommunikation) und Funktion (Medium der Wahrheitssuche) des antiken philosophischen Dialogs ab, zum anderen aus dem sozialen Modellcharakter, der der Konversation seit der Renaissance zugewiesen wird, und der in dieser Perspektive Habermas' herrschaftsfreie Kommunikation - als selbstbestimmten Verhandlungsort einer freien, demokratischen Gesellschaft - geradezu zu präfigurieren scheint (ebd. S. 18); vgl. auch EHLICH, Dialog (Anm. 3), S. 155. 20 Das mag die folgende zufällige Zusammenstellung von Titeln belegen: RICHARD AUERNHEIMER: Gemeinschaft und Gespräch. Stefano Guazzos Begriff der Conversatione civile, München 1973 (Humanistische Bibliothek 111,2); SCHMÖLDERS: Die Kunst des Gesprächs (Anm. 7); Das Gespräch (Anm. 10); MARKUS FAUSER: Das Gespräch im 18. Jahrhundert. Rhetorik und Geselligkeit in Deutschland, Stuttgart 1991; Gespräche lesen. Philosophische Dialoge im Mittelalter. Hrsg. von KLAUS JACOBI, Tübingen 1999 (Script-Oralia 115). Auf eine begriffliche Differenzierung verzichtet beispielsweise KARL-HEINZ GÖTTERT (Art. .Gespräch/Dialog'. In: Das Fischer Lexikon Literatur. H r s g . von ULFERT RLCKLEFS, B d . 2, F r a n k f u r t a. M . 1996, S. 7 3 8 - 7 5 7 , hier S. 7 3 8 ) und

führt stattdessen eine systematische ein, indem er drei elementare Aspekte unterscheidet: den logischen, den ästhetischen und den normativen.

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Caroline Emmelius

Herstellung von Erkenntnis in der kommunikativen Performanz und 3. das funktionale Moment, nach dem die auf der Mikroebene vorgeführten Aushandlungen als paradigmatisch für gesellschaftliche Klärungsprozesse angesehen werden. Nun ist dieser Befund wortgeschichtlich nicht ohne weiteres zu erklären, denn das mhd. Wort gesprceche bezeichnet weder eine Textsorte, noch eine logische Struktur, noch eine Form geselligen Beisammenseins, sondern vorwiegend Unterredung und Beratung in politischen und juristischen Kontexten.21 Der vorliegende Beitrag unternimmt daher den Versuch, über die Nachzeichnung einer frnhd. Wortgeschichte von Gespräch, mittelalterliche Wortgeschichte und (früh-)neuzeitliche Begriffsgeschichte - im eben skizzierten Sinn - einander anzunähern: Inwiefern zeichnen sich Veränderungen bei den Verwendungsweisen des Wortes ab, die Hinweise auf die allmähliche Formierung einer neuen Konzeption von .Gespräch' geben könnten? Über welche „kleinen Schritte"22 in der semantischen Entwicklung des Wortes ist der diskursive Sprung plausibel zu machen, der die mittelalterliche semantische Praxis von der frühneuzeitlichen augenscheinlich trennt? Untersuchungsgegenstand ist damit also nicht eine etablierte poetologische Vokabel der mittelalterlichen Kultur, sondern die Frage, welche semantischen Veränderungen in der Geschichte des Wortes Gespräch am Ausgang des Mittelalters die Genese eines zentralen Begriffs frühneuzeitlicher Kultur möglich machen. Ziel ist es, genauere Aussagen darüber treffen zu können, ab wann im Frühneuhochdeutschen ein ,Gespräch' zum .geselligen Gespräch' wird. Dazu sollen zunächst die Verwendungsweisen des mhd. Wortes gesprceche skizziert werden, wie sie sich anhand des Belegmaterials des neuen, in Göttingen und Trier entstehenden Mittelhochdeutschen Wörterbuchs (MWB) darstellen.23 Auf der Basis des Belegmaterials des Frühneuhochdeutschen Wörterbuchs (Frnhd. Wb.) sollen dann die wichtigsten semantischen Veränderungen des Wortes im Frühneuhochdeutschen vorgestellt werden.24 Die Entwicklung des Wortes zum , geselligen Gespräch' lässt 21 22

Vgl. BMZ, Bd. 11,2, S. 537a-b; LEXER, Bd. 1, Sp. 923f.; sowie unten Abschnitt II. GERD FRITZ: Historische Semantik, Stuttgart, Weimar 1998 (Sammlung Metzler 313), S. 54. 23 Das MWB gewinnt sein Belegmaterial aus drei unterschiedlichen Quellentypen: 1. dem nach unterschiedlichen Prinzipien ausgewerteten Grundkorpus von etwa 75 Texten, 2. dem Findebuch-Korpus, basierend auf dem Findebuch zum mittelhochdeutschen Wortschatz und 3. dem lexikographischen Korpus u. a. aus Spezial- und Autoren- bzw. Werkwörterbüchern. Vgl. hierzu: Ein neues Mittelhochdeutsches Wörterbuch. Prinzipien, Probeartikel, Diskussion. Hrsg. von KURT GÄRTNER/KLAUS GRUBMÜLLER, Göttingen 2000 (Nachrichten der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, I. Philologisch-historische Klasse, Jg. 2000, Nr. 8), S. 18-42. Den Mitarbeitern der Göttinger Arbeitsstelle, Dr. Susanne Baumgarte, Dr. Gerhard Diehl und PD Dr. Bernhard Schnell, möchte ich an dieser Stelle für umstandslose Unterstützung und konstruktive, professionelle Hilfe bei vielen offenen Fragen sehr herzlich danken. 24 Herr Prof. Dr. Oskar Reichmann (Heidelberg) und Herr Prof. Dr. Joachim Schildt (Berlin) haben es mir in freundlicher und kooperativer Weise ermöglicht, Einsicht in das

Politische Beratung, Zwiegespräch, gesellige Unterhaltung

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sich durch einige zusätzliche Belege aus der frühen deutschen BoccaccioRezeption präzisieren, da sich über diese Literatur ein erster kultureller Kontakt mit dem frühneuzeitlichen Begriff von ,Gespräch' anbahnt.

II. Das mhd. starke Neutrum gesprceche (ahd. gisprächi) ist eine durch Präfigierung gebildete Ableitung von Sprache,25 der bereits eine kollektivierende Bedeutung inhärent ist: Sie verweist nicht nur auf ein Kollektiv von beteiligten Sprechern (aus mindestens zwei Personen), sondern auch auf das „Gemeinsame der Redenden, das sie im G[espräch] herstellen".26 Im BMZ werden drei Bedeutungen angegeben: 1. „das vermögen zu sprechen", 2. „das sprechen, reden", sowie 3. „unterredung, Unterhandlung, berathung und die Versammlung dazu" (zu lat. colloquium)}1 Schon in dieser semantischen Aufgliederung zeichnet sich ab, was auch für die weitere Wortgeschichte von , Gespräch4 zu beobachten sein wird: Die einzelnen differenzierbaren Bedeutungen des Wortes sind deutlich diskursgebunden. So verweist der erste Ansatz in den Bereich der Anthropologie, der zweite in den Bereich der Sprachproduktion und der dritte in den Bereich von Politik und Jurisdiktion. Um diesem Befund Rechnung zu tragen und die pragmatische Ebene von vornherein mit einzubeziehen, sollen die Teilbedeutungen des Wortes im Weiteren als .Verwendungstypen' bezeichnet werden.28 Gegenüber den Angaben im BMZ ermöglicht die Hinzunahme des vom MWB erfassten Belegmaterials lediglich geringfügige Differenzierungen: 1. die physische und rhetorische Fähigkeit zu sprechen: (1) do er in erlost uon dem ubelen gceist, do [...] gab er im ovch widere paidiv, sin gesprceche unt ovch sin gesihene (anonyme Predigt des 12./13. Jh.s). 29 (2) Ez was ein münch vil wise, / vor alter was er grisej sin gesprceche daz was guot, /ze got stuont im al sin muot (Otto II. von Freising, Laubacher Barlaam).30 Belegmaterial des Frühneuhochdeutschen Wörterbuchs zu nehmen. Hierfür habe ich herzlich zu danken. 25 FLEISCHER/BARZ sprechen von .kombinatorischer Derivation', hier mit den Merkmalen Präfigierung und Umlaut (WOLFGANG FLEISCHER/IRMHILD BARZ: Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 2. durchges. und erg. Aufl., Tübingen 1995, S. 207-209). 26 HESS-LÜTTICH, Gespräch (Anm. 2), Sp. 929. Vgl. zum kollektivierenden Charakter des Präfixes ge- FLEISCHER/BARZ (Anm. 25), S. 200. 27 BMZ, Bd. 11,2, S. 537a-b; LEXER (Bd. 1, Sp. 923f.) fügt dem dritten Punkt noch „besprechung" hinzu. 28

V g l . z u m B e g r i f f FRITZ ( A n m . 2 2 ) , S. 1 4 - 1 7 .

29

Deutsche Predigten des XII. und XIII. Jahrhundertes, aus gleichzeitigen Handschriften zum erstenmale hrsg. und erläutert von KARL ROTH, Quedlinburg, Leipzig 1839 (Bibliothek der gesammten deutschen National-Literatur 11,1), Nr. 13, S. 39f. Bischof Otto II. von Freising: Der Laubacher Barlaam. Hrsg. von ADOLF PERDISCH, Tübingen 1913 (StLV 260), Nachdruck Hildesheim 1979, V. 1618-21.

30

Caroline Emmelius

114 2.

das Sprechen, Reden, auch Rede, Sprache: (3) Und ir frouwen, ir lät iuwern munt niemer gesten mit unnützem gesprceche (Berthold von Regensburg, Predigt).31 (4) da wurden vf getan zu hant / ym die oren sin, der zungen bant / wart ym auch los. rehte als ein bach / gespreche vz sinem munde brach (St. Pauler Evangelienreimwerk).32

3.

Unterredung, Beratung (lat.

colloquium)

a) Unterredung, Beratung, zumeist in öffentlichen Angelegenheiten: (5) Artus die bete horte: / Daz gesprceche [zwischen Parzival und Gawan, C. E.] er zestörte, / mit in wider an den rinc er saz (Wolfram von Eschenbach, Parzival,

V. 702,1-3).33 (6) mit den fursten er sich wolde / besprechen, ob sifridelich / wolden sin. snellich / daz gespreche ergienc. fride man sprach / dem boten (Kreuzfahrt Ludwigs des Frommen).34 (7) Do wurden sy irvullit mit der torheit unde hatten eyn gespreche undir eyn andir, waz sy tun mochten von Jhesu. (Berliner Evangelistar)35

b) Unterredung, Beratung im Kontext einer Gerichtsverhandlung: (8) zu den urteilen unde zu dem gespreche sal he [der Geschworene, für den Fall, dass ein Freund vor Gericht steht, C. E.] nicht gehn in dem dinge (Freiberger Stadtrecht).36 (9) Ein ieglich man mac wol gesprceches gern, so man in ane sprichet, sunderlichen umb iegliche sache (Spiegel der deutschen Leute).37 (10) Daz mac er tuon ze hant ob er wil, oder er mac gesprceche dar umbe hän (Augsburger Sachsenspiegel).38

31

Berthold von Regensburg. Vollständige Ausgabe seiner Predigten mit Anmerkungen und Wörterbuch hrsg. von FRANZ PFEIFFER, Bd. 1, Wien 1862 , Nr. 28, S. 448, Z. 31 f. 32 Das St. Pauler Evangelienreimwerk. Hrsg. von JOHANNES FOURNIER, Bd. 1: Text, Bern u. a. 1998 (Vestigia Bibliae 19), V. 3610-13. 33 Wolfram von Eschenbach: Parzival. Studienausgabe. Mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausg. von KARL LACHMANN. Übersetzung von PETER KNECHT. Einfuhrung

zum Text von BERND SCHIROK, Berlin, New York 1998. 34 Deutsche Chroniken und andere Geschichtsbücher des Mittelalters. Hrsg. von der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde, Bd. 4, Abt. 2: Die Kreuzfahrt des Landgrafen Ludwigs des Frommen von Thüringen, Berlin 1923 (MGH, Scriptorum qui vernacula lingua usi sunt IV,2), V. 7730-34. 35 GÜNTER FEUDEL: Das Evangelistar der Berliner Handschrift Ms. Germ. 4° 533. Hrsg. und im Rahmen der Thüringisch-Obersächsischen Prosawerke des 14. Jahrhunderts nach Lauten und Formen analysiert. Tl. 1, Berlin 1961 (Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Veröffentlichungen des Instituts für deutsche Sprache und Literatur 23/1), S. 130, Z. 3 f. 36 Das Freiberger Stadtrecht. Hrsg. von HUBERT ERMISCH, Leipzig 1889, Kap. 31, § 26. 37 Deutschenspiegel und Augsburger Sachsenspiegel. Hrsg. von KARL AUGUST ECKHARDT/ALFRED HÜBNER, 2. neubearb. Ausg., Hannover 1933 (MGH, Font. iur. Germ., N. S. 3), S. 168, Z. 20-22. Vgl. ebd. S. 170, 15-17: Dä mac der kläger gesprceches umbe biten oder er mac ez ze hant sagen. 38 Deutschenspiegel und Augsburger Sachsenspiegel (Anm. 37), S. 171, Z. 7-10.

Politische Beratung, Zwiegespräch, gesellige Unterhaltung

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4. beratende Versammlung (lat. concilium)·. (11) Dirre rat ν diz gespreche / Dri tage werte (Herbort von Fritzlar, Trojanerkrieg)19 (12) der künic Barachias / weinde sines herren tot. / ein gesprceche er dö gebot / den vürsten algeliche / über al sin kün[i]criche (Rudolf von Ems, Barlaam und Josaphat).40

Zu beobachten ist, dass der erste Verwendungstypus nicht allein auf die physische Befähigung des Menschen zur Sprachproduktion beschränkt ist (1), sondern auch auf eine rhetorische Qualität im Sinne einer Redebegabung zielen kann (2). Der Ansatz eines separaten Verwendungstypus ,Beredsamkeit' erscheint jedoch nicht nur aufgrund der sehr schmalen Beleglage ungerechtfertigt.41 Hinzu kommt die Schwierigkeit, dass .Beredsamkeit' im Mittelhochdeutschen mit dem starken Femininum gesprceche, einer Substantivbildung zu dem Adjektiv gesprceche ( beredt'), eine eigene - wenn auch lautlich identische - Bezeichnung hat.42 Eine ebenfalls kleine Erweiterung des Bedeutungsspektrums ergibt sich für den zweiten Verwendungstyp: So kann gesprceche nicht nur für den Prozess der Sprachproduktion (3), sondern auch fur das Ergebnis dieser Produktion, die Rede (4), verwendet werden. Etwas deutlichere Differenzierungen lassen sich für den dritten Verwendungstyp im BMZ beobachten, der mit Abstand am besten belegt ist. Zunächst ist die im BMZ zusammengefasste Verwendung für den Vorgang des Unterredens (lat. colloquium) Verwendungstyp 3 - von der für die Institution (lat. concilium) - Verwendungstyp 4 - zu trennen. In der Verwendung ,Unterredung/Beratung' ist gesprceche vielfach in einem politisch-herrschaftlichen Kontext anzutreffen (6), dagegen belegt (7) eine Verwendung abseits des Politischen. Der Charakter der Unterredung kann sowohl agonal - wie im Fall des Streits zwischen Parzival und Gawan (5) - als auch lediglich beratend sein (6, 7). Im juristischen Diskurs findet gesprceche eine Reihe von speziellen Verwendungen. In der Gerichtsverhandlung kann es sowohl die Urteilsberatung der Geschworenen als auch die Beratung zwischen einer Partei und ihrem Vorsprechen außerhalb der Gerichts-

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Herbort's von Fritslär liet von Troye. Hrsg. von KARL FROMMANN, Quedlinburg, Leipzig 1837 (Bibliothek der gesammten deutschen National-Literatur 5), Nachdruck Amsterdam 1966, V. 13814f. Rudolf von Ems: Barlaam und Josaphat. Hrsg. von FRANZ PFEIFFER, Leipzig 1843 (Dichtungen des deutschen Mittelalters 3). Mit einem Anhang [...], Nachwort und einem Register von HEINZ RUPP, Nachdruck Berlin 1965 (Deutsche Neudrucke, Reihe: Texte des Mittelalters), V. 15910-14. Neben dem zitierten Beleg (2) aus dem Laubacher Barlaam kämen für diese Verwendung lediglich zwei weitere frmhd. Belege in Betracht, die im Deutschen Wörterbuch unter „redegabe, beredsamkeit" innerhalb der ersten Bedeutung „das vermögen, die fähigkeit zu sprechen, die spräche" gesondert aufgeführt werden; vgl. DWb, Bd. 5, Sp. 4161. Verwendung findet dieses allerdings nur in den Ableitungen un- und wolgesprceche. Vgl. BMZ, Bd. 11,2, S. 538a; LEXER, Bd. 1, Sp. 923.

116

Caroline E m m e l i u s

schranken bezeichnen.43 Berücksichtigt man für den ersten und zweiten Verwendungstypus semantische Überlagerungen mit mhd. spräche einerseits und rede andererseits, so scheint die distinkteste Verwendungsweise von gesprceche im Bereich des dritten und vierten Verwendungstyps zu liegen. Dieser Befund wird nicht nur durch die quantitative Verteilung innerhalb des Belegmaterials, sondern auch durch die auf das Kollektive der Sprachverwendung zielende Wortbildung gestützt, die in den Verwendungstypen 3 und 4 aktualisiert wird. Gesprceche als ,Unterredung', .Besprechung' und .Beratung' hätte demnach im Mittelhochdeutschen vier dominante semantische Merkmale: 1) bezieht es sich auf ein Sprecherkollektiv von zumeist mehr als zwei Personen, 2) verbindet sich mit ihm, indem nur bestimmte, ausgewählte Teilnehmer zugelassen sind, ein Akt sozialer und zum Teil auch räumlicher Exklusion, der nach innen symmetrische soziale Relationen und damit Vertraulichkeit erzeugt. Dieser sozialexklusive Charakter entzieht das gesprceche einem auf Sichtbarkeit angelegten öffentlich-repräsentativen Handeln. Gleichzeitig sind seine Gegenstände 3) sowohl im politischen als auch im juristischen Kontext von explizit öffentlichem Interesse, die Art und Weise ihrer Behandlung ist 4) vor allem beratend bzw. abwägend. Im Mittelhochdeutschen gehört gesprceche somit vor allem zum terminologischen Instrumentarium von Herrschaft und Recht, es ist - auch wenn es Öffentlichkeit konzeptionell ausschließt - ein Begriff des öffentlichen Raums.

ΙΠ.

Die für das mhd. Wort skizzierten Verwendungen zeichnen sich auch im Belegmaterial des Frühneuhochdeutschen Wörterbuchs fur das Wort gesprech ab:44 1. die menschliche Fähigkeit zu sprechen, auch Sprache: (13) darumb strafe die unschickligkeit des menschlichen gesprechs, wann die irdisch zung, die vom erdtrich kommet, redet irdische ding (Christoph Scheurl, Büchlein von der entlichen volziehung ewigerförsehung, Nürnberg 1517). 4 5

43 44

45

Vgl. hierzu DRWb, Bd. 4, Sp. 559-561. Zu den hier ausgewerteten Quellen vgl. Fmhd. Wb., Bd. 1, S. 43-62. Das Belegarchiv zu gesprech umfasst etwa 100 Belege. Davon lassen sich etwa zwei Drittel der Belege den ersten vier Verwendungstypen zuordnen, wobei die Belege zu 3 und 4 wiederum den Hauptanteil ausmachen. Als Anhaltspunkt für die Sortierung der Belege diente das ausdifferenzierte Bedeutungsraster des Deutschen Wörterbuchs (Anm. 17) im Artikel .Gespräch' . Johann von Staupitz: Libellus de exsecutione aeternae praedestinationis. Bearb. von LOTHAR GRAF ZU DOHNA/RICHARD WETZEL. M i t der Ü b e r t r a g u n g v o n

Scheurl: Ein nutzbarliches

Büchlein von der entlichen

Volziehung ewiger

Christoph

Fürsehung.

B e a r b . v o n LOTHAR GRAF ZU DOHNA/ALBRECHT ENDRISS, B e r l i n , N e w Y o r k

1979

(Johann von Staupitz, Sämtliche Schriften, Lateinische Schriften 2 [Spätmittelalter und Reformation, Texte und Untersuchungen 14]), IV,23, S. 99.

Politische Beratung, Zwiegespräch, gesellige Unterhaltung

2.

117

das Sprechen eines Einzelnen, die Rede: (14) Die anderen sprechen / er hab solliche kostliche, hübsche, übertreßiche und begirliche leer geschriben / daz ain yglicher der seine bucher lißt / wol mSg gedenken daz sein gesprach nit als wort Sunder wie das gold gewesen seye (Johannes Geiler von Kaysersberg, Predigt, Augsburg 1508).46

3. Besprechung, Unterredung, Beratung (lat. colloquium) a) politisch: (15) Es sol auch hinfur in unsrer stat zu Munichen nymand dheinen hayndleichen rat noch gesprach nicht haben, dann offenleichen auf dem rathaus oder wo die burgermayster die rat zu einander besenden (Münchner Stadtrecht, 1403).47 (16) Die Nissinger mit grossem schall / ,Her zuo, ir herren!' schreuwens all, / .Seit ze streiften nicht so gäch! / Wir schüllen haben ein gespräch / Und auch kämen über ain, / Was uns sei ze tuon gemain' (Heinrich Wittenwiler, Der Ring, ca. 1408) 48 (17) Denn der keiser gleich wol dem Bapst mit diesem gespreche eine grosse schalckeit thut, die er nicht gern hat (Martin Luther, Johannes Bugenhagen, Brief an Kurfust Johann Friedrich, 1541).49 b) juristisch: (18) ich binz der sal, / dar inne man daz gespreche nam um Even val, / schone ich dazhal. (Frauenlob, Marienieich, Ende 13. Jh.).50 (19) So der man eynen vorsprechen gewinnet, [...] So sal her sprechen ia oder nen oder gespreches bidden (Schwabenspiegel, um I410).51 4.

beratende Versammlung (lat. concilium)·. (20) dannan für er gen Spire, donoch gen Wormeße, allez mit kunig Rudolfes helfe, und do er etwie lange do waz gewesen, do leit er und gebot ein concilium, daz ist ein gespreche, gen Würtzeburg uf einen benemeten dag (Fritsche Closener, Straßburger Chronik, 1362).52

46 Johannes Geiler von Kaysersberg: Deutsche Predigten. In: Ders.: Sämtliche Werke. Hrsg. von GERHARD BAUER, Tl. 1: Die deutschen Schriften. Abt. 1: Die zu Geilers Lebzeiten erschienenen Schriften, Bd. 2, Berlin, New York 1991 (Ausgaben deutscher Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts), S. 463, Z. 3-7. 47 Denkmäler des Münchner Stadtrechts. Bearb. und eingel. von PIUS DLRR, Bd. 1: 11581403, München 1934 (Bayerische Rechtsquellen 1), S. 607, Z. 23-26. 48 Heinrich Wittenwiler: Der Ring. Frühneuhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Nach dem Text von EDMUND WIEßNER ins Neuhochdeutsche übers, und hrsg. von HORST BRUNNER, Stuttgart 1991 (RUB 8749), V. 8097-102. 49 Brief Luthers und Bugenhagens an Kurfürst Johann Friedrich, 1. Juni 1541. In: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 9: Briefwechsel, 1540 - 28. Februar 1542, Weimar 1941, Nr. 3625, S. 424-426, hier S. 425, Z. 22-24. 50 Frauenlob (Heinrich von Meissen): Leichs, Sangsprüche, Lieder. Auf Grund der Vorarbeiten von HELMUTH THOMAS hrsg. von KARL STACKMANN/KARL BERTAU, 2 Tie., Göttingen 1981 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Philologisch-historische Klasse, F. 3, Nr. 1 1 9 / 1 2 0 ) , 1,11, V. 2 3 - 2 5 . 51 Schwabenspiegel. Kurzform. Mitteldeutsch-niederdeutsche Handschriften. Hrsg. von RUDOLF GROSSE, Weimar 1964 (MGH, Font. iur. Germ., N. S. 5), S. 100a, Z. 2-6. 52 Fritsche Closener: Straßburger Chronik. In: Die Chroniken der oberrheinischen Städte. Straßburg, Bd. 1, Leipzig Μ 870 (Die Chroniken der deutschen Städte vom 14. bis ins

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Caroline Emmelius (21) Donoch für dirre hobest Leo herwiderus zum keyser gein Mentze und besantent do vil bischofe und prelaten und wise pfaffen und hettent do ein gespreche und einen rot, wie men die zweigunge und unrihtikeit die lange zit under den bebesten were gewesen, möhte gerihten (Jakob Twinger von Königshofen, Straßburger Chronik, 1400/15). 53 (22) Anno 31, suntag nach Michahelis kamen her gen Weyssenhoren ain mörcklicher adel,[...] die hielten ain gesprech, oder wie mans hayssen soll, büß an tritten tag in grosser stüll, niemet mocht nichtz erfaren, was sy gehandlet hetten (Nicolaus Thomann, Weissenhorner Historie, ca. 1542).54

Während die Verwendungstypen 1-4 den Fortbestand der mhd. Verwendungsweisen belegen, dokumentieren die Verwendungstypen 5-10 eine markante Veränderung gegenüber dem Mittelhochdeutschen: 5.

Rede und Widerrede, Wortstreit (lat. disputatio): (23) gott der ist mit steter pßicht / in ainer macht zuo aller frist. / daran gar klain gespräch ist, / als ich dir des weisen will / mit aim naturlichen beispil (Heinrich Kaufringer, Disputation mit einem Juden über die Eucharistie, 1. H. 15. Jh.). 55 (24) Ein disputation oder Gesprach von anfang anheben. A capite ducere disputationem (Josua Maaler, Die Teütsch spraach, 1561).56 (25) Warumb haben dann die Calvinisten hin und wider so gar alle Bilder auß den Orthen gemeiner Zusammenkunfft abgeschafft / auch mit grossem Unwillen der Lutheraner / wie im Gespräch zu Mompelgardrand in vilen Stellen zu sehen? (Johannes Rosenthal: Bedencken, Köln 1653).57

Das Deutsche Wörterbuch führt für diese Verwendung Belege an, die Texten aus dem Umfeld der Reformation entstammen und die sich auf akademischtheologische Glaubensauseinandersetzungen beziehen. Synonym mit gesprech sind hier die Komposita religionsgesprech und glaubensconferentz.58 Diesen Befund stützen aus dem Material des Frühneuhochdeutschen Wörterbuchs der Eintrag in Maalers Teütscher spraach (24) und der späte Beleg aus dem Traktat

16. Jahrhundert 8), S. 79-151, hier S. 50, Z. 13-16. 53 Jakob Twinger von Königshofen: Straßburger Chronik. In: Chroniken, Straßburg (Anm. 52), Bd. 2, Leipzig 21871 (Die Chroniken der deutschen Städte vom 14. bis ins 16. Jahrhundert 9), S. 499-917, hier S. 557, Z. 10-13. 54 Weissenhorner Historie von Nicolaus Thomann. In: Quellen zur Geschichte des Bauernkriegs in Oberschwaben. Hrsg. von FRANZ LUDWIG BAUMANN, Tübingen 1876 (StLV 129), S. 1-240, hier S. 183, Z. 2-7. 55 Heinrich Kaufringer: Werke. Hrsg. von PAUL SAPPLER, Bd. 1: Text, Tübingen 1972, Nr. 28, V. 94-98. 56 Josua Maaler: Die Teütsch spraach. Dictionarium Germanicolatinum novum. [Nachdruck der Ausg. Zürich 1561]. Mit einer Einführung von GILBERT DE SMET, Hildesheim, New York 1971 (Documenta Linguistica, Reihe I), Bl. 175va. 57 [Johannes Rosenthal:] Außfuehrliche Widerhol- vnd Vermehrung der kuertzen Bedencken Vom bestaendigen Baw auff den Felsen vnd nicht auff den Sand [...], Köln 1653, S. 35, Z. 15-18. 58 Vgl. DWb, Bd. 5, Sp.4163.

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Politische Beratung, Z w i e g e s p r ä c h , g e s e l l i g e Unterhaltung

des Jesuiten Rosenthal (25).59 Dass gesprech als Bezeichnung für agonale Kommunikationsformen wie die disputatio schon im 15. Jahrhundert Verwendung findet, zeigt der Beleg aus Kaufringers Märe (23). Gespräch wird hier synonym mit strit verwendet und bezeichnet an den Regeln der akademischen disputatio orientierte, argumentativ geschulte Rede, wie sie der Christ und der Jude ζ. B. über die Anführung von Beweisen in ihrer Auseinandersetzung vorführen.60 Gesprech erfährt somit eine spezifische semantische Verengung und tritt in dieser Verwendung neben die älteren, für agonale Kommunikation etablierten Bezeichnungen strit und kriec. Diese Entwicklung lässt sich an jene Verwendungsweisen anbinden, in denen gesprceche schon im Mittelhochdeutschen eine Unterredung mit kontroversem Charakter bezeichnet (vgl. 6). Dabei ist insbesondere der Beleg aus Frauenlobs Marienieich (18) geeignet zu zeigen, dass sich juristische und rhetorische Verwendung von gesprech zunehmend schlecht voneinander trennen lassen. Die Anspielung im Marienieich - und ebenso eine zweite, nahezu wortgleiche aus dem Ackermann61 - bezieht sich auf das allegorische Streitgespräch, das die vier Töchter Gottes vor dessen Thron über Sündenfall und Erlösung des Menschen führen.62 In der umfangreichsten deutschen Bearbeitung Die Erlösung63 ist es Gott selbst, der nach dem Sündenfall des Menschen eine Gerichtsversammlung (gerihte [V. 353 u. 362], dinc [390 u. 943], rät [1035]) einberuft, bei der ein urteil (V. 504) über den Menschen zu sprechen ist. Während dieser Verhandlung geraten die vier Töchter Barmherzigkeit, Gerechtigkeit, Frieden und Wahrheit in einen Streit, den erst die Entscheidung des Gottessohnes, sich in Menschengestalt auf die Erde zu begeben, beendet. In den jüngeren und deutlich kürzeren Fassungen ist es die Tochter Barmherzigkeit, die Gott um die Begnadigung des gefallenen

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Der Vocabularius Ex quo führt fur das Lemma disputacio die Glossierung zbisprach auf (Voc. Ex quo, Bd. 3, D 463). In Dasypodius' Dictionarium latinogermanicum fehlt das Lemma disputatio (Petrus Dasypodius: Dictionarium latinogermanicum. [Nachdruck der Ausg. Straßburg 1536]. Mit einer Einführung von GILBERT DE SMET, Hildesheim, New York 1974 [Documenta Linguistica, Reihe I]). Auch PHILIPP DLETZ (Wörterbuch zu Dr. Martin Luthers Deutschen Schriften, Bd. 2, Leipzig 1872, S. 104) weist die Verwendung von gesprech für disputatio nicht nach. Für den Eintrag Gespräch werden hier zwei Bedeutungen differenziert: 1) „rede" und 2) „unterredung, colloquium". Der Hinweis des Christen, sein Argument sei so stichhaltig, dass es keiner weiteren Diskussion bedürfe, ist als Teil dieser gelehrten Exposition zu werten. Johannes von Tepl: Der Ackermann. Frühneuhochdeutsch / Neuhochdeutsch. Hrsg., übers, und kommentiert von CHRISTIAN KIENING, Stuttgart 2000 (RUB 18075), S. 38: Do dich gott beruffe jn seinen rat zu gesprech vmb frauwen Euä vall. allererst wurden wir deiner weyßheyt jnnen! (Kap. 18, Z. 30-32). S o STACKMANN/BERTAU ( A n m . 5 0 ) , T l . 2: A p p a r a t e , E r l ä u t e r u n g e n , S . 6 3 2 ; v g l . W A L TRAUD TIMMERMANN: Art.

. S t r e i t der v i e r T ö c h t e r G o t t e s ' . In:

J

VL, Bd. 9

(1995),

Sp. 3 9 6 - 4 0 2 .

63

Die Erlösung. Mit einer Auswahl geistlicher Dichtungen. Hrsg. von KARL BARTSCH, Quedlinburg, Leipzig 1858 (Bibliothek der gesammten deutschen National-Literatur 37), Nachdruck Amsterdam 1966.

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Caroline Emmelius

Menschen bittet und dabei in einen Disput mit ihren Schwestern gerät. 64 Gott will die Frage nicht selbst entscheiden und bestimmt als ebenere (V. 170) seinen Sohn, der dann seinen Schlichtungsvorschlag vorträgt. Auch die jüngeren Fassungen behalten damit die Szenerie der gerichtlichen Urteilsfällung bei, verschieben den Fokus der Darstellung aber auf die Auseinandersetzung zwischen den Schwestern, die als gespreche (V. 2 u. 189) und als strit (V. 156 u. 276) bezeichnet wird. 65 Wenn somit bei Frauenlob - und auch im Ackermann von dem gesprech vmb frauwen Euä vall die Rede ist, dann zielt das primär auf die juristische Form der Urteilsberatung (Verwendungstyp 3b), konnotiert aber zugleich auch die disputatorische Anlage der Auseinandersetzung. 66 V o n hier aus wird der frnhd. Verwendungstyp 5 erklärbar. 6.

(Werk-)Bezeichnung für einen Text in Gesprächsform (lat. dialogus): (26) Eyn Dialogus wie der heilig Vatter Bapst Adrianus ein geritten ist Zu Rom [...]. Dar von Ein gesprech von dreyen personen. Curtison Teuffell Aptt ([Pamphilus Gengenbach], Erfurt 1522).67 (27) Eyn Dialogus / das ist eyn gesprech zweyer personen / Christus zu eynem / vnd Christianus zum andern teyl (anonyme Flugschrift, Nürnberg 1524).68 (28) Eyn schöner dialogus vnd gesprech zwischen aim Pfarrer vnd eym Schultheß / betreffendt alle vbel des Stands der geystlichen. Vnd böß handlung der weltlichen. (Martin Bucer, Wittenberg 1521).69 (29) Ein schöner Dyalogus oder gesprech / von zwaien schwestern (anonyme Flugschrift, Nürnberg I533). 70 (30) Α in gesprech eins Ewangelischen christen / mit einem Lutherischen (Hans Sachs, Würzburg 1524).71 (31) Gespräch buchlin herr Virichs von Hutten (Ulrich von Hutten, Straßburg 1521).72 (32) EJn vast schöner Dyalogus / oder gesprech Büchlein, eines dorffbawern von Dudenhoffen, vnd eines stifft Glöckners zu Speier (anonyme Flugschrift, Speyer um 1522).73

64 Vgl. den Abdruck in BARTSCHS Einleitung zur Edition der Erlösung (Anm. 63), S. IXXX. 65 Diese Ansicht lässt sich durch das Initium des Textes in einer späten Handschrift (Prag, StA, rkp. 8200 [v. J. 1496], Bl. 101v) stützen: Hye hebet sich an gar eyn schon gesprech von der mensch werdung vnßerß herren Iesu Cristi. Eine Beschreibung des Codex demnächst bei ALBRECHT HAUSMANN: Der Nordböhmische Totentanz im Stadtarchiv Prag (erscheint in ZfdA). 6 6 Die von STACKMANN/BERTAU (Anm. 5 0 ; Tl. 2, S. 6 3 2 ) geäußerte Vermutung, gespreche sei bei Frauenlob „als Rechtswort für .Verhandlung' gebraucht", wäre in dieser Hinsicht zu präzisieren. 67 VD 16: G 1222. 68 Ebd. D 1316. 69 Ebd. Β 8921. 70 Ebd. S 3428. 71 Ebd. S 305. 72 Ebd. Η 6342. 73 Ebd. F 632.

Politische Beratung, Zwiegespräch, gesellige Unterhaltung

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(33) Ein Disputation oder Gesprech zwayer Stalbüben (Benedict Kuripeschitz, Augsburg 1531).74 (34) Dialogus, ein gesprach da etliche personen mit einander reden / vnnd sich besprachen (Petrus Dasypodius, Dictionarium latinogermanicum, Straßburg 1536).75 In der Flugschriftenproduktion der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts nimmt der Dialog eine besondere Stellung ein. Die Dialoge des Erasmus, des Ulrich von Hutten und des Hans Sachs avancieren zu Mustertexten, deren vielfältige Nachahmung zeigt, dass sie als besonders gut geeignetes Medium gelten, um konfessionspolitische Anliegen an eine reformatorische Öffentlichkeit zu vermitteln. 76 Die Selbstbezeichnungen dieser Texte sind überaus heterogen: neben Dialogus (26, 27), Dyalogus oder gesprech (29) oder Gespräch buchlin (31, 32) stehen Gesprech oder vnderrede77 oder auch Disputation oder Gesprech ( 3 3 ) . JÜRGEN K A M P E hat in seiner Studie zum Reformationsdialog für die Jahre 1520 bis 1525 gezeigt, dass statistisch betrachtet der Anteil derjenigen dialogischen Schriften zurückgeht, die sich ausschließlich als dialogus bezeichnen. 7 8 Gleichzeitig ist eine Zunahme volkssprachlicher Äquivalente bei den Selbstbezeichnungen zu beobachten, sei es als Ergänzung oder auch als Ersetzung des Lateinischen, darunter an prominenter Stelle gesprech?9 Dabei bleibt die Ver74 Ebd. Κ 2590. 75 Dasypodius (Anm. 59), Bl. 50 v . 76 Die jeweilige Rolle, die diese drei Autoren fur die umfangreiche volkssprachliche Dialogproduktion des 16. Jahrhunderts gespielt haben, wäre im Detail allerdings noch genau zu bestimmen. So hat sich VOLKER HONEMANN skeptisch zu dem tatsächlichen Einfluss der deutschen Dialoge Ulrichs von Hutten geäußert; er sieht die Wirkungsmächtigkeit des Autors stärker auf Seiten der lateinischen Texte und in seiner Person (Der deutsche Lukian. Die volkssprachigen Dialoge Ulrichs von Hutten. In: Ulrich von Hutten 1488-1988. Akten des Internationalen Ulrich-von-Hutten-Symposions 15.-17. Juli 1988 in Schlüchtern. Hrsg. von STEPHAN FÜSSEL, München 1989 [PirckheimerJahrbuch 1988], S. 37-55, hier S. 54f.). Wie auch immer daher die Frage der Gattungsstifter zu bewerten ist: Die Popularität der Form hat ihren Grund nicht zuletzt in der Funktionalität für die inhaltliche Darstellung. Der als Dialog gestaltete Text ermöglicht nicht nur die plastische Gegeneinanderstellung von Positionen, sondern auch deren leichte Identifizierung in der Rezeption. Die Wahl der Form begünstigt eine breite Rezeption, indem sie sich - verglichen mit einem Traktat - gut und unterhaltsam vortragen lässt, und zielt insgesamt auf Entakademisierung, da die Gespräche in der Regel zwischen Laien stattfinden. Vgl. zu diesem Komplex JÜRGEN KAMPE: Problem .Reformationsdialog'. Untersuchungen zu einer Gattung im reformatorischen Medienwettstreit, Tübingen 1997 (Beiträge zur Dialogforschung 14), S. 316-324; daneben auch KAI BREMER: Religionsstreitigkeiten. Volkssprachliche Kontroversen zwischen altgläubigen und evangelischen Theologen im 16. Jahrhundert, Tübingen 2005 (Frühe Neuzeit 104), S. 27-45 u. 239-252. 77 Turckenpuechlein. Ein Nutzlich Gesprech oder vnderrede etlicher personen / zu besserung Christlicher ordenung vnd lebens / gedichtet, (anonyme Flugschrift, o. O. 1522 [Wolfenbüttel, HAB, 171.21 Quodl. (10)]); fehlt im VD 16, Nachweis bei KAMPE (Anm. 76), S. 332f. 78

KAMPE ( A n m . 76), S. 8 0 - 9 9 .

79 Für die Jahre 1520-25 erfasst KAMPE (Anm. 76), S. 80, Anm. 129, folgende Selbst-

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Caroline Emmelius

wendung von gesprech nicht allein auf die Bezeichnung des Inhalts beschränkt, wie sie in Beleg 26 dokumentiert ist, sondern wird über die Verwendung in der Paarform Dialogus und gesprech zur Bezeichnung für die Textsorte selbst. So zeigt die Formulierung Eyn Dialogus / das ist eyn gesprech (27), dass gesprech geeignet ist, das lat. dialogus zu erklären bzw. zu übersetzen. Dagegen tritt es in den Belegen 28 und 29 ergänzend zu dialogus auf. Dass es auch allein stehen kann, zeigt die Schrift von Hans Sachs (30). Ein gesprech wäre somit ein ohne narrative Einführung oder Regieanweisungen auskommender, in schriftlicher, vor allem in gedruckter Form vorliegender Text, der eine Unterhaltung zwischen zwei oder mehreren Personen wiedergibt und der je unterschiedlich funktionalisiert sein kann.80 Das Deutsche Wörterbuch bezeichnet diese Verwendung als „buch in gesprächsform".81 In der bei Hutten geprägten Bezeichnung , Gesprächsbüchlein' (31),82 ist diese spezifische Verwendung, indem sie formale Anlage und medialen Status kombiniert, begrifflich am treffendsten auf den Punkt gebracht.83 Langfristig etabliert sich als Übersetzung für lat. dialogus allerdings gesprech, das belegt der Eintrag bei Petrus Dasypodius (34).84 Dass die Verfügbarkeit von gesprech als Übersetzungsbegriff zu lat. dialogus ein Phänomen des 16. Jahrhunderts ist, belegen die Werkbezeichnungen für zwei prominente Dialogtexte des 15. Jahrhunderts. So wird der in der Forschung als ,Dialog' klassifizierte Ackermann in Analogie zu der im Widmungsbrief verwendeten Bezeichnung libellus in einem Teil der handschriftlichen Überlieferung als büchlein bezeichnet,85 das in ihm enthaltene Streitgespräch dagegen als

80

bezeichnungen: 21-mal dialogus, 20-mal gesprech, 20-mal dialogus und/oder gespräch(-sbüchlein), 5-mal gesprächsbüchlein, 8-mal frag und antwurt. In der literaturwissenschaftlichen Terminologie, wie sie das RLW vorgibt, also ein Dialogvgl.

FRIES/WEIMAR ( A n m . 5).

81 82

DWb, Bd. 5, Sp. 4163. Dass die Konjunktur dieser Bezeichnung von Huttens Text initiiert wird, vermutet auch

83

Dass Dialog und Gespräch hier tatsächlich als Gattungsbegriffe aufgefasst werden können, bestätigt KAMPE (Anm. 76), S. 99, wenn er ausführt, dass mit beiden Begriffen „zunächst nichts anderes geliefert [wird] als ein Oberbegriff, der sich auf die Gattung .Dialog' im allgemeinen bezieht. Diese Festlegung wird nun in den Titeln des untersuchten Korpus durch weitere, den Charakter der Gesprächsführung bestimmende Festlegungen differenziert." Der Vocabularius Ex quo gibt mit der Bestimmung von dyalogus als sermo duorum uel Uber Gregorij, in quo habetur vita Benedicti einen Anhaltspunkt dafür, dass auch lat. dialogus als Gattungsbegriff aufgefasst wurde (Voc. Ex quo, Bd. 3, D 292). Analog auch Maaler (Anm. 56), Bl. 175 va . So KARL BERTAU, vgl. Johannes de Tepla Civis Zacensis: Epistola cum Libello ackerman und Das büchlein ackerman. Nach der Freiburger Hs. 163 und nach der Stuttgarter Hs. HB X 23 hrsg. und übers, von Κ. B., 2 Bde., Berlin, New York 1994, hier Bd. 2 (Einleitung, Untersuchungen zum Begleitbrief und zu den Kapiteln 1-34 des Textes und Wörterverzeichnis mit Exkursen), S. 57. Vgl. auch Der Ackermann aus Böhmen. Hrsg.

KAMPE ( A n m . 7 6 ) , S . 8 1 .

84 85

v o n ALOIS BERNT/KONRAD BURDACH. Einleitung, kritischer T e x t , v o l l s t ä n d i g e r L e s -

artenapparat, Glossar, Kommentar, Berlin 1917 (Vom Mittelalter zur Reformation,

Politische Beratung, Zwiegespräch, gesellige Unterhaltung

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krieg*6 Die Mehrzahl der Drucke kündigt eher unspezifisch etliche zu male kluger vnd subtiler rede an,87 einige der jüngeren Drucke fokussieren dagegen den agonalen Charakter des Streits mit dem Titel: Schone red vnd widerred eins ackermans vnd des todes mit scharpffer entscheidung jrs kriegst Dabei ist nicht zu entscheiden, ob die Bezeichnung red vnd widerred vor allem auf die juristische Konstellation des Textes zielt oder ob damit der Charakter des (disputatorischen) Streits hervorgehoben wird. Ein zweites Beispiel sind die deutschen Übersetzungen des mittellateinischen Dialogus Salomonis et Marcolfi, die sich darum bemühen, der lateinischen Bezeichnung dialogus im Titel ein deutsches Äquivalent zu verschaffen.89 Die gebräuchlichste Formel ist frag vnd antwurt. Diese Bezeichnung begreift die Gattung des Dialogs von einer ihrer Grundformen aus, wie sie etwa für den Lehrdialog verbindlich ist. Daneben begegnet auch red vnd widerred, in diesem Fall allerdings ohne juristische oder akademische Konnotationen. Die Formel frag vnd antwurt setzt sich als Übersetzung von lat. dialogus bis in die Reformationsdialoge fort,90 wobei sie der Konkurrenz durch gesprech allerdings messbar unterliegt. Die Beobachtung wäre also dahingehend zuzuspitzen, dass gesprech im 16. Jahrhundert das ältere frag vnd antwurt als deutsche Entsprechung zu lat. dialogus ersetzt.91 7. Zwiegespräch mit Gott, Christus, Heiligen etc., Gebet: (35) so söllent ir haben ein stetes minnekosen und heimelich gespreche [...] mit uwerme gemahele und gespuntzen Jhesu Christo (Schürebrand, Straßburg Ende 14. Jh.). 92

86

87

Forschungen zur Geschichte der deutschen Bildung 111,1), S. 85f. Ζ. B. in der Hs. Stuttgart HB X 23: Jn dem büchlein ist beschrieben ein krieg, wie einer, dem sein liebes gestorben ist, schiltet den Tot (BERTAU [Anm. 85], Bd. 1, S. 9, Z. 1-5). S o d i e H s s . D , I , Κ und die D r u c k e c, d, e, e 1 , e 2 , f, g, g \ h, j , η (BERNT/BURDACH

[Anm. 85], S. 86). So die Drucke i, k, 1, m (BERNT/BURDACH [Anm. 85], S. 86). Für eine Übersicht der Drucke und Titel vgl. BODO GOTZKOWSKY: .Volksbücher', Prosaromane, Renaissancenovellen, Versdichtungen und Schwankbücher. Bibliographie der deutschen Drucke, Tl. 1: Drucke des 15. und 16. Jahrhunderts, Baden-Baden 1991 (Bibliotheca bibliographica aureliana 125), S. 266-275. 90 Ein Frag vnd Antwort von zweyen brudern / was fur ein seltzames Thier zu Nurmberg gewesen im Reychßtag nechst vergangen / geschickt von Rom zu beschawen das Teutsch landt (anonyme Flugschrift, o. O. 1524); VD 16: F 1974. 91 Der Anstoß für diese Entwicklung geht möglicherweise wiederum von den dialogischen Mustertexten aus: dem Gesprächsbüchlein Huttens und den ersten volkssprachlichen Übersetzungen der Colloquia Erasmus', die vielfach gesprech im Titel tragen; vgl. VD 16: Ε 2429-32, Ε 2436-39, Ε 2443, Ε 2447, Ε 2449-51, Ε 2455-58. 92 Schürebrand. Ein Traktat aus dem Kreise der Straßburger Gottesfreunde. Hrsg. von PHILIPP STRAUCH. In: Studien zur deutschen Philologie. Festgabe der Germanistischen Abteilung der 47. Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner in Halle. Zur Begrüßung dargebracht von PH. ST./ARNOLD E. BERGER/FRANZ SARAN, Halle a. S. 1903, S. 1-82, hier S. 15, Z. 23-26.

88 89

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Caroline Emmelius (36) Noch dem innerlichen minnekosende und göttlicheme gespreche mügent ir uch ermundern mit gemeineme ussewendigeme gebette (Schürebrand, Straßburg Ende 14. Jh). 93 (37) Merck / ain mensche der allain ist / mainestu das er darumb schweig / er schweiget nitt / er redet on underlaß / aber sein gesprach ist nit mit den menschen / sunder mit gott / und mit seinen lieben engelen und hailigen in owiger saligkait (Geiler von Kaysersberg, Predigt, Augsburg 1508).94

Ausgehend von der Auffassung des Gebets als einer sich nach außen hin abschließenden Beratung oder Unterredung mit Gott entsteht im geistlichen Diskurs der Gebrauch von gesprech in der Bedeutung ,Zwiegespräch mit himmlischen Wesen', die zum Teil synonym mit .Gebet' ist.95 In Zedlers Universallexikon (1753) ist die Erläuterung zum Eintrag Gespräch sogar auf diese Verwendung beschränkt: Gespraech des Herczens mit Gott, wird das Gebet genennet, [...] und damit die Wuerdigkeit und Lieblichkeit desselben entworffen.96 Die Verwendung des Wortes gesprech für ,Gebet' aktualisiert die Vorstellung des Gebets als confabulatio familiaris zwischen Gläubigem bzw. Seele und Gott.97 Dass damit zugleich ein Versuch vorliegt, dieser Konzeption ein deutsches terminologisches Äquivalent zu verschaffen, zeigt etwa die Formulierung heimelich gespreche aus dem Traktat des Schürebrand (35). Das Charakteristische dieser Verwendung ist die Beschränkung auf zwei Beteiligte: Das geistliche gesprech ist eine Angelegenheit des Einzelnen und seines himmlischen Kommunikationspartners. Durch diese Beschränkung wird die Konzeption symmetrischer Interaktion, die den Verwendungstypen 3, 4, eingeschränkt auch 5 und 6, zugrunde liegt, besonders hervorgehoben, auch wenn die Vorstellung einer Kommunikationssituation auf Augenhöhe mit Gott zu-

93 Schürebrand (Anm. 92), S. 16, Z. 3-5. 94 Geiler von Kaysersberg (Anm. 46), S. 318, Z. 16-20. 95 Zu den Himmelsbewohnem gehören neben Gott und Christus auch Engel: Das himlisch gspräch ain ende nam, / der engl sich von dannen schwang (Ein Deutsches geistliches Liederbuch mit Melodien aus dem XV. Jahrhundert nach einer Handschrift des Stiftes Hohenfurt. Hrsg. von WILHELM BAUMKER, Leipzig 1895, S. 4, Nr. 1, V. 27,1 f.); Ο wie offt ist Christo Francisco erschienen / vnd hat im gesprech gehalten / des gleichen Maria / Johan der Teuffer [...] vnd viel ander Heiligen vnd Engel (Erasmus Alberus: Der Barfuser Munche Eulenspiegel und Alcoran. Mit einer Vorrede D. Martini Luth[eri], Wittenberg 1542, [VD 16: A 1476], Abschn. 6, 1-5). 96 Johann Heinrich Zedier: Grosses Universallexikon aller Wissenschaften und Künste, Bd. 10, Halle a. S., Leipzig 1735, Sp. 1294f. 97 Vgl. hierzu FREIMUT LÖSER: Oratio est cum deo confabulatio. Meister Eckharts Auffassung vom Beten und seine Gebetspraxis. In: Deutsche Mystik im abendländischen Zusammenhang. Neu erschlossene Texte, neue methodische Ansätze, neue theoretische Konzepte. Kolloquium Kloster Fischingen 1998. Hrsg. von WALTER HAUG/WOLFRAM SCHNEIDER-LASTIN, Tübingen 2000, S. 283-316; zu confabulatio familiaris als Terminus der Liebessprache im Zusammenhang der Hoheliedauslegung Bernhards von Clairvaux vgl. BURKHARD HASEBRINK: Spiegel und Spiegelungen im Fließenden Licht der Gottheit. Ebd. S. 157-174, hier S. 159 u. 170-172.

Politische B e r a t u n g , Z w i e g e s p r ä c h , gesellige U n t e r h a l t u n g

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gleich prekär sein mag.98 Der persönliche Charakter dieser Verwendung von gesprech wird dadurch verstärkt, dass der Kommunikationsakt in den Innenraum der menschlichen Seite verlagert wird. Der zweite Beleg aus dem Traktat des Schürebrand (36) macht diese Differenzierung von Innen und Außen besonders deutlich, indem hier zwischen dem stummen, persönlich formulierten gespreche mit Gott und dem vermutlich gemeinschaftlich gesprochenen, formalisierten gebette unterschieden wird. Die Gegeneinanderstellung von innerlichem und äußerlichem Gespräch kennzeichnet auch den Beleg aus Geilers Predigt (37). Die Referenz auf ein spezifisches Redegenus (beratend, erörternd, streitend), wie sie für die meisten der bisherigen Belege beobachtet werden konnte, fehlt für diese Verwendung. Das , Gespräch mit dem unvergleichlichen Partner' 99 ist als heimeliches gespreche demnach gekennzeichnet durch die Reduktion auf zwei Beteiligte, die Unbestimmtheit hinsichtlich der Gesprächsstruktur und -funktion und die verstärkte Vorstellung von sozialer Exklusion. Letztere kommt zwar auch in der politischen und juristischen Verwendung des Wortes zum Tragen, läuft hier aber, indem das gesprech sich sogar der monastischen TeilöfFentlichkeit entzieht, ganz auf den einzelnen Gläubigen zu. 8. Nicht-offizielle, zweckfreie und zwanglose Unterhaltung: (38) do zwischent hielt der kunig den burger mit gespreche, untz daz die boten herwider kement (Fritsche Closener, Straßburger Chronik, 1362). 1 0 0 (39) Als bald die baiden herren zu haus kumen sind / ist da morgenmal gar lustig zugericht gewesen / das haben sie mit freuden und kurtzweiligem gesprech volbracht (Georg Wickram, Von guten und bösen Nachbarn, 1556). 101 (40) Die hochzeit ward also mit kurtzweiligem und früntlichem gesprech / biss zum nacht ymbis vols vertriben (Georg Wickram, Von guten und bösen Nachbarn, 102 1556). (41) Dieweil man aber an solchen orten [sc. in schiffen vnd auff den rollwegen / deßgleichen in scherheüseren vnnd badstuben] sich dannocht auch mit kurtzweiligem gesprech ergetzen muß / hab ich euwer aller gunst und liebe allhie ein kurtzweiligs Buchlin für äugen gestellt (Georg Wickram, Rollwagenbüchlein, 1555). 1 0 3

98 99

Zur Relation von Betendem und Gott in der confabulatio familiaris vgl. LÖSER (Anm. 97), S. 290f. WALTER HAUG: Das Gespräch mit dem unvergleichlichen Partner. Der mystische Dialog bei Mechthild von Magdeburg als Paradigma für eine personale Gesprächsstruktur. In: D a s G e s p r ä c h ( A n m . 10), S. 2 5 1 - 2 7 9 .

100 Closener (Anm. 52), S. 54, Z. 34f. 101 Georg Wickram: Von Güten und Bosen Nachbaurn. In: Ders.: Sämtliche Werke. Hrsg. v o n HANS-GERT ROLOFF, B d . 4 , B e r l i n 1 9 6 9 ( A u s g a b e n d e u t s c h e r Literatur d e s X V . b i s

XVIII. Jahrhunderts), S. 37, Z. 4-6. 102 Ebd. S. 45, Z. 12-14. 103 Georg Wickram: Das Rollwagenbüchlein.

In: Ders.: Sämtliche Werke. Hrsg. von HANS-

GERT ROLOFF, B d . 7 , B e r l i n 1 9 7 3 ( A u s g a b e n d e u t s c h e r Literatur d e s X V . b i s X V I I I .

Jahrhunderts), S. 7, Z. 20-23.

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Caroline Emmelius (42) Nun beschreibet der Euangelist Mattheus [...], wie Christus mit seinen Jungern sich unterredet hab, nicht das ehr ihnen alhier hette eine Predigt gethan, sondern ist nur ein geselliges, freundliches gesprech (Martin Luther, Predigt zu Matth. 18-24, 1537-40). 1 0 4

Mit dem Verwendungstyp 8 gerät erstmals das , gesellige Gespräch' in den Blick.105 Aufgelistet sind alle einschlägigen Belege, die im Belegarchiv des Frühneuhochdeutschen Wörterbuchs zu finden sind, nicht - wie für die bislang aufgeführten Verwendungsweisen - eine Auswahl. Den in den Belegen entworfenen Situationen ist gemeinsam, dass es sich jeweils um Unterhaltungen in nicht-offiziellem Rahmen handelt. Verhandelt oder beraten werden weder politische noch juristische oder wissenschaftliche Gegenstände. Die zitierten Gespräche finden zum Teil nur mit zwei Teilnehmern statt (38 und 39), zum Teil in einer größeren Gruppe (40-42). Die Belege aus Wickrams Nachbarn und dem Rollwagenbüchlein verorten das gesprech dabei in geselligen Kontexten: zum einen der Hochzeit, zum anderen der Reise als einem Ort des Zusammentreffens von Menschen in situationsbedingter Muße. Damit sind zumindest die äußeren Voraussetzungen, die für den neuzeitlichen Gesprächsbegriff ausschlaggebend sind, geschaffen. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts kann gesprech also auch in der Bedeutung ,heitere, dem gemeinschaftlichen Zeitvertreib dienende Unterhaltung abseits öffentlicher Belange und Zwecke' verwendet werden. Ein solches ,geselliges Gespräch' aber ist nur im Ausnahmefall Gegenstand der Sachliteratur, seinen Ort hat es vielmehr im Medium der Erzählliteratur, wie die Belege 39-41 zeigen. Dass die Verwendung von gesprech in zweckfreien Kontexten allerdings noch des Kommentars bedarf, zeigt sich daran, dass Wickram und Luther ihren Verwendungen von gesprech determinierende Attribute beigeben: das Tischgespräch der beiden Herren bei Wickram ist kurtzweilig, die Unterhaltung anlässlich des Hochzeitsfests ist kurtzweilig und früntlich und das Gespräch zwischen Jesus und seinen Jüngern ist gesellig und freundlich}06 Mit diesen Charakteristika erhält das gespräch im nicht-öffentlichen Raum eine deutlichere Kontur: Es ist unterhaltsam und konstituiert, indem es sich sowohl von beratender als auch von erörternder Rede absetzt, somit ein Redegenus jenseits der forensischen Rhetorik. Jesus hält eben keine Predigt (42) und verzichtet damit auf eine didaktische, hierarchisch von oben nach unten gerichtete Kommunikationsform. Indem er sich seinen Jüngern als gleichrangiger Partner, als geselle bzw. freund

104 Martin Luther: Matth. 18-24 in Predigten ausgelegt. 1537-1540. Hrsg. von G. BUCHWALD. In: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 47, Weimar 1912, S. 232-627, hier S. 545, Z. 29-31. 105 Das Deutsche Wörterbuch fasst diese Verwendung unter „unterredung zweier oder mehrer personen, namentlich in zwangloser Unterhaltung" (DWb, Bd. 5, Sp. 4163). 106 Diese Beobachtung trifft auch für die im Deutschen Wörterbuch (Anm. 17) unter dieser Verwendung angeführten älteren Belege zu.

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zuwendet, zielt die Kommunikationssituation vielmehr in einem ganz etymologischen Sinne auf .Geselligkeit'. 107 Über das Material des Frühneuhochdeutschen Wörterbuchs hinaus können an dieser Stelle einige Belege aus der frühen deutschen Boccaccio-Rezeption ergänzt werden, die den bisherigen Befund zeitlich und inhaltlich perspektivieren sollen. Boccaccio kennt zwei Modelle für die Inszenierung geselliger Gespräche. In einer Szene seines Erstwerks, dem Prosaroman II Filocolo (entstanden 1336-38), lässt er eine Gruppe von höfischen Damen und Herren Minnekasus diskutieren, im Decameron (1349-53) werden reihum Geschichten erzählt.108 Die Konstitution der geselligen Runde funktioniert dabei in den beiden Werken nach denselben Mechanismen: 1) Es bedarf des der Öffentlichkeit entzogenen lieblichen Orts, 2) die gesellige Runde umfasst Teilnehmer beiderlei Geschlechts, 3) diese sind prinzipiell gleichrangig, geben sich aber 4) zur Stabilisierung und Verstetigung ihrer geselligen Gemeinschaft über die Bestimmung eines Tageskönigs eine hierarchische, zugleich temporäre und reversible Ordnung.109 In beiden Texten wird die kommunikative Interaktion der Figuren als ragionamento bezeichnet, 110 was die frnhd. Übersetzer zum Teil als gesprech wiedergeben: 111

107 Als Ableitung zu geselle (,jmd., der im gleichen Haus [Saal] wohnt", vgl. KLUGE/SEEBOLD, S. 3 5 2 ) ist .Geselligkeit' durch Gleichrangigkeit konnotiert und zielt somit auf sozial ausbalancierte Interaktion; vgl. auch LEXER, Bd. 1, Sp. 9 0 8 f . Im vorliegenden B e l e g ( 4 2 ) wird damit auf die modellhafte Gemeinschaft von Jesus und seinen Jüngern angespielt. 108 Einführend: LUCIA BATTAGLLA-RLCCL: Giovanni B o c c a c c i o . In: Storia della letteratura italiana. Hrsg. von ENRICO MALATO, Bd. 2: II Trecento, R o m 1995, S. 7 2 7 - 8 7 7 , hier S. 7 5 5 - 7 6 3 u. 7 8 7 - 8 0 4 . Zur Liebesfragenepisode des Filocolo vgl. LuiGI SURDICH: La cornice di Amore. Studi sul B o c c a c c i o , Pisa 1987, S. 13-75 (Kap. 1); zur Rahmenhandlung des Decameron u. a. ebd. S. 2 2 5 - 2 8 3 (Kap. 5); LUCIA BATTAGLIA-RJCCI: Ragionare nel giardino. B o c c a c c i o e i cicli pittorici del Trionfo della morte, R o m 1987 (Studi e Saggi 6), S. 17-44 u. 196-198; MICHELANGELO PLCONE: Tre tipi di cornice novellistica. Modelli orientali e tradizione narrativa medievale. In: Filologia e Critica 13 ( 1 9 8 8 ) , S. 3-26; zum Gespräch bei Boccaccio: RENZO BRAGANTINI: Art. .Dialogo'. In: L e s s i c o critico decameroniano. Hrsg. von R. B./PIER MASSIMO FORNI, Turin 1995, S. 9 3 - 1 1 5 . 109 Zu Stabilisierung und Verstetigung als Kennzeichen von Institutionalisierungsprozessen vgl. PETER STROHSCHNEIDER: Institutionalität. Zum Verhältnis von literarischer Kommunikation und sozialer Interaktion in mittelalterlicher Literatur. Eine Einleitung. In: Literarische Kommunikation und soziale Interaktion. Studien zur Institutionalität mittelalterlicher Literatur. Hrsg. von BEATE KELLNER/LUDGER LIEB/P. ST., Frankfurt a. M. u. a. 2001 (Mikrokosmos 64), S. 1-26. 110 Zu den schon früh belegten parallelen Verwendungen von ragionamento als Medium wissenschaftlicher Erkenntnis und geselliger Interaktion vgl. Grande Dizionario (Anm. 8), Bd. 15 ( 1 9 9 0 ) , S. 3 4 0 - 3 4 2 . 111 Ich fokussiere hier die unter dem nicht entschlüsselten Pseudonym Arigo firmierende erste deutsche Gesamtübersetzung des Decameron (Ulm: Johann Zainer, um 1476) und die anonyme Übersetzung des Filocolo (Metz: Kaspar Hochfeder, 1499).

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Caroline Emmelius (43) do mit vnszer gesprech mit mer Ordnung sein furgang hab. Bedauchte mich also vnszer ains an koniges stat were / dem selben vnszer yglichs ain question von hocher lieb furgelegte vnd dz der konig vber solich furgelegte frage vnn question red vnn antwurt gebe (Giovanni Boccaccio, Florio und Biancefora, 1499). 112 Übersetzung zu: Accio che i nostri ragionamenti possano con piü ordine procedere [...] ordiniamo uno di noi qui in luogo di nostro re, al quale ciascuno una quistione d'amore proponga, e da esso a quella debita risposta prenda (Giovanni Boccaccio, Filocolo).Ui (44) Wer möcht volkomenlichen das mancherley gespräch der wirdigen geselschaft sagen welicher vnder den dreyen mer tugent gebraucht het, etlich sprachen der ritter. etlich Gilibert, etlich der nigromant (Arigo, Decameron deutsch, um 1476). 114 Übersetzung zu: Chi potrebbe pienamente raccontare i varii ragionamenti tralle donne stati, qual maggior liberalitä usasse, ο Giliberto ο messer Ansaldo ο il nigromante (Giovanni Boccaccio, Decameron).U5

Im Beleg aus dem Prosaroman Florio und Biancefora (43) zielt das gesprech zwar auf kurtzweil,U6 impliziert aber keinesfalls Regel- oder Zwanglosigkeit. Vielmehr intendiert Fiammetta mit ihrem Vorschlag, Minnekasus vorzulegen und zu disputieren, das Redeverhalten der Einzelnen zu ordnen und zu reglementieren, hatte die zuvor ungeordnete Interaktion doch dazu gefuhrt, dass - im Überschwang der zu erzählenden abenteurlichen materi [...] ains dem andern / sein rede bricht.117 Die Struktur des Vorlegens, Verhandeins und Beurteilens von Minnefragen setzt dieser kommunikativen Unordnung ein Ende und sichert damit auch den sozialen Fortbestand der Gruppe, deren wechselseitige Unterbrechungen ansonsten leicht zu Streit hätten führen können. Gesprech bezeichnet insofern zwar eine unterhaltsame, prinzipiell zweckfreie, nicht aber eine ungeregelte, freie Form der Kommunikation. In dieser Bedeutung ist das frnhd. gesprech vor dem Hintergrund der Verwendungsweisen 3, 4 und 5 eine durchaus naheliegende Wahl. Der Beleg aus Arigos Decammw-Übersetzung (44) zeigt, dass gesprech als Übersetzung von ragionamento für eine kommunikative Situation gewählt wird, in der sich die brigata — untypischer- und unvorgesehenerweise - in einen Meinungsstreit über die vorgetragenen Novellen verstrickt, eine Situation also, in der es auf die agonalen Konnotationen des

112 Florio und Biancefora. Ein gar schone newe hystori der hochen lieb des kuniglichen fursten Florio vnnd von seyner lieben Bianceffora. Mit einem Nachwort von RENATE NOLL-WIEMANN, [Nachdruck der Ausg. Metz 1500 (!)], Hildesheim, New York 1975 (Deutsche Volksbücher in Faksimiledrucken, Reihe A, Bd. 3), Bl. 73 r , Z. 10-13. 113 Giovanni Boccaccio: II Filocolo. Hrsg. von ANTONIO ΕΝΖΟ QUAGLIO, Bd. 1, Mailand 1967 (Tutte le opere di Giovanni Boccaccio 1,2), IV, 17,5. 114 Heinrich Steinhöwel [!]: Decameron. Hrsg. von ADELBERT VON KELLER, Stuttgart 1860 (StLV 51), S. 613, Z. 19-21. 115 Giovanni Boccaccio: Decameron. Hrsg. von VITTORE BRANCA, Turin 1995 (Nuova Universale Einaudi 169), X,6,2. 116 Florio und Biancefora (Anm. 112), Bl. 73Γ, Z. 4-5: Darumm gen wir in den grünen anger / do wir mit kurtzweyligem gesprech die hitz des tags vertreyben mugen. 117 Florio und Biancefora (Anm. 112), Bl. 7 3 \ Z. 8f.

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Wortes ankommt. Wie wenig sich in beiden Übersetzungen das Wort gesprech mit einem neuen Verständnis einer heiteren, freien Geselligkeit verbindet, zeigen Passagen, in denen die Figuren ihr kommunikatives Handeln reflektieren, indem sie es von disputatorischen, akademisch-gelehrten Kommunikationsmodi abgrenzen. Sowohl im Filocolo als auch im Decameron kann ragionare (,sprechen', ,erzählen', auch .argumentieren')118 auch einen kommunikativen Raum bezeichnen, der sich durch Merkmale wie die Vermeidung von Spitzfindigkeit und die Abweisung eines Anspruchs auf Wissenschaftlichkeit vom Raum des akademischen quistionare und disputare abhebt. Signori e donne, compiute sono le nostre quistioni, alle quali, [...] noi secondo la nostra modica conoscenza avemo risposto, seguendo piü tosto festeggevole ragionare che atto di quistionare (Filocolo [Anm. I l l ] , IV,71,2); „Meine Damen und Herren, unsere Fragen sind beendet, auf die wir nach unserem bescheidenen Vermögen geantwortet haben, wobei wir uns weit mehr an vergnüglicher Unterhaltung als an wissenschaftlicher Diskussion orientierten." (Übersetzung C. E.) Splendide donne, io fui sempre in opinione che nelle brigate, come la nostra e, si dovesse si largamente ragionare, che la troppa strettezza della intenzion delle cose dette non fasse altrui materia di disputare: il che molto piü si conviene nelle scuole tra gli studianti che tra noi, le quali appena alia rocca e al fuso bastiamo. Ε per cid io, che in animo alcuna cosa dubbiosa forse avea, veggendovi per le gia dette alia mischia, quella lascerö stare {Decameron [Anm. 113], X,6,3-4); „Vortreffliche Damen, ich war immer der Meinung, dass man in einer Gesellschaft wie der unsrigen so ausfuhrlich erzählen müsse, dass durch eine zu große Verengung des Sinns des Gesagten kein Stoff zum Streiten entstehe. Das passt viel eher auf die Universitäten und zu den Studenten als für uns, die wir kaum mit Spindeln und Rocken umzugehen wissen. Darum will ich, die ich ebenfalls eine strittige Sache im Sinn hatte, auf diese Erzählung verzichten, weil ich sehe, dass schon über die bisherige Uneinigkeit entstanden ist". (Übersetzung C. E.)

Mit der begrifflichen Erfassung und Übertragung dieser Differenz haben die deutschen Texte offenkundige Schwierigkeiten. Im deutschen Florio fehlt der entsprechende Kommentar ganz: [i]R edlen herren vnn auch ir schonen frawen mit der hilff vnszer goter wir vnszer materi seind zu end komen / vnn nach vnserm vrtayle / wir wol erkennen / in vil Sachen het besser antwurt geben mügen / dan wir gethon haben (Florio und Biancefora).119

Fiammetta charakterisiert ihre Antworten ganz allgemein als defizitär, ohne dabei den Maßstab fur dieses Urteil (das quistionare der italienischen Vorlage), noch die an dessen Stelle tretende neue Kommunikationsform des festeggevole ragionare zu nennen. Arigos Übersetzung der Decameron-Passage zu Beginn der Novelle X,6 weist zwar keine Auslassungen auf und bemüht sich, dicht an

118 Vgl. Grande Dizionario (Anm. 8), Bd. 15 (1990), S. 342-346. 119 Florio und Biancefora (Anm. 112), Bl. 90 v , Z. 31-33.

Caroline Emmelius

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der Vorlage zu bleiben, hat aber ebenfalls Mühen, deren spezifischen Sinn zu erfassen: Ir leuchtenden frawen ich bin allwege solicher meynung das man in solicher geselschaft als die vnser ist klärlich vnd lauter reden solt domit die verborgen rede vns nicht vrsach geben die gesagten meynung zedisputiren, dann solchs disputiren den schülern vnd Studenten zugebürt, vnd vns spinnein vnd rocken zugehöret douon zereden vnd ich als die auch willen het euch was zweifelhaftiger materi czesagen, die will ich faren lassen seitmale ich euch vmb der gesagten willen in krieg vernym (Arigo, Decameron deutsch, um 1476). 120

Boccaccio stellt der troppa strettezza della intenzion delle cose dette („der zu

großen Enge des Sinns des Gesagten"),121 das aufgrund seiner Einseitigkeit zu polarisieren vermag und daher Gegenpositionen herausfordert, das largamente ragionare (ein ausfuhrliches, breites Erzählen) gegenüber, das diese Polarisierung der Zuhörenden vermeidet und daher ihre heitere Einmütigkeit fördert. Arigo versucht nun diesen Gegensatz, der auf den Sinn (intenzione) des kommunikativen Handelns zielt, mit rhetorischen Kategorien zu fassen: Zum Auslöser von Streit wird bei ihm die obscuritas des Gesagten (verborgen rede), der nur durch ein Mehr an perspicuitas (klärlich vnd lauter reden) zu begegnen ist. Zu dieser Beobachtung passt auch, dass er für die Seite des hier ja zu vermeidenden disputare über ein breites Spektrum an einschlägigen Termini aus dem juristisch-gelehrten Diskurs (wie meynung disputiren, zweifelhaftige materi und krieg) verfugt. J A N - D I R K M Ü L L E R hat bezogen auf die Übersetzung

Arigos treffend davon gesprochen, dass hier das ,„novellare' als Bestandteil einer Lebensform und als Überlebensstrategie in einer Ausnahmesituation" auf der Strecke bleibe.122 Die Gründe dafür, warum der Kulturtransfer dieses neuen Modus geselliger Selbstkonstitution aus dem italienischen Trecento in das deutsche 15. Jahrhundert scheitert, liegen dabei möglicherweise nicht nur auf der Ebene literarischer und soziokultureller Inkompatibilität, sondern auch - so lassen sich die zitierten Belege jedenfalls werten - in einem (noch) nicht hinreichend ausdifferenzierten Vokabular. - Abschließend sind noch zwei Verwendungsweisen anzuführen: 9.

Gerede, üble Nachrede: (43) Α in pueler, der furcht haymlich räumen vnd gesprech amore deutsch, 1440). 123

(Johann Hartlieb, De

120 Arigo (Anm. 114), S. 613, Z. 24-31. 121 BRANCA (Anm. 1 1 5 ) glossiert diese Stelle als „troppa oscuritä Ο sottigliezza del senso" (S. 1156, Anm. 5). Da ich annehme, dass strettezza (Enge) hier absichtsvoll in Opposition zu largamente (ausfuhrlich, breit) gesetzt ist, kann ich mich dieser Lesart nicht anschließen. 1 2 2 JAN-DIRK MÜLLER: Boccaccios und Arigos .schöne Gesellschaft'. Italienische Renaissanceliteratur im spätmittelalterlichen Deutschland. In: Fifteenth-Century Studies 7 ( 1 9 8 3 ) , S. 2 8 1 - 2 9 7 , hier S. 2 8 6 . 123 ALFRED KARNEIN: De Amore deutsch. Der Tractatus des Andreas Capellanus in der Übersetzung Johann Hartliebs, München 1970 (MTU 28), S. 234, Z. 5.

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10. unterhaltsamer Gesprächsinhalt, Geschichten: (44) Er was gar gueter und frembder awentewr und gesprächs (Ulrich 124 Bayerische Chronik, 1478-81) (45) So er bei ainer frölichen gesellschaft, mecht er keine schwenck oder liche gesprech leiden, es muest ime alles ernsthaftig zugeen (Zimmernsche

nik,, 1550-60).125 (46) mit kurtzweyligen reden, Gartengesellschaft, 1556).126

schimpflichem

gesprech

unnd bossen

Füetrer, lecherChro-

(Jakob Frey,

Mit der diskursiven Verschiebung von gesprech in den Bereich des NichtÖffentlichen, zugleich in den Bereich der Muße und Unterhaltung kommen abwertende Verwendungen auf, wie sie der Verwendungstyp 9 zeigt. Der Beleg aus Hartliebs Capellanus-Übersetzung (43) zeigt, dass das Anstößige des gesprechs von seinem exkludierenden Charakter ausgeht: Gefürchtet werden muss das, was in der Hofgesellschaft von einigen unter Ausschluss von anderen gesprochen wird, ohne dass es - als Minneangelegenheit - offiziellen Status erlangt. Die metonymische Verwendung von gesprech für dessen Inhalt im Verwendungstyp 10 ist als spezifische Ausweitung zur gesellig-unterhaltenden Verwendungsweise (Typ 8) zu verstehen. In allen drei Belegen steht gesprech für einen spezifischen Gesprächsinhalt, nämlich unterhaltsame, lustige Geschichten. In den beiden Chronikzitaten dienen diese zur Personencharakterisierung: So weist die Kenntnis gueter und frembder awentewr und gesprächs den Grafensohn Egkhart zu Scheyren als unterhaltsamen Erzähler aus (44). Dagegen erweist sich der in der Zimmernschen Chronik angesprochene Doktor Gotteshaim mit seiner Abneigung gegen schwenck oder lecherliche gesprech als genaues Gegenteil eines homo facetus.127

124 Ulrich Füetrer: Bayerische Chronik. Hrsg. von REFNHOLD SPILLER, München 1909 (Quellen und Erörterungen zur Bayerischen und Deutschen Geschichte, N. F. 11,2), S. 133, Z. 9-11. Die Charakterisierung bezieht sich auf Egkhart, Sohn Graf Wemhers zu Scheyren. 125 Zimmerische Chronik. Nach der von KARL BARACK besorgten zweiten Ausg., neu hrsg. von PAUL HERRMANN, Bd. 3, Meersburg, Leipzig 1932, S. 114, Z. 21-23. Die Aussage bezieht sich auf Doktor Gotteshaim, der für ein gelerten narren geschetzt wurde (S. 114, Z. 20f.). 126 Jakob Frey: Gartengesellschaft (1556). Hrsg. von JOHANNES BOLTE, Tübingen 1896 (StLV 209), S. 6, Z. 4f. 127 Vgl. hierzu GERD DICKE: Fazetieren. Ein Konversationstyp der italienischen Renaissance und seine deutsche Rezeption im 15. und 16. Jahrhundert. In: Literatur und Wandmalerei II. Konventionalität und Konversation. Hrsg. von ECKART CONRAD LUTZ/ JOHANNA THALI/RENE WETZEL, Tübingen 2005, S. 155-188, hier S. 186-188.

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Caroline E m m e l i u s

IV. Meine Ausgangsfrage lautete: Wie sieht die frnhd. Wortgeschichte von Gespräch aus? Welche kleinen Schritte der Veränderung sind in der semantischen Geschichte des Wortes zu konstatieren, bevor es, wie Harsdoerffer im Poetischen Trichter formuliert, die hofliche Unterredung / der freundliche Wortwechsel / die Stifftung der Freundschafft / das freye Band der Gesellschajftm werden kann? Der Versuch, auf Grund des ,,Spektrum[s] der Verwendungsweisen" in Worte zu fassen, was als „Einheit der Wortbedeutung"129 anzusetzen wäre, könnte - allerdings unter weitgehendem Absehen von den mhd. und frnhd. Verwendungsweisen 1 und 2 - lauten: , exklusives Sprechen in einem durch symmetrische Relationen gekennzeichneten Kollektiv'. Die zentrale Realisierung findet diese Bedeutung sowohl im Mittelhochdeutschen als auch im Frühneuhochdeutschen im politischen und juristischen Diskurs, in der exklusiven Beratung von Gegenständen des öffentlichen Interesses (Verwendungstypen 3 und 4). Eine Veränderung wäre allenfalls für den frnhd. Verwendungstyp 4 (gesprech für .beratende Versammlung') zu beobachten: die aufgeführten Belege (20-22) legen die Vermutung nahe, dass diese Verwendung allmählich aus dem Gebrauch kommt. Neben diesen weitgehend konstanten Verwendungsweisen konnten drei Entwicklungstendenzen beobachtet werden, die einen spezialisierten Gebrauch dokumentieren: 1. Die Verwendung von gesprech für Disputation, die die agonale Struktur der Rede ins Zentrum stellt. Daraus ergibt sich eine Konkurrenz zu den älteren Worten strit und kriec. 2. Die metonymische Verwendung der Interaktionsform für die Textsorte, durch die gesprech als Entsprechung zu lat. dialogus etabliert wird. 3. Die Verwendung von gesprech als Entsprechung zu lat. confabulatio familiaris für vertrauliche Zwiesprache, die im Frühneuhochdeutschen auf den geistlichen Diskurs beschränkt ist und den Ort der Kommunikation aus dem öffentlichen Raum in das Innere des irdischen Sprechers verlagert und damit personalisiert. Auch wenn die beiden letztgenannten Verwendungsweisen (Typ 6 und 7) einen spezialisierten Gebrauch von frnhd. gesprech dokumentieren, zeichnet sich in ihnen gegenüber den mhd. Verwendungsweisen bereits ein offeneres Spektrum der kommunikativen Ziele und Funktionen eines Gesprächs ab. In

128 Georg Philipp Harsdoerffer: Poetischer 1653, Darmstadt 1969, S. 232.

Trichter, Tl. 3, Nachdruck der Ausg. Nürnberg

1 2 9 FRITZ ( A n m . 2 2 ) , S. 1 4 - 1 7 u. 2 2 f . , zit. S. 2 3 . V g l . h i e r z u a u c h KARL STACKMANN:

Historische Lexikographie. Bemerkungen eines Philologen. In: Wörter und Namen. Aktuelle Lexikographie. Symposium Schloss Rauischholzhausen 25.-27. September 1 9 8 7 . H r s g . v o n RUDOLF SCHÜTZEICHElVPETER SEIDENSTICKER, M a r b u r g 1 9 9 0 ( M a r -

burger Studien zur Germanistik 13), S. 198-213, hier S. 204-207.

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dieser Öffnung der Funktionsbestimmung ist die für das Neuhochdeutsche folgenschwerste Entwicklung zu sehen: vom politisch-juristischen Beratungsgespräch zu einer allgemeineren, unterschiedliche Funktionen inkorporierenden Form von Unterredung,130 die zu Beginn des 16. Jahrhunderts auch unterhaltsam und gesellig sein kann. Als Synonym für .Konversation' im neuzeitlichen Sinne lässt sich gesprech im Frühneuhochdeutschen dennoch nur in Ansätzen fassen. Während die Belege der Boccaccio-Rezeption für das 15. Jahrhundert zeigen, dass gesprech als Übersetzung von ragionamento noch auf ein kollektives Gespräch mit disputatorischem Charakter zielt, weshalb sich ragionare und disputare in der Übersetzung folglich nicht oder nur schlecht differenzieren lassen, zeigen die Belege bei Wickram, dass der gesellig-unterhaltende Charakter des Gesprächs mit Hilfe von Attributen besonders hervorgehoben werden muss. Dass sich der Gebrauch von gesprech im Verlauf des 16. Jahrhunderts in dieser Bedeutung verfestigt, zeigt zum Beispiel die erste deutsche CortegianoÜbersetzung von Laurenz Kratzer (1566),131 in der gesprech durchgehend als Übersetzung von ragionamento verwendet wird.132 Die Beschreibung der Genese einer begrifflichen Konzeption mit einem semasiologischen Verfahren wird sich die Frage gefallen lassen müssen, ob die Fragestellung überhaupt an der richtigen Stelle angesetzt hat. Gerade weil das frnhd. gesprech sich im 15. Jahrhundert offenbar wenig eignet, den italienischen Kulturimport des heiteren ragionamento und der vergesellschaftenden conversazione zu bezeichnen, stellt sich die Frage nach den möglichen terminologischen Alternativen. Eine solche onomasiologische Erweiterung der Fragestellung kann hier nicht geleistet werden. Hinweisen möchte ich lediglich auf einen Wortfund, dessen Kontexte belegen, dass es in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts ein Bemühen gibt, kollektiver kommunikativer Interaktion abseits des Politisch-Juristischen eine eigenständige Bezeichnung zu verschaffen: 1) Im Traktat De amore führt Andreas Capellanus copiosa sermonis facundiam („die wortreiche Beredsamkeit in Gespräch oder Rede") als eine von vier Eigenschaften an, die für das Gewinnen von Liebe notwendig seien. Johann Hartlieb übersetzt diese Formulierung mit wolgesprach mitkosn vnd

130 Etwa analog zum lat. colloquium, wie es bei Erasmus Verwendung findet, bzw. analog zu sermo im Sinne Ciceros als Gegenbegriff zur forensischen Rede (contentio, oratio); vgl. Marcus Tullius Cicero: De officiis. Vom pflichtgemäßen Handeln. Lateinisch und Deutsch. Übers., kommentiert und hrsg. von HEINZ GUNERMANN. Durchges. und erw. Ausg., Stuttgart 2003 (RUB 1889), Buch I, 37. 131 Hofmann / In Welsch der Cortegiano / genandt [...]. Erstlich durch Graff Walthaserm Castiglion / in Italiänischer sprach beschriben / vnd ietz [...] in Teütscher sprach transferiert durch Laurentzen Kratzer, München: Adam Berg, 1566; VD 16: C 149. 132 In diesem Text liegt zudem ein sehr früher Beleg für dt. konversieren als Entsprechung zu ital. parlare vor (ebd. Bl. 239 v ). 133 Andreae Capellani Regii Francorum De amore libri tres. Hrsg. von E. TROJEL, München 1964, S. 14 (Buch 1,6).

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liebplich red;iM 2) Im Vocabularius Ex quo ist conuersatio in der Handschrift Hll der bairisch-österrreichischen Redaktion Κ durch mit chossin glossiert.135 Das Verb mitkosen ist weder im Mittelhochdeutschen noch im Neuhochdeutschen als eigenständiges Wort belegt. Ob es im Frühneuhochdeutschen Wörterbuch lemmatisiert sein wird, steht zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht fest, daher können auch noch keine Aussagen darüber getroffen werden, ob es weitere Belege gibt.136 Es muss ebenfalls offen bleiben, ob die oberdeutsche Herkunft der beiden Belege für den Nachweis eines frnhd. Worts mitkosen von Bedeutung ist. Gebildet ist mitkosen als Ableitung zu dem Verb kosen (mhd. kosen), das ungezwungenes Sprechen oder Plaudern im nicht-öffentlichen Raum bezeichnet.137 Kombiniert ist es mit dem Nähe und Gemeinsamkeit bezeichnenden Adverb mit,13* durch das der soziale Charakter der Sprachhandlung verstärkt wird. Die Wortbildung zeigt somit bereits an, dass mitkosen geeignet ist, sowohl sprachliche als auch soziale Aspekte von Kommunikation zu bezeichnen. Beide Dimensionen werden auch in den zitierten Belegen aktualisiert: Bei Hartlieb ist mitkosen vor allem ein Ausdruck für sprachliche Interaktion. Als substantiviertes Verb steht es hier parallel zu rede und übersetzt den sermo der Vorlage. Dass statt des geläufigeren kosen das spezifische mitkosen gewählt wird, verweist auf den sozialen Charakter der verhandelten Eigenschaft, schließlich geht es darum, die Rede an jemanden zweiten, hier eben die Dame, zu richten und darüber Nähe und Verbundenheit herzustellen. Damit verschiebt sich der Fokus gegenüber der Vorlage nicht unerheblich: Während Capellanus mit Beredsamkeit (facundia) eine rhetorische Qualität - die sich vor allem in monologischer Rede erweist - bei einem erfolgreichen Liebhaber voraussetzt, betont Hartlieb neben der sprachlichen auch die soziale Kompetenz des Werbers, auf angenehme Weise (lieplich) mit seinem Gegenüber zu kommunizieren. Im Vocabularius Ex quo steht die Glosse mit chossin von vornherein in einem Kontext sozialer Interaktion, denn conversatio bezeichnet bis weit in die Frühe Neuzeit hinein vor allem zwischenmenschlichen Umgang.139 Entsprechend dieser Hauptbedeutung ist das Wort auch in der Redaktion S glossiert: eyn ghezellich leuent.H0 Die Glossierung in der Handschrift Hll wäre ein sehr früher Beleg dafür, dass conversatio neben sozialem auch gesprächigen Um-

134 DeAmore deutsch (Anm. 123), S. 73, Z. 5. 135 Voc. Ex quo, Bd. 2, C 998. 136 Eine Recherche in den digital verfügbaren Textcorpora blieb ohne Ergebnis. Das Belegmaterial des Frühneuhochdeutschen Wörterbuchs zum Verb kosen enthielt ebenfalls keine entsprechenden Belege. Ich danke Frau Dr. Winge (Kopenhagen) sehr herzlich dafür, dass sie mir das Belegmaterial zu kosen zur Verfügung gestellt hat. 137 BMZ, Bd. I, S. 863b; LEXER, Bd. 1, Sp. 1686; DWb, Bd. 11, Sp. 1842-1846. 1 3 8 LEXER, B d . l , S p . 2 1 7 8 f .

139 Mlat. Wb., Bd. 2 (1999), Sp. 1824-1826. 140 Voc. Ex quo, Bd. 2, C 998. Die Parallelglossierung eyn geistlich leben verweist auf die spezielle Verwendung von conversatio für das klösterliche Zusammenleben, vgl. Mlat. Wb. (Anm. 139), Sp. 1825.

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gang bezeichnen kann. In beiden Fällen bezeichnet mitkosen eine Form von ungezwungener Kommunikation abseits des juristischen und politischen Diskurses, die von spezifischen Zwecken absieht und auf die Herstellung von Gemeinschaft oder sogar Geselligkeit zielt. Das Wort hat damit genau jene Konnotationen, die gesprech - im 15. Jahrhundert - noch nicht hat. Die zeitlich (und ggf. auch regional) begrenzte Existenz der Bildung mitkosen wäre jedoch als Hinweis darauf zu werten, dass gesprech im 16. Jahrhundert zunehmend fähig wird, diese Bedeutungen zu integrieren.

ALBRECHT HAUSMANN

tütsch brieff machen, och hoflich reden Zur Terminologie deutscher Artes dictandi des 15. Jahrhunderts1

The vernacular Artes dictandi (instructions in writing letters) of the 15th century are the earliest German treatises known which systematically instruct in writing texts. These instructions are accompanied by a repertoire of German technical terms by means of which textual and communicative phenomena as well as techniques of text production can be described. Investigating the Deutsche Rhetorik by Friedrich von Nürnberg the author shows how independent the German terminology is in comparison to its Latin counterpart which had already been well established; the consequences for the prospective audience of the Artes dictandi are demonstrated. The textual history of the Deutsche Rhetorik shows that a purely German terminology was not very attractive even to those users, who did not know any Latin. Here, possibilities and limits of vernacular expressions finding their way into the 'word field of the text' in the 15th century become apparent.

I. Texte, deren Thema die Herstellung, Verwendung, Weitergabe oder auch die erschließende Beschreibung von anderen Texten war, wurden in den mittelalterlichen Jahrhunderten selbstverständlich in lateinischer Sprache verfasst. Texttheoretische Schriften jeder Art, Poetiken, Brieflehren (Artes dictandi),2 das gesamte rhetorische Schrifttum des Triviums, aber auch Predigtlehren ver-

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Grundlegende Kenntnisse zu den deutschen Artes dictandi des 15. Jahrhunderts, auf denen der folgende Beitrag beruht, sowie wesentliche Anregungen verdanke ich meiner Mitarbeit im Projekt .Repertorium der Artes dictandi des Mittelalters' unter Leitung von FRANZ JOSEF WORSTBROCK (München) in den Jahren 1993 und 1994. Für anregende

2

Diskussionen danke ich den Mitarbeitern der Göttinger Forschernachwuchsgruppe .Stimme-Zeichen-Schrift in Mittelalter und Früher Neuzeit', in deren Rahmen dieser Beitrag entstanden ist. Ich verwende die Bezeichnungen ,Ars dictandi' und ,Ars dictaminis' im Folgenden in Anlehnung an die Unterscheidung bei WORSTBROCK: „Die Bezeichnung Ars dictaminis steht mit Vorzug für die Prosa- und Brieflehre als Gattung und Disziplin, die Bezeichnung Ars dictandi mit Vorzug für den Traktat, der Regeln der Komposition und des Stils formuliert, erörtert und illustriert." FRANZ JOSEF WORSTBROCK: Art. ,Ars dictaminis, Ars dictandi.' In: RLW, Bd. 1 (1997), S. 138-141, hier S. 138.

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standen sich als Teil der gelehrten lateinischen Schriftkultur und wirkten von hier aus auch auf die Verfasser volkssprachiger Literatur ein. In der Volkssprache selbst gab es keine eigenständigen ,Texte über Texte', die die Entwicklung einer systematischen deutschsprachigen Terminologie für die Bezeichnung von Textphänomenen oder Verfahrensweisen der Textherstellung notwendig gemacht hätten. Solange nahezu alle Textproduzenten - auch die Verfasser volkssprachiger Texte - lateinisch sozialisiert waren und an der dominierenden lateinischen Schriftkultur partizipierten,3 waren textbezogene Schriften in der Volkssprache überflüssig,4 und entbehrlich war dementsprechend auch eine einschlägige volkssprachige Terminologie. Im »Wortfeld des Textes' finden sich in dieser Zeit etablierte lateinische Begriffe. Ausnahmen gab es insbesondere dort, wo lateinisch sozialisierte Autoren einem lateinunkundigen Publikum Mitteilungen über Anspruch, Funktion oder Machart der von ihnen verfassten volkssprachigen Literatur machen wollten. Solche Mitteilungen finden sich häufig in Prologen, Epilogen und Exkursen, jedoch wird dabei kaum je eine über den Einzeltext hinausgehende terminologische Festigkeit oder Kontinuität erreicht.5 Auch daran wird erkennbar: Schriftgebundene volkssprachige Textproduktion war in den mittelalterlichen Jahrhunderten sehr weitgehend ein Epiphänomen lateinischer Schriftlichkeit.6 Volkssprachige ,Texte über Texte' konnten unter diesen Voraussetzungen erst dann mit einem Publikum rechnen, wenn nicht nur die Rezipienten, sondern auch die Produzenten von Texten aus einem Bildungsmilieu stammten, das keinen direkten Anteil an der lateinischen Schriftkultur hatte. Das Auftreten von Übersetzungen präskriptiver ,texttheoretischer' Schriften in die Volkssprache kann insofern eine neue Qualität volkssprachiger Schriftlichkeit anzei3

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Entsprechend konstitutiv war lateinische Schriftkompetenz für das Selbstverständnis und die soziale Identität des Klerikerstandes; vgl. dazu HANS ULRICH GUMBRECHT: Schriftlichkeit in mündlicher Kultur. In: Schrift und Gedächtnis. Beiträge zur Archäologie der literarischen Kommunikation. Hrsg. von ALEIDA ASSMANN/JAN ASSMANN/ CHRISTOF HARDMEIER, München 1983 (Archäologie der literarischen Kommunikation 1), S. 158-174, hierS. 166. Anders verhält es sich mit sprachbezogenen Texten in der Volkssprache, also Grammatiken oder Vokabularien, insofern sie funktional dem Erlernen des Lateinischen zugeordnet waren. Vgl. dazu unten Anm. 8. Vgl. dazu grundsätzlich WALTER HAUG: Literaturtheorie im deutschen Mittelalter von den Anfängen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts. 2., Überarb. und erw. Aufl., Darmstadt 1992. Vgl. dazu GUMBRECHT (Anm. 3), S. 170, der den Sachverhalt (mit Blick wohl v. a. auf die Verhältnisse in Frankreich) sozialhistorisch zuspitzt: „gegen die Behauptung, die ersten überlieferten Texte in den europäischen Volkssprachen seien Belege für eine beginnende Laien-Schriftkultur, setzen wir den Befund, daß diese Texte je spezifisch motivierte Produkte der Kleriker-Kultur sind." Einen Forschungsbericht zum Verhältnis v o n L a t e i n und V o l k s s p r a c h e g e b e n NIKOLAUS HENKEL und NIGEL F. PALMER. In:

Latein und Volkssprache im deutschen Mittelalter 1100-1500. Regensburger Colloquium 1988. Hrsg. von Ν. H./N. F. P., Tübingen 1992, S. 1-18, zum Folgenden vgl. v. a. S. 9f.

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gen: Die Adressaten solcher Texte waren Personen, die in die Lage versetzt werden sollten, normgerechte und kommunikativ funktionsfähige volkssprachige Texte zu verfassen, ohne über eine lateinisch vermittelte Bildung zu verfugen.7 Allerdings muss hier sofort eingeschränkt werden: Volkssprachige ,Texttheorie' konnte - insbesondere wenn es sich um Übersetzungen aus dem Lateinischen handelte - zweifellos auch dem Verständnis lateinischer Texte dienen; sie konnte eine erläuternde oder propädeutische Funktion haben, durch die ihre Volkssprachigkeit unselbständig und auf das Lateinische hin orientiert erscheint. Dies ist insbesondere bei volkssprachigen Grammatikschriften zu beobachten, denen im Prozess des Erlernens der lateinischen Sprache eine pädagogisch-didaktische Funktion zukam.8 Die Adressaten solcher Texte befanden sich normalerweise noch im Prozess der lateinischen Sekundärsozialisation. Ein Indikator dafür kann die spezifische Terminologie derartiger Texte sein: Ihr Anliegen ist nämlich im Regelfall nicht die Entwicklung einer eigenständigen volkssprachigen Terminologie (und damit der Ersatz der lateinischen Ausdrücke durch deutsche), sondern die Erläuterung und Erklärung der etablierten lateinischen Fachausdrücke mit Hilfe der Volkssprache. Dazu dienten regelmäßig zwei Verfahren: Zum einen konnten die lateinischen Ausdrücke ad verbum übersetzt werden. Die ,neuen' deutschen Ausdrücke bilden dann möglichst exakt die lateinische Wortstruktur ab und sind dadurch nicht selten aus sich selbst heraus kaum noch verständlich; sie sind nicht auf die Ziel-, sondern auf die Ausgangsprache hin orientiert. Zum anderen konnten im volkssprachigen Text die lateinischen Ausdrücke weiterverwendet werden, jedoch wurden sie dann (meist bei ihrem ersten Auftreten) in der Volkssprache erläutert, oft durch eine Paraphrase, bisweilen aber auch in Form einer regelrechten ,Übersetzung'. Ähnlich funktionieren Paarformen aus deutschen und lateinischen Ausdrücken, deren Bestandteile sich gegenseitig erklären. Freilich beweist eine solche ,gemischte', auf die Vermittlung und Verwendung der lateinischen Ausdrücke gerichtete Terminologie nicht zwingend, dass der entsprechende volkssprachige Text in den Bereich der lateinischen Sekundär7

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Das erstmalige Auftreten solcher Texte im 15. Jahrhundert ist dann ein Beleg für GUMBRECHTs (Anm. 3) These, „daß sich die Volkssprache als schriftliches Medium der Laienkultur erst im XV. Jahrhundert konstituierte" (S. 171). Vgl. einführend auch WILLIAM CROSSGROVE: Die deutsche Sachliteratur des Mittelalters, Bern u. a. 1994 (Germanistische Lehrbuchsammlung 63), S. 103-144, jedoch ohne Hinweis auf die ,metatextuelle' Sachliteratur. Vgl. dazu ERIKA ISING: Die Anfänge der volkssprachlichen Grammatik in Deutschland und Böhmen. Dargestellt am Einfluß der Schrift des Aelius Donatus De octo partibus orationis ars minor, Tl. 1: Quellen, Berlin 1966 (Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Veröffentlichungen der sprachwissenschaftlichen Kommission 6); KLAUS GRUBMÜLLER: Der Lehrgang des Triviums und die Rolle der Volkssprache im späten Mittelalter. In: Studien zum städtischen Bildungswesen des Mittelalters und der frühen N e u z e i t . Hrsg. v o n BERND MOELLER/HANS PATZE/KARL STACKMANN, G ö t t i n g e n 1 9 8 3

(Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Philologisch-historische Klasse F. 3, Nr. 137), S. 371-397.

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sozialisation (etwa in der Lateinschule) gehört. Die etablierte lateinische Terminologie kann auch für ein Publikum interessant gewesen sein, das ansonsten nichts mit der lateinischen Schriftkultur zu tun hatte; die entsprechenden Kenntnisse konnten Teilhabe an einem attraktiven Βildungswissen und damit soziales Prestige anzeigen.9 Eindeutig ist dagegen der Schluss, der sich aus dem umgekehrten Befund ziehen lässt: Ausschließlich volkssprachige Ausdrücke wird nur ein Text verwenden, der auf ein Publikum ohne lateinischen Bildungshorizont zielt; ob dabei schon von einer ausgeprägten volkssprachigen Terminologie die Rede sein kann, bleibt freilich fraglich. Der vorliegende Beitrag handelt von einem solchen, vor allem für sozial- und bildungsgeschichtliche Fragestellungen interessanten Text aus dem Bereich der Ars dictaminis - von der Deutschen Rhetorik des Friedrich von Nürnberg aus der Mitte des 15. Jahrhunderts, die eine ausgeprägt deutschsprachige Terminologie der Textgestaltung und Textbeschreibung entwickelt. Wenn ich recht sehe, handelt es sich bei der Deutschen Rhetorik um den ersten bekannten Text, der in deutscher Sprache Anleitungen und Vorgaben für die Herstellung von Texten gibt und der sich dabei ausweislich seiner Terminologie an Adressaten ohne lateinischen Bildungshintergrund wendet. Es geht mir im Folgenden darum, die terminologische Besonderheit dieses Textes als methodisch operationalisierbaren Indikator für seine historische Kontextualisierung zu nutzen.10

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Der althochdeutsche Rhetorikexkurs Notkers des Deutschen in seiner Boethius-Übersetzung (vor 1022), der bisweilen in Überbewertung seiner volkssprachigen Selbständigkeit auch als „kleine althochdeutsche Rhetorik" (STEFAN SONDEREGGER) bezeichnet wird, findet im Folgenden keine Berücksichtigung. Vgl. Notker der Deutsche: Boethius, De consolatione philosophiae. Hrsg. von PETER W. TAX, Bd. 1, Tübingen 1986 (ATB 94), S. 54-62; STEFAN SONDEREGGER: Notker der Deutsche und Cicero. Aspekte einer mittelalterlichen Rezeption. In: Florilegium Sangallense. Festschrift für Johannes Duft zum 65. Geburtstag. Hrsg. von OTTO P. CLAVADETSCHER/HELMUT MAURER/STEFAN SONDEREGGER, St. Gallen, Sigmaringen 1980, S. 243-266, hier S. 248. 10 Den in diesem Beitrag behandelten Textbereich der deutschen Ars dictaminis-Literatur des 15. Jahrhunderts vor Friedrich Riederers Spiegel der wahren Rhetorik (Freiburg 1493) blenden zwei einschlägige monographische Arbeiten aus der Tübinger Arbeitsgruppe um JOACHIM KNAPE weitgehend aus, vgl. ARMIN SIEBER: Deutsche Rhetorikterminologie in Mittelalter und früher Neuzeit, Baden-Baden 1996 (Saecula Spiritalia 32) und JOACHIM KNAPE/ARMIN SIEBER: Rhetorik-Vokabular zur zweisprachigen Terminologie in älteren deutschen Rhetoriken, Wiesbaden 1998 (Gratia 34). - Das Rhetorik-Vokabular von KNAPE/SIEBER ordnet das Material nach den etablierten lateinischen Ausdrücken und präsentiert die in den Quellen vorgefundenen deutschen Entsprechungen, freilich ohne den Kontext anzugeben. Dadurch bleibt unklar, inwieweit die deutschen Ausdrücke die lateinischen im jeweiligen Text ersetzen, ergänzen oder erläutern. Die für ein historisches Wörterbuch gebotene Wiedergabe der jeweiligen BelegstellenKontexte hätte hier Abhilfe geschaffen.

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II. Insofern sie sich mit dem Brief - vor allem mit dem offiziellen Brief als Instrument von Herrschaft und Verwaltung sowie dem Geschäftsbrief beschäftigt, reflektiert die mittelalterliche Ars dictaminis Bedingungen, Möglichkeiten und Erfordernisse schriftgebundener Kommunikation an einem Gegenstand, bei dem die Funktion von Schrift als Substitut mündlicher Rede noch mit einiger Deutlichkeit erkennbar ist." Damit versteht sich die Ars dictaminis mindestens auch als die Lehre von der Übertragung mündlicher in schriftliche Kommunikation; sie selbst hat diese Umsetzung in gewisser Weise ebenfalls durchgemacht, denn sie bezieht ihre Begriffe und Kategorien aus der auf die mündliche Rede gerichteten antiken Rhetorik, adaptiert sie freilich frei für ihre Zwecke: „Das Rhetorikmodell des offiziellen Briefs löst das antike, nur mehr als Schulgut fortlebende Rhetorikmodell der forensischen Rede ab."12 Eine solche Lehre schriftgebundener Kommunikation war in einer historischen Situation, in der Mündlichkeit und ,face-to-face'-Kommunikation als kommunikative Paradigmen dominierten, von besonderer Relevanz, unter anderem auch deshalb, weil schriftliche Äußerungen in einem Brief sich der unmittelbaren Erfolgskontrolle durch den Absender entziehen. »Fehlgriffe' (etwa eine unpassende Anrede) können hier nicht so leicht korrigiert werden wie in mündlicher Kommunikation. Zudem entfallen beim Brief jene ritualisierten nicht-sprachlichen Handlungen, die in der Situation von Angesicht zu Angesicht beispielsweise das hierarchische Verhältnis zwischen den Teilnehmern einer Kommunikationshandlung verdeutlichen und stabilisieren können (Kniefall, Verbeugung, Reihenfolge der Begrüßung u. ä.). All das muss im Brief in Sprache und in Schrift umgesetzt werden. Hier liegt einer der Gründe dafür, dass die mittelalterliche Ars dictaminis gerade den scheinbar »äußerlichen' Elementen wie Anrede und Begrüßung große Aufmerksamkeit widmete und sich um deren Formalisierung bemühte.13 In der stratifikatorisch organisierten 11

Zur Entstehung und zum Phänomen der mittelalterlichen Ars dictaminis vgl. FRANZ JOSEF WORSTBROCK: Die Anfänge der mittelalterlichen Ars dictandi. In: Ders.: Ausgewählte Schriften, Bd. 1: Schriften zur Literatur des Mittelalters. Hrsg. von SUSANNE KÖBELE/ANDREAS KRASS, Stuttgart 2 0 0 4 , S. 2 5 9 - 3 0 4 [zuerst 1 9 8 9 ] , einführend S. 2 5 9 -

12

265; Ders.: Die Frühzeit der Ars dictandi in Frankreich, ebd. S. 305-337 [zuerst 1991]; Ders./MONIKA KLAES/JUTTA LÜTTEN: Repertorium der Artes dictandi des Mittelalters. Teil 1: Von den Anfängen bis um 1200, München 1992 (Münstersche MittelalterSchriften 66); MARTIN CAMARGO: Ars dictaminis. Ars dictandi, Tumhout 1991 (Typologie des sources du moyen äge occidental 60). WORSTBROCK: Ars dictaminis, Ars dictandi (Anm. 2), S. 138. Zu diesem Adaptationsvorgang knapp zusammenfassend auch FRANZ JOSEF WORSTBROCK, Art. .Rhetorik. I. Geschichte und System'. In: Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike. Hrsg. von HUBERT CANCIK/HELMUTH SCHNEIDER/MANFRED LANDFESTER, B d . 15/2, Stuttgart, W e i m a r 2 0 0 2 , Sp. 7 7 0 - 7 9 1 , hier prägnant Sp. 7 7 6 .

13

Vgl. WORSTBROCK, Ars dictaminis, Ars dictandi (Anm. 2), S. 139: „Als die grundlegende Bedingung gelingender Kommunikation gilt der Ars dictaminis die Beachtung

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mittelalterlichen Gesellschaft bedeutete Briefkommunikation immer auch die nicht unproblematische Umsetzung sozialer Hierarchien in geschriebene Sprache.14 Einer Briefforschung, für die sich der literaturhistorische Rang eines Briefes nach der subjektiven Authentizität seines Inhalts bemisst, muss die mittelalterliche Ars dictaminis schon von ihren Grundanliegen her weitgehend verschlossen bleiben.15 Dagegen könnte eine kulturwissenschaftlich orientierte Mediävistik hier Texte finden, die zumindest indirekt das Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit thematisieren und deren Anliegen nicht zuletzt die Umsetzung sozialer Ordnungskonzepte in Sprache ist. Die bei Briefkommunikation immer gegebene Phasenverschiebung zwischen Schreib- und Rezeptionssituation (meist in Form von Diatopie und Diachronie) liefert zudem die Voraussetzung für die Anwendung des von K O N R A D EHLICH entwickelten Textbegriffs auf die Gattung Brief;16 auch deshalb wird man in Metatexten, die sich mit Briefkommunikation beschäftigen, Aussagen über Konzepte und Praktiken der Herstellung von Textualität (im Sinne einer „sprechsituationsüberdauernden Stabilität"17) erwarten dürfen. Mit Blick auf die sehr umfangreiche Ars dictaminis-Literatur wird man jedenfalls kaum sagen können, dass „die Schriftkultur des Mittelalters [...] allerdings nur eine begrenzte Selbstreferentialität" zeige und „primär die Kommunikation von Angesicht zu Angesicht" beschreibe.18

ΙΠ.

Die lateinische Ars dictaminis verfügte im 15. Jahrhundert über eine längst etablierte, der Tradition der antiken Rhetorik entlehnte Terminologie, deren Kenntnis Teil des für professionelle Kanzleischreiber und Verwaltungsbeamte, die mit dem Verfassen offizieller Schriftstücke betraut waren, unabdingbaren Fachwissens war. Auch als zu Beginn des 15. Jahrhunderts erste Ars dictaminis-Texte mit deutschsprachigen Anteilen auftauchten, blieb deren meist sehr reduzierte Terminologie lateinisch; deutsch waren zunächst nur die enthaltenen der sozialen, von Stand und Amt bestimmten Rangverhältnisse der Briefpartner." Diese Bemühungen stehen schon am Beginn der Entwicklung der Ars dictandi; vgl. WORSTBROCK, Anfänge (Anm. 11), S. 272f. 14 Vgl. Rhetorica deutsch. Rhetorikschriften des 15. Jahrhunderts. Hrsg. von JOACHIM KNAPE/BERNHARD ROLL, Wiesbaden 2002 (Gratia 40), S. 13f. 15 Ein Beispiel für eine solchermaßen eingeschränkte Perspektive bietet JOCHEN GOLZ: Art. .Brief. In: RLW, Bd. 1 (1997), S. 251-255. 16 KONRAD EHLICH: Text und sprachliches Handeln. Die Entstehung von Texten aus dem Bedürfnis nach Überlieferung. In: Schrift und Gedächtnis (Anm. 3), S. 24-43. 17 Ebd. S. 32. 18 So indes HORST WENZEL: Einleitung. In: Gespräche - Boten - Briefe. Körpergedächtnis und Schriftgedächtnis im Mittelalter. Hrsg. von H. W., Berlin 1997 (Philologische Studien und Quellen 143), S. 9-21, hier S. 14.

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Beispielbriefe und exemplarischen Textbausteine, aus denen der Benutzer einer solchen Ars dictandi b e i m Verfassen eines Briefes j e nach Bedarf auswählen konnte. 1 9 In den meisten Fällen handelte es sich u m einfache salutatio-Sammlungen, die ihren Benutzern in hierarchischer Anordnung Begrüßungsformeln für mögliche Adressaten zur Verfugung stellten. Das A u f k o m m e n derartiger Sammlungen von deutschen Beispielbriefen und Briefformeln steht zweifellos im Zusammenhang mit der Ausweitung des deutschsprachigen Schriftverkehrs seit d e m 14. Jahrhundert. 20 Ein Kanzleischreiber musste nun immer häufiger genau wissen, welche spezielle Begrüßungsformel im Deutschen für einen bestimmten Adressaten zu verwenden war. Einfache Übersetzungen der lateinischen Formeln reichten dafür nicht aus. Niklas v o n W y l e hat das noch in seiner 1478 gedruckten 18. Translation,21 die eine eigenständige deutsche Ars dictandi darstellt, sehr deutlich z u m Ausdruck gebracht: D i e lateinische .Rhetorik' sei zwar ain zaigerin [...] alles rechten vnd lobesamen gedichts aller sprächen vnd gezüngen, doch gebe es im Deutschen und Lateinischen ganz unterschiedliche Ausdrucksmöglichkeiten und Konventionen, was die Formeln für Begrüßung und Anrede betreffe: dz das latine vil vnd mancherlay vnderschidlicher worten; die man also ainem yeden näch gelegenhait sins standes schriben vnd zugeben sol; fälliger ist; dann das tütsche; das hieran nit klainen gebruch hät22

19 Zur Entwicklung der deutschsprachigen Ars dictaminis sind in den letzten Jahren mehrere Arbeiten erschienen, die insbesondere die Primärtexte zugänglich machen: KNAPE/ ROLL ( A n m . 14); SLEBER ( A n m . 10), v. a. S. 2 4 - 2 6 ; KNAPE/SLEBER ( A n m . 10); JÜRGEN

FRÖHLICH: Bernhard Hirschvelders Briefrhetorik (Cgm 3607). Untersuchung und Edition, Bern u. a. 2003 (Deutsche Literatur von den Anfängen bis 1700, 42). - KNAPE/ ROLL bieten erstmals eine Reihe von Texten im vollständigen Abdruck. Die Arbeit ist insbesondere rhetorikgeschichtlich ausgerichtet; text- und überlieferungsgeschichtliche Überlegungen spielen eine sehr untergeordnete Rolle. Eine nach wie vor nicht ersetzte Pionierarbeit ist PAUL JOACHIMSOHN: Aus der Vorgeschichte des Formulare und deutsch Rhetorica. In: ZfdA 37 (1893), S. 23-121, mit wichtigen textgeschichtlichen Untersuchungen sowie Textabdrucken in Auszügen. JOACHIMSOHNS Überlegungen zur Textgeschichte sind freilich durch Neufunde teilweise überholt. 20 Das älteste mir bekannte Beispiel einer solchen sa/uta/j'o-Sammlung ist enthalten in der Handschrift München, BSB, Clm 19815, Bl. 174V-176r (Böhmen, um 1400). Vgl. zum Eindringen der Volkssprache in den Briefverkehr des späten Mittelalters ROLF KÖHN: Latein und Volkssprache, Schriftlichkeit und Mündlichkeit in der Korrespondenz des lateinischen Mittelalters. In: Zusammenhänge, Einflüsse, Wirkungen. Kongressakten zum ersten Symposium des Mediävistenverbandes in Tübingen 1984. Hrsg. von JOERG O. FICHTE/KARL HEINZ GÖLLER/BERNHARD SCHIMMELPFENNIG, B e r l i n , N e w

21

York

1986, S. 340-356. Erstdruck: Esslingen: Konrad Fyner, [kurz nach dem 5.4.1478] (HAIN 16224). - Ausgaben: Translationen von Niclas von Wyle. Hrsg. von ADALBERT VON KELLER, Stuttgart 1861 ( S t L V 5 7 ) , S. 3 4 9 - 3 6 4 ; KNAPE/ROLL ( A n m . 14), S. 1 9 1 - 2 0 3 .

22 Text nach KNAPE/ROLL (Anm. 14), S. 191; vgl. ebd. S. 186.

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Während im Bereich der Objektsprache (Formelmaterial u. a.) das Deutsche Einzug hielt, blieb für die Fachsprache das Lateinische in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts vorherrschend und verbindlich. Die Rubriken der ,deutschen' Formelsammlungen waren im Normalfall lateinisch und verwendeten lateinische Terminologie. Die Gründe dafür lassen sich leicht verstehen: Die professionellen Kanzleischreiber und Beamten, von denen wohl die meisten der erwähnten salutatio-Sammlungen zusammengestellt wurden und für die diese Texte andererseits auch bestimmt waren, kannten die lateinischen Fachausdrücke; sie benötigten keine neue deutsche Terminologie, sondern deutsches Beispielmaterial, aus dem deutschsprachige Briefe hergestellt werden konnten. Im Hintergrund stand dabei immer das lateinische Modell. Deutsche ,Fachausdrücke' spielten allenfalls eine subsidiäre Rolle, etwa wenn es galt, die lateinischen Termini in ihrer Bedeutung zu erklären und in ihre korrekte Verwendung einzuführen. Dies war primär im Bereich der Ausbildung notwendig, solange die lateinische Sekundärsozialisation noch nicht abgeschlossen war. Ein Beispiel für einen Text, der vermutlich in diesem Zusammenhang entstanden ist, bietet die Brieflehre eines Magister Fridericus, die in zwei mitteldeutschen Handschriften aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts überliefert ist;23 es handelt sich dabei um eine sehr reduzierende Übersetzung der lateinischen Ars dictandi De epistolis brevibus edendis des Anthonius Haneron.24 Im ersten Teil dieser Ars, der die ,theoretischen' Grundlagen bietet (der zweite Teil besteht aus Beispielmaterial), stehen die deutschen Ausdrücke stets als Interpretamente neben ihren lateinischen Äquivalenten: Causa das ist dy sache [...], intencio ist der wille vnd dy begerunge, dy wir eynem andern auß der sache schreyben adder entbyethen.25 Ist der lateinische Terminus auf diese Weise einmal eingeführt, dann wird er im Folgenden als bekannt und verstanden vorausgesetzt; fortan verwendet der Verfasser nur noch diesen. Die deutschen Ausdrücke sollen hier die lateinische Terminologie nicht ersetzen, ja nicht einmal ergänzen, sondern zugänglich machen. Ein solches didaktisches Verfahren zielt auf ein Publikum, das zwar grundsätzlich über das Lateinische als Referenzsprache verfügt, nicht aber mit den .rhetorischen' Fachausdrücken vertraut ist. Dazu passt, dass die beiden Handschriften, die den Text überliefern, als Studentenhandschriften zu charakterisieren sind.

23 24

25

Überlieferung: Berlin, SBPK, Ms. lat. quart 90, Bl. 253 r -255 v ; Würzburg, UB, M. ch. q. 18, Bl. 3 3 2 v - 3 3 7 r (v. J. 1475). - Ausgabe: KNAPE/ROLL (Anm. 14), S. 94-104. Vgl. JOZEF IJSEWIJN: Art. .Haneron, Anthonius'. In: 2 VL, Bd. 3 (1981), Sp. 431-435. Teilabdruck des lateinischen Textes: NATALIS VALOIS: De arte scribendi epistolas apud Gallicos medii aevi scriptores rhetoresve, Paris 1880, Nachdruck New York 1963, S. 87-95. Der lateinische Text wurde in der Inkunabelzeit zweimal gedruckt: Antonius Haneron: De epistolis brevibus edendis, [Niederlande (?): Drucker des Haneron, um 1477] (GW 12127), sowie [Löwen]: Johann von Paderborn, [um 1480] (GW 12128). KNAPE/ROLL ( A n m . 14), S. 9 4 .

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IV. Einen entscheidenden Schritt weiter geht die um die Mitte des 15. Jahrhunderts entstandene Deutsche Rhetorik des Benediktiners Friedrich von Nürnberg, die mit einer Reihe von Bearbeitungen und Abkömmlingen im oberdeutschen Sprachgebiet überliefert ist.26 Diese deutsche Ars dictandi ist mehr als eine bloße Formelsammlung, obwohl das Gewicht nach wie vor deutlich auf der Präsentation von Beispielmaterial liegt: Sie erläutert in der Manier zeitgenössischer und geläufiger lateinischer Artes dictandi den Vorgang der Konzipierung und Herstellung eines Briefes, gibt Anweisungen für die korrekte Kombination der verschiedenen Textbausteine und präsentiert eine Lehre der laudativen Ausschmückung. Für all das benötigt sie ein Repertoire von Fachausdrücken, mit denen textuelle und kommunikative Phänomene sowie textgestaltende Verfahrensweisen bezeichnet werden können. Diese Terminologie ist in der Deutschen Rhetorik (bis auf wenige erklärbare Ausnahmen) vollständig deutsch; sie dient nicht etwa nur der Erläuterung oder Erklärung lateinischer Ausdrücke - diese nämlich kommen in der Deutschen Rhetorik gar nicht vor. Friedrich von Nürnberg hat fast alle Fachausdrücke, die mit der Konzeption des Briefes, mit seiner Herstellung und mit der besonders wichtigen sozialen Relation zwischen Absender und Adressat zu tun haben, ins Deutsche übersetzt und verwendet nur diese. Als lateinische Vorgabe diente ihm dabei die von ihm selbst zusammengestellte Rhetorica nova, die im offenbar autornächsten Überlieferungsträger28 in unmittelbarer Nähe der Deutschen Rhetorik steht. Friedrich hat die lateinischen Termini zwar möglichst ,wörtlich' und nicht selten entlang der Wortbestandteile ins Deutsche übersetzt, jedoch geht es ihm nicht um eine expositio ad litteram, deren Ziel die erläuternde und letztlich auf die lateinische Vokabel gerichtete Erhellung der ordinatio dictionum bis hinunter auf die Ebene der Struktur bestimmenden Elemente im Wort wäre. Anders als etwa gleichzeitige Übersetzungen und Glossierungen lateinischer Grammatikschriften verwendet Friedrich keine „Glied-für-Glied-Übersetzungen lateinischer Fachtermini, die ohne deren Hintergrund im Deutschen keinen Sinn geben."29 Friedrichs Terminologie ist auch ohne das Lateinische verständlich: So steht etwa verkundung fur lateinisch narratio, begerung für petitio, vber26

A u s g a b e : KNAPE/ROLL ( A n m . 1 4 ) , S. 6 9 - 8 7 ; T e i l a b d r u c k b e i JOACHIMSOHN ( A n m . 1 9 ) , S . 5 5 - 6 8 . - V g l . FRANZ JOSEF WORSTBROCK: Art. . F r i e d r i c h v o n N ü r n b e r g ' . In:

2

VL,

28

Bd. 2 (1980), Sp. 794f. (die Unsicherheit beim Namenszusatz ,νοη Nürnberg' darf als geklärt gelten); KNAPE/ROLL (Anm. 14), S. 53-68; zur Textgeschichte JOACHIMSOHN (Anm. 19). - Zur Überlieferung vgl. Anhang, Nr. 1.1 -19. In Faktur und Layout entspricht die Deutsche Rhetorik dem Typus der Practica, den Laurentius von Aquileja Ende des 13. Jahrhunderts in die Entwicklung der Ars dictaminis einbrachte, vgl. WORSTBROCK, Ars dictaminis, Ars dictandi (Anm. 2), S. 140. Einsiedeln, Stiftsbib., Cod. 332; vgl. Anhang, Nr. 1.1.

29

GRUBMÜLLER ( A n m . 8 ) , hier S . 3 8 9 .

27

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geschrifft für superscriptio, meinung für intentio. Bei den Verben, die bestimmte Verfahrensweisen angeben sollen, bleibt Friedrich sehr unspezifisch; neben der Trias angeben, merken, machen, die drei aufeinander folgende Prozeduren bei der Briefherstellung bezeichnet, ist das bei weitem häufigste Verfahrenswort schriben, daneben stehen selten setzen und nur in speziellen Zusammenhängen, auf die noch zu kommen ist, auch reden. Nur ein einziges Mal kommt zieren vor, selten sind SpezialWörter wie tuen (,duzen') und iren (,ihrzen'). In einigen Fällen weicht Friedrich deutlich vom lateinischen Wort ab und bietet eine mehr oder minder freie sinngemäße Übersetzung, insbesondere bei affectus = kurtzer grüß, captatio (benevolentie) = hofflich lob, determinatio (meritum) = erwort. Dagegen behält er in Fällen, in denen offenbar kein sinngemäßes deutsches Äquivalent zu finden war, den lateinischen Ausdruck (oft in reduzierter Form) bei und versucht ihn durch Beispiele zu erläutern; so verkürzt Friedrich beispielsweise abstractum determinationis zu abstract. Gemeint sind damit die nomina abstracta, mit deren Hilfe die wirdigkeit der Adressaten beschrieben wird (furstlichkeit, durchlüchtigkeit, herlichkeit etc.). Im engeren Bereich der Sprachbeschreibung, also etwa bei den Bezeichnungen für die Wortarten, konnte Friedrich auf bereits übliche grammatikalische Bezeichnungen zurückgreifen,30 die ihrerseits die Komponenten der lateinischen Ausdrücke sehr genau nachbilden: furnamen für pronomen, verkund wort für verbum narratorium, zuwort für adverbium. Einige dieser Vokabeln sind wenig aussagekräftig; in diesen Fällen wird durch Beispiele erläutert, was gemeint ist. Nicht mehr übersetzt hat Friedrich das ursprüngliche Partizip datum, das in lateinischen Briefen die Angabe des Ausstellungszeitpunkts einleitet (.ausgestellt, gegeben am ... '). Das Wort wird in der Deutschen Rhetorik bereits als entlehntes Substantiv verwendet. Aus verschiedenen Gründen interessant ist die Übersetzung des lateinischen Begriffs captatio benevolentiae mit dem deutschen Ausdruck hoflich lob. Während der lateinische Ausdruck den Begriff vom Handlungsziel her bestimmt - Erzeugung von Wohlwollen beim Adressaten - , benennt das deutsche Wort das Mittel, das der Erreichung dieses Ziels dient - hofliches lob. Diese perspektivische Verschiebung ist sachgerecht, denn tatsächlich werden in der Deutschen Rhetorik unter dem Stichwort hoflich lob allein formalisierte Textbausteine geboten; über den Zweck, der hinter dem Einsatz dieser sprachlichen Mittel steht, wird explizit nicht weiter reflektiert. Von den übrigen Textbausteinen, also etwa den erwortern (Standesprädikationen), unterscheiden sich die Formeln zum hoflichen lob allein dadurch, dass ihr Einsatz nicht als obligatorisch dargestellt wird, sondern als zusätzliche Möglichkeit der Ausschmückung, die sich auf nahezu alle Briefteile beziehen und auf Absender, Adressaten oder Gegenstand der Rede fokussieren kann. Das Lemma hoflich ist hier in einem Übergangsstadium zu beobachten: Es meint wohl schon wie das nhd. ,höflich' eine feine, gesittete, ,artige' Ver30

Vgl. dazu ζ. B. das Donat-Glossar bei GRUBMÜLLER (Anm. 8), S. 392-396.

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haltensweise, die sich in der laudativen Rede {lob) äußert.31 Noch weitaus deutlicher als in nhd. .höflich' dürfte aber für die Zeitgenossen in hoßich der Motivierungszusammenhang zu hof sichtbar gewesen sein,32 und zwar gerade auch im Zusammenhang der Ars dictaminis. Mit hoflich lob dürfte nämlich auch eine sozial prestigeträchtige Redeweise gemeint sein, wie man sie in Kreisen pflegte, denen die primären Adressaten der Deutschen Rhetorik (siehe unten) gerade nicht angehörten, die aber als vorbildlich galten. Hoflich bedeutet hier also mindestens auch (noch) ,nach Art des Hofes, so wie in den Kanzleien der Höfe geschrieben wird'. Hoflich steht insofern semantisch zwischen den nhd. Vokabeln ,höflich' und ,höfisch'. Das entspricht übrigens auch der Art und Weise, wie das Wort in oberdeutschen Vokabularien des 15. Jahrhunderts begegnet: Es glossiert sowohl curialis als auch facetus und urbanus.33 Die entschieden deutsche, auf Verständlichkeit auch ohne lateinischen Hintergrund gerichtete Terminologie der Deutschen Rhetorik versteht sich nicht mehr aus der Notwendigkeit, professionellen Kanzleischreibern deutsche Briefformeln zur Verfügung zu stellen. Auch ist sie nicht aus dem Bedürfnis zu erklären, Schülern die lateinische Terminologie der (Brief)rhetorik zugänglich zu machen. Vielmehr soll der Text Personen über das Verfassen von korrekten deutschsprachigen Briefen unterrichten, die über keine Kenntnisse der lateinischen Fachterminologie verfügen und diese auch gar nicht erlernen sollen oder wollen. Die primären Adressaten der Deutschen Rhetorik waren offenbar keine professionellen Kanzleischreiber und auch keine Lateinschüler oder Studenten, sondern Personen, die an einer Kultur schriftlicher Kommunikation in der Volkssprache teilnehmen wollten oder - aus professionellen Gründen - mussten. Insofern dokumentiert die Deutsche Rhetorik - anders als die deutschen Formelsammlungen und anders als die Brieflehren aus dem Milieu der Lateinschule - eine nicht nur quantitative Ausweitung des deutschsprachigen Schriftverkehrs im 15. Jahrhundert, sondern auch eine Ausdehnung des in diese schriftgebundene Kommunikationsform als Textproduzenten involvierten Personenkreises:34 Es kommt eine neue Schicht von potentiellen Briefverfassern hinzu, die - ohne unbedingt über einen lateinischen Bildungshorizont zu verfügen - doch gezwungen sind, korrekte, den Anforderungen einer sich etablierenden Konvention genügende deutsche Briefe zu schreiben. KLAUS GRUBMÜLLER sieht die Deutsche Rhetorik deshalb als Teil der „.privaten' Bemühungen um Popularisierung von Fachwissen ohne institutionellen Kontakt mit Schule und Universität."35 In der Vorrede zu seiner Ars dictandi benennt 31

32 33 34

Vgl. zum Folgenden KLAUS GRUBMÜLLER: höfisch - höflich - hübsch im Spätmittelalter. Beobachtungen an Vokabularien I. In: Wortes anst - verbi gratia. Donum natalicum Gilbert A. R. de Smet. Hrsg. von H. L. Cox/V. F. VANACKER/E. VERHOFSTADT, Löwen, Amersfoort 1986, S. 169-181. Vgl. ebd. S. 173f. sowie DWb, Bd. 10, Sp. 1688-1690. Vgl. GRUBMÜLLER, höfisch (Anm. 31), S. 174f. Vgl. zu dieser Unterscheidung GUMBRECHT (Anm. 3), S. 170f.

35

GRUBMÜLLER ( A n m . 8 ) , S. 3 8 1 .

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Friedrich von Nürnberg den angepeilten Adressatenkreis ganz explizit und gibt auch Auskunft über den Nutzen, den man aus seinem Text ziehen kann: GOt dem almechtigen zw lob vnd ere, auch einnem yeglichen vernuftigen leien, der schreiben und lesen kan, zw vnderwisung. Da mit ein yeglicher samlicher dest kluger, subtiler, wyser und fursichtiger werden möge, hat meister Friedrich von Nüris, sand benedicten ordens, dise kunst uß latinischem gründe gesetzt, die man nennen mag die tütschen rhetorica, uß der man lernet tütsch brieff machen, och hoflich reden.16

Die Deutsche Rhetorik soll eine Unterweisung für Laien sein, die als minimale Voraussetzungen Lese- und Schreibkenntnisse sowie Einsichtsfahigkeit mitbringen müssen. Die zweimalige Verwendung von yeglicher annonciert den Text deutlich als eine Anleitung fur jedermann'. Die Programmatik des Titels tütsche rhetorica geht in die gleiche Richtung: Lateinkenntnisse braucht der Benutzer dieser Ars dictandi nicht. Dementsprechend darf auch die Terminologie dieser Lehre nicht lateinisch sein. Die deutschsprachige Terminologie ist eines von mehreren Kennzeichen der Deutschen Rhetorik, welche die spezifische Adressierung des Textes anzeigen. Sehr deutlich ist daneben das Bemühen des Verfassers, durch einen einfachen und plausiblen Aufbau seiner Lehre die vom Verfasser offenbar nicht überbewerteten intellektuellen Fähigkeiten der Adressaten nicht zu überfordern. Um dieses Ziel zu erreichen, werden etablierte Kategorien der lateinischen Ars dictandi-Literatur dem pädagogischen Ansatz geopfert; häufig sind sie nur noch in reduzierter Form erkennbar. Auch gegenüber der unmittelbaren lateinischen Vorlage - Friedrichs Rhetorica nova - ist diese Reduktion zu beobachten. Dabei lässt sich in der Deutschen Rhetorik das Werk eines talentierten Pädagogen erkennen, dem es offenbar nicht um die Vermittlung eines bestimmten Pensums an rhetorischem Fachwissen ging, sondern um eine praktikable Anleitung für jedermann. So wird die Aneignung des Textes und seiner Lehre dadurch erleichtert, dass auf allen Ebenen eingängige dreischrittige Gliederungen verwendet werden. Der ganze Text ist in drei Abschnitte aufgeteilt und vollzieht damit drei Herstellungsphasen eines Briefes nach, die mit den Ausdrücken angeben, merken, machen bezeichnet werden. Das sind Reste der officio oratoris, wie sie im lateinischen Vorlagentext noch in größerer Vollständigkeit enthalten sind. In der Deutschen Rhetorik ist dieses Programm reduziert auf einen kurzen Abschnitt zum Konzipieren (angeben der loci argumenforum), auf einen etwas längeren zum merken - es geht hier nicht wie in der antiken Rhetorik um das Auswendiglernen der Rede, sondern um die Notwendigkeit,

36

KNAPE/ROLL (Anm. 14), S. 69.

37

Zu den Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen Deutscher Rhetorik und lateinischer Rhetorica nova vgl. KNAPE/ROLL (Anm. 14), S. 54-67, sowie JOACHIMSOHN (Anm. 19), S. 54-74, der jedoch zum Vergleich nicht die Rhetorica nova des ihm noch unbekannten Einsiedler Kodex, sondern die (verwandte, aber nicht identische) Ars epistolandi des Münchner Clm 26791 (Anhang, Nr. 1.2) heranzieht.

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die kommunikativen Parameter und die zugehörigen Ausdrücke während des Herstellungsprozesses des Briefes im Gedächtnis zu behalten - und schließlich auf einen besonders ausfuhrlichen Abschnitt zur Herstellung des Briefes selbst (machen). Für das merken sind wieder drei Punkte wesentlich: Der Stand des Adressaten, seine soziale Stellung innerhalb des Standes und das entsprechende erwort, also das Epitheton, das ihm zugeordnet werden soll und mit dem er regelmäßig anzusprechen ist. Dieses erwort bestimmt sich wiederum aufgrund von triadischen Zuordnungsmustern: Es gibt drei Stände (geistlich, weltlich, gelehrt), innerhalb dieser Stände drei soziale Ränge (grade: hoch, mittel, niedrig). Daraus ergeben sich drei verschiedene mögliche soziale Relationen zwischen Absender und Adressat, um die es im dritten Abschnitt des Textes vom machen immer wieder gehen wird: hoch-niedrig, gleich-gleich, niedrig-hoch. Unter didaktischen Gesichtspunkten sind die wiederkehrenden triadischen Konstruktionen der Deutschen Rhetorik nicht ohne Rafinesse. Das gilt auch fur den Gesamtaufbau des Textes, der sich an die Produktionsschritte bei der Herstellung eines Briefes anlehnt und damit in seiner eigenen Struktur gerade den Vorgang abbildet, zu dem der Text anleiten will. Dieses Konzept taucht hier zum ersten Mal in einer deutschsprachigen Ars dictandi auf, ist aber aus der lateinischen Tradition bekannt. Die triadischen Strukturen haben nicht nur gliedernde Funktion, sie ermöglichen auch die Modularisierung der Briefformeln in ihre Einzelbestandteile, die dann je nach Relation zwischen Absender und Adressat neu zusammengesetzt werden können. Diese Module werden in einem tabellarischen, durch Akkoladen (Nasenklammern) gegliederten Layout präsentiert, was insgesamt zu einer hohen Informationsdichte bei relativ geringem Reproduktionsaufwand für die Schreiber dieser Ars dictandi führt. Die Redundanz, die bei einer reinen Formelsammlung unumgänglich ist, wird so reduziert. Dazu kommt ein weiterer Funktionszusammenhang: Die Tabellen der Deutschen Rhetorik boten nicht nur Formeln für die Verwendung in Briefen, sondern auch einen umfassenden Überblick über die politisch-sozialen Hierarchien im Reich. Sie zeigen eine bis ins Detail durch eindeutige (so jedenfalls die Behauptung) soziale Relationen geordnete, stratifikatorische Gesellschaft - eine Art Organigramm, das informiert und zugleich eine Affirmation gegebener sozialer und politischer Strukturen leisten konnte.

V. Sowohl die deutschsprachige Terminologie als auch die unter didaktischen Gesichtspunkten gegenüber der lateinischen Vorlage reduzierte Konzeption der Deutschen Rhetorik deuten auf ein Zielpublikum außerhalb von Lateinschule und Universität, außerhalb auch des Kreises der professionellen, lateinisch geschulten Kanzleischreiber. Wer also sind die in der Vorrede gemeinten Laien,

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und in welchem Rahmen konnten sie die Deutsche Rhetorik kennen lernen? Man wird in diesem Zusammenhang zuerst an die ,Deutschen Schulen' denken, die im Laufe des 15. Jahrhunderts in vielen Städten entstanden sind, meist als wenig institutionalisierte (und deshalb schwach dokumentierte) Unternehmungen eines einzelnen Schulmeisters.38 Wurde die Deutsche Rhetorik in diesem Rahmen unterrichtet? Ein Blick auf die Überlieferung zeigt, dass die Verhältnisse nicht so eindeutig liegen. Auch wenn im späteren Überlieferungsverlauf einige .deutsche Schulmeister' als Schreiber von Abkömmlingen der Deutschen Rhetorik in Erscheinung treten (Christoph Huber, Bernhard Hirschfelder - vgl. dazu unten) - gerade in den frühen Überlieferungsträgern aus den 1460er und frühen 1470er Jahren deuten die jeweiligen Kontexte auf eine Verwendung der Deutschen Rhetorik im lateinisch gelehrten, ja universitären Milieu. Insgesamt fünf Handschriften können zur frühen .konservativen' Überlieferung der Deutschen Rhetorik gezählt werden; keine davon lässt sich mit einer ,Deutschen Schule' in Verbindung bringen (die Zählung entspricht der Überlieferungsübersicht im Anhang):39 1.1. Die Handschrift Einsiedeln, Stiftsbibl., Cod. 332, S. 7-21, bietet eine offenbar autornahe Zusammenstellung von Texten, als deren Verfasser Friedrich von Nürnberg angegeben wird. Neben seiner lateinischen Rhetorica nova (S. 3-6 u. 35-50) findet sich in der Handschrift noch eine lateinische Ars praedicandi (S. 23-34) 40 1.2. Im Jahr 1468 wurde der Text in Freiburg i. Br. in die Handschrift München, BSB, Clm 26791, Bl. 72 r -77 v , eingetragen.41 Es handelt sich bei dem Teil der Handschrift, in dem die Deutsche Rhetorik steht (ab Bl. 39 v ), um die Studienhandschrift des zwischen Sommer 1467 und 1469 in Freiburg für das

38

Vgl. HARTMUT BLEUMER: .Deutsche Schulmeister' und .Deutsche Schule'. Forschungskritik und Materialien. In: Schulliteratur im späten Mittelalter. Hrsg. von KLAUS GRUBMÜLLER, München 2000 (Münstersche Mittelalter-Schriften 69). S. 77-98; vgl. in diesem Zusammenhang auch die Beiträge in den folgenden Sammelbänden: Studien zum städtischen Bildungswesen (Anm. 8); Schulen und Studium im sozialen Wandel des hohen und späten Mittelalters. Hrsg. von JOHANNES FRIED, Sigmaringen 1986 (Vorträge und Forschungen 30), hier insbesondere den Beitrag von ALFRED WENDEHORST: Wer konnte im Mittelalter lesen und schreiben? (S. 9-33); vgl. auch NIKOLAUS HENKEL: Deutsche Übersetzungen lateinischer Schultexte. Ihre Verbreitung und Funktion im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Mit einem Verzeichnis der Texte, München 1988 (MTU 90), hier v. a. S. 176-183.

39

Zur Zuordnung von Handschriften mit deutschsprachigen .Schultexten' zu bestimmten Verwendungskontexten vgl. HENKEL (Anm. 38). S. 148-171. Die heutige Lageneinteilung und die daraus resultierende ungewöhnliche Textanordnung verdanken sich offenbar einer Neubindung im 19. Jahrhundert; vgl. dazu KNAPE/ROLL (Anm. 14). S. 68. zur Handschrift insgesamt S. 67f.; GABRIEL MEIER: Catalogus Codicum Manu Scriptorum qui in Bibliotheca Monasterii Einsidlensis O. S. B. servantur, Bd. 1, Einsiedeln, Leipzig 1899, S. 307.

40

41

V g l . JOACHIMSOHN ( A n m . 19). S. 5 4 - 7 0 .

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Artes-Studium eingeschriebenen Studenten Johannes Sunnberger aus Erding.42 In der Umgebung der Deutschen Rhetorik stehen lateinische Texte aus den Bereichen Orthographie, Grammatik, Metrik und Rhetorik - alle datiert auf das Jahr 1468. Unmittelbar voraus geht eine Ars epistolandi, die weitgehend der Rhetorica nova des Friedrich von Nürnberg im Einsiedler Kodex entspricht, jedoch in einigen Punkten umformuliert und umstrukturiert ist. In beiden Handschriften (1.1-2) fällt die Nähe von lateinischem Vorlagentext und deutscher Ars dictandi auf, beide gehören mit ihren überwiegenden lateinischen Anteilen sicher nicht in den Kontext einer .Deutschen Schreibschule'. 1.3. Die Handschrift München, BSB, Clm 4749 (um 147043, bairisch), enthält als wichtigste Stücke den lateinischen Belial des Jacobus von Theramo (Bl. l r -95 r ), mehrere deutsche und lateinische Artes memorativae (Bl. 113r131v, darunter Bl. 113 r -120 r Johannes Hartliebs Kunst der gedächtnüß) sowie alchimistische, medizinische und arithmetische Texte. Auf Bl. 145 r -165 r steht erne deutschsprachige Ars dictandi, die unter dem Titel Stadtschreibers Examen gefuhrt wird (vgl. Angang, Nr. 2.1). Die Deutsche Rhetorik steht nur durch einen Nachtrag des 16. Jahrhunderts davon getrennt unmittelbar davor (Bl. 133r-143v). Auffälligstes Merkmal der äußeren Textgestaltung ist im Bereich der Deutschen Rhetorik ein reflektierend-eingreifender, interpretierender Umgang mit dem Text mittels Rubrizierungen und (womöglich von der Haupthand stammender) erläuternder Marginalglossen.44 1.4. Eine Studentenhandschrift ist Würzburg, UB, M. ch. q. 18, deren relevanten Teile 1475 von dem Leipziger Studenten Johannes Senff geschrieben wurden (Bl. 2-428).45 Johannes Sempf de Weysmeyn war vom Sommersemester 1474 bis zum Wintersemester 1476 für das Leipziger Artes-Studium eingeschrieben (in der Matrikel unter De natione Bavarorum).46 Die Handschrift enthält lateinische Texte aus dem Bereich des Triviums, darunter auch die lateinische Brieflehre De epistolis brevibus edendis des Anthonius Haneron 42

Die Matrikel der Universität Freiburg im Breisgau von 1460-1656. Hrsg. von HERMANN MAYER, Bd. 1, Freiburg i. Br. 1 9 0 7 , S. 3 9 .

43

44

45 46

Die von JOACHIMSOHN (Anm. 19), S. 54, vorgenommene Datierung der Handschrift auf das „ende des 15 jhs." basiert auf der falschen Lesung des Kolophons auf Bl. 184 v ; tatsächlich handelt es sich dabei um einen Hinweis auf die Quelle der medizinischen Abhandlung (Bl. 168 r -184 v ), die ein Magister Jacobus als Leibarzt Herzog Albrechts von Österreich im Jahre 1395 (nicht 1495!) verfasst haben soll. Vgl. BODO WEIDEMANN: Kunst der Gedächtnüß und De mansionibus. Zwei frühe Traktate des Johann Hartlieb, Berlin 1964, S. 33-37, mit ausführlicher Beschreibung und Darstellung des Inhalts der Handschrift. Zur Handschrift HANS THURN: Die Handschriften der Zisterzienserabtei Ebrach, Wiesbaden 1970 (Die Handschriften der Universitätsbibliothek Würzburg 1), S. 123-126. Die Matrikel der Universität Leipzig. Hrsg. von GEORG ERLER, Bd. 1, Leipzig 1895, S. 2 9 3 ; B d . 2 , L e i p z i g 1 8 9 7 , S. 2 5 2 . Z u m Schreiber außerdem JOHANNES KLST: D i e

Matrikel der Geistlichkeit des Bistums Bamberg. 1400-1556, Würzburg 1965 (Veröffentlichungen der Gesellschaft für Fränkische Geschichte IV,7), Nr. 5851.

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Albrecht Hausmann

(Bl. 267 r -299 v ) sowie weitere lateinische Ars dictandi-Texte (303 r -326 v ). Zwischen diesen und der bereits erwähnten Haneron-Übersetzung des Magister Fridericus (332 v-341r) steht der bearbeitete Text der Deutschen Rhetorik mit dem neuen Vorspruch Rethorica der sibnn freynn künste zirlicher wort halb ein krone ist wen mann durch sye lernet brieffen vnnd hofflich reden. Damit folgen in der Würzburger Handschrift zwei Texte unmittelbar aufeinander, die sich hinsichtlich des Gebrauchs deutscher Fachausdrücke deutlich unterscheiden: einerseits die Deutsche Rhetorik mit ihrer rein deutschsprachigen Terminologie, andererseits die Haneron-Übersetzung, bei der die deutschen Ausdrücke nur als Interpretamente der lateinischen Termini dienen. 1.5. Einen anderen Überlieferungstyp repräsentiert die Grazer Handschrift Ms. 1748, die im Jahr 1469 in Rottenmann in der Steiermark von dem dortigen Notar Ulrich Klenegker geschrieben wurde.47 Die Deutsche Rhetorik leitet hier eine Sammlung von Urkunden und Briefen ein, die einerseits eine konservierende Funktion hat, andererseits aber verstehen sich die kopierten Briefe und Urkunden auch als Muster, und in diesem Kontext macht auch die Einleitung der Sammlung durch eine Ars dictandi Sinn, die ja ebenfalls unterweisenden Charakter hat. Ulrich Klenegker (gest. vor dem 15.2.1482) wurde um 1420 geboren und studierte vermutlich in Padua Rechtswissenschaften.48 Seit 1452 ist er in Rottenmann als Notar bezeugt. Klenegker verfügte zweifellos über einen lateinisch geprägten Bildungshorizont; die deutschsprachige Terminologie in der Deutschen Rhetorik wird fur ihn kaum von Nutzen gewesen sein. Dass ihn der von Friedrich von Nürnberg intendierte Gebrauchszusammenhang nicht interessierte, dokumentiert sich auch darin, dass in seiner Handschrift die Vorrede stark verkürzt ist und sowohl der Hinweis auf die Laien als auch die Autornennung fehlen.49 Bei Klenegker heißt es lapidar: Vermerkht daß die kunst genannt die dewtsch Rhetorichken auß der man lernt Sendtbriejf zemachen /steet nur auff drein wortenn.50 Die Klenegker-Handschrift zeigt in ihrer Anlage als Brief- und Urkundensammlung Charakteristika, die für den Überlieferungskontext einer in vier Handschriften enthaltenen Kurzfassung (Anhang, Nr. 1.6-9) der Deutschen Rhetorik prägend sind. Typischerweise folgen auf die Deutsche Rhetorik in 47

48 49

50

Zur Handschrift ANTON KERN: Die Handschriften der Universitätsbibliothek Graz, Bd. 2, Wien 1956, S. 399-402; MARIA MAIROLD: Die datierten Handschriften der Universitätsbibliothek Graz bis zum Jahre 1600, Tl. 1: Text, Wien 1979 (Katalog der datierten Handschriften in lateinischer Schrift in Österreich 6), S. 140; AUGUST MEYER: Das Rottenmanner Formelbuch des Notars Ulrich Klenegker aus dem Jahre 1469, Hausmannstätten 1992, S. 15-50. Vgl. FRIEDERIKE ZAISBERGER: Art. .Klenegker, Ulrich'. In: 2 VL, Bd. 4 (1983), Sp. 1204-1206; MEYER (Anm. 47), S. 15-50. Aufgrund des veränderten Incipits wurde der Text bisher nicht als Fassung der Deutschen Rhetorik identifiziert. Tatsächlich ist Ulrich Klenegker nicht als Autor, sondern als Schreiber zu betrachten. Graz, UB, Ms. 1748, Bl. 12r; Anhang, Nr. 1.5.

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diesen Handschriften mehr oder minder übereinstimmende salutatio- und Briefsammlungen; ursprünglich bildeten diese aus Deutscher Rhetorik, Saltutatiound Briefsammlung bestehenden Kompilationen eigenständige Hefte bzw. Bände, die teilweise später mit anderen Stücken zusammengebunden wurden.51 Es handelt sich dabei um die Münchner Handschriften Clm 12366, Bl. 55 Γ-162v (Ostschwaben, um 1470, Nachträge bis 1487), Cgm 563 (Tegernsee? nicht vor I486)52 und Cgm 706 (Tegernsee? Vom gleichen Schreiber nach der Version im Cgm 563 gearbeitet)53. Aus dem Rahmen fallt Göttingen, SUB, 8 Cod. ms. philol. 235, Bl. 24 r -31 v : 54 Der in dieser Handschrift überlieferte Text der Deutschen Rhetorik ist zwar sehr eng mit der Fassung im Cgm 563 verwandt, zeigt jedoch ein ganz anderes Überlieferungsumfeld: In seiner Umgebung stehen mehrere lateinische Ars dictaminis-Texte. Bemerkenswert ist auch, dass die Deutsche Rhetorik der Göttinger Handschrift von einer späteren Hand teilweise mit lateinischen Kommentierungen ausgestattet ist (marginal/interlinear), durch die die deutsche Terminologie ,relatinisiert' wurde. Aus dem Beispielmaterial im Umfeld der Deutschen Rhetorik lässt sich erschließen, dass es sich bei dem Göttinger Kodex wahrscheinlich um die Studienhandschrift eines Erfurter Studenten handelt. Keine der bisher besprochenen Überlieferungen zeigt die Deutsche Rhetorik in einem nachweisbaren Zusammenhang mit einer .Deutschen Schule' oder einer anderen Form der Ausbildung von lateinunkundigen Laien.55 Vielmehr deuten die dominierenden Überlieferungstypen - Studentenhandschrift mit überwiegend lateinischen Texten aus dem Bereich des Triviums und umfangreiche Formel- bzw. Briefsammlung - sowie die mehrfach beobachtbare Nähe zu lateinischen Vorlagentexten auf Verwendungskontexte, in denen die deutschsprachige Terminologie ihrer ursprünglichen Funktion beraubt war: Weder dem Studenten noch dem Schreiber, der aus den Sammlungen Beispielmaterial bezog, konnte sie besonders nützen.56 Der Erfolg der Deutschen 51

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53

54

55

56

So erkennbar im Clm 12366 (Anhang, Nr. 1.6) an dem stark verschmutzen ursprünglichen Deckblatt Bl. 55'; beim Cgm 563 (Nr, 1.7) ist der alte Einband erhalten, Cgm 706 (Nr. 1.9) hat im 19. Jahrhundert einen Pappeinband erhalten. K A R I N S C H N E I D E R : Die deutschen Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek München, Bd. 4, Wiesbaden 1978 (Catalogus codicum manu scriptorum Bibliothecae Monacensis, Editio altera), S. 143 f. Dies.: Die deutschen Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek München, Bd. 5, Wiesbaden 1984 (Catalogus codicum manu scriptorum Bibliothecae Monacensis, Editio altera), S. 52f. W I L H E L M M E Y E R : Die Handschriften in Göttingen. 1: Universitäts-Bibliothek. Philologie, Literärgeschichte, Philosophie, Jurisprudenz, Berlin 1893, S. 61 f. Zum Problem der Zuordnung von Handschriften zum Bereich der ,Deutschen Schule' und zum generellen Charakter der .Deutschen Schule' vgl. B L E U M E R (Anm. 38), S. 8291. Ich gehe hier davon aus, dass die umfangreichen Formel- und Briefsammlungen vom Typ des Cgm 12366 (Anhang, Nr. 1.6) nicht von und fur Gelegenheitsschreiber angelegt wurden (Kaufleute, Handwerker u. ä.), sondern von professionellen Kanzleischreibern,

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Rhetorik dürfte sich insofern gerade nicht der deutschsprachigen Terminologie verdankt haben, sondern vielmehr der geschickten und durch die Modularisierung sehr platz- und im Schreibprozess zeitsparenden Darbietung von universell verwendbarem Beispielmaterial. Am meisten Veranlassung zur Verwunderung geben wohl die drei Studentenhandschriften 1.2, 1.5 und 1.8.57 Auch wenn die Ordnungen der Artisten-Fakultäten im 15. Jahrhundert bezüglich der im Bereich der Rhetorik zu lesenden Schriften regelmäßig sehr unbestimmt waren,58 so wird mit irgendeiner Rhetorik' doch sicher kein deutschsprachiger Text gemeint gewesen sein, der sich noch dazu mit einer noch nicht stabilen deutschen Terminologie zufrieden gibt. Für den Bereich des Grammatik-Unterrichts konnte KLAUS GRUBMÜLLER zeigen, dass der Volkssprache in einem breiten Überschneidungsbereich zwischen Lateinschule und Universität die Funktion zukam, die lateinischen Grammatikschriften verständlich zu machen.59 Auch wenn die Deutsche Rhetorik ursprünglich nicht für einen solchen Zweck bestimmt war und aufgrund ihrer vereinfachten und letztlich selbständigen deutschen Terminologie auch nicht gut dafür geeignet war, könnte sie für den Bereich des Rhetorik-Unterrichts doch eine ähnliche Funktion übernommen haben; die Überlieferungsnähe zu vergleichbar strukturierten lateinischen Texten und die Glossierung im Göttinger Kodex sprechen für diese Annahme. Sowohl in der Grammatik als auch in der Rhetorik war das universitäre Lehrangebot häufig auf ein Minimum beschränkt; den quantitativ weit überwiegenden Teil des Studiums im Trivium bildeten dagegen Lehrveranstaltungen in der Logik. Grammatik und Rhetorik scheinen als Teile einer wissenschaftlichen Propädeutik verstanden worden zu sein, deren Vermittlung vor und auch neben dem Universitätsstudium stattfinden konnte. Im Rahmen einer solchen Propädeutik konnte womöglich auch die Deutsche Rhetorik zum Einsatz kommen, auch wenn sie dafür kaum gemacht worden ist. Die bisher beschriebenen Überlieferungszusammenhänge sind auch für eine weitere Überlieferungslinie charakteristisch, deren wichtigstes Merkmal der Übergang von einer drei- zu einer zweiteiligen Gliederung der Deutschen Rhetorik ist; die Abschnitte angeben und merken wurden hier zu einem Hauptteil zusammengefasst (so auch schon in der lateinischen Ars epistolandi im Münch-

57 58

59

die weniger an der Lehre als vielmehr an dem exemplarischen Material interessiert waren. Es sind aber auch andere Verwendungsszenarien fur diese kompendienartigen Handschriften denkbar: So könnten beispielsweise Abschriften auch an eine lateinunkundige und nicht professionelle Kundschaft verkauft worden sein. Auch der Einsiedler Kodex (Anhang, Nr. 1.1) kann in den Zusammenhang einer (klösterlichen?) Lateinschule gehören. Vgl. GRUBMÜLLER (Anm. 8), S. 372-375. So nennen etwa die Statuten der Leipziger Artistenfakultät aus dem Jahr 1471 für den Bereich der Rhetorik als Pflichtlektüre lediglich aliquis Uber in rhetorica (ebd. S. 373). Ähnlich reduziert waren die Anforderungen in Erfurt, Wien und Köln. Dabei spielten auch die offenbar häufig mangelhaften Lateinkenntnisse der Studenten im Trivium eine Rolle, vgl. GRUBMÜLLER (Anm. 8), S. 382-392.

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155

ner Clm 26791 [vgl. Anhang, Nr. 1.2], die für diesen Prozess maßgeblich gewesen sein könnte).60 Typisch fur diese Überlieferungslinie, die bis in die 1490er Jahre hinein greifbar bleibt (1.11-18), ist eine zunehmende Relatinisierung der Terminologie; andererseits wird die Deutsche Rhetorik dem Überlieferungsbefiind nach nun auch im Umfeld von , Deutschen Schulen' verwendet: Der Schreiber des Münchner Cgm 216 (1.15), Christoph Huber, war deutscher Schulmeister in Dingolfing, Eggenfelden und Landshut,61 der Kompilator des Cgm 3607 (1.13), Bernhard Hirschfelder, war in gleicher Funktion in Straubing, Nördlingen und Nürnberg tätig.62 Vor allem die Tendenz zur Relatinisierung sei im Folgenden an zwei Beispielen gezeigt: an der so genannten Briefrhetorik des Bernhard Hirschfelder aus den 1480er Jahren und an der Ingolstädter Rhetorik von 1481. Als Briefrhetorik des Bernhard Hirschfelder wird in der Forschung eine Sammlung von Texten aus dem Bereich der Brieflehre im Münchner Cgm 3607 (1.13) bezeichnet.63 Im einzelnen handelt es sich um eine deutsche Ars dictandi (mit dem lateinischen Titel Modus epistolandi, Bl. 1 r -31 v ), nachgetragene Musterbriefe und -urkunden (32 r -34 v ), eine deutsche Synonyma-Sammlung (35 r -54 v ) sowie eine Sammlung von teilweise sehr umfangreichen Briefformeln (55 r -68 v ). Der in Straubing, Nördlingen und Nürnberg als deutscher Schulmeister und Schreiber nachweisbare Bernhard Hirschfelder nennt sich in einer Vorrede (36 r ) als Urheber des folgenden Traktats (gemeint ist offenbar die Synonyma-Sammlung): Obwohl nur ein schlechter ainfeltiger lay habe er sich vorgenommen, einen prauchlichen vnd vasst nützlich kleinen tractat zu componiern.64 Ob Hirschfelder auch als ,Autor' des vorausgehenden Modus epistolandi (Bl. 1Γ-31v) aufzufassen ist, wurde von der Forschung immer wieder vermutet, lässt sich aber nicht eindeutig bestätigen. Angesichts des insgesamt deutlich kompilativen Charakters der Textsammlung dürfte das Problem von Autor-

60

61

Es gibt von dieser zweiteiligen Deutschen Rhetorik mehrere Fassungen, die sich teilweise erheblich voneinander unterscheiden; insbesondere Ergänzungen unterschiedlicher Art sind häufig. Vgl. dazu das Überlieferungsverzeichnis im Anhang, Nr. 1.11-18. KLAUS KLEIN: Art. ,Huber, Christoph'. In: 2 VL, Bd. 4 (1983), Sp. 210-211; zu Hubers Brieflehre vgl. JOHANNES MÜLLER: Quellenschriften und Geschichte des deutschsprachlichen Unterrichtes bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts, Gotha 1882. Nachdruck mit einer Einführung von MONIKA RÖSSING-HAGER, Hildesheim, New York 1969 (Documenta Linguistica,

Reihe

V),

S. 3 2 9 - 3 3 5 ;

JOACHIMSOHN

( A n m . 19),

S. 7 8 f . ;

BLEUMER

(Anm. 38), S. 87-89 (mit deutlicher Skepsis hinsichtlich der Zuordnung der Ars dictandi zum deutschsprachigen Schulunterricht); vgl. die knappen Bemerkungen zu Hubers T e r m i n o l o g i e bei KNAPE/SLEBER ( A n m . 10), S. 16.

62 63

Vgl. BLEUMER (Anm. 38), S. 89-91. München, BSB, Cgm 3607 (Anhang, Nr. 1.13; Schwaben/Ostschwaben, kaum vor 1481); zur Handschrift KARIN SCHNEIDER: Die deutschen Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek München, Bd. 6, Wiesbaden 1991 (Catalogus codicum manu scriptorum Bibliothecae Monacensis, Editio altera), S. 417-419; zum Zusammenhang JOACHIMSOHN ( A n m . 19), S. 3 7 - 5 3 u. 7 9 f . ; BLEUMER ( A n m . 3 8 ) , S. 9 7 .

64

München, BSB, Cgm 3607, Bl. 36 r , hier nach FRÖHLICH (Anm. 19), S. 161.

156

Albrecht Hausmann

und Urheberschaft ohnehin von untergeordneter Bedeutung sein. Interessanter ist die Frage nach dem Gebrauchszusammenhang der Handschrift und der in ihr enthaltenen Textzusammenstellung. Dafür bietet der Cgm 3607 ein bemerkenswertes Zeugnis: Auf Bl. 35 r ist die Vorlage für einen Ankündigungszettel eingetragen, mit dem ein Lehrer für den Besuch seines Unterrichts warb. Innerhalb von drei Tagen könne man bei ihm aineti kostlichen tractat mit zirlichem Sinnoniam vnd brieflichem Canczlischem pslußworten hören, verstehen und mit seiner ganzen Auslegung und Erklärung (declarierung) für sich auf- bzw. abschreiben.65 Der Lehrer wendet sich explizit an Prediger, Kanzleischreiber, Verfasser von Briefen (brieftichter), Bürger, Ratsherren, Redner und ,Vorsprecher' (Advokaten?) - also an einen recht heterogenen Kreis von erwachsenen Personen, die aus unterschiedlichen Gründen mehr oder minder unmittelbar mit der Herstellung von deutschsprachigen Schrift- und Vortragsstücken befasst sind. Ihnen biete seine Synonyma-Sammlung eine zusätzliche Qualifikation, nämlich die Möglichkeit, das Verfahren der mutatio anzuwenden und so das Ideal eines ,kanzleihaften' Stils zu erreichen. Was hier unter mutatio zu verstehen ist, lässt sich in einer Definition (Bl. 3 r ) nachlesen: Mutatio lert die wortter in den artickeln durch die Synonimia verkeren vnd zu besser verstäntnus dz syns verwechseln da mit nicht zu vil glichluttender wSrtter in ein missiuen gesatzt werden wan der plom der rethorick versert och die red vnd das gedieht vnlieplichen zu h&ren wird.66

In einem ähnlichen Gebrauchszusammenhang wie die Synonyma-Sammlung steht vermutlich auch der Modus epistolandi, der das erste Stück der Textsammlung bildet (Bl. l r -31 v ). 67 Es handelt sich dabei um ein Kompilat, dessen umfangreichstes Stück eine erweiterte und an mehreren Stellen veränderte Version der Deutschen Rhetorik (zweiteilige Fassung) bildet (5 r -24 r ). Ihr geht ein offenbar aus einer anderen Tradition stammender Teil mit Erklärungen der wichtigsten lateinischen rhetorischen' Termini68 und einer kleinen Regelsammlung voran (l r -4 v ); es folgen zwei kleinere Beispielsammlungen zu Schlussformeln (conclusiones) und zur captatio benevolentiae (24 v -31 v ). Das Kompilationsverfahren hat im Modus epistolandi zu einer erheblichen terminologischen Heterogenität gefuhrt: Während in der Deutschen Rhetorik nahezu durchgängig eine einzige Bezeichnung für einen rhetorischen Sachverhalt verwendet wird, finden sich im Modus epistolandi häufig gleich mehrere lateinische und deutsche Vokabeln für die Bezeichnung ein und derselben Sache. So werden beispielsweise für das bei Friedrich von Nürnberg einheitlich als hoflich lob bezeichnete Verfahren der captatio benevolentiae im Modus 65

E b d . S . 1 5 9 ; v g l . KNAPE/ROLL ( A n m . 1 4 ) , S . 2 6 f . ; JOACHIMSOHN ( A n m . 1 9 ) , S . 3 7 .

66

FRÖHLICH ( A n m . 1 9 ) , S . 1 0 1 .

67

Ob der Modus epistolandi das andere buch des fundaments ist, von dem auf Bl. 64 r (FRÖHLICH [Anm. 19], S. 215) die Rede ist, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. FRÖHLICH, S. 53, geht ebenso wie JOACHIMSOHN (Anm. 19), S. 50, davon aus. Vgl. dazu KNAPE/SlEBER (Anm. 10), S. 16f.

68

Zur Terminologie deutscher Artes dictandi des 15. Jahrhunderts

157

epistolandi des Cgm 3607 folgende Ausdrücke verwendet: beniuolentia, benivolentz (Bl. 1 \ 2 r , 9 r , 10\ 11v, 13v, 18v, 19v, 20 v , 21 v , 26 v , 27 r / v , 28 r ), hofflich lob ( l r , 9 r , 15 \ 19v, 20 v , 21 r / v ), captatio beniuolentie (9 r ), süsse Rod (13 v , 19v, 20 r ). Die deutschen Ausdrücke hofflich lob und süsse Rod werden dabei in die Rolle eines Interpretaments des lateinischen beniuolentia gedrängt, etwa wenn die Überschrift Von dem hofflichen lob69 bei Friedrich von Nürnberg ersetzt wird durch Tabula über Beniuolentz die man nempt das hoflich lob (Bl. 19 r -20 r , FRÖHLICH [Anm. 19], S. 134f.). Die Definition sagt dann explizit: Beniuolentia ist ein hofflich lob Ein süsse wolgeflorierte senfftmutige schmaichel Rod (ebd.). In ähnlicher Weise stehen im Cgm 3607 verschiedene Vokabeln zur Bezeichnung der narratio: beschehen, ertzelung, meidung, narratio, Offenbarung, verkundung;70 Friedrich von Nürnberg hat dagegen nur verkundung?1 Durchgängige Deutschsprachigkeit wurde im Modus epistolandi offenbar nicht angestrebt, vielmehr dient der ganze erste Abschnitt (Bl. l r - 4 v ) der Klärung und Einfuhrung lateinischer Fachausdrücke, die dann in der umgearbeiteten Version der Deutschen Rhetorik Verwendung finden, ohne die deutschen Ausdrücke völlig zu verdrängen: Die Briefteile werden in diesem ersten Teil lateinisch benannt; dazu gibt der Kompilator zwar auch die deutschen Ausdrücke, aber diese verstehen sich als Interpretamente, nicht als eigenständige Begriffe. Die lateinischen Termini für die Briefteile werden ausfuhrlich erklärt (2 r ), ebenso Gestaltungsprinzipien und -techniken (3 r ). 72 In der Ingolstädter Rhetorik,73 einem der am weitesten von der Ursprungsfassung entfernten Abkömmlinge der Deutschen Rhetorik, sind bezüglich der Terminologie zwei Entwicklungen zu beobachten: Zum einen wird auf die deutschen Ausdrücke zum Teil ersatzlos verzichtet, zum anderen können sie ähnlich wie im Cgm 3607 - relatinisiert oder um das lateinische Pendant ergänzt werden. So kennt die Ingolstädter Rhetorik keine Benennung für die Technik laudativer Ausschmückung, die bei Friedrich von Nürnberg noch hoflich lob hieß - auch nicht das lateinische benevolentia (o. ä). Ebenso wenig werden die Wortarten pronomen, abstractum, adverbium benannt, obwohl die entsprechenden Passagen aus der Deutschen Rhetorik auch in der Ingolstädter

69

KNAPE/ROLL ( A n m . 14), S. 85.

70 71 72

Vgl. FRÖHLICH (Anm. 19), S. 306. Weitere Beispiele ebd. S. 302-317. Eng mit der Brieflehre im Cgm 3607 verwandt ist eine fragmentarische Ars dictandi im Münchner Cgm 2518, Bl. 31 * r -47 * v , die sogenannte Kleine Ulmer Rhetorik (Anhang, Nr. 1.14). Hier ist die Tendenz zu lateinischen Fachausdrücken noch deutlicher zu erkennen, denn lateinische Begriffe werden häufig nicht übersetzt bzw. nicht in der Volkssprache erläutert. So steht etwa auf Bl. 35*' nur noch narratio, petitio, determinieren, wogegen im Cgm 3607, Bl. 16 r die deutschen Ausdrücke verkundung, begerung, enden verwendet werden. Ausgabe: KNAPE/ROLL (Anm. 14), S. 126-155; vgl. ebd. S. 115-125. Zur Überlieferung: Anhang, Nr. 1.17-18.

73

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Rhetorik enthalten sind. Andererseits werden jedoch in der Ingolstädter Rhetorik häufig lateinische Bezeichnungen eingesetzt oder zumindest die deutschen Ausdrücke um eine lateinische Übersetzung ergänzt, wodurch sehr häufig Paarformen entstehen. An Stelle von machen steht hier beispielsweise machen vnd formyren, die Briefteile werden jeweils zusätzlich auch mit den lateinischen Ausdrücken bezeichnet. Insgesamt ist in der Ingolstädter Rhetorik der Versuch zu erkennen, einen ,anspruchsvolleren' Text zu bieten, der einem gewissen Bildungsanspruch besser gerecht wird als die ursprüngliche Deutsche Rhetorik, auf die die Ingolstädter Rhetorik über mehrere Zwischenstufen zurückgeht. Dieser Anspruch wird schon in der neu hinzugefugten Vorrede proklamiert: Nicht eine Einführung in das machen von briefen wird angekündigt, vielmehr werde der Leser lernen, wie man missiue tihtet.74 Insgesamt führt die Tendenz zum sprachlichen Ornat und zur gelehrten Aufblähung bei der Ingolstädter Rhetorik in den belehrenden Abschnitten zu kaum überschaubaren syntaktischen Gebilden; diese Ars dictandi ist tatsächlich selbst schon eine geblumpte kunst, wie die gegenüber der Deutschen Rhetorik neue Vorrede auch ankündigt: Es handle sich bei der .Rhetorik' um eine geblumpte kunst hoflicher redde vnd kunstlicher geticht.

VI. Die Beispiele zeigen, dass sich die deutsche Ars dictandi-Terminologie des Friedrich von Nürnberg auch im volkssprachigen Kontext gegen die etablierten lateinischen Fachausdrücke nicht durchsetzen konnte. Verschiedene Faktoren spielten dabei offenbar eine Rolle: Zum einen wurde die Deutsche Rhetorik eben nicht nur von der Zielgruppe der lateinunkundigen Laien verwendet, sondern war auch im Umfeld von Universitäten und Lateinschulen verbreitet; hier war die rein deutsche Fachsprache eher ein Nachteil. Zum anderen könnten die lateinischen Fachbegriffe aber auch für an sich lateinunkundige, jedoch bildungswillige ,Laien' attraktiv gewesen sein: Sie signalisierten eine wenn auch nur beschränkte Teilhabe an einem exklusiven Wissensbestand. In der Überlieferung wird eine solche Verwendung beispielsweise in den Handschriften und Drucken aus dem Besitz des Augsburger Kaufmanns Claus Spaun sichtbar. Claus Spaun (gest. etwa 1520) ist ein frühes Beispiel für einen Laien, der systematisch Texte gesammelt und in einer Privatbibliothek nach thematischen

74

Tihten (vgl. dazu den Beitrag von KURT GÄRTNER im vorliegenden Band, S. 67-81) meint hier noch ganz das schriftliche Verfassen eines Textes ohne die Einschränkung auf poetische Texte und findet hier insbesondere auf Grund seiner Nähe zum lateinischen Verb dictare Verwendung. In den Handschriften des Vocabularius Ex quo wird tichten regelmäßig als Äquivalent für das lateinische Lemma dictare angegeben, vgl. Voc. Ex quo, Bd. 3, D 313.

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Gesichtspunkten geordnet hat.75 Die von ihm hergestellten und veranlassten Bände, die aus Frühdrucken sowie (teilweise eigenhändigen) Abschriften aus Drucken und Handschriften zusammengestellt wurden, folgen auch bestimmten gestalterischen Prinzipien; so wurden häufig Holzschnitte eingeklebt und damit das Aussehen von Inkunabeln und höherwertigen Handschriften imitiert. Zu erkennen ist der Wunsch, ein durchaus umfassendes Textprogramm und das damit verbundene .Wissen' in einer ansprechenden Form und thematisch klar strukturiert zur eigenen Verfugung zu haben. Neben Fastnachtspielen, medizinisch-pharmakologischen sowie gartenbautechnischen Texten sammelte Spaun offenbar auch Spruchdichtungen, politisch-didaktische und historische Literatur, religiöse Texte und eben auch Schriften zu Grammatik und Rhetorik.76 Letztere sind in zwei Bänden enthalten, die heute im Kestner-Museum Hannover aufbewahrt werden (ERNST Nr. 7 3 und 1 2 8 ) . 7 7 In ihnen laufen verschiedene Stränge der frühen deutschsprachigen Ars dictaminis-Literatur zusammen. So enthält der Band ERNST Nr. 1 2 8 sowohl einen Abkömmling der Deutschen Rhetorik (zweiteilige Fassung, Bl. 4 2 R - 5 2 V ) als auch eine Abschrift der in der Forschung unter der Bezeichnung Stadtschreibers Examen geführten Ars dictandi, die außerhalb der Friedrich von Nürnberg-Tradition steht ( 1 9 R - 2 5 V ) . In dem Band ERNST Nr. 7 3 ist ebenfalls eine zweiteilige Deutsche Rhetork enthalten, umgeben von Schriften insbesondere aus dem Bereich der Ars memorativa.78 Auch ein Blick auf Stadtschreibers Examen, die wohl verbreitetste und erste gedruckte deutsche Ars dictandi des 15. Jahrhunderts, zeigt, dass die deutschsprachige Terminologie der Deutschen Rhetorik ein Einzelfall geblieben ist. Stadtschreibers Examen ist vor allem als erster Teil des Kanzleihandbuchs Formulare und deutsch Rhetorica bekannt geworden, das zuerst in Ulm bei Johann Zainer erschienen ist (nicht vor dem 18.1.1479; GW 10178) und bis 1492 noch elf weitere Auflagen erlebte. Der handschriftlich nur schmal über-

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V g l . ROLF MAX KULLY: Art. ,Spaun (Span), Claus'. In: 2 V L , Bd. 9 ( 1 9 9 5 ) , Sp. 3 2 - 3 5 ;

HANSJÜRGEN KIEPE: Die Nürnberger Priameldichtung. Untersuchungen zu Hans Rosenplüt und zum Schreib- und Druckwesen im 15. Jahrhundert, München 1984 (MTU 74), S. 1 8 4 - 1 8 9 .

76 77

Die einzelnen Spaun zuzuordnenden Bände sind nachgewiesen bei KULLY (Anm. 75), Sp. 33. Vgl. KONRAD ERNST: Die Wiegendrucke des Kestner-Museums. Neu bearb. und erg. von CHRISTIAN VON HEUSINGER, Hannover 1963 (Bildkataloge des Kestner-Museums 4), S. 18, 32, 3 4 und Tafel 3 0 links; Abb. aus ERNST Nr. 128 bei KJEPE (Anm. 7 5 ) ,

S. 189 (Textbeginn von Stadtschreibers Examen mit eingeklebtem Holzschnitt Rethorica)·, vgl. HANSJÜRGEN KLEPE: Ettwas von buchstaben. Leseunterricht und deutsche Grammatik um 1486. In: PBB (Tüb.) 103 (1981), S. 1-5; Ders.: Die älteste deutsche Fibel. Leseunterricht und deutsche Grammatik um 1486. In: Studien zum städtischen B i l d u n g s w e s e n (Anm. 8), S. 4 5 3 - 4 6 1 .

78

Die Textzusammenstellung in ERNST (Anm. 77), Nr. 73 zeigt ähnliche Schwerpunkte wie im Münchner Clm 4749 (Anhang, Nr. 1.3).

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lieferte Text79 ist völlig anders angelegt als Friedrichs von Nürnberg Deutsche Rhetorik und ihre Abkömmlinge. Tatsächlich wird ein Unterrichts- bzw. Prüfungsgespräch zwischen Lehrer und Schüler vorgestellt, in dessen Verlauf alle wesentlichen Kenntnisse abgefragt werden, die für die Herstellung eines deutschen Briefes und fur eine erfolgreiche schriftliche Kommunikation überhaupt notwendig sind. Die katechetische Anlage lässt den Text besonders für das Selbststudium geeignet erscheinen, erlaubte aber auch die Verwendung als .Unterrichtsmaterial· für einen Lehrer. Viele Fragen des ,Lehrers' sind Definitionsfragen, auf die der ,Schüler' mit einer Erklärung des lateinischen Begriffs antwortet. So wird etwa der Begriff exordium wie folgt erläutert: Frag: Warumb heysset der ander artickel exordium vnd wann sol er gesetzt werden? Antwurt: Vmb das, wenn man will schreiben, warumb gütt sey, das eyn sach beschehe, das man das vor meidung der sach erleutern vnd außlegen sol.80

Besonders zu Beginn von Stadtschreibers Examen geht es um die Sicherung einer offenbar als verbindlich angesehenen lateinischen Terminologie, die im weiteren Verlauf als bekannt und verstanden vorausgesetzt wird. Diese Terminologie umfasst insbesondere die Briefteile (salutatio, exordium, narratio, petitio, conclusio finalis), deren Kenntnis an mehreren Beispielbriefen abgeprüft wird, sowie die rhetorisch-stilistischen Gestaltungsprinzipien bzw. Verfahren congruitas, coniunctio, constructio, copulatio, distinctio, mutatio, alteratio und orthographia. Außerdem kommen die Begriffe adiectiua, superscriptio, adiectiua in superlatiuo (comparatiuo, positiuo) vor.81 Der Brief selbst heißt missiue, seine Teile werden als artickel bezeichnet. Die deutschen ,Übersetzungen' und Erklärungen zu solchen Ausdrücken wirken häufig ganz auf das Lateinische bezogen, etwa wenn es heißt: adiectiua, das ist der züwurff irer wirdigkeyt.82 Deutsch sind in Stadtschreibers Examen die Verben, die als Verfahrenswörter die Textherstellung selbst bezeichnen: schreiben, setzen, auch reden, selten czieren und blümen. Stadtschreibers Examen unterscheidet sich gerade im Bereich der Verfahrenswörter aber noch auf andere Weise deutlich von der Deutschen Rhetorik des Friedrich von Nürnberg: Während bei Friedrich die Tätigkeit des Textproduzenten nahezu immer als schreiben bezeichnet wird, steht in Stadtschreibers Examen fast ausschließlich die Paarform schreiben und reden (bzw. schrift und rede). Der Verfasser von Stadtschreibers Examen rechnete offenbar neben dem Brief auch mit mündlichen Formen der Textpräsentation. Freilich wird dies allein aus solchen Formulierungen ersichtlich; die präskriptiven Passagen des Textes und auch das enthaltende Beispielmaterial sind dagegen ausschließlich auf die Anleitung zur Herstellung von 79

Vgl. Anhang, Nr. 2.1-4.

80

KNAPE/ROLL (ANM. 14), S. 164.

81

Auf den Gebrauch lateinischer Terminologie weisen auch KNAPE/ROLL (Anm. 14), S . 1 6 2 , hin. Ebd. S. 180.

82

Zur Terminologie deutscher Artes dictandi des 15. Jahrhunderts

161

Briefen und Schriftstücken ausgerichtet. Bei Friedrich von Nürnberg stehen rede bzw. reden stets nur im Zusammenhang mit den Ausdrücken hoflich oder hoflich lob. Rede ist dabei offenbar das deutsche Äquivalent fur lat. sermo im Sinne von .Redeweise' 83 - in der Rhetorica nova steht an der entsprechenden Stelle sermo suavis - , während rede in Stadischreibers Examen durchaus das Vortragsstück im Sinne von lat. oratio meint. Wie ist dieser Unterschied zu erklären? Es mag eine Rolle spielen, dass Stadtschreibers Examen sich insgesamt eher an juristisch ausgebildete Personen richtet; für Juristen dürfte der mündliche Vortrag eine übliche Praxis gewesen sein. Dagegen wird der schreibkundige, ansonsten aber ungebildete Laie, an den sich die Deutsche Rhetorik wendet, kaum je Gelegenheit dazu gehabt haben, sich mit seinem Anliegen persönlich und direkt beispielsweise an seinen Landesherrn zu wenden. Briefliche Kommunikation kann gerade in hierarchisch organisierten Sozialsystemen eine durchaus erwünschte Distanz schaffen oder gewährleisten.

VII. Die deutschsprachige Terminologie der Deutschen Rhetorik des Friedrich von Nürnberg ist ein Indiz dafür, dass der Text ursprünglich tatsächlich für ein lateinunkundiges Publikum bestimmt war, das keinen Kontakt zu den etablierten Institutionen lateinischer Bildung hatte. Die Deutsche Rhetorik ist offensichtlich einer der ersten Texte in deutscher Sprache, der Personen außerhalb der lateinischen Schriftkultur zum Verfertigen von schriftlichen Texten anleiten soll. Gefragt dürfte eine solche deutsche Ars dictandi insbesondere bei Kaufleuten und Handwerkern gewesen sein, die Geschäfte zunehmend auch auf schriftlichem Wege abwickelten. Sie gehört insofern nicht in den Bereich der Elementarbildung, mithin auch nicht genuin in das Curriculum einer deutschen Schreibschule, wohl aber in ihr Umfeld. Die heute noch erhaltene Überlieferung der Deutschen Rhetorik zeigt den Text freilich überwiegend in Verwendungszusammenhängen, die eine größere Nähe zur lateinisch geprägten Schriftkultur aufweisen. Darin dürfte einer der Gründe liegen, dass sich die deutschsprachige Terminologie des Textes in der Überlieferung als wenig stabil erwies. Die Schreiber und Redaktoren des Textes tendierten ganz allgemein dazu, die deutschen Ausdrücke durch die etablierten lateinischen zu ersetzen oder zumindest entsprechend zu ergänzen. Die deutsche Terminologie der Deutschen Rhetorik blieb deshalb ohne echte Fortsetzung, ohne unmittelbare Nachfolge und Kontinuität.84 Für den Literatur83

84

Vgl. KNAPE/ROLL (Anm. 14), S. 19: „Im 15. Jahrhundert fällt in den deutschen rhetorischen Schriften bisweilen auch der Begriff reden, doch ist damit Verbalisierung oder Lokution generell und nur selten Oralität im engeren Sinne gemeint." Einen auch terminologischen Neuansatz bietet das stark humanistisch geprägte Hand-

Albrecht Hausmann

162

Wissenschaftler ist sie nicht nur ein methodologisch relevantes Instrument zur sozialhistorischen und bildungsgeschichtlichen Verortung dieser Ars dictandi; sie zeigt auch die Möglichkeiten und Grenzen für das Eindringen der Volkssprache in das lateinisch dominierte .Wortfeld des Textes' auf.

Anhang Zur Überlieferung einiger deutscher Artes dictandi des 15. Jahrhunderts Die folgende Übersicht bietet nur die wichtigsten Informationen. Die Anordnung und Einteilung erfolgt nach textgeschichtlichen Kriterien: 1.1 zeigt den vermutlich autornächsten Text; eine höhere Ordnungsnummer zeigt modo grosso einen stärkeren Grad der Bearbeitung an. 1. 1.1

Friedrich von Nürnberg O.S.B., Deutsche Rhetorik Einsiedeln, Stiftsbibl., Cod. 332, S. 7-21 (,bester' Text, jedoch nicht autograph). München, BSB, Clm 26791, Bl. 72 r -77 v (v. J. 1468). München, BSB, Clm 4749, Bl. 133 r -143 v . Würzburg, UB, M. ch. q. 18 (entstanden in Leipzig), Bl. 327 r -332 r (v. J. 1475). Graz, UB, Cod. 1748 (v. J. 1469; vor 1954 in Dresden, LB, Cod. Μ 63), Bl. 12 r -21 v .

1.2 1.3 1.4 1.5 Ed.:

K N A P E / R O L L ( A n m . 1 4 ) , S . 6 9 - 8 7 ; JOACHIMSOHN ( A n m . 1 9 ) , S . 5 5 - 6 8

(Teilabdruck).

1.6 1.7 1.8 1.9 1.10

Deutsche Rhetorik (Kurzfassung) München, BSB, Clm 12366, Bl. 56 r -64 v . München, BSB, Cgm 563, Bl. 1 r - 8 r . Göttingen, SUB, 8 Cod. ms. philol. 235, Bl. 24 r -31 v . München, BSB, Cgm 706, Bl. 2 r -12 r (vom gleichen Schreiber wie Cgm 563). Scheyern, Stiftsbibl., Ms. 33, Bl. 81 r -90 v (v. J. 1472); kann ich derzeit nicht zuordnen.

buch des Friedrich Riederer: Spiegel der waren Rhetoric vß Μ Tulio C vnd andern getutscht, Freiburg i. Br.: Friedrich Riederer, 1493 (HAIN 13914). Vgl. dazu ERICH KLEINSCHMIDT, Art. ,Riedrer (Riederer), Friedrich'. In: *VL, Bd. 9 (1992), Sp. 70-72 (mit weiterer Literatur).

163

Zur Terminologie deutscher Artes dictandi des 15. Jahrhunderts

1.11 1.12

Deutsche Rhetorik (Zweiteilige Fassung) Stuttgart, LB, Cod. Donaueschingen 741 (früher: Donaueschingen, Fürstlich Fürstenbergische Hofbibl., Cod. 741), Bl. 74 r -78 v . Hannover, Kestner-Museum, ERNST (Anm. 77) Nr. 128, Bl. 42 r -52 v .

Weitere abhängige, ζ. T. wesentlich ergänzte Versionen, alle ausgehend von der zweiteiligen Fassung der Deutschen Rhetorik:

1.13 1.14 Ed.:

1.15 1.16

Modus epistolandi deutsch (auch: Große und kleine JJlmer Rhetorik, Hirschfelder-Rhetorik)·. München, BSB, Cgm 3607, Bl. l r -31 v . München, BSB, Cgm 2518, Bl. 31*r-47*v. FRÖHLICH (Anm. 19), S. 97-158 (Abdruck nach Cgm 3607). Christoph Huber, Brieflehre München, BSB, Cgm 216, B1.5 r -14 r (v. J. 1477, geschrieben von Christoph Huber). Würzburg, UB, M. ch. q. 34, Bl. 140 r -l 53 r (Auszug).

1.17 1.18

Ingolstädter Rhetorik Hannover, Kestner-Museum, ERNST (Anm. 77) Nr. 73, Bl. 13 r -27 v . München, UB, 2° Cod. ms. 606, Bl. 106 v -119 r (wohl v. J. 1481, geschrieben in Ingolstadt).

Ed.:

KNAPE/ROLL (Anm. 14), S. 126-155.

1.19

Die Handschrift Paris, BN, Cod. lat. 10465, Bl. 194 r -196 r (Rhetorica. Ein künst von höfflicher red) kann ich derzeit nicht zuordnen.85

2. 2.1

Stadtschreibers Examen München, BSB, Clm 4749 (enthält auch Friedrich von Nürnberg, Deutsche Rhetorik), Bl. 145r-165r. Hannover, Kestner-Museum, ERNST (Anm. 77) Nr. 128 (enthält auch die zweiteilige Fassung der Deutschen Rhetorik), Bl. 19 r -25 v (am Ende unvollständig). Heidelberg, UB, Cpg 166, Bl. 89 vi -90 va (am Ende unvollständig). Berlin, SBPK, Ms. germ, quart 478, Bl. 185 r-203r. Drucke: Formulare und deutsch Rhetorica, [Ulm: Johann Zainer, nicht vor dem 18.1.1479] (GW 10178); elf weitere Auflagen bis 1492 (GW 10179-10189). KNAPE/ROLL (Anm. 14), S. 163-182.

2.2

2.3 2.4 2.5

Ed.:

85

ULRIKE BODEMANN/CHRISTOPH DABROWSKI: H a n d s c h r i f t e n d e r U l m e r

In: Schulliteratur im späten Mittelalter (Anm. 38), S. 11-47, hier S. 29.

Lateinschule.

MICHAEL BALDZUHN

Ein Feld formiert sich Beobachtungen zur poetologischen Begrifflichkeit in den Tabulaturen der Meistersinger

The large number of poetological terms in the Meistersingers' tablatures of the 16th century is not merely due to the contemporary but relatively late increase in terminology. Based on a number of examples (lietlbar, Strophe/gesä/z, Stollen, Abgesang, Vers, Reim, differentz and merker), it is demonstrated that this terminology can be distinguished from an earlier attempt towards more extensive conceptualizations of the texts which were sung and on which the tablatures of the institutionalized Meistergesang had already been based. This earlier attempt goes back to a productive late phase of the Middle High German 'Sangspruchdichtung' of the late 14,h century, a phase which was characterized by using tunes not composed by the poet himself. Within the poetics of the 'Nachsänger' ('subsequent singer') the text as such became the centre of attention.

Die folgenden Ausführungen knüpfen an eine These an, die an anderer Stelle eher von kodikologischen wie überlieferungs- und textgeschichtlichen Befunden ausgehend formuliert wurde. Danach kann die Gemerk-Interaktion der Meistersinger als .Aufführung einer Aufführung' verstanden werden, d. h. als Folge einer sehr besonderen Rezeption von Wettstreit- und Fürwurfliedern, die anonyme Fremdtonverwender bereits in einer Spätphase der Sangspruchdichtung nach Frauenlob verfasst haben. In ihnen ist im Rahmen einer ausgiebig ausgebeuteten Turnier- und Wettkampfmetaphorik auf Schritt und Tritt von Dichten und Singen die Rede und so haben sich dann später die Meistersänger aus diesen Liedern ihre eigenen Vorstellungen von der Kunstpraxis der von ihnen geachteten alten Meister gebildet. Diese versuchten sie nämlich nachzustellen und so an sie anzuschließen.1 Als Problem dieser These bleibt freilich bestehen, dass die für das Verständnis der Gattungsentwicklung zentralen poetologischen Lieder regelmäßig anonym und erst von den Meisterliederhandschriften des 15. Jahrhunderts überliefert sind und ihr Bestand nur sehr ungenügend differenziert werden kann.2 Die Schreiber der Handschriften teilen 1

2

Vgl. MICHAEL BALDZUHN: Vom Sangspruch zum Meisterlied. Untersuchungen zu einem literarischen Traditionszusammenhang auf der Grundlage der Kolmarer Liederhandschrift, Tübingen 2002 (MTU 120), S. 486-494. Zahlreiche Strophen und Lieder sind besonders aus den Sammlungen von BARTSCH und POYNTER zu beziehen: Meisterlieder der Kolmarer Handschrift. Hrsg. von KARL

166

Michael Baldzuhn

bekanntlich meist nur den Namen des Tonerfinders mit, in denen ein Lied verfasst ist, aber nicht auch noch den des Textdichters, sofern er, wie es in der Sangspruchdichtung nach Frauenlob weithin geübte Praxis war, als Nachsänger einen fremden Ton heranzog.3 Lässt sich aber die Nachspiel-These nicht vielleicht mit worthistorischen Befunden aus dem Belegmaterial der MeistersingerTabulaturen noch weiter untermauern?4 Genauer und zugleich entschiedener

3

4

BARTSCH, Stuttgart 1862 (StLV 68) [nachstehend zitiert: BML]; DURWARD SALINE POYNTER: The Poetics of the early .Meistersänger' as reflected in the .Kolmarer Handschrift' (,Cgm, 4997'). Diss, (masch.) Los Angeles 1965. Als weiteres Findemittel empfehlen sich fiir die meisten der Meisterliederhandschriften die knappen Inhaltsstichworte zu den Texten in den Bestandstabellen bei FRIEDER SCHANZE: Meisterliche Liedkunst zwischen Heinrich von Mügeln und Hans Sachs, 2 Bde., München 1983-84 (MTU 8283), hier Bd. 2, S. 29-137, und das Repertorium der Sangsprüche und Meisterlieder des 12. bis 18. Jahrhunderts (RSM). Grundlegend zur Praxis des Tönegebrauchs in Sangspruchdichtung, meisterlicher Lieddichtung und Meistergesang GISELA KORNRUMPF/BURGHART WACHINGER: Alment. Formentlehnung und Tönegebrauch in der mittelhochdeutschen Spruchdichtung. In: Deutsche Literatur im Mittelalter. Kontakte und Perspektiven. Hugo Kuhn zum Gedenken. Hrsg. von CHRISTOPH CORMEAU, Stuttgart 1979, S. 356-411. Den gattungsgeschichtlichen Hintergrund kennzeichnet in seinen Grundzügen zuverlässig und übersichtlich die Einleitung zum Repertorium (RSM, Bd. 1, S. 1-7); vgl. zudem v. a. SCHANZE (Anm. 2), Bd. 1, S. 369-392. Bemerkenswert früh und klar hat KARL STACKMANN die Probleme formuliert: Die Kleineren Dichtungen Heinrichs von Mügeln. Abt. 1: Die Spruchsammlung des Göttinger Cod. Philos. 21. Hrsg. von KARL STACKMANN, 3 Teilbde., Berlin 1959 (DTM 50-52), hier Teilbd. 1, S. CLVIII. Vgl. speziell zum Liedtyp der Wettkampf-Lieder auch Ders.: Der Spruchdichter Heinrich von Mügeln. Vorstudien zur Erkenntnis seiner Individualität, Heidelberg 1958 (Probleme der Dichtung 3), S. 59 mit Anm. 127: STACKMANN spricht hier von zu Zeiten Mügelns bereits „hochmodernen Herausforderungsstrophen", ohne indes Kriterien angeben zu können, die es erlaubten, dem einzelnen anonym überlieferten Lied im Kontinuum der namenlos überlieferten meisterlichen Liedkunst zwischen Frauenlob und Sachs einen präziseren Platz zuweisen zu können. Um die poetologische Begrifflichkeit der Tabulaturen der Meistersinger hat sich als einer der ersten und immer noch grundlegend OTTO PLATE verdient gemacht: Die Kunstausdrücke der Meistersinger. In: Der deutsche Meistersang. Hrsg. von BERT NAGEL, Darmstadt 1967 (WdF 148), S. 206-263 [zuerst in einer um den Abdruck des Kolmarer Gemerkbuchs erweiterten Fassung erschienen in den Straßburger Studien 3 (1888), S. 147-224 (Gemerkbuch: S. 226-237)]. PLATES Ziel war freilich in erster Linie positivistisch auf die Erhebung des Wortmaterials und eine kommentierende Erläuterung lexikalischer Bedeutungen gerichtet. Über die Meistersinger-Tabulaturen informiert am besten: Adam Puschman: Gründlicher Bericht des deutschen Meistergesangs. (Die drei Fassungen von 1571, 1584, 1596). Texte in Abbildung mit Anhang und einleitendem Kommentar. Hrsg. und eingeleitet von BRIAN TAYLOR, 2 Bde., Göppingen 1984 (Litterae 84), hier Bd. 1: Einleitung. Nachzutragen ist dazu jetzt: Die Schulordnung und das Gemerkbuch der Augsburger Meistersinger. Hrsg. von HORST BRUNNER u. a., Tübingen 1991 (Studia Augustana 1). Dass zahlreiche Termini der Tabulaturen bereits in älteren poetologischen Liedern begegnen, ist prinzipiell bekannt: BRIAN TAYLOR: Der Beitrag des Hans Sachs und seiner Nürnberger Vorgänger zu der Entwicklung der Meistersinger-Tabulatur. In: Hans Sachs und Nürnberg. Bedingungen und Probleme reichsstädti-

167

Ein Feld formiert sich

auf das Thema des vorliegenden Tagungsbandes hin formuliert: Stehen die Tabulaturen der Meistersinger vielleicht gar nicht nur für einen einzigen Terminologisierungsschub, sondern fur gleich zwei Verdichtungsvorgänge poetologischen Vokabulars, von denen einer bereits im 14. Jahrhundert zu verorten wäre und erst ein zweiter im Umfeld der Tabulaturen selbst? Und wie wären dann diese beiden Schübe in ihrer jeweiligen Eigenart zu kennzeichnen? Sollten sich an den Tabulaturen der Meistersinger tatsächlich zwei verschiedene Vorgänge plausibel machen lassen, wäre davon nicht nur Gewinn zu erhoffen für die Binnendifferenzierung der Gattungsgeschichte und eine differenziertere Sicht auf meisterliche Lieddichtung poetologischer Valeurs. Es sollten sich, dies im Hinblick auf das Thema des vorliegenden Bandes, auch verschiedene Gründe für Terminologisierungsschübe überhaupt erkennen lassen. Der vorliegende Beitrag bezieht seinen Anstoß damit also nicht nur aus der Rahmenhypothese, Untersuchungen der spezifisch mittelalterlichen ,Rede vom Text' gewährten Einsicht in alteritäre textuelle Praktiken,5 sondern auch aus einem in der Konsequenz solcher historischer Perspektivierung liegenden, weiter reichenden Interesse: Wieso wurden denn andere ,Redeweisen' aufgegeben oder haben sie sich gewandelt? Einsinnige Antworten sind hier prinzipiell nicht zu erwarten.6 Angesichts des besonderen, über Jahrhunderte reichenden gattungsgeschichtlichen Kontinuums der späten Sangspruchtradition soll indes die Chance nicht ungenutzt bleiben, die Ausgangsfrage der Tagung noch weiter zu dynamisieren und an (wenn auch besonderen) Befunden aufzuzeigen, wie weit man im Einzelfall für eine weitergehende Erklärung des Wandels poetologischer Semantik ausholen muss - zum mindesten in die Gattungssoziologie und -geschichte und das übergreifende Gattungsgefüge, aber auch bis in die Mediengeschichte der Frühen Neuzeit hinein.

scher Literatur. Hans Sachs zum 400. Todestag am 19. Januar 1976. Hrsg. von HORST BRUNNER/GERHARD HIRSCHMANN/FRITZ SCHNELBÖGL, N ü r n b e r g

1976

(Nürnberger

Forschungen 19), S. 245-274, hier S. 248-250; Ders.: Prolegomena to a history of the Tabulatur of the German Meistersinger from its 15th century metapoetic antecedents to its treatment in Richard Wagner's opera. In: AUMLA. Journal of the Australasian Universities Language and Literature Association 54 (1980), S. 201-219. Eine Übersicht über erhaltene oder zumindest bezeugte Tabulaturen bietet TAYLOR, Beitrag (Anm. 4), S. 247-264. 5

6

V g l . d a z u d i e E i n l e i t u n g v o n GERD DICKE, MANFRED EIKELMANN und BURKHARD

HASEBRINK zum vorliegenden Band, S. 1-12. „Wie semantische Neuerungen entstehen, ist die traditionelle Zentralfrage der historischen Semantik" - und so ist das Forschungsfeld, wie der instruktive Überblick von GERD FRITZ deutlich macht, entsprechend differenziert bearbeitet: Historische Semantik, Stuttgart, Weimar 1998 (Sammlung Metzler 313), S. 36-85, hier S. 38.

Michael Baldzuhn

168

I.

Zur Orientierung über einschlägige Entwicklungsabschnitte sei nachstehend ein Gattungsgeschichte und Wortgeschichte korrelierendes Phasenmodell vorgeschlagen, das sich aus den Entwicklungslinien ergibt, die sich in das Gefüge der Bezeichnungen für das mehrstrophige Lied einerseits und die Einzelstrophe andererseits einzeichnen lassen. Dieses Gefüge eignet sich für einen Periodisierungsrahmen besonders, weil es sich schon dem oberflächlichen Blick als ein offenbar zunächst anders als heute geläufig strukturiertes präsentiert. Beispielsweise impliziert die Belegung des einzelnen Liedbausteins der Strophe mit dem aus dem Griechischen stammenden Wort,Strophe', wenn man hier ein Bewusstsein für die griechische Wortbedeutung ,das Wiederkehrende' annehmen darf,7 das Vorhandensein mehrstrophiger Gebilde als Normalfall dichterischer Produktion sowie eine Bezeichnung für diesen Rahmen, innerhalb dessen da etwas, nämlich eine Strophe, als gleich bleibend überhaupt wiederkehren kann - impliziert also etwa das Zuhandensein von ,Lied' in der heutigen, auf den mehrstrophigen Verbund zielenden Bedeutung. Eben dieses aber wird man im Blick auf den hochmittelalterlichen Minnesang und die Sangspruchdichtung und ihre Ausläufer nicht selbstverständlich erwarten, in deren Umfeld liet bekanntlich auch die einzelne Strophe bezeichnet.8 Ein zweites Beispiel: Das lateinische versus bezeichnet im Spätmittelalter ja durchaus nicht den Vers, sondern die Strophe oder mit den Stollen Teile von ihr, die ja auch mehr als nur einen einzigen Vers umfassen.9 Einem Ordnungsversuch nähere ich mich zunächst über die Neidhart- und Minnesang-Handschriften des 14. Jahrhunderts. Insbesondere aus den Rubriken, aber nicht nur aus ihnen, und etwas später dann aus dem Umfeld Oswalds von Wolkenstein etwa, Hugos von Montfort oder dem Liederbuch-Lied lassen sich eine ganze Reihe von Belegen für die Bezeichnung der mehrstrophigen Produktionseinheit als liet beibringen.10 Dazu passt die Beobachtung CRAMERs, nach der die Strophenvarianz im Minnesang überhaupt seit dem 13. Jahrhundert abnimmt." Offenbar haben sich in dem Bereich der Produktion von Liebes7

Vgl. WOLFGANG SUPPAN: Art. .Strophe'. In: ZRL, Bd. 4 (1984), S. 245-256, hier S. 245; DWb, Bd. 20, Sp. 74f.

8

V g l . LEXER, B d . l , S p . 9 1 3 f .

9

Vgl. GISELA KORNRUMPF: Konturen der Frauenlob-Überlieferung. In: Cambridger .Frauenlob'-Kolloquium 1986. Hrsg. von WERNER SCHRÖDER, Berlin 1988 (WolframStudien 10), S. 26-50, hier S. 34. Sehr frühe Belege schon aus dem ersten Viertel des 14. Jahrhunderts liefert das Neidhart-Bruchstück München, BSB, Cgm 5249/26, das ζ. B. die sechs Strophen des Winterliedes 27 auf Bl. 2 " als Ein ander liet ankündigt; weitere Nachweise bei BALDZUHN (Anm. 1),S. 128-130.

10

11

Vgl. THOMAS CRAMER: Waz hilfet äne sinne kunst? Lyrik im 13. Jahrhundert. Studien zu ihrer Ästhetik, Berlin 1998 (Philologische Studien und Quellen 148), S. 107, 116, 121 f.

Ein Feld formiert sich

169

liedern ,im weiteren Sinne' spätestens im 14. Jahrhundert die Verhältnisse soweit stabilisiert, dass ihre Wahrnehmung weniger von einem Umherschieben variabler Spielmarken geprägt wird als vielmehr von mehr oder minder stabilen mehrstrophigen Einheiten. Sprachlich schlägt sich diese Wahrnehmung strophenübergreifender Einheiten in einer außerhalb der Sangspruchtradition zunehmend stabilen Verwendung von liet für das mehrstrophige Lied im neuhoch1 "J

deutschen Sinne nieder. Innerhalb der Sangspruchtradition verläuft die Entwicklung anders, da hier ein anderer Umgang mit der Einzelstrophe gepflegt wird. Liet für die Einzelstrophe hält sich bedeutend länger. Da die Praxis, mehrstrophige Einheiten aus Einzelstrophen zusammenzusetzen, erst in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts aufgegeben wird,13 spielt sich keine Wahrnehmung und Bezeichnung des Meisterliedes als Lied ein: Hier fehlt der gattungsgeschichtliche Anstoß zur semantischen Verschiebung - mit der Folge, dass liet für Strophe länger erhalten bleibt und eine gattungsspezifische Bezeichnungspraxis innerhalb der Sangspruchtradition diese von externen Entwicklungen (liet für Lied) zunehmend abkoppelt. Doch auch die Durchsetzung des mehrstrophigen Meisterliedes lässt die Liederdichter noch nicht von liet auf Lied umschalten: Es stand nämlich für letzteres noch eine besondere Bezeichnung, par (nhd. Bar) zur Verfügung, mit der sich der mehrstrophige Verband belegen ließ, freilich wiederum um den Preis einer schwierigeren Verständigung mit außerhalb der eigenen Gattungstradition stehenden Sprechern. Das kann man etwa daran sehen, dass, wenn Meisterlieder in den Druck gehen und einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich werden, in den Titulaturen dieser Drucke nirgends von par gesprochen wird.14 Eine erste Phase semantischer Verschiebungen liegt also bereits im 14. Jahrhundert. In ihr beginnen sich Verwendungsweisen im Umfeld des Minnesangs und seiner Ausläufer von Verwendungsweisen im Umfeld der Sangspruchtradition abzusetzen. In der zweiten Phase, die zeitlich die der institutionellen Regulierung des Meistergesangs seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert vorausliegenden Jahrzehnte umfasst, vermitteln die Quellen ein vielschichtiges Bild. Wo vor allem 12

13

Unter den wenigen liet-Belegen in Des Minnesangs Frühling findet sich demgegenüber nicht einer, wo der Singular zweifelsfrei das mehrstrophige Lied bezeichnen würde; vgl. 5,20, 48,19, 51,28, 92,9, 117,25, 164,11, 177,23, 195,32 (Des Minnesangs Frühling. Unter Benutzung der Ausgaben von KARL LACHMANN U. a. bearb. von HUGO MOSER/ HELMUT TERVOOREN, I: Texte, 38., erneut revidierte Aufl., Stuttgart 1988). Vgl. zum Barbildungsprozess, in dessen Verlauf sich Mehrstrophigkeit als obligates Formmerkmal durchsetzt, BURGHART WACHINGER: Von der Jenaer zur Weimarer Liederhandschrift. Zur Corpusüberlieferung von Frauenlobs Spruchdichtung. In: Philologie als Kulturwissenschaft. Studien zur Literatur und Geschichte des Mittelalters. Festschrift für Karl Stackmann zum 65. Geburtstag. Hrsg. von LUDGER GRENZMANN/HUBERT HERKOMMER/ DIETER WUTTKE, G ö t t i n g e n 1 9 8 7 , S . 1 9 3 - 2 0 7 ; SCHANZE

14

(Anm. 2), Bd. 1, S. 76-86, sowie die in Anm. 1 genannte Untersuchung. Vgl. die Druckbibliographie im RSM, Bd. 1, S. 319-508.

170

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extensiv schriftlich gesammelt wird, ohne dass neben den ausladenden Sammelbemühungen eine ebenso ausladende zeitgenössische Aufführungspraxis sichtbar würde, finden sich in den Rubriken der Liederhandschriften zuhauf lietBelege für die Einzelstrophe. Hier wird also ein älterer Zustand bewahrt. In größerer Nähe zur zeitgenössischen Liedproduktion hingegen, also etwa beim Nürnberger Meistersinger Hans Folz, trifft man demgegenüber auf ein bunteres Nebeneinander. Belegt sind bei ihm par, aber auch gedreyt lid oder sogar lit für Lied, andernorts auch hybride Formen wie bar liedlein}5 Ein Berufsmeister in der Tradition der Sangspruchdichtung, aber mit wachem Blick für die rezente Situation und mit ausgeprägtem Typenbewusstein wie Michel Beheim kann sich ebenfalls auch liet für Lied gestatten, also an die Praxis aus dem Umfeld des späten Minnesangs anschließen - sofern im entsprechenden Lied irgendwie von Liebe die Rede ist.16 Eine zweite Phase bietet also ein bunteres Bild, weil einerseits schriftliche Sammelunternehmungen eine bereits ältere Verwendungsweise konservieren, andererseits in der zeitgenössischen produktiveren Praxis der Autoren sich Altes und Neues vielfältig mischen. Bereinigt werden diese bunteren Verhältnisse erst auf einer nächsten, der dritten Etappe. Die Bedeutung des Hans Sachs für die Einrichtung und Durchsetzung des regulierten Meistergesangs kann bekanntlich kaum überschätzt werden. Er hat sie auch in wortgeschichtlicher Hinsicht. 1517/18 belegt er im Autographen des Berliner Ms. germ, quart 414 die Einzelstrophe konsequent mit liet und tritt damit als Systematiker hervor. Es schlägt sich hier, in den Jahrzehnten um 1500, die einsetzende Institutionalisierung des Meistergesangs nieder: Die Nürnberger Gemerk-Protokolle werden noch bis ins 17. Jahrhundert hinein an dieser Sachs'schen Vorgabe festhalten, auf par für (Meister-)Lj'ei/ in ihren Protokollen erst mit dem beginnenden 17. Jahrhundert verzichten.17 Die dritte Etappe sehe ich also im unmittelbaren Umfeld einer ersten Regulierungsphase, im zeitlichen Umfeld der Institutionalisierung, der schulmäßigen Ausbildung des Meistergesangs. Hier richtet man sich nun gezielter an Altem aus und versucht, es vereinheitlichend zu konservieren. 15

16

Die Meisterlieder des Hans Folz aus der Münchener Originalhandschrift und der Weimarer Handschrift Q. 566 mit Ergänzungen aus anderen Quellen. Hrsg. von AUGUST L. MAYER, Berlin 1908 (DTM 12); vgl. die Überschriften vor den Liedern Nr. 1 (vor V. 183 u. 365) und Nr. 10 für par, Nr. 2 für gedreyt lid und Nr. 18 für lit sowie RSM zu 'KonrW/8/5 für das um 1500 in der Meisterliederhandschrift h benutzte bar liedlein vor einem in Konrads von Würzburg Blauem Ton verfassten Lied. Die Gedichte des Michel Beheim. Nach der Heidelberger Hs. cpg 334 unter Heranziehung der Heidelberger Hs. cpg 312 und der Münchener Hs. cgm 291 sowie sämtlicher T e i l h a n d s c h r i f t e n . Hrsg. v o n HANS GLLLE/LNGEBORG SPRIEWALD, 3 B d e . , B e r l i n 1 9 6 8 -

17

72 (DTM 60, 64, 65); vgl. die Beischrift vor Nr. 59 in der Kurzen Weise. Das Gemerkbüchlein des Hans Sachs (1555-1561) nebst einem Anhange: Die Nürnberger Meistersinger-Protocolle von 1595-1605. Hrsg. von KARL DRESCHER, Halle a. S. 1898 (Neudrucke deutscher Litteraturwerke des XVI. und XVII. Jahrhunderts 149-152); Nürnberger Meistersinger-Protokolle von 1575-1689. Hrsg. von KARL DRESCHER, 2 Bde., Stuttgart 1897 (StLV 213/214).

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171

Noch weitergehende Homogenisierungstendenzen kennzeichnen schließlich eine weitere Phase, die sich etwa seit dem letzten Viertel des 16. Jahrhunderts ansetzen lässt und namentlich mit dem Breslauer Meistersinger Adam Puschman verbindet. Die Ausrichtung am Überkommenen wird jetzt aufgegeben. Spezielle, an die exklusive Gemeinschaft der Meistersinger gebundene Wortverwendungen überleben daher diese Phase nicht mehr. Denn Adam Puschman versucht mit seinem zuerst 1571 gedruckten Gründlichen Bericht des deutschen Meistergesangs Ordnung in die Begrifflichkeit der Tabulaturen zu bringen. Er gibt par - sicher Folge seiner Ansprache einer breiteren Öffentlichkeit mithilfe des Buchdrucks - als Spezialbegriff der Meistersinger auf und verwendet nur mehr Lied im heute geläufigen Sinn. Folglich kann er die einzelne Strophe nicht mehr als liet bezeichnen. Konsequent benutzt er für diese daher gesätz.Damit ist nun auch innerhalb des Meistergesangs an jenen Wortgebrauch angeschlossen, den dann Martin Opitz in seinem Buch von der Deutschen Poeterey voraussetzt: Lied einerseits, gesätz andererseits. Die worte vnd Syllaben in gewisse gesetze zu dringen / vnd verse zue schreiben / ist das allerwenigste was in einem Poeten zue suchen ist, kann man dort zunächst noch lesen,19 und gegen Ende seiner Poetik, wenn Opitz auf die pindarischen Oden und ihrem dreiteiligen Aufbau aus Epode, Strophe und Antistrophe zu sprechen kommt, erscheint dann auch - zunächst noch in griechischen Lettern gesetzt - die Bezeichnung der einzelnen Strophe als Strophe, die sich von hieraus durchsetzen wird.20 Mit dem bis hierher vorgeschlagenen Rahmenmodell zur Periodisierung ist nachstehend an ausgewählte weitere Befunde heranzutreten, um sie im Hinblick auf jene zwei Etappen, in denen Terminologisierungsschübe zu vermuten sind, genauer in den Blick zu bringen.

18

19

Gesetz für Strophe lässt sich in der Überlieferung des meisterlichen Liedes bereits in den 1428 niedergeschriebenen Beischriften zu RSM 'KonrW/7/502c nachweisen, setzt sich aber im engeren Umfeld meisterlicher Liedkunst zunächst nicht durch, da dort vorwiegend liet benutzt wird. Für die weitere Vorgeschichte von gesetz bleiben die Belege bei BMZ (Bd. 11,2, S. 345b) wie im LEXER (Bd. 1, Sp. 911) noch auszuwerten. Martin Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey (1624). Nach der Edition von WILHELM BRAUNE neu hrsg. von RICHARD ALEWYN, Tübingen 2 1 9 6 6 (Neudrucke deutscher

20

Literaturwerke, N. F. 8), S. lOf. Vgl. ebd. S. 46-53. Eingang ins germanistische Fachvokabular verschafft der Bezeichnung JACOB GRIMM, der 1811 seinen eigenen Sprachgebrauch noch explizieren muss: „Ich werde der Bequemlichkeit wegen die bekanntesten Namen gebrauchen, und die beiden ersten [Bestandteile der Kanzonenstrophe, Μ. B.]: Stollen, den dritten den Abgesang nennen, das Ganze aber Strophe." (JACOB GRIMM: Über den altdeutschen Meistergesang, Göttingen 1811, S.43f.). Zu Strophe wird dort S. 44, Anm. 31 angemerkt: „Strophe, als etwas Wiederkehrendes, (versus) ist zwar hier uneigentlich und würde sich eher für den Begriff unseres Stollen passen. Indessen das Wort: G e s ä t z , würde ungewohnt, und L i e d ganz verwirrend seyn".

Michael Baldzuhn

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Π.

Zunächst ist noch einmal auf das bereits erwähnte par als Bezeichnung für den mehrstrophigen Verbund einzugehen. Seine Vorgeschichte erhellt das literarische Klima, dem neue Bezeichnungen entwachsen, ganz entscheidend. Als Bezeichnung für mehrstrophige Verbünde lässt sich par in den Rubriken der Meisterliederhandschriften zuerst im Cgm 351 nachweisen und damit bereits in einer Phase, die noch vor der schulmäßigen Verfestigung des Meistergesangs liegt.21 Im Rahmen des oben skizzierten Modells ist folglich für dieses Wort eine ältere, ins 14. Jahrhundert zurückweisende Vorgeschichte zu erwarten. Für diese finden sich tatsächlich Indizien: Heinrich von Mügeln kennt und benutzt in seiner lateinischen Ungarnchronik eine Paratwyse Regenbogens.22 Und um 1350 qualifiziert das Verb paraten in Lupoid Hornburgs drei Strophen Von allen singern eine herausstechende dichterische Leistung Neidharts: HEr reimar - der wart nie so wert, der siner ler nach vert. her waithers done hur als vert vor valschem lute sich wol wert. her Nithart parat also wol, sam fundelt der von Esschenbach.

5

Von wirzeburg Cunrad, din swert der kunste nieman hert; du gie nie musen vm den hert. min zunge des nit meines swert, Das der Boppe, der Marner sint auch an ir kunste mindert swach.

10

Der regenboge den vrouwenlop bestunt gelicher wer. Von Suneburg, [der] erenbot, Bruder wernher sungen geschlehtes reht. Nv ruch ich grober guten weg, das ich bin vngerechtes siecht. Got selber hot mit siechten Worten vns die lere geben,

15

wie das w'r streben noch dem ewigen leben. Gesanges frunt, ey, merkent eben, wie das der meister siechten sang gevinet hat mit worten geeben! her reymar sang wol, was her wolt, bas dann der tuesch in notte ie sprach2* 21 RSM 'ReiZw/1/511 a: in fraw ern don stet aber ein par her nach geschriben; RSM 'Regb/4/605a: ein par in des regenpogen longen don stet her nach. Zur gattungsgeschichtlichen Verortung des Cgm 351 (Meisterliederhandschrift m) vgl. SCHANZE ( A n m . 2), B d . 1, S. 8 7 - 9 4 .

22 Vgl. RSM 'HeiMü/410. 23 RSM 'Hornb/1-3, Str. 1. The poems of Lupoid Hornburg. Hrsg. von CLAIR HAYDEN BELL/ERWIN GUDDE, Berkeley, Los Angeles 1945, S. 2 5 5 - 2 5 7 (mit ausführlichem Kommentar). Text und Übersetzung hier nach der überaus akribische Studie von WALTER RÖLL: Lupoid Homburg von Rothenburg, ,Herr Reinmar ...': Frauenlob und Frauenlob-Nachfolge im 14. Jahrhundert. In: Würzburg, der Große Löwenhof und die deutsche Literatur des Spätmittelalters. Hrsg. von HORST BRUNNER, Wiesbaden 2004 (Imagines

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173

Das Verb paraten in V. 5 ist Neubildung auf der Grundlage eines gut belegten älteren Substantivs parat, das „etwas in irgendeiner Hinsicht .Kunstvolles'" bezeichnet,24 stellt also Neidhart als Produzent solcher Kunststücke heraus. Was dieses ,Kunstvolle' sei, erweist der Kontext: In den zwei unmittelbar vorangehenden Versen wird Walther von der Vogelweide als Tondichter gepriesen (V. 3 f.), unmittelbar danach Wolfram von Eschenbach - nicht zufallig wiederum mit einer, diesmal freilich von Frauenlob übernommenen, Neubildung (fundelt) - hinsichtlich seiner ausgefallenen, gesuchten Wortvielfalt.25 .Vielfalt' kennzeichnet also dieses Kunstvolle, und zwar näherhin eine Vielfalt, die offenbar in einem Zwischenbereich angesiedelt werden muss, der zur einen Seite hin nicht einfach Tönevielfalt, zur anderen Seite hin nicht einfach Wortvielfalt meint. .Vielfalt' firmiert noch ein Jahrhundert später in der Argumentation von Hans Folz um die Ausrichtung der Nürnberger Kunstpraxis in der Frage des Tönegebrauchs als zentrale Kategorie.26 Für die Fremdtonverwender des 14. Jahrhunderts, die keine eigenen Töne schaffen, sondern sich der Töne prominenterer Sangspruchdichter bedienen, bedurfte ihre eigene Produktion gerade in medii aevi 17), S. 251-281, hier S. 254f.; „Herr Reinmar - keiner, der dem von ihm Gelehrten nacheifert, hat es je so weit gebracht wie er. Herrn Walthers Tönen (kann sich) heute wie eh und je vor falschem Klang bewahren [!]. Herr Neidhart ficht (mit Worten; verziert?, hält sich?) ebenso gut, wie der von Eschenbach stilistisch einfallsreich ist (?, Fund über Fund zusammengebracht hat). - Konrad von Würzburg, das Schwert deiner Kunst macht niemand schartig; du bist niemals (andern Dichtem) stehlend um den Herd geschlichen. Meine Zunge spricht keinen Meineid, (wenn ich sage,) dass auch Boppe (und) der Mamer in ihrer Kunst durchaus nicht unvermögend sind. Regenbogen hat Frauenlob mit gleichen Waffen standgehalten. (Friedrich) von Sonnenburg, (der) Ehrenbote (und) Bruder Wemher haben schlechthin richtig gesungen/gedichtet. Jetzt mache ich Stümper gut(gebahnt)en Weg rauh, weil ich auf fehlerhafte Weise glatt bin. Gott selbst hat uns mit klaren Worten die Lehre gegeben, wie wir nach dem ewigen Leben streben (können). Freunde des Gesanges, gebt acht, wie der Meister schlichten Gesang mit passenden Worten veredelt hat! Herr Reinmar hat, was er wollte, gut gesungen, besser als jemals ein Deutscher zu einer Melodie Worte gefunden hat." 24 HORST BRUNNER: Die alten Meister. Studien zu Überlieferung und Rezeption der mittelhochdeutschen Sangspruchdichter im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit, München 1975 (MTU 54), S. 160, Anm. 306. Vgl. auch CHRISTOPH PETZSCH: Parat(Barant-) Weise, Bar und Barform. Eine terminologische Studie. In: Archiv für Musikwissenschaft 28 (1971), S. 33-43, hier S. 38, und zuletzt RÖLL (Anm. 23), S. 275. 25 Frauenlob (Heinrich von Meissen): Leichs, Sangsprüche, Lieder. Auf Grund der Vora r b e i t e n v o n HELMUTH THOMAS hrsg. v o n KARL STACKMANN/KARL BERTAU, G ö t t i n -

26

gen 1981 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Philologischhistorische Klasse, F. 3, Nr. 119/120) [nachstehend zitiert: GA], XIII,6, V. 7; vgl. RÖLL (Anm. 23), S. 270f. Folz (Anm. 15), Nr. 89-94; vgl. MICHAEL BALDZUHN: Ein meisterliches Streitgedicht. Zum poetologischen Horizont der Lieder Nr. 89-94 des Hans Folz. In: Lied im deutschen Mittelalter. Überlieferung, Typen, Gebrauch. Chiemsee-Colloqium 1991. Hrsg. von CYRIL EDWARDS/ERNST HELLGARDT/NORBERT H . OTT, T ü b i n g e n 1996, S. 2 2 7 243.

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Michael Baldzuhn

diesem Punkt der Rechtfertigung.27 Hornburg tritt mit seinen drei Strophen in Mamers Langem Ton genau in diesem Umfeld28 als Nachsänger auf, um in dieser Frage programmatisch Position zu beziehen. Zum einen setzt er sich nicht von den alten Meistern ab, sondern sucht ausdrücklich den Anschluss an die Gattungstradition, die er in Form ihrer physischen Vertreter gegenwärtig macht. Das geschieht einmal, indem er - durchsichtig interessegeleitet - den , eintönigen' Reinmar von Zweier an die Spitze seines Katalogs stellt: HEr reimar, der wart nie so wert, der siner ler nach vert (V. lf.). Zum zweiten rühmt er dessen Leistung statt der Form nach in inhaltlicher Hinsicht (ler). Und zum dritten verklammert er eine Anspielung auf seine eigene Person formal mit Hilfe von Schüttelreimen auf das Engste mit den letzten Namen in den Versen 12-14 am Ende des Katalogs: Von Suneburg, [der] erenbot, Bruder wernher sungen geschlehtes reht. Nv rüch ich grober guten weg, daj ich bin vngerechtes

siecht29

Die an auffälligster Stelle - in der ersten Strophe, direkt am Ende des Katalogs, unmittelbar bevor Got selber (V. 15) zur Sprache kommt - eingesetzten Schüttelreime müssen zugleich als zentraler Hinweis auf die den ganzen Text charakterisierende Reimpraxis verstanden werden. Die von Hornburg eingesetzten Reime erscheinen nämlich nur scheinbar ,eintönig', sind in Wirklichkeit aber sehr vielfältig. Es handelt sich um rührende Reime aus Homonymen, deren differenzierendes Verständnis eine ausgeprägte kognitive Anteilnahme des Zuhörers voraussetzt: Er muss sie während des Liedvortrags selbst als kunstreich gesetzte Homonyme erst aufdecken. Damit aber setzt Hornburg ein konstitutives Element der Poetik der Nachsänger in Reime um30 - den Einbezug des Publikums, das von Hornburg als gesanges friunt mit dem Imperativ merkent (V. 13f.) programmatisch eingebunden wird. Es ist Sache des Rezipienten, hinter formal auf den ersten Blick einfältigeren, relativ schlichteren, nämlich nicht mit einem neuen Ton aufwartenden Produkten im Rückgriff auf sein Expertenwissen den vielfältigen Kunstreichtum aufzudecken. Schon Frauenlob setzt sich in einer Strophe im Kurzen Ton expressis verbis mit solch einem Expertenpublikum ausdrücklich auseinander, das ihm unter Verweis auf die literarische Tradition eigene künstlerische Leistung absprechen und einem 27 28 29 30

Zum Bewusstein von Tonautorschaft unter den Sangspruchdichtern KORNRUMPF/ WACHINGER (ANM. 2), S. 380f. Weitere Hinweise dazu bei RÖLL (Anm. 23). Vgl. RÖLL (Anm. 23), S. 278f., der auch die Verständnisprobleme detailliert erörtert, die gerade diese Verse bereiten. Die Reimpraxis Hornburgs hebt auch RÖLL ([Anm. 23], S. 262f.) im Anschluss an ältere Forschung ganz zu Recht hervor. Ihr programmatischer Hintergrund wird freilich nicht erfasst. Deshalb bleiben RöLLs Funktionsbestimmungen in diesem Punkt (vgl. S. 277: „Nachweis seiner [...] Kunstfertigkeit") wie auch für die Spitzenstellung Reinmars von Zweter und für seine Kennzeichnung durch Hornburg allein unter inhaltlich-thematischem Aspekt blass.

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175

vermeintlichen Meister Erewin zusprechen will.31 Die Nachsänger haben in einem solchen literarisch gebildeten Publikum freilich weniger einen Gegner als einen konstitutiven Partner ihrer Kunststücke gesehen. Hornburg prunkt vor seinem Publikum nicht durch Tönereichtum, sondern intellektualisiert quasi den Rezeptionsprozess, fordert gesteigerte Aufmerksamkeit und genauere Kenntnisse ein. Dem entspricht auf der Textoberfläche der Bezug auf die literarische Tradition im meister-Katalog. Auf ein prominentes Genre solcher durchgreifenden Bezugnahme auf literarische Tradition, die Frauenlob-Regenbogen-Streitgedichte der Fremdtonverwender, in denen das Text-Ich in der Rolle des angesehenen meisters selbst auftritt, verweist uns Homburg in V. 11 seiner Programmstrophe bereits selbst (Der regenboge den vrouwenlop bestunt gelicher wer).32 Für einen dieser Texte, den Krieg von Würzburg, ist die Entstehung im unmittelbaren zeitlichen und räumlichen Umfeld Hornburgs zu erwägen.33 Wieso es gerade die Dichtung Neidharts ist, an die Hornburg seine poetologische Programmatik anknüpft, darauf lässt sich keine einfache Antwort geben. Neidhart nimmt eigentlich in der Sangspruchtradition keine prominente Rolle ein: Die Meistersinger zählen ihn späterhin durchaus nicht zu ihren zwölf Meistern.34 Eine Ausnahme bildet lediglich Hans Folz, der ihn - ein Jahrhundert später in seinen .Reformstrophen' - in seiner Qualität als produktiver Tonerfinder rühmt. Das widerspricht nun aber gerade der die Qualität formaler Meisterschaft differenzierenden, sie gerade auf die Texte statt die Melodien fokussierenden Position Hornburgs. Die Lösung des Problems dürfte im Bereich der produktiven Rezeption des Neidhartschen Minnesangs zu finden sein, d. h. bei den Pseudo-Neidharten. Sie pflegten - freilich nicht innerhalb der Sangspruchdichtung, sondern im Rahmen der tendenziell prestigeträchtigeren Gattung des Minnesangs - eine den Nachsängern verwandte Praxis, in dem sie eine ältere kunst produktiv und u. a. durch Ergänzung älterer Lieder mit neuen Strophen fortsetzten. Wie aber nun genau diese Praxis zu Lupoids Zeiten ausgesehen hat und was Lupoid davon bekannt gewesen sein konnte, ist eine offene Frage. Ihre Beantwortung setzt nicht weniger als eine zeitliche Schichtung des umfangreichen Neidhart-Korpus voraus.35

31 32 33

Vgl. GA (Anm. 25), XHI,5. Vgl. BURGHART WACHINGER: Sängerkrieg. Untersuchungen zur Spruchdichtung des 13. Jahrhunderts, München 1973 (MTU 42), S. 280-298. Vgl. REINHOLD SCHRÖDER: Art. ,Der Krieg von Würzburg'. In: 2 VL, Bd. 5 (1985), Sp. 3 8 1 f.; WACHINGER ( A n m . 3 2 ) , S. 2 8 7 f .

34 35

Vgl. HORST BRUNNER: Neidhart bei den Meistersingern. In: ZfdA 114 (1985), S. 241254. Vgl. zusammenfassend SIEGFRIED BEYSCHLAG: Art. .Neidhart und Neidhartianer'. In: 2 VL, Bd. 6 (1987), Sp. 871-893. Die Maßstäbe der älteren Forschung, mit denen sie echtes (.Neidhart') von unechtem Gut (,Ps.-Neidharte l ) schied, hat vor allem GÜNTHER SCHWEIKLE kritisch beleuchtet (Neidhart, Stuttgart 1990 [Sammlung Metzler 253], S. 32-40) und einen resignierenden Schluss gezogen: Es gäbe „keine zulänglichen

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Michael Baldzuhn

Homburgs Erfindung und semantische Aufladung des Verbums paraten hat der Bezeichnung des mehrstrophigen Meisterliedes als par aus mhd. parat kaum ganz allein den Weg gebahnt - aber am Weg mitgebaut hat sie ganz sicher. Im Umfeld der frühen meister-Nachfolge noch des 14. Jahrhunderts war das mehrstrophige Meisterlied mit par als ein in formaler Hinsicht anspruchsvolleres Kunststück von größerer formaler Vielfalt gekennzeichnet, freilich nicht in gewohnter Weise im Hinblick auf Tonautorschaft, sondern im Hinblick auf seinen Strophenreichtum, der, ganz wie Hornburgs Homonyme, .zwischen Wort und Ton' zu verorten ist. Denn systematisch betrachtet kommt das neue Ideal des Meisterliedes ja nicht einfach durch die Addition einzelner Strophen zur mehrstrophigen Gruppe zustande, sondern erst dann, wenn zugleich auf den Einsatz der einmal in ein Lied eingebauten Strophe an anderer Stelle verzichtet wird. Damit werden gegenüber der Praxis der älteren Sangspruchdichter, Einzelstrophen wie Spielmarken einmal hier und einmal dort einzusetzen, im Meisterlied die Strophen regelrecht .verbraucht*. Seine Produktion ist also in gewisser Weise durchaus dem Erfinden eines neuen Tons vergleichbar, da sie sich ebenfalls mit einem formal gesteigerten Gestaltungsaufwand verbindet. 36

III. Für die Hauptbestandteile der einzelnen Strophe eines Meisterliedes, die dem Schema der Kanzonenstrophe folgen, stehen heute, ins germanistische Fachvokabular von JACOB GRIMM eingeführt, 37 die Bezeichnungen Stollen, Aufgesang und Abgesang zu Gebote. In den Handschriften, insbesondere denen mit Melodieaufzeichnung, werden diese Bestandteile seit Anfang des 14. Jahrhunderts abgesetzt, so dass sie auch für das Auge des Lesers Wirklichkeit gewinnen, und gelegentlich durch die dem Lateinischen entnommenen Beischriften

36

37

Methoden [...], über den Überlieferungsstatus des Mittelalters hinauszukommen" (S. X). Die Überlieferung bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts ist jetzt durch FRANZ JOSEF HOLZNAGEL gut erschlossen: Wege in die Schriftlichkeit. Untersuchungen und Materialien zur Überlieferung der mittelhochdeutschen Lyrik. Tübingen, Basel 1995 (Bibliotheca Germanica 32), hier S. 281-435. In einer Übergangsphase freilich werden zwar mehrstrophige Gruppen gebildet, bleiben die einzelnen Strophen aber für eine Verwendung in anderen Gruppen noch frei. Vgl. die oben Anm. 13 genannten Forschungsbeiträge. Vgl. für Stollen und Abgesang oben Anm. 20 sowie für Aufgesang GRIMM (Anm. 20), S. 44, Anm. 31 „ A u f g e s a n g filr Stoll [...] wäre eine sehr passende Benennung und entspräche dem Abgesang." GRIMM verweist für Aufgesang auf BERNHARD JOSEPH DOCEN: Ueber den Unterschied und die gegenseitigen Verhältnisse der Minne- und Meistersänger. Ein Beitrag zur Karakteristik der früheren Zeitalter der Deutschen Poesie. In: Museum für Altdeutsche Literatur und Kunst 1 (1809), S. 73-125 u. 445-490, hier S. 93, Anm. 11. Dort werden ,,einig[e] Meistergesäng[e] von 1515", die diese Beischrift trügen, leider ohne Quelle genannt. Überdies geht aus dem Kontext hervor, dass DOCEN mit dem Wort den Eingangsstollen meint.

Ein Feld formiert sich

177 *

38

versus für die Stollen und repeticio für den Abgesang gekennzeichnet. Stoll(en) ist den Schreibern der Kolmarer Liederhandschrift (k) in ihren Beischriften, also in der Vorphase der Regulierung der Gattung, aber ganz vertraut.39 Die Verwendung dürfte weit älter sein: , Stütze/Pfeiler, auf der/dem etwas errichtet wird', ist eine bereits dem klassischen Mittelhochdeutschen geläufige Bedeutung des Wortes.40 Einer der frühesten Belege für den Übertrag auf die Kanzonenstrophe fuhrt in die Sangspruchdichtung und dort in genau jenes Umfeld, dem Hornburgs Programmstrophe entstammt, nämlich auf ein mehrstrophiges Bar-Kunststück eines Fremdtonverwenders. Es ist zudem in einem in seiner Reimvielfalt unübertroffenen Ton eines der vorbildlichen Meister schlechthin verfasst, der auch in den erwähnten Wettstreitgedichten eine herausragende Stellung einnimmt, im Goldenen Ton Frauenlobs, dessen Überlieferung in den Meisterliederhandschriften relativ viele poetologisch ausgerichtete Strophen versammelt.41 Dass Stollen eben die Sache meint, steht hier ganz außer Frage, da der Text den Aufbau des von ihm verwendeten Tons detailliert bespricht: Die wie ston hie und

heubetrimen teilet, ir sie wolt behalten, ie die Stollen mitten. einer wirt bewiset, der sin nit verstat.

5

Kund ich es recht bescheiden, so würd min Crantz geblümet. da- von, ir mercker, leret, von erst die zehen schribet, ver- nempt absteig dabi:

10

I, der erst, bint den dritten, der ander siben rümet, der drit den ersten heilet, schon vir den nünden tribet, der ßinft tut sehs becleiden, der sehst den achten eret, fron siben zweier walten, der acht zum ßinjften gat,

Abgesang: V. 1

15

Aufgesang: V. 3

V. 2

V. 7

V. 3

V.

V. 4

V. 9

V. 5

V. 6

V. 6

V. 8

V. 7

V. 2

V. 8

V. 5

1

38

V g l . KORNRUMPF ( A n m . 9 ) , s . 3 4 .

39

Die Kolmarer Liederhandschrift der Bayerischen Staatsbibliothek München (cgm 4997). In A b b i l d u n g hrsg. v o n ULRICH MÜLLER/FRANZ VIKTOR SPECHTLER/HORST BRUNNER,

Göppingen 1976 (Litterae 35); vgl. der ander stoll Bl. 28 v , Bl. 30", Bl. 31", Bl. 236", Bl. 632"; alz der stoll Bl. 492 rb ; der dryt stol Bl. 790 rb ; stol Bl. 43 r i ; der ander stoll alz vor Bl. 136"; der drit stoll alz die ersten zwey Bl. 244 rb ; furbas aber ein stoll als vor Bl. 512"; Alz der erst stol Bl. 541"; aber .ij. Stollen alz vor Bl. 552 rb ; der dryt stol Bl. 680"; der drit stol Bl. 721"; der dryt stoll Bl. 736"; alz der stoll Bl. 785 rb . 40

LEXER, Bd. 2, Sp. 1209f.

41

Vgl. RSM 1 Frau/9/501, 516, 519-521 u. 523.

Michael Baldzuhn

178

wol nun den virden spiset. vol- len zwei zehen si. » ι Vk /

//IM

« I I I Λ» « r / l l t / ^ M

Of

^

20

V. 9

V. 4

V. 10

V. 10

Das Reimschema der ganzen Strophe lautet: abcde | fghik | cgaifhbedk. Der Abgesang flicht sich also nachträglich in die Endreime der beiden Stollen ein. Indem der Textdichter diese Struktur expressis verbis offenlegt, will er der Gottesmutter einen Kranz flechten, aber auch sich selbst bekrönen, denn er endet in Str. 5: geczieret ist din krantz. nu h i l f f , daz ich in trage, du maget ußherwelt.41 Indem der Text selbst diesen Kranz bildet, wird er der Wahrnehmung des Rezipienten von der Reihe seiner Reime her und im Vollzug ihrer Aneinanderreihung und Verflechtung angeboten. Da Textautorschaft den Fremdtonverwendern ein gewichtigeres Kriterium künstlerischer Leistung als Tonautorschaft war, ist es nur konsequent, dass den Nachsängern besonders die Reime wichtig werden - und Frauenlobs Goldener Ton im besonderen, da dessen Endreime über den ganzen Aufgesang scheinbar reim- und kunstlos daherkommen und erst der Abgesang sie aufzugreifen beginnt. Das kam der Poetik des scheinbar Kunstlosen entgegen, die auf die spezielle Machart der Texte verwies und die kognitive Eigenleistung des Publikums, die das obige Beispiel sogar in einer Apostrophe ausdrücklich einfordert (V. 10), stärker beanspruchte. 44

42 Sangsprüche in Tönen Frauenlobs. Supplement zur Göttinger Frauenlob-Ausgabe. Tl. 1 : Einleitungen, Texte. Unter Mitarb. von THOMAS RIEBE/CHRISTOPH FASBENDER hrsg. von JENS HAUSTEIN/KARL STACKMANN, Göttingen 2000 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Philologisch-historische Klasse, F. 3, Nr. 232) [nachstehend zitiert: GA-S], XII,210, Str. 4 (RSM 'Frau/9/520a,4); die Übersetzung nach: Gedichte 1300-1500. Nach Handschriften und Frühdrucken in zeitlicher Folge hrsg. von EVA KIEPE/HANSJÜRGEN KIEPE, München 1972 (Epochen der deutschen Lyrik 2), S. 308f.: „Ihr sollt die Endreime so aufteilen, wie ihr sie festhalten wollt, die Stollen[reime] stehen [nämlich] immer zwischen [den anderen]. Hier wird einer unterwiesen, der das nicht versteht; könnte ich es richtig darstellen, so würde mein Kranz mit Blumen geschmückt. Deshalb lemt, ihr Merker: Schreibt zuerst die zehn [Stollenreime], hört [dann] den Abgesang mit dem Blick darauf an! I., der erste [Abgesangvers], bindet den dritten [Stollenvers], der zweite [Abgesangvers] rühmt Sieben [den 7. Stollenvers], der dritte heilt den ersten, Vier treibt in schöner Weise den neunten, der fünfte bekleidet Sechs, der sechste ehrt den achten, als Herrschafft [?] walten die Siebenen der Zweien, der achte geht zum fünften, Neun speist den vierten - zweifmal] zehn soll vollständig sein [?]." - Ein weiteres mit poetologischem Vokabular - darunter in Str. 1, V. 17 Stollen - ausgestattetes ,Ton-Lob4, das dem Aspiston Konrads von Würzburg gilt, überliefert bereits um 1430 die Meisterliederhandschrift b; vgl. den Abdruck der ersten Strophe aus RSM 'KonrW/5/508 bei TAYLOR, Prolegomena (Anm. 4), S. 204. 43 GA-S (Anm. 42), XII,210, Str. 5, V. 17-20; „Dein Kranz ist geschmückt - nun hilf, daß ich ihn trage, du auserwählte Jungfrau!" (KlEPE/KlEPE [Anm. 42], S. 309). 44 Die Ansprache der merker als Schreibende in V. 9 unterstreicht den Anspruch auf kognitive Steigerung der Rezeptionsleistung durch einen für die Publikumsseite schon bei-

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179

Weder Lienhard Nunnenbeck, der Hans Sachs mit dem Meistergesang bekannt gemacht hat, noch der junge Sachs selbst benutzen in ihren poetologischen Liedern das Wort stoll(en).45 Hans Folz verwendet es lediglich einmal, dringt damit aber in Nürnberg nicht durch.46 Im etwas älteren Nürnberger Urschukettel von 1500/1510 erscheint die Bezeichnung noch nicht 47 Erst mit Hans Sachs ändern sich die Verhältnisse im Meistergesang - vielleicht auch deshalb, weil ihr bedeutendster Vertreter das oben im Auszug zitierte Lied im Goldenen Ton Frauenlobs inzwischen selbst kennen gelernt hatte: Sachs nahm es nämlich 1517/18 in seine erste Meisterliedersammlung auf.48 (Unbekannt blieb ihm hingegen jenes noch ins 14. Jahrhundert zu setzende, allein in k tradierte Dreierbar im Langen Ton Frauenlobs, in dem die Stollen als abgesetz bezeichnet werden und das damit ein älteres und v. a. durchaus vielfältiger ansetzendes Bezeichnungsbemühen mit teils noch offenen Ergebnissen anzeigt.)49 Die Nürnberger Tabulatur von 1540/60 bietet dann Stollen und etwas später ζ. B. die Kolmarer Tabulatur von 1549 ebenfalls. 50 Bereits dem letzten Textbeispiel ist ebenfalls zu entnehmen, dass der Abgesang als dritter Baustein der Kanzonenstrophe zunächst anders angesprochen wurde: Er wird in V. 10 als absteig erfasst. In den mhd. Wörterbüchern finden sich weder zum ,Auf-' noch zum ,Abgesang' entsprechende Einträge. In einer ganzen Reihe von Beischriften in der Kolmarer Liederhandschrift hingegen wird der Abgesang als die steig bezeichnet.51 In den Tabulaturen er-

45

nahe provokant imaginierten Medienwechsel. EVA KLESATSCHKE: Lienhard Nunnenbeck: Die Meisterlieder und der Spruch. Edition und U n t e r s u c h u n g e n , G ö p p i n g e n 1 9 8 4 ( G A G 3 6 3 ) , S. 3 1 3 - 3 1 6 ; FRANCES H . ELLIS: T h e

46

47 48

Early Meisterlieder of Hans Sachs, Bloomington 1974, S. 147-184. Folz (Anm. 15), Nr. 93, V. 100. Folz könnte seinen Sprachgebrauch an dieser Stelle einem älteren Kontakt zum Hauptredaktor der Kolmarer Liederhandschrift, Nestler von Speyer, verdanken; vgl. BALDZUHN (Anm. 26), S. 242, Anm. 29. Vgl. den Abdruck bei TAYLOR, Beitrag (Anm. 4), S. 273f. Vgl. RSM 'Frau/9/520b. Zur Sachs'schen Meisterliederhandschrift q ausführlich SCHANZE ( A n m . 2), B d . 1, S. 1 1 4 - 1 3 1 .

49

Zwei abgesetz man haben sol, ein steig also (BML [Anm. 2], Nr. 24 [RSM 'Frau/ 2/544], V. 45; „Zwei Stollen braucht man, und einen Abgesang"; vgl. zur Datierung

50

Die Tabulatur von 1540/60 benutze ich nach der Faksimile-Ausgabe: Das handschriftliche Generalregister des Hans Sachs. Reprintausgabe nach dem Autograph von 1560 des Stadtarchivs Zwickau von Hans Sachs mit einer Einfuhrung von REINHARD HAHN, Köln, Wien 1986 (Literatur und Leben, N. F. 27), hier Bl. [118] r -[121] r ; zur Kolmarer Tabulatur vgl. Anm. 4. Vgl. Kolmarer Liederhandschrift (Anm. 39), Bl. 28 v , 3 0 " , 30 rb , 30 v a , 43 r b , 94 r a , 236", 241", 492 rb , 512", 552", 632", 680", 721", 736", 756": [die] stey/steyg/steyge, [die] steig. Die Beischriften wurden meistenteils nachträglich und bei der Melodienotation angebracht. Dass mit dem Femininum steig der melodisch überleitende Steg gemeint sein könnte, wird insbesondere durch die Belege auf Bl. 30 ausgeschlossen, die sich statt dessen am Rande des Textes befinden: Sie sollen dem Leser dort den Überblick über den komplizierten Bau des Frauenlob zugeschriebenen Überzarten Tons

SCHANZE ( A n m . 2), B d . 1, S. 81.

51

Michael Baldzuhn

180

scheint dieses steic/steige nicht mehr, statt dessen das sicher vom Verb , absingen/zu Ende singen' abgeleitete abgesang.52 Auch dazu könnten wiederum poetologische Strophen wie die obenstehende - vgl. also wil ich betüten / die Stollen im absingen53 - das Vorbild geliefert haben. Hier hatten die Meistersinger demnach Entscheidungsspielraum. Indem sie abgesang statt steic wählen,54 ist der Akzent auf ihre eigene Auffuhrungspraxis, den möglichst fehlerfreien Liedvortrag in der Gemerk-Interaktion, den Vorgang des Heruntersingens verschoben. Welche Bildvorstellungen mit den Bezeichnungen Stollen und steic an die Struktur der Strophe herangetragen werden, lässt sich beim schlechten Erschließungsstand des Nachsänger-Korpus nicht mit Sicherheit sagen. Das mhd. starke Femininum steige verweist auf die Vorstellung einer steilen Straße, einer steilen Anhöhe.55 GRJMM leitete aus .Stollen' ab, „das ganze Gesätz" ruhe oder säße „gleichsam auf zweien Füßen".56 So reizvoll es wäre, hier das Bild von der Strophe als Haus auszumalen und im Verweis auf den gelehrten Anspruch der Sangspruchdichter und ihrer Nachfolger eine Verbindung zum ubiquitären Bild der Wissenschaft als Gebäude57 zu schlagen: Dies könnte doch zu sehr von der abstrahierenden Aufsicht auf das statisch wahrgenommene Textprodukt gedacht sein. Eine dynamischere Vorstellung wäre die des Weges, der mit dem Textvortrag durch die zwei Pfosten der Stollen hindurch in Richtung einer Anhöhe beschritten wird. Das Bild vom ,Weg der Dichtung' wurde den meisterlichen Lieddichtern wahrscheinlich durch Frauenlobs Selbstrühmung vermittelt, ist

52

erhellen. Vgl. für steig = .Abgesang' auch BML (Anm. 2), Nr. 24 (RSM 'Frau/2/544), V. 45. Das ganze Bar dürfte noch ins 14. Jahrhundert gehören; vgl. SCHANZE (Anm. 2), Bd. 1, S . 81. Vgl. ζ. B. Nürnberg 1540/60: Generalregister (Anm. 50), Bl. [118] V ; Kolmar 1546: BRIAN TAYLOR: Die verschollene Straßburger Meistersinger-Tabulatur von 1494 und eine bisher übersehene Kolmarer Tabulatur von 1546 im cgm 4997. In: ZfdA 105 ( 1 9 7 6 ) , S. 3 0 4 - 3 1 0 , hier S. 306; Kolmar 1549: PLATE, Gemerkbuch

53 54 55

( A n m . 4 ) , S. 227;

Steyr 1562: FRANZ STREINZ: Die Singschule in Iglau und ihre Beziehungen zum allgemeinen deutschen Meistergesang. Mit einem Beitrag von G. BECKING: Musikkritische Bewertung eines Iglauer Meisterliedes, München 1958 (Veröffentlichungen des Collegium Carolinum, Historisch-philologische Reihe 2), S. 87. GA-S (Anm. 42), XII,210, V. 36f. So auch schon Hans Folz (Anm. 15) in Nr. 93, V. 103; für das dem abgesang vermutlich nachgebildete ,Aufgesang' vgl. oben Anm. 37. LEXER, Bd. 2, Sp. I 1 6 0 f .

56

GRIMM ( A n m . 2 0 ) , S . 4 4 , A n m . 3 1 .

57

Vgl. FRIEDRICH PAULSEN: Geschichte des gelehrten Unterrichts auf den deutschen Schulen und Universitäten vom Ausgang des Mittelalters bis zur Gegenwart. Mit besonderer Rücksicht auf den klassischen Unterricht, Bd. 1, 3., erw. Aufl. hrsg. und in einem Anhang fortgesetzt von RUDOLF LEHMANN, Leipzig 1919, S. 15, Anm. 1; HELMUT

PUFF: Von dem schlüssel aller Künsten / nemblich der Grammatica. Deutsch im lateinischen Grammatikunterricht 1480-1560, Tübingen, Basel 1995 (Basler Studien zur deutschen Sprache und Literatur 70), S. 13-17.

Ein Feld formiert sich

181 58

ihnen jedenfalls recht geläufig und noch Sachs und Nunnenbeck bekannt. Vielleicht sollte die Vorstellung aufgebaut werden, auf den zwei Pfosten der Stollen würde noch etwas aufgerichtet, oder durch die beiden Stollenpfosten hindurch würde mit dem Aufgesang ein steiler Weg erklommen.

IV. Die Verwendungsgeschichte von versus/reim kann im Rahmen dieses Beitrags nicht in der erforderlichen Detailliertheit dargelegt werden. Nachstehend nur eine Beobachtung zur Position Adam Puschmans, die es erlaubt, den Ansatz einer letzten Stufe des oben vorgeschlagenen Phasenmodells weiter zu untermauern. In den vor Puschman belegten Tabulaturen kommt versus schlicht nicht vor. Auch im Vorfeld der Tabulaturen habe ich es bisher nur einmal bei Hans Folz finden können, der hier wiederum, wie schon bei stoll, nicht repräsentativ erscheint und nicht durchdringt (weis, wort, fers seint gebunden).59 Der Breslauer Meistersinger benutzt in seiner ersten Ausgabe des Gründlichen Berichts von 1571 an exponierten Stellen die Doppelformel ,Verse oder Reime'. 60 Er erscheint damit wiederum, wie schon bei liet/par, auf gelehrten Ausgleich bedacht. Zugleich wird deutlich, dass die Sache ,Vers' auch als Reim bezeichnet werden kann. Daran lässt Puschman selbst an anderen Stellen,61 aber auch die etwa die Steyerer Tabulatur Lorenz Wessels von 1562, die später der Iglauer zugrunde gelegt wurde, keinen Zweifel, wenn dort festgestellt wird, es fänden sich wenig thön, die 14 silben in einem reimen bringen 62 Der Strophenbestandteil Vers scheint damit weniger als autonomes Gebilde im Rahmen eines abstrakten Strophenschemas, sondern vielmehr zuerst von seiner Bindung her, also gleichsam ,νοη hinten' wahrgenommen worden zu sein. Genauso beginnt 58

59 60

61 62

Vgl. GA (Anm. 25), V.I15, V. 12 (dazu SABINE OBERMAIER: Von Nachtigallen und Handwerkern. .Dichtung über Dichtung' in Minnesang und Sangspruchdichtung, Tübingen 1995 [Hermaea, N. F. 75], S. 325, Anm. 156); Nunnenbeck (Anm. 45), Nr. 46, Str. 1, V. 21; Sachs (Anm. 45), Nr. 33, V. 24 u. 34, V. 3. Schon Hornburg (siehe oben V. 14) kennt das Bild: vgl. RÖLL (Anm. 23), S. 278f. Weitere Belege etwa BML (Anm. 2), Nr. 42 (RSM 'Frau/7/510), V. 18f. ( u n d f i i e r e in üfdie sträzen, /Da man der künste adel vint); Nr. 47 ('Frau/5/51 la), V. 22 (gesanges pfat); Nr. 83 ('Regb/4/539), V. 15 (üf meisterlicher sträz)·, Nr. 84 ('Regb/4/579), V. 65 (üf der künste sträz)·, Nr. 151 ('Ehrb/1/507), V. 5 (üf der künste ban)·, Nr. 200 ('KonrW/6/ 508b), V. 57 (üf künste richer sträze). Folz (Anm. 15), Nr. 90, V. 106; „Melodie, Text, Verse sind verbunden". So im Untertitel auf dem Titelblatt des Gründlichen Berichts von 1571 (Anm. 4), Bd. 2, Bl. ΑΓ: Vnd wie die art vnd eigenschafft der Versen oder Reimen / ThSn vnd Lieder zu erkennen sey, zudem in der Überschrift zum ersten Traktat Von eigenschafft der Versen oder Reymen /so zum Meistergesang gehSeren (Bl. l r ). Ζ. B. ebd. Bl. ΒΓ: Die stumpffe Reymen / müssen an der zal gerade Sillaben haben / wo nicht ein Pauß oder klingender Schlag Reymen vor her gehet. STREINZ (Anm. 52), S. 88; „wenige Töne mit einem Vers, der 14 Silben enthält".

182

Michael Baldzuhn

übrigens Hans Folz einen Entwurf zu einem Reimpaargedicht: in dem er sich zunächst die Reimworte untereinander notiert, die dann nach vome hin zu vollständigen Versen aufgefüllt werden müssen.63 Kurz fassen muss ich mich schließlich im Hinblick auf die Vielzahl der Bezeichnungen, die nun gerade auf verschiedene Arten von Reimen beziehungsweise jene Fehler zielen, die man beim Reimen begehen konnte. Allein angesichts des Nürnberger Schuelzetels von 1540/60 wäre hier an einem guten Dutzend verschiedener Belegstellen anzusetzen. Dass die Tabulaturen besonders auf diesem Feld Textstrukturen versprachlichen, kann nach dem bis hierher Ausgeführten nicht überraschen: einmal, weil die Bezeichnung reim eben auch den Vers mit abdeckt, unter ihr etwa auch falsche Silbenzahlen erfasst werden, vor allem aber, weil den Reimen ja bereits die spezielle Aufmerksamkeit der Fremdtonverwender gegolten hatte, die damit als Textkünstler ihr Legitimationsdefizit als Tonkünstler aufgefangen und sich in der Folge verstärkt den textuellen Qualitäten ihrer Produkte zugewandt haben. Nur mit einem Beispiel sei versucht, auch für diesen Bereich plausibel zu machen, dass bei aller gerade hier scheinbar besonders ausgeprägten Kontinuität Wissenstraditionen keineswegs kontinuierlich durchlaufen. Die aus dem Lateinischen entlehnte Bezeichnung differentia zieht den besonderen Unmut Puschmans auf sich: Ein differentz vernempt aus folgenden Exempeln / Als wenn einer sunge / Sanctus Paulus schreib / für Sanctus Paulus schrieb / Oder / Der Hirt damals die Schaff hin treib / für / Der Hirt damals die Schaff hin trieb. Diß klügeln mochte man auch wol vnterlassen / Jch kan es auch nicht fur strejflich vrtheilen.64

Ähnlich beklagt Lorenz Wessel in seinem Entwurf einer Steyerer Tabulatur, es gäbe v/7 tichter mercker vnd Singer [...] von denen es nicht recht ver standen wirt.65 Man ist sich im 16. Jahrhundert nicht einig, welcher Fehler denn hier eigentlich bezeichnet werden soll. Das liegt wohl daran, dass differentia zunächst einmal einen gelehrten Sachverhalt aus dem Kontext der Schöpfungslehre und Astronomie bezeichnet hat. Darauf deutet schon ein Spruch Heinrichs von Mügeln, der bereits mit underscheit übersetzt (V. 6-10): ο form er aller dinge, mit underscheit du hast in dines herzen ringe der elementen last getichtet und getirmet ...66

63 64 65 66

10

Vgl. MAYERS Einleitung in die Folz-Ausgabe (Anm. 15), S. IX u. XVI. Gründlicher Bericht von 1571 (Anm. 4), Bd. 2, BI. 8'. Zit. nach TAYLOR, Gründlicher Bericht (Anm. 4), Bd. 1, S. 29. Heinrich von Mügeln (Anm. 3), Teilbd. 2, Spr. 350, V. 7-11; Übersetzungsvorschlag: „O du Gestalter allen Seins, unterscheidend (d. h. trennend/mit Abstand voneinander?, Mannigfaltigkeit erzeugend?, auf verschiedene Weise?) hast du in der Umfassung deines Herzens die Masse der Elemente durchgestaltet und alles an seinen Ort gestellt."

Ein Feld formiert sich

183

Ein Neunerbar aus k im Langen Ton des Marner stellt die Septem artes liberales sehr ausfuhrlich vor und hält für die Astronomie fest: Astronomya din reginer vnd diffenencze scheyt den rang (RSM 'Marn/T^Sa). 6 7 Das allein in k überlieferte Dreierbar RSM 'Frau/9/523 im Goldenen Ton Frauenlobs nennt wiederum die Septem artes als Voraussetzung rechter Meisterschaft und bringt dijferentz in Verbindung mit der Astronomie (V. 9-18): daz sin die künste syben / die han den höchsten grunt Und loyca verpfante ir meinsterliches gunne / sie kan yn wol bescheren / waz ire [Hs. iren] synne cliben / astronomyen wegen / daz czentrum verhöre / ein schone differentz als sie der meister fant //[Textausfall] 68

10

15

Zu Beginn der dritten Strophe (V. 41-43) rückt die Bezeichnung aber auch bereits in den engeren Zusammenhang der Rede von den Text- und Liedqualitäten ton, wis vnd materie: Sjng ich den höchsten grale / hing ton wis vnd materie / ich ding ein differentze ...69

bringt in der Einleitung zu seiner reichhaltigen Zusammenstellung poetologischer Strophen aus k nicht nur zahlreiche weitere Belege, in denen differentz „probably belongs to the art of poetry in a narrow sense", ohne dass sie das, was damit bezeichnet werden sollte, entscheidend erhellten.70 Hingewiesen wurde von ihm auch bereits auf den bemerkenswerten Umstand, dass diese Texte durchgehend eine positive Qualität der kunst bezeichnen, wogegen die Tabulaturen unter differenz dann einen Fehler verstehen.71 Diese UmbePOYNTER

67

Zit. nach dem Abdruck bei POYNTER (Anm. 2), S. 342-351, hier S. 350, V. 154.

68

Zit. nach POYNTER (Anm. 2), S. 217-219, hier S. 217; Übersetzungsvorschlag: „Dabei handelt es sich um die Septem artes liberales: Sie bieten das alles übertreffende Fundament. Die Logik gab ihre meisterliche Erlaubnis als Pfand. Sie ist in der Lage, ihnen (denen, die meisterlich dichten wollen) richtig zuzuteilen, was ihr Kunstverstand (dann) gedeihen lässt. Von Seiten der Astronomie her sollst du das Zentrum prüfen. Eine feine dijferentz, so wie sie der meister aufgefunden hat..." 69 Übersetzungsvorschlag: „Wenn ich den kostbaren Gral besinge, (und klopfend) Ton, Melodie und materia heraustreibe, setze ich eine differentze fest." 70

POYNTER (Anm. 2), S. 63-67, zit. S. 66; vgl. überdies LEONARD KOESTER: Albrecht

Lesch. Ein Münchner Meistersinger des 15. Jahrhunderts. Diss. München 1933, Schloss Birkeneck 1937, S. 112, V. 12: diffrencz jr krön mit wuonn auff gat (RSM 'Lesch/6/6, spät und einzig in der Wiltener Handschrift überliefert). 71

POYNTER (Anm. 2), S. 67.

184

Michael Baldzuhn

wertung, die gelehrte Herkunft wie die fehlende Spezifikation haben jenen inhomogen Wortgebrauch bewirkt, den Wessel und Puschman beklagen. Wenn Puschman die Praxis, Liedvorträge und Texte mit Hilfe von Tabulaturen mehrfach ausdrücklich an die alten Meister anbindet, die es ebenso gehalten hätten, wird nicht erst er „metapoetic antecedents" 72 wie die oben zitierten im Sinn gehabt haben. Die Verwendungsgeschichte von differentz hingegen unterläuft diese Legitimation durch Identität gerade.

V. Die Eigenarten der verschiedenen Verdichtungsschübe des poetologischen Vokabulars in der Sangspruchtradition nach Frauenlob lassen sich schließlich vom Zentralbegriff der merker ausgehend noch einmal ganz kurz zusammenfassend in den Blick bringen. Diese stehen von alters her, sprich vom Minnesang her, zunächst dem Minnepaar feindlich gegenüber, durchaus aber noch nicht besonders aufmerksam auch dem Sangspruchdichter oder gar Fremdtonverwender. Die alten merkcere werden bekanntlich seit dem 14. Jahrhundert immer häufiger - und etwa beim Mönch von Salzburg dann durchweg - von den klaffern abgelöst.73 Wohin aber sind erstere eigentlich entschwunden? Ich bin mir sicher, dass die alten merkcere in die späte Sangspruchtradition nach Frauenlob abgewandert sind, der das merken zu einem konstitutiven Grundzug ihrer Poetik geworden ist, weil ihren Wortkunstwerken eine intellektuell gesteigerte Rezeption wichtig war - sowohl in ihrer Eigenart eher als Text- denn Tonkunst, deren Qualität man mit neuen Bildern (Stollen, steig) einzufangen versuchte, als auch hinsichtlich ihrer Verarbeitung einer sehr präsenten literarischen Tradition, die man dem Publikum in den fingierten Streitgedichten bildhaft vor Augen gestellt hat. Von hier aus sind die merker dann freilich weitergezogen, ins Gemerk der Meistersinger nämlich. Denen blieben von den komplexen Bildvorstellungen der Nachsänger indes nur noch die Rahmen, da sie auf dieses späthöfische, enge Zusammenspiel von Autor und Publikum im Vortrag hauptsächlich schriftlich vermittelt und ohne eine durchgreifende Kontinuität auf der Rezipientenseite Zugriff hatten. Die Meistersinger freilich waren dankbar, überhaupt eine durch Alter und Herkommen geadelte Kunstpraxis, der ihr hochliterarisiertes Expertenpublikum verloren gegangen war, für ihre eigenen Zwecke zur literarischen Identitätsbildung unter obrigkeitsstaatlichen Bedingungen heranziehen zu können: Sie versuchten diese Kunstpraxis getreu nach72

73

So TAYLOR, Prolegomena (Anm. 4), schon im Titel des Beitrags. An anderer Stelle spricht er von „Vortabulaturen" (TAYLOR, Beitrag [Anm. 4], S. 248). Beide Bezeichnungen sind missverständlich, weil teleologisch angelegt. Vgl. zuletzt: Die weltlichen Lieder des Mönchs von Salzburg. Texte und Melodien. Hrsg. v o n CHRISTOPH MÄRZ, T ü b i n g e n 1 9 9 9 ( M T U 1 1 4 ) , S. 3 8 1 .

Ein Feld formiert sich

185

zuzeichnen, ohne doch zu ahnen, dass sie sich von dieser alten kunst wiederum ein sehr eigenes Bild entworfen hatten.

III.

Implizite Poetologie

ALMUT SCHNEIDER

Licht-Bilder Zur Metaphorik poetischer Sprechweisen in frühmittelhochdeutschen Texten

The author analyses metaphors as forms of poetological reflection in the German literature of the early Middle Ages. By creating manifold versions of the invocatio Dei, the spiritual poetry of the 12th century with its intention of imparting knowledge about the doctrine of salvation expresses the tension between the request for inspiration and the conception of authorship by which the poet claims his own poetic license. Especially in the metaphors of light and dew, radiance and reflection this tension achieves poetic form in the artist's work. The poet who artistically shapes the language also refers to the Creator acting as a craftsman, which shows that it is precisely these metaphors which in their variety, dynamics and strength of reflection - deal with the conflict between inspiration and the laws of poetic autonomy.

In der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters findet sich kein Äquivalent zu den lateinischen Poetiken mit ihrem Rückgriff auf antike Dichtungstheorien.1 Dennoch, so ist in der neueren Forschung in verschiedenen Ansätzen dargelegt, suchen auch die volkssprachigen Dichtungen, sich auf eigene Weise in den Diskurs des Poetologischen einzuschreiben.2 Sie tun dies vielfach - und keineswegs auf Prolog oder Epilog begrenzt - mittels einer impliziten Poetik, die, außerhalb von Systematik und begrifflicher Schärfe, zumal in indirekten, unsystematischen poetologischen Aussageformen innerhalb der Texte selbst zur Entfaltung kommt.3 Einen besonderen Raum nehmen dabei Formen uneigentlichen Sprechens ein, darunter insbesondere Metaphern poetischer Sprech-

1 2

Vgl. WALTER HAUG: Literaturtheorie im deutschen Mittelalter von den Anfängen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts, 2. Überarb. und erw. Aufl., Darmstadt 1992, hier S. 7. Vgl. CHRISTIAN KJENING: Freiräume literarischer Theoriebildung. Dimensionen und Grenzen programmatischer Aussagen in der deutschen Literatur des 12. Jahrhunderts. In: D V j s 6 6 ( 1 9 9 2 ) , S . 4 0 5 - 4 4 9 ; FRIEDRICH OHLY: M e t a p h e r n f ü r d i e I n s p i r a t i o n . In:

Euphorion 87 (1993), S. 119-171; HORST WENZEL: Die .fließende' Rede und der

,gefrorene' Text. Metaphern der Medialität. In: Poststrukturalismus. Herausforderung an die Literaturwissenschaft. Hrsg. von GERHARD NEUMANN, Stuttgart, Weimar 1997 (Germanistische Symposien, Berichtsbände 18), S. 481-503. 3

V g l . KJENING ( A n m . 2 ) , S. 4 0 6 .

190

Almut Schneider

weisen, die SUSANNE KÖBELE als das „poetologische Zentrum der Texte" bezeichnet hat.4 Auch in der frühen deutschen Literatur, namentlich des 12. Jahrhunderts,5 führt die Suche nach solchen poetologischen Aussageformen auf eine reich entfaltete Bildlichkeit um Sprache und um den Prozess der literarischen Produktion,6 wie sie besonders eindrucksvoll im Prolog zum ersten Teil der Driu liet η von der maget des Priesters Wernher (um 1172) zusammengefugt ist: Neben Bildern der Tiefe, der Verwandlung, des organischen Wachsens und des Handwerks nehmen Bilder des Lichtes und Glanzes von Sprache und Dichtung einen eigenen Raum ein und suchen sich auf spezifische Weise im Diskurs um Beschreibungsformen des Literarischen zu artikulieren. Wie sind diese Bilder ausformuliert und in welcher Weise lassen sich mögliche Deutungsperspektiven skizzieren? Ausgehend von der Frage nach einer impliziten poetologischen Reflexion in den Texten selbst, soll es im Folgenden darum gehen, Metaphern, insbesondere aus dem Bildbereich von Licht und Glanz, nach ihrem poetologischen Aussagewert zu befragen, dies jedoch nicht auf der Suche nach Begrifflichkeit oder Vorbegrifflichkeit und auch nicht zuerst in der Rückbildung an die lateinische Poetik und Rhetorik, sondern danach, in welcher Weise solche Reflexionen innerhalb der Texte selbst mittels dieser Bilder entfaltet sein können.8

4

SUSANNE KÖBELE: Umbesetzungen. Zur Liebessprache in Liedern Frauenlobs. In: Geistliches in weltlicher und Weltliches in geistlicher Literatur des Mittelalters. Hrsg. von CHRISTOPH HUBER/BURGHART WACHTNGER/HANS-JOACHIM ZIEGELER, T ü b i n g e n

5

6

2000, S. 213-235, hier S. 214. Vgl. darüber hinaus zur Hermeneutik der Metapher Dies.: Bilder der unbegriffenen Wahrheit. Zur Struktur mystischer Rede im Spannungsfeld von Latein und Volkssprache, Tübingen 1993 (Bibliotheca Germanica 30), S. 52-68. Zur religiösen Dichtung des 11. und 12. Jahrhunderts vgl. GISELA VOLLMANN-PROFE: Von den Anfängen zum hohen Mittelalter. Wiederbeginn volkssprachiger Schriftlichkeit im hohen Mittelalter (1050/60-1160/70), 2., durchges. Aufl., Tübingen 1994 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit 1,2); vgl. auch DIETER KARTSCHOKE: Geschichte der deutschen Literatur im frühen Mittelalter, 3., aktual. Aufl., München 2000. Vgl. dazu die umfassenden Darstellungen von KLENING (Anm. 2); HAUG, Literaturtheorie (Anm. 1), S. 46-74; ERNST HELLGARDT: Zur Poetik frühmittelhochdeutscher Dichtung. In: Geistliche Denkformen in der Literatur des Mittelalters. Hrsg. von KLAUS GRUBMÜLLER/RUTH SCHMIDT-WIEG AND/KLAUS SPECKENBACH, M ü n c h e n 1 9 8 4 ( M ü n -

7 8

stersche Mittelalter-Schriften 51), S. 131-138. Priester Wernher: Maria. Bruchstücke und Umarbeitungen. Hrsg. von CARL WESLE, 2. Aufl. besorgt durch HANS FROMM, Tübingen 1969 (ATB 26). Der methodische Ansatz folgt dabei dem Vorschlag KIENINGS (Anm. 2), S. 412: „Die Analyse hat sich also den Texten selbst anzuvertrauen, hat Terminologie, Metaphorik und Struktur signifikanter Stellen, hat das jeweilige Verhältnis von Implizitem und Explizitem zu erfassen und schließlich den Übergang zu größerer programmatischer Ausdrücklichkeit und zunehmend konstitutiver Intertextualität (etwa ab 1150/70) anzudeuten."

Licht-Bilder

191

1. Sprache als göttliche Inspiration Wer sprechen will, zumal in Texten, in denen das Sprechen in der eigenen Volkssprache noch nicht selbstverständlich ist, bedarf der Legitimation und der Vergewisserung des göttlichen Beistandes, der auf vielfache Weise in den Prologen der jeweiligen Werke eingeworben wird.9 Die Bitte um göttliche Inspiration ist schon in der antiken Literatur gängiger Texteingang und erscheint in den lateinischen Dichtungslehren als Teil der rhetorischen Topik, 10 ihren festen Ort findet sie jedoch auch in den frühesten Zeugnissen volkssprachiger Schriftlichkeit.11 In der Vorauer Sündenklage12 - und ihr folgend auch im Anegengen - nimmt sie ihren Ausgangspunkt mit dem Psalmvers Davids (Ps 50.17), der wörtlich an den Anfang gestellt ist: Domine, labia mea aperies! nu gestade, herre, mir des, daz ich din lop gesprechen mege. minen munt insliuz unde phlege der werche miner zungen ...

9

5

Für die moralisch-allegorischen Dichtungen des 11. und 12. Jahrhunderts sei die Inspirationsbitte, so HAUG, trotz ihres topischen Charakters, als „ihr eigentlicher theoretischer Angelpunkt" anzusehen (WALTER HAUG: Schriftlichkeit und Reflexion. Zur Entstehung und Entwicklung eines deutschsprachigen Schrifttums im Mittelalter. In: Schrift und Gedächtnis. Beiträge zur Archäologie der literarischen Kommunikation. Hrsg. von ALEIDA ASSMANN/JAN ASSMANN/CHRISTOPH HARDMEIER, M ü n c h e n

1983 [ A r c h ä o l o g i e der

literarischen Kommunikation 1], S. 141-157, hier S. 148). 10 Den Ursprung der lateinischen Tradition der Inspirationsbitte setzt PAUL KLOPSCH mit Iuvencus an (Einführung in die Dichtungslehren des lateinischen Mittelalters, Darmstadt 1980 [Das lateinische Mittelalter], hier S. 21-26); vgl. auch WALTER HAUG: Wege der Befreiung von Autorität: Von der fingierten Quelle zur göttlichen Inspiration. In: The Construction of Textual Authority in German Literature of the Medieval and Early Modem Periods. Hrsg. von JAMES F. POAG/CLAIRE BALDWIN, Chapel Hill/N. C., London 2001 (University of North Carolina Studies in the Germanic Languages and Literatures 123), S. 31-48, hier S. 33; wieder abgedruckt unter dem Titel: Autorität und fiktionale Freiheit. In: W. H.: Die Wahrheit der Fiktion. Studien zur weltlichen und geistlichen Literatur des Mittelalters und der frühen Neuzeit, Tübingen 2003, S. 115-127, hier S. 117f. Uber die weitere Geschichte des Inspirationsgedankens handelt ausführlich CHRISTOPH J. STEPPICH: Numine afflatur. Die Inspiration des Dichters im Denken der Renaissance, Wiesbaden 2002 (Gratia 39). 11 Innerhalb der deutschen Literatur des Mittelalters findet sich dieser Zusammenhang schon bei Otfried von Weißenburg; vgl. HAUG, Literaturtheorie (Anm. 1), hier S. 40f. 12 Die Vorauer Sündenklage. In: Kleinere deutsche Gedichte des 11. und des 12. Jahrhunderts. Nach der Auswahl von ALBERT WAAG neu hrsg. von WERNER SCHRÖDER, Tübingen 1972 (ATB 71/72), S. 193-222. Überliefert ist der Text in der Vorauer Handschrift aus dem letzten Viertel des 12. Jahrhunderts. 13 Das Anegenge. Hrsg. von DIETRICH NEUSCHÄFER, München 1969 (Altdeutsche Texte in krit. Ausgaben 1).

192

Almut Schneider (Vorauer Sündenklage, V. 1-5; „Herr, öffne meine Lippen. Nun, Herr, erlaube mir, dass ich Dein Lob sprechen kann. Öffne meinen Mund und behüte die Werke meiner Zunge".)

Nur dann kann der Dichter sprechen, wenn Gott ihm den Mund öffnet. Sehr viel selbstbewusster - und zugleich metaphorisch - wird Konrad von Würzburg das Verb entsliezen verwenden, wenn er seinen Auftrag zum Silvester14 beschreibt: so hat ein herre mich gebeten daz ich entslieze die getät, die sin lip begangen hät... (V. 76-78; „So hat ein edler Herr mich gebeten, die Taten zu offenbaren, die er [Silvester] vollbracht hat".)

Hier aber, in der Vorauer Sündenklage ist es noch nicht der Dichter, der für sich in Anspruch nimmt, ein Geschehen ausdeuten zu können,15 hier ist es Gott, der den Mund des Dichters als Instrument seiner Offenbarung entsliezen und die Werke seiner Zunge hüten soll: der Dichter versteht sich als Gottes Sprachrohr, als sein Instrument, das Gott erst zum rechten Klingen bringen kann. Wie auch im Anegenge, findet sich der Psalmvers oftmals im Kontext der Episode um Bileams Eselin und steht dort für die Bitte, dass Gott, der einem stummen Tier die rechten Worte schenken kann, diese Gnade auch dem Menschen gewähren möge. 16 In der Vorauer Sündenklage jedoch ist es nicht allein die Furcht dichterischen Unvermögens, die die Anrufung Gottes motiviert, hier scheint zudem der Kontext aufgegriffen, in den der Psalmvers selbst gesetzt ist. Diesen Psalm singt David, nachdem er sich „mit Batseba vergangen" hat.17 Die Anrufung Gottes geschieht somit im Bewusstsein schwerer Sünde, mehr noch: die Sünde ist es, die den Mund verschlossen hat, so dass der Gesang nicht fließen, sondern Konrad von Würzburg: Die Legenden, Bd. 1: [Silvester]. Hrsg. von PAUL GEREKE, Halle a. S. 1925 (ATB 19). 15 Bei Konrad von Würzburg erscheint der Dichter damit hier als auctor, als derjenige, der „den in einem Text implizierten Sinn .herausholt'." So JAN-DIRK MÜLLER: Auctor Actor - Author. Einige Anmerkungen zum Verständnis vom Autor in lateinischen Schriften des frühen und hohen Mittelalters. In: Der Autor im Dialog. Beiträge zu Autorität und Autorschaft. Hrsg. von FELIX PHILIPP INGOLD/WERNER WUNDERLICH, St. Gallen 1995, S. 17-31, hier S. 18. 16 Vgl. Nm 22.27f.; Anegenge (Anm. 13), V. 9-14; HAUG, Literaturtheorie (Anm. 1), S. 49f.; Ders., Wege der Befreiung (Anm. 10), hier S. 34; KLENRNG (Anm. 2), S. 427. Auch zeichnet der Psalmvers den Beginn des Stundengebetes aus. 17 Vgl. den Beginn des 50. Psalms (Ps 50.1 f.): victori canticum David cum venisset ad eum Nathan propheta quando ingressus est ad Bethsabee. („Für den Chormeister. Ein Psalm Davids, als der Prophet Natan zu ihm kam, nachdem sich David mit Batseba vergangen hatte.") Biblia sacra iuxta vulgatam versionem. Hrsg. von ROBERTUS WEBER, 4., verb. Aufl. von ROGER GRYSON, Stuttgart 1994. Übersetzung nach: Die Bibel. Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift. Gesamtausgabe. Hrsg. im Auftrag der Bischöfe Deutschlands, 3. Aufl. der Endfassung, Stuttgart 1985. 14

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erst Gottes Erbarmen den Mund wieder öffnen kann, damit der Sänger den Ruhm Gottes verkünde.18 So heißt der unmittelbar vorhergehende Psalmvers: libera me de sanguinibus Deus Deus salutis meae exultabit lingua mea iustitiam tuam. Domine labia mea aperies et os meum adnuntiabit laudem tuam ... (Ps 50.16f.; „Befrei mich von Blutschuld, Herr, du Gott meines Heiles, dann wird meine Zunge jubeln über deine Gerechtigkeit. Herr öffne mir die Lippen und mein Mund wird deinen Ruhm verkünden.")19

An genau diesen Kontext schließt auch die Vorauer Sündenklage an: harte vorhte ich sinen zorn, wände ich mih sculdigen weiz. (V. 27f.; „Sehr furchte ich seinen Zorn, weil ich mich schuldig weiß.")

Es ist die Menschheitsgeschichte bis zurück zum Fall Adams, die den Sprecher in der Vergegenwärtigung des Sündenfalls schuldig werden ließ, denn, so klagt er, sich huoben mine sculde 405 des tages, do Adam dir wart ungehorsam; do viel ich in daz unreht. (V. 405-08; „Meine Schuld begann an dem Tag, als Adam Dir ungehorsam war: da fiel ich in das Unrecht.")

Daneben aber ist es auch die Sprache selbst, die die Schuld zumindest wesentlich mitverursacht, denn so führt die sich anschließende Beichte mehrfach auf das Bekenntnis, mit Worten gesündigt zu haben: ich nesprach mit deme munde niwar huoh unde spot. so ich scolde sprechen din lop, so was ich unmuozech ... 480 (V. 477-80; „Ich sprach mit dem Mund nichts als Hohn und Spott. Wo ich [aber] Dein Lob sprechen sollte, da war ich [mit anderem] beschäftigt".) 20

Sprache, so fuhrt der Dichter der Vorauer Sündenklage vor, ist Gabe und Gefahrdung zugleich. Sie ist Geschenk Gottes, denn er gab uns wizze unde sin / unde machete uns redebere, wie es in der Rede vom heiligen glouben des Armen Hartmann heißt (Str. 13, V. 8f.);21 zugleich aber kann Sprache in der

18 Zum Zusammenhang von Sünde und Erkenntnisfähigkeit vgl. HAUG, Wege der Befreiung (Anm. 10), S. 32f.: Es ist die Sünde, die dem Menschen den Sinn des Heilsgeschehens verdunkelt, so dass er der Interpretation bedarf, der Prozess der Deutung und Läuterung aber „ist auf göttliche Gnade, auf göttliche Inspiration angewiesen." 19 Die Übersetzung folgt der Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift (Anm. 17). 20 Dass unmuozech hier die Beschäftigung mit anderem als dem Lob Gottes, also die Ablenkung davon meint, wird deutlicher noch kurz darauf in V. 483, in dem der Sprecher bekennt: ze chirchen was ich trage („Beim Kirchgang war ich träge"). 21 Des Armen Hartmann Rede vom heiligen glouben. In: Die religiösen Dichtungen des 11.

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Vorauer Sündenklage auch zum Vehikel für die Sünde werden, denn der geöffnete Mund kann das Einfallstor für den Teufel sein: swenne ich ettewenne start 775 unde vil gerne bcete dich, niemer nemag ich uf tuon minen munt, so der verwazene hunt newaiz wanne zuo vert. 780 (V. 775-80; „Wann immer ich irgendwo stehe und Dich so gerne anbetete, niemals kann ich meinen Mund öffnen, so ich doch nicht weiß, wann der verfluchte Hund zustößt.")

Doch auch die Rettung aus diesem Dilemma geschieht mittels Sprache, denn die Rede ist zugleich der Weg, sich gnadesuchend an Gott zu wenden, um sich zu reinigen. Das Sündenbekenntnis vollzieht sich so im Gebet, das nicht enden will und darf: unde scezze ich naht unde tach, so nedorft ich niemer gedagen ... (V. 452f.; „...und säße ich Tag und Nacht, so dürfte ich [doch] niemals schweigen".)

In der wiederholenden Anrufung zuerst Marias, dann aber Gottes selbst, lässt der Text die Gegenwart des Gespräches mit Gott nicht abbrechen: Nu höre du, vrouwe, minen ruof (V. 76); nu vernim mich suntcere (V. 228); nu vernim mine stimme (V. 288); so vernim, herre, mine gebete (V. 293); nu vernim riuwigen mich (V. 427). Auch mit der den Text strukturierenden Wiederholung der Anrufung Gottes erscheint das liturgische Beichtgebet umgesetzt in poetische Sprache:22 die Durchformtheit religiösen Sprechens wird zum Material dichterischen Sprechens. Die Bitte um Inspiration ist auf diese Weise überführt in den Hymnus des Dichters, der sich sprechend der Gegenwart und Gnade Gottes versichern will und dabei zugleich einen Teil der Verantwortung seiner Schuld sogar auf den zurückweist, der ihn nicht standhafter erschaffen wollte: du newoldest mich vester machen (V. 799). Ist es hier also die Schuldhaftigkeit des Menschen, die die Gefahr seines Scheiterns begründet, so begegnet der Dichter der daraus resultierenden Furcht, ihm könne misslingen, Gottes Wahrheit angemessen in Sprache zu fassen, mit der Bitte um Unterstützung. Nur mit Gottes Hilfe kann Dichtung gelingen, und so überträgt der Dichter Gott, vertraut ihm an, was er tun will. Auch wenn die

22

und 12. Jahrhunderts. Nach ihren Formen besprochen und hrsg. von FRIEDRICH MAURER, 3. Bde., Tübingen 1964-70, hier Bd. 2, S. 569-628. Für die gesamte Gruppe der sogenannten Sündenklagen führt DIETER KARTSCHOKE (Anm. 5; S. 390) aus, dass sie „einer älteren lateinischen Dichtungstradition folgen und das Beichtgebet auf unterschiedliche Weise poetisch umsetzen".

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unmittelbare Anrufung Gottes fehlt, so gehören auch die Eingangsverse zum Jüngsten Gericht der Frau Ava in den Kontext dieser Furcht:23 Nu sol ich rede errechen, vil vorhtlichen, von dem jungisten tage... (V. 1-3; „Nun will ich im einzelnen erzählen, angsterfüllt, vom Jüngsten Tag".)

Nicht allein der Gegenstand ihrer Rede, die Apokalypse, ist furchteinflößend, Furcht ist auch der Grundtenor des Redegestus selbst. Wird Sprechen auf diese Weise in mehrfacher Hinsicht zum Wagnis, so steht dem die Zuversicht auf den Beistand Gottes gegenüber, an dessen Hilfeversprechen der Dichter ihn erinnern kann, wie er es in den Prologversen der Altdeutschen Exodus zu Beginn des 12. Jahrhunderts ausspricht:24 Herre, gehuge wole waz dü spräche, die rede dü noch ie war lieze; suer in dinen minnon ieht wolle redenon, daz er üf täte den munt, dü eruultest ime in an der stunt, er wäre äne sorgen, ime newurde nieht for uerborgen.

25

(V. 21-28; „Herr, gedenke wohl, was Du sprachst, deine Worte, die du noch stets wahr werden ließest: wer auch immer in der Liebe zu Dir etwas reden wollte, daß, wenn er den Mund öffnete, Du ihn ihm zur selben Stunde erfüllen würdest. Er sei ohne Furcht, vor ihm würde nichts verborgen.")

Die Zusage Gottes, demjenigen, der sprechen will, nichts zu verbergen, bindet der Dichter an eine zentrale Motivation seines Sprechens: das Erkennen und Ergründen der Wahrheit Gottes, das gleichfalls nur mit seiner Hilfe gelingen kann. Die Verben errechen, entsliezen, durchgründen verweisen auf dieses Ziel, und so setzt auch des Armen Hartmann Rede vom heiligen Glouben in der Zuversicht ein, Gott werde den Dichter mit den rechten Worten erfüllen:25 ,... tuo uf dinen munt, ich irvullen dir zestunt, daz du maht sprechen, mine wort rechen.' (Str. 3, V. 3f.; „Öffne Deinen Mund, ich erfülle ihn Dir sogleich, so daß Du sprechen kannst, meine Worte ergründen.")

Mit der invocatio Dei also ist Sprache als „göttlicher Initiations- und Gnadenakt" gekennzeichnet.26 Darüber hinaus jedoch liegt in der Bitte um Inspiration 23

Text und Übersetzung in: Frühe deutsche Literatur und lateinische Literatur in Deutschl a n d 8 0 0 - 1 1 5 0 . H r s g . v o n WALTER HAUG/BENEDIKT KONRAD VOLLMANN, Frankfurt a.

24 25 26

M. 1991 (Bibliothek des Mittelalters 1), S. 728-751. EDGAR PAPP: Die altdeutsche Exodus. Untersuchungen und kritischer Text, München 1968 (Medium Aevum 16). Des Armen Hartmann Rede vom heiligen glouben (Anm. 21). KlENING (Anm. 2), S. 410.

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auch eine eigene Form des Literarischen begründet: mit ihr schaffen die Dichter ein Konzept von Autorschaft, in dem eine andere Stimme spricht als die eigene, und in dem so ein Ort des Anderen konstelliert ist. Dabei kreisen die Texte auf vielfache Weise um das Verhältnis des Sprechers zu Gott. Auch die Vorauer Sündenklage lässt sich als ein Beispiel lesen für das Phänomen christlicher Aussage, die Linearität und elementare Geschichtlichkeit der diachronen Reihe, die Entfaltung des Heilswerks in der Geschichte, j e neu aufzubrechen in der unmittelbaren, synchronen Relation zwischen Mensch und Gott. 27

Damit aber vermitteln die Texteingänge mit der Anrufung Gottes und der Bitte um Inspiration nicht allein die topische Anbindung an die antike Literatur, sondern verdeutlichen eine Spannung zwischen Demut und Selbstbewusstsein des Dichters in seinem Verhältnis zu Gott, die vielleicht eher noch als die Überlagerung zweier einander kontrastierender Positionen des dichterischen Selbstverständnisses zu beschreiben ist: zum einen als Instrument Gottes, zum anderen aber zugleich als dessen Gegenüber, der in der Anrufung Gottes, im Drängen auf sein Gehör immer schon spricht und dabei einen eigenen Raum des Poetischen für sich beansprucht, den er mit seinem Gesang füllen kann, und der, indem er in den Dialog mit Gott tritt, ihn zugleich an seine Zusage erinnern und sich der göttlichen Gegenwart versichern kann. Genau diese Überlagerung, so möchte ich im Folgenden zu zeigen versuchen, findet ihre diskursive Darstellung in der Bildlichkeit poetologischer Sprechweisen, insbesondere innerhalb des Metaphernfeldes von Licht und Glanz.

2. Licht und Wort Von Anfang an, mit dem Beginn des Schöpfungswerkes Gottes, sind Licht und Sprache eng miteinander verbunden. Dies findet auch in den Zeugnissen der frühen deutschen Literatur des Mittelalters Ausdruck, und so stellt sie das Annolied unmittelbar nebeneinander in einen Vers. Beide bestimmen sie den Ursprung der Welt:28 In der werilde aneginne, duo liht war unte stimma ...

(V. 2,lf.; „Am Anfang der Welt, als das Licht war und das Wort".) Dem Beginn des Johannesevangeliums folgend wird Gott selbst als das Wort bezeichnet, stimma steht für verbum, darüber hinaus jedoch ist er zugleich als

27

28

Ebd. S. 41 Of. Auch findet sich hier die „Korrespondenz zwischen der Präsenz des Göttlichen in der Welt und dem Wirken Gottes im menschlichen Geist" (so HAUG, Literaturtheorie [Anm. 1], S. 50). Text und Übersetzung folgen der Ausgabe: Das Annolied. In: Frühe deutsche Literatur (Anm. 23), S. 596-647.

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das Licht apostrophiert.29 So ist Gott nicht allein logos, auch zwischen Schöpfer und Licht ist die Differenz metonymisch aufgehoben. Dies findet sich gleichfalls, wenn er in dem Gedicht Scoph von dem lonei0 als herer liuhtcere (Str. 10, V. 11) bezeichnet ist, oder der Priester Wernher diese Einheit in seiner Maria31 formuliert als: got selbe ist der sunne (Hs. D, V. 2937). Neben Gottes ewigen Urglanz jedoch tritt sogleich das geschaffene Licht als sein erstes Schöpfungswerk. So vermittelt das Anegengen nicht die Vorstellung eines unbewegten Nebeneinanders von Licht und Wort, sondern das dynamische Hervortreten des einen aus dem anderen: er hiez daz lieht

werden

und die engele dar inne: 195 daz was sin erste stimme, die got ie gesprach. (V. 194-97; „Er ließ das Licht entstehen und die Engel darin, das war sein erstes Wort, das Gott jemals sprach.")

Die Schöpfung des Lichtes (mit den Engeln darin) ist der Inhalt des ersten Wortes, das Gott spricht, mit diesem Wort setzt der Schöpfungsprozess ein. Damit erscheint auch zwischen Wort und Werk die Differenz aufgehoben, indem sich Gottes Schöpfung durch Sprache vollzieht. Die Verbindung zur eigenen, dichterischen Sprachfähigkeit zieht das Lob Salomons, das in seiner Inspirationsbitte Gott als das Licht der Welt apostrophiert und genau diese Anrufung als invocatio Dei mit der Bitte verknüpft, dem Dichter die Weisheit Salomos zu übermitteln, damit er sprechen kann:33 Inclita lux mundi, du dir habis in dinir kundi erdin undi lufti unde alli himilcrefti, du sendi mir zi mundi, 5 daz ich eddilichin deil muzzi kundin di gebt vili schoni di du deti Salomoni... (V. 1-8; „Inclita lux mundi [herrliches Licht der Welt], du hältst in deinem Erkennen Erde und Luft und alle Himmelskräfte, lege du es mir in den Mund, dass 29

30 31 32 33

Vgl. den Kommentar ebd. S. 1428 zu V. 2,1 f.: Die Gleichsetzung mit dem Licht sei, so HAUG/VOLLMANN, aus dem Johannesevangelium (Io 1.4) herangezogen. Dies bedeutet jedoch zugleich eine Variation des Bibelwortes, denn dort heißt es lediglich, in Gott sei das Leben und dieses Leben sei das Licht der Menschen. Mir erscheint zudem bedenkenswert, ob stimma auch hier, BMZ entsprechend (Bd. 11,2, S. 639a, s. v. stimme), nicht eher als Übersetzung von vox bzw. sonus zu verstehen ist. Dann wäre spezifisch die klangliche Seite der Sprache in den Blick genommen und als Sprachklang, damit auch die himmlische Glossolalie assoziierend, in Korrespondenz zum Licht gesetzt. Scoph von dem löne. In: Die religiösen Dichtungen (Anm. 21), Bd. 2, S. 260-277. Anm. 7. Anm. 13. Text und Übersetzung in: Frühe deutsche Literatur (Anm. 23), S. 702-717.

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ich, wenigstens teilweise, Kunde geben kann von der überaus herrlichen Gabe, die du Salomon verliehen hast".)

Das Licht also ist es hier, 34 das im Gefolge der Weisheit auch die Sprachfähigkeit vermittelt und so, in Umkehrung des Schöpfungsbeginns, nicht aus dem Wort hervorgeht, sondern als göttlicher Urglanz selbst Worte sendet und so zu deren Ursprung wird. Zum Klingen aber bringt diese Worte der Dichter als das Instrument göttlicher Offenbarung. Doch nicht allein Gottes Wahrheit und sein Schöpfungswort werden als Licht bezeichnet, das St. Trudperter Hohelied verwendet die Lichtmetapher auch für den biblischen Hymnus. Der zweite Werkeingang leitet von einer metaphernreichen Charakterisierung der cantica canticorum über zu dem Wunsch, dessen Gesang möge nun einsetzen: 35 lüte dich, heiteriu stimme, daz dich die unmüezegen vernemen. ganc her vür, süezer tön, daz die vernemenden dich loben. hebe dich, wünneclicher clanc, daz du gesweigest den kradem der nü hebet iuch, heiligen noten der wünneclichen musicae.

unsaeligen weite.

[...] nü genc üf heiterer tac. du rinnest üf, heitere sunne des ewigen liehtes. (V. 6,22-7,12; „Werde laut, heitere Stimme, dass die Unruhigen dich vernehmen. Geh hervor, süßer Ton, dass die Hörenden dich loben. Hebe an, wonnenreicher Klang, damit du den Lärm der unseligen Welt zum Schweigen bringst. Nun hebt an, ihr heiligen Noten der wonnenreichen Musik. [...] Nun gehe auf, heiterer Tag. Steige auf, heitere Sonne des ewigen Lichtes.")

Indem die Wendung ,heitere Sonne' auf die .heitere Stimme' zu Beginn der zitierten Verse rekurriert, ist auch die Lichtmetapher zurückverwiesen auf den siiezen ton und den wünneclichen clanc: Das Erklingen des Wortes ist als Aufscheinen des Lichtes gefasst. Der Vergleich des Hohenliedes mit der aufgehenden Sonne erstreckt sich damit nicht allein auf die Ausstrahlung des Göttlichen im Werk oder die in mystischer Auslegung greifbare „Lehre der liebenden Gotteserkenntnis", sondern greift aus auf dessen kunstvolle Gestalt und somit auf das poetisch durchformte Wort: auch höchste (biblische) Dichtkunst kann metaphorisch als Licht gefasst sein. 36 H A N S B L U M E N B E R G hat gezeigt, auf welch vielfältige Weise Licht als Metapher der Wahrheit von den Anfängen metaphysischen Denkens an verwendet worden ist, die ,Aussagefähigkeit und subtil[e] Wandlungsmöglichkeit" der Lichtmetapher bezeichnet er als „unvergleichlich". Wenn hier in der differenzierten Verwendung der Lichtmetaphorik, mit Gottes Urglanz und dem geschaf-

34

Vgl. HAUG, Literaturtheorie (Anm. 1), S. 48.

35

Text und Übersetzung: Das St. Trudperter Hohelied. Eine Lehre der liebenden Gotteserkenntnis. Hrsg. von FRIEDRICH OHLY, Frankfurt a. M. 1998 (Bibliothek des Mittelalters 2). Vgl. OHLYs (Anm. 35) Kommentar zu dieser Stelle, S. 516-519.

36

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fenen Licht als seinem ersten Schöpfungswerk, mit Licht als Inspirationsquelle dichterischer Kunst wie auch als Bezeichnung für diese selbst, Bestehen und Ausströmen göttlicher Wirkkraft, Sein und Offenbaren ihr Bild finden, so erweist sich auch hier das Licht als eine Chiffre, in der das „Verhältnis von Einheit und Vielheit, von Absolutem und Bedingtem, von Ursprung und Abkunft" Ausdruck findet. 37

3. Licht als Bild von Konstanz und Bewegung Ein Aspekt dieser Vielfältigkeit, der für den Kontext des dichterischen Sprechens zentral scheint, ist die Spannung von Konstanz und Bewegung. Gottes ewiges Leuchten benennt der Priester Wemher im Prolog seiner Mariendichtung38 explizit als den Ursprung der Lehre, die der Apostel Matthäus vermittelt habe, und der er selbst in seiner Dichtung folgen will: von dem ewigem urschine er chunde wole chosen, uon der lilien vnt uon der rosen, div der dorne nien hat. 135 (Hs. D, V. 132-35; „... von dem ewigen Urglanz konnte er gut sprechen, von der Lilie und von der Rose, die keinerlei Dornen trägt.")

Doch die Zeitlosigkeit göttlichen Lichtes wird zugleich überführt in die Rede des Apostels. Auch darin liegt - vergleichbar dem Verfahren der Vorauer Sündenklage - ein Moment der Vergegenwärtigimg, mit dem Gottes Unendlichkeit in Sprache und damit in Zeit umgesetzt wird. Diese Umsetzung in Bewegung findet ihre Analogie bei Augustinus im 11. Buch seiner Confessiones. Der Wunsch, das Phänomen der Zeit zu erfassen, führt Augustinus über die Erkenntnis, das Zeit messbar ist in der Länge und Kürze der Silben eines Verses, zum Wunsch, selbst zu singen.39 Der Kontrast aber bleibt jeweils deutlich markiert: Der menschlichen Bewegung steht die dauernde Gegenwart ewigen Lichtes gegenüber. Eine Dynamisierung anderer Art liegt dem Bild des Lichtstrahls als Zeichen von Bewegung und Vermittlung zugrunde, wie es zunächst im theologischen Kontext formuliert ist: Die enge Zusammenfügung von Licht und Wort, die den Schöpfungsbeginn auszeichnet, findet ihre Analogie bei der Menschwerdung Gottes: So wie das Licht aus dem Wort entstanden ist, so kommt auch Christus durch das Wort in die Welt und wird zugleich selbst wiederum als das Licht 37 38 39

HANS BLUMENBERG: Licht als Metapher der Wahrheit. Im Vorfeld der philosophischen Begriffsbildung. In: Studium Generale 10 (1957), S. 432-447, hier S. 432. Anm. 7. Vgl. Augustinus: Bekenntnisse. Lateinisch und Deutsch. Eingel., übers, und erläutert v o n JOSEPH BERNHART. M i t e i n e m V o r w o r t v o n ERNST LUDWIG GRASMOCK, Frankfurt

a. M. 1987, lib. XI, 28,38.

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bezeichnet: Maria, die - dem Vorauer Marienlob folgend - fori eineme Worte wart perehaft,40 gebiert, so der Priester Wernher,41 das Licht: si gebar die schönen svnne (Hs. A, V. 17). Auf diese Weise ist Maria als Vermittlerin zwischen der göttlichen und der menschlichen Sphäre gekennzeichnet. Die Verfasserin des Arnsteiner Mariengebets aus der Mitte des 12. Jahrhunderts erläutert, wie diese Vermittlerfunktion Mariens zu denken sei:42 so wie das Licht von der Sonne ausgeht und sie dennoch nicht dunkler wird, so kam das göttliche Kind an aller slahte ser (V. 6) durch Maria in die Welt. Wem dies unmugelich (V. 16) erscheine, der merke daz glas, daz dir [Maria] is gelig: daz sunnen liet schinet durg mittlen daz glas, iz is alinc unde luter sint, als iz e des was. (V. 17-19; „... der beachte das Glas, das Dir gleicht: das Sonnenlicht scheint mitten durch das Glas hindurch, es ist danach unversehrt und rein, so wie es zuvor war.")

Aus dem zur Veranschaulichung der Jungfrauengeburt gewählten Vergleich wird im nächsten Schritt Gleichsetzung: Du bis daz alinge glas (V. 22), setzt die Dichterin ihre Reflexion fort. Durch das Glas Mariens fällt Gottes Licht in die Welt und teilt sich mit, ohne jedoch an seiner Substanz zu verlieren. Damit ist Priester Wernhers Bild des Lichtes gegenüber Gottes urschin entscheidend variiert: im Strahl erhält Licht Richtung, Bewegung und Strahlkraft. Mit dem Wechsel von der Sonne zum Lichtstrahl wird im Arnsteiner Mariengebet die Vorstellung des Lichtes als ewig und unbewegt - als Metapher für Gottes ewige Wahrheit - weitergeleitet in ein Bild für die Offenbarung und Menschwerdung Gottes, mit der die Zeitlosigkeit von Gottes Heil in die Zeitlichkeit der Heilsgeschichte übertragen wird, die dieses Heil dynamisiert und vergegenwärtigt, anders jedoch, als sich dies im Übergang des ewigen urschines in die Rede des Apostels vollzieht: es ist das Licht selbst, das sich aus eigenem Antrieb mitteilt, durch den unbewegten und unveränderten Kristall hindurch, der zum zentralen, jedoch passiven Instrument dieses Geschehens erwählt ist - in Analogie zum Dichter als Sprachrohr Gottes. Auch Konrad von Würzburg ist dieses Bild geläufig, wenn er in der Goldenen Schmiede43 über Maria sagt: von dir quam der mandelkerne durch die schalen ganz: reht als der liehten sunnen glänz

40 Das Vorauer Marienlob. In: Frühe deutsche Literatur (Anm. 23), S. 850-857, V. 70 („... von einem Wort schwanger wurde"). 41 Anm. 7. 42 Das Arnsteiner Mariengebet. In: Kleinere deutsche Gedichte (Anm. 12), S. 173-183. Die Bezeichnung als Mariengebet (die Ausgabe von WAAG/SCHRÖDER nennt es .Marienlied') folgt KONRAD KUNZE: Art. .Arnsteiner Mariengebet'. In: 2VL, Bd. 1 (1978), Sp. 498-500. 43 Die Goldene Schmiede des Konrad von Würzburg. Hrsg. von EDWARD SCHRÖDER, Göttingen 2 1969.

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durch daz unverwerteglas ... 435 (V. 432-35; „Durch dich kam der Mandelkern vollständig durch die Schale hindurch, ganz so wie der Glanz der strahlenden Sonne durch das unversehrte Glas".)

Wenn Konrad nun im Prolog zum Silvester44 seine eigene poetische Absicht in der Weise bestimmt, dass sin lop durliuhtic werden sol als ein luter spiegelglas. (V. 46f.; „Sein Lob soll vollständig strahlend werden, wie ein reiner Glasspiegel"),

so ist zu fragen, ob durliuhtic hier nicht nur als Übersetzung von claritas als eines rhetorischen Begriffes verstanden werden kann, sondern ob nicht insbesondere durch die Verbindung mit dem spiegelglas zugleich ein Bild gegeben ist, das die Fähigkeit der Rede und der Dichtkunst in Analogie zur Eigenschaft des Spiegelglases als eines Instrumentes der Vermittlung setzt:45 so wie der Spiegel mit seinem Kristall Licht reflektieren und damit zugleich transportieren kann, so kann es auch der kunstvoll geformten Rede gelingen, Heilswissen zu vermitteln. Ähnlich Maria, die dem Glas verglichen werden kann, durch das der göttliche Lichtstiahl hindurchfällt, kann auch Dichtung, die das Lob des Heiligen ausformt, in der Wirkung eines Spiegels diesen Strahl lenken. Angespielt ist damit auf die ästhetische Komponente der Dichtung: erst das künstlerisch vollendete, mittels der Sprachkunst des Dichters feingeschliffene Werk wirkt wie ein solcher Spiegel, der das Licht reflektieren und auf diese Weise Heilswissen vermitteln kann: auch der Spiegel wird so zur Metapher der Vermittlung göttlicher Wahrheit in die Welt. Doch seine Sprache ist für Konrad keineswegs nur Einfallstor, weder Dichter noch Dichtkunst sind für ihn nur Instrument für den Offenbarungswillen Gottes, denn im Prozess der Vermittlung, so führt Konrad in der Goldenen Schmiede aus, verändert der Kristall die Farbe des Lichtes: diu sunne verwet nach dem glase ir claren unde ir liehten glänz: swa si durch ez schinet ganz, 780 ez si gel rot oder bla ... (V. 778-81; „Die Sonne färbt in der Art des Glases ihren klaren und hellen Glanz, wo auch immer sie durch dieses vollständig hindurchscheint, es sei gelb, rot oder blau".)

Auch durch das Glas der Sprache, so lässt die Parallelsetzung bei Konrad vermuten, fällt Gottes Wort in die Welt. Dennoch, so beschreibt es zu Beginn des

44 45

Anm. 14 Zum Glasspiegel des Mittelalters, der in seiner Verbindung von Glas und Blei in der marianischen Spiegelsymbolik des Mittelalters von zentraler Bedeutung ist, vgl. GENOVEVA NITZ: Art. . S p i e g e l · . In: Marienlexikon. Hrsg. von REMIGIUS BÄUMER/LEO

SCHEFFCZYK, Bd. 6, St. Ottilien 1994, S. 237-239. Das Glas, das das Licht unversehrt hindurchlässt, ist gängiges Sinnbild der Mutterschaft Mariens; vgl. ebd. S. 238.

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13. Jahrhunderts der Verfasser des Pilatus, vermag die eigene Dichtkunst das heilsgeschichtliche Ereignis der Herrlichkeit Mariens nicht zu überstrahlen, wand ih niemer nemach / ubirlühten den tach (V. 141f.; „denn niemals kann ich den Tag überstrahlen").46 Auch seine Dichtkunst kann offenbar leuchten, doch nicht heller als ihr Inhalt.

4. Bildwechsel: Licht und Tau Variation und Abwandlung in der Verwendung der Lichtmetaphern erzeugen den Eindruck einer reichen Dynamik, die innerhalb dieser Metaphorik, aber auch mit ihr erzeugt wird. Dieser Eindruck verstärkt sich durch die vielfaltigen Metaphernreihungen, die mitunter fast unmerklich den Bildbereich wechseln, so von Metaphern des Lichtes nicht selten in die Bildlichkeit von Wasser und vor allem Tau,47 der gleichfalls als Bild der Inspiration geläufig ist und gleichfalls, so fuhrt H O R S T W E N Z E L aus, auf „die lebendige Bewegung und den Lauf der Gedanken im tönenden und verklingenden Wort" verweist:48 Himelische vrowe, / mit geistlichem töwe, / begivz minen gedanch, heißt es beim Priester Wemher. 49 Der Verfasser des Pilatus50 deutet das Fließen der eigenen Rede als Wirkung Mariens, dt mir ze mitternaht taget unde in vinsternisse lühtet unde min herze irvühtet swenne ih irlechen; 75 di mih heizet sprechen sö min zunge ist trocken ... (V. 72-77; „... die es mir zur Mitternacht Tag werden lässt und in der Finsternis leuchtet, und mein Herz befeuchtet, wann immer ich austrockne, die mich sprechen heißt, wenn meine Zunge trocken ist".)

46

Der Text bei KARL WEINHOLD: ZU dem deutschen Pilatusgedicht. Text, Sprache und Heimat. In: ZfdPh 8 (1877), S. 253-288, hier S. 276. Vgl. dazu den kurzen Forschungsa b r i s s v o n JOACHIM KNAPE: Art. . P i l a t u s ' . In:

47

2

V L , Bd. 7 ( 1 9 8 9 ) , Sp. 6 6 9 - 6 8 2 ,

hier

Sp. 677: EDWARD SCHRÖDER datierte die Handschrift auf den Beginn des 13. Jahrhunderts und trat für Herbort von Fritzlar als Autor ein. Dafür sprechen sprachliche und reimtechnische Übereinstimmungen mit dessen Liet von Troye, vergleichbar sind auch die sprachtheoretisch-poetologischen Ansichten und die selbständige Haltung gegenüber der Quelle. Dennoch, so KNAPE, sei die Verfasserschaft der Pilatusdichtung umstritten. Zum Tau als Metapher der Inspiration vgl. OHLY, Metaphern fur die Inspiration ( A n m . 2), S. 1 4 3 - 1 7 1 .

48

WENZEL ( A n m . 2 ) , S . 4 9 5 .

49

Anm. 7, Hs. A, V. 45-47 („Himmlische Herrin, begieße meine Gedanken mit geistlichem Tau"). Anm. 46.

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Mit dem Bildwechsel vom Licht zur Feuchtigkeit, mit der Maria Herz und Zunge des Dichters labt, zielt der Dichter auf den Umschlagpunkt, an dem die Inspiration Mariens in das eigene Sprechen übergeht. Den umgekehrten Wechsel zeichnet Konrad von Würzburg nach, wenn im Silvester51 Gott das Herz der bekehrten jüdischen Gelehrten im Moment ihrer Bekehrung mit sime touwe erviuhtet; ez wart dä schöne erliuhtet mit sime geiste reine. (V. 5 1 4 1 - 4 3 ; „... mit seinem Tau befeuchtet, es wurde da auf schöne Weise mit seinem reinen Geist erleuchtet.")

Auch hier deutet der Bildwechsel den Beginn von etwas Neuem an, sein Zielpunkt ist jedoch nicht die Umsetzung in Rede, sondern die Bereitschaft zur Aufnahme der göttlichen Wahrheit.

5. Der Abglanz des Lichtes im geschmiedeten Werk Gegenüber dem Licht als Bewegung deutet das Bild des Glanzes auf die Existenz eines festen, starren Körpers, der gerade aufgrund dieser Beschaffenheit Gottes Glanz zu reflektieren vermag oder, gemäß mittelalterlicher optischer Vorstellungen, sich mit dem schin des Lichtes verbindet, ohne mit ihm identisch zu werden, so wie sich der Baum - wie Konrad von Würzburg im Silvester52 erläutert - mit dem Licht verbindet und doch gefällt werden kann, ohne dass das Licht dabei Schaden nimmt. Als prominentes literarisches Beispiel dafür lässt sich das Gedicht Die Hochzeit53 aus der Millstätter Handschrift anfuhren, in dessen literarisch höchst selbstbewusstem Prolog Dichtung dem geschmiedeten Kunstwerk verglichen wird: Swer diu zeichene wil began, der sol guoten list haben, also der smit vil guot die wiere in daz golt tuot. 10 daz insigele er furleit, als erz gelernt hat, deiz vil herlichen stat unde niht zergat. (V. 7-14; „Wer die Zeichen verstehen will, der muss großes Können haben, so wie ein kunstreicher Schmied, der Goldstege auf das Gold aufschmilzt: er grenzt das Bild ein, wie er es gelernt hat, so dass es herrlich heraustritt und fest bleibt.")

51 52 53

Anm. 14. Anm. 14, V. 4250-90. Text und Übersetzung folgen der Ausgabe: Die Hochzeit. In: Frühe deutsche Literatur (Anm. 23), S. 784-849. Zur Hochzeit im Kontext poetologischen Sprechens vgl. KJENING ( A n m . 2), S. 4 3 1 - 4 3 4 , s o w i e H e l l G A R D T (Anm. 6), hier S. 1 3 6 - 1 3 8 .

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Im Bild der goldenen Spange, so hat C H R I S T I A N K l E N l N G gezeigt, werden nicht allein Dichtung und Weisheit aufeinander bezogen, sondern es geht um offene vs. verborgene sapientia: die verborgene Wahrheit muss ans Licht gebracht werden. Der Dichter selbst ist Weiser, Offenbarender - und damit nicht nur Produzent des Kunstwerkes, sondern auch Vermittler einer Weisheit, die ihm als ere verliehen wurde und für deren rechte Handhabung er Sorge zu tragen hat.54 Die Ausdeutung der Metapher im Text selbst legt sich dabei nicht fest: die goldene Spange wird der Dichtung, aber auch dem Dichter selbst verglichen, der mit seinem Werk Weisheit vermitteln soll. Zudem wird die Spange auf die Beichte hin gedeutet: die rechte Beichte ist guldin; / daz lat die spangen sin (Die Hochzeit, V. 692f.; „... ist golden. Das soll Euch die Spange bedeuten"). Keines dieser Bilder aber verliert dabei seine Gültigkeit, vielmehr führt der Text vor, in welcher Weise Metaphern weiterentwickelt werden, zu Interferenzen und Sprüngen geführt sind: Dichtkunst ist ein dynamischer Prozess, in der der Dichter immer wieder neu sein Gold suchen helfen und aufdecken muss.55 Auch hier bezeichnet der Glanz die ästhetische Komponente des Dargestellten. Explizit auf Sprache übertragen ist das Bild des Glanzes bei Konrad von Würzburg, der im Engelhard56 betont, seine äventiure wilde (V. 205) habe er in tiuscher worte schine („in den Glanz deutscher Worte") gebracht und von latine / in rime also gerihtet (V. 211-13; „... aus Latein so in Verse gefügt"). Geht es in der Hochzeit also zuerst darum, die Zeichen richtig auszulegen, so ist es für Konrad die kunstvoll gestaltete, poetische Sprache in gebundener Rede, die glänzen kann und so vom Heilswissen einen Abglanz zu erstellen vermag. Auch in der Hochzeit ist Gott als das ausströmende Licht verstanden, das freilich den Heiden verdunkelt bleibt (Tunchil ist diu gotes chraft / ubir alle heidenschaft, V. 83f.), dem Weisen aber zum Glanz seines Werkes verhelfen kann. Als konkurrierende Metapher erscheint das Bild von Gott als dem werkman, der den Menschen aus brode[m] leim („zerbrechlichem Lehm") formt,57 ihn aber auch wie ein Goldschmied bearbeiten kann: das Annolieds% gestaltet den heiligen Bischof Anno zwar als Zielpunkt der Universalhistorie, dennoch verschweigt der Text nicht, welche Mühe Gott hatte, ihn sich zurechtzuschmieden in der Weise, also dir goltsmid duot, der gleichfalls wierin also cleinin („feine Golddrähte") anbringt, goltsteine („Topase") schleift und deren Farbe hervorkehrt (V. 38,3-8):

54

KIENING ( A n m . 2 ) , S . 4 3 2 .

55 56

Anders KIENING (ebd.), der den Aspekt einer solchen Dynamik von Dichtkunst und Vermittlung von Wahrheit nicht in Betracht zieht. Konrad von Würzburg: Engelhard. Hrsg. von INGO REIFFENSTERN, 3., neubearb. Aufl.

57 58

Die Vorauer Sündenklage (Anm. 12), V. 797. Anm. 28.

der A u s g . v o n PAUL GEREKE, T ü b i n g e n 1 9 8 2 ( A T B 1 7 ) .

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also sleif got Seint Annin mit arbeidin manigin. (V. 38,1 lf.; „So schliff Gott Sankt Anno mit vielfacher Mühsal.")

Das Bild von Gott als dem Schmied seines Geschöpfes stellt der Verfasser des Pilatus59 direkt neben das des Dichters, der in gleicher Weise, wie er selbst bearbeitet wurde - ih bin gebougit unde gebogen (V. 52; „ich bin gebeugt und gebogen") - nun auch die Sprache seiner Dichtung bearbeiten und geschmeidig machen kann, so dass sie - so wie er unter der Hand Gottes - ebenfalls gebouge, biegsam, wird. Indem er göttliches und menschliches Wirken in der Schmiedemetapher parallel setzt, formuliert der Dichter des Pilatus selbstbewusst eine Analogie zwischen Gottes Wirken in der Welt und seiner eigenen Sprachfähigkeit und Dichtkunst, die sich gleichfalls dem Eingreifen des Heiligen Geistes verdanken.60 Die Metaphern von Licht und Glanz spiegeln in ihrer vielfältigen Verwendung bereits in den frühmittelalterlichen Texten die Spannung zwischen Demut und Selbstbewusstsein im Selbstverständnis der Dichter, die sich zum einen begreifen als Instrument des Schöpfers, der sich offenbaren will, der einen Strahl seines Lichtes wie durch einen Kristall aussendet und dem Dichter den Mund füllt, zum anderen ist es der Dichter, der - wie der Priester Wernher Gottes urschtn selbst in Rede übertragen will, der in der Zuversicht auf Gottes Hilfe doch selbst zu sprechen beginnt, im eigenen Bemühen, Gottes Wahrheit durch Sprache sichtbar zu machen und leuchten zu lassen. In diesem Sinne will der Priester Wemher - so zumindest im Wortlaut der Wiener Handschrift A dem Rat des Apostels Matthäus folgen und die red an daz lieht / tragen vh des lazzen nieht (Hs. A, V. 1145f.; „... das Gedicht ans Licht bringen und das nicht unterlassen").61 Im Zusatz, dies nicht zu lassen, klingt der Wunsch an, dem Prozess der poetischen Vergegenwärtigung des Heilswissens Dauer zu verleihen. Zum Bildbereich des Glanzes dagegen gehört das Bewusstsein, die Werke, die glänzen sollen, selbst erst ins rechte Licht setzen zu müssen: Metall zu schmieden und Glas zu schleifen, und somit den Gegenstand in eigener Kunstfertigkeit erst zu gestalten, auf den sich dann - wenn er denn glatt und fein genug geschliffen ist, wenn die Worte, dem Spiegelglas gleich, durliuhtic sind - der Glanz des ewigen Lichtes legen kann. Gegenüber dem Dichter, der sich, in Analogie zu Gott als dem werkman, selbst als Handwerker versteht, lautet die Antwort Konrads von Würzburg im Prolog zum Trojanerkrieg, er benötige kein Werkzeug, sondern allein seine Zunge - und den sinn (V. 99), den Gott ihm zu eigen gegeben habe als zwivalt ere, / die got mit siner lere / üf einen tihter hat geleit (V. 68-70; „... zweifache Ehre, die Gott durch seine Fügimg 59 60 61

Anm. 46. Vgl. HAUG, Literaturtheorie (Anm. 1), S. 70-73. Priester Wernher, Maria (Anm. 7); anders in Hs. C, V. 1303-07: Matheus ist der orthabe: / der ratet daz wir uz tragen / die margariten an daz lieht, / daz si vertunchelt werde nieht / in irdischem stoube.

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einem Dichter zuteil werden ließ")-62 Die Parallele zum Dichter der Hochzeit ist nicht zu übersehen.63 In Umkehrung zum Prologbeginn der Vorauer Sündenklage, wo der Mensch das Instrument stellt und Gott den Gesang fügt, gibt Gott hier mit sinn unde mun[d\ (V. 99) die ,Instrumente', der Sänger aber singt aus sich heraus.

6. Schöpfung und Dichtkunst Die Wirkmächtigkeit der Sprache und im Ansatz auch des eigenen Sprechens ist den Autoren des 12. Jahrhunderts bewusst.64 Eindrückliches Zeugnis für dieses Bewusstsein der Schöpferkraft aus dem Wort liefert das Arnsteiner Mariengebet',65 das die Schöpfung Gottes in die Aussage fasst: de bit eineme worte gescuof du werlt alle... (V. 102f.; „ ... der aus einem einzigen Wort die gesamte Welt s c h u f . . . . " )

Aus einem einzigen Wort lässt Gott hier die ganze Welt entstehen. Den Aspekt der Schöpfung durch das Wort führt Rudolf von Ems weiter, der er in seinem Prolog zu Barlaam und Josaphat Gott zum tihter werden lässt, indem er ausfuhrt:66 von nihte hat getihtet din wiser gotlicher list swaz sihtic unde unsihtic ist. (V. 52-54; „Aus Nichts hat Deine weise, göttliche Kunst hervorgebracht, was sichtbar und was unsichtbar ist.")

Das Verb tihten, mit dem der Dichter Gottes Wirken zu erfassen sucht, steht vom Beginn seiner Verwendung an, als Lehnwort tihton, auch im Kontext von 62

Der Trojanische Krieg von Konrad von Würzburg. Nach den Vorarbeiten K. FROMMANNS und F. ROTHS z u m ersten M a l hrsg. d u r c h ADELBERT VON KELLER, Stuttgart

1858 (StLV 44), Nachdruck Amsterdam 1965. Vgl. Die Hochzeit (Anm. 53), V. 59-62: Swen got so geeret, / daz er in den wistuom geieret, / der schot in den zeigen, / die sin niweht eigen („Wen Gott so geehrt hat, dass er ihm Weisheit gegeben hat, der soll sie denen zeigen, die nichts davon haben"). 64 Vgl. KLAUS JACOBI: Sprache und Wirklichkeit: Theoriebildung über Sprache im frühen 12. Jahrhundert. In: Sprachtheorien in Spätantike und Mittelalter. Hrsg. von STEN EBBESEN, Tübingen 1995 (Geschichte der Sprachtheorie 3), S. 77-108, hier S. 77f. 65 Anm. 4 2 . 66 Rudolf von Ems: Barlaam und Josaphat. Hrsg. von FRANZ PFEIFFER, Leipzig 1843 (Dichtungen des deutschen Mittelalters 3). Mit einem Anhang [...], Nachwort und einem Register von HEINZ RUPP, Nachdruck Berlin 1965 (Deutsche Neudrucke, Reihe: Texte des Mittelalters). Zur Schöpfung als einem geläufigen Prologmotiv insbesondere in der geistlichen Dichtung des 12. und 13. Jahrhunderts vgl. C. STEPHEN JAEGER: Der Schöpfer der Welt und das Schöpfungswerk als Prologmotiv in der mhd. Dichtung. In: ZfdA 107 (1978), S. 1-18, hier S. 3-5. 63

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Schriftlichkeit und Dichtkunst und ist als „Bezeichnung für die Tätigkeit eines Verfassers literarischer Werke [...] im 12. Jahrhundert fest etabliert im deutschen Wortschatz."67 So aber ermöglicht es dem Dichter hier, eine Verbindung zwischen dem göttlichen Schöpfungswerk auch zu seinem eigenen Handeln zu ziehen, wenn Rudolf nur wenige Verse später von sich aussagt, er wolle diz mcere tihten (V. 155). Der Unterschied zur göttlichen Schöpfung bleibt dennoch markant: Gott lässt die Welt aus dem Nichts - von nihte - entstehen, als creatio ex nihilo. Der Dichter hingegen beansprucht keineswegs eine vergleichbare Schöpfungsgenialität,68 denn er will - wie er zuvor sagt - das mcere tihten, wie er ez geschriben vant (V. 143). Ihm geht es also darum, zu tihten, was er in lateinischer Quelle vorgefunden hat: seine Aufgabe besteht darin, dem mcere eine neue Form zu geben und es in die Hülle einer neuen Sprache einzugießen. So ist hier mit dem Verbum tihten in seiner zweiten Verwendung nicht mehr der Prozess des Hervorbringens als creatio ex nihilo angesprochen, vielmehr meint tihten an dieser Stelle zuerst, das Vorgefundene zu .ordnen', es durch die Verschriftlichung in Verse in eine kunstvolle und gebundene Form und zudem in die eigene Sprache zu überfuhren. Und auch dies gelingt dem Dichter keineswegs aus sich heraus, denn, so vollendet Rudolf seinen Wunsch im darauf folgenden Vers, er will es durch got in tiusche berihten (V. 156). Dieser Vers eröffnet zwei Verständnismöglichkeiten: Zum einen kann der Wunsch gemeint sein, um Gottes willen, in der Liebe zu Gott also, das Werk eigener Dichtkunst zu vollbringen, zugleich aber ist auch denkbar, dass der Dichter hier einräumt, nur vermittelst der Hilfe Gottes schreiben zu können. Beide Varianten aber stimmen darin überein, dass der Dichter seine Kunst in den expliziten Bezug zu Gott stellt, sein Instrument aber ist er dennoch keineswegs, denn die Analogiesetzung zwischen Schöpfung und Dichtkunst bleibt über die Wiederholung des Verbums tihten bestehen. Sie findet sich zudem dadurch verstärkt, dass der Dichter für sich beansprucht, urhap dises mceres (V. 162) zu sein. Auch damit greift er eine Bezeichnung auf, die zunächst Gott zukommt, der in den ersten Versen als Ursprung aller Dinge benannt ist: sunder missewende / bist dü der urhap genant. (V. 10f.). So unterstreicht Rudolf von Ems auch dadurch den

67

68

Vgl. KURT GÄRTNER: ZU den mittelhochdeutschen Bezeichnungen für den Verfasser literarischer Werke. In: Autor und Autorschaft im Mittelalter. Kolloquium Meißen 1995. Hrsg. von ELIZABETH ANDERSEN u. a., Tübingen 1998, S. 38-45, hier S. 39f„ zit. S. 40; vgl. auch GÄRTNERS Beitrag im vorliegenden Band, S. 67-81. Auch JAEGER (Anm. 66; S. 14) verweist darauf, dass mit tihten und getiht der „literarische Aspekt des Schöpfungswerkes" angesprochen ist. Eine solche kommt nach Augustinus und mit Thomas von Aquin allein Gott zu; vgl. THOMAS CRAMER: Solus Creator est Deus. Der Autor auf dem Weg zum Schöpfertum. In: Literatur und Kosmos. Innen- und Außenwelten in der deutschen Literatur des 15. bis 17. J a h r h u n d e r t s . H r s g . v o n GERHILD SCHOLZ WILLIAMS/LYNNE TATLOCK, A m s t e r d a m

1986 (Daphnis 15, H. 2/3), S. 261-276, hier S. 261-263. Allerdings biete (so ebd. S. 268) gerade die Sprache die Möglichkeit, „Schöpfertum zu entfalten, ohne in unmittelbare Kollision mit der dinglichen Schöpfung Gottes zu geraten."

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Bezug zwischen Gottes Wirken und der eigenen Dichtkunst, die nicht ein Vermögen zur creatio ex nihilo beansprucht, wohl aber im Ansatz Partizipation am Schöpfungsprozess der creatio continua: Indem der Dichter über das Verbum tihten insbesondere die ordnende Kraft der Schöpfung hervorhebt, die dem Geschaffenen immer wieder Form und Maß gibt,69 kann er sein eigenes Handeln genau hier anschließen, denn auch der Dichter gibt dem Bestehenden Form und Ordnung - in der Ordnung der gebundenen, rhetorisch durchformten Rede. Auch damit wird rhetorisch durchformtes Sprechen zur dichterischen Antwort auf Gottes Handeln, und so formuliert auch Rudolf - nicht mittels eines Bildes, sondern über den Begriff des tihtens - eine Position zwischen dem Selbstbewusstsein eigenen Wirkens und dem Wissen um die Notwendigkeit von Gottes Hilfe. Er steht damit in genau der Spannung, die in den Beispielen des 12. Jahrhunderts mit der Metaphorik von Licht und Glanz entworfen ist. So verweisen diese Beispiele auf ein vielfältiges und vielschichtiges Feld, das von Metaphern im Kontext poetischen Sprechens aufgespannt wird. In ihrer Varianz zeigen sie, wie feinsinnig die Texte in ihrer Bildlichkeit aufeinander reagieren können und wie eng auch hier Innovation eingebunden in Konvention erscheint,70 so dass jeweils nach der konkreten Ausprägung der Metapher zu fragen ist, nach ihrer jeweiligen Aktualisierung und Wirkintention.71 Dann aber wird auch deutlich, in welcher Weise gerade die Metaphern den Konflikt von Inspiration und poetischer Eigengesetzlichkeit austragen können. Poetisches Sprechen, zumal in den kleineren geistlichen Dichtungen des 12. Jahrhunderts, orientiert sich auf vielfältige Weise am theologischen Diskurs.72 Konkurrierende Redetraditionen, die der Spannung im Selbstverständnis des Dichters in seinem Verhältnis zu Gott erwachsen, finden Ausdruck in der Vielstimmigkeit einer Metaphorik, deren Bilder auf je eigene Weise zu beschreiben suchen, was Dichtkunst sein kann und welche Rolle dem Dichter zukommt. Mit ihren Abwandlungen, Interferenzen und Sprüngen, die sich intertextuell aber auch innerhalb desselben Textes zeigen können, erweisen sich Metaphern als vielleicht zentraler - Teil des Diskurses über das Poetologische in frühen 69

V g l . JAEGER ( A n m . 6 6 ) , S. 14.

70

Vgl. dazu, die Epoche übergreifend, die Überlegungen von LUTZ DANNEBERG/FRIEDRICH VOLLHARDT: Sinn und Unsinn literaturwissenschaftlicher Innovation. Mit Beispielen aus der neueren Forschung zu G. E. Lessing und zur „Empfindsamkeit". In: Aufklärung 13(2001), S. 33-69. Vgl. RUDOLF DRUX: Des Dichters Schiffahrt. Struktur und Pragmatik einer poetologischen Allegorie. In: Formen und Funktionen der Allegorie. Symposion Wolfenbüttel 1978. Hrsg. von WALTER HAUG, Stuttgart 1979 (Germanistische Symposien, Berichtsbände 3), S. 38-51, hier S. 38f. Vgl. HELLGARDT (Anm. 6), S. 131. Dies gilt auch fur die lateinische Literatur des Mittelalters, vgl. PETER VON MOOS: Was galt im lateinischen Mittelalter als das Literarische an der Literatur? Eine theologisch-rhetorische Antwort. In: Literarische Interessenbildung im Mittelalter. DFG-Symposion 1991. Hrsg. von JOACHIM HEINZLE, Stuttgart 1993 (Germanistische Symposien, Berichtsbände 14), S. 431-451, bes. S. 450.

71

72

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Texten des Mittelalters. Insbesondere mit den Metaphern von Licht, Strahl und Glanz scheint ein Feld aufgespannt, das die Pole von Inspiration und Souveränität, von Vermittlung des göttlichen Heilswissens und eigener Hervorbringung auszumessen sucht und verdeutlicht, welche Dynamik und Reflexionskraft Metaphern entfalten können.73

73

Diese noch sehr vorläufigen Beobachtungen hoffe ich, in monographischem Zusammenhang und in der Ausweitung auf andere Bildbereiche des Poetischen weiter verfolgen zu können.

MARKUS STOCK

in den muot gebildet Das innere Bild als poetologische Metapher bei Burkhart von Hohenfels1

Using the example of two songs by Burkhart von Hohenfels, this contribution examines the way in which metaphors in medieval German love poetry can acquire poetological connotations. In Burkhart's songs IX and XI, the image of the lady within the singer and its cognitive processing play an important role. A detailed interpretation of the songs elucidates the significance of metaphors of copying and creating as well as more traditional metaphors of flowers, adornment, and splendor.

I.

Selbstreflexivität ist ein nicht immer aktivierter, aber grundsätzlich generisch angelegter Bestandteil minnesängerischer Rede. Dies gilt insbesondere für eine gewisse, von K L A U S GRUBMÜLLER beschriebene Spielart des Minnesangs, die in Liedern Friedrichs von Hausen, Heinrichs von Morungen, Reinmars und Walthers wichtige Beispiele hat und in der das Nachdenken über die Minne und das Selbst dominant ist.2 Der zirkulär-reflexive Selbstbezug des Minneliedes wird im Kern durch eine Operation hergestellt, die mit dem textuellen Entwurf des Sänger-Ichs zusammenhängt. Das im Text entworfene Ich ist in einem besonderen Zustand der Minne, ist Liebender in spezifisch minnesängerischem Sinne. Da es im Lied fast gänzlich durch seinen Zustand als Minnender definiert wird, sind sein Sprechen von Minne und die sprachlich vorgeführte Reflexion über Minne auch Reflexion über ,sich selbst'. Diese Selbstreflexion des Sprechers kann gleichzeitig auch eine poetologische Ebene erzeugen. Das 1

2

Dieser Beitrag entstand im Rahmen eines Aufenthalts an der Cornell University (Ithaca/NY), der durch ein Feodor-Lynen-Stipendium der Alexander von Humboldt-Stiftung gefördert wurde. Ich danke Sandra Pott für ihre wertvollen Ratschläge. KLAUS GRUBMÜLLER: Ich als Rolle. .Subjektivität' als höfische Kategorie im Minnesang? In: Höfische Literatur - Hofgesellschaft - Höfische Lebensformen um 1200. Kolloquium am Zentrum für Interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld (3. bis 5. November 1983). Hrsg. von GERT KAISER/JAN-DIRK MÜLLER, Düsseldorf 1986 (Studia humaniora 6), S. 387-406, hier S. 396-406. Zum „Gedankenstil" als neuer Form der lyrischen Rede des Minnesangs ab Friedrich von Hausen siehe HENNIG BRINKMANN: Der deutsche Minnesang. Aufsätze zu seiner Erforschung. In: Der deutsche Minnesang. Hrsg. von HANS FROMM, Darmstadt 1961 (WdF 15), S. 85-166, hier S. 157-166.

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Markus Stock

Minnelied ist als Aussageform bedingende Grundlage für die Selbstbeobachtung des (rollenmäßig stilisierten) Ich. Reflektiert das Ich über ,sich selbst' und ,seine' Minne, so findet gleichzeitig ein Nachdenken über das dieses Ich und die Reflexion bedingende Lied statt: Nachdenken über Minne und über ,sich selbst' ist gattungsbedingt oft auch Nachdenken über den diese Minne und dieses , Selbst' transportierenden Sang. Sangeskunst und Liebeskunst sind so in vielen Minneliedem untrennbar verbunden, und Minnereflexion kann gleichzeitig Kunstreflexion sein. Diese Selbstreflexivität ist der nachdenklichen' Spielart des Minnesangs inhärent, sie muss nicht explizit in den Liedern thematisiert sein. Allerdings finden sich im Minnesang auch von dieser allgemeinen minnesängerischen Selbstreflexivität abgehobene Ausdifferenzierungen eines genuin poetologischen oder metakommunikativen Sprechens. Minnesang kann, wie es PETER STROHSCHNEIDER an Beispielen aus Friedrichs von Hausen und Reinmars Minneliedern diskutiert hat, die Selbstwahrnehmung des Sängers, der es als seine Aufgabe ansieht, für die Gesellschaft vröide zu artikulieren, explizit konfrontieren mit der leidbesetzten Selbstwahrnehmung als Minnender und dabei die Sängerrolle als inszenierte ausweisen. ALBRECHT HAUSMANN hat am Beispiel Reinmars gezeigt, dass mit der Thematisierung dieses Konflikts auch die „Funktion des minnesängerischen Vortrags selbst"4 in die Diskussion geraten kann. Solche Thematisierungen sind in ihrem spezifischen Selbstbezug Teil jener Gruppe von minnesängerischen Sprechhandlungen, die als metakommunikative Akte gelten können. Art und Formen minnesängerischer Kommunikation werden im Minnesang schon früh auch jenseits des beschriebenen Rollenkonflikts Thema. Dies konnte TIMO REUVEKAMP-FELBER am Beispiel des Kürenbergers belegen.5 Vor allem aber hat das BEATE KELLNER in der Lyrik des Kaisers Heinrich gezeigt, dessen Lied Ich grüeze mit gesange die Modalitäten des Sanges und die Vortragssituation ,metakommunikativ' verhandelt.6 3

4

5

6

PETER STROHSCHNEIDER: nu sehent, wie der singet! Vom Hervortreten des Sängers im Minnesang. In: .Auffuhrung' und .Schrift' in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von JAN-DIRK MÜLLER, Stuttgart, Weimar 1996 (Germanistische Symposien, Berichtsbände 17), S. 7-30, hier S. 21-23; JAN-DIRK MÜLLER: Performativer Selbstwiderspruch. Zu einer Redefigur bei Reinmar. In: Ders.: Minnesang und Literaturtheorie. Hrsg. von UTE VON BLOH U. a., Tübingen 2001 [zuerst 1999], S. 209-231. ALBRECHT HAUSMANN: Die vröide und ihre Zeit. Zur performativen Funktion der Inszenierung von Gegenwart im hohen Minnesang. In: Text und Handeln. Zum kommunikativen Ort von Minnesang und antiker Lyrik. Hrsg. von ALBRECHT HAUSMANN, Heidelberg 2004 (Beihefte zum Euphorion 46), S. 165-184, hier S. 178. TLMO REUVEKAMP-FELBER: Fiktionalität als G a t t u n g s v o r a u s s e t z u n g . D i e D e s t r u k t i o n

des Authentischen in der Genese der deutschen und romanischen Lyrik. In: Text und Kultur. Mittelalterliche Literatur 1150-1450. Hrsg. von URSULA PETERS, Stuttgart, Weimar 2001 (Germanistische Symposien, Berichtsbände 23), S. 377-402, hier S. 398-400. BEATE KELLNER: Ich grüeze mit gesange - Mediale Formen und Inszenierungen der Überwindung von Distanz im Minnesang. In: Text und Handeln (Anm. 4), S. 107-137, hierS. 113-119.

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in den muot gebildet

Den gerade dargestellten Ansätzen ist gemeinsam, dass sie sich mit der deutlich identifizierbaren, expliziten metapoetischen und -kommunikativen Rede im Minnesang befassen. Es gibt aber auch Minnelieder, in denen Szenenentwurf und Bildlichkeit metapoetische und -kommunikative Aspekte aufweisen, obwohl sie nicht erklärtermaßen Dichtung über Dichtung sind. Vor allem für das sogenannte Narzißlied (MF 145,1), das nicht explizite poetologische Rede aufweist, wurde auch die Frage nach einer poetologischen Ebene gestellt,7 die aber in einer eigentümlichen Zwischenstellung zwischen Explizit- und Implizitheit verbleibt. In der Tat ist das Narzißlied nicht der einzige Fall, an dem die selbstreflexiven Strukturen innerer Bilder und innerer Szenerien beobachtet werden kann. Ein Hinüberspielen in poetologische Aussagen kann - wie vor allem für Heinrich von Morungen und Walther von der Vogelweide gezeigt wurde8 - vor allem immer dort geschehen, wo Relationen der Spiegelbildlichkeit oder der inneren Abbildung thematisiert werden und wo Metaphernbereiche, die um die Imagination des Ich gruppiert sind, und mit diesen eng verknüpfte Begriffe wie bilde oder bilden die poetische Sprache dominieren. Ziel meines Beitrags ist es zu zeigen, dass zwei Lieder Burkharts von Hohenfels ebenfalls eine solche Metaphorik, die poetologische Implikationen erzeugt, aufweisen. Es geht mir um die genaue Funktionsweise von strophenübergreifenden Metaphernkomplexen, mit deren Hilfe die Lieder thematische Grundbestände wie Kreativität, Kommunikation und Kommunizierbarkeit verhandeln. Sehr wichtig erscheint mir dabei, dass sich die zentralen Metaphern aufgrund ihrer konstitutiven Offenheit9 nicht auf e i n e n Sinn, etwa auf einen 7

GERT KAISER: Narzißmotiv und Spiegelraub. Eine Skizze zu Heinrich von Morungen und Neidhart von Reuental. In: Interpretation und Edition deutscher Texte des Mittelalters. Festschrift John Asher zum 60. Geburtstag. Hrsg. von KATHRYN SMITS/WERNER BESCH/VICTOR LANGE, B e r l i n 1 9 8 1 , S . 7 1 - 8 1 , h i e r S . 7 1 - 7 5 ; SABINE OBERMAIER: V o n

8

9

Nachtigallen und Handwerkern. .Dichtung über Dichtung' in Minnesang und Sangspruchdichtung, Tübingen 1995 (Hermaea N. F. 75), S. 52-57 (mit weiterer Literatur). OBERMAIER (Anm. 7), S. 5f., 48-63 u. 89-107 (weitere Literatur hier S. 6, Anm. 14); JAN-DIRK MÜLLER: Walther von der Vogelweide: Ir reinen wip, ir werden man. In: Ders., Minnesang und Literaturtheorie (Anm. 3) [zuerst 1995], S. 151-176, bes. S. 167172. An dieser Offenheit der Metapher möchte ich auch für den mittelhochdeutschen Minnesang festhalten und folge damit nicht der Forderung GERT HÜBNERS, hochmittelalterliche Metaphern vor dem Hintergrund mittelalterlicher rhetorischer Metapherntheorien als weitaus eindeutigere, geschlossenere literarische Phänomene zu betrachten, als es von gängigen modernen Metapherntheorien, etwa der Interaktionstheorie, vorgegeben ist. Ich meine, dass für Minnesang und Sangspruchdichtung die literarische Praxis, d. h. besonders die lyrische Sinnkonstitution durch Metaphorik, zeigt, dass sich der Prozess der Sinnstiftung nicht stillstellen lässt - auch wenn Metapherntheorien des Mittelalters solches nahe legen mögen. Siehe GERT HÜBNER: Überlegungen zur Historizität von Metapherntheorien. In: Kulturen des Manuskriptzeitalters. Ergebnisse der Amerikanisch-Deutschen Arbeitstagung an der Georg-August-Universität Göttingen vom 17. bis 20.

Oktober 2002.

H r s g . v o n ARTHUR GROOS/HANS-JOCHEN SCHIEWER,

Göttingen

2004 (Transatlantische Studien zu Mittelalter und Früher Neuzeit 1), S. 113-153.

Markus Stock

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poetologischen Sinn, festlegen. Zu beobachten sind Gleitphänomene zwischen den thematischen Ebenen der Minne, der gesellschaftlichen Freude und des Sanges. Ob man in diesen Fällen von poetologischer Lyrik sprechen kann, wie es vor allem S A B I N E O B E R M A I E R für eine Reihe von Minneliedern vorgeschlagen hat (ohne sich dabei aber auf Burkharts Lieder zu beziehen), 10 wird man sinnvoll erst nach der Interpretation entscheiden können.

Π.

Burkhart von Hohenfels: Do der luft mit sunnen viure (Lied II) 1 1 I Do der luft mit sunnen viure wart getempert unde gemischet, dar gap wazzer sine stiure, dä wart erde ir lip erfrischet. dur ein tougenlichez smiegen wart sifröiden frühte swanger. daz tet luft, in wil niht triegen: schouwent selbe üz üf den anger. fröide unde friheit ist der Werlte fur geleit. II

Uns treip üz der stuben hitze. regen jagte uns in ze dache, ein altiu riet uns mit witze in die schiure nach gemache. sorgen wart dä vergezzen, trüren muose fiirder strichen. fröide häte leit besezzen, dö der tanz begunde slichen. fröide unde friheit ist der werlte für geleit.

III Diu vil süeze stadelwise künde starken kumber krenken. eben trätens unde Use. mengelich begunde denken waz im aller liebest wcere. swer im selben daz geheizet, dem wirt ringe sendiu swcere:

5

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5

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5

10 OBERMAIER (Anm. 7); vgl. auch Dies.: Möglichkeiten und Grenzen der Interpretation von .Dichtung über Dichtung' als Schlüssel für eine Poetik mittelhochdeutscher Lyrik. Eine Skizze. In: Mittelalterliche Lyrik: Probleme der Poetik. Hrsg. von THOMAS CRAMER/INGRID KASTEN, Berlin 1999 (Philologische Studien und Quellen 154), S. 11-32. 11 Der vorliegende Text orientiert sich, wie auch andere zitierte Texte und Textstellen in diesem Beitrag, an der Edition in KLD, allerdings unter Rücknahme aller Konjekturen bis auf die im Apparat notierten Fälle. Die Interpunktion ist zum Teil verändert.

in den muot gebildet guot gedenken fröide reizet, fröide unde friheit ist der Werlte fiir geleit. IV Heinlich blicken, sendez kosen wart da von den megden klären, zühteclich si künden losen, minneclich was ir gebären, höher muot was da mit schalle nach bescheidenheite lere, wunderschoene wärens alle.

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fröide unde friheit ist der werlte fur geleit. V Süsä, wie diu werde glestet! sist ein wunneberndez bilde, sö si sich mit bluomen gestet, swer si siht, dem ist trüren wilde, des giht manges herze unde ougen. ein dinc mich ze fröiden lucket: si ist mir in min herze tougen stahelherteclich gedrucket, fröide unde friheit ist der werlte fur geleit.

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11,2: zetache C; 11,7: hat C; 111,6 geheisset C; 111,8: reisset C. I Als die Luft mit dem Feuer der Sonne erwärmt und gemischt wurde und das Wasser seine Hilfe gab, wurde der Leib der Erde erneuert. Von einer heimlichen Umarmung ging sie mit Freudenfrüchten schwanger. Das bewirkte Luft, ich lüge nicht: Schaut selbst hinaus auf den Anger. Freude und Freiheit sind der Welt vor Augen gelegt. II Uns trieb die Stubenhitze hinaus, Regen jagte uns wieder hinein unters Dach. Eine Alte riet uns klug, es uns in der Scheune gemütlich zu machen. Sorgen wurden da vergessen, Traurigkeit musste weiterziehen, Freude hatte das Leid besiegt, als der Tanz zu schreiten begann. Freude und Freiheit sind der Welt vor Augen gelegt. III Die sehr süße Scheunenweise konnte starken Kummer zum Verschwinden bringen. Sie schritten gemessen und sanft. Viele begannen darüber nachzudenken, was ihnen das Allerliebste wäre. Wer immer sich so etwas vornimmt, dem wird die sehnsüchtige Schwermut leicht. An Gutes zu denken, lockt die Freude an. Freude und Freiheit sind der Welt vor Augen gelegt. IV Die schönen Mädchen warfen heimliche Blicke um sich, plauderten begehrlich. Sie konnten mit Anstand fröhlich sein und flirten, ihr Verhalten war liebenswert. Es herrschte - im richtigen Maß - ausgelassene, hohe Stimmung. Wunderschön waren sie alle. Freude und Freiheit sind der Welt vor Augen gelegt. V Oh, wie die Herrliche glänzt! Sie ist eine Freude stiftende Erscheinung, wenn sie sich mit Blumen schmückt. Wer immer sie sieht, ist fern von Trauer. Das bestätigen das Herz und die Augen vieler. Eines zieht mich zur Freude: sie ist mir heimlich in

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Markus Stock mein Herz stahlhart eingedrückt. Freude und Freiheit sind der Welt vor Augen gelegt.

In einer außergewöhnlichen Stilisierung des Natureingangs erzählt die erste Strophe dieses wohl bekanntesten Liedes Burkharts von Hohenfels vom Zusammenspiel der Elemente in einem Zeugungsakt.12 Mit sunnen viure gemischt kann die Luft - mit Unterstützung des erfrischenden Wassers - die Erde befruchten, die mit Freudenfrüchten schwanger wird (1,6). Die Genitivmetapher fröiden frühte ist doppeldeutig: es handelt sich um Früchte der elementaren Freude genauso wie um freudestiftende Gewächse. Was mit ihnen gemeint ist, muss, so legt es die rhetorische Gestaltung dieser Strophe nahe, nicht gesagt werden: in wil niht triegen: / schouwent selbe üz üf den anger (I,7f.). Das Ich wechselt ins Präsens, schafft Aktualisierung des Erzählten in der deiktischen Geste. Die Ellipse wird ,gefüllt' durch den Blick der Hörer („schaut selbst hinaus auf den Anger"). Diese Geste des Ich wird verlängert in den Reftain: fröide unde friheit / ist der werlte für geleit. Das Kollektivum werlte bezeichnet zunächst die Gesamtheit derer, die den Frühling erfahren, aber doch vor allem die, die gerade der dichterischen Geste folgend auf einen imaginierten oder realen anger blicken und die Freudenfrüchte sehen, die ihnen mit dieser Geste für geleit (.vorgelegt') wurden. Die fröide des Refrains bezieht sich direkt auf die kurz vorher eingeführten Freudenfrüchte. Das Lied geht in der zweiten Strophe zurück ins erzählende Präteritum. Die Menschen, „wir", werden durch die Wärme aus der Stube getrieben (wieder aufgenommen wird die räumliche Struktur der ersten Strophe: „wir" innen, die Natur außen) und der Regen treibt uns wieder hinein. Die Rauminszenierung ist bedeutungshaltig: „wir" treten kurz in den Raum der elementaren Freude hinaus, kehren vom Regen hineingejagt sofort zurück, um Freude nicht im natürlichen, elementar befruchteten Raum des angers, sondern im menschengebauten Raum der Scheune nachzuvollziehen. Bezüge zu Neidharts Sommerliedern sind sehr deutlich.13 Sie lassen sich auf der Ebene der handelnden Figuren (die Alte, die Mädchen) und des Handlungsortes (Scheune) sowie in der Gestaltung der Tanzszenerie direkt auf Neidhart (und möglicherweise auch auf Walthers ,Mai-

12

13

Die Darstellung hat eine in die Antike zurückreichende Tradition; vgl. WERNER FECHTER: Lateinische Dichtkunst und deutsches Mittelalter. Forschungen über Ausdrucksmittel, poetische Technik und Stil mittelhochdeutscher Dichtungen, Berlin 1964 (Philologische Studien und Quellen 23), S. 90-106; präzisierend dazu die Rezension von FRANZ JOSEF WORSTBROCK in: AfdA 76 (1965), S. 160-167, hier S. 163f. Auch Burkharts Winterlied (1) und seine Gespielinnenlieder (7 und 15) haben Neidhartische Charakteristika, immer aber mit Momenten der Abgrenzung zum dörperlichen Sang. Vgl. FRANZ JOSEF WORSTBROCK: Verdeckte Schichten und Typen im deutschen Minnesang um 1210-1230. In: Fragen der Liedinterpretation. Hrsg. von HEDDA RAGOTZKY/GLSELA VOLLMANN-PROFE/GERHARD WOLF, Stuttgart 2001, S. 75-90, hier S. 77f.

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lied', L 5 1 , 1 3 1 4 ) , gleichzeitig vielleicht auch, wie FRANZ JOSEF WORSTBROCK annimmt,15 auf eine gemeinsame Grundform eines anspruchsloseren Minnelieds zurückführen. Burkharts Lied hebt sich auffällig gegenüber dem ungeregelten und gewalttätigen Tanztreiben in den Liedern Neidharts ab, indem es immer wieder die zuht des Tanzes betont (111,3; IV,3f. u. 5f.); auch die Klugheit der Alten, deren Rat die Tanz-fröide bei Burkhart befördert, kann als Gegenentwurf zur Geilheit der Alten bei Neidhart gelesen werden.16 Am Ende der Strophe wird deutlich, wie kundig der Refrain eingesetzt ist: Er stützt die innere Verklammerung des Liedes nicht nur durch die Wiederholung selbst, sondern auch, indem er sich immer auf das in der vorangehenden Strophe Gesagte, Gezeigte beziehen lässt: fröide und friheit ist in der kreativen Natur (Str. I) vorgelegt, aber auch im leidbesiegenden menschlichen Tanz (II). Der Parallelismus ist augenfällig: Die Wiederholung gleichartiger Teile legt die Struktur des Liedes frei.17 Strophe III erweitert die Tanzszenerie um zwei Elemente: Die Bedeutung der Musik für die Freude wird angesprochen, wobei ich stadelwise nicht als disqualifizierenden Terminus lese, sondern als Begriff für eine musikalische Darbietung, die dem hier ganz positiv konnotierten Tanz in der zwangbefreiten Szenerie der Scheune gemäß ist. Selbstverständlich weist der Begriff stadelwise, vielleicht auch augenzwinkernd, zurück auf das Lied selbst.18 In einem engen Zusammenhang zur Musik, der Kausalität nicht behauptet, aber nahelegt, wird im weiteren Verlauf der Strophe die innere Vorstellungs- oder Erinnerungsfähigkeit des Menschen angesprochen: III,4f.: mengelich begunde denken, / waz im aller liebest wcere. WORSTBROCK hat die räumliche Organisation des Liedes als einen Weg nach Innen beschrieben,19 und hier ist ein entscheidender Schritt auf diesem Weg zu sehen. Mit dem für das Burkhart-Korpus so wichtigen menschlichen - ,seelischen', .kognitiven' - Innenraum wird, nach der Scheune, eine weitere Innensphäre eröffnet. Die Bedeutung von denken (111,4) und gedenken (111,8) ist nicht klar umrissen: Hier kann sowohl die imaginatio als auch die memoria gemeint sein. 14

15 16

17 18

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Walther von der Vogelweide. Leich, Lieder, Sangsprüche. 14., völlig neubearb. Aufl. der Ausg. KARL LACHMANNS mit Beiträgen von THOMAS BEIN und HORST BRUNNER hrsg. von CHRISTOPH CORMEAU, Berlin, New York 1996, Lied 28. WORSTBROCK (ANM. 13), S. 77-89. Vgl. etwa Neidharts Sommerlied 1 (Die Lieder Neidharts. Hrsg. von EDMUND WLESSNER, fortgef. von HANNS FISCHER, 5. Aufl. hrsg. von PAUL SAPPLER. Mit einem Melodieanhang von HELMUT LOMNITZER, Tübingen 1999 (ATB 44). JURIJ M. LOTMAN: Die Struktur literarischer Texte, München 1972, S. 196. Vielleicht ist auch das Wort als Intertextualitätssignal, als eine Anspielung auf die Neidhart-Tradition, zu lesen; bei Neidhart kommt das Wort allerdings, soweit ich sehe, nicht vor. Schon im Attribut ließe sich aber wieder die Abgrenzung vom dörperlichen Sang festhalten: die stadelwise ist v/7 süeze. WORSTBROCK (Anm. 13), S. 77; ähnlich schon JUTTA GOHEEN: Mittelalterliche Liebeslyrik von Neidhart von Reuental bis zu Oswald von Wolkenstein. Eine Stilkritik, Berlin 1984 (Philologische Studien und Quellen 110), S. 104f.

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Das Gedicht wechselt nun wieder ins Präsens, diesmal aber in ein die allgemeine Erfahrung einer Regel fassendes Präsens.20 Auf eine solche Erfahrungsregel zielt die swer ... ifer-Konstruktion der Verse III,6f.: „Wer immer sich das Denken an das Liebste selbst aufgibt, dem wird Sehnsuchtsschmerz leicht." Dies ist in ein Jagd- bzw. Lockbild (reizen; 111,8) gefasst: guot gedenken zieht Freude an (111,8). Der Refrain schafft erneut Parallelisierung, und so wird das zuletzt zum Thema gemachte gedenken durch Positionsäquivalenz (die im strophischen Lied ja immer auch Melodieäquivalenz ist, was den Konnex verstärkt) mit den in den vorhergehenden Strophen vor dem Refrain entworfenen Feldern verknüpft: der schaffenden Natur und dem leidbesiegenden menschlichen Gemeinschaftstanz. Die vierte Strophe bietet eine erotisierte, ganz auf die unverheirateten Frauen (standesunspezifisch als megde bezeichnet) bezogene Tanzschilderung im Präteritum. Begehren wird hier in den Vordergrund gerückt. Es ist perspektivisch als männliches Begehren gekennzeichnet, auch wenn die jungen Frauen im blicken, kosen und lösen (IV, 1 u. 3) als Handelnde erscheinen. Offenbar in erneuter Abgrenzung zum Neidhartischen dörperlichen Sang werden den jungen Frauen zuht (,gute Erziehung'; IV,3) und bescheidenheit (,angemessenes Urteil'; IV,6) zugesprochen. Dennoch steht die Strophe im Zeichen des männlichen, begehrenden Blickes. Beides - das minnestiftende Verhalten wie die Perspektivierung - leiten über zur fünften Strophe. Diese vollendet die das Lied insgesamt prägende Bewegung ins Innere. Sprechende Rückbezüge auf zentrale Partien des Textes lassen die Strophe als Höhepunkt des Liedes erscheinen. Im Zentrum steht diu werde, deren strahlender Anblick die Erzeugung von Freude im gegenwärtigen Augenblick epiphaniehaft bündelt21 und für die Öffentlichkeit aller (V,4) sowie für die Heimlichkeit im Herzen des Ich erfahrbar macht: sist ein wunneberndez (,freudetragendes', ,freudebringendes') bilde, / so si sich mit bluomen gestet (,wenn sie sich mit Blumen schmückt'; V,2f.). Bilde meint hier zunächst bloß Erscheinungsbild, äußeres Aussehen. Allerdings bereitet das Wort bilde gleichzeitig den Höhepunkt des Liedes vor: Dem äußeren Bild entspricht nämlich exakt das innere Bild, das sich in das Herz des Ich stahelherteclich22 ( V , 8 ) eingedrückt hat. Das ruft den im Minnesang konventionellen Bestand der Dame im Herzen auf,23 dazu aber vor allem die mit diesem Bestand verbundenen Fragen der 20

21 22

23

KLAUS GRUBMÜLLER (Die Regel als Kommentar. Zu einem Strukturmuster in der frühen Spruchdichtung. In: Wolfram-Studien 5 [1979], S. 22-40) hat die sprachliche Struktur solcher Formeln für die mittelhochdeutsche Spruchdichtung grundsätzlich beschrieben. Diese epiphaniehafte Bündelung wird durch die Gegenwartsform des Verbs gesteigert. .Stahlhart'; das Wort ist stark betont durch die drei Hebungen, die es trägt; vgl. HELKE JAEHRLING: Die Gedichte Burkharts von Hohenfels, Hamburg 1970 (Geistes- und sozialwissenschaftliche Dissertationen 4), S. 21. XENIA VON ERTZDORFF: Die Dame im Herzen und Das Herz bei der Dame. Zur Verwendung des Begriffs ,Herz' in der höfischen Liebeslyrik des 11. und 12. Jahrhunderts.

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inneren Repräsentation, auch der Produktivität des Inneren: bilde kann sich eben auch auf ein inneres Bild beziehen.24 In einem - wenn auch schwierig zu deutenden - poetologischen Kontext findet es sich an prominenter Stelle bei Walther.25 Im Burkhart-Korpus selbst spielen innere Repräsentationsprozesse bekanntlich eine große Rolle.26 Mit dem ,stahlhart' geprägten inneren Bild wird der Bildbereich der Münzprägung eingespielt,27 und mit ihm Konnotationen der Dauerhaftigkeit und Eindeutigkeit, aber auch des Wertes, der allgemein anerkannten Wertspeicherung und der Wertgarantie, die das ,Münzbild' bietet. Den vergänglichen Freuden des Frühlings und des Tanzes wird so das innere Bild als dauer- und werthafte Alternative gegenübergestellt. In all der Freude hat das Ich also wirklich ein dinc, eine besondere Sache, die es allein ze fröiden lucket (V, 6).

In: ZfdPh 84 (1965), S. 6-46; FRIEDRICH OHLY: Cor amantis non angustum. Vom Wohnen im Herzen. In: Ders.: Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung, Darmstadt 1977 [zuerst 1970], S. 128-155; SEBASTIAN NEUMEISTER: Das Bild der Geliebten im Herzen. In: Ders.: Literarische Wegzeichen. Vom Minnesang zur Generation X . H r s g . von ROGER FRIEDLEIN/SABINE GREINER/ANNETT VOLLMER, H e i d e l b e r g

24

2004 (GRM-Beiheft 18), S. 11-28; BEATE KELLNER: Gewalt und Minne. Zu Wahrnehmung, Körperkonzept und Ich-Rolle im Liedcorpus Heinrichs von Morungen. In: PBB 119 (1997), S. 33-66, hier S. 44-47. Auf die „unsichere Semantik" von bilde geht SUSANNE KÖBELE ein (Frauenlobs Lieder. Parameter einer literarhistorischen Standortbestimmung, Tübingen, Basel 2003 [Bibliotheca Germanica 43], S. 189). Ergänzend lässt sich bemerken, dass bilden zumindest im Kontext gelehrter Übersetzung für imaginari verwendet wird (Belege aber erst ab dem 14. Jahrhundert). So gibt die mhd. Thomas-Übersetzung aus einer Handschrift des 14. Jahrhunderts imaginari mit bilden wieder (Middle High German Translation of the Summa Theologica by Thomas Aquinas. Ed. with a Latin-German and a German-Latin G l o s s a r y by BAYARD QUINCY MORGAN/FRIEDRICH WILHELM STROTHMANN, Stan-

ford/Calif., London 1950 [Stanford University Publications, Language and Literature VIII, 1], Glossar S. 361 u. 385): vgl. Ms. S. 140 (Ed. S. 124, Z. 22-24): Wan dü ding, dü da den ougen undergeworfen sint, die begrifen wir dester sicherlicher, denne die wir bilden (vgl. Thomas von Aquin, Summa theologica, pars III, quaest. 30, art. 3 [ebd. S. 125, Z. 51]: Ea enim quae sunt oculis subiecta, certius apprehendimus quam ea quae imaginamur); bilden/imaginari wird hier also im Sinne von .Abwesendes imaginieren' verstanden. Dazu auch: Ms. S. 169 (Ed. S. 148, Z. 5-7; Summa, pars I-II, quaest. 15, art. 1,1 [S. 149, Z. 38-40]): Aber daz ist eigen des sinnes [se/wus], daz ez bekentlichen ist der dinge gegenwertikeit [rerum praesentium]·, aber die biltlichü craft [v/s enim imaginativa] ist begriffeliche der liplicher glichnüsse [similitudinum corporalium], ouch der dinge, die da niht gegenwertige sint, von welchen daz glichnüsse sint. Vgl. auch: Frühneuhochdeutsches Glossenwörterbuch. Index zum deutschen Wortgut des Vocabularius Ex quo. Auf Grund der Vorarbeiten von ERLTRAUD AUER U. a. hrsg. von KLAUS GRUBMÜLLER, Tübingen 2001 (Vocabularius Ex quo, Überlieferungsgeschichtliche Ausgabe 6; TTG 27), S. 90. 25

Vgl. dazu MÜLLER (Anm. 8).

26

Vgl. HUGO KUHN: Minnesangs Wende. 2., verm. Aufl., Tübingen 1967 (Hermaea N. F. 1), S. 20-29. Ich danke Volker Mertens für seinen freundlichen Hinweis.

27

220

Markus Stock

Der Status der werden ist dabei alles andere als klar. Sicherlich wird die konventionelle Fügung der Dame im Herzen aufgerufen, die auffällige Wiederaufnahme des Naturbildes in den Blumen und die Abwesenheit einer vorherigen Bestimmung dieser singulären weiblichen Figur aber lässt diese auf suggestive Weise mit dem Frühlingsbild der ersten Strophe verschmelzen. Besondere Aufmerksamkeit verdient dabei die kurze descriptio der werden in V,2f.: so si sich mit bluomen gestet28 ist zunächst wörtlich auf das Erscheinungsbild der werden zu beziehen und bluomen im Wortsinne als ,Blumenschmuck' zu verstehen. Natur- und Körperschmuck werden so in eine enge Verbindung gebracht und die weibliche Figur, das bilde, wird dem Frühling analogisiert. Die bluomen können aber bekanntlich auch einen rhetorisch-poetischen Charakter haben, sich auf den rhetorischen Schmuck der dichterischen Rede beziehen.29 Dass eine solche Bedeutung hier mitschwingt, lässt sich auch aus der Verwendung von gesten in diesem Zusammenhang schließen, das eben auf .schmücken' in jeglichem Sinne, ausdrücklich auch dem poetischen Sinne, verweisen kann: In Burkharts Lied 17, das den einzigen anderen Beleg fur gesten im Burkhart-Korpus enthält, fordert der Sänger die vrouwe auf, ihm ihre Huld zu geben, wenn er sie mit Worten schmücken (gesten) kann: sprich frowe, ,es ist der wille min, / kanstu mich mit worten gesten.' („sprich Herrin, ,ich willige ein, wenn du mich mit Worten schmücken kannst'"). 30 Wortschmuck und Blumenschmuck können also bei Burkhart mit dem Wort gesten verbunden sein: In Lied 11 könnte also ein poetologischer Nebensinn von gesten greifen. Dies wird plausibel, wenn man den gesamten Liedverlauf betrachtet, in dem Blumenschmuck, kosmische Kreation und innere Bilderzeugung so eng beieinander stehen. In diesem Lied ist also eine poetologische Ebene auszumachen, die vom Zeugungsbild der ersten Strophe bis zum inneren Erzeugnis des bildes von der blumengeschmückten werden und der Prägung ihres Bildes im Herzen des Ich durchgehend nachweisbar ist. Ich fasse noch einmal die Grundzüge der Interpretation zusammen: Das Lied beginnt mit kosmischer Vereinigung, auf deren Frucht die sängerische Geste weist, es folgen menschlicher Nachvollzug der Naturfreude in Tanz (Str. II-IV) und (dabei stärker auf den Sänger-Dichter bezogen) in Musik und innerer gedanklicher (vorstellender oder erinnernder) Tätigkeit (Str. III), im Begehren, das durch die zuht, das minneclich gebären und das wunderschöne Aussehen der Mädchen im allgemeinen befeuert wird (Str. IV). Abschließend folgt in Strophe V das Prägebild der blumengeschmückten werden im Herz des Sänger-Dichters. Diese Strophe bündelt das Lied in dem Glanz der werden: V,1 28

29 30

Zu gesten vgl. LEXER, Bd. 1, Sp. 929; die dort vorgeschlagene Etymologie „aus mfz. vestir, lat. vestire" würde einen Bezug zu rhetorisch einschlägigen Wörtern des Lateinischen herstellen; vgl. aber die Herkunftserklärung in BMZ, Bd. I, S. 486a: „mache Vorbereitung zum empfange eines gastes" (ähnlich auch DWb, Bd. 5, Sp. 4227). GERT HÜBNER: Lobblumen. Studien zur Genese und Funktion der .Geblümten Rede', Tübingen, Basel 2000 (Bibliotheca Germanica 41), S. 33-88. Lied 17, II,7f.; Text normalisiert nach C.

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bringt den Ausruf über ihre Erscheinung, dann folgt die entscheidende Konstruktion: sie ist ein wunneberndez bilde, wenn sie sich mit den in Strophe I so allusiv ausgesparten, aber in deiktischer Suggestion eingeführten Freudenfrüchten, die aus der elementaren Zeugung entstanden sind, schmückt. Das Ich des Gedichts ist zentral, wie in seiner deiktischen Funktion und in der Zuspitzung auf seine Wahrnehmung und sein Inneres deutlich wird. Dieses Sommerlied unterscheidet sich insofern von der eigentlichen leidbesetzten Minnekanzone, die wir als Kern der Gattung Minnesang wahrnehmen, als es ein Ich in Einklang mit Welt und Gesellschaft und eine eindeutige Welt auf allen ihren Ebenen zeigt. Dieser Einklang wird auch dadurch erzeugt, dass immer wieder implizit und explizit thematisiert wird, dass keine Verfälschung in der Vermittlung, dass Unmittelbarkeit gegeben ist. Besonders deutlich ist dies in der präsentischen letzten Strophe, im direkten Abdruck des bildes als Münzbild (Werthaftigkeit!) im Inneren des Sängers, aber auch im Blumenschmuck der werden, der eine Vermittlung der Freudenfrüchte aus Strophe I mit dem bilde aus Strophe V erzielt, und dabei gleichzeitig eine rhetorischpoetische Allusion herstellt. Es ist ein Lied über die Kreativität der Natur, der Gesellschaft und des Sängers. Speziell die präsentischen, deiktischen Hinweise auf die Früchte der Frühlingsfreude und die blumengeschmückte werde weisen auf die zentrale Rolle des Sänger-Ich hin, betonen die Bedeutung seiner Wahrnehmung und Kunst. So steckt das Lied seine Koordinaten als Kunstwerk ab, indem es Kreation, Vortragssituation, Rollenentwurf des Sänger-Dichters, Liebesbegehren im allgemeinen und besonderen, Imagination und Bildentwurf entfaltet und verschränkt. Die auffälligen Korrelationen zwischen einzelnen Textelementen erzeugen eine enge innere Kohäsion der im Lied gezeigten Vorgänge. Das Lied erzeugt dadurch einen Effekt der Simultaneität. Die deutlich sichtbare zeitliche Struktur wird verwischt: Frühling, Gesellschaftsfreude, Minne, Sang und Bilderzeugung werden ineinander geblendet.

m. Burkhart von Hohenfels: Min herze hät minen sin (Lied 9) I Min herze hät minen sin wilt ze jagen üz gesant. der vert nach mit minem muote, vil gedanke vert vor in. den ist daz vil wol bekant, daz daz wilt stet in der huote bi der, der ich dienstes bin bereit, ir sin, ir muot, ir gedenken kan vor in mit künste wenken. wol bedorft ich fuhses kündekeit.

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222 II

III

Markus Stock Wie wirt mir daz stolze wilt? daz ist snel, wise unde starc. snel gedenken vert vor winde, wiser sin bi menschen spilt, Sterke in leuwen sich ie bare: der gelich ir muot ich vinde. ir snelheit mir wenket hohe enbor, ir wisheit mich überwindet, mit ir Sterke si mich bindet. sus ir schaene törte mich hie vor.

Trüren mit gewalt hat g'ankert in mines herzen grünt. dä von hoher muot mich wildet. fröiden segel von mir gät, werder tröst ist mir niht kunt. sist mir in den31 muot gebildet, wol versigelt unde beslozzen dä, sam der schin ist in der sunnen. diu bant hänt die kraft gewunnen, daz siu brceche niht des grifen klä.

IV Ir vil liehten ougen blic wirfet höher fröiden vil. ir gruoz der git scelde unde ere. ir schaene diu leit den stric, der gedanke vähen wil. des git ir gedanke lere mit zuht, daz irz nieman wizen sol. swes gedenken gegen ir swinget, minne den so gar betwinget, daz er git gevangen fröiden zol. V

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Minne vert vil wilden strich unde suochet triuwen spor; zuo der wirte wil siphlihten. wunderlich si liebet sich. si spilt im mit fröiden vor, Wunsches wils in gar berihten. mit gedanken si im entwerfen kan wunneclich in sime sinne herzeliep: von dem gewinne scheiden muoz, swer triuwe nie gewan.

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KLD (Bd. 1, S. 41) geht hier vom Dativ aus; die Handschrift hat de, lässt also beide Möglichkeiten zu. Ich votiere fur Akkusativ, da erstens die Form muot auf Akkusativ hindeutet und zweitens in den mhd. Innenraummetaphem muot und herze nicht nur als »Behälter' eines bildes, sondern auch als .Material' gezeigt werden, in das etwas eingezeichnet, .eingebildet' oder eingedrückt wird.

in den muot

gebildet

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I, 9 kunste C; II, 8 uberwindet C; 111,5 tost C; 111,6 de C; 111,9 da gestrichen vor diu C; IV,5 wissen C. I

II

III

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Mein Herz hat meinen Verstand ausgesandt, Wild zu jagen. Der Verstand läuft weiter hinten mit meinem muote. Viele Gedanken jagen ihnen voraus. Ihnen allen ist sehr gut bekannt, dass das Wild von der geschützt wird, der ich zu dienen bereit bin. Ihr Verstand, ihr muot, ihre Gedanken können vor ihnen mit Können ausweichen: ich könnte gut die Schlauheit des Fuchses gebrauchen. Wie bekomme ich das stolze Wild? Das ist schnell, klug und stark. Schnelle Gedanken sind schneller als die Windhunde (oder: der Wind), kluger Verstand findet sich bei Menschen, Stärke hatten immer die Löwen: ihnen gleich finde ich ihren muot. Ihre Schnelligkeit weicht mir hoch nach oben aus, ihre Klugheit überwindet mich, mit ihrer Stärke fesselt sie mich. So hat mich ihre Schönheit schon vorher betört. Trauer hat mit Macht am Grunde meines Herzens geankert. Deshalb hält sich Hochstimmung fem von mir. Das Segel der Freude entfernt sich von mir, ich kenne keinen wertvollen Trost. Sie ist mir in den muot gebildet, gut versiegelt und verschlossen da wie die Strahlen in der Sonne. Die Fesseln haben eine solche Kraft entwickelt, dass sie nicht einmal die Klaue des Greifen sprengen könnte. Der Blick ihrer hell strahlenden Augen verteilt Fülle an großer Freude. Ihre Zuneigung gibt Glück und Anerkennung. Ihre Schönheit legt die Schlinge, die die Gedanken einfängt. So belehrt sie die Gedanken mit so guter Erziehung, dass sie niemand kritisieren kann. Minne bezwingt denjenigen, dessen Gedanken sich zu ihr schwingen, so vollständig, dass er in Gefangenschaft Freude als Lösegeld zahlt. Minne bewegt sich in der Wildnis und sucht die Spur der Beständigkeit. Zu deren [der Beständigkeit] Gastgeber möchte sie sich gesellen. Auf wundersame Weise macht sie sich lieb: Sie bereitet ihm mit Freuden Unterhaltung. Sie will ihm alles, was er wünscht, gewähren. Mit Gedanken kann sie ihm in seinem Verstand Liebesfreude entwerfen: diesen Gewinn vermisst, wer niemals Beständigkeit besaß.

Im Zentrum von Burkharts Lied 9 steht eine dem inneren Prägebild des gerade besprochenen Liedes ähnliche Metapher: sist mir in den muot gebildet, / wol versigelt unde beslozzen da, / sam der schin ist in der sunnen (111,6-8). Ganz im Gegensatz zu Lied 11 allerdings führt kein geschlossener poetischer Entwurf zu diesem Bild, vielmehr bietet Lied 9 eine zerrissene Kaskade durchgeführter und wieder gebrochener, teilweise dunkler Bilder. Eingeleitet wird diese von einer Handlungsallegorie, deren Bildbereich, die Jagd, immer neue Echos im Lied hinterlässt. 32 Wieder sind Imagination und Erinnerung zentrale Bausteine. Strophe I zeigt innere Instanzen des Ich auf einer Jagd: das herze hat sin, muot und gedanken beauftragt, ein Wild zu jagen, das unter der Obhut der

32 Vgl. die Analysen von KUHN (Anm. 26), S. 16-18, und VOLKER MERTENS: Minnewild und Minnejagd. Zu Hadamar von Laber. In: Tierepik im Mittelalter. Thematische Beiträge im Rahmen des 29th International Congress on Medieval Studies an der Western Michigan University (Kalamazoo-USA) 5.-8. Mai 1994. Hrsg. von DANIELLE BUSCHINGER/WOLFGANG SPIEWOK, Greifswald 1994 (Wodan III, 25), S. 57-69, hier S. 61 f.

Markus Stock

224

Dame steht. Dieses Wild sind ihre entsprechenden inneren Instanzen. Das Begehren des Ich richtet sich also nicht einfach auf die Dame selbst, sondern auf ihr Inneres. So wie sich das Ich - in bemerkenswerter Selbstbeobachtung aufgespalten - in seinem Inneren begehrlich auf sie konzentriert, so wünscht es, dass ihr Inneres sich von diesem Begehren einfangen ließe, wünscht also eine Reziprozität der inneren Bezogenheit.33 Ist die Haupteigenschaft des Jägers das Begehren, so ist die des Wildes das Sich-Entziehen; die Kunst des Ausweichens beherrscht es gut (1,9). Das Ich, das nun in die Jagd-Bildlichkeit als Entität eintritt (vorher war es nur im Possesivpronomen - min herze, min sin etc. - gegenwärtig), könnte fuhses kündekeit, die .Klugheit des Fuchses', gut gebrauchen (1,10).

Deutlich wird das Bemühen um eine Repräsentation der Vorgänge im Inneren des liebenden Ich. Die Bildlichkeit ist dabei weit mehr als bloß ornamental: sie ist die Grundlage der Kommunikation über diese inneren Prozesse.34 Die inneren Prozesse sind eng an Minne und Minneentstehung gebunden; das Lied dient der Visualisierung dieses Inneren, hat aber gleichzeitig auch die Kommunikation über innere Zustände und Vorgänge, ja die Kommunizierbarkeit von inneren Zuständen und Vorgängen zum Thema. Sprachkunst ist in der Lage, dieses Innere zu visualisieren, und so handelt das Lied auch von der Sprachkunst und Kommunizierbarkeit selbst. Eine Übersetzung in Eigentlichkeit (etwa: ,Ich begehre, dass sie mich begehre') entzöge dem Phänomen nicht nur den Reiz, sondern seine Grundlage. Denn auch dies sagt die erste Strophe: ohne den Gebrauch dieser Metaphorik keine ,innere Geschichte', kein Blick in das für den Minnesang allgemein, für Burkharts Lieder so speziell entscheidende Innere.35 Wie wirt mir das stolze wilt?, fragt das Ich zu Beginn der zweiten Strophe. Wie also ist dieses edle Wild zu fassen? In einer weiteren gliedernden Geste die erste solche sah man bei der objektiven Zergliederung des eigenen Inneren - fuhrt das Ich zur Beantwortung eine Art diskursiver Analyse des begehrten Wildes durch; Ziel ist das Erkennen des Wildes. Dessen Eigenschaften, schnell, klug und stark, lassen sich, so faltet es der Gedankengang aus, auf die einzelnen inneren Instanzen der Dame verteilen: Das schnelle Denken ist schneller als der Wind oder auch der Windhund,36 der kluge Sinn - und hier fuhrt die Strophe 33

34

35 36

Diese Reziprozität ist in einem anderen Lied Burkharts (KLD, Lied 14) bündig mit dem Begriff des sich aneinander anschmiegenden wehselgedenken[s] (111,8) der beiden Partner gefasst. Ähnlich HÜBNER (Anm. 29), S. 308, zu Burkharts Lied 16: „Das metaphorische Modell schafft überhaupt erst die Bühne, auf der sich eine Art inneres Leben inszenieren läßt." HÜBNER formuliert damit eine längst überfällige Korrektur der Position KüHNs (Anm. 26; S. 23), dass die Darstellung des menschlichen Innenraums vor allem .stilistischer Schmuck' sei. Vgl. HÜBNER (Anm. 29), S. 301-310, bes. S. 303, bezogen auf den in mancher Hinsicht parallel gelagerten Fall von Burkharts Lied 10. Die Bedeutung .Windhunde' ist Rückverweis auf die Jagd mit Hunden in Strophe I, die

in den muot gebildet

225

aus der Jagdbildlichkeit hinaus - blitzt bei Menschen auf,37 die Stärke zeigt sich bei Löwen,38 und löwengleich ist ihr muot. Ich lese 11,2-6 also als .analytische' Antwort auf die Frage Wie wirt mir das stolze wilt?, als Versuch, das sich entziehende Objekt des Begehrens mit sprachlichen Mitteln zu vereinnahmen und zu bewältigen. Im Abgesang, der alle Eigenschaftsaspekte wieder aufgreift, findet sich ein bezeichnender Bildbruch: Ihre Schnelligkeit (das Possessivpronomen bezieht sich nun auf die vrouwe selbst, nicht mehr auf ihre inneren Instanzen) weicht in einer Art Flugbewegung nach oben aus. Ihre Klugheit überwindet und mit ihrer Stärke bindet sie das Ich. Der Bildbruch ist aussagekräftig: Das Ich hat sich getäuscht, wenn es meint, das Begehrte mit dem Mittel einer formalen Analyse unter Benutzung toposhafter Vergleichsrelationen zu greifen. Die Dame springt aus dieser Kategorisierung hinaus, es war eine Fehleinschätzung, sie überhaupt als Jagdwild zu sehen, sie wird zum Sieger und überwältigt das Ich. Ihre Schönheit hat den Sänger in diesen Selbstbetrug versetzt, und zwar nicht zum ersten Mal (11,10: sus ir schoene torte mich hie vor). So zeigt auch die zweite Strophe eine Reflexion auf die Möglichkeiten der Sprache: Die Herrin, genauer: ihre schoene, lässt sich mittels sprachlich-kategorialer Operationen nicht fassen. Es ist ein Selbstbetrug des Sprechenden und Reflektierenden, sein Objekt sprachlich unter Kontrolle zu bringen. Die vrouwe , eignet' sich die toposhaften Zuschreibungen ,an', aber in überraschender Weise, und überwindet durch diese Machtübernahme den Sänger. Zeigte die Phase der Selbsttäuschung und Enttäuschung der ersten Strophen eine überschießende Beweglichkeit der inneren Instanzen in der Jagd, so ist die Strophe III von Statik geprägt. Weiter verbleibt das Lied in einem inneren Raum, mit Hilfe einer wenn auch gebrochenen Metaphorik. Beherrscht wird die Strophe von einem Bild, in dem nun der Bildbereich der Kosmologie mit dem im Lied dominanten Thema der inneren Sinne verknüpft wird: Die Dame ist dem Ich in den muot gebildet, sie ist in ihm versiegelt und eingeschlossen wie die Strahlen in der Sonne (111,6-8). Hier begegnet also wieder das bilde, das Bild der Frau im muote des Sängers,39 in pointiertem Gegensatz zur ,Jagd' als statisches Bild entworfen. Was sagt es aus, was leistet es? Versigelt und beslozzen sagt aus, dass das Bild der vrouwe nicht aus dem Ich zu lösen sei. Gleichzeitig schwingt ein Moment der Ich-Entfremdung mit: Das Ich ist insofern seinem Inneren gegenüber machtlos, als das verschlossene Bild auch

37 38 39

Bedeutung ,Wind' ist Vorausverweis auf das Flugbild in 11,7. Ratio könnte hier als dasjenige Vermögen angesprochen sein, das den Menschen vor dem Tier auszeichnet; vgl. KUHN (Anm. 26), S. 17, Anm. 50. KUHN (ebd. Anm. 51), bezeichnet dies als „allgemein übliche Verbindung" (mit Literaturhinweisen). Muot schwankt im Gehalt zwischen memoria und imaginatio; ob hier eine korpusweit differenzierte Sprache in dem Sinne gebraucht wird, dass man hier den muot gegenüber dem herze im gerade besprochenen Lied 11 und dem Gebrauch von herze in der ersten Strophe des Liedes 9 sicher abgrenzen kann, bezweifle ich.

226

Markus Stock

seinem eigenen Zugriff (etwa, um es zu entfernen) entzogen ist. Dieser konventionelle Minnesang-Bestand ist ein zentrales Element in Burkharts Liedern: Das Ich hat die vrouwe (als Vorstellungsbild), hat aber keine Kontrolle über ,sie' und muss sich daher nach ihr sehnen. Der eigentümliche Vergleich des Bildes der Dame im muote mit dem in der Sonne eingeschlossenen schin ist, so meine These, zentral fur das ganze Lied. Es ist kein ganz unübliches Bild; fast wortgleich findet es sich im wohl zu Unrecht Hartmann von Aue beigelegten so genannten ,Zweiten Büchlein'. 40 Die Vorstellung selbst ist der gelehrten Literatur entlehnt, die von einem großen, immer neuen Schatz an Helligkeit in der Sonne ausgeht:41 Das Sonnenlicht verströmt sinnlich wahrnehmbar und steht doch in immer neuer Fülle in der Sonne zur Verfügung. Die Spannung des Vergleichs ist deutlich: Der Glanz kann in der Sonne versiegelt und verschlossen sein, so wie die Dame im muote des Ich. Aber es ist in der Natur der Sonne, ihren Schein auch abzugeben. Ist der Vergleich mehr als nur toter topischer Bestand, dann hat er einen nicht gleich durchschaubaren impliziten Hintersinn: Das in den muot geprägte Bild der Dame, äußerer Wahrnehmung eigentlich verborgen, teilt sich mit. Das metaphernreiche Lied ermöglicht das Kommunizieren innerer Prozesse in der hier vorgeführten Form, diese Kommunikation kreist um das innere Bild der Dame, das wiederum nicht statisch eingeschlossen bleibt, sondern Wirkung nach außen hat, auf den Sänger, auf den Sang: Der Sang schafft das innere Bild, das innere Bild strahlt nach außen im Sang, ist die Wurzel des Sanges. Bedingung für diese Konstellation ist, das macht dieses Lied in seiner letzten Strophe deutlich, die Sondersituation Minne. Strophe V beginnt, in lockerer assoziativer Bindung zu den ersten Strophen, wieder mit Konnotationen der Jagd: Minne ist in äußerster Wildnis (so verstehe ich V,l: vert vil wilden strich), also in selten begangenem Gebiet, auf der Spur der triuwe. Sie will sich zu demjenigen gesellen, der Gastgeber dieser triuwe ist. Die Formulierung in V,3 zeigt eine typisch Burkhartsche Verknappung: In zuo der wirte bezieht sich der auf die triuwe des Vorverses, also: ,zu deren [der Beständigkeit] Gastgeber will die Minne sich gesellen'. Deutlich wird in den letzten Versen des Liedes, dass die Minne nur einem solchen Wirt ihren Gewinn zuteilt. Die mittlere Partie der Strophe (V,4-9) fuhrt diesen Gewinn aus, allerdings in dunklen Bildern: Die Minne macht sich auf wunderbare Weise lieb, si spilt im (dem Wirt der triuwe) mit fröiden vor42, sie will ihm alles, was er wünscht, gewähren, sie entwirft ihm mit Gedanken in seinem sinne / herzeliep. 40

Das Klagebüchlein Hartmanns von Aue und das Zweite Büchlein. Hrsg. von LUDWIG WOLFF, München 1972 (Altdeutsche Texte in kritischen Ausgaben 4), V. 724-26; vgl. KUHN ( A n m . 2 6 ) , S. 18, A n m . 5 6 .

41

42

Alanus ab Insulis nennt die Sonne einen thesaurus splendoris novi (.Schatz immer neuen Glanzes'). Alain de Lille: Anticlaudianus. Texte critique avec une introduction et des tables. Hrsg. von ROBERT BOSSUAT, Paris 1955 (Textes Philosophiques du Moyen Age 1), lib. IV, V. 372. CARL VON KRAUS (Anm. 11), Bd. 2, S. 43 übersetzt „sie gaukelt ihm Freuden vor";

in den muot gebildet

227

Hat also der erste Teil der Strophe erneut (wenngleich schwächere) Jagdmetaphem, findet sich im zuletzt übersetzten Mittelteil der fünften Strophe eine Wiederaufnahme der Repräsentationsthematik, diesmal mit einer personifizierten Minne als neu eingeführter Agentin. Die Strophe hat zusammenfassenden Charakter: Minne stiftet den inneren Entwurf, sie ist die Künstlerin des Inneren, die dem triuwen, also dem Minnebeständigen, in sime sinne / herzeliep entwirft: Dieses entwerfen, das im Mittelhochdeutschen breit im Sinne künstlerischer Tätigkeit mit ,malen' und ,zeichnen' 43 belegt ist, ist ein gewinne für den, der es erfährt (V,9). So stützt und erweitert die fünfte Strophe die Interpretation der dritten: Die Entwerferin Minne wird selbst im Inneren künstlerisch tätig. Das ist der Gewinn, mit dem das Lied endet, dem Trauern ob der Unerreichbarkeit des Begehrten wird der Gewinn der freudeentwerfenden inneren Tätigkeit der Minne gegenübergestellt. Allerdings kann dieses vergleichsweise harmonische Ende nicht die dominante Metaphorik des Entzugs, der Verschlossenheit, der Enttäuschung kompensieren. Die Unerreichbarkeit des Begehrten, sei es in ihrem sich entziehenden allegorischen ,Wild', in ihrer kategorialen Ungreifbarkeit oder als verschlossenes inneres Bild, bestimmt dieses Lied. Lässt sich diese Unerreichbarkeit des Vorstellungsbildes der vrouwe auf das sichtliche Bemühen in den Liedern Burkharts beziehen, das Innere, die Vorstellung sprachlich zu repräsentieren? Dann würden sich in den Bildern des Flüchtens, des Verschlossenseins auch die Begrenztheit der Sprache äußern, vielleicht vor allem die Unfähigkeit der Sprache, Vorstellungsbilder zu kommunizieren. Der Text inszeniert einen Versuch mit poetischer Sprache, mit fuhses kündekeit, diese sprachliche Begrenzung zu umgehen, nur um immer wieder in Enttäuschung zurückzufallen. Dann wären in diesem Lied die stetig neuen Anläufe ausgedrückt, mit denen sich poetische Sprache um die Repräsentation des den Gattungsregel gemäß mächtigsten aller Vorstellungsbilder, des bildes der vrouwe, bemüht. Dass dieses Bemühen scheitern muss, gehört dabei zur Konstruktion; das Ich inszeniert den Trost eines inneren gewinnes, verbleibt aber bei aller Sprachmacht nach außen in einem Kommunikationsdefizit. Ein Bezug zum Wissensbereich imaginatio / phantasia scheint in beiden besprochenen Liedern, vor allem aber im letzten nahezuliegen,44 lässt sich je-

43 44

„she shows him visions of joy" übersetzt OLIVE SAYCE (Poets of the Minnesang. Ed. with Introduction, Notes and Glossary by O. S., Oxford 1967, S. 159, Anm. zu 137, 45). BMZ, Bd. III, s. v. entwirfe (4), S. 736f. Zu diesem Wissensbereich SIMON KEMP: Cognitive Psychology in the Middle Ages, Westport/Conn., London 1996; JOACHIM BUMKE: Die Blutstropfen im Schnee. Über Wahrnehmung und Erkenntnis im Parzival Wolframs von Eschenbach, Tübingen 2001 (Hermaea N. F. 94), S. 35-45 (mit weiterer Literatur); CHRISTOPH HUBER: Die Aufnahme und Verarbeitung des Alanus ab Insulis in mittelhochdeutschen Dichtungen. Untersuchungen zu Thomasin von Zerklaere, Gottfried von Straßburg, Frauenlob, Heinrich von Neustadt, Heinrich von St. Gallen, Heinrich von Mügeln und Johannes von Tepl, Zürich, München 1988 (MTU 89), S. 46-59 (mit vielen Belegstellen); CAROLYN P.

228

Markus Stock

doch sicherlich nicht in der direkten Weise belegen, wie HUGO KUHN und T H O 45 MAS CRAMER dies (mit unterschiedlichen Bezugspunkten) erwogen haben. Deutlich scheint, dass die Reflexionen über die Kommunizierbarkeit des Inneren bei Burkhart ohne die in Medizin und Philosophie zeitlich vorgängigen und parallelen Entwürfe zu seelischen Vorgängen kaum denkbar sind. Einen in mancher Hinsicht parallelen Fall beschreibt BEATE KELLNER: Für die Lieder Heinrichs von Morungen lassen sich Reflexe der mittelalterlichen Optik- und Wahrnehmungskonzepte erkennen, doch die metaphorische Inszenierung des Blicks in den Liedern Heinrichs von Morungen kann nicht in eine der genannten Wahrnehmungstheorien rückübersetzt werden. Die Metaphern erweisen sich [...] als das Irreduzible, das sich nicht als vorbegrifflicher ,Rest' verstehen und in die Sprache und damit den epistemologischen Status eines wissenschaftlichen Traktats überfuhren läßt. 46

Festzuhalten ist auch für Burkhart von Hohenfels, dass der metaphorische Entwurf innerer Prozesse in Lied 9 sehr eigenständig ist: Weder lässt sich - trotz der auffälligen Triaden der inneren Fakultäten - eine direkte Linie zur Lehre von den Hirnventrikeln ziehen, noch kann man deutlich ein aristotelisches Modell ausmachen. Das Lied stellt einen eigentümlichen volkssprachlichen Vorschlag zu psychologisch-kognitiven, auf Minne und im weiteren Sinne auf (Lied-)Dichtung bezogenen Prozessen dar. Es vermeidet geradezu programmatisch eine Systematik des Entwurfes.

IV. hat vorgeschlagen, für Minnesang und Sangspruchdichtung den Begriff ,poetologische Lyrik' zu verwenden, um Lieder zu bezeichnen, die „das Dichten explizit zum Thema haben, was in mittelalterlicher Terminologie heißt: die von singen, tihten und ähnlichem sprechen oder die eindeutig auf das SABINE OBERMAIER

45

46

COLLETTE: Species, Phantasms, and Images. Vision and Medieval Psychology in The Canterbury Tales, Ann Arbor/Mich. 2001, S. 1-31; hervorzuheben ist der neue Sammelband: Imagination - Fiktion - Kreation. Das kulturschaffende Vermögen der Phantasie. Hrsg. von THOMAS DEWENDER/THOMAS WELT, München, Leipzig 2003, darin bes. die Beiträge von CHRISTEL MEIER (Jmaginatio und phantasia in Enzyklopädien vom Hochmittelalter bis zur Frühen Neuzeit, S. 161-181) und THOMAS DEWENDER (Zur Rezeption der Aristotelischen Phantasialehre in der lateinischen Philosophie des Mittelalters, S. 141-160); auf den Minnesang Frauenlobs bezogen jetzt KÖBELE (Anm. 24), bes. S. 179-198. KUHN (Anm. 26), S. 20-29; THOMAS CRAMER: So sint doch gedanke fri. Zur Lieddichtung Burgharts von Hohenfels und Gottfrieds von Neifen. In: Liebe als Literatur. Aufsätze zur erotischen Dichtung in Deutschland. Hrsg. von RÜDIGER KROHN, München 1983, S. 47-61, hier S. 56f. V g l . KELLNER ( A n m . 2 3 ) , S. 4 1 - 4 4 , zit. S. 4 4 .

in den muol gebildet

229

Dichten verweisende Umschreibungen oder Metaphern verwenden."47 Explizitheit und Eindeutigkeit der poetologischen Dimension findet sich als Grundelement schon in den frühen Definitionsbemühungen zur poetologischen Lyrik bei ALFRED W E B E R und ARMIN PAUL FRANK., sowie jüngst in der resümierenden Aufarbeitung und terminologischen Klärung von SANDRA POTT. 4 8 Man wird im Sinne terminologischer Schärfe gut daran tun, den Begriff nicht zu sehr aufzuweichen. Die analysierten Lieder Burkharts als poetologische Lyrik zu bezeichnen, verbietet sich also vor allem wegen des Fehlens expliziter und eindeutiger poetologischer Markierungen. Allenfalls sind in ihnen Ansätze poetologischer Aussagen sichtbar. Es handelt sich dabei um nicht streng kohärente Reflexionen des Schaffens- und Entstehungsprozesses, die aber so eng auf Minne und Minneentstehung bezogen bleiben, dass allenfalls von einem Hinüberspielen in poetologische Themen gesprochen werden kann. Dieses Hinüberspielen ist aber nicht bloß ein Mitverhandeln poetologischer Fragen im diskursiven Nachdenken über Minne und damit lediglich ein Beispiel der allgemeinen Selbstreflexivität der Gattung Minnesang. Vielmehr zeigt sich in den um entwerfen, bilden, schin zentrierten Bildfeldern eine spezifischere Thematisierung der kunstschaffenden Tätigkeit, wie sie sich im Lied selbst manifestiert. Die hier vorgelegte Studie hat Versuchscharakter. Die an nur zwei Liedern erhobenen Befunde wären auf breiterer Basis im Minnesang zu überprüfen. Deutlich wird jedenfalls, wie wichtig die Rolle der Metaphorik für die Formulierung solch undeutlich poetologischer Aussagen ist: Neben den ohnehin fest für rhetorische Zusammenhänge belegten bluomen scheinen auch glesten oder schin poetologische Bedeutung annehmen zu können. Entscheidend ist weiter vor allem die um bilde herum zentrierte Metaphorik stahelherteclich gedrucket, in den muot gebildet, entwerfen. »Eindrücken1, .bilden', .entwerfen' beziehen sich hier, wie gezeigt, auf den poetischen Prozess, nicht aber direkt auf die künstlerische Tätigkeit. Ich meine, dass diese Fälle auf ein grundsätzlicheres Problem weisen, das gleichermaßen in der mhd. höfischen Lyrik wie Epik begegnet: Oft ist die poetische Praxis undeutlich auf eine Poetik bezogen, ohne explizite Poetologie zu sein. Der interpretative Nachvollzug der Praxis ist daher eine der Grundvoraussetzungen für die Erforschung einer Poetologie. Wortgeschichtliche Untersuchungen nehmen in einem solchen Nachvollzug eine wichtige Stelle ein: Dass bluomen oder gesten historisch auch in rheto47

OBERMAIER ( A n m . 7 ) , S. 19f.

48

ALFRED WEBER: Kann die Harfe durch ihre Propeller schießen? Poetologische Lyrik in Amerika. In: Amerikanische Literatur im 20. Jahrhundert. Hrsg. von ALFRED WEBER/ DIETMAR HAACK, Göttingen 1971, S. 175-191 (siehe bes. die Definition S. 181); ARMIN PAUL FRANK: Theorie im Gedicht und Theorie als Gedicht. In: Ders.: Literaturwissenschaft zwischen Extremen. Aufsätze und Ansätze zu aktuellen Fragen einer unsicher gemachten Disziplin, Berlin, New York 1977, S. 131-193; SANDRA POTT: Poetiken. Poetologische Lyrik, Poetik und Ästhetik von Novalis bis Rilke, Berlin, New York 2004, S. 1-22.

230

Markus Stock

rischem Zusammenhang verstanden wurden, dass entwerfen und bilden im Mittelhochdeutschen sowohl mit künstlerischer als auch kognitiver Tätigkeit zusammenhängen, sind unabdingbare Informationen, die nur solche Untersuchungen hervorbringen. Die Aufmerksamkeit auf die einzigartige Verarbeitung dieser Worte und ihrer Bedeutungsfelder im Lied selbst aber lässt selbstreflexive Aspekte aufscheinen. Dass sich diese nicht letztgültig fixieren lassen, sehe ich als Stärke der poetischen Sprache: Diese begegnet dem poetologischen Kategorisierungsbestreben, indem sie ihm ausweicht oder indem sie es als fehl am Platz erweist.

B E A T E KELLNER

daz alte buoch von Troye [...] daz ich ez welle erniuwen Poetologie im Spannungsfeld von ,wiederholen' und ,erneuern' in den Trojaromanen Herborts von Fritzlar und Konrads von Würzburg

The author investigates the prologues of the German versions of the Trojan War by Herbort von Fritzlar and Konrad von Würzburg. The implicit poetics of these texts are outlined by means of a detailed analysis of the central poetological vocabulary in order to shed light on the historical profiles of both authors. The central question is how Herbort and Konrad adapted the tradition. The adaptations of the same tale (mcere) of the Trojan War show considerable differences: for Herbort the source (buoch) in the sense of providing the plot guarantees the identity and truth of the o n e story of the Trojan War, whereas Konrad emphasises his own poetic capability to a much greater extent which, in tum, unfolds in the tension of heteronomy and autonomy. By this renewal {erniuwen), Konrad leaves the old role of the author as a re-teller of the story.

I. Es darf als ein Ergebnis rezenter Debatten zum Thema Autorschaft betrachtet werden, dass ein Begriff des Autors, der an der Genieästhetik des 18. und 19. Jahrhunderts orientiert ist und den Autor als denjenigen begreift, der seine Werke als originale Erfindungen aus sich heraus zum Vorschein bringt, der sie - wie Prometheus den Göttern gleich - erschafft, der sie sein Eigentum nennen kann und daher auch in einem urheberrechtlichen Sinne auf den verschiedenen Ebenen von Produktion und Rezeption zu kontrollieren vermag, seinerseits ein historisches Konstrukt darstellt und insofern nur begrenzte historische Reichweite und historische Aufschlusskraft beanspruchen kann. Lange Zeit hatte man sich der mittelalterlichen Dichtung in der mediävistischen Forschung mit Begriffen von Autorschaft und Vorstellungen des poetischen Werkes genähert, welche der neuzeitlichen Literatur abgelesen waren. Die Folgen dieses Anachronismus' waren Abwertungen der mittelalterlichen Poesie, denn gemessen an den seit dem 18. Jahrhundert entwickelten Konzeptionen von Genieästhetik und damit zusammenhängend von Autonomie der Kunst, Innovativität und Originalität erschien jene als bloß rhetorisch gemacht, als ermüdende Wiederholung des immer Gleichen, als didaktisch, zweckgerich-

232

Beate Kellner

tet, ,unfrei' und belastet durch die Vorgaben vor allem von Religion und Herrschaft. Historisch problematisch sind allerdings auch jene Bilder von mittelalterlicher Autorschaft und mittelalterlicher Textualität, die sich in der Folge einer verkürzten, häufig bloß floskelhaften Rezeption postmoderner Theoreme eingestellt haben: Ich denke etwa an Vorstellungen von einem Universum der Texte, die sich gewissermaßen selbst fortzeugen und weiterschreiben und wie Mosaike immer wieder anders aus vorhandenem Textmaterial zusammensetzen, 1 also an Vorstellungen von mittelalterlichen Texten als einem Gewebe fortwährenden Wandels. Solche geradezu romantischen Entwürfe von mittelalterlicher Textualität stützen sich auf die medialen Bedingungen mittelalterlicher Scripturalität, die Variabilität der Überlieferung, die Anonymität zahlreicher Texte und das Flüchtige der mündlichen Auffuhrungen. Die zugrunde liegenden Annahmen von mouvance2 und variance3 mittelalterlicher Texte bedürfen historischer und systematischer Differenzierungen, 4 denn sie margina-

1

2 3

4

Derartige Annahmen liegen etwa dem Intertextualitätskonzept von JULIA KRJSTEVA zugrunde. Vgl. Dies.: Bakhtine, le mot, le dialogue et le roman. In: Critique 23 (1967), S. 438-465; leicht verändert wieder in: Dies.: Semeiotike. Recherches pour une s0manalyse, Paris 1969, S. 143-173; deutsche Übersetzung in: Literaturwissenschaft und Linguistik. Ergebnisse und Perspektiven. Hrsg. von JENS IHWE, Bd. 3: Zur linguistischen Basis der Literaturwissenschaft, II, Frankfurt a. M. 1972 (Ars poetica, Texte 8), S. 345375; vgl. auch Dies.: Po6sie et n6gativite. In: Dies.: Semeiotike, S. 246-277. Versucht man, jene an der Postmodeme orientierten Entwürfe - ohne Differenzierungen - auf das Mittelalter zu übertragen, kommt es zwangsläufig zu historischen Verzerrungen. Zum Begriff vgl. PAUL ZUMTHOR: Essai de podtique medievale, Paris 1972 (Collection poötique); Ders.: Intertextualiti et mouvance. In: littdrature 41 (Februar 1981), S. 8-16. Vgl. bes. die Positionen BERNARD CERQUIGLINIS, die bis heute wichtige Bezugspunkte der Diskussionen um die New Philology geblieben sind. BERNARD CERQUIGLINI: La Parole m6di£vale. Discours, Syntaxe, Texte, Paris 1981 (Propositions); Ders.: Eloge de la Variante. Histoire critique de la philologie, Paris 1989. Vgl. zur Debatte um die New Philology u. a.: The New Philology. Hrsg. von STEPHEN G . NICHOLS. In: Speculum 6 5 ( 1 9 9 0 ) , S. 1 - 1 0 8 ; The New Medievalism. Hrsg. von MARINA S. BROWNLEE/KEVIN BROWNLEE/STEPHEN G . NICHOLS, Baltimore, London 1991 (Parallax: Re-visions of Culture and Society); Towards a Synthesis? Essays on the New Philology. Hrsg. von KEITH BUSBY, Amsterdam 1 9 9 3 (Faux titre 6 8 ) ; KARL STACKMANN: Neue Philologie? In: Modernes Mittelalter. Neue Bilder einer populären Epoche. Hrsg. von JOACHIM HEINZLE, Frankfurt a. M., Leipzig 1994, S. 3 9 8 - 4 2 7 ; JANDIRK MÜLLER: Neue Altgermanistik. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 3 9 ( 1 9 9 5 ) , S. 4 4 5 - 4 5 3 ; Philologie als Textwissenschaft. Alte und neue Horizonte. Hrsg. von HELMUT TERVOOREN/HORST WENZEL, Berlin 1 9 9 7 (ZfdPh 116 [ 1 9 9 7 ] , Sonderheft); Alte und neue Philologie. Hrsg. von MARTIN-DIETRICH GLESSGEN/FRANZ LEBSANFT, Tübingen 1 9 9 7 (Beihefte zu editio 8); Neue Wege der Mittelalter-Philologie. Landshuter Kolloquium 1996. Hrsg. von JOACHIM HEINZLE/L. PETER JOHNSON/GISELA VOLLMANN-PROFE, Berlin 1998 (Wolfram-Studien 15); PETER STROHSCHNEIDER: Tex-

tualität der mittelalterlichen Literatur. Eine Problemskizze am Beispiel des Wartburgkrieges. In: Mittelalter. Neue Wege durch einen alten Kontinent. Hrsg. von JAN-DIRK MÜLLER/HORST WENZEL, Stuttgart, Leipzig 1999, S. 19-41; Text und Kultur. Mittel-

Poetologie im Spannungsfeld von .wiederholen' und .erneuern' in den Trojaromanen

233

lisieren, dass es auch bereits in der mittelalterlichen Literatur Mechanismen der Stabilisierung und Wiederholbarkeit poetischer Rede gibt, welche den Texten trotz aller Variabilität auf der Ebene des Ausdrucks eine gewisse .Festigkeit' und damit auch Identität verleihen. Dazu gehören die Bindung der Literatur an rekurrente narrative Muster und Schemata, ihre Fixierung auf vorgängige Stoffe und Traditionen5 ebenso wie die verschiedenen Strategien der Legitimierung und Autorisation von Texten,6 die vielfach markanten Profilierungen der Autorrollen,7 die Auseinandersetzungen mit Dichterkollegen oder die Kanonentwürfe in Form von Dichterkatalogen.8 Um die skizzierten Bilder von mittelalterlicher Textualität und Autorschaft zu differenzieren, gilt es, den Autor-Begriff ausgehend von seinen mittelalterlichen Manifestationen, den mittelalterlichen Diskursen über Autorschaft und den Inszenierungen von Autorrollen in lateinischen und volkssprachlichen Texten zu fassen, um so zu einem historisch adäquaten Verständnis zu kommen. Entscheidend ist also die Historisierung des Autor-Begriffes und die Frage nach historisch bedeutsamen Konzeptionen von Autorschaft. Indem neuere mediävistische Beiträge die spezifisch historischen Konturen mittelalterlicher Autorschaft herausstellen, versuchen sie nun auch das Verhältnis von Autor und Werk respektive von Autor und Text neu zu entwerfen und damit auch die Status mittelalterlicher Literatur und mittelalterlicher Textualität genauer zu erfassen.9 Vernachlässigt wurden dabei bisher Fragen nach einer historischen

5 6

7

8

9

alterliche Literatur 1150-1450. Hrsg. von URSULA PETERS, Stuttgart, Weimar 2001 (Germanistische Symposien, Berichtsbände 23), Sektion I: Textkonstitution und Vermittlung, S. 3-188; New Philology / Textkritik. JÜRGEN WOLF: Ältere deutsche Literatur. JÖRG DÖRING: Neuere deutsche Literatur. In: Germanistik als Kulturwissenschaft. Eine Einführung in neue Theoriekonzepte. Hrsg. von CLAUDIA BENTHIEN/HANS RUDOLF VELTEN, Reinbek b. Hamburg 2002, S. 175-195 u. 196-215. Vgl. PETER STROHSCHNEIDER: Situationen des Textes. Okkasionelle Bemerkungen zur ,New Philology'. In: Philologie als Textwissenschaft (Anm. 4), S. 62-86, bes. S. 82-86. An dieser Stelle sei nur verwiesen auf: KLAUS GRUBMÜLLER: Verändern und Bewahren. Zum Bewusstsein vom Text im deutschen Mittelalter. In: Text und Kultur (Anm. 4), S. 8-33; vgl. dazu BRUNO QUAST: Der feste Text. Beobachtungen zur Beweglichkeit des Textes aus Sicht der Produzenten. Ebd. S. 34-46. Diese sind nicht unbedingt an die historisch-biographische Existenz individueller Autoren gebunden, wie sich ζ. B. an der Rezeption der Wolfram-Rolle zeigen lässt. Grundlegend dazu: HEDDA RAGOTZKY: Studien zur Wolfram-Rezeption. Die Entstehung und Verwandlung der Wolfram-Rolle in der deutschen Literatur des 13. Jahrhunderts, Stuttgart u. a. 1971 (Studien zur Poetik und Geschichte der Literatur 20). Zweifellos handelt es sich um textuelle Manifestationen von Autorrollen, die nicht unmittelbar mit den sozialgeschichtlichen Konstellationen kurzgeschlossen werden können. Dennoch zeigen sie die Bedeutung der Autorfunktion. Unter den zahlreichen Publikationen seien hier erwähnt: ALAST AIR J. MLNNLS: Medieval Theory of Authorship. Scholastic Literary Attitudes in the Later Middle Ages, Aldershot 2 1988; Discourses of Authority in Medieval and Renaissance Literature. Hrsg. von KEVIN BROWNLEE/WALTER STEPHENS, H a n o v e r / N H ,

London

1989;

Autorentypen.

Hrsg. von WALTER HAUG/BURGHART WACHINGER, Tübingen 1992 (Fortuna vitrea 6);

234

Beate Kellner

Semantik10 des Poetologischen, also eben jene wort- und begriffsgeschichtlichen Studien zu Poetologie und Autorschaft, welche das Kolloquium ,1m JAN-DIRK MÜLLER: Auetor - Actor - Author. Einige Anmerkungen zum Verständnis vom Autor in lateinischen Schriften des frühen und hohen Mittelalters. In: Der Autor im Dialog. Beiträge zu Autorität und Autorschaft. Hrsg. von FELIX PHILIPP INGOLD/WERNER WUNDERLICH, St. G a l l e n 1995, S. 17-31; JOACHIM BUMKE: A u t o r u n d W e r k .

Beobachtungen und Überlegungen zur höfischen Epik (ausgehend von der Donaueschinger Parzivalhandschrift G 5 ). In: Philologie als Textwissenschaft (Anm. 4), S. 87-114; Autor und Autorschaft im Mittelalter. Kolloquium Meißen 1995. Hrsg. von ELIZABETH ANDERSEN u . a . , T ü b i n g e n

1998; FRANZ JOSEF WORSTBROCK: W i e d e r e r z ä h l e n

und

Übersetzen. In: Mittelalter und frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche und Neuansätze. Hrsg. von WALTER HAUG, Tübingen 1999 (Fortuna vitrea 16), S. 128-142; JAN-DIRK MÜLLER: Aufführung - Autor - Werk. Zu einigen blinden Stellen gegenwärtiger Diskussion. In: Mittelalterliche Literatur und Kunst im Spannungsfeld von Hof und Kloster. Ergebnisse der Berliner Tagung, 9.-11. Oktober 1997. Hrsg. von NIGEL F. PALMER/ HANS-JOCHEN SCHIEWER, Tübingen 1999, S. 149-166; Autorität der/in Sprache, Literatur, Neuen Medien. Vorträge des Bonner Germanistentags 1997, Bd. 2. Hrsg. von JÜRGEN FOHRMANN/INGRID KASTEN/EVA NEULAND, B i e l e f e l d 1999, d a r a u s d i e B e i -

träge zur mittelalterlichen Literatur; SEBASTIAN COXON: The Presentation of Authorship in Medieval German Narrative Literature 1220-1290, Oxford 2001 (Oxford Modern Languages and Literature Monographs). 10

Aktuelle Überblicke über die verschiedenen Konzeptionen und disziplinaren Prägungen der historischen Semantik: RALF KONERSMANN: Art. .Semantik, historische'. In: H W b P h , Bd. 9 (1995), Sp. 593-598; ROLF REINHARDT: Historische

Semantik

zwischen

lexicometrie und New Cultural History. Einführende Bemerkungen zur Standortbestimmung. In: Aufklärung und historische Semantik. Interdisziplinäre Beiträge zur westeuropäischen Kulturgeschichte. Hrsg. von R. R., Berlin 1998 (Zeitschrift für historische Forschung, Beiheft 21), S. 7-28; RALF KONERSMANN: Komödien des Geistes. Historische Semantik als philosophische Bedeutungsgeschichte, Frankfurt a. M. 1999; Die Interdisziplinarität der Begriffsgeschichte. Hrsg. von GUNTHER SCHOLTZ, Hamburg 2000 (Archiv für Begriffsgeschichte, Sonderheft); Begriffsgeschichte, Diskursgeschichte, Metapherngeschichte. Hrsg. von HANS ERICH BÖDEKER, Göttingen 2002 (Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft 14), siehe darin insbesondere: HANS ERICH BÖDEKER: Ausprägungen der historischen Semantik in den historischen Kulturwissenschaften, ebd. S. 7-27; FRIEDRICH VOLLHARDT: Von der Rezeptionsästhetik zur Historischen Semantik. In: Wissenschaft und Systemveränderung. Rezeptionsforschung in Ost und West - eine konvergente Entwicklung? Hrsg. von WOLFGANG ADAM/HOLGER DAINAT/GUNTER SCHANDERA, Heidelberg 2003 (Beihefte zum Euphorion 44), S. 189209; zum linguistischen Forschungsstand vgl. DIETRICH BUSSE: Historische Semantik. Analyse eines Programms, Stuttgart 1987 (Sprache und Geschichte 13); ANDREAS BLANK: Prinzipien des lexikalischen Bedeutungswandels am Beispiel der romanischen Sprachen, Tübingen 1997 (Beihefte zur ZfromPh 285); GERD FRITZ: Historische Semantik, Stuttgart, Weimar 1998 (Sammlung Metzler 313); Historische Semantik in den romanischen Sprachen. Hrsg. von FRANZ LEBSANFT/MARTIN-DLETRICH GLESSGEN,

Tübingen 2004 (Linguistische Arbeiten 483); vgl. dazu KLAUS GRUBMÜLLER: Historische Semantik und Diskursgeschichte: zorn, nit und haz. In: Codierungen von Emotionen im Mittelalter / Emotions and Sensibilities in the Middle Ages. Hrsg. von C. STEPHEN JAEGER/INGRID KASTEN, Berlin, New York 2003 (Trends in Medieval Philology 1), S. 47-69, hier S. 47-49.

Poetologie im Spannungsfeld von .wiederholen' und .erneuern' in den Trojaromanen

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Wortfeld des Textes' voranzutreiben sucht. Entscheidend ist nicht nur die Historisierung der Konzepte von Autorschaft, sondern komplementär dazu auch die Erschließung einer historischen Poetik und Poetologie. Mein Beitrag hierzu bezieht sich auf die deutschen Versionen des trojanischen Krieges bei Herbort von Fritzlar und Konrad von Würzburg. An den Prologen als abgrenzbaren und gut operationalisierbaren Einheiten soll im .Wortfeld des Textes' durch genaue Analysen der poetologischen Leitvokabeln der impliziten Poetik der Texte und den jeweils sich abzeichnenden Konturen von Autorschaft nachgegangen werden. Gerade das gleiche Sujet, der Krieg vor Troja, und die bei genauerem Zusehen doch recht unterschiedlichen poetologischen Reflexionen, welche die Durchführung des je eigenen dichterischen Vorhabens betreffen und dabei auch die eigenen Leistungen herausstellen, könnten - dies die Hypothese - einen Beitrag leisten zu Fragen nach der Stabilität respektive , Vagheit' oder besser Offenheit der historischen Selbstbezeichnungen poetologischer Leitvokabeln. Deren Leistungen und Funktionen wird man eher in den ,Wortfeldern der Texte' als in Einzelwortanalysen erschließen können, weshalb das Syntagma der Prologe jeweils zu berücksichtigen ist. Beide Texte sind so komplex und vielschichtig, dass sie im Folgenden keineswegs erschöpfend betrachtet werden können, ich konzentriere meine Überlegungen daher auf die Spannung zwischen Wiederholung einer Tradition und eigener dichterischer Leistung und damit zugleich auch auf das Problem von Identität und Differenz der Texte. Textualitäts- und Autorschaftsfragen sind in dieser Problemstellung also auf das Engste verknüpft.

Π. Ich beginne mit Herborts von Fritzlar Liet von Troye.n Trotz H A N S FROMMS ,Plädoyer' von 1993 und vereinzelter neuerer Vorstöße ist es um diesen Autor, der die erste uns greifbare Version des trojanischen Krieges im Deutschen

11

Herbort's von Fritslär liet von Troye. Hrsg. von KARL FROMMANN, Quedlinburg, Leipzig 1837 (Bibliothek der gesammten deutschen National-Literatur 5), Nachdruck Amsterdam 1966. Da der Handschriftenabdruck FROMMANNS zahlreiche Lesefehler enthält, wird im Folgenden aus der Handschrift (Cpg 368) zitiert - soweit dies noch möglich ist: Bl. l r ist sehr stark abgerieben. Bei der Transkription gelten folgende Regelungen: Abkürzungen werden aufgelöst, Eigennamen sind groß geschrieben und Interpunktion wird sparsam gesetzt. Die Verszählung folgt der Ausgabe FROMMANNS, die ihr nachgestellte Blattangabe meint den Cpg 368. - RICARDA BAUSCHKE danke ich sehr herzlich ftir die großzügige Bereitstellung der Entwürfe zu der von ihr geplanten neuen Edition von Herborts Liet. Grundlegend zur älteren deutschen Trojaliteratur: Die deutsche Trojaliteratur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Materialien und Untersuchungen. Hrsg. von HORST BRUNNER, Wiesbaden 1990 (Wissensliteratur im Mittelalter 3).

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Beate Kellner

verfasst hat, in der Forschung bis in die jüngste Zeit recht ruhig geblieben.12 Auch im Mittelalter war dem Text, von dem wir seit der Entdeckung der Krumauer Fragmente vier Zeugen kennen,13 darunter nur eine vollständige 12 Vgl. HANS FROMM: Herbort von Fritslar. Ein Plädoyer. In: PBB 115 (1993), S. 244278; vgl. dazu folgende Vorstöße der neueren Forschung: DIETRICH HUSCHENBETT: Zur deutschen Literaturtradition in Herborts von Fritzlar Liet von Troye. In: Die deutsche Trojaliteratur (Anm. 11), S. 303-324; VOLKER MERTENS: Herborts von Fritzlar Liet von Troie - ein Anti-Heldenlied? In: Heldensage - Heldenlied - Heldenepos. Ergebnisse der 2. Jahrestagung der Reineke-Gesellschaft in Gotha (16.-20. Mai 1991), Amiens 1992 (Wodan 12, Serie 4: Jahrbücher der Reineke Gesellschaft 2), S. 151-171; REINHARD HAHN: Zur Kriegsdarstellung in Herborts von Fritzlar Liet von Troye. In: Spannungen und Konflikte menschlichen Zusammenlebens in der deutschen Literatur des Mittelalters. Bristoler Colloquium 1993. Hrsg. von KURT GÄRTNER/INGRID KASTEN/FRANK SHAW, Tübingen 1996, S. 102-112; ELISABETH SCHMID: Ein Trojanischer Krieg gegen die Langeweile. In: Mediävistische Komparatistik. Festschrift fur Franz Josef Worstbrock zum 60. Geburtstag. Hrsg. von WOLFGANG HARMS/JAN-DIRK MÜLLER, Stuttgart, Leipzig 1997, S. 199-220; ANDREAS KRASS: Achill und Patroclus. Freundschaft und Tod in den Trojaromanen Benoits de Sainte-Maure, Herborts von Fritzlar und Konrads von Würzburg. In: LiLi 114 (1999), S. 66-98; MICHAEL MECKLENBURG: So höret wie vlixes sprach. Die Erzählung des Ulysses in Herborts von Fritzlar Liet von Troye. In: Erzählungen in Erzählungen. Phänomene der Narration in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von HARALD HAFERLAND/MICHAEL MECKLENBURG, München 1996 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 19), S. 41-57; HARTWIG MAYER: Erzählerfigur und Erzählerkommentar in Herborts von Fritzlar Liet von Troye. In: De consolatione philologiae. Studies in Honor of Evelyn S. Firchow. Hrsg. von ANNA GROT ANS/HEINRICH BECK/ANTON SCHWÖB, Göppingen 2000 (GAG 682,1), S. 245-254; vgl. dazu jetzt auch die neuesten Veröffentlichungen von RICARDA BAUSCHKE: Geschichtsmodellierung als literarisches Spiel. Zum Verhältnis von gelehrtem Diskurs und Geschichtswahrheit in Herborts Liet von Troye. In: Eine Epoche im Umbruch. Volkssprachliche Literalität 1200-1300. Internationales Symposium in Cambridge vom 28.-31. März 2001. Hrsg. von CHRISTA BERTELSMEIER-KIERST/CHRISTOPHER YOUNG, Tübingen 2003, S. 155-174; Dies.: Strategien des Erzählens bei Herbort von Fritzlar. Verfahren interdiskursiver Sinrikonstitution im Liet von Troye. In: Erzähltechnik und Erzählstrategien in der deutschen Literatur des Mittelalters. Saarbrücker Kolloquium 2002. Hrsg. von WOLFGANG HAUBRICHS/ECKART CONRAD LUTZ/ KLAUS RIDDER, Berlin 2004 (Wolfram-Studien 18), S. 347-365. 13 In der vollständigen Handschrift Η = Heidelberg, UB, Cpg 368, Β1. 1-119, folgt mit neuer Lage auf Bl. 120-206 Heinrichs von Veldeke Eneasroman auf den Text Herborts. Die Handschrift ist 1333 für den Deutschordensritter Wilhelm von Kirweiler in Würzburg geschrieben. Dazu kommen die drei Fragmente: Β = Berlin, SBPK, mgf 902; S = Skokloster (Schweden), Schlossbibl., Cod. PB munk 4; Κ = die 1989/90 neu gefundenen Krumauer Fragmente. Vgl. zur Überlieferungsgeschichte die Übersicht (allerdings noch ohne Berücksichtigung der Fragmente aus Krumau) bei HANS-HUGO STEINHOFF: Art. ,Herbort von Fritzlar'. In: 2VL, Bd. 3 (1981), Sp. 1027-1031, hier Sp. 1028f.; vgl. dazu KLEMENS ALFEN/PETRA FOCHLER/ELISABETH LIENERT: Deutsche Trojatexte des 12.16. Jahrhunderts. Repertorium. In: Die deutsche Trojaliteratur (Anm. 11), S. 7-197, hier S. 13; HILDEGARD BOKOVÄ/VÄCLAV ΒΟΚ/KURT GÄRTNER: Neue Herbortfragmente aus Krumau. In: PBB 118 (1996), S. 333-357; und bes. auch die Ausführungen von JOACHIM BUMKE: Untersuchungen zu den Epenhandschriften des 13. Jahrhunderts. Die Ber-

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Handschrift, wohl keine große Wirkung beschieden. 1 4 Dennoch lohnen gerade unter den skizzierten Fragestellungen Grabungen im Wortfeld von Herborts Text, näherhin in seinem Prolog. 15 Der Text ist sprachlich, besonders semantisch und syntaktisch, schwierig an verschiedenen Stellen bleibt er unklar. Öfter wird meine Analyse daher eher zu Fragen fuhren, als dass sie bündige Antworten zu geben vermag. Der gelarte schulere (V. 18451; B 1 . 1 1 9 v ) , als welcher sich Herbort im Epilog zu erkennen gibt, ordnet seinen Prolog nach dem rhetorischen Muster von ars (V. 1-36), exercitatio (V. 37-46) und imitatio (V. 47-91) 1 6 und geht dann auf den Auftraggeber, den Landgrafen Hermann I. von Thüringen, sowie den Grafen von Leiningen (vermutlich Friedrich I. von Leiningen) als Vermittler der französischen Vorlage ein (V. 92-95). 1 7 Man könnte den Prolog aber auch in einen poetologischen (V. 1-46), einen textgenealogischen (V. 47-91) und einen literatursoziologischen Teil (V. 92-98) gliedern, wovon ich im Hinblick auf die gewählte Problemstellung ausgehen möchte. Ich setze bei dem textgenealogischen Part an, welcher die Herkunft des Buches, verstanden als französische Vorlage Herborts (V. 47), stemmatologisch entwirft, V. 47-61 (B1. I1): Diz buch ist franzoys vnd walsch, sin fuge ist gantz vnd ane falsch.

liner Herbortfragmente. In: ZfdA 119 (1990), S. 404-434; Ders.: Untersuchungen zur Überlieferungsgeschichte der höfischen Epik im 13. Jahrhundert. Die Herbort-Fragmente aus Skokloster. Mit einem Exkurs zur Textkritik der höfischen Romane. In: ZfdA 120 (1991), S. 257-304. 14 Der maßgebliche deutsche Trojanerkrieg scheint für das Spätmittelalter - wie auch die Verflechtungen mit Weltchronik-Kompilationen zeigen - Konrads von Würzburg Version gewesen zu sein. Vgl. dazu insbesondere: Die deutsche Trojaliteratur (Anm. 11); vgl. dazu auch die unter Abschnitt III dieses Beitrags dokumentierten Forschungstitel. 15 Grundlegend zur Poetologie Herborts noch immer: FRANZ JOSEF WORSTBROCK: Zur Tradition des Trojastoffes und seiner Gestaltung bei Herbort von Fritzlar. In: ZfdA 92 ( 1 9 6 3 ) , S. 2 4 8 - 2 7 4 ; vgl. dazu FROMM (Anm. 12); und jetzt auch BAUSCHKE, Geschichtsmodellierung (Anm. 12); Dies., Strategien (Anm. 12); ältere Ansätze sind in den genannten Arbeiten dokumentiert. 16 17

Vgl. WORSTBROCK ( A n m . 9), S. 136, Anm. 33. Vgl. JOACHIM BUMKE: Mäzene im Mittelalter.

Die Gönner und Auftraggeber der höfischen Literatur in Deutschland 1150-1300, München 1979, S. 71, 165 u. 266; UWE MEVES: Der grave von Liningen als Vermittler der französischen Vorlage des TrojaRomans Herborts von Fritzlar. In: Begegnung mit dem .Fremden': Grenzen - Traditionen - Vergleiche. Hrsg. von ELJIRO IWASAKI, München 1991 (Akten des VIII. Internationalen Germanisten-Kongresses, Tokyo 1990, Bd. 6, Sektionen 10 u. 11), S. 173182. Ob Herbort als Magister am Fritzlaer Stift war oder zu den Hofklerikern zählte, lässt sich nicht klären. Da Hermann I. von Thüringen sowohl als Auftraggeber von Herborts Liet von Troye wie auch von Heinrichs von Veldeke Eneasroman fungierte, da beide Texte im Cpg 368 in Überlieferungsgemeinschaft aufeinanderfolgen (siehe dazu oben, Anm. 13), und schließlich weil Herbort explizit auf Veldekes Eneasroman verweist (V. 1 7 3 7 9 - 8 5 ) , liegt der Schluss nahe, dass der Untergang Trojas als Vorgeschichte des Eneasromans für den Landgrafen gedacht war.

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Beate Kellner zv kriechen was sin erste stam, in latin ez dannen quam, hinnen ist ez an daz welhishe kvmen. daz han ich also vurnvmen: Tares der aller beste den stürm von Troygen weste, wen er da mit was gewesen, der screip in vnd liz in lesen. Cornelius den strit las, als er in kriechish gescriben was, als hat er in inz latin gekart. sint ist er tutsche zvngen gelart, nach der sol ich wirken.

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55

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In der Metapher des Stammbaumes (V. 49) bildet Dares, der - nach verbreiteter, hier übernommener mittelalterlicher Auffassung - als Augenzeuge am trojanischen Krieg beteiligt war, sozusagen die Wurzel der Überlieferung.18 Signifikant ist hier, dass nicht zwischen dem Ereignis, an welchem Dares beteiligt ist, und dessen Zeugnis in der Schrift geschieden wird, das Testimonium scheint den Kampf, den stürm, wie es im Mittelhochdeutschen heißt, ohne jeden Vorbehalt oder Verlust aufzunehmen: Es verkörpert das Ereignis geradezu, so könnte man Herborts Darstellung pointieren, und das Fehlen von Differenzmarkierungen zwischen dem Ereignis des Krieges, dem Vorgang der Aufzeichnung und dem geschriebenen Buch wird im ,Wortfeld des Textes' in aller Deutlichkeit über die Metonymie von stürm, strit und buch zum Ausdruck gebracht. Der Sprache steht die rhetorische Form des Tropus zur Verfugung, in der das spezifische Verständnis von Augenzeugenschaft als Verkörperung eines Ereignisses umgesetzt werden kann, indem das Ereignis und das sich daraus ableitende textuelle Erzeugnis füreinander eintreten. Indem der Augenzeuge Dares den stürm aufschreibt und (vor)lesen lässt, bringt er jene Tradition in Gang, welche durch Cornelius Nepos im Lateinischen fortgeführt und über das Lateinische auch ins Französische (V. 51) und Deutsche (V. 60) übertragen wird.19 Während der griechische und der lateini18

Den Berichten vom Trojanischen Krieg, die unter den Namen von Dares Phrygius und Dictys Cretensis firmierten, wurde im Mittelalter bekanntlich wesentlich mehr Glaube geschenkt als Homer, der ohnehin nur dem Namen nach bekannt war. Vgl. Daretis Phrygii de excidio Troiae historia. Hrsg. von FERDINAND MEISTER, Leipzig 1873, Nachdruck Leipzig 1991 (Bibliotheca scriptorum Graecorum et Romanorum Teubneriana); Dictys Cretensis ephemeridos belli Troiani libri a Lvcio septimio ex Graeco in Latinvm sermonem translati. Hrsg. von WERNER EISENHUT, 2., verb, und erw. Aufl., Leipzig 1973 (Bibliotheca scriptorum Graecorum et Romanorum Teubneriana). Besonderer Beliebtheit erfreute sich der vermeintliche Augenzeugenbericht des Dares, vermutlich wegen seiner protrojanischen Tendenz, welche zur verbreiteten Vorstellung von der trojanischen Abkunft mittelalterlicher Völker und Geschlechter passte. 19 In der älteren Forschung wurde gemutmaßt, dass V. 60f. sich auf eine Herborts eigenem Text bereits vorgängige deutsche Fassung des Trojanischen Krieges bezögen; vgl.

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sehe Text durch die Namen Dares und Cornelius ausgewiesen und bezeugt sind, bleibt der Verfasser der eigentlichen französischen Vorlage Herborts, Benoit de Sainte-Maure,20 ungenannt. Die Genealogie der Texte inszeniert dabei ihre Einheit, die ununterbrochene Abfolge der Zeugnisse suggeriert die Kontinuität vom Ursprung des Ereignisses her, ja sie suggeriert, dass der (als Metonymie bemühte) strit in der Form der translatio über die Zeiten und Kulturen hinweg tradiert worden ist.21 Akzentuiert wird damit die Identität der Geschichte vom trojanischen Krieg, dies wiederum zielt - mit einem Terminus aus der lateinischen Poetik - auf die materia, auf das, was man mit einem unzulänglichen und sehr verschwommenen Begriff im Deutschen als ,Stoff bezeichnet hat.22 Jene Identität schließt Differenzen der textuellen Gestalt gerade nicht aus, weshalb die Genealogie der Texte im Folgenden über die Spannungen zwischen Identität und Differenz zu bestimmen ist. Herbort zeigt, dass es ihm um diese Konstellation geht, indem er sie begrifflich zu fassen sucht (V. 62-75) und in schwierigen Bildern poetisch verschiebt und umspielt. Dabei verknüpft er seine poetologischen Überlegungen mit Chiffren des Religiösen, er greift auf das Mysterium der Dreifaltigkeit zurück, um die Paradoxie einer Einheit von Identität und Differenz im religiösen Diskurs zu reflektieren und von hier aus wiederum auf die Problematik der Einheit und Differenz der Text-Tradition zu übertragen: sint es aber von drin zvngen / mit eime sinne ist her gescriben ... (V. 74f.; B1. l r ). Die Figur der poetischen Übersetzung ins Religiöse spiegelt dabei ihrerseits auch die Vorgänge des Übertragens von einer Sprache in die andere, welche auf der thematischen Ebene verhandelt werden. Zentral sind hier die Leitvokabeln von form, sin und zvnge, welche zunächst für die Verfasstheit des Textes in einer bestimmten Sprache stehen, mithin also für das Griechische, Lateinische, Französische und Deutsche, V. 62-70 (B1. l r ): wil ich die formen

merken,

so mvz ich drisinnic sin: eine ist kriechisch, ein latin vnd des welschen buches ein. zwischen den testen sinnen zwein nim ich nv den dritten vnd folge im so mitten,

20 21 22

65

GEORG BAESECKE: Herbort von Fritzlar, Albrecht von Halberstadt und Heinrich von Veldeke. In: ZfdA 50 (1908), S. 366-382, hier S. 367. Die Schlussfolgerung ist jedoch keineswegs zwingend, da die Zeitbezüge und die genaue Abfolge offen bleiben. Vgl. FROMM (Anm. 12), S. 249f., Anm. 12. Auch V. 71-73 muss man pressen, wenn man sie auf eine bereits vorhandene Tradition im Deutschen hin auslegen will. Vgl. Le Roman de Troie par Benoit de Sainte-Maure. Hrsg. von LEOPOLD CONST ANS, 6 Bde., Paris 1 9 0 4 - 1 2 (Societe des Anciens Textes Fran^ais). Zu dieser Vorstellung der translatio bei Herbort vgl. WORSTBROCK (Anm. 15), S. 253f. Ich profitiere von den Überlegungen WORSTBROCKs (Anm. 9), hier bes. S. 135.

Beate Kellner

240 daz er min rechte geleite ist an des tutschen buches list.

70

Der Stoff, die Geschichte des trojanischen Krieges, bleibt sich gleich, während die Sprachen wechseln, während die sprachliche Gestalt sich verändert.23 Eben diese Einheit von Identität und Differenz garantiert die Richtigkeit, die Wahrheit der Tradition, weshalb von der französischen Vorlage gesagt werden kann: sin [bezogen auf: diz buch] fuge ist gantz vnd ane falsch (V. 48; B1. l r )· 24 Das Wort sin changiert dabei im Umfeld der zitierten Passage (V. 62-70) zwischen der Semantik der konkreten sprachlichen Gestalt, der bestimmten Einzelsprache, und jener hermeneutischen Kategorie, die wir auch heute noch mit dem Wort ,Sinn' belegen, denn: Das Buch ist in drei Sprachen mit eime sinne geschrieben (V. 74f.). Im Fortgang von Herborts Prolog hat sich die Bedeutung von sin also unter der Hand verschoben, worin sich eben jene Beweglichkeit der mittelalterlichen Kategorien zeigt, welche man durchaus abwertend als .Vagheit' qualifizieren kann. Umgekehrt lässt sich darin aber auch eine Stärke gerade der Inszenierung eines poetischen Textes erkennen, denn durch ihre semantische Offenheit wirken die Begrifflichkeiten wie Scharniere, die von einem Bildfeld gleitend zum nächsten fuhren. Jene semantische Beweglichkeit können sich dabei gerade poetische Texte zunutze machen, da sie ihre Themen nicht nach der Art von Traktaten entfalten und fertige Lösungen anbieten, sondern vielfach in Aporien münden und Probleme in der Schwebe halten. So gesehen erwiese sich die ,Vagheit' der Begriflflichkeiten als besonderer Ausweis der Literatur. Zudem kann nicht vorausgesetzt werden, dass Kategorien, die uns heute als verschieden erscheinen, in den mittelalterlichen epistemischen Ordnungen nicht als ähnlich verstanden wurden. Was wir heute daher in verschiedene Termini aufspalten, kann mittelalterlicher Episteme entsprechend adäquat mit e i n e m Wort und Begriff bezeichnet worden sein. 23

BAUSCHKE, Strategien (Anm. 12), S. 353, interpretiert wie folgt: „Es handelt sich bei latin (V. 64) und welsch (V. 65) nicht um zwei Möglichkeiten, von denen Herbort die Vorlage Benoit wählt - so wäre die übliche Lesart - , sondern Herbort siedelt vielmehr .zwischen' lateinischer und französischer Stoffgestaltung, ,in deren Mitte', einen neuen Sinn an, den er in seiner deutschen Dichtung allererst herstellen will." Dieser Akzentuierung kann ich nicht folgen. Vgl. dazu die Auffassungen von FROMM (Anm. 12), S. 250, sowie JOACHIM KNAPE: War Herbort von Fritzlar der Verfasser des , VersPilatus'? Zu den kontroversen Standpunkten Edward Schröders und Friedrich Neum a n n s . In: Z f d A 1 1 5 ( 1 9 8 6 ) , S. 1 8 1 - 2 0 6 , hier S. 2 0 3 .

24

Zur legitimatorischen Funktion von Quellenberufungen vgl. CARL LOFMARK: The Authority of the Source in Middle High German Narrative Poetry, London 1981; KLAUS GRUBMÜLLER: Das buoch und die Wahrheit. Anmerkungen zu den Quellenberufungen im Rolandslied und in der Epik des 12. Jahrhunderts. In: bickelwort und wildiu mcere. Festschrift für Eberhard Nellmann zum 65. Geburtstag. Hrsg. von DOROTHEE LLNDEMANN/BERNDT VOLKMANN/KLAUS-PETER WEGERA, G ö p p i n g e n

1995

(GAG

618),

S. 3 7 - 5 0 ; STEFANIE SCHMITT: I n s z e n i e r u n g e n v o n G l a u b w ü r d i g k e i t . S t u d i e n zur B e -

glaubigung im späthöfischen und frühneuzeitlichen Roman, Tübingen 2005 (MTU 129).

Poetologie im Spannungsfeld von .wiederholen' und ,erneuem' in den Trojaromanen

241

Im vorliegenden Prolog, auf den es wieder zurückzukommen gilt, fungiert der Begriff ,sin' in der Tat wie ein Scharnier zwischen zwei Bildfeldern. Eben noch verwendet, um die Paradoxien der Dreieinigkeit anklingen zu lassen, leitet er zu den - im Vergleich dazu sehr profanen - Metaphern vom Wagen, den Rädern und der Straße über (V. 76-91). Auch dieses Bildfeld hat seinen Angelpunkt in den Spannungen zwischen Identität und Differenz, wobei Herbort nun offensichtlich seinen Platz in der Tradentenkette bestimmen will. Durch das neue Bildfeld kommt Dynamik im Raum ins Spiel, was man wiederum als komplementär zur Bewegung in der Zeit sehen kann, welche besonders im Modell der Text-Genealogie als Wiederholung und Sukzession der Tradition25 akzentuiert worden war. Über die Aufgabe, den trojanischen Krieg im Deutschen zu schreiben, positioniert sich Herbort nun selbst als viertes Glied in der Kette der Tradenten, im Bild des Wagens nennt er sich das vierte Rad (V. 77), V. 76-84 (B1. Γ ν ): des bin ich dar zv

beschiben,

daz ich si daz fierde rat. daz ist rechte svs bestat: sint ich von den drin quam, daz man mich zv dem fierden nam. 80 hat ez ein ander fallen bracht als ich zv dem fierden wart gedacht, so zele man mich zv dem fünften rade vnd frume ich niht, ich bin niht schade.

Die Betonung liegt hier deutlich auf der Tradentenkette, weniger auf deren einzelnen Gliedern, was unmittelbar daran sichtbar wird, dass Herbort sich auch mit der sprichwörtlichen Rolle des fünften Rades begnügen würde,26 wenn ein

25

26

Vgl. zur Verschränkung von linearer und zyklischer Zeitauffassung im Modell der Genealogie BEATE KELLNER: Ursprung und Kontinuität. Studien zum genealogischen Wissen im Mittelalter, München 2004. Mittelalterliche Belege für die sprichwörtliche Rede vom fünften Rad am Wagen lassen sich im Lateinischen und Deutschen finden. Vgl. etwa folgende Nachweise aus dem Thesaurus proverbiorum medii aevi. Lexikon der Sprichwörter des romanisch-germanischen Mittelalters. Hrsg. vom Kuratorium Singer der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften unter Leitung von RICARDA LLVER. Begr. von SAMUEL SINGER, Bd. 9, Berlin, New York 1999: Quem fastidimus, quinta est nobis rota plaustri; „Der, gegen den wir einen Widerwillen empfinden, ist fur uns das fünfte Rad am Wagen" (Egberts von Lüttich Fecunda ratis. Zum ersten Male hrsg., auf ihre Quellen zurückgeführt und erklärt von ERNST VOIGT, Halle a. S. 1889, lib. I, V. 47). Eges ea re, ut currus quinta rota; „Du bedarfst dessen wie der Wagen des fünften Rades" (Heinrich Bebel's Proverbia Germanica. Bearb. von WILLEM H. D. SURINGAR, Leiden 1879, Nachdruck Hildesheim 1969, Nr. 565). Vgl. dazu etwa folgende deutsche Belege: Der wagen hat deheine stat, / dä wol ste daz fünfte rat (Fridankes Bescheidenheit. Hrsg. von HEINRICH E. BEZZENBERGER, Halle a. S. 1872, Nachdruck Aalen 1962, V. 127,12f.). Er verirt das klöster, hoer ich sagen, / recht als daz vünfte rat den wagen

242

Beate Kellner

anderer schon vor ihm die vierte Stelle einnähme.27 Entscheidend ist, dass der Wagen, um im Bild zu bleiben, fährt, dass die Geschichte vom trojanischen Krieg also transportiert, tradiert werden kann. Dieses Zurücktreten der Einzelnen und vor allem auch Herborts selbst hinter der Tradentenkette 28 wird jedoch im Folgenden relativiert, wie sich an der auch sprachlich schwierigen weiteren Entfaltung des Bildes von der Straße zeigen lässt, V. 85-91 (B1. l v ): ich buwe doch die strazzen, die sie hant gelazzen manigem rat ane bane vnd baniche minen sin dar ane, daz ich in bekere deste baz, wen der ist herte vnd laz. ich wil in bigen, ob ich kan.

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Das ,Ich' des Prologs, welches die Autorrolle einnimmt, gibt vor, so würde ich lesen, auf jener Straße zu fahren, welche seine Vorgänger (sie, V. 86) ihm und anderen Nachfolgern ungebahnt (ane bane, V. 87) überlassen hätten. Herbort und andere Glieder der Tradentenkette - im Bild von Wagen, Rad und Straße die Räder (manigem rat, V. 87) - können so ihre eigenen Spuren, Bahnen in die Straße graben. Eben darin liegt nun auch die eigene Leistung der Tradenten, sie übernehmen nicht nur den Stoff, sondern haben die Freiheit ihn - im Sinne ihrer ars - zu bearbeiten, sie können ihre eigenen Furchen in die materia prägen, sie verleihen der Geschichte Gestalt. Um diese Vollzüge sprachlich zu fassen, greift Herbort erneut auf die Kategorie des sin zurück, wobei bisher noch nicht ausgespielte semantische Facetten des Begriffs zum Tragen kommen: 29 Beim Umgang mit dem von langer Hand Ererbten gilt es, seinen sin, nun verstanden als Kunstverstand, künstlerische Fähigkeiten, in Bewegung zu bringen, anzustrengen und so in der Arbeit an der Tradition geschmeidig zu machen (V. 88-91). Eben diese Gedankenfigur scheint mir das entscheidende Verbindungsglied zum ersten Prologteil zu sein, den ich als den poetologischen bezeichnet habe (V. 1-46). Entfalten die analysierten textgenealogischen Partien das Problem von Identität und Differenz der Geschichte vom trojanischen Krieg in der translatio über die Zeiten, Sprachen und Kulturen hinweg, so geht es hier um das Spezifische der künstlerischen Leistung. Herbort organisiert die Passagen um die dichotomische Achse von ,gelehrt' und ,ungelehrt', ,lehren' und ,1er-

27 28

29

(.Der Edelstein von Ulrich Boner. Hrsg. von FRANZ PFEIFFER, Leipzig 1844 [Dichtungen des deutschen Mittelalters 4], Nr. 84, V. 85f.). Auch nach der Inszenierung des Epilogs genügt es Herbort, der Schar der Dichter anzugehören; die eigene Leistung wird dabei heruntergespielt (V. 18449-58). Anders BAUSCHKE, Strategien (Anm. 12), S. 354, die bereits das Bild des fünften Rades am Wagen als Anspruch Herborts auf „einen besonderen Gestaltungsfreiraum für seinen Trojaroman" versteht. Der Begriff ,sin' oszilliert zwischen der Bestimmung als ,Sprache',,Einzelsprache', als .hermeneutische Kategorie' und als .Kunstverstand', .künstlerische Fähigkeiten'.

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nen', ,alt' und jung', ,sehend' und .blind', schließlich um .Weisheit' und .Wahrheit'. Die gelehrten Dichter erscheinen als meister ihrer kunst (V. 1), d. h. sie sind diejenigen, welche ihre ars beherrschen, indem sie über die Verfahren der dilatatio und abbreviatio verfügen, und solchermaßen dem Vorgefundenen Gestalt verleihen30, V. 1-11 (B1. l r ): Swer siner kvnst meister ist, der hat gewalt an siner list, der lean si bekeren, minren vnd meren, witen vnd engen, kvrtzen vnd lengen. des ist der lichtere wise vnd gewere, der sich so hat behut, daz er ane vbermut siner kvnst hat gewalt.

5

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Sichtbar wird hier die besonders von FRANZ JOSEF WORSTBROCK betonte Nähe Herborts zur Rhetorik, denn dichterische Meisterschaft besteht nach der Eingangspassage des Prologs zunächst und vor allem im Beherrschen rhetorischer Techniken, kunst wird verstanden als Können, als Gelehrsamkeit. Die hier angesprochenen Veränderungen der sprachlichen Ausdrucksseite der Vorlagen können der Identität der materia, hier der Geschichte vom trojanischen Krieg, keinen Abbruch tun, doch sind sie dasjenige Feld, auf dem der Dichter sein artificium in der Arbeit an einer vorgegebenen materia entfalten kann. Ganz in diesem Sinne versteht auch Galfrid von Vinsauf in seiner Poetria nova die Aufgabe des Dichters als artifex?{ Dieses Gestalten des Vorgängigen im Sinne eines Verfugens über die Tradition - Herbort setzt hier den Begriff der gewalt (V. 2 u. 11) - zeichnet den gelehrten Dichter als ,weise' (V. 8) aus, während der ungelehrte seine Kunst, ars, nicht beherrscht (V. 12-17). Fälschlich glaubt jener mit der durch die stofflichen Vorlagen gegebenen warheit (V. 13) auch bereits über wisheit (V. 14) zu verfugen. Weisheit und Wahrheit werden also hier in der Verknüpfung mit dem Typus des gelehrten und des ungelehrten Dichters gegeneinander ausgespielt: Wer die stofflichen Vorlagen besitzt, dem ist die warheit der Tradition sozusagen schon gegeben, doch er ist, so könnte 30

31

Vgl. zur Bedeutung dieser Verfahren in der volkssprachlich deutschen Literatur vor allem FRANZ JOSEF WORSTBROCK: Dilatatio materiae. Zur Poetik des Erec Hartmanns von Aue. In: Frühmittelalterliche Studien 19 (1985), S. 1-30, und Ders. (Anm. 9). Vgl. Geoffroi de Vinsauf: Poetria nova. In: Les arts poetiques du ΧΙΓ et du ΧΙΙΓ siecle. Recherches et documents sur la technique litteraire du moyen Ige. Hrsg. von EDMOND FARAL, Paris 1924 (Bibliotheque de l'Ecole des Hautes Etudes 238), S. 194-262, hier bes. V. 77-86; Ders.: Documentum de modo et arte dictandi et versificandi. Ebd. S. 263-320, hier bes. prägnant S. 271 u. 279. Galfrid benennt u. a. die Verfahren von ordo naturalis und ordo artificialis, dilatatio materiae und abbreviatio', vgl. dazu WORSTBROCK ( A n m . 9 ) , S. 1 3 7 .

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man folgern, nur ein Tradent, kein artifex, kein Dichter im eigentlichen Sinn, denn er hat kein Rüstzeug, um den Text einsichtig zu formen: doch ist er unbereitet, / swenne in sin kunst leitet/vnd ersieh nicht bewaren kan (V. 15-17).32 Herbort verschiebt diese Vorstellungen vom gelehrten und ungelehrten Dichter nun auf die Bilder vom Sehenden und vom Blinden, was in der Metapher des Weges noch weiter ausassoziiert wird, V. 18-26 (B1. l r ): daz zvhe ich an den blinden man: er engriffe, da er wec habe, ich denke des, daz er besnabe. der blinde siht des weges niht. der gesehende dar ane siht beide schaden vnd frumen, da er mit sorgen mvz vberkvmen. ich heizze die vngelerten blint, die sehenden33 die geleret sint...

20

25

Zweifelsohne stellt das Bild des Weges eine Junktur dar zu den Bildfeldern von Wagen, Rädern und Straße, wie sie der textgenealogische Teil entwickelt hat. Obwohl die Verbindungen im einzelnen unklar bleiben, lässt sich doch ersehen, dass der ungelehrte Dichter im Bild des Blinden, der stolpert, weil er den Weg und seine Gefahren nicht sieht, als der Scheiternde dargestellt wird.34 Nachdem Herbort die Systematik von gelehrtem und ungelehrtem Dichter aufgemacht und in den Bildern vom Sehenden und Blinden durchgespielt hat, muss er sich selbst positionieren. Die Selbstbezeichnung im Epilog als ein gelarter schulere (V. 18451; B1.119 v ), der im Prolog angedeutete Wille, seinen sin in Bewegung zu bringen, geschmeidig zu machen, und die Geschichte von Troja solchermaßen dichterisch zu gestalten, sowie die erklärte Absicht, die Vorlage nicht in die Länge zu ziehen, worin man stets eine Chiffre für die abbreviatio des französischen Textes gesehen hat (V. 97),35 lassen Herbort als 32

Meine Interpretation hängt am Verständnis des Begriffes von warheit, ich lese ihn, um es noch einmal zu pointieren, als warheit, welche durch die Stofftradition schon gegeben ist, und beziehe mich dabei auf eine ähnliche Lesart bei FROMM (Anm. 12), S. 249; und a u f d i e g r u n d s ä t z l i c h e n A u s f ü h r u n g e n bei GRUBMÜLLER ( A n m . 2 4 ) .

33

Ich l e s e in V . 2 6 sehenden

34

Vermutlich soll hier angedeutet werden, dass der ungelehrte Dichter den richtigen Weg der Dichtkunst verfehlt, weil er nicht über die rechte kunst bzw. ars verfügt. Herbort stellt damit jenes Verfahren in Aussicht, das er für den gelehrten Dichter in Anschlag gebracht hatte (V. 1-36). Tatsächlich hat Herbort seine Vorlage erheblich gekürzt, die mehr als 30.000 Verse Benoits werden auf 18.458 Verse, zählt man nach FROMM ANN, gebracht. Zur Umgestaltung der Quelle durch Herbort vgl. bereits CLEMENS FISCHER: Der altfranzösische Roman de Troie des Benoit de Sainte-More als Vorbild für die mittelhochdeutschen Trojadichtungen des Herbort von Fritslär und des Konrad von Würzburg, Paderborn 1883 (Neuphilologische Studien 2); HERMANN MENHARDT: Herbortstudien. In: ZfdA 65 (1928), S. 225-254, 66 (1929), S. 173-200, 77

i c h vngelerten

35

g e g e n FROMMANN, der sehenden

g e g e n FROMM ANNS

druckt, und in V . 2 5 s e t z e

vngelten.

( 1 9 4 0 ) , S. 2 5 6 - 2 6 4 ; v g l . v o r a l l e m a u c h WORSTBROCK ( A n m . 15); GERHARD P. KNAPP:

Poetologie im Spannungsfeld von .wiederholen' und .erneuern' in den Trojaromanen

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jenen gelehrten Dichter erscheinen, dessen Ideal er in den Eingangspassagen des Prologs entwirft. Dies gilt, auch wenn jene Selbstinszenierung durch verschiedene Bescheidenheitstopoi unterlaufen wird. So bezeichnet er im Epilog seine Dichtung als nicht achbere (V. 18452; B1.119 v ) und gibt vor, es sei sein einziges Ziel, die Schar der Dichter zu mehren (V. 18455-57; ebd.). Dazu wiederum passt die Vorstellung von der keineswegs überschäumenden poetischen Quelle im Prolog, denn Herbort beklagt, dass ihm die Inspiration nur als Tröpfeln, wenngleich als ein stetes, zuteil wird (V. 37-46). Indem er gleichzeitig betont, dass auch der stete Tropfen den Stein höhlt, d. h. den sin des Dichters prägt, erweist sich der vermeintliche Bescheidenheitstopos freilich gerade im Rückgriff auf ein Bild aus Ovids Epistolae ex ponto als Ausweis der Gelehrsamkeit des Dichters.36 Zum eigentlichen Muster seiner Selbstbestimmung scheint der Übergang zwischen Lehren und Lernen zu werden. In der alten Formel des docendo discimus stellt Herbort sich als der im Lehren Lernende dar, V. 30-33 (B1. l r ): 37 wen wa ich ivngere solle wesen. wil ich da ander leren, so mvz man mirz verkeren. doch lere ich, daz ich gelerne.

30

Damit deutet sich sozusagen ein Drittes zwischen den zunächst eher starren Kategorien des Gelehrten und Ungelehrten, des Sehenden und des Blinden an, vielleicht könnte man es als Formel verstehen für den Willen, das von der Tradition Vorgegebene als Lernender zu übernehmen, sich also der Tradition als gewissermaßen austauschbares Glied der Kette unterzuordnen, andererseits aber doch den Anspruch zu erheben zu lehren, d. h. dem Stoff als artifex eine eigene Prägung zu geben. Die Formel würde - so gesehen - das Leitmotiv des Prologs, die Problematik von Identität und Differenz noch einmal, bezogen auf die Person des Dichters, tarieren.

Hector und Achill: Die Rezeption des Trojastoffes im deutschen Mittelalter. Personenbild und struktureller Wandel, Bern, Frankfurt a. M. 1974 (Utah Studies in Literature and Linguistics 1), S. 23-51; RÜDIGER SCHNELL: Andreas Capellanus, Heinrich von Morungen und Herbort von Fritslar. In: ZfdA 104 (1975), S. 131-151; FROMM (Anm. 12); SCHMID (Anm. 12); BAUSCHKE, Geschichtsmodellierung (Anm. 12); Dies., Strategien (Anm. 12). 36

37

Vgl. Epistolae ex ponto IV, 10,5: gutta cavat lapidem. P. Ovidi Nasonis Tristivm libri qvinqve. Ibis ex ponto libri qvattvor. Halievtica. Fragmenta. Hrsg. von SIDNEY G. OWEN, Oxford 1915 (Scriptorum classicorum bibliotheca Oxoniensis), Nachdruck Oxford 1984. Vgl. dazu bes. auch FROMM (Anm. 12), S. 248f.

246

Beate Kellner

ΙΠ.1 Um nun auf Konrads von Würzburg Prolog zum Trojanerkrieg38 überzugehen: Wie Herbort stilisiert Konrad sich nicht als .Erfinder',39 auch er will die bekannte Geschichte des trojanischen Krieges wiedererzählen und wie sein Vorgänger muss auch er sich mit der langen und berühmten Tradition von 38

Zitiert wird nach: Der Trojanische Krieg von Konrad von Würzburg. Nach den Vorarbeiten K. FROMMANNS und F. ROTHS zum ersten Mal hrsg. durch ADELBERT VON KELLER, Stuttgart 1858 (StLV 44), Nachdruck Amsterdam 1965. Vgl. dazu an neueren Forschungsbeiträgen bes.: HORST BRUNNER: Art. .Konrad von Würzburg'. In: J VL, Bd. 5 (1985), Sp. 272-304; RÜDIGER BRANDT: Konrad von Würzburg, Darmstadt 1987

(Erträge der Forschung 249), S. 173-187; HARTMUT KOKOTT: Ein Autor zwischen Auftrag und Autonomie. Konturen eines neuen Konrad von Würzburg-Bildes. In: JOWG 5 (1988/89), S. 69-77; Ders.: Konrad von Würzburg. Ein Autor zwischen Auftrag und A u t o n o m i e , S t u t t g a r t 1989, S. 2 5 8 - 2 8 6 ; ALFEN/FOCHLER/LIENERT ( A n m . 13), S. 15-25;

ELISABETH LIENERT: Die Überlieferung von Konrads von Würzburg Trojanerkrieg. In: Die deutsche Trojaliteratur (Anm. 11), S. 325-406; Dies.: Der Trojanische Krieg in Basel. Interesse an Geschichte und Autonomie des Erzählens bei Konrad von Würzburg. In: Literarische Interessenbildung im Mittelalter. DFG-Symposion 1991. Hrsg. von JOACHIM HEINZLE, Stuttgart, Weimar 1993 (Germanistische Symposien, Berichtsbände 14), S. 266-279; Dies.: Konrad von Würzburg, Trojanerkrieg. In: Mittelhochdeutsche Romane und Heldenepen. Interpretationen. Hrsg. von HORST BRUNNER, Stuttgart 1993 ( R U B 8 9 1 4 ) , S. 3 9 1 - 4 1 1 ; MARTIN PFENNIG: erniuwen

- Zur Erzähltechnik im Troja-

roman Konrads von Würzburg, Frankfurt a. M. u.a. 1995 (Europäische Hochschulschriften 1,1,1537); ELISABETH LLENERT: Geschichte und Erzählen. Studien zu Konrads von Würzburg Trojanerkrieg, Wiesbaden 1996 (Wissensliteratur im Mittelalter 22); FRANZ JOSEF WORSTBROCK: Der Tod des Hercules. Eine Problemskizze zur Poetik des Zerfalls in Konrads von Würzburg Trojanerkrieg. In: Erzählungen in Erzählungen ( A n m . 12), S. 2 7 3 - 2 8 4 ; KRASS ( A n m . 12); ELISABETH LLENERT: D e u t s c h e

Antiken-

romane des Mittelalters, Berlin 2001 (Grundlagen der Germanistik 39), S. 120-136; COXON ( A n m . 9), S. 9 5 - 1 4 1 ; BURKHARD HASEBRINK: R a c h e als G e s t e . M e d e a im

Tro-

janerkrieg Konrads von Würzburg. In: Literarische Leben. Rollenentwürfe in der Literatur des Hoch- und Spätmittelalters. Festschrift für Volker Mertens zum 65. Geburtstag. H r s g . v o n MATTHIAS MEYER/HANS-JOCHEN SCHIEWER, T ü b i n g e n 2 0 0 2 , S. 2 0 9 -

230; STEFANIE SCHMITT: Autorisierung des Erzählens in Romanen mit historischen Stoffen? Überlegungen zu Rudolfs von Ems Alexander und Konrads von Würzburg Trojanerkrieg. In: Geltung der Literatur. Formen ihrer Autorisierung und Legitimierung i m Mittelalter. H r s g . v o n BEATE KELLNER/PETER STROHSCHNEIDER/FRANZISKA WEN-

ZEL, Berlin 2005 (Philologische Studien und Quellen 190), S. 187-201; vgl. auch den Beitrag von JAN-DIRK MÜLLER in diesem Band, S. 287-307.

39

Damit liegt Konrad wie Herbort ganz auf der Linie der mittelalterlichen Poetiken, da die Findung des Stoffes hier kaum eine Rolle spielt. Der Stoff ist vielmehr immer schon gegeben. Besonders deutlich wird dies in Galfrids von Vinsauf Poetria nova (Anm. 31), da jene nach den fünf officio oratoris der klassischen Rhetorik aufgebaut ist, die inventio dabei aber stark vernachlässigt. Galfrid geht auf sie nur in den Einleitungsversen im Rahmen einer Inhaltsübersicht ein (V. 43-70). Vgl. dazu PAUL KLOPSCH: Einführung in die Dichtungslehren des lateinischen Mittelalters, Darmstadt 1980 (Das lateinische Mittelalter), S. 128; WORSTBROCK (Anm. 9), S. 137.

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Troja auseinandersetzen. Doch das poetologische Programm und die Inszenierungen der Autorrolle haben sich deutlich gewandelt und diesen Verlagerungen soll nun im Wortfeld des Prolog-Textes40 nachgegangen werden. Ich beginne wiederum mit der Genealogie der Texte, die Konrad auf den ersten Blick recht ähnlich wie Herbort referiert. Auch jener hebt bei dem angeblichen Augenzeugen Dares Phrygius an und erläutert, dass dessen in griechischer Sprache abgefasster Bericht von der königlichen Stadt Troja später ins Lateinische und Französische übertragen wurde. In diese Traditionskette ordnet er sich selbst als derjenige ein, welcher die Geschichte nun in poetischer Form ins Deutsche transferieren möchte, V. 296-307: Däres, ein ritter uz erwell, der selbe vil vor Troye streit, swaz der in kriechisch hat geseit von dirre küniclichen stift, daz wart mit endelicher schrift ze welsche und in latine bräht. dä wider hän ich des gedäht, daz ich ez welle breiten und mit getihte leiten von welsche und von latine: ze tiuscher worte schine wirt ez von mir verwandelt.

300

305

Die zitierte Passage macht deutlich, dass das Wiederzählen der Geschichte von Troja kein Übersetzen im uns geläufigen Sinne meint, vielmehr geht es darum, die Geschichte im Deutschen in Reime zu bringen (mit getihte leiten, V. 304)41 und sie zugleich zu breiten (V. 303), d. h. sie im Sinne des Prinzips der amplificatio zu erweitern,42 womit Konrad sich gerade gegenläufig zu Herborts Absicht der Kürzung äußert. Als Aufgabe des Dichters erscheint die kunstvolle Gestaltung des vorgefundenen Stoffes in formvollendeten Reimen, was sich auch an anderen Stellen des Prologs noch bestätigen lässt.43 So gesehen zielen Konrads Reflexionen - Herborts Ausführungen nicht unähnlich - zunächst wiederum auf das, was auch im gelehrten Diskurs der Poetiken als Kembereich 40

41

Vgl. dazu u. a. TRUDE EHLERT: ZU Konrads von Würzburg Auffassung vom Wert der Kunst und von der Rolle des Künstlers. In: JOWG 5 (1988/89), S. 79-94, hier S. 90-92; WlEBKE FREYTAG: Zur Logik wilder äventiure in Konrads von Würzburg Paris-Urteil. Ebd. S. 373-395, hier S. 377f.; KOKOTT, Konrad von Würzburg (Anm. 38), S. 258-260; WERNER SCHRÖDER: Text und Interpretation III. Zur Kunstanschauung Gottfrieds von Straßburg und Konrads von Würzburg nach dem Zeugnis ihrer Prologe, Stuttgart 1990 (Sitzungsberichte der Wissenschaftlichen Gesellschaft an der Johann-Wolfgang-Goethe Universität Frankfurt a. M. 26, Nr. 5), S. 153-159 (Übersetzung des Trojanerkrieg-Prologs), S. 164-177 (Erläuterung); LIENERT, Geschichte (Anm. 38), S. 17-29; SCHMITT (Anm. 38), S. 195-199. Vgl. auch V. 266-69, vor allem V. 268: mit rimen [...] rihte[n].

42

Vgl. LIENERT, Geschichte (Anm. 38), S. 23.

43

Vgl. etwa V. 274-79.

248

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mittelalterlicher Autorschaft beschrieben wird, nämlich auf die Kunst der sprachlichen und metrischen Gestaltung.44 Die Poetiken veranschlagen den Wert eines Dichters besonders hoch, wenn es ihm gelingt, einen viel traktierten Stoff aufs Neue angemessen und gut zu behandeln 45 Doch während Herbort bei der Entfaltung der Traditionskette den Akzent auf die Identität der Geschichte von Troja setzt, inszeniert Konrad das Wiedererzählen eher als eine Verwandlung (V. 307). 46 Auch die für Herbort47 wie für Benoit48 zentrale Vorstellung von der durch die stofflichen Vorlagen gegebenen warheit kommt bei Konrad kaum noch zum Tragen, die Akzente haben sich auf die Meisterschaft in der Kunst verschoben. Konrad scheint - so die These - in und an diesem Roman über die beschriebenen Rollen von Wiedererzähler und artifex hinauszuwachsen, denn: Schon die Gesamtanlage und die Dimensionen seines epischen Großtextes legen offen, dass er nicht nur Benoit und Dares folgt, sondern dass er auch eine Reihe von anderen Quellen (Ovid, Metamor-

44

Vgl. Galfrid von Vinsauf, Poetria nova (Anm. 31); sowie das Documentum de modo et arte dictandi et versificandi (Anm. 31). Man kann auch auf die gelehrte Tradition der accessus ad auctores verweisen, welche die Besonderheit eines literarischen Textes als modus tractandi oder ordo libri beschreiben, womit wiederum sprachliche und metrische Gestaltung sowie die Art und Weise der Komposition angesprochen sein dürften. Vgl. BUMKE (Anm. 9), S. 87-114, hier S. 108f.; MiNNis (Anm. 9), S. 21-23; vgl. auch die Definition der Dichtkunst, welche Isidor in seinen Etymologiae gibt: Officium autem poetae in eo est ut ea, quae vere gesta sunt, in alias species obliquis figurationibus cum decore aliquo conversa transducant\ („Die Aufgabe aber der Dichter besteht darin, dass sie das, was wirklich geschehen ist, durch indirekte Darstellung mit einer gewissen Ausschmückung in eine andere Gestalt überführen.") Isidori hispalensis episcopi Etymologiarum sive originum libri XX. Hrsg. von WALLACE Μ. LINDSAY, 2 Bde., Oxford 1911, VIII,7,10.

45

Im Documentum de arte versificandi (Anm. 31, hier S. 309) stellt die Behandlung eines schon öfter verwendeten Stoffes ein wichtiges Thema dar: difficile est materiam communem et usitatam convenienter et bene tractare. Et quanto difficilius, tanto laudabilius est bene tractare materiam talem, scilicet communem et usitatam, quam materiam aliam, scilicet novam et inusitatam; („Es ist schwer, einen bekannten und gebräuchlichen Stoff auf passende gute Weise zu behandeln. Und je schwerer es ist, umso lobenswerter ist es, einen solchen Stoff auf gute Weise zu behandeln, gemessen an einem anderen, neuen und ungewohnten Stoff."); vgl. WORSTBROCK (Anm. 9), S. 137f. Siehe auch Matthäus von Vendöme: Ars versificatoria. In: Les arts poetiques (Anm. 31), Teil IV, S. 180-193: Matthäus unterscheidet hier zwischen zwei Stoffarten: dem noch nie dagewesenen (materia illibata) und dem bereits behandelten Stoff (materia pertractata), wobei er den Akzent deutlich auf letzteren legt, denn hier sei es die Aufgabe der moderni, mit den antiqui zu wetteifern; vgl. dazu KLOPSCH (Anm. 39), S. 125-127. 46 Möglicherweise ist auch die Erwähnung des französischen Textes vor dem lateinischen ein Hinweis darauf, dass es Konrad nicht auf die genaue Sukzession der Texte ankommt. V g l . SCHMITT ( A n m . 38), S. 196.

47 48

Vgl. dazu Abschnitt II dieses Beitrags. Wie zentral die Wahrheit (Roman de Troie [Anm. 20], V. 44) der Geschichte für Benott ist, zeigt besonders auch seine Quellenkritik: Homers Darstellung wird gegenüber dem vermeintlichen Augenzeugen Dares abgewertet (ebd. V. 45-74).

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phosen, Amores, Heroides·, Statius, Achilleis·, Excidium Troiae; Simon Aurea Capra, Ylias; Ilias latina-, Vergil, Aeneis) und partikularen Traditionen aufnimmt.49 Schon aufgrund dieser Fülle können Gehalt und Wahrheit des zu Erzählenden gerade nicht mehr in einer einzigen Quelle und der von ihr ausgehenden linearen Tradition verbürgt sein,50 sondern ergeben sich aus der Integration verschiedener Geschichten. Eben dies macht Konrad zu seinem Programm, V.234-43: ich wil ein mcere tihten, daz allen mceren ist ein her als in daz wilde tobende mer vil manic wazzer diuzet, sus rinnet undeßiuzet vil mcere in diz getihte gröz. ez hat von rede so witen vloz, daz man ez küme ergründen mit herzen und mit münden biz üf des endes boden kan.

235

240

Mit durchaus enzyklopädischem Anspruch will er eine Synthese, eine Summe des überlieferten Wissens um Troja bieten. Sein Roman ist daher auf ungeheure Dimensionen hin angelegt, was unmittelbar darin deutlich wird, dass in dem erhaltenen Torso von bereits über 40.000 Versen erst ein Drittel der Vorlage Benoits erzählt ist. Wie sich in das Meer viele Flüsse ergießen, so münden Konrads Darstellung nach - viele verschiedene Geschichten in seinen epischen Text.51 Das damit - zumindest implizit - angesprochene Verfahren der Kompilation, welches aus moderner Sicht häufig ästhetisch abgewertet wird, ist zentral für mittelalterliche Formen der Textproduktion.52 Vergleicht man die Quellen, 49

Vgl. vor allem LLENERT, Geschichte (Anm. 38), S. 30-222, mit ausführlicher Dokumentation der Quellenverarbeitung, besonders auch der Überschüsse gegenüber Benoit; vgl. dazu auch CHRISTOPH CORMEAU: Quellenkompendium oder Erzählkonzept? Eine Skizze zu Konrads von Würzburg Trojanerkrieg. In: Befund und Deutung. Zum Verhältnis von Empirie und Interpretation in Sprach- und Literaturwissenschaft. Hrsg. von KLAUS GRUBMÜLLER U. a., Tübingen 1979, S. 303-319.

50 Es kann kein Gegenargument sein, dass auch Herbort andere Quellen als Benoit gekannt und verarbeitet hat, denn mir geht es um die jeweiligen Inszenierungen als Legitimierung der eigenen Dichtung, und hier beruft sich Herbort klar auf die eine lineare Tradition. 51 LlENERT, Geschichte (Anm. 38), S. 21, Anm. 122, verweist auf den Weltchronik-Typ des mare historiarum. 52 BUMKE (Anm. 9), S. 110, spricht von einem „Zentralbegriff der Literaturtheorie" im 12. und 13. Jahrhundert. Vgl. dazu MALCOM Β. PARKES: The Influence of the Concepts of Ordinatio and Compilatio on the Development of the Book [1976]. In: Ders.: Scribes, Scripts and Readers. Studies in the Communication, Presentation and Dissemination of Medieval Texts, London, Rio Grande 1991, S. 35-70; ALASTAIR J. MlNNlS: Late-Medieval Discussions of Compilatio and the Role of the Compilator. In: ΡΒΒ (Tüb.) 101 (1979), S. 385-421; BERNARD GUENEE: Lo storico e la compilazione nel XIII secolo. In: Aspetti della letteratura latina nel secolo XIII. Hrsg. von CLAUDIO LEONARDI/GIOVANNI

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wird allerdings sichtbar, wie sehr der Begriff der compilatio im einzelnen variiert. Isidor bezeichnet denjenigen als Kompilator, welcher, was andere gesagt haben, mit eigenen Worten vermischt.53 In den großen spätmittelalterlichen Kompilationen tritt immer wieder ein Verständnis von Kompilation zu Tage, in dem die Verantwortung fur das entstehende opus ganz den Quellen, den auctores, zugewiesen wird.54 Dementsprechend betonen Kompilatoren wie Vincenz von Beauvais, sie hätten den Quellen wenig oder gar nichts selbst hinzugefugt, die einzige eigene Leistung läge in der Anordnung.55 Konrads Metaphorik, in der sich seine Kompilatorenrolle andeutet, erscheint im Vergleich mit diesen Kontexten als besonders signifikant, denn: Das Bild von den Flüssen, die sich ins Meer ergießen, steht für compilatio in dem Sinne, dass die frühere Überlieferung im Meer des eigenen Textes zum Verschwinden gebracht wird.56 Im Superlativ des Konradschen Trojanerkrieges heben sich die Identitäten der vorausliegenden Textzeugen auf, weshalb auch der Gedanke der genealogischen Sukzession an Bedeutung verliert; es geht nicht mehr darum, die eine Geschichte von Troja in ihrer unverbrüchlichen Identität zu bewahren, das Ziel ist vielmehr die Aufhebung des Früheren in der Überbietung. Im Bild fungiert das Wasser als Substrat der Kontinuität und als Medium der Entgrenzung zugleich, bruch- und fugenlos verbindet es die verschiedenen Glieder der Tradition zur Einheit. Im emphatischen Sinne wird das Vorgängige hier zur Quelle. Die gesamte Geschichte wird zu einem tiefen buoche (V. 219), das es zu ergründen gilt. Die Metapher von der Entgrenzung der Tradition im Meer der eigenen Geschichte passt zu dieser Poetik der Tiefe, 57 gehört mit ihr zusammen.

ORLANDI, Perugia, Florenz 1986 (Quaderni del Centra per il Collegamento degli Studi Medievali e Umanistici nell'Universitä di Perugia 15), S. 57-76; NEIL HATHAWAY:

53 54 55

56

57

Compilatio. From Plagiarism to Compiling. In: Viator 20 (1989), S. 19-44. Isidor von Sevilla (Anm. 44), X,44: Conpilator, qui aliena dicta suis praemiscet. Vgl. MfNNIS (Anm. 52), mit reichem Belegmaterial. Vgl. die Apologia Actoris zu Vincenz' von Beauvais Speculum quadruplex sive speculum maius, hier zit. nach dem kritischen Text bei ANNA-DOROTHEE VON DEN BRINCKEN: Geschichtsbetrachtung bei Vincenz von Beauvais. Die Apologia Actoris zum Speculum Maius. In: DA 34 (1978), S. 410-499, hier S. 470: hoc ipsum opus utique meum simpliciter non sit, sed illorum potius ex quorum dictis fere totum illud contexui, nam ex meo pauca et quasi nulla addidi. Ipsorum igitur est auctoritate, nostrum autem sola partium ordinatione; („Dieses Werk kann freilich nicht einfach meines sein, sondern vielmehr das jener, aus deren Sätzen ich es fast zur Gänze zusammengeknüpft habe, denn aus Eigenem habe ich nur weniges, ja gleichsam gar nichts hinzugefugt. Ihnen gehört es der Verantwortung nach, uns jedoch nur in Bezug auf die Anordnung der Teile.") Es erscheint trotz der unter Anm. 52 genannten Arbeiten als Forschungsdesiderat, verschiedene Formen von Kompilation in der mittelalterlichen lateinischen und volkssprachlichen Literatur vergleichend auf breiterer Materialbasis zu untersuchen. Vgl. vor allem V. 216-29.

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Als Kompilator wird Konrad in einem Eintrag der Kolmarer Annalen zu seinem Tod im Jahr 1287 bezeichnet,58 als Kompilator im erläuterten spezifischen Sinne weist Konrad über jenen Wiedererzähler hinaus, dessen Kunst allein im rihten und tihten eines bekannten maere liegt, denn er erschafft nicht nur die sprachliche Gestalt, sondern er generiert auch eine noch nie da gewesene Stoffkonstellation eigener Geltung.59 Insofern entsteht etwas Neues, und dass Konrad in eben dieser Haltung schreibt, zeigt insbesondere auch folgende Schlüsselpassage, V. 266-79: von Wirzeburc ich Cuonrät von welsche in tiutsch getihte mit rimen gerne rihte daz alte buoch von Troye. schön als ein vrischiu gloye sol ez hie wider blüejen. beginnet sich des müejen min herze in ganzen triuwen, daz ich ez welle erniuwen mit Worten lüter unde glänz, ich büeze im siner brüche schranz: den kan ich wol gelimen ζ 'ein ander hie mit rimen, daz er niht fiirbaz spaltet.

270

275

Das Leitwort des zitierten Textausschnitts stellt zweifellos das erniuwen (V. 274)60 dar. Im Bild der aufblühenden Blume wird die Kunstproduktion zunächst als Naturvorgang metaphorisiert. Gleichsam von selbst scheint sich dieser Inszenierung nach der Vorgang des Emeuems des alten Buches von Troja zu vollziehen. Jener besteht letztendlich in der beschriebenen Zusammenfuhrung verschiedenen Materials in einer Weise, die so kunstvoll sein soll, dass keine Risse, Brüche mehr erkennbar seien.61 Das Glätten und Kitten der Risse und Brüche soll sich mit Worten lüter unde glänz (V. 275) vollziehen, und es ist deutlich, dass Konrad hier und auch im Bild der blühenden Blume auf das Stilideal des blüemen rekurriert,62 dem er verpflichtet ist und das er im Verlauf seines Prologs wiederholt zur Geltung bringt. Konrads besondere Form der Ästhetik soll die Einheit seines Textes garantieren, soll die verschiedenen Tra-

58

Annales Colmarienses maiores. In: MGH. Scriptores, Bd. 17, Hannover 1861, Nachdruck Stuttgart 1990, S. 202-232, hier S. 214, Z. 43f.: Obiit Cuonradus de Wirciburch, in Theothonico multorum bonorum dictaminum compilator, („Es starb Konrad von Würzburg, der Kompilator vieler guter Dichtungen in deutscher Sprache.")

59

V g l . WORSTBROCK ( A n m . 9), S. 142.

60

V g l . PFENNIG ( A n m . 3 8 ) .

61

Hier mag man sich noch einmal an das Bild vom Meer erinnern, in welchem die Flüsse ihre Grenzen verlieren und ununterscheidbar werden (V. 236-43). Vgl. zum blüemen mit Blick auf Konrads von Würzburg Trojanerkrieg den Beitrag von

62

JAN-DIRK MÜLLER in d i e s e m Band, S. 2 8 7 - 3 0 7 .

252

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ditionen verschmelzen, soll die Homogenität des eigenen Textes bewirken, welcher neu ist, auch wenn er den alten Quellen noch verpflichtet bleibt. Das eben meint erniuwett, und darin liegt ein Kunstanspruch, der sich mit Herbort kaum vergleichen lässt. Zwar referiert Konrad noch die Genealogie des Textes von Dares her, zwar sagt auch er, dass es ihm um daz alte buoch von Troye (V. 269) geht, doch liegt der Akzent nicht auf Identität und Wahrheit des einen mcere, welche sich über die Zeiten und die verschiedenen Sprachen hinweg durchgehalten haben, sondern vielmehr auf der Betonung der eigenen dichterischen Leistung, verstanden als Meisterschaft des blüemen, verstanden als eine Ästhetik des Glanzes, welche die Brüche der Quellen überspielen und einen neuen, eigenen Gesamtzusammenhang stiften kann. Geradezu exemplarisch wird hier deutlich, wie sich artificium und Kompilation verschränken,63 - und in dieser Verschränkung und der damit gegebenen Potenzierung ließe sich daher, so meine These, wohl Konrads Autorschaft im Versuch einer historischen Annäherung am ehesten beschreiben.

ΠΙ.2 Die bisherigen Analysen im Wortfeld von Konrads Prolog zum Trojanerkrieg brachten, so hoffe ich gezeigt zu haben, die Spannungen des Textes zwischen ,finden', .wiederholen', .übersetzen', ,in Reime bringen', .erfinden' und »erneuern' wort- und begriffsgeschichtlich zum Ausdruck. Unabdingbar zu diesem poetologischen Programm gehört die besondere Profilierung der Autorrolle, wie sie im gesamten Prolog zu beobachten ist. Den verschiedenen Facetten dieser Autorrolle möchte ich nun im Wort- und Begriffsfeld des Textes weiter nachgehen und ziehe, um das Verständnis zu vertiefen, punktuell auch den Prolog zu Konrads höfischem Roman Partonopier und Meliur heran. Prima vista sind es in beiden Texten besonders die Exempla von der Nachtigall und deren Ausdeutungen durch Konrad, die in ihrer Emphase die Steigerung der Autorrolle zum Ausdruck bringen und darin geradezu an neuzeitliche Entwürfe von Autorschaft heranzureichen scheinen, V. 182-205164 63 64

Vgl. WORSTBROCK (Anm. 9), S. 142. Vgl. dazu: Konrads von Wiirzburg Partonopier

und Meliur.

Aus dem Nachlasse von

FRANZ PFEIFFER hrsg. v o n KARL BARTSCH, W i e n 1 8 7 1 . M i t e i n e m N a c h w o r t v o n RAI-

NER GRUENTER, Nachdruck Berlin 1970 (Deutsche Neudrucke, Reihe: Texte des Mittelalters), Prolog, V. 122-45: in holze und in geriuten / diu nahtigale singet, / ir sanc vil ofte erklinget, / da niemen hceret sinen klanc; / si lät dar umbe niht ir sanc / daz man sin da so lützel gert: / si hat in selber also wert / und also liep tag unde naht / daz si durch wünneclichen braht / ir Übe grözen schaden tuot: / wan der dunkel si so guot / und also rehte minneclich / daz si ze töde singet sich. /Hie mag ein künste richer man / bild unde bischaft nemen an, /so daz er künste niht enber / durch daz man ir so lützel ger / und also kleine ruoche. / der sine kunst niht suoche / dur fügende riches herzen site, /so mache im selben doch da mite /fröud unde kurzewile guot, /durch sinen frien

Poetologie im Spannungsfeld von .wiederholen' und .erneuern' in den Trojaromanen ich wil und muoz mich nieten getihtes al die wile ich lebe: ze lone und ζ'einer höhen gebe mir selben Hebe ich mine kunst. dur waz verheere ich die vernunst, diu dicke und ofte fröuwet mich? ob nieman lepte mer, denn ich, doch seite ich unde sünge, dur daz mir selben clünge min rede und miner stimme schal. ich teete alsam diu nahtegal, diu mit ir sanges done ir selben dicke schone die langen stunde kürzet. swenn über si gestürzet wirt ein gezelt von loube, so wirt von ir daz toube gevilde lute erschellet. ir don ir wol gevellet, dur daz er truren steeret. ob si da nieman haeret, daz ist ir also meere, als ob ieman da weere, der si vernemen künde wol.

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Sowohl im Prolog zum Trojanerkrieg wie auch in jenem zum Partonopier vergleicht Konrad den Gesang der Nachtigall mit dem Wirken des Dichters. Das tertium comparationis ist dabei weniger die Schönheit des Nachtigallengesanges, als vielmehr seine vermeintliche Autarkie. Die Nachtigall singt auch dort, wo niemand sie hört oder hören will (Partonopier, V. 122-34; Trojanerkrieg, V. 193-205), denn sie schätzt ihren Gesang selbst so sehr, dass sie sich in der Freude daran verzehrt und zu Tode singt, wie es der Prolog zum Partonopier (V. 134) formuliert. In gleicher Weise, so die Insinuation, soll nun der wahre Dichter seine Kunst ausüben und zu seiner eigenen jröud unde kurzewile (ebd. V. 143) singen, auch wenn sich niemand dafür interessiert. Im Unterschied zur Version im Partonopier wird das Nachtigallen-Gleichnis im Trojanerkrieg dabei umstandslos auf das Sprecher-Ich bezogen, das sich als von Wirzeburc ich Cuonrät (V. 266) zu erkennen gibt, d. h. das Gleichnis dient hier unmittelbar der Selbststilisierung Konrads als Autor. Dieser würde, so die Pointe, auch dann noch singen und erzählen, wenn er allein auf der Welt wäre und seine Dichtung nur in ihm selbst widerhallen könnte (Trojanerkrieg,

hübeschen muot / sing unde spreche zaller zit. Vgl. zum Prolog des Partonopier insbesondere die Ausführungen bei WALTER HAUG: Literaturtheorie im deutschen Mittelalter von den Anfängen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts. 2., Überarb. und erw. Aufl., Darmstadt 1992, S. 351-361; vgl. dazu EHLERT (Anm. 40), S. 81-90.

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V. 188-91). Das Leben des Künstlers scheint dieser Inszenierung nach geradezu im Dichten aufzugehen und zu bestehen (V. 182f.).65 Unter den sozial- und mediengeschichtlichen Bedingungen mittelalterlicher Autorschaft mag man solche Äußerungen als bloße Gesten der Selbstbehauptung, als Reaktionen des Trotzes abtun66 oder sie im Sinne rhetorischen RaffSl

finements als captatio benevolentiae herunterspielen, man kann in ihnen aber auch den Vorschein neuzeitlicher ästhetischer Positionen sehen. Und ganz in solchem Sinne hat man Konrad in der Forschung immer wieder als GenieDichter gesehen68 und seine Konzeption der Kunst als ,1'art pour l'art' avant la lettre.69 Gewissermaßen autologisch wird Dichtung nach der Inszenierung des Trojanerkrieg-Prologs als Geschenk des Dichters an sich selbst gedacht: ze lone und z'einer höhen gebe / mir selben üebe ich mine kunst (Trojanerkrieg, V. 184f.).70 Diese Selbstbezüglichkeit der Kunst macht sie unabhängig von der Wertschätzung durch andere71 und lässt sich als Antwort Konrads verstehen auf die von ihm beklagte Vernachlässigung der Dichtung in seiner Zeit. Im Troja-

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Vgl. in der Lyrik den Ausspruch bei Heinrich von Morungen in seinem Lied Leitliche blicke, MF 133,19: wan ich dur sanc bin ze der weite geborn. Des Minnesangs Frühling. Unter Benutzung der Ausgaben von KARL LACHMANN u. a. bearb. von HUGO MOSER/HELMUT TERVOOREN, I: Texte, 38., erneut revidierte Aufl., Stuttgart 1988. Vgl. die älteren Sichtweisen von HENNIG BRINKMANN: ZU Wesen und Form mittelalterlicher Dichtung, Halle a. S. 1928, Nachdruck Darmstadt 1979, S. 25; BRUNO BOESCH: Die Kunstanschauung in der mittelhochdeutschen Dichtung von der Blütezeit bis zum Meistergesang. Bern, Leipzig 1936, Nachdruck Hildesheim, New York 1976, S. 152; DENNIS HOWARD GREEN: Konrads Trojanerkrieg und Gottfrieds Tristan. Vorstudien zum Gotischen Stil in der Dichtung, Diss. Basel, Waldkirch i. Br. 1949, S. 49. EHLERT (Anm. 40), S. 81 -90, prägnant S. 89.

Vgl. schon KONRAD BURDACH: Reinmar der Alte und Walther von der Vogelweide. Ein Beitrag zur Geschichte des Minnesangs, Leipzig 1880, S. 30f. 69 Vgl. etwa KARL BERTAU: Beobachtungen und Bemerkungen zum Ich in der Goldenen Schmiede. In: Philologie als Kulturwissenschaft. Studien zur Literatur und Geschichte des Mittelalters. Festschrift für Karl Stackmann zum 65. Geburtstag. Hrsg. von LUDGER GRENZMANN/HUBERT HERKOMMER/DIETER WUTTKE, Göttingen 1987, S. 179-192; hier S. 191 f. HAUG (Anm. 64), S. 360, nimmt bei seiner Interpretation des NachtigallenGleichnisses eine Position der Vermittlung ein, wenn er schreibt: „Es steckt in diesem Wort die Erfahrung von einer Veränderung des Rezeptionsprozesses: dafür steht auf der einen Seite das poetologische Programm von Virtuosität und Lehre und auf der andern, ihm korrespondierend, die verschärfte Kluft zwischen Dichter und Publikum." Insgesamt unterstellt auch HAUG das Konzept der Autonomie des Poetischen, da sich - wie er sagt - in den Prologen Konrads die „problematische Rückseite der Autonomie des Fiktionalen Geltung zu verschaffen" beginnt (ebd. S. 362). 70 Im Unterschied dazu erscheint Dichtung in Konrads Prolog zur Goldenen Schmiede, V. 104-07, als Opfergabe an Maria: ich muoz der türteltuben huon /zeim opher bringen ane golt: / davon du, frouwe, enphahen solt / den guoten willen für diu were. Vgl. Die Goldene Schmiede des Konrad von Würzburg. Hrsg. von EDWARD SCHRÖDER, Göttingen 2 1969. 71 Vgl. HAUG (Anm. 64), S. 360, Zitat unter Anm. 69.

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nerkrieg ist es eben jener Gedanke der Blindheit des Publikums im Angesicht der wahren Dichtung, mit dem Konrad seinen Prolog beginnt, V. 1-13: Waz sol nü sprechen unde sanc? man seit ir beider deinen danc, und ist irzwäre doch unvil, die mit getihte fröuden spil den Hüten bringen unde geben. man siht der meister wenic leben, die singen oder sprechen wol; dä von mich wunder nemen sol, daz beide riche und arme sint an eren worden also blint, daz si die wisen ringe wegent, die wol gebluomter rede pflegent, diu schcene ist unde wcehe.

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Die Geringschätzung wol gebluomter rede, also der vortrefflichen Dichtung, die jenem Stilideal folgt, dem Konrad selbst verpflichtet ist, der wilden Rede, dem wilden Stil,72 sei - so wird argumentiert - in ganz besonderem Maße unverständlich, da die Dichtkunst der meister in deutschen Landen sehr selten geworden sei (V. 46-64) und man doch gemeinhin demjenigen besondere Aufmerksamkeit entgegenbringe, was Seltenheitswert besitze.73 Die beschriebene Haltung des Publikums beruhe dabei nicht auf bloßer Nachlässigkeit, sondern auf einer grundsätzlichen Fehlleistung des Urteilsvermögens, der bescheidenheit, V. 142-47: die wilden junges muotes an der bescheidenheite sint sö toup und also rehte blint, daz guotiu rede und edel sanc si dunket leider alze kranc, swie si doch sin ein künstic hört.

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Da bei Hofe das Sensorium für gute Dichtung, der richtige muot, fehle, schätze man die poetischen Machwerke der Stümper, diu swachen schemelichen wort (V. 148), statt der edlen Sprüche der Meister (V. 148-51). Die Höflinge, deren Verstandeskräfte verdunkelt seien,74 werden daher von Konrad mit Fleder-

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Grundlegend dazu noch immer: WOLFGANG MONECKE: Studien zur epischen Technik Konrads von Würzburg. Das Erzählprinzip der wildekeit. Mit einem Geleitwort von ULRICH PRETZEL, Stuttgart 1968 (Germanistische Abhandlungen 24). 73 Konrad (vgl. V. 20-45) stützt diese Gedanken durch Hinweise auf den besonderen Wert des Waisen in der Krone vor allen anderen Edelsteinen und die Auszeichnung des Phönix im Vergleich zu gewöhnlichen Vögeln. 74 V. 162-69: sus kan ze hove manger sin / so vinster an dem muote / und an wislicher huote / sö gar unmäzen tunkel, / daz als ein lieht karfunkel / ein füler und ein bceser funt / in sines trüeben herzen grünt / vür edele Sprüche schinet.

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mäusen verglichen, die im Dunkeln fliegen und sich vom Glanz des faulen Holzes täuschen lassen (V. 153-69). Damit fehlt dem potenziellen Publikum in der Sicht Konrads eben jenes Urteilsvermögen, das Gottfried von Straßburg für seinen Rezipientenkreis gefordert hatte. So wie das Gute in der Welt überhaupt,75 entsteht das Kunstwerk Gottfrieds radikalem Entwurf zufolge erst in und durch den Akt seiner Anerkennung: Ere unde lop diu schepfent list.76 Insofern wird das Vermögen des Publikums, gut und schlecht gegeneinander abzuwägen, zum entscheidenden Kriterium der Ethik und der Ästhetik, was Gottfried in seiner diffizilen Argumentation im strophischen Prolog des Tristan entfaltet.77 Es liegt in der Konsequenz seines Gedankenganges, dass er sein Werk daher einem ganz besonderen Rezipientenkreis vorbehalten will, jenem Kreis der edelen herzen, dem letztlich der Status einer Kultgemeinde zuzuerkennen ist.78 Nun gibt es eine Reihe von versteckten und offenen Hinweisen auf Gottfrieds Programmatik der Kunst in Konrads Prologen, und ganz besonders deutlich ist seine Auseinandersetzung mit dessen Eingrenzung des Publikums über den Begriff der edelen herzen™ Konrad dreht Gottfrieds Argumentation um, indem er - wie am Prolog zum Trojanerkrieg hier verdeutlicht - die Geringschätzung der Kunst zu seiner Zeit als gegeben beschreibt und daraus das Programm der Autarkie der virtuosen Dichtung ableitet: Der Dichter vermag sein Tun vom Urteil des unverständigen Publikums zu lösen, weil er zunächst und vor allem fiir sich selbst singt. Durch die Behauptung dieser Selbstbezüglichkeit kann Konrad, denkt man seinen Gedanken zu Ende und betrachtet ihn vor dem intertextuellen Hintergrund des Tristan, den Eigenwert der künstlerischen Produktion im Vergleich zu Gottfried beträchtlich steigern. Entsteht die Kunst bei Gottfried erst durch die Anerkennung des Publikums, wird jene in Konrads Konzeption gerade zu einer Größe, die man vernachlässigen kann. Dies wiederum wirft ein neues Licht auf die Position des Künstlers und hier auch besonders auf den von Konrad beanspruchten Rang im Verhältnis zu seinem Vorbild Gottfried von Straßburg. Indem jener, so ließe sich pointieren, das Verständnis von Kunst gegenüber Gottfried signifikant verändert, kann er als Künstler implizit zugleich seine Selbständigkeit gegenüber dem geschätzten Vorgänger betonen. Ein solcher Entwurf des eigenen dichterischen Profils im Wettstreit mit den Vorgängern in der Kunst gehört wiederum zentral zu dem 75 76 77 78 79

Gottfried von Straßburg: Tristan und Isold. Hrsg. von FRIEDRICH RANKE, Berlin 1959, strophischer Prolog, Str. 1. Ebd. Str. 6, V. 21. Vgl. bes. ebd. Str. 5 u. 8. Ebd. V . 4 7 U . Ö . Die Auseinandersetzung mit Gottfried lässt sich auch am Prolog zum Partonopier besonders gut nachvollziehen (vgl. etwa V. 97-121, 158-85 u. 226-29). Explizite Hinweise auf Gottfried finden sich zudem im Prolog zur Goldenen Schmiede (Anm. 70), siehe vor allem V. 94-103. Vgl. dazu auch die Hinweise bei HAUG (Anm. 64), S. 361363.

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von Konrad für sich in Anspruch genommenen Stilideal wol gebluomter rede [...], /diu schoene ist unde wcehe (Trojanerkrieg, V. 12f.). Gerade diese poetologischen Begrifflichkeiten scheinen die eben entfaltete Argumentation bereits in nuce zu enthalten.80 Zur beschriebenen Konzeption der Dichtkunst, die auf die etwaige Gunst des Publikums keine Rücksicht mehr nimmt, passt wiederum die Vorstellung von einer gleichsam autonomen Sprachproduktion des Dichters, die Konrad ebenfalls im Prolog zum Trojanerkrieg entwickelt, wenn er auf den besonderen Rang der Dichtkunst im Vergleich mit anderen künsten zu sprechen kommt (V. 69-135):81 Zweifach habe Gott den tihter (V. 71) ausgezeichnet, so heißt es hier, zum einen dadurch, dass das Dichten eine reine Gnadengabe (gotes gunst aleine, V. 77) darstelle, die eine Erwählung des Dichters durch Gott voraussetze und die man im Gegensatz zu den anderen künsten daher nicht aus eigener Kraft erlernen könne,82 zum anderen, weil das Dichten im Unterschied zu allen anderen Künsten, unter denen hier Kunstfertigkeiten bis hin zu handwerklichen Berufen verstanden werden, keinerlei Hilfsmittel bedürfe. Während der Schütze ohne Bogen und Bolzen nicht schießen könne und während der Schneider eine Schere benötige, um sein Handwerk auszuüben, der Schuster Ahle und Zwirn, der Waldarbeiter eine Axt, der Turnierritter eine Rüstung und während auch die Musiker zum Musizieren auf Instrumente angewiesen seien (V. 108-31), entstehe die Dichtung allein durch den sin, d. h. den Kunstsinn, die kognitiven Fähigkeiten des Dichters, sowie durch Mund und Zunge (V. 99 u. 135). Gleichsam autark bedarf der Poet - so gesehen - nur seines eigenen Körpers, um seinen Text hervorzubringen. Er scheint nicht einmal angewiesen auf Papier oder Pergament, er braucht weder Feder noch Tinte, denn der entstehende Text wird - folgt man dem Wortsinn der Passagen - durch Mund und Zunge, also als mündlicher, aus dem Körper entlassen. Solche Inszenierungen von Mündlichkeit in einem schriftsprachlichen Text, der mit 40.000 Versen nur etwa ein Drittel seiner schriftlichen Vorlage abgearbeitet hat, also in einem schriftsprachlichen Text par excellence, lassen sich wohl nur aus den spezifischen medialen Bedingungen mittelalterlicher Textualität verstehen. Mehr oder weniger vermittelt reflektieren die Texte die Übergänge und Spannungen zwi-

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Vgl. auch bes. die Umsetzung dieses Stilideals im Wortfeld des blüemen in Konrads Prolog zur Goldenen Schmiede (Anm. 70), V. 60-89; siehe ebd. auch den so genannten Mittelprolog, V. 858-875. Die doppelte Auszeichnung der Dichtkunst vor allen anderen Künsten reflektiert Konrad ähnlich auch in Spruch 32, V. 301. Vgl. Konrad von Würzburg: Kleinere Dichtungen. Hrsg. von EDWARD SCHRÖDER, Bd. 3: Die Klage der Kunst, Leiche, Lieder und Sprüche, Berlin 4 1970. Trojanerkrieg, V. 78-91: kein mensche lebt so reine, / dem got der scelden günde, / daz er gelernen künde / wort unde wise tihten. / swaz künste man verrihten / hie kan üf al der erden, / diu mac gelernet werden / von liuten, wan der eine list, / der tihten wol geheizen ist / und iemer ist also genant. / diz ist ein ere wite erkant / und riliche ein wirdikeit, /die got besunder hat geleit / üf einen tihter uz erweit.

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sehen Mündlichkeit und Schriftlichkeit, in denen und aus denen heraus sie entstehen, V. 128-35: swaz künste man eht öugen sol, die müezen hän gerüste, mit dem si von der brüste ze liehte künnen dringen, wan sprechen unde singen: diu zwei sint also tugenther, daz si bedürfen nihtes mer wan zungen unde sinnes.

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Diese Vorstellung erinnert an die Ermächtigungsphantasie am Beginn der Goldenen Schmiedel Und obgleich die Eigenständigkeit der allein an den Körper des Dichters gebundenen Poesie im Prolog zum weltlichen Roman sehr viel stärker akzentuiert wird, bleibt sie doch auch hier letztlich auf die Transzendenz verwiesen, denn: Nur kraft der göttlichen Gnade und Erwählung vermag der Poet seine Leistungen zu vollbringen. Dichtung erscheint als Gabe Gottes (V. 77), die gewissermaßen durch das Medium des Autor-Körpers zum Ausdruck kommt. Insofern wird Dichtung im Wortsinne als Be-gabung gesehen, die Idee von der göttlichen Gnade grundiert - so die These - die Übersteigerung der Autorrolle und die Reflexionen über die Autonomie dichterischer Produktion. Autonomie der Kunst im strikten Sinne - dies zeigen gerade die verschlungenen Argumentationen der Prologe zu Konrads weltlichen Romanen - kann es im Mittelalter nicht geben, denn aulo-nomos ist mittelalterlich gedacht nur Gott, während die Menschen und damit auch das von ihnen Hervorgebrachte - so ließe sich der Gedanke verallgemeinern - in ihrer Unvollkommenheit auf Gott bezogen bleiben. Gerade wenn man dem Argument des Textes bis zu diesem Punkt gefolgt ist und seine poetisch-poetologischen Wortfelder erschlossen hat, wird sichtbar, wie problematisch unsere literaturwissenschaftlichen Begrifflichkeiten sind, um die ,Alterität' der mittelalterlichen Poetologie historisch adäquat zu fassen. Was prima vista wie neuzeitliche Autonomie anmuten kann, ist doch historisch ein ganz Verschiedenes. Die an neuzeitlicher Ästhetik sowie neuzeitlichen Ideen von Freiheit, Subjektivität und Selbstgesetztheit orientierten literaturwissenschaftlichen Begriffe der Autonomie stehen stets in der Gefahr anachronistischer Verwendungsweisen, versucht man, ,verwandte' mittelalterliche Phänomene damit abzudecken. Andererseits wird freilich deutlich, dass wir Tendenzen einer Autonomisierung von Kunst auch im Mittelalter greifen können.

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Die Goldene Schmiede, V. 1-15: Ei künde ich wol enmitten / in mines herzen smitten / getihte uz golde smelzen, / und liehten sin gevelzen / von karfunkel schone drin / dir, hohiu himelkeiserin! / so wolte ich diner wirde ganz / ein lop durliuhtec unde glänz / daruz vil harte gerne smiden. / nu bin ich an der künste liden / so meisterliche niht bereit, / daz ich nach diner werdekeit / der zungen hamer künne slahen, / und minen munt also getwahen /daz er ze dime prise tüge.

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Unternimmt man es, jene historisch zu rekonstruieren, bedeutet dies bei einem historisch reflektierten Umgang mit den Phänomenen nicht zwangsläufig, zugleich in eine teleologische Geschichtskonstruktion zu verfallen. Entscheidend ist die Historisierung und Dynamisierung des Autonomiebegriffs, welcher die Erkenntnis Vorschub leisten kann, dass sich auch fur die Neuzeit angesichts kontroverser Konzeptionalisierungen die Vorstellung eines einheitlichen Autonomiebegriffs verbietet.84 In Konrads Prolog zum Trojanerkrieg, um auf ihn wieder zurückzukommen, wird die Produktion von Dichtung in die Spannung zwischen Autonomie und Heteronomie gestellt - und diese gilt es, als historische Signatur des Textes zu erhellen. Nun ist es im Syntagma dieses Prologs nicht nur die Vorstellung vom Wesen der Dichtkunst als göttlicher Gnadengabe, welche den skizzierten Entwurf ihrer Eigenständigkeit relativiert, sondern - auf einer ganz anderen Ebene der Argumentation - sozialgeschichtlich gesehen auch Konrads Bindung an seine Auftraggeber: So nennt und preist er seinen Basler Gönner, den Domkantor Dietrich an dem Orte (V. 244-57), 85 dessen milte offensichtlich die materiellen Voraussetzungen fur die Produktion des riesenhaften Romans geschaffen hat. Konrads Dichtung erscheint insofern als Gegengabe für die milte des Gönners, V. 252-57: 86 dur siner miltekeite soli, den ich hän dicke enpfangen. 84

Eine umfängliche Aufarbeitung der Forschungen zum Autonomiebegriff würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen. Verwiesen sei an dieser Stelle auf die Dokumentation der Forschung und die historischen Differenzierungen des Begriffs bei FRIEDRICH VOLLHARDT: Art. .Autonomie'. In: RLW, Bd. 1 (1997), S. 173-176; vgl. zudem ROSEMARIE POHLMANN: Art. .Autonomie'. In: HWbPh, Bd. 1 (1971), Sp. 701-719. 85 Unseren Quellen nach gehörte der Domherr und Kantor Dietrich an dem Orte dem Basler Stadtadel an und trat auch als Förderer lateinischer Poesie in Erscheinung. Vgl. INGE LEIPOLD: Die Auftraggeber und Gönner Konrads von Würzburg. Versuch einer Theorie der .Literatur als Soziales Handeln', Göppingen 1976 (GAG 176), S. 119-127; BUMKE (Anm. 17), S. 262f.; URSULA PETERS: Literatur in der Stadt. Studien zu den sozialen Voraussetzungen und kulturellen Organisationsformen städtischer Literatur im 13. und 14. Jahrhundert, Tübingen 1983 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 7), S. 122 u. 126; BRANDT (Anm. 38), S. 71 f.; KOKOTT, Konrad von Würzburg (Anm. 38). S. 283-286. 86 Wenn Konrad auch im Prolog zum Partonopier seinen Auftraggeber nennt, dort den Adligen Peter Schaler aus Basel, macht er zugleich deutlich, dass er in ihm jenen idealen Rezipienten sieht, mit dem die Dichtung in Konrads Gegenwart seiner Darstellung nach eigentlich nicht mehr rechnen kann, den es aber offensichtlich doch noch gibt: In enger Anlehnung an Gottfried von Straßburg werden solche Rezipienten als edelez herze beschrieben und insofern schwenkt Konrad, der sich in den Nachtigallen-Gleichnissen deutlich von der Ästhetik seines berühmten Vorgängers abzusetzen trachtete, im Prolog zum Partonopier schließlich doch noch auf dessen Position ein; vgl. V. 160-67: so vindet man die liute noch, / die durch ir lügende riehen sin / niht werfent guot getihte hin, / swä man ez singet oder seit; / ez hat noch maneger edelkeit / und also reines herzen gir/daz er sin ore neiget mir, / swenn ich entsliuze minen list.

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260 ist von mir an gevangen vil snellecliche ein ursuoch, der zieren künne wol diz buoch mit rede in allen enden.

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Dieser Darstellung nach haben die literarischen Interessen der Gönner und ihre materiellen Zuwendungen den Anstoß zur Abfassung der Texte gegeben, welche ihrerseits als kumber (V. 215)87 erscheint, als mühevolle Arbeit im Dienst an den Quellen. Die im Nachtigallen-Gleichnis postulierte Unabhängigkeit von Kunst, von wol gebluomter rede, bezieht sich daher, um dies noch einmal zu pointieren, allein auf die Rezeptionsseite von Kunst, während die Produktion der Texte gerade nicht als freie Erfindung eines unabhängigen Autors inszeniert wird: Sie bleibt vielmehr, wie oben ausführlich erläutert, trotz aller Betonungen eigener Virtuosität dem überlieferten Stoff verhaftet. Und auch darin könnte man eine der heteronomen Bindungen sehen, welche der Vorstellung von einer Autarkie mittelalterlicher Kunst entgegenarbeiten und Konrads besondere Profilierung der Dichterrolle in den Kontext spezifisch mittelalterlicher poetologischer Konzepte binden, denn: Indem sich seine Autorschaft auf das Wiedererzählen vorgängiger Quellen beschränkt, erscheint sie gemessen an neuzeitlichen Entwürfen einer Genieästhetik geradezu als partikular. In nuce, so möchte ich folgern, impliziert die Leitvokabel des erniuwen eben jenes poetologische Programm und jene Facetten der Autorrolle, welche ich im Durchgang durch Partien des Prologs analytisch auseinander zu nehmen versucht habe. Folgt man dem Gang von Konrads Argumentationen im TrojanerkriegProlog, zeigt sich ein komplexes Geflecht von Bescheidenheit und Ermächtigung, von Verfügbarkeit und Unverfügbarkeit, ein Geflecht, dessen Linien erst zusammengenommen das Profil der Autorrolle und die historische Signatur des Textes ergeben.88 Die gleichzeitige Behauptung von Autonomie und Heteronomie, von Verfügbarkeit und Unverfügbarkeit mag vom heutigen neuzeitlichen Standpunkt aus dabei als geradezu widersprüchlich erscheinen, denn die Positionen stehen ohne den Versuch einer kausallogischen Entwicklung ,hart' nebeneinander. Doch wertet man diesen Befund als Mangel an Kohärenz und begrifflicher Schärfe, so verkennt man gerade die spezifisch mittelalterliche Weise der Argumentation im »Wortfeld des Textes': Sie ist topisch organisiert, sie kann Topoi je eigenen Rechts aneinanderreihen, ohne diese systematisch zu 87 88

Vgl. Partonopier, V. 191. Die elaborierte Akzentuierung der Autorrolle im Trojanerkrieg-Prolog wird übrigens in der Überlieferung immer wieder zurückgenommen, denn die meisten der erhaltenen Handschriften sparen den Prolog aus und verkürzen damit das Kunstprogramm. In den Vollhandschriften des Trojanerkriegs findet sich der Prolog nur in der Straßburger Handschrift (S = ehem. Straßburg, Johanniter-Bibliothek, A. 90, verbrannt; eine Abschrift durch FROMMANN ist erhalten in der BNU Straßburg, Nr. 2125-2131) und mit Einschränkungen in der St. Galler Handschrift (Sg = St. Gallen, Stiftsbibl., Cod. 617). V g l . ALFEN/FOCHLER/LLENERT ( A n m . 13), S. 18; LLENERT, Ü b e r l i e f e r u n g ( A n m . 3 8 ) ,

S. 389f.

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vermitteln. Um den Gedanken noch einmal an einem der geschilderten Beispiele zu veranschaulichen: Der Topos von der Begabung und Erwählung des Dichters behält sein Recht, auch wenn er neben die Behauptung geradezu autonomer dichterischer Produktion tritt. Nur wenn man die zuletzt genannte Dimension der Argumentation aus ihrem Kontext reißt und verabsolutiert, kann sie den Anschein einer quasi neuzeitlichen ästhetischen Position gewinnen. Blickt man dagegen auf die Abfolge der Argumente und Topoi, so wird deutlich, dass Dichtung immer wieder zwischen den Polen von Autonomie und Heteronomie bestimmt wird. Diese Verklammerungen bestimmen die Autorrolle auch bei Konrad in einer spezifisch vormodernen Art und Weise.

IV. Um die Ausführungen in einer Schlussbemerkung zusammenzuführen und zu perspektivieren: Der mittelalterliche Autor ist - seinen eigenen Inszenierungen nach - niemals ein creator ex nihilo, vielmehr schreibt er sich in bestehende, in vorgängige Traditionen ein und möchte ihnen mehr oder weniger .Eigenes' hinzufügen. Die Frage nach mittelalterlicher Autorschaft ist - so gesehen - stets eine Frage nach den Formen der Aneignung von Tradition und damit verbunden nach den Anteilen des Eigenen. Zentral ist hier die schwierige Kategorie des ,Stoffes', die in den genannten Texten durch so unterschiedliche Vokabeln wie etwa mcere oder das alte buoch semantisch umgesetzt wird. Der ,Stoff, das mcere, als eine dem individuellen ,Text' vorgängige Kategorie scheint mir in der Debatte um mittelalterliche Autorschaft in seiner Bedeutung unterschätzt zu sein. Demgegenüber möchte ich postulieren, dass das zweistellige Begriffspaar von Autor und Werk zumindest in vielen Fällen um die Kategorie des vorgängigen Stoffes erweitert werden muss. Dass dies insbesondere im Falle einer materia pertractata wie dem trojanischen Krieg gilt, versteht sich von selbst. In Bezug auf die Bearbeitung desselben mcere vom trojanischen Krieg ließen sich erhebliche Differenzen zwischen Herbort und Konrad erkennen: Ungleich stärker als Herbort betont Konrad die eigene dichterische Leistung, im erniuwen wächst er über die Rolle des Wiedererzählers hinaus,89 komplementär dazu wird die Wahrheit des Erzählten und damit verbunden die Verantwortung für das Erzählen deutlich weniger als bei jenem den Vorgängern zugeschrieben. Während das buoch im Sinne der stofflichen Vorgaben die Identität der einen Geschichte von Troja in Herborts Verständnis immer schon verbürgt, wird das Problem der Identität bei Konrad marginalisiert, werden die Vorlagen bei jenem zu Quellen, welche er zur Summe seiner eigenen Darstellung verknüpfen kann. Die besondere Ästhetisierung, das virtuose Verfugen der Brüche, 89

Ich beziehe mich hier noch einmal auf WORSTBROCK (Anm. 9), S. 130, der das Wiedererzählen als die möglicherweise „fundamentale allgemeinste Kategorie mittelalterlicher Erzählpoetik" beschreibt.

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der poetische Glanz des blüemen, sind so gesehen ebenso sein ,Werk' wie die Gesamtkomposition. Die beschriebenen Differenzen bei der Bearbeitung desselben mcere fugen sich in das Bild, welches KLAUS GRUBMÜLLER in seinem Beitrag Das buoch und die Wahrheit im Hinblick auf den Wandel von Legitimierungsstrategien in der Epik des 12. und 13. Jahrhunderts entwirft.90

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GRUBMÜLLER (ANM. 2 4 ) .

CHRISTOPH HUBER

Wort- und Bildnetze zum Textbegriff im nachklassischen mittelhochdeutschen Romanprolog (Rudolf von Ems, Konrad von Würzburg)

The author analyses the interaction of pivotal terms in the tradition of prologues. His corpus consists of the five prologues and the epilogue o f Willehalm von Orlens by Rudolf von Ems. The discussion of the conceptual history of terminology provides the theoretical background. Rudolf's terminology (especially mcere, rede, äveniiure, getiht, kunst, etc.) can be described as networks of words and terms which, in turn, are accompanied by networks of images. Thematically, the argument focuses not only on the questions of literary production and reception but also on the double perspective o f aesthetic and ethical categories. Thus the prologues create a dynamic scenario which portrays the poet's self-conception, and not an abstract system.

Die Prologe und Epiloge mittelalterlicher Literatur entwickeln Funktionen, die über die rhetorische Eröffnung einer Gesprächssituation, auf die mündlich vorgetragene Literatur angewiesen ist, und über die Angabe von Daten zu Verfasser, Auftraggeber, Quellen und Zielpublikum, wie sie vor allem schriftlich fixierte Literatur beansprucht, hinausfuhren. Sie eröffnen Spielräume der Reflexion auf Literatur in ihren grundsätzlichen Dimensionen, auf literarische Kommunikation, auf Bedingungen ihres Gelingens oder Misslingens, auf die Selbstbilder des Verfassers bzw. Erzählers und dessen Arbeit am Material der Sprache bei der Herstellung des Textes, auf die Legitimierung und das Wirkungspotential der in Literatur gefassten Inhalte. Dabei spielen Termini aus dem ,Wortfeld des Textes' eine wichtige Rolle, und man kann sagen, gerade die Beschäftigung mit der Terminologie ist in den vorliegenden Forschungen gegenüber den Konzeptionen zum Teil etwas zu kurz gekommen, sie verdient zumindest erneut unsere Aufmerksamkeit. Ein wichtiger Anstoß kommt hier von K L A U S G R U B M Ü L L E R . Er widmet sich der wechselseitigen Bedingtheit von Terminologie, Konzeptbildung und literarischer Praxis in einem literaturgeschichtlichen Rahmen exemplarisch in seinem Aufsatz über ,Das buoch und die Wahrheit' (1995), den ich zum Ausgangspunkt meiner Überlegungen nehmen möchte.1 G R U B M Ü L L E R zeigt, wie in 1

KLAUS GRUBMÜLLER: Das buoch und die Wahrheit. Anmerkungen zu den Quellenberufungen im Rolandslied und in der Epik des 12. Jahrhunderts. In: bickelwort und wildiu mcere. Festschrift für Eberhard Neilmann zum 65. Geburtstag. Hrsg. von DORO-

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Christoph Huber

den Quellenberufungen des Rolandsliedes2 und anderer frühhöfischer Epen daz buoch oder gleichbedeutend im Plural diu buoch3 die Vorlage des Gedichts, ja im Rolandslied-Epilog (V. 9080) sogar ganz konkret die materiale Handschrift bezeichnen, die der Verfasser als Arbeitsgrundlage benützt. Mit der getreuen Wiedergabe der Buch-Quelle, die aus dem schriftliterarisch höher stehenden Lateinischen oder Französischen (über eine lateinische Hilfskonstruktion) ins Deutsche übertragen wird, begründet die frühhöfische Epik ihren Wahrheitsanspruch, welcher Faktentreue und Historizität verbindet. Trotz der Fixierung auf die eine bestimmte Quelle deutet sich in unterschiedlichen Formulierungen auch ein weiterer schriftliterarischer Umkreis an, in dem die historische Wahrheit aufgehoben erscheint. Im Rolandslied verzeichnet GRUBMÜLLER Hinweise auf die Niederschrift der Ereignisse in anderen Zeugnissen ( S . 4 3 ) , wobei Berufungen auf diu buoch in der Handlung selbst wohl nichts anderes meinen, sondern lediglich eine Versetzung von der auktorialen Ebene auf die des Erzählten darstellen. So fällt Kaiser Karls Klage über Roland nicht grundsätzlich aus dem Rahmen dieser Beglaubigung: lesen diu buoch elliu samt, sine zaigent dir nehein geliehen, noch nelebet in allen ertrichen 7520 noch newirt niemer mere. (V. 7518-21; „Lesen wir die Bücher allesamt, so zeigen sie keinen, der dir gleicht, noch lebt ein solcher in allen Reichen, noch wird er es jemals tun.") Der Plural diu buoch tendiert hier zur Erfassung des gesamten schriftlichen Quellenfundus, neben den - wie kürzlich STEFANIE SCHMITT herausgearbeitet hat4 - das Rolandslied in seinem Prolog als ganz andere Beglaubigungsstrategie die Bitte an den Heiligen Geist um Inspiration stellt. Der Dichter bittet den Schöpfer:

THEE LINDEMANN/BERNDT

2

VOLKMANN/KLAUS-PETER

WEGERA,

Göppingen

1995

(GAG 618), S. 37-50. Das Rolandslied des Pfaffen Konrad. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Hrsg., übers, und k o m m e n t i e r t v o n DIETER KARTSCHOKE, Stuttgart 1 9 9 3 ( R U B 2 7 4 5 ) .

3

4

Z u m Plural i m Rolandslied

vgl. GRUBMÜLLER ( A n m . 1), S. 3 9 ; KARTSCHOKE ( A n m . 2 ) ,

S. 630, Anm. zu V. 16 (mehrere Quellen Konrads); im Eneasroman vgl. GRUBMÜLLER (Anm. 1), S. 41; vgl. Heinrich von Veldeke: Eneasroman. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Nach dem Text von LUDWIG ETTMÜLLER ins Neuhochdeutsche übers., mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort von DIETER KARTSCHOKE, Stuttgart 2002 (RUB 8303), S. 763, Anm. zu V. 21,37 (eventuell Bezug auf die einzelnen Bücher der Aeneis; daneben auch wissenschaftliche Quellen). Vgl. auch DIETER KARTSCHOKE: in die latine bedwungin. Kommunikationsprobleme im Mittelalter und die Übersetzung der Chanson de Roland durch den Pfaffen Konrad. In: PBB (Tüb.) 111 (1989), S. 196209, hierS. 198. Vgl. STEFANIE SCHMITT: Inszenierungen von Glaubwürdigkeit. Studien zur Beglaubigung im späthöfischen und frühneuzeitlichen Roman, Tübingen 2005 (MTU 129), S. 23-28; zu den AwocA-Berufungen ebd. S. 28-32.

Wort- und Bildnetze zum Textbegriff im nachklassischen mhd. Romanprolog

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lere mich selbe dmiu wort. dü sende mir ze munde 5 dm heilege urkunde, daz ich die lüge vermide, die wärheit scribe ... (V. 4-8; „Lehre mich selbst deine Worte! Du sende mir in den Mund dein heiliges Zeugnis, dass ich die Lüge vermeide und die Wahrheit schreibe!")

Aber sofort heißt es in Bezug auf Kaiser Karl und seine Leistung: alse uns daz buoch leret (V. 16). Auch wenn, wie GRUBMÜLLER zeigt, im Rolandslied eine gewisse Festigkeit des Wortgebrauchs eingehalten wird, füllt sich ein Leitwort wie buoch doch an verschiedenen Stellen verschieden, besonders in der werkübergreifenden Tradition. Es kann durch Attribute erweitert werden. Neben buoch kann auch schrift treten wie im Reimprolog Α des Lucidarius:5 Swergerne vremde mere von der sehr i f t vornemen wil, 5 der mac hie hören [!] Wunders vil in disme deinen buche. (V. 4-7; „Jeder, der fremde Kunde in schriftlicher Überlieferung kennen lernen will, der kann hier viel Wunderbares hören [!] in diesem kleinen Buch.")

Wir treffen hier also en passant auch auf meere. Und etwas weiter unten stoßen wir auf rede: Sine cappellane er hiez /die rede suchen an den Schriften [hier im Plural!] (V. 12f.). Die ursprünglich Mündliches bezeichnende rede verschiebt sich in der schriftliterarischen Entwicklung auf schriftliche Inhalte und Gattungsformen. Anderseits kann sich das schriftlich legitimierte Wort auch von der mündlichen Seite präsentieren (vgl. oben das Hören). Wolfram von Eschenbach formuliert dies an exponierter Stelle: der rehten schrift don und wort (Willehalm, V.2,16). Die Stelle wird üblicherweise so verstanden, dass Schrift hier als erklingendes Wort erscheint und, wie Wolfram es im Kontext der Stelle weiter entfaltet, als Träger eines vom Geist Gottes inspirierten und intuitiv erkennbaren geistigen Gehalts fungiert - din geist hatgesterket. / min s i η dich kreftec merket (V. 2,17f.). Nun tun sich, aus verständlichen Gründen, die Übersetzungen hier mit Wolframs mittelhochdeutscher Terminologie gar nicht leicht.6 5

Der deutsche Lucidarius.

Bd. 1: Kritischer Text nach den Handschriften. Hrsg. von

DAGMAR GOTTSCHALL/GEORG STEER, T ü b i n g e n 1 9 9 4 ( T T G 3 5 ) , S. 102*.

6

Wolfram von Eschenbach: Willehalm. Text der Ausgabe von WERNER SCHRÖDER. Völlig neubearb. Übers., Vorwort und Register von DIETER KARTSCHOKE, Berlin, New York 1989. Übersetzungen von V. 2,16-18: KARTSCHOKE ebd. terminologisch nicht entsprechend: „Wort und Sinn der wahren Schrift hat Dein Geist gestärkt. Meine Einsicht erkennt Deine Macht." - Vgl. WALTER HAUG: Literaturtheorie im deutschen Mittelalter von den Anfängen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts. 2., Überarb. und erw. Aufl., Darmstadt 1992, S. 189: „Was in der Wahrheit niedergeschrieben ist, ist Lobgesang aus der Kraft deines Geistes." - Wolfram von Eschenbach: Willehalm. Nach der

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Es geht mir im Folgenden um etwas auf den ersten Blick Evidentes, das aber eine Untersuchung seiner literarischen Machart und seiner Funktion sehr wohl verdient: die Interaktion von Leitwörtern, die in je individuellen Texten in Wort- oder Begriffsnetzen miteinander verwoben sind, sich so wechselseitig beeinflussen und einen Reflexionsraum mit mehr oder weniger scharfem Theorieanspruch auftun. Ich rede von Wortnetzen, nicht von Wortfeldern, um anzuzeigen, dass sie nicht unbedingt einem geschlossenen semantischen Feld zugehören, sondern auch aus diversen Bereichen kommen und diese in ein spannungsvolles Verhältnis rücken können. Zwar soll in dieser Untersuchung der Textbegriff ein gewisses Dach bilden, es ist aber diskutabel, wie weit man dieses bauen will. Gehört mcere zum ,Text'? Sicher benennt das Wort einen bestimmten Textaspekt, darüber hinaus aber auch ein Korpus, das den konkreten Text übersteigt und eine potentielle Textgemeinschaft umfasst. Oder wie steht es mit kunstl Das Wort kann eine Textqualität bezeichnen, fuhrt diese aber auf ein Vermögen des Dichters zurück, das sich in diesem unterschiedlich begründen lässt. Das Netz kann so im Einzelfall und in traditionellen Kombinationen heterogene Lemmata zusammenbinden und in Relation setzen, ja es flicht - wie ich wenigstens andeuten möchte - häufig auch Begriffliches (mit der Tendenz zur Abstraktion) mit Bildlichkeit unablösbar zusammen. Als Korpus wähle ich für meine Beobachtungen Prologe bzw. exordiale Passagen aus der nachklassischen mhd. Erzählliteratur. Die bewusst synchrone Akzentsetzung meines Themas tritt hier auch in eine diachrone Perspektive, wie sie bei einzeln betrachteten Leitwörtern eher im Vordergrund steht, da der Bezug auf klassische Prätexte immer wieder anklingt und mitzudenken ist. Ich konzentriere mich auf ein Textensemble des Rudolf von Ems, der für die exordiale Ausgestaltung seiner Erzählwerke einen besonders hohen gelehrten Aufwand betreibt. Das gilt für den Guten Gerhard mit seiner Rahmenerzählung, aus welcher sich die legitimierende Quellenansage des Epilogs unmittelbar herausentwickelt. Das gilt für den Barlaam mit einer ausufernden geistlichen Exordialrhetorik. In den späteren Werken, d. h. seit dem Alexander, bildet Rudolf nach lateinischem Vorbild und mit deutschen Bezugstexten eine buchartige Gliederung mit mehreren Prologen plus Epilog aus, eine Technik, welche er in dem wohl in die Abfassung des Alexander eingeschobenen Willehalm von Orlens zum ersten Mal konsequent durchhält und zum Abschluss bringt.7 Die Willehalm-?xo\o%Q sollen daher im Zentrum unserer Analysen stehen.

7

Handschrift 857 der Stiftsbibliothek St. Gallen. Mittelhochdeutscher Text, Übersetzung, Kommentar. Hrsg. von JOACHIM HEINZLE, Frankfurt a. M. 1991 (Bibliothek des Mittelalters 9), S. 13: „Wortklang, Wortsinn der Heiligen Schrift sind stark aus Deinem Geist." - VOLKER MERTENS schlug in der Diskussion ein Verständnis der Stelle vor wie lat. iustorum littera, vox, verbum. Diskussion der Werkchronologie mit besonderer Rücksicht auf die Prologgestaltung bei FRANZ FINSTER: Zur Theorie und Technik mittelalterlicher Prologe. Eine Untersuchung zu den Alexander- und Willehalmprologen Rudolfs von Ems, Diss. Bochum 1971, hier S. 106. FINSTER führt aus, wie Rudolf im Alexander neben der Konzeptänderung auch

Wort- und Bildnetze zum Textbegriff im nachklassischen mhd. Romanprolog

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Blicken wir also gleich auf den Prolog zu Buch I!8 Rudolf setzt ein mit der Begründung von Werten in der lehrhaften Kommunikation: Rainer fugende wiser rat / Von edeles herzen lere gat (V. lf.). Als oberste Tugend wird die zuht installiert (V. 4), wobei ähnlich wie bei Gottfried von Straßburg bei der Schöpfung von werdekait Lob und Preis eine entscheidende Rolle zugewiesen erhalten.9 Dabei steht die Arbeit an den ethischen Werten im Inneren des Menschen in impliziter Analogie zur Arbeit am sprachlichen Lob und dessen ästhetischer Erscheinung: Ovch mus ain man, swas er getüt, 5 Lob unde lobeliches gut Florieren und statin In gerndes herzen rät in ... (V. 5-8; „Auch muss ein Mensch in allem was er tut, Lob und lobenswertes Gut schmücken und befestigen in den Überlegungen eines begehrenden Herzens.")

Diese Aussage oszilliert zwischen der Tätigkeit des Ratgebers und der des Dichters, der nicht nur die Tugend im Herzen des Gegenübers zur Blüte bringt, sondern seine Rede schmückt, der terminus technicus hierfür heißt florieren,10 Anderseits könnte aber auch auf den Gönner angespielt sein, welcher durch seine Förderung das Lob im Herzen des lohnheischenden Dichters ermöglicht (vgl. unten Anm. 63). Damit ist, wie immer man die Stelle liest, die Brücke zu dem jetzt einsetzenden Roman geschlagen, dessen Präsentation wie in den Romanen der Klassik in Form einer mündlichen Erzählsituation imaginiert wird. Hier taucht als erstes, eindeutig textbezügliches Leitwort mcere auf." In Vers 34 wird es mit dem Adjektiv guot verbunden, das die positive Qualität die explizit angesagte Bucheinteilung durchsetzt (ab Epilog Buch 2, V. 8009). Eine ausdrückliche Bucheinteilung fehlt dem Willehalm. Es ist aber im Vergleich zu den Klassikern deutlich zu verfolgen, wie Rudolf aus einer bestimmten Verteilung des exordialen Diskurses zur gelehrten Bucheinteilung findet. - Neuere Deutung des Korpus unter dem Aspekt der Konstruktion von Autorschaft bei MARTIN BAISCH: La varn din getichte / Wan hat es nu ze nihte! Zur Konzeption der Autorschaft in Rudolfs von Ems Wilhelm von Orlens. In: Text und Autor. Beiträge aus dem Venedig-Symposium 1998 des Graduiertenkollegs „Textkritik" München. Hrsg. von CHRISTIANE HENKES/HARALD SALLER mit THOMAS RICHTER, Tübingen 2000 (Beihefte zur editio 15), S. 53-70. BAISCHS Thesen, vor allem die Beobachtung von Interferenzen zwischen Exordialdiskurs und Romanhandlung, verdienen weitere Diskussion. 8 Rudolfs von Ems Willehalm von Orlens. Hrsg. aus dem Wasserburger Codex der Fürstlich Fürstenbergischen Hofbibliothek in Donaueschingen von VICTOR JUNK, Berlin 1905 (DTM 2). Kursivierungen, welche die Abweichungen von der Wasserburger Handschrift (D) anzeigen, werden nicht wiedergegeben. 9 Vgl. den mit Gottfrieds 6. Prologstrophe eingeleiteten Abschnitt, der über ere, lop, list zur tugent überleitet (Gottfried von Straßburg: Tristan und Isold. Hrsg. von FRIEDRICH RANKE, Dublin, Zürich 121967, V. 21-37). Das Stichwort lere taucht erst später auf: daz nieman ane ir [der liebe] lere / noch lügende hat noch ere (V. 189f.). 10 Zu florieren im Alexander-Prolog FINSTER (Anm. 7), S. 137f. 11 Singular oder Plural (V. 25 = N. Akk. PI., V. 38 = N. Dat. Sing.).

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von Geschichten überhaupt bezeichnet, welche beim Zuhörer auf eine entsprechende Empfänglichkeit treffen soll: Und lasse komen ainen man. Derguti mar erkennen kan Und der liht ist also gemüt 35 Das suze rede im sanfte tut! (V. 33-36; „... und lasse kommen einen Menschen, der gute mcere erkennen kann, und der leicht so gestimmt ist, dass er sich liebliche rede angenehm sein läßt.")

Eine ethisch-inhaltliche Textqualität (guti mar, Plural) wird hier offenbar von einer ästhetischen (suze rede) differenziert, das Schema des utile cum dulci deutet sich an. Eine gehäufte Verwendung des Leitwortes mcere findet statt, als der Prolog die Vita des Helden oder der Helden ankündigt. Gemeint sind hier die Lebensereignisse (V. 70 u. 76 im Plural; sie werden mitgeteilt im bümceren des Erzählers, V. 72), die sich aber in der folgenden Wiederaufnahme des Wortes zur konkreten französischen Quelle des Dichters, zu dessen schriftlicher Vorlage verschieben. JUNKS Handschrift schwankt hier unsicher zwischen dem Plural und dem Singular:12 Als üns das mar e tet erkant, Der sü in walsche gesriben vant Und sü her braht her in tusche lant. (V. 86-88 [ein her zu streichen]; „...wie es uns das mcere bekannt machte durch den, der die mceren auf Französisch niedergeschrieben fand und sie hierher in deutsche Länder brachte.")

Soweit das schwer zu packende mcere. Unvermittelt wechselt aber dann im gleichen Zusammenhang das Leitwort zu aventiire (V. 108), und gleich darauf werden aventure und mcere weitgehend synonym gekoppelt: Disü aventiire wert / Swes ieman von mären gert... (V. 119f.). Es zeichnet sich ab, dass disü aventure auf die jetzt einsetzende Erzählung zielt, während die mcere eben alle möglichen Geschichten benennen, die zu erzählen und zu hören sich ziemt. Der Erzähler lässt - ein weiteres resonantes Signalwort aus einem anderen Bereich - den Verweis auf seine kunst einfließen (V. 125), um dann erneut die zwei ineinander aufgehenden Textbezeichnungen zu verflechten. Er will Die aventure griffen an 130 Wie disü mar e huoben sich, Als dir warhait märe wisent mich. (V. 130-32; „die äventiure in Angriff nehmen [und erzählen], wie diese mcere anhoben, und zwar so wie es die wahrheitsgemäßen mcere mich lehren.")

12

Eine Revision von JUNKS Text (Anm. 8) ist ebenso wie der Vergleich mit der übrigen Überlieferung nötig. Deutungsprobleme und Verständnisschwierigkeiten der Schreiber scheinen sich auf die grammatische Form der Handschrift niederzuschlagen (siehe unten zu V. 86).

Wort- und Bildnetze zum Textbegriff im nachklassischen mhd. Romanprolog

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Also noch einmal: Der Erzähler beginnt endlich die aktuelle äventiure-Erzahlung - man könnte sagen: den ,discours' - , die davon handelt, wie es mit den erzählten Ereignissen anfing - den mceren als ,histoire' - ; und dies in einer weiteren Beleuchtung: nach Anweisung ihrer als wahr beglaubigten Tradition. Nicht ohne zu zögern greift man übersetzend und erläuternd zu den logischen Unterscheidungen und modernen terminologischen Festlegungen, welche die Kontexte suggerieren, aber die Wortverwendung nicht konsequent durchhält. Das Wort mcere wird zu facettenreich aufgefüllt, von aventure zu wenig klar abgegrenzt. Trotzdem ist es nicht abzuweisen, dass die Reflexion sich theoretisch neugierig auf den genannten Feldern bewegt: zwischen Geschehen und Geschichte, zwischen Stoff und konkretem Erzähltext, zwischen Erzähltradition und bestimmter Quelle, ja materialer Vorlage. In Rudolfs Formulierungen lassen sich jedenfalls nuclei prologrhetorischer Literaturtradition greifen. Auf die Nähe zu Gottfrieds Tristan-Prolog und dessen gedankliche Variation habe ich schon hingewiesen. Dass Gottfried aufgerufen wird, dazu tragen zahlreiche kleine Anspielungen bei, z.B. auf die Instanz des edele[n] herzen (V. 2, hier Singular!).13 An Gottfried orientiert sich die literarästhetische Forderung, dass die Redeweise des Romans mit den Inhalten (V. 89-107) wie mit den Einstellungen des Publikums (V. 108-23) übereinstimmen müsse: Die minnere vindent minne dran, /Die getriuwen state trüwe, / Die seneden senede rtiwe (V. 112-14) usw. Nicht weniger präsent ist im Detail aber auch Wolfram von Eschenbach, wenn der Roman von rittherlicher werdekait, / Von wiplichen tniwen (V. 42f.) handeln soll,14 wenn auf den Helden verwiesen wird, von dem du. märe erhaben sint (V. 70) und Dem disü märe sint erkorn (V. 76).15 Es ist Wolframs mcere, das hier zitiert wird. Und es hat den Anschein, als würde das folgende Stichwort äventiure (vgl. V. 108, 119 u. 130) genau den Wolframschen äventiure-Begriff ansteuern,16 nicht denjenigen Gottfrieds.17 Deutlicher wird das, wenn im Prolog zum II. Buch Wolframs personi13 14

Vgl. die Ankündigung eines Minneromans (V. 40-49), in dem die Minne Susis sur und liebes lait, Haides liep mit arebait lehrte (V. 47f.). Wolfram von Eschenbach: Parzival. Studienausgabe. Mittelhochdeutscher Text nach der s e c h s t e n A u s g . v o n KARL LACHMANN. Ü b e r s e t z u n g v o n PETER KNECHT. M i t Ein-

führungen zum Text der Lachmannschen Ausgabe und in Probleme der Parzival-lnXerpretation von BERND SCHIROK, Berlin, New York 2003: V. 4,9-12: ein mcere wil i'ü niuwen, / daz seit von grözen triuwen, / wipliches wibes reht,/ und mannes manheit also sieht... 15 Parzival (Anm. 14), V. 4,23-25: den ich hie zuo hän erkorn, / er ist mcereshalp noch ungeborn, /dem man dirre äventiure giht...; vgl. V. 2,Iii.:... dä füere ein langez mcere mite. / nu hcert dirre äventiure site. 16 Zuerst Parzival (Anm. 14), V. 3,18; dann V. 27f. (vgl. Anm. 15). Beide Wörter stehen ähnlich nebeneinander auch am 7Wsian-Anfang (Anm. 9, Riwalin-Charakteristik), V. 319-21: Wier aber genennet wcere, / daz kündet uns diz mcere; /sin äventiure tuot es schin. 17 WALTER HAUG: Äventiure in Gottfrieds von Straßburg Tristan. In: Ders.: Strukturen als Schlüssel zur Welt. Kleine Schriften zur Erzählliteratur des Mittelalters, Tübingen 1989

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fizierte Frau Äventiure das Podium betritt und die Fortsetzung der Erzählung anmahnt.18 Rudolf von Ems bewerkstelligt in seinen exordialen Reflexionen eine irritierende Fusion Gottfriedscher und Wolframscher Redeweisen, der Kennwörter wie der Konzepte. So fuhrt gerade der erwähnte Prolog zu Buch II mit Wolframs Äventiure auf einen aus dem Vorbild Gottfrieds entwickelten Literaturexkurs zu (V. 2169-334), um über das Korrektiv kunstmeisterlicher Kritik das rrtcere der äventiure weiter zu tihten (vgl. V. 2271-96). Man kann hier die in der Forschung wohlbekannte doppelte Klassiker-Abhängigkeit Rudolfs zuspitzen: Die textreflexive Terminologie, wenn man sie in ihrer begrifflichen Unschärfe schon so bezeichnen kann, trägt an sich die Indices der literarästhetischen Tradition, welche auf die Doppelautorität von Wolfram und Gottfried zuläuft, die einander sich überlagernd und sich ergänzend, nicht antipodisch gegenüberstehen.19 Ich rekurriere also im Folgenden zunächst auf die Vorgaben des von Rudolf angezettelten terminologischen Netzes bei den Klassikern und stoße dabei auf einige grundsätzliche Methodenfragen im Rahmen begriffsgeschichtlicher Forschung. Dann führe ich mein Thema im System der fünf Prologe und des Epilogs des Willehalm von Orlens aus und versuche, von dieser etwas schmalen Basis her einen systematischen Ausgriff und ein Resümee zu gewinnen. Wir gehen die literarische Reihe chronologisch zurück. Die beobachteten drei semantisch verwandten Wörter, die Rudolf zur Bezeichnung des Textes einsetzt - mcere, rede und äventiure - , stehen nebeneinander im Hartmann-Abschnitt von Gottfrieds Literaturexkurs (V. 4621-33). Auch hier richtet sich mcere am ehesten auf den Stoff,20 dabei bleibt es aber nicht: Typisch sind Gott-

18 19 20

[zuerst 1972], S. 557-582. - Vgl. aber Anm. 14: Gottfrieds äventiure kann vor einer Zuspitzung auf den Schicksalsbegriff wie bei Wolfram zunächst die Romanhandlung mit der Heldenvita bezeichnen (mit Possessivpronomen V. 321 zit. sin äventiure, kurz darauf wieder V. 344). Vgl. Aventiuregespräch im Prolog zu Buch IX {Parzival, V. 433,1-7 und die folgende Passage); Anklang auch an Ende Buch II ich spräche iu d'äventiure vort... (V. 115,24). Daneben andere Referenzautoren, ζ. B. Wirnt von Grafenberg, siehe unten Anm. 45. So auch in anderen Belegen, wenn das mcere dem Erzähler vor-seit. Das lexikalische Spektrum von mcere skizziert für Gottfried auf der reichhaltig nachgewiesenen Basis von Wörterbüchern und Forschungsliteratur SIGRID MÜLLER-KLEIMANN: Gottfrieds Urteil über den zeitgenössischen deutschen Roman. Ein Kommentar zu den Tristanversen 4619-4748, Stuttgart 1990 (Helfant-Studien 6), S. 11-14. Ich versuche eine Systematisierung: Ausgehend von der Grundbedeutung .Mitteilung' verschiebt sich das Denotat des Wortes vom Vorgang des Mitteilens auf dessen Inhalt. Die Verwendung erscheint auch eingegrenzt auf die .literarische' Kommunikation in mündlicher oder schriftlicher Form und erreicht hier eine gewisse poetologische Qualität. Der Mitteilungsvorgang vollzieht sich so als mündlicher Erzählakt, aber auch als Leseakt. Wo es gelesen wird, erscheint das mcere materialisiert im Buch, in dem man liest oder aus dem man eine Vorlage bezieht, um sie zu aktualisieren, mündlich oder schriftlich zu erneuern. Wenn hier mcere die Vorlage im Ganzen oder in Teilen meint, betrifft das streng genommen noch nicht den Inhalt. Vom Akt des Mitteilens verschiebt sich das verengte Denotat auf das Medium der Mitteilung (Erzählung, Schriftstück, womöglich speziell

Wort- und Bildnetze zum Textbegriff im nachklassischen mhd. Romanprolog

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frieds zahlreiche Kompositionen wie die Neubildung senemcere21, die auf eine bestimmte Äußerungsform, hier die Gattung der Liebesgeschichte, des Liebesromans, hinauswollen. Im wilden mcere bekämpft der Literaturexkurs eine literarische Erfindung inhaltlicher und stilistischer Art, die sich nicht zur Gattung verdichtet.22 Offenbar kann das mcere mit positiven und negativen Wertungen versehen werden, die vor allem in Adjektiven stecken. Mit rede stellt der Autor die sprachliche Außenseite seines Gedichts vor,23 während äventiure eine wie immer strukturierte Erzählfolge mit der ihr eigenen meine erfasst.24 In diesem Rahmen bewegt sich auch Rudolf, allerdings wird die semantische Dimension des Textgebildes mit der Spannung von außen und innen bei Gottfried entschieden komplexer gedacht. Auch Wolfram verwendet im Parzival-Pxolog mehrfach das Wort mcere,25 ebenso bei der Nennung der Quellen im Epilog26 und beim Verweis auf die Erzählvorgabe in der Narration passim. Schon im Prolog erscheint aber auch

21 22 23

24

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eine bestimmte Form oder Literaturgattung). Spezifisch inhaltliche Qualitäten werden postuliert, wenn das mcere ζ. B. guot oder reht sein soll; wenn es bestimmten Anforderungen, ζ. B. der Vermittlung von Wahrheit oder ästhetischen bzw. wirkungsbezogenen Kriterien genügen soll. Das irisierende Spektrum scheint mir vor allem in der spezifizierenden Einengung und ihrem Schwanken zwischen Mitteilungsakt und medialer Mitteilungsmodalität begründet zu sein. - M Ü L L E R - K L E I M A N N verzeichnet als lateinische Entsprechungen im poetologischen Kontext materia (eindeutig der Inhalt, StofT, der erst der Formung bedarf) und narratio (zunächst Erzählakt mit Verschiebung zum Inhaltlichen); die weiter angeführte fabella richtet sich wie im mhd. mcere auf gattungsspezifische Merkmale. Allein das Vorliegen der unterschiedlichen, sich differenzierenden lateinischen Entsprechungen unterstreicht die terminologische Vagheit des mhd. Wortes. Es muss im Kontext präzisiert werden. Die altfranzösische Entsprechung bei Chretien spezifiziert sich durch die Opposition matiere-san. Eine breitere Verwendung kann hier nicht überprüft werden. Das Schwanken zwischen Erzählvorgang und Erzählmedium (mündlich oder schriftlich) findet sich im Französischen in der Bezeichnung conte. Viermal: V. 168, 211, 14668 u. 17184. V. 4665 f. Vgl. M Ü L L E R - K L E I M A N N (Anm. 20), S. 39f. Lateinische Entsprechungen: oratio oder sermo („in der ma. Poetik vornehmlich zur Bezeichnung der rhetorisch durchgeformten Textgestalt gebraucht", S. 39). „Mhd. rede wird meist mit dem sprachlichen Außen des Dichtwerkes gleichgesetzt und mit .Sprache'/,Ausdruck' wiedergegeben." (S. 39f.) Semantischer Ausgangspunkt ist deutlich die mündliche Rede. Aber auch hier zeigt sich wieder die Verschiebung zwischen Äußerungsakt und Äußerungsmedium (die mündliche oder schriftliche Äußerung) bis hin zur Gattungsbezeichnung. Es kristallisiert sich hier aber eine spezifische, terminologienahe Verwendung fur die rhetorisch gestaltete Außenseite der Sprache ab. Vgl. M Ü L L E R - K L E I M A N N (Anm. 2 0 ) , S . 4 3 - 4 5 . Bei dem Lehnwort aus dem Altfranzösischen ist der (im Vergleich zu mcere und rede) umgekehrte Prozess der Bedeutungsverschiebung vom Ereignis zu dessen Ausdruck in Form einer inhaltlich (und manchmal auch formal) spezifizierten literarischen Gattung bemerkenswert. Die poetologischterminologische Ausdrucksqualität des Wortes ist besonders im mhd. Lehnwort hoch. V. 2,7, 3,27 u. 4,9. V. 827,2, 4 u. 10.

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äventiure21, wobei die Zurückweisung langer Abschweifungen (dä friere ein langez mcere mite, V. 3,27) im nächsten Vers zum tatsächlichen Erzähleinsatz überleitet: nu hoert dirre äventiure site. Meere steht neben äventiure in der .Selbstverteidigung': ich solt iu fiirbaz reichen / an disem m ce r e unkundiu wort, / ich spräche iu d ' äventiure vort (V. 115,22-24). Das Demonstrativpronomen steht hier bei mcere, aber gleich heißt es: disiu äventiure / vert äne der buoche stiure (V. 29f.). Mit Vorliebe bezeichnet Wolfram seinen Parzival als äventiure, welche dann in der Einleitung des IX. Buches personifiziert auftritt. Die 7i'iure/-Fragmente und - wie von der Gattung zu erwarten - der Willehalm überliefern das Wort nicht. Rede, für die Gottfried im Prolog und im Literaturexkurs reichlich Verwendung hat,28 erscheint im Parzival erst im Verlauf der Vorgeschichte (V. 54,16); autoreferentiell wird das Wort im Prolog-Dreißiger von Buch VII verwandt (V. 338,14): diu rede belibet äne dach, dies in Nachbarschaft von m&re und äventiure. Es handelt sich hier freilich um eine sprichwörtliche Wendung, an die sich Wolfram bald darauf ganz ähnlich auf der Handlungsebene erinnert (V. 369,10). So verwendet Wolfram das Wort zwar ein paarmal autoreferentiell, aber kaum im rhetorisch-technischen Sinne des sermo.29 Blicken wir noch weiter zurück auf Hartmann! Immer wieder koppelt der gebildete Dichter das mcere ausdrücklich mit Schriftlichkeit, so in den Prologen des Armen Heinrich (V. 1-29) und des Iwein (V. 21-30 u. 56-58), wo in parallelen Formulierungen mcere, buoch und tihten einen Zusammenhang von Leitwörtern bilden.30 Im Armen Heinrich ist hier auch rede eingewoben: ein rede die er geschriben [!] vant (V. 17).31 Nicht zufällig dürfte sich dieser Zusammenhang im Erec auch in der literarästhetischen Passage von Enites Pferd herstellen: Vor der Sattelbeschreibung gesteht der mit seinen Hörern plaudernde Erzähler, er habe jenen Sattel nie gesehen (der Gebildete weiß: zu Ungunsten 27

28 29

30

31

V. 3,17 in einer schwierigen Verbindung: ich enhän daz niht vür lihtiu dinc, / swer in den kranken messinc / verwurket edeln rubin / und al die äventiure sin (V. 3,15-18). Hier ist äventiure übertragen auf das moralische Verhalten, das auch der Rubin metaphorisch ausdrückt - mit autoreferentiellem Nebensinn? Prolog nur V. 56; Literaturexkurs elfmal. Vgl. Anm. 15. - Auch V. 740,1 f. eher objektsprachlich: Daz ich die rede mac niht verdagen, / ich muoz irstrit [Parzival-Feirefiz] mit triwen klagen. Insgesamt 85 Belege des Substantivs rede im Parzival ( C L I F T O N D . H A L L : A Complete Concordance to Wolfram von Eschenbach's Parzival, New York, London 1990, S. 281). Hartmann von Aue: Der arme Heinrich. Hrsg. von H E R M A N N P A U L , neu bearb. von K U R T G Ä R T N E R , 17., durchges. Aufl., Tübingen 2001 (ATB 3). Iwein. Eine Erzählung von Hartmann von Aue. Hrsg. von G E O R G F R I E D R I C H B E N E C K E / K A R L L A C H M A N N . Neu bearb. von L U D W I G W O L F F . Siebente Ausg., 2 Bde., Berlin 1968. - Bei Wolfram, Parzival (Anm. 14), buoch, schrift als Kontrastmodell, dem aber Trevrizent auch als Laie gerecht wird (V. 462,12f.). Gottfried (Anm. 9) kennt wie Hartmann die Recherche in den buochen (Prolog V. 152 u. 158; vgl. V. 164) und imaginiert den gelehrten Bligger als Adler mit Buchblättern als Flügeln (V. 4719f.), sowie weitere Belege. Vgl. auch den Reimprolog des Lucidarius (Anm. 5).

W o r t - u n d B i l d n e t z e z u m T e x t b e g r i f f im n a c h k l a s s i s c h e n m h d . R o m a n p r o l o g

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einer beweiskräftigen Augenzeugenschaft) und wisse nur so viel, als mir davon 32 bejach / von dem ich die rede hän (V. 7487f.). Das klingt nach Mündlichkeit, aber es kommt anders: so wil ich iuch wizzen län ein teil [wie bescheiden!] wie er geprüevet was, 7490 als ich an sinem buoche las. (V. 7489-91; „... so will ich euch ein wenig wissen lassen, wie er [der Sattel] gefertigt war, und zwar genau so, wie ich es in seinem Buch las.")

Damit sind Bezugsfelder abgesteckt, die hier nicht detaillierter aufgerollt werden müssen. Jedenfalls sind Wortnetze, welche mcere - rede - äventiure buoch und weiteres verknüpfen, quer durch die nachklassische Erzählliteratur gang und gäbe. PETER KOBBE hat in seinem als Bestandsaufnahme und Typologieentwurf nach wie vor beeindruckenden Prolog-Aufsatz von 1969 in einer Spalte seiner Tabellen darauf hingewiesen, allerdings unter der fokussierenden Überschrift „Gattungsaussagen".33 Angesichts der Fülle der damit anvisierten Belege und ihrer Verflechtungen, die immer noch nicht alles lexikalisch Zugängliche aufgreifen, ist an dieser Stelle kurz auf die methodischen Prämissen meiner Überlegungen einzugehen. Es melden sich die grundsätzlichen Fragen nach dem Erkenntnisziel und den Analysemethoden des Ansatzes im Rahmen der wort- bzw. begriffsgeschichtlichen Theoriedebatte. Als Literaturwissenschaftler bewegt man sich im Grenzbereich zur sprachwissenschaftlichen historischen Semantik, die ihrerseits programmatische Brücken zum hermeneutischen Literaturverstehen schlägt. DIETRICH BUSSE in seinem Theorieentwurf (1987) und BUSSE/TEUBERT in ihrer programmatischen Abhandlung zu Begriffsgeschichte als Diskursgeschichte (1994) machen es gegenüber linguistischen Hardlinern klar und plausibel, dass auch fur den Sprachwissenschaftler das semantische Datenmaterial nur über ein hermeneutisches Verständnis der Texte und eine theoretische Rechenschaft von Text-, Textsorten- und Diskursbegriff, den sie textpragmatisch definieren, erschlossen werden kann.34 Im Bereich der Textwissenschaft und der Diskurs-

32

Erec von Hartmann von Aue. Hrsg. von ALBERT LEITZMANN, fortgef. von LUDWIG WOLFF, 6. A u f l . b e s o r g t v o n CHRISTOPH CORMEAU/KURT GÄRTNER, T ü b i n g e n

1985

( A T B 39).

33 34

PETER KOBBE: Funktion und Gestalt des Prologs in der mittelhochdeutschen nachklassischen Epik des 13. Jahrhunderts. In: DVjs 43 (1969), S. 405-457, hier S. 456. DIETRICH BUSSE: Historische Semantik. Analyse eines Programms, Stuttgart 1987 (Sprache und Geschichte 13). - DIETRICH BUSSE/WOLFGANG TEUBERT: Ist Diskurs ein

sprachwissenschaftliches Objekt? In: Begriffsgeschichte und Diskursgeschichte. Methodenfragen und Forschungsergebnisse der historischen Semantik. Hrsg. von D. B./FRITZ HERMANNS/W. T., Opladen 1994, S. 10-28. - BUSSE/TEUBERT verbinden Diskurs- und

Korpusbegriff: „Unter Diskursen verstehen wir im forschungspraktischen Sinn virtuelle Textcorpora, deren Zusammensetzung durch im weitesten Sinne inhaltliche (bzw. semantische) Kriterien bestimmt wird." (S. 14) Es fließen also in die Definition keinerlei soziologische und gesellschaftskritische Prämissen ein.

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analyse überkreuzen und ergänzen sich hier sprach- und literaturwissenschaftliche Methoden. Dabei verschieben sich die Interessen, ob man lexikographische oder üblicherweise so bezeichnete „begriffsgeschichtliche" Interessen verfolgt. Während die lexikographische Arbeit, wie KURT GÄRTNER in dem Sammelheft der Göttinger Akademie zum neuen Mittelhochdeutschen Wörterbuch formuliert, eine „repräsentative Beschreibung des mittelhochdeutschen Wortschatzes in allen seinen systematischen und pragmatischen Beziehungen" 35 verlangt (eine hochkomplexe Aufgabe, die für die Quellenauswahl wie für das Einzellemma mit seinem Lexikonartikel gelöst werden muss), sucht die wortund begriffsgeschichtliche Arbeit weniger und mehr. Sie grenzt ihren Objektbereich ein, um die Leistung der untersuchten Terme (Wörter bzw. Begriffe) in bestimmten Kontexten, ausgewählt nach Räumen, Zeiten und Diskursen, zu erkunden. Diese zugespitzte Sicht fließt in die bekannten großen Lexikonunternehmen ein. Wie immer hier die Schwierigkeiten im Einzelnen liegen, „begriffsgeschichtliche" Forschung entwickelt durchweg dynamische Profile ihrer Gegenstände in ihren jeweiligen Kontexten. Während der philosophische Ansatz vor allem in der Spannung zwischen abstraktem „Begriff', d. h. in seiner Identität nicht veränderbarem Gedankenkonzept, und sprachlichem Wort gesehen wird36, hat die Begriffsgeschichte der Historiker die Spannung zwischen Wort und Tat auszuhalten. REINHARD KOSELLEK, der seine „Grundbegriffe" mit geschichtlicher Realität erfüllt auffasst, unterscheidet ihre Funktion als „Indikatoren" und als „Faktoren" historischer Realitäten.37 Damit kommt ihr pragmatischer Bezug auf außersprachliche Sachverhalte und in die Zukunft gerichtete Entwicklungen, die projektive Wirkungsmacht von „Begriffen" auf Wirklichkeit in den Blick. Auf die Darstellung semantischer und bildlicher „Netze" stieß ich in dieser Diskussion bei ROLF REICHARDT (2000). 38 35

Ein neues mittelhochdeutsches Wörterbuch. Prinzipien, Probeartikel, Diskussion. Hrsg. v o n KURT GÄRTNER/KLAUS GRUBMÜLLER, G ö t t i n g e n 2 0 0 0 ( N a c h r i c h t e n der A k a d e m i e

der Wissenschaften in Göttingen, I. Philologisch-historische Klasse, Jg. 2000, Nr. 8), S. 18.

36

Zur Diskussion WINFRIED SCHRÖDER: Was heißt „Geschichte eines philosophischen Begriffs"? In: Die Interdisziplinarität der Begriffsgeschichte. Hrsg. von GUNTER SCHOLTZ, Hamburg 2000 (Archiv für Begriffsgeschichte, Sonderheft), S. 159-172, und SVEN K. KNEBEL: Haben Begriffe Geschichte? Ebd. S. 173-182.

37

V g l . zur A u s e i n a n d e r s e t z u n g mit KOSELLEK das Referat v o n HANS ERICH BÖDEKER:

38

Reflexionen über Begriffsgeschichte als Methode. In: Begriffsgeschichte, Diskursgeschichte, Metaphemgeschichte. Hrsg. von HANS ERICH BÖDEKER, Göttingen 2002 (Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft 14), S. 73-121; weitere einschlägige Aufsätze im gleichen Band. ROLF REICHARDT: Wortfelder - Bilder - semantische Netze. Beispiele interdisziplinärer Quellen und Methoden in der Historischen Semantik. In: Die Interdisziplinarität der Begriffsgeschichte (Anm. 36), S. 111-133. - Während REICHARDT unter „Bildern" Ikonographisches versammelt, beziehe ich „Bildnetze" auf metaphorische Modelle im Text, welche die abstrakte Begrifflichkeit ergänzen. Dazu unten.

Wort- und Bildnetze zum Textbegriff im nachklassischen mhd. Romanprolog

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Wie steht es nun um die theoretische Einordnung der vorliegenden Fragestellung in diese Diskussionskontexte? Unsere metasprachlichen literarästhetischen ,Termini' im semantischen Feld des Textes sind problematisch sowohl hinsichtlich ihrer abstrakten Präzision wie ihrer realitätshaltigen Fülle. Die Schärfe eines tendenziell mit sich identischen und so nicht wandelbaren philosophischen Konzeptes ist hier besonders schwach, ist sie ja auch nur äußerst schwach für die wissenschaftlichen terminologischen Pendants der Zeit vorauszusetzen, die vor allem in den Artes der Rhetorik und Poetik ihren Ort haben. Gewisse terminologische Tendenzen sind in diesem Rahmen jedoch bei den schulgebildeten Autoren, voran Gottfried von Straßburg, nicht auszuschließen, auch wenn sie sich in der volkssprachlichen Form in neuen Gewändern darbieten. Gerade dann kommt die ursprüngliche Semantik des den Artes-Gehalt schulternden volkssprachlichen Wortes mit zum Tragen, und es ist mit kalkulierter Polysemie gerade zu rechnen. Als außersprachliche Realität dieses metasprachlichen Diskurses ist einerseits dieser Diskurs als Objekt selbst zu nennen, der Gebrauch der Vorgänger und die projektive Karriere eines Wortes oder Terminus' bei den Nachfolgern, anderseits als Objekt natürlich die literarische Praxis in ihrem geschichtlichen Fluss. Es geht in dieser Richtung um die Vernetzung der Metaaussagen mit den Dichtungen selbst, im Roman das schwierige Verhältnis von Prolog und Handlung und - um eine weitere Bühne der Aktivität unserer Begrifflichkeit zu öffnen - die Wirkung der Dichtungen über ihre Form auf das Publikum. Diese Kontexte sind allerdings erst in weiteren Schritten an das mühsame Geschäft der semantischen Wortanalyse anzuschließen und müssen im Augenblick zurückgestellt werden. Nicht aufschiebbar ist indes das Korpus-Problem. Die Qualität von Aussagen über einen sprachreflexiven Textwortschatz und seine Leistungsfähigkeit hängt nachgerade von einer vorausgehenden Korpusbildung ab. So zieht etwa der idealiter die Gesamtüberlieferung erfassende Wortschatz des exordialen Diskurses eines Sprachzusammenhangs, hier im Mittelhochdeutschen, einen Rahmen, der wieder nach Textsorten und historischen Einheiten, schließlich nach Autorceuvres und sogar Gattungs- und Werkkomplexen differenziert werden kann. Die literarästhetische Prologrede des Mittelalters ist bekanntlich in ihrer Topik nach Gattungen stark unterschieden; wo diese Topik überspielt wird, ist auch mit Verschiebung der Gattungsgrenzen zu rechnen. Erst in dieser Rekonstruktion von historischen Diskursen, die untereinander hierarchisiert werden können, lässt sich die implizite Dynamik der Terminologie in ihrer sprachlichen und situativen Umgebung in den Griff nehmen.39

39

Innerhalb dieser Gruppen und Untergruppen ist weiter sorgfältig nach objektsprachlichen und metasprachlichen Verwendungen, die durchaus zusammenspielen können, zu differenzieren, etwa im Begriff ,äventiure\ der einmal den Text, ein anderes Mal den Inhalt eines Ereignisses bezeichnen kann und darüber hinaus diverse Konnotationen übernimmt.

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So ist es im Interesse der Präzision und Fülle des Analyseunternehmens erlaubt, ja von Vorteil, eine Unterscheidung von Teildiskursen vorzunehmen, und ich beschränke mich bei meiner Skizze im Folgenden nicht ohne Berechtigung auf das enge, für die Themenstellung relevante Korpus im Willehalm von Orlens des Rudolf von Ems.40 Der Roman ist mit fünf Prologen und einem Epilog ausgestattet, die untereinander vernetzt sind und eine Art systematischen Charakter haben, wie schon EHRISMANN (1919) vermerkt.41 Diese Prologe sind an relevanten Einschnitten der Handlung angebracht. Sie bilden hier keine ausdrückliche Bucheinteilung, wie sie JUNK in seiner Ausgabe herstellt, sind aber in der Einrichtung der Handschriften hervorgehoben; erst im Alexander ist nach einer umarbeitenden Revision ausdrücklich von Büchern die Rede.42 Das Prologsystem im Willehalm stellt sich nun im Überblick folgendermaßen dar: Der Prolog I, von dem schon die Rede war, ist rezeptionsästhetisch angelegt und eröffnet in prototypischer Manier nach einem ethisch-sentenziösen Eingang das Gespräch mit dem Publikum, teilt dieses in ein wohlwollendes und ein übelgesinntes und arbeitet heraus, dass die Inhalte des mcere (dessen französische Herkunft V. 87f. nur einmal kurz gestreift wird) ganz den Werten und Bedürfnissen des Wunschpublikums entspricht. Eine dem Inhalt adäquate Gestalt kommt ab V. 89 in den Blick. Sie verpflichtet dazu, Das ich ärbate mine kunst (V. 125)43. Prolog II und III sind produktionstheoretisch ausgerichtet und wenden sich einerseits auf die literarische Tradition des Romans zurück (mit dem Literaturexkurs in II), anderseits auf die Erfordernisse des Stoffes in III, als Willehalms Schwertleite ansteht. Die Wahl dieses Platzes in der Handlung ist bei Gottfried von Straßburg vorgezeichnet, in dessen Literaturexkurs beide Perspektiven in enger Verflechtung behandelt werden.44 Prolog IV kehrt in einer bemerkenswerten Wendung zum rezeptionsästhetischen Thema zurück, während Prolog V erneut den Produktionsaspekt vertieft. Der Epilog liefert die obligatorischen Angaben zu Quelle und Auftraggeber mit aller Ausführlichkeit, um zuletzt noch einmal auf das Selbstverständnis des Dichters zu lenken. Einzelne Gedanken und Formulierungen werden in den verschiedenen Passagen so

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43 44

Die teils chronologisch vorausliegenden Λ/exa/ii/er-Prologe/Epiloge, die eng zu dem Korpus gehören, beziehe ich nur in Anmerkung ein. Rudolf hat hier das geplante System nicht abgeschlossen. GUSTAV EHRISMANN: Studien über Rudolf von Ems. Beiträge zur Geschichte der Rhetorik und Ethik im Mittelalter, Heidelberg 1919 (Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philologisch-historische Klasse, Jg. 1919, Nr. 8), S. 8. Vgl. JUNK (Anm. 8); Text: Rudolf von Ems: Alexander. Ein höfischer Versroman des 13. Jahrhunderts. Zum ersten Male hrsg. von VICTOR JUNK, 2 Bde., Leipzig 1928-29 (StLV 272, 274), Nachdruck Darmstadt 1970; vgl. z . B . V. 8009-12, 12910-22 u. S. 754. „Dass ich mir in meiner Kunst Mühe gebe." Fasst man Prolog II mit dem Literaturexkurs und Prolog III als Einheit, wird die Analogie der Positionierung im Vergleich mit Gottfried deutlich.

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dicht wiederaufgenommen und variiert, dass man von einem geschlossen konzipierten exordialen Gesamttext sprechen kann. Ich richte nun in einem Durchgang durch dieses Ensemble das Augenmerk auf die interessierenden Leitbegriffe und ihre Vernetzung. Prolog II lässt Wolframs Frau Äventiure auftreten und wie dort die Fortsetzung des mcere fordern, beginnt aber unüberhörbar mit der Zitierung des personifizierten buoches nach Wimts Wigalois: Wer hat mich guter her gelesen? (V. 2143).45 Das richtet sich bei Rudolf an den Erzähler bzw. Autor, für dessen Welt ein Cluster an Termini neu eingeführt wird: maister, maisterschaft, kunst46 und für das Ergebnis das Leitwort getiht. Sie dominieren in der Aufzählung der Literaten, die das mcere maisterliche tihten (passim) und berihten, (V. 2211, 2223 u. 2231), sagen (vgl. gesait V. 2203) oder ze tiute gesagen (V. 2250f.). Dabei werden anders als bei Gottfried durchweg die Titel und eine kurze Inhaltsansage mitgegeben. Neu ist unter ihnen die Gruppe der Literaturkritiker, deren Tätigkeit erst einmal konzipiert und technisch beschrieben werden muss. Sie urteilen als merkare (V. 2291) und überhören und bezzern (V. 2287f.) das Gedicht der Meister, um so schlechte Kunst, auch min unkunst (V. 2294), auszumerzen. Mit ihnen wirkt auch der Gönner mit seiner Dame im Hintergrund auf die perfekte Form des Werkes ein: Der höh gemute Cünrat Von Winterstetten, der mich hat 2320 Gebetten durch den willen sin Das ich durch in die sinne min Aerbaite und uch tihte In rehter rime rihte. (V. 2319-24; „der hoch gestimmte Konrad von Winterstetten, der mich gemäß seinem ausdrücklichen Wunsch gebeten hat, dass ich ihm zuliebe meine künstlerischen Fähigkeiten abmühe und Euch [bezieht sich immer noch auf die angeredete Dame Äventiure] ein Gedicht verfasse nach dem Gesetz rechter Reime.")

Gegenüber Gottfried, bei dessen Nennung zum ersten Mal das Reizwort kunst fällt (V. 2185), ist in Rudolfs Literaturexkurs die Beschreibung dichterischer Tätigkeit ganz auf die Feststellung des tihtens und Kritisierens mit den entsprechenden Synonyma zurückgedrängt. Inhaltliche Gesichtspunkte dominieren, etwa in der Betonung von wisheit. Das bei Gottfried terminologisch und metaphorisch so reich ausgestaltete Thema der Sinnsetzung in Sprache entfällt fast ganz.47 Zur rhetorischen Stilisierung wird fast nichts gesagt.48 45

Vgl. Wirnt von Grafenberg: Wigalois. Text der Ausgabe von J. Μ. Ν. KAPTEYN, übers., erläutert und mit einem Nachwort versehen von SABINE SEELBACH/ULRICH SEELBACH,

Berlin, New York 2005, V. 1; siehe auch FINSTER (Anm. 7), S. 287. 46

Zum Stichwort kunst FINSTER (Anm. 7), S. 127.

47 48

Vereinzelt bleibt V. 2189f.: wahin (Verb) / Mit wisen worten spähen. Vereinzelte Hinweise: Mit wisen worten spcehen (V. 2190); gemalet (V. 2196). - Dagegen bezieht der bereits vorliegende Alexander-Y>to\og die sprachästhetischen Qualitäten ein.

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Der Prolog III bildet vor der Schilderung von Willehalms Schwertleite und seinen anstehenden Rittertaten einen einzigen elaborierten Unfähigkeitstopos. Die Passage beginnt mit einer dichten Leitwortballung (V. 5595-607) und bittet in fugenloser Fortführung von II die Kunstmeister um hilfe und stiure (wie sie Wolfram gerade ablehnt). Neben aventure und dem ihr zugeordneten märe (V. 5606f.) erscheint hier wieder die in II absente rede, für die sich stilistische Qualitäten wenigstens andeuten (In suzer rede V. 5599; mit red [...] gehohen V. 5616). Der Ausgang führt den Umschlag der Unfähigkeit ins Positive vor: Motiviert von seinem gewogenen Publikum, Durch werder luie werden gunst (V. 5639), rafft sich der Autor auf, seine kunst durch arbait in das getihte umzusetzen. Damit ballen sich die Leitwörter der Kunstmeisterschaft am Anfang und am Schluss der Passage und instrumentieren das Thema. Ein Kabinettstück der Argumentationskunst ist der Prolog IV. Im engen Anschluss an den Hauptprolog bewegt er sich mit einer sparsamen, schon bereitgestellten Leitwortausstattung nun auf eine extreme Polarisierung von Autor und Publikum zu. Als Textbegriffe stehen sich zunächst äventiure und mcere gegenüber: dise aventure (V. 9735) denotiert die vorliegende Erzählung,49 während mcere das Erzählen allgemein mit seinen ihm eigentümlichen Regeln beschreibt: Die dise aventüre hant 9735 Von mir vernomen und sich verstant Ze rehter guter märe wol. Als man verstan diu mare sol Bi mären, bi der Sprüche kraft... (V. 9735-39; „Diejenigen, die diese äventiure von mir vernommen haben und sich auf rechte, vortreffliche mcere gut verstehen, so wie man die mcere von rechts wegen verstehen soll, durch die Erzählung von moeren und durch die Kraft der sprachlichen Prägungen ... [, die wissen genau usw.]."

Dieses Publikum - so geht es weiter - findet hier die ihm angemessene Form des Erzählens wie Reflektierens. Die auffallende Wendung der Sprüche kraft setzt offenbar eine räsonierende, reflektierende, vielleicht auf der Wirkung der Formulierung beruhende Sprachqualität, wie sie in der Didaxe (ζ. B. im Sangspruch) auftaucht.50 Als äußere, akustisch wahrnehmbare Sprachform gibt sich jedenfalls die (ebenfalls nur einmal platzierte) Bezeichnung rede zu erkennen: Nu vernement, horent wie Diu rede sig gemainet

49

Demonstrativpronomen V. 9735 (siehe oben); V. 9753-55: Die rehte märe minnent /... /An dirre aventure hie; auch V. 9748 eindeutig auf das aktuelle Werk bezogen. 50 Zum poetologischen Gebrauch von sprüche (meist Plural) bei Heinrich von Mügeln vgl. KARL STACKMANN: Der Spruchdichter Heinrich von Mügeln. Vorstudien zur Erkenntnis seiner Individualität, Heidelberg 1958 (Probleme der Dichtung 3), S. 63-66. Dass das poetologische Stichwort eine breite Untersuchung lohnen würde, zeigt ein Blick in die großen Wörterbücher.

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Und wie es sig beschainet. (V. 9756-58; „Nun vernehmt, hört, wie die rede gemeint ist, und wie das bewiesen wird.")

Mit dem Rekurs auf die äußere, in Erscheinung tretende Sprachform stellt sich das Problem der intendierten und richtig verstandenen Bedeutung. Das dürfte nun bei der bisherigen Homologie von Publikum und ihm angemessener Thematik eigentlich keine Schwierigkeiten machen.51 Ein neuer Aspekt taucht jedoch auf bei dem, der fromder märe ger (V. 9766), und dem im vorliegenden Roman auch Fromder aventüre v/7 (V. 9769) versprochen wird. Eine Weiterfuhrung der angezettelten und im gegenwärtigen Stadium noch unabgeschlossenen Handlung, welche die Liebenden trennt und sich nach Wilhelms Verbannung aus England nach Norwegen verlagert, wird durch eine subversive Rezeption plötzlich verhindert. Sie bringt das märe (V. 9798-803) - als Erzählvortrag - zum Scheitern. Der Buchautor imaginiert die Situation des mündlichen wiEre-Erzählers und setzt sich so ausfuhrlich mit der verständnislosen Rezeption auseinander.52 Die Szene wird turbulent ausgemalt. Man will nicht den Vortrag einer hundert Jahre alten Geschichte, sondern etwas Modernes; man will nicht dem einen Erzähler schweigend zuhören, sondern ein eigenes mcere zum Besten geben (im Sinne des beliebigen Gesprächsbeitrags, des anekdotischen Erzählens): So wirt der märe den als vil /Das minii märe hant 53 am zil (V. 9817f.). Das eine, rechte mcere geht im Stimmengewirr vieler, ungezügelter Nachrichten unter. Man betrinkt sich, bedauert den Verlust im Würfelspiel, beschimpft seine Mutter, seine Schwester und überhaupt alle Frauen, die Kinder und Ehefrau der anderen und greift dabei zu den schändlichsten Ausdrücken. Der Sprecher distanziert sich davon, nicht weil er etwa beleidigt wäre, dass man ihm nicht gerne zuhört. Ja er will dieses Volk mit seinem mcere gar nicht unterhalten und entschließt sich zum Rückzug. Er will überhaupt aufhören zu dichten. Dazu fährt er das mit der Autorleistung hochrangig besetzte Stichwort getiht auf, das bei der kunstmeisterlich-produktionsästhetischen Thematik in Prolog II und III triumphierte. Er denkt: ,La varn din getihte / Wan hat es 54 nu ze nihte!' (V. 9869f.). In diesem Moment der Resignation entschließt er sich aber um und hält doch am getiht fest, er dichtet für sich selbst weiter (vgl. V. 9881), in der Hoffnung auf ein besseres Publikum in späteren Zeiten. Die präsentische Erzählsituation wird zur schriftlichen Kommunikation mit vielleicht gewogenen Lesern in ferner Zukunft umgebogen. Ich denk in den sinnen min ,Nu wer sol dir lieber sin Dan du dir selber bist? 51 52 53 54

9875

V. 9759Γ: Ich han den manlichen gesait /Ain tail von mannes manhait usw. Vgl. den 6. Prolog zum Alexander (Anm. 42), V. 20651 -88. „Dann werden die .Mären' so viele, dass meine .Mären' an ein Ende kommen." „Lass dein Gedicht fahren, man hält es jetzt für nichts!"

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Was ob zetlicher vrist Dir an danc noch wider vert, Da von dir liht wirt beschert Ere, said, werdekait!' So liebet mir diu arbait 9880 Und dihte aber furebas. (V. 9873-81; „Ich denke in meinem Verstand: ,Nun, wer soll dir lieber sein als du dir selber bist? Was, wenn dir irgendwann einmal, ohne dass du es willst, noch etwas begegnet, wodurch dir vielleicht Ehre, Glück und Würde beschert werden!' Dann wird mir die Mühe lieb und ich dichte wieder weiter.")

Über das satirisch zugespitzte Zerrbild eines verständnislosen Publikums kommt Rudolf von Ems hier ca. 1235/40 zu der radikalen Formulierung dichterischer Autonomie eines von seinem Publikum losgelösten Autors, der, für sich selbst erzählend, sich an seinem Stoff abarbeitet. Diese Position, die im Epilog noch einmal anklingt,55 wird bei Konrad von Würzburg literarhistorisch Schule machen.56 So kann Rudolf in der Hoffnung auf Anerkennung zum Weitererzählen zurückkehren. Signifikant ist in unserem Abschnitt die Häufigkeit und das sperrige Auseinandertreten der Leitwörter: Im ganzen Abschnitt sechzehnmal das schillernd inszenierte mcere, dagegen nur dreimal äventiure, einmal mit großem Aplomb getiht, einmal dihten, einmal arbeit. Das Hauptgewicht trägt nicht das häufigste Wort. Ins Negative verkehrbar erscheint nur mcere, nicht äventiure, die einsame positive Gegenposition hält das getiht. Das quantitativ dominante Leitwort lässt sich wenden und zerreden, das prononciert gesetzte Einzelwort genügt als Ausweis des isolierten, autonomen Künstlertums. Der Prolog V hat wieder die Form eines zive/ii/wre-Gespräches (vgl. II), aber in einer witzigen Variante Wolframscher Vorgaben, indem diesmal der Autor Rudolf das Wort ergreift. Er bittet Vro Äventiure, die auf die Folter gespannten Liebenden zu erlösen, wobei die Zuständigkeit der Äventiure oder des Dichters spielerisch in die Schwebe gebracht wird. Beide müssen jedenfalls die Lösung bringen, V. 12212f.: So rat ich, helfen ime genesen, / Vro Α venture, ich und ir!57 Frau Äventiure dagegen schiebt dem Erzähler die Verantwortung zu und führt zur Bezeichnung der Geschichte, um deren Organisation es geht, den Ausdruck mcere ein:58 ,Rudolf, nu waist du wol, ich han Disiu mar e an dich gelan 55 56

V. 15666-80. Vgl. den Partonopier-Prolog:

Konrads von Würzburg Partonopier

und Meliur. Aus

d e m N a c h l a s s e v o n FRANZ PFEIFFER hrsg. v o n KARL BARTSCH, W i e n 1 8 7 1 . M i t e i n e m

57 58

Nachwort von RAINER GRUENTER, Nachdruck Berlin 1970 (Deutsche Neudrucke, Reihe: Texte des Mittelalters). „So rate ich, verhelfen wir ihm [Willehalm] zur Rettung, ich und Ihr!" Er klingt schon in V. 12220 im Adverb mcerishalp an (nach Wolfram: Parzival, V. 4,24).

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Und hart des gar bewarot dich Wie du solt berihten mich.' (V. 12241-44; „.Rudolf, nun weißt du doch ganz genau, dass ich diese mcere [Plural] dir überlassen und dich dazu autorisiert habe, wie du mich [die Aventiure] berichten (zugespitzt: auf die rechte Weise gestalten) sollst'.")

Dagegen behauptet dieser, als er schließlich weitererzählt, sich ganz an ihre Vorgabe zu halten: Ich wil das gerne tun erkant 12270 Wie nu den maren sol geschehen. Als ich iuch mir horte jehen. (V. 12270-72; „Ich will das gerne bekannt machen, wie nun mit den mceren verfahren werden soll, so wie ich Euch es mir erzählen hörte.")

Ferner wird auch noch die Erwartung des Publikums zum Kriterium gemacht. Rudolf gehorche dem Auftrag seines Gönners (V. 12259f.), er entspreche dem Wunsch aller guten Frauen (V. 12247 u. 12265), überhaupt aller Frauen (V. 12261), ja aller guten Menschen (V. 12263). Der Kreis wird bald so, bald anders abgesteckt. Eine Konkurrenz zwischen der Aventiure und dem Erzähler beim Umgang mit den mceren ist rein gespielt. So ist es schließlich dann doch der Erzähler, der - obwohl er zuerst der Bittende war - am Ende über die Fortsetzung entscheidet, die Aventiure weist ihm das Kennwort seiner literarischen Kompetenz zu, die er im Auftrag des Mäzens einsetzt: Du t i h t e s t mich durch ainen man / Der wol nach eren werben kan (V. 12259f.).59 Der witzige Dialog läuft zuletzt darauf hinaus, dass wie in IV so auch in V die Souveränität des Künstlers gefestigt wird, der anders als in II und III auch nicht mehr angesichts der meisterlichen Tradition in die Knie geht. Gegenüber diesen Pointen ist der Epilog mit seinen topischen Aufgaben konventionell. Er handelt die topischen Themen der Vorlagenvermittlung, der Verfasser- und Gönnernennung ab und setzt dabei Akzente, auf die es uns hier nicht ankommt. Es tauchen da die wichtigsten, aus den vorgängigen Prologen bekannten Leitwörter zu Rudolfs TextbegrifT auf, und zwar so, dass sie sich zum Teil besonders weit überlappen und bisherige Differenzierungen kollabieren lassen. Aventiure bezieht sich auf das soeben beendete aktuelle Werk (V. 15598600); es ist disiu aventüre (V. 15643), die Rudolf vermittelt wurde, und die er für seinen Gönner Konrad von Winterstetten und das weitere Publikum bearbeitet hat. Dennoch heißt es im letzten Vers auch: Dis mare alhie an ende hat (V. 15689). Das Wort mcere ist, wie gehabt, schillernd. Es benennt einerseits 59

„Du dichtest mich um eines Mannes willen, der vortrefflich nach Ehren streben kann." Zu tihten gesellt sich auch berihten (V. 12244 u. 12246) als textreflexives Kennwort, aber weniger exponiert und .terminologisch'; zur Semantik vgl. oben V. 12441-44. Vgl. auch Gottfried von Straßburg (Anm. 9), der im Prolog (V. 161 f.) rihten und tihten kombiniert (im Reim zudem V. 13861 f.), sowie Rudolfs von Ems Willehalm-Epüog, V. 15614-16.

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ausdrücklich das, was von Frankreich nach Deutschland gesant wurde (V. 15602), und zwar in der Existenzform der schriftlichen Vorlage, die Johannes von Ravensburg in waischen buchen (V. 15609) kennen lernte. In diesem Kontext wird mcere synonym mit buoch verwandt. Andererseits bezieht es sich auf den Buchinhalt, das Erzählte, wenn auf die getat des werden mannes [Willehalm] referiert wird (V. 15608). Mehr oder weniger austauschbar sind die Bezeichnungen, wenn Rudolf in seinem Werkkatalog den Guten Gerhard als buch, den Barlaam als märe betitelt (V. 15631-41). Davon hebt sich ab die kunst des Verfassers, der mit seiner arbait die märe traktiert und das getihte hervorbringt; der um gunst in dem oben ausgebreiteten Publikumsspektrum nachsucht, aber genau diese Öffnung bietet ihm die Voraussetzung seiner auktorialen Unabhängigkeit (vgl. V. 15666-80: aus eigenem Entschluß würde er sich auch gegen den Gönner an ein denkbar breites Publikum wenden). Dieser selbstbewusste Dichter ist es, der am Ende bei den Wohlwollenden in topischer Bescheidenheit um die Korrektur seiner unkunst bittet: Das si mir genadic sin 15675 Und mir ir gute machen schin Und mine unkunst wol fugen Und früntlichen rügen ... (V. 15675-78; „Dass sie [das nach Tugend strebende Publikum, Männer wie Frauen] mir gewogen seien und mir ihre Güte zeigen und meine fehlende Kunst ausgleichen und freundschaftlich kritisieren.")

Die dramatische Bewegung dieses Prologensembles wird von einem Netz weniger Leitbegriffe getragen, zu dem sich noch einige kollaterale Termini herausheben ließen. Die Leitwörter sammeln sich mit mcere, äventiure und rede um einen Schwerpunkt, der eine Phänomenologie der Erzählung in ihren textlichen Erscheinungsformen variabel beschreibt. Der Terminus getiht bildet in diesem Feld genau den Berührungspunkt, an den die Kompetenz des Autors in weiteren Leitbegriffen angekoppelt ist. Eine zusammenfassende Verteilung der Begrifflichkeit in diesem Korpus wird freilich der entscheidenden, ihr innewohnenden Dynamik in den Einzelpassagen nicht gerecht. Ich spare mir hier ein Resümee der jeweils aktuell aufgebauten Polaritäten und will noch kurz auf drei Aspekte der terminologischen Netzwerktechnik eingehen, die das Korpus des Willehalm übersteigen. 1. Instanzenvielfalt in der Textherstellung (man könnte auch sagen , Literaturschöpfung'): Modernen Denkgewohnheiten ungewohnt ist der mittelalterliche Ansatz der äventiure als schöpferischer Instanz, Frau Äventiure, und weniger deutlich eines aktiv agierenden mcere, neben den menschlichen Akteuren von Autor/Erzähler, Mäzenen und Publikum. Zu diesem Personal gesellt Rudolf auch die Scelde, die vor allem in zwei Prologen des Alexander-Torsos eine führende Rolle spielt. KOLB vermutete, dass die Scelde hier als Fortuna in der paganen Geschichtsdichtung die prominente Funktion übernehme, die im reli-

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giösen Gedicht als Inspirationsinstanz der Heilige Geist besetzt.60 Tatsächlich stellt Rudolf sie hier als eine Art Numen in die vordere Reihe der Instanzen, die fur die orthabunge rehter kunst (V. 9) verantwortlich gemacht werden. Scelde waltet aber nicht nur in einer quasi-göttlichen oberen Etage, sondern wird konzeptionell einerseits mit dem sin des Dichters verbunden (der Begabung, die letztendlich von Gott kommt) und anderseits mit der gunst, der Anerkennung und finanziellen Belohnung seitens der Gönner und des Publikums. Soelde vereinigt so in einem Begriff gleich mehrere entscheidende Funktionen, die den Äunsi-Erfolg ausmachen. Abstrakt finden sich entsprechende Bemerkungen auch in Rudolfs (chronologisch späteren) Willehalm-Prologen (besonders Prolog I): Das ich arbate mine kunst 125 Durch aller werder lüten gunst, Ob ich die wol bejagen mag. Ufder salden bejag Wil ich, so ich beste kan, Die aventure griffen an ... 130 (V. 125-30; „Dass ich meine Kunst bemühe um der Gunst aller edlen Leute willen, falls ich die recht erjagen kann. In der Jagd nach Glück will ich, so gut ich kann, diese äventiure anpacken".) 61

Das Wort scelde fällt hier eher nebenbei, im Alexander dagegen kann man seine Karriere zum Leitwort und die Geburt einer Instanz schriftstellerischer Fortune miterleben, die, angebunden über sin und gunst, in das textterminologische Netz semantisch von außen eindringt und dieses gedanklich erweitert.62 2. Ethisch-ästhetische Umbesetzungen: Dass ein ethischer Diskurs den ästhetischen begleitet, spiegelt und gehaltlich erweitert, ist aus Gottfrieds TristanProlog bekannt 63 In unserem Kontext ist festzuhalten, dass ein ethisches Vokabular mit den Termini des Textfelds aufs engste verwoben wird, so dass die betreffenden Passagen wie Vorder- und Rückseite einer Textur sowohl ethisch als auch ästhetisch gelesen werden können. Als Beleg muss ein Verweis auf den sentenziösen Eingang von Rudolfs Willehalm-Prolog I genügen, den man zuerst rein ethisch lesen möchte, aber mit dem Wissen um die literarästhe-

60

61 62

HERBERT KOLB: Orthabunge rehter kunst. Zu den scelde-Prologen in Rudolfs von Ems Alexander. In: Festschrift Helmut de Boor zum 75. Geburtstag am 24. März 1966. Hrsg. von den Direktoren des Germanischen Seminars der Freien Universität Berlin, Tübingen 1966, S. 92-110, bes. S. 99-105. Vgl. (oben S. 280) die Trias Ere, said, werdekait in V. 9879. Zur Funktion der scelde im Alexander-Prolog FINSTER (Anm. 7), S. 129f. Zur Modifizierung des Vorbilds Gottfried von Straßburg: „Während aber bei Gottfried alles auf eine Identifikation von ,guot' und ,kunst' hindrängt, geht es bei Rudolf um die Aufeinanderbezogenheit von .saelde' und ,kunst'" (ebd. S. 133). Bei Gottfried heißt diese Relation lop - ere - kunst.

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V g l . HAUG ( A n m . 6 ) , S. 1 9 7 - 2 2 7 .

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Christoph Huber

tische Reflexion des Korpus mit keinem geringeren Recht text- und wirkungsästhetisch begreifen kann. Öch müs ain man, swas er getät [auch der Dichter!], 5 Lob und lobeliches gut Florieren unde statin In gerndes herzen ratin, Ob er an ime der weite pris Hohin wil unde werden wis. 10 (V. 5-10; „Auch muss ein Mensch in allem, was er tut, Lob und lobenswertes Gut schmücken und befestigen in den Überlegungen eines Herzens, das dies wünscht, wenn er an sich den Preis der Welt erhöhen und dabei weise werden will.")

Im Akrostichon überbrückt dieser Satz den Schluss des Namens Rvodolf und den Anfang des Namens Iohannes, und zweifellos hat die Passage, in der es um ere, beschaidenheit und raine tugend im Fluchtpunkt geht, mit dem Dichter, seinem Text und dessen Aufnahme zu tun. Als eindeutig rhetorischer Terminus sticht florieren (V. 7) heraus, was im ethischen Verständnis nur metaphorisch gelten kann; im sprachästhetischen ist es wörtlich zu nehmen. 3. Wortnetze - Bildnetze: Metaphorische Elemente, die vor allem aus den dynamischen Bildfeldern von pflanzenhaftem Wachstum, der Verfertigung von Textilien und der Formbarkeit und Strahlkraft von Gold und Edelsteinen stammen, sind im Prologgewebe des Willehalm spärlich. Sie und weitere Bildfelder sind aber seit den Entwürfen Wolframs und Gottfrieds (auch den Reflexionen Hartmanns bei der Beschreibimg von Enites Pferd) als konstitutive Denk- und Ausdrucksform im literarästhetischen Diskurs nicht auszublenden. Ja sie sind als konkrete Vorstellungen an die tendenziell abstrakten Textbezeichnungen angelagert und können dort überhand nehmen, sei es in Wortkompositionen wie der wortheide64 oder adjektivischen Verbindungen wie dem wilden mcere65. Oder als allegorische Szenerie: Frou Wildekeit fiir einen wait/mich fuorte bi ir zoume.66 Vor allem Konrad von Würzburg liebt es, seine Textästhetik in Bildern, Gleichnissen, Allegorien zu entfalten, in denen die abstrakten Stichwörter eine neue Valenz gewinnen.67 Was können wir schließlich aus den Befunden synchroner textterminologischer Leitwortnetze in der Perspektive der historischen Semantik resümieren? Nahe liegt der Nachweis begrifflicher Unfestigkeit, der lexikalischen Aufgliederung eines jeweils differenzierten Sinnspektrums mit seinen gegenläufigen Tendenzen zur Abstraktheit oder zur sinnlichen, metaphorisch produktiven Vorstellung; höchstens in Ansätzen konnten wir eine Verfestigung von mcere. 64 65

Gottfried von Straßburg, Tristan (Anm. 9), V. 4639. Ζ. B. Gottfried, ebd. V. 4665f.; vgl. oben Anm. 22; vgl. Rudolfs Willehalm, V. 9766: fremder mare, V. 9769: FrSmder aventure und Ähnliches. 66 Konrad von Würzburg: Kleinere Dichtungen. Hrsg. von EDWARD SCHRÖDER, Bd. 3: Die Klage der Kunst, Leiche, Lieder und Sprüche, Berlin 4 1970, V. 1 f. 67 Dazu in diesem Band der Beitrag von BEATE KELLNER, S. 231 -262.

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rede, äventiure in Richtung Gattungsbezeichnung wahrnehmen. Ich füge dem eine spezifisch literaturwissenschaftliche Sicht hinzu: Die in variablen Wortnetzen versammelten Leitwörter entfalten gerade hier ihr dynamisches Potential, ihr bemerkenswertes Eigenleben. Ästhetische Reflexion in einem ästhetisierten Medium kann ja nur schlecht und höchst verlustreich auf einen abstrakten theoretischen Aussagewert zurückgeführt werden. Das geschieht ζ. B. in EHRISMANNS (Anm. 41) systematischen Resümees zu den Prologen Rudolfs. Eine solche Systematik ist kahl und reduziert sich letztlich auf triviale Schlagwörter, die ein ungeschicktes Gliederungsgerüst formen. Völlig ändert sich das Bild, wenn man den Texttyp Prolog nach Anregungen von H U G O K U H N als etwas Gestalthaftes begreift. P E T E R K O B B E : „Der Prolog ist die Gestalt des Autorbewusstseins. " 68 Hilfreich erscheint hier das Inszenierungsmodell: Der Prolog inszeniert mit einer Fülle von technischen und thematischen Versatzstücken ein topisches Szenarium, von dessen Reichhaltigkeit man sich in KOBBEs Listen eine Vorstellung machen kann, und bringt dieses argumentativ in Aktion. Das geschieht auf dynamische, geradezu dramatische Weise. Neben den Instanzen der Textproduktion und -rezeption fungieren Textleitbegriffe als Akteure, die aufeinander reagieren, äventiure auf mcere, auf scelde kunst und immer auch umgekehrt. Sie übernehmen die eine oder andere Rolle, sie zeigen und holen in der Situation aus sich heraus, was in ihnen steckt, da wundert man sich nicht, wenn sie zu debattieren beginnen. Die Inszenierung stellt keine definitive Wahrheit vor, sondern läuft auf die Aufführung zu, die das Entstehen des Gedichts aus seinen Voraussetzungen, das Weiterdichten und Abschließen in actu vorführt. Der Prolog dient immer seinem Anlass, an welcher Stelle des Gedichts er auch steht. In den Leitwort-Ensembles setzen die Texttermini zusammen mit den anderen Mitspielern die Energie frei, um die es auch KOSELLEK. als Historiker mit seinen realitätsbezogenen ,Indikatoren' und .Faktoren' ging.69 Mit unseren Gegenständen haben wir „nur?" die ästhetische Spielrealität der Literatur. Konrad von Würzburg: wol tihten mit bescheidenheit / daz ist ein nütze fröuden spil.70

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KOBBE (Anm. 33), S. 420. Vgl. Anm. 37. Partonopier (Anm. 56), V. 68f.: „Gut dichten mit Verständigkeit, das ist ein nützes Freudenspiel."

JAN-DIRK MÜLLER

schin und Verwandtes Zum Problem der .Ästhetisierung' in Konrads von Würzburg Trojanerkrieg (Mit einem Nachwort zu Terminologie-Problemen der Mediävistik)

The author aims at a definition of Konrad von Wiirzburg's 'flowered style' (geblümter Stil) as distinguished from Heinrich von Mügeln's and Frauenlob's style. Apart from Konrad's Goldene Schmiede, this study also deals with his Trojanerkrieg whose 'poetic of radiance' is shown. Here, the word blüemen is fundamentally different from its function in religious poetry. By means of 'flowering' (bliiemenden) poetic practices, the splendour and perfection of the courtly world on the one hand and its pretentiousness and its condemnation to death are described. - A concluding paragraph explains the difficulties of the poetological terminology appropriate to medieval literature. The author attempts to connect a historically specific description, the contemporary use of language and the modern scientific terminology.

Konrad von Würzburg gilt als ,Blümer', als einer der ersten spätmittelalterlichen Dichter, die ihre Meisterschaft im gesuchten ornatus poetischer Rede beweisen. In den letzten Jahrzehnten ist die .geblümte Dichtung' aus dem Schatten herausgetreten, in den sie von einer angeblich .natürlicheren', .authentischeren', .originaleren' verbannt worden war; ihr Kunstanspruch wurde nicht mehr als .Künstelei' abgewertet; ihre Grundlagen in der klassischen und mittelalterlichen Rhetorik wurden untersucht; die Vielfältigkeit und Differenziertheit ihrer Verfahren beschrieben.1 Andererseits ist die Bestimmung dessen, was 1

Vgl. den umfassenden Forschungsbericht in GERT HÜBNER: Lobblumen. Studien zur Genese und Funktion der ,Geblümten Rede', Tübingen, Basel 2000 (Bibliotheca Germanica 41), S. 7-32. Unter den neueren werkbezogenen Untersuchungen haben sich besonders RALF HENNING STEINMETZ (Liebe als universales Prinzip bei Frauenlob. Ein volkssprachlicher Weltentwurf in der europäischen Dichtung um 1300, Tübingen 1994 [MTU 106]), MICHAEL STOLZ (7Wn-Studien. Zur dichterischen Gestaltung im Marienpreis Heinrichs von Mügeln, Tübingen, Basel 1996 [Bibliotheca Germanica 36]) und SUSANNE KÖBELE (Frauenlobs Lieder. Parameter einer literarhistorischen Standortbestimmung, Tübingen, Basel 2003 [Bibliotheca Germanica 43]) mit den traditions-, gattungs- und funktionsgeschichtlichen Spielarten des geblümten Stils befasst. Nach wie vor grundlegend zudem KARL STACKMANN: Der Spruchdichter Heinrich von Mügeln. Vorstudien zur Erkenntnis seiner Individualität, Heidelberg 1958 (Probleme der Dich-

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blüemen und ein .geblümter Stil' ist, immer unsicherer geworden, bis hin zu K U R T N Y H O L M S grundsätzlicher Kritik an dem Terminus. N Y H O L M hat konstatiert, dass die Vielfalt ,blümender' Autoren und als ,blümend' angesehener Verfahren sich nicht auf einen Nenner bringen lässt. Seine Skepsis gegenüber dem Begriff und seiner ausufernden Verwendung hat in der anschließenden Diskussion zu einer Reihe von Präzisierungen gefuhrt.2 So wurde vor allem die Bedeutung der lateinischen Rhetorik3 für die Ausbildung des geblümten Stils zugunsten volkssprachiger Traditionen relativiert. Es hat sich eine engere Bestimmung durchgesetzt, die im Wesentlichen das gehäufte Auftreten bestimmter Tropen im ornatus difßcilis meint. Doch oszilliert der Terminus nach wie vor wie viele andere poetologisch interpretierbare der mittelalterlichen Volkssprache zwischen umgangssprachlicher Vagheit und fachsprachlicher Explizitheit: blüemen kann rhetorisch-technisch als Verfahren der elocutio gemeint sein; es kann aber auch nur ganz allgemein kunstgerechtes Ausgestalten der Rede meinen. Als Minimalkonsens lässt sich vielleicht festhalten: blüemen ist vermutlich dem Ursprung nach volkssprachige Entsprechung lateinisch-rhetorischer Terminologie (flores/colores rhetorici, ornatus), wird aber, konzentriert auf bestimmte Wort- und Sinnfiguren, Sammelbegriff für vielerlei Formen von intuitiv als auffällig wahrgenommener - Abweichung von Alltagsrede und einem als proprie definierten Sprachgebrauch. Der Bezug auf die gelehrte Rhetorik ist keine unbedingt notwendige Bedingung, da die Rhetorik Wort- und Sinnfiguren nicht erfindet, sondern diese immer schon - wenn auch meist in rudimentärer Form - in Alltagsrede vorkommen und von der Rhetorik nur herausgehoben, terminologisch bestimmt und voneinander abgesetzt werden. Mit blüemen könnte deshalb auch allgemeiner und unabhängig von rhetorischer Tropenlehre eine absichtsvoll gewählte Redeweise, die Ausgestaltung von Rede mit Wort- und Sinnfiguren gemeint sein. Es muss daher eine weitere Bedingung hinzukommen: .Geblümte Rede' zeichnet sich durch die bewusste und bewusst ausgestellte Verwendung ihrer Mittel aus. Indem ,geblümte Rede' nicht nur

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tung 3) und JOHANNES KlBELKA: der ware meister. Denkstile und Bauformen in der Dichtung Heinrichs von Mügeln, Berlin 1963 (Philologische Studien und Quellen 13). KURT NYHOLM: Studien zum sogenannten geblümten Stil, Abo 1971 (Acta Academiae Aboensis, Ser. A, Bd. 39/4); dagegen KARL STACKMANN: Redebluomen. Zu einigen Fürstenpreis-Strophen Frauenlobs und zum Problem des geblümten Stils. Wiederabgedruckt in: Mittelalterliche Texte als Aufgabe. Kleine Schriften I. Hrsg. von JENS HAUSTEIN, Göttingen 1997 [zuerst 1975], S. 298-317; Ders.: Rhetoricae artis practica fontalisque medulla. Zu Theorie und Praxis des Blümens bei Heinrich von Mügeln, ebd. S. 318-324 [zuerst 1955]. - Vor allem im ersten Aufsatz arbeitet STACKMANN die Konsequenz der Untersuchungen NYHOLMS (die dieser vermieden hat) heraus: Verzicht auf den Terminus .geblümter Stil' (S. 300f.). Er stellt dem als epochale Tendenz gemeinsame stil- und wirkungsgeschichtliche Tendenzen, oberhalb der Differenzierung der Schulen, entgegen (S. 316). Der zweite Beitrag analysiert dann - unter dieser Prämisse die besondere Gestalt und Funktion des blüemens bei Heinrich von Mügeln. KlBELKA (Anm. 1), S. 229, 248-252, 256-260.

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eine bestimmte ,Manier' anwendet, sondern zeigt, dass sie sie anwendet, wurde sie in den größeren Zusammenhang des .Manierismus' gestellt 4 Damit setzt .geblümte Rede' eine spezifische Auffassung von der Kunst und vom Künstler voraus. Die Metaphorik des Blühens, Grünens, Glänzens usw. dient der Unterscheidung einer kunstgerecht-anspruchsvollen, über ihre rhetorischen Mittel verfügenden Rede von gewöhnlicher; sie umschreibt die Könnerschaft des Dichters, der sich dieser Mittel sicher ist und an ihrem souveränen Gebrauch seinen Wert gegenüber Konkurrenten bemisst. Mit dieser Minimalbestimmung bleiben viele Probleme offen. Vordringlich wäre zum einen eine Bestimmung des .geblümten Stils' im Rahmen einer umfassenderen .Abweichungspoetik'.5 Ist es nur der Grad der Abweichung, die Häufung der Kunstmittel und die Direktheit der Ausstellung des Kunstcharakters, die .geblümte Rede' gegen poetisch abweichende Rede überhaupt abgrenzt? Notwendig wäre weiterhin eine historisch adäquate Bestimmung von .Manierismus'. Wenn damit evidenterweise nicht der Stil der Epoche des Übergangs von Renaissance zum Barock gemeint sein kann, handelt es sich dann um eine transhistorische Alternative zum .Klassizismus', und wie wäre dieser zu bestimmen? Welche historisch spezifischen Merkmale kann man für das spätmittelalterliche blüemen als Erscheinungsform von .Manierismus' angeben?6 Zu klären wäre drittens das Verhältnis von rhetorisch-elokutioneller und hermeneutischer Analyse .geblümter Rede', und zwar jeweils autorspezifisch.7 Inwieweit lassen sich die poetischen Verfahren von Aussageabsichten und Selbst4 5 6

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Der Manierismus-Begriff wurde in der Forschung allerdings nur mit großer Zurückhaltung verwendet; vgl. HÜBNER (Anm. 1), S. 20, 23-25. HARALD FRJCKE: Norm und Abweichung. Eine Philosophie der Literatur, München 1981. Wenn der Manierismus-Begriff die Verwandtschaft mit der so genannten literaturgeschichtlichen Epoche in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts ausschließt, wird er meist als eine Uberzeitliche Stilkategorie gefasst (in Opposition zum .Klassizismus', vgl. etwa ERNST ROBERT CURTIUS: Europäische Literatur und Lateinisches Mittelalter, Bern 1948, S. 277-305; vgl. zur Begriffs- und Sachgeschichte WOLFGANG BRAUNGART: Art. .Manier, Manierismusi. 2 '· In: RLW, Bd. 2 [2000], S. 530-535). Dabei zeigen Arbeiten wie die von RÜDIGER ZYMNER (Manierismus. Zur poetischen Artistik bei Johann Fischart, Jean Paul und Arno Schmidt, Paderborn u. a. 1995), dass eine epochenübergreifende Perspektive überraschende Gemeinsamkeiten zutage fördern kann. Trotzdem dispensiert dies nicht von historisch spezifischen Bestimmungen. Wenn man sich auf die ursprüngliche Wortbedeutung des Begriffs und ihre Wurzel zurückbezieht, dann trifft er durchaus Eigenarten des .geblümten Stils': Kunstfertigkeit wird ausgestellt, und indem er sie ausstellt, erweist sich der Dichter als .Meister'. Dies aber ist mit literatursoziologischen Entwicklungen verbunden: der Professionalisierung literarischer Autorschaft. Sie ist typisch für das 13. Jahrhundert. Das schließt nicht aus, dass einzelne Züge des .Blümens' bei Gottfried von Straßburg und Wolfram von Eschenbach vorgeprägt sind; entscheidend ist, dass sie dominant werden, wenn im 13. Jahrhundert .Könnerschaft' zum Berufsethos des Literaten wird. Vgl. STACKMANNs (Anm. 1 u. 2) genannte Arbeiten über die hermeneutische Funktion des blüemens-, ähnlich KJBELKA (Anm. 1).

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Verständnis der Autoren abtrennen? Ist blüemen bei Frauenlob dasselbe wie bei Heinrich von Mügeln, bei diesem wie bei Konrad von Würzburg? Schließlich wäre die Affinität zwischen blüemen und bestimmten poetischen Gattungen und Funktionen zu untersuchen. Gerade bei dieser letzten Frage ist vor Kurzschlüssen zu warnen: Dass .geblümte Rede' häufig in Lob (oder auch Tadel) auftritt, schränkt sie keineswegs auf dieses Redegenus ein.8 Das zeigt sich am narrativen Werk Konrads von Würzburg. Wenn Konrad zurecht als ,Blümer' gilt, dann stellt doch gerade er traditionelle Auffassungen vom ,Blümen' in Frage. ,Blümen' setzt nämlich bei den meisten Autoren - den Dichtern wie auch ihren neuzeitlichen Interpreten eine Unterscheidung von Inhalt und Form, von Gegenstand und poetischer Einkleidung voraus. Darauf weist schon die Metapher selbst wie deren Beschreibung als .Verfremdung', ,Variation', .Ornament' und dgl.: Die Redeblumen putzen die Rede heraus, verleihen ihrem Gegenstand Glanz und Wirkung, akzentuieren verborgene oder schwer zugängliche Aspekte. Oft stehen sie nur in einem locker metonymischen oder gesucht metaphorischem Verhältnis zu ihm, bleiben dem Gegenstand aber, so gesucht und schwer verständlich die elokutionelle Ausgestaltung auch sein mag, letztlich untergeordnet. Die latent allegorische Struktur geblümter Rede geht von einer Trennung von Inhalts- und Ausdrucksebene aus und bemüht sich um ihre riskante und hohen Kunstverstand zeigende Verknüpfung.9 Konrads von Würzburg Goldene Schmiede10 gilt als ein Paradebeispiel dieser Auffassung. Ihr Gegenstand ist das Lob der Gottesmutter, das den Dichter 8

HÜBNER (Anm. 1) hat seine Überlegungen auf blüemen in Jaudativer' Rede konzentriert. Er kann dafür geltend machen, dass der Terminus im Mittelalter hauptsächlich verwendet wird, wo die Aufgaben von Lob- und Scheltrede diskutiert werden (vgl. auch KlBELKA [Anm. 1], S. 234). Das liegt vom Inhalt her nahe; trotzdem ist diese Funktionsbestimmung zu eng. Das zeigt sich an HÜBNERs Schwierigkeiten, .blümendes' Erzählen im Partonopier Konrads von Würzburg mit der Funktion des Lobens zu verknüpfen (S. 117-129): Konrads Erzählen (wie Erzählen überhaupt) lässt sich nicht auf die Alternative loben/schelten reduzieren; ,Loben' ist ein besonderer Redegestus und nicht mit Erzählen von positiv konnotierten Gegenständen zu verwechseln. Nur unter Ausblendung der primär narrativen Funktionen lassen sich im Partonopier (S. 117-129) HÜBNERs ,Lob'- und .Scheltblumen' identifizieren. Aus HÜBNERs Prämisse folgt, den Terminus blüemen nur auf .Preis-' oder .Lobmetaphorik' anzuwenden und Konrads stilistisch völlig analog gebaute Affektdarstellungen (.Affektmetaphorik') auszuschließen (S. 122) - wobei die Begriffe .Preismetaphorik' und .Affektmetaphorik' sich ohnehin systematisch auf unterschiedliche Ebenen der Rede beziehen und keinen unmittelbaren Vergleich zulassen. Ähnlich wird Konrads Trojanerkrieg als eine Folge von Preisreden (oder deren Gegenteil) aufgefasst (S. 129-139). Stil- und Funktionsanalyse dürfen aber nicht vermischt werden.

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Hieraus erklärt sich übrigens, dass vornehmlich Lobreden Ausgangspunkt der Analyse sind: Hier findet der Dichter einen rühmenswerten Gegenstand vor, den er nach Gebühr herauszustreichen hat. Konrad von Würzburg: Die Goldene Schmiede. Hrsg. von EDWARD SCHRÖDER, Göttingen 2 1969.

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zu höchster Anstrengung herausfordert. Konrad selbst spricht v o m Abstand zwischen d e m Redeschmuck und d e m unvergleichlichen Gegenstand, den es auszuzieren gilt, spricht davon, wie schwierig es für den Dichter sei, der ... diner [Marias] wirde schäpelin sol blüemen unde flehten, daz er mit roeselehten Sprüchen ez floriere, und allenthalben ziere mit Violinen Worten ...11

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Seine Bescheidenheitstopik wird, wie man gesehen hat, durch ihre eigene ,blümende' Virtuosität dementiert. D o c h folgt daraus nicht, dass sie ,vorgespiegelt' sei, die Ansicht, Konrads Rede v o n der jede Rhetorik übersteigenden Größe seines Gegenstandes sei nur vorgeschoben, u m vor diesem Hintergrund den Rang seiner Kunst zu demonstrieren, ungeachtet des Zugeständnisses, dass ein Gottfried v o n Straßburg Marias Lob noch besser ,blümen' könne. 1 2 Letztlich 11 12

V. 62-67; vgl. insgesamt V. 60-93; Konrad verwendet die Metaphern des blüemens im Dienste des Unsagbarkeitstopos'. HÜBNER (Anm. 1), S. 182: Es gehe „um die irdischen Qualitätsunterschiede. Auf dieser Skala aber braucht man Konrad das in der Bescheidenheitstopik vorgespiegelte geringe Selbstbewußtsein nicht einfach abzunehmen, und in der Formulierungspraxis dokumentiert der ganze Prolog schon den hohen Anspruch seines Autors. Die wichtigste Aussage des Prologs ist nicht, daß niemand Maria adäquat loben kann, sondern daß Gottfried von Straßburg es besser gekonnt hätte als andere." Dieser in der Forschung verbreitete Meinung (pointiert etwa KARL BERTAU: Beobachtungen und Bemerkungen zum Ich in der Goldenen Schmiede. In: Philologie als Kulturwissenschaft. Festschrift fur Karl Stackmann zum 6 5 . Geburtstag. Hrsg. von LUDGER GRENZMANN/HUBERT HERKOMMER/DIETER WUTTKE, Göttingen 1987, S. 1 7 9 - 1 9 2 ) hat MIREILLE SCHNYDER mit überzeugenden Argumenten widersprochen (Eine Poetik des Marienlobs. Der Prolog zur Goldenen Schmiede Konrads von Würzburg. In: Euphorion 90 [1996], S. 41-61). Während SCHNYDER die Verbindung der rhetorischen Strategien und des konzeptionellen Entwurfs zur „Tradition der negativen Theologie" (S. 48) einsichtig macht, konzentriert sich H Ü B N E R S Analyse allein auf die elokutionelle Seite des Marienlobs und zeigt auf dieser Ebene, wie Konrad über Vorgänger hinausgeht (S. 1 8 6 - 1 8 9 ) . Dies dient zur Stütze seiner These (S. 181): „Das Beurteilungskriterium für Mariendichtung verschiebt sich also von der grundsätzlich unerreichbaren Qualität des Gegenstands zur im Einzelfall unerreichten Qualität schon vorhandener Texte, von der unüberbrückbaren hermeneutischen Kluft zwischen dem Text und seinem Gegenstand zum artistischen Niveauunterschied zwischen den Texten. [...] Dementsprechend schiebt der thematische Aufbau das Problem der unangemessenen menschlichen Bemühungen um das Marienlob zur Seite." Implizit ist hier das für das blüemen konstitutive literatursoziologische Moment der Konkurrenz als ausschlaggebend angesehen (ähnliche Bescheidenheitsgesten auch bei Heinrich von Mügeln; vgl. KLBELKA [Anm. 1], S. 2 2 4 ) ; es schließt aber das Eingeständnis sprachlicher Inkommensurabilität gerade nicht aus, sondern bestimmt nur den Umgang mit ihr. Konrad zeigt, „daß selbst ein Dichter, der diesem [dem von Gottfried repräsentierten] Stilideal nachkommt und sein Handwerkszeug beherrscht, im Marienpreis versagen muß. Der Kostbarkeit Marias kommt der kostbarste Stil nicht gleich. [...] Es geht also nicht um Konrads Unfähigkeit als Dichter, sondern um die

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wird damit die Kommensurabilität von (blümender) Rede und (heiligem) Gegenstand vorausgesetzt. Dieser Eindruck scheint mir unzutreffend, denn es besteht kein Zweifel, dass Maria als Gegenstand menschlicher Rede niemals erreichbar ist, nicht nur dem Dichter Konrad nicht, sondern auch seinen Konkurrenten, gegenüber denen er sich als hoffnungslos unterlegen (V. 100-03) ausgibt. Gerade die mit äußerster Virtuosität inszenierte Unterlegenheitsgeste erweist Konrad als Künstler, der erkannt hat, worum es geht, dass Marias Lob jede Rede überfordern muss (V. 16-19):13 ob iemer uf ze berge flüge min rede alsam ein adelar, din lob enkünde ich niemer gar mit Sprüchen überhoehen.

und (V. 34-37): der marmel und das helfenbein wirt mit halmen e durbort, e daz man diner wirde ein ort mit tiefer rede vinde.

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Die Metaphorik der Höhe und die Metaphorik der Tiefe zusammen mit einem Adynaton deuten mit der Größe der erforderlichen Anstrengung die Tatsache an, dass sie - und das entspricht der theologischen Einsicht - nicht bewältigt werden kann, wenn auch größere und weniger große Annäherungen möglich sind. Konrad bietet den ganzen Prunk gesuchter Metaphern nicht nur auf, um sich als künsteloser man (V. 137) zu entschuldigen, dessen guten Willen Maria fur die Tat nehmen müsse, sondern, um den Anspruch seines Gegenstandes in der Vergeblichkeit höchster Anstrengung zu spiegeln. Das viel bewunderte Feuerwerk des Marienlobs, das goldene Geschmeide, das eine Summe mariologischer Topoi bietet,14 wiederholt in unablässiger Reihung immer neuer Prädikationen immer dieselbe Aussage: Als von Gott erwählte Braut und jungfräuliche Mutter überstieg Maria von jeher alles menschliche Vorstellungs- und Sprachvermögen: davon der süeze name din / wirt uf ein ende niht gelobet (V. 728f.). Konrad erzeugt mit dem ornatus seines Marienlobs also einen rhetorischen Effekt, der die Leistungsfähigkeit schmückender Rhetorik in Frage stellt und eben dadurch seinem Gegenstand angemessen ist. Das Verhältnis von

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Unzulänglichkeit der Kunst als solcher"; Gottfried hätte es lediglich „ b e s s e r gemacht" (SCHNYDER, S. 53f. mit Anm. 52; Sperrung dort). Daher auch die Häufigkeit der Negationen; vgl. SCHNYDER (Anm. 12), S. 48; vgl. auch DAGMAR DAHNKE-HOLTMANN: Die dunkle Seite des Spiegels. Das Verneinen in der Goldenen Schmiede Konrads von Würzburg. In: JOWG 5 (1988/89), S. 157-168. Vgl. REGINA RENATE GRENZMANN: Studien zur bildhaften Sprache in der Goldenen Schmiede Konrads von Würzburg, Göttingen 1978 (Palaestra 268), bes. S. 117-148, sowie die Zusammenfassung älterer Forschung bei HÜBNER (Anm. 1),S. 182-186.

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,Ausdrucks-' und ,Inhaltsseite'15 ist grundsätzlich asymmetrisch. Die gehäuften Prädikate erfassen nicht ihren Gegenstand, weder jedes für sich noch alle miteinander, sondern sie suchen sich in ebenso unermüdlichen wie vergeblichen Anläufen ihm zu nähern. Sie sind metaphorische Verweise auf etwas, das auch die gesuchteste Metapher nicht erreicht.16 Blüemen ist unvollständig charakterisiert, solange man die semantische Struktur der Rede nicht in Betracht zieht. Es ist nie als ein bloß elokutionelles Phänomen zu erfassen, d. h. als .Einkleidung' eines zuvor Gefundenen und als Gefundenes Verfügbaren; blüemen ist ein stilistischer Gestus der Rede vom Heiligen - und seiner sprachlichen Unerreichbarkeit. Die Reihung ausgesuchter Marienprädikate soll einen semantischen Überschuss erzeugen, der in der Überbietung gewöhnlicher Rede auf die Überbietung der Überbietung zielt. Nähert man sich unter dieser Voraussetzung Konrads epischen Werken, dann gerät eine Auffassung des blüemens als Ausschmückung epideiktischer Rede erst recht ins Wanken. Wenn sich in einem narrativen Text die Sprechakte des Lobens oder Tadeins ohnehin nur punktuell oder in untergeordneter Funktion finden, lässt Konrad selbst in kunstvoll-gesuchten Schilderungen, ob nun einer Schlacht oder der Schönheit einer Frau, die Alternativen epideiktischer Rhetorik und ihre Eindeutigkeiten des Lobens oder Tadeins weit hinter sich. Hier nun wird eine weitere terminologische Abgrenzung erforderlich. Wo vom Trojanerkrieg die Rede ist, stellt sich bei der Beschreibung von Konrads ,blümenden' Verfahren rasch die Vokabel .Ästhetisierung' ein. Gemeint ist damit, dass Konrad die höfische Ritterwelt in ein kunstvolles Gemälde aus Farben und eine Sinfonie von Klängen verwandelt, in denen die Inhalte zu bloßen ästhetischen Valeurs werden.17 Der Begriff Ästhetisierung ist freilich 15

So HÜBNERS (Anm. 1) Terminologie, ζ. B. S. 121, 184 u. ö. Immerhin findet sich bei Konrad noch das Vokabular der Allegorese (bezeichenen, bediuten etc., vgl. GRENZMANN [Anm. 14], S. 37-56), das die beiden Aspekte auseinander zu halten erlaubt. Deutlicher ist die Tendenz der Verschmelzung bei Frauenlob ausgeprägt (HARTMUT FREYTAG: Beobachtungen zu Konrads von Würzburg Goldener Schmiede und Frauenlobs Marienieich. In: JOWG 5 [1988/89], S. 181-193; hier S. 183f.). - Das Verhältnis von Signifikant und Signifikat bzw. von sensus interior und sensus exterior bedürfte näherer Ausarbeitung (vgl. die Zusammenstellung bei KIBELKA [Anm. 1], S. 229-231); es wird in der rhetorischen Praxis der ,Blümer' unterschiedlich bestimmt. 16 GRENZMANN (Anm. 14), S. U l f . ; sie lehnt aus diesem Grunde eine Charakterisierung von Konrads Bildlichkeit als bloß .ornamental' ab (S. 150f.). Konrads Sprachgestus dementiert von Anfang an die Möglichkeit der Verwirklichung theologisch zureichender Aussagen. Dass die Prädikate allesamt theologisch begründbar und heilsgeschichtlich abgesichert sind, besagt insofern nichts über ihre Kommensurabilität für den Gegenstand. 17 ELISABETH LIENERT: Ein mittelalterlicher Mythos. Deutsche Troiadichtungen des 12. bis 14. Jahrhunderts. In: Troia. Traum und Wirklichkeit. Begleitband zur Ausstellung. Hrsg. vom Archäologischen Landesmuseum Baden-Württemberg u.a., Stuttgart 2001, S. 204-211, hier S. 209, spricht von „Ästhetisierung des Leides und des Grauens perfekt durchorganisierte Schlachtenchoreografien und preziöse Farbkompositionen von rotem Blut, grünem Schlachtfeld, schimmernden Waffen, glänzenden Juwelen und viel-

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literaturgeschichtlich belastet und müsste gegen seine Prägung durch die literarische Moderne abgegrenzt werden. Impliziert wird durch seine Konnotationen, dass Konrad seine Welt weniger in ethischer oder epistemischer als in einer davon abgrenzbaren ästhetischen Perspektive darstellt, dass also Bewertungsalternativen wie gut/schlecht, recht/unrecht, wahr/falsch zugunsten der Opposition schön/hässlich suspendiert werden. Was erzählt wird, leistet einem solchen Eindruck zunächst durchaus Vorschub: Die Figuren lügen und betrügen, vert Q

raten und morden, doch ist die Rede nur von ihrer glänzenden Schauseite. Am greifbarsten ist die Suspension in der Darstellung des Schreckens: der ausblutende Peleus, das in Flammen aufgehende Paar Jason-Greusa, der im Nessoshemd zerbrutzelnde Hercules, die Sülze aus im Kampf krepierten Pferden - die Beispiele für einmal witzig, einmal zynisch scheinende, jedenfalls aber ungerührte Bilder des Schreckens lassen sich vermehren. Stärker noch ist die Wirkung jener Bilder, in denen der Schrecken im Rausch der Farben und im Glanz der Preziosen zu verschwinden scheint wie in den großen Schlachtgemälden: Töten und Sterben als prunkvoll inszeniertes Schauspiel, der ritterliche Kampf ,ästhetisiert'. Unübersehbar sind damit einige Spezifica des Ästhetizismus um 1900 aufgerufen: 19 die impassibilite, der Luxus kostbarer Stoffe und strahlender Farben und vor allem das Absehen von ethischen und epistemischen Kategorien zugunsten ästhetischer. Doch wird gleich klar, dass mit ,Ästhetisierung' nicht ä s t h e tizismus' gemeint ist, sondern allenfalls eine Tendenz im Vergleich zu anderen höfischen Romanen. Die Verwandtschaft einiger Motive darf nicht täuschen. Der ästhetizistische Blick auf den Schrecken ist ein anderer: Hernieder steig ich eine marmortreppe, Ein leichnam ohne haupt inmitten ruht, Dort sickert meines teuren bruders blut, Ich raffe leise nur die purpurschleppe.20

Verse wie die in Stefan Georges Algabal sind beim Erzähler des Trojanerkriegs undenkbar. Wie lässt sich dann aber der Begriff ,Ästhetisierung' historischpoetologisch genauer fassen? Lässt er sich terminologisch mit einer spezifischen Poetik verbinden?

18

19 20

farbiger Seide"; vgl. auch Dies.: Geschichte und Erzählen. Studien zu Konrads von Würzburg Trojanerkrieg, Wiesbaden 1996 (Wissensliteratur im Mittelalter 22), S. 284. FRANZ JOSEF WORSTBROCK: Der Tod des Hercules. Eine Problemskizze zur Poetik des Zerfalls in Konrads von Würzburg Trojanerkrieg. In: Erzählungen in Erzählungen. Phänomene der Narration in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von HARALD HAFERLAND/MICHAEL MECKLENBURG, München 1996 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 19), S. 273-284. Vgl. RENATE WERNER: Art. .Ästhetizismus'. In: RLW, Bd. 1 (1997), S. 20-23. Stefan George: Hymnen. Pilgerfahrten. Algabal, Berlin 2 1934, Nachdruck Düsseldorf, München 1966, S. 103.

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Um einer solchen Poetik näher zu kommen, möchte ich am Prolog des Trojanerkriegs ansetzen.21 Er skizziert eine Auffassung vom Dichten, die der ästhetischen Betrachtensweise der Moderne schon recht verwandt scheint, jedenfalls den üblichen Ausführungen der mittelalterlichen Poetiken und der dazugehörigen Metaphorik zuwiderläuft und von einer rhetorischen Auffassung des blüemens als terminus technicus der elocutio weit entfernt ist. Konrad führt dort bekanntlich aus, dass die Kunst des tihters, anders als alle Künste sonst, nicht gelehrt werden kann (vgl. V. 68-97), sondern eine göttliche Gabe ist, eine gunst (V. 98-101): wan daz im unser trehtin sinn unde mundes günne, dä mite er schone künne gedenken unde reden wol.

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Dabei ist eine Besonderheit des Dichters, dass er kein ,Gerät' braucht, geziuges nicht bedarf, helfericher stiure (V. 104f.) oder gerüste (V. 129). Wie Konrads Beispiele zeigen, ist damit das Instrument gemeint, das jeder Handwerker, aber auch der Ritter zur Ausübung seiner , Kunst' braucht. Indem Konrad sich so von der bekannten handwerklichen Auffassung von Kunst absetzt, der er selbst ja noch in der Goldenen Schmiede mit der Metapher des goldenen Wortgeschmeides für die heilige Jungfrau zu folgen scheint, entwirft er freilich nicht das Gegenbild einer .freien' Kunst im Gegensatz zu zweckgebundenen Tätigkeiten, sondern zur technisch-instrumentengestützten Herstellung. Das zeigt der Vergleich von Dichtung und Musik. Auch die Instrumentalmusik nämlich gehört, da sie auf ,Geräte' und deren erlernbaren Gebrauch angewiesen ist, in die Reihe der Künste des Schützen, Schneiders oder Schusters. Die Dichtung dagegen dringt unmittelbar, ohne weiteres Hilfsmittel, von der brüste (V. 130) nach außen und ist nur auf zunge und sin angewiesen (V. 135), damit der Dichter seine Aufgabe - sprechen unde singen (V. 132) - erfüllt. Um das Produkt seiner Kunst näher zu beschreiben, wählt Konrad nicht die Metaphorik des Auszierens, also etwa des ,Blümens' - die findet sich eher auf der Gegenseite, ζ. B. beim Ritter: den müezen schöne zieren / ros unde wäpenkleider (V. 122f.) - , sondern hebt stattdessen auf den Gegensatz von Glanz und Finsternis ab, die den Stümper (verglichen mit der Fledermaus) und den wahren Dichter edele[r] spräche (V. 151) unterscheiden: nah[t], füle[r] spä[n], vinster, tunkel, trüebe[z] herz[e] auf der einen Seite, glänz, lieht, karfunkel, schine[n] auf der anderen (V. 154-169). Ihm geht es also nicht so sehr um die Auszierung der Redegegenstände (mit Hilfe des rhetorischen ornatus) als um die Gesamtwirkung der Rede. Was bedeutet hier ,Licht'?

21

Der Trojanische Krieg von Konrad von Würzburg. Nach den Vorarbeiten K. FROMMANNS und F. ROTHS zum ersten Mal hrsg. durch ADELBERT VON KELLER, Stuttgart

1858 (StLV 44), Nachdruck Amsterdam 1965.

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Konrads Interesse gilt nicht dem gebildehaften Artefakt, sondern der Performanz. Dichtung ist rede, mündlich vorgetragene, akustisch rezipierte Sprache, nicht Schrift: sprechen unde singen (V. 132; vgl. V. 177), guotiu rede und edel sane (V. 145), edele Sprüche (V. 151, V. 169), rede und stimme (V. 191). Diese gleichen dem Gesang der Nachtigall. Das Bild der nahtegal dementiert als Bild für den Dichter einen Schreibprozess, der in ausschmückender elocutio sein Ziel findet. Dichtung ist nicht Produkt eingeübter, ,zünftisch' kontrollierter Praxis, sondern Leistung des von Gott begnadeten ,Sängers'. Wie die Nachtigall22 nicht achtet, ob jemand ihr zuhört, sondern singt, weil sie singen muss, muss auch der Dichter sein Leben lang sagen und singen (V. 189), und sei es für sich selbst und zu seiner eigenen Freude (mir selben Hebe ich mine kunst, V. 185; dur daz mir selben clünge / min rede und miner stimme schal, V. 190f.). Konrad weist also gerade die Künstlichkeit und Kunstfertigkeit zurück, die nach Ansicht mancher Voraussetzung des ,Blümens' scheint. Sein ambet löst den Dichter aus den sozialen Abhängigkeiten der übrigen Künste23 wie auch aus der Bindung an die Hofgesellschaft, wenn auch keineswegs aus anderen Verantwortlichkeiten, denen gegenüber Gott, dem allein er sein ambet verdankt. ,Für sich selber singen' bedeutet nicht Selbstzweckhaftigkeit, ist allerdings mit der sozialen Funktion der Lobrede unvereinbar. Der auf Gottfrieds von Straßburg Tristan zurückgehende Vergleich mit der Nachtigall (V. 4751) stellt den Epiker in die Reihe der Lyriker, der Lieddichter, deren Werk nicht Produkt von Arbeit ist, sondern ihrer ,Natur', in Konrads Sprache: ihrem von Gott verliehenen ambet (V. 181; vgl. Gottfried, V. 4756) geschuldet. In seiner Literaturschau (V. 4589-820) hebt Gottfried das singen der Nachtigallen (V. 4751-820) von der kunstfertigen Herstellung epischer Texte ab, wie er es mit Färben, Wirken, Sticken, am genauesten bei Bligger von Steinach (V. 4691-722), umschreibt. Kunstfertigkeiten wie die Bliggers sind kulturell vermittelt - so wie dies Konrad von den übrigen Künsten sagt - , beim Singen der Lyriker-Nachtigallen wird solche kulturelle Vermittlung dagegen ausgeblendet. Die Lösung aus dem kulturellen Zusammenhang menschlicher Tätigkeiten geht bei Gottfried so weit, dass die Minnesänger zu Vögeln werden

22 23

24

Zum Nachtigallenbild TRUDE EHLERT: ZU Konrads von Würzburg Auffassung vom Wert der Kunst und von der Rolle des Künstlers. In: JOWG 5 (1988/89), S. 79-94. Konrad polemisiert, wie dies häufig geschieht, gegen ein stumpfes Publikum ze hove [...] und anderswä (V. 139), das rechte Kunst nicht zu schätzen wisse und falschem Glanz nachläuft. Doch wendet er sich nicht an die happy few, sondern erklärt für gleichgültig, wer und wieviele sein getihte wol vernemen (V. 209). Mit l'art pour I 'art hat das selbstverständlich nichts zu tun. Gottfried von Straßburg: Tristan und Isold. Hrsg. von FRIEDRICH RANKE, Berlin 1959; vgl. auch Gottfried von Straßburg: Tristan. Nach dem Text von FRIEDRICH RANKE neu hrsg., ins Neuhochdeutsche übers., mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort von RÜDIGER KROHN, Bd. 3: Kommentar, Nachwort und Register, 2., durchges. Aufl., Stuttgart 1981 (RUB 4473), S. 67 zu V. 4751 zur Tradition des Nachtigallen-Vergleichs.

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(und sogar deren grammatisches Geschlecht annehmen). Indem Konrad dies auf Dichter insgesamt überträgt, beschreibt er Dichten nicht als einen Akt bemühter Arbeit, sondern als eine von Gott verliehene Berufung. Er weist also sowohl die Verankerung von Dichtung in einer handwerklich gefärbten Kunstpraxis ab wie die Rücksichtnahme des Dichters auf soziale Notwendigkeiten, die Zustimmung des Publikums, löst sie aber nicht aus dem von Gott geschaffenen Ordo heraus. Der Dichter bleibt, indem er seiner .Natur' folgt, auf dessen Gutsein, seine Wahrheit und Schönheit verpflichtet. Insofern wird ihm eine Erkenntnisleistung abverlangt, wie der Schluss des Prologs ausführt. Im Ungestaltigen, dem endelösen pflüme (V. 222), in den Wasserfluten, dem witen vlöz (V. 240), einem wilde[n] tobende[n] mer (V. 236), muss er boden (V. 220) finden, grünt (V. 226), muss er ankern (balde slifen / hie miner zungen enker, V. 228f.), muss die Tiefe ergründen / mit herzen und mit münden / biz üf des endes boden (V. 241-243). Damit ist mehr gemeint als die Bewältigung eines aus allen Richtungen sich speisenden ,Meeres' an Stoff. Mit der Metapher grund wird auf einen Erkenntnisprozess angespielt, der in die tiefsten Zusammenhänge eindringt und so das Ungeformte formt. Wo sich das Marienlob notwendigerweise im Grundlosen verliert, muss das große Werk über Troja zum Grund vorstoßen. Die Metapher des Grundes ist aber der Metapher der Oberfläche entgegengesetzt, auf die sich die Rede von der Ästhetisierung vornehmlich bezieht und die auch Konrads Rede vom ,Licht' edeler sprüche zugrunde zu liegen scheint. Assoziationen in dieser Richtung werden also ausdrücklich abgewiesen. Die Rede soll strahlend sein, aber gerade nicht beim Glanz der Oberfläche verharren, vielmehr zu dem gelangen, was sich unter der Oberfläche verbirgt. Aber trifft diese Behauptung tatsächlich Konrads poetisches Verfahren? Ist es nicht gerade die glänzend polierte Oberfläche, um die er sich bemüht? Wie steht diese .Oberfläche' zum .Grund'? Und wenn diese Oberfläche durch blüemen geschmückt ist, welche Leistung strebt blüemen dann an? In Konrads Poetik wie in deren dichterischer Umsetzung stößt man immer wieder auf das Wortfeld des .Scheinens', .Glänzens', ,Strahlens'. Dieses Wortfeld ruft, anders als blüemen, nicht eo ipso rhetorisch-poetologische Terminologie auf, wenn es auch konnotativ mit ihr verbunden scheint, indem es deren wirkungspoetische Seite in den Vordergrund rückt: Was der Dichter seinem Werk als ornatus mitgibt, das beeindruckt den Rezipienten durch seinen Glanz. Insofern fallen in schin - wie HÜBNER das für lop und ruom herausgearbeitet hat - objektsprachliche und metasprachlich-poetologische Aspekte zusammen:25 schin ist das, was den Gegenstand der Erzählung auszeichnet, und schin ist das, was der Erzähler seiner Erzählung verleiht. Damit ist jedoch noch nichts über die Bedeutung von schin gesagt. Meint schin die rühmende Auszierung eines Gegenstandes?

25

Den Zusammenhang zwischen beidem reflektiert HÜBNER (Anm. 1), S. 89.

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Paris' Schönheit und höfische Eleganz überwältigt alle; er überstrahlt (schein) das Strahlen, den wunnecliche[n] schin, der Gefährten (V. 19596, 19598) wie ein Perle die Kieselsteine (ähnlich V. 19656): Er gap [...] liehtebernden glast (V. 19615); sin klärheit (Leuchten) diu dranc unde brach / in manic herze tougen (V. 19618f.); er wird spiegel, geliutert und gereinet, durliuhtic als ein engel genannt (V. 19621, 19624, 19657). Aber angesichts der Überwältigung durch visuelle Reize vergisst man leicht die Frage: Wie sieht er eigentlich aus? Ähnlich Helena: ein bluome glanzer wibe / schein diu vil wunnebcere (V. 19676f.). Sie heißt die glanz[iu] künigin (V. 19706), kann alle anderen Frauen mit ir clärheite blenden (V. 19713), bringt ihre varwe zum Erlöschen (V. 19717f.). Wenn Paris Helena das erste Mal sieht, wird er von ihrem Strahlen überwältigt. Wo die anderen Frauen wol gezieret sind (V. 19779: ornatusl), bleiben sie doch weit hinter der liehte[n] schoenheit der clären zurück (V. 19780f.). Um die wechselseitige Faszination zu beschreiben, häuft Konrad Vokabeln des Leuchtens wie brinnen, liuhten, regenboge, geverwet von der minne, glanz[e] und die dazugehörigen Vorgänge des Sehens und Geblendetwerdens (V. 19782-97): der schoene durch sin herze brach (V. 19793). Sonnengleich raubt Helena Paris mit durliuhtecliche[m] schine (V. 19881) die Sinne (sin selbes do beroubet, V. 19901). Helenas Schönheit heißt wunder (V. 19824-33): ein wildez wunder hat sin hant mit vlize an ir gebildet; ir schoenheit überwildet und überwundert allen schin, der von klärheite mac gesin an wiben unde an frouwen. wer mac den glänz geschouwen, der üz ir varwe schinet? geliutert und geßnet vor wandel ist ir reiner Up.

19825

19830

Dabei ist wunder mehr als eine Hyperbel, bezeichnet nämlich zum einen das Werk des göttlichen Schöpfers, zum anderen das Übermaß, das, was wilde ist, d. h. sich höfischer Ordnung entzieht,26 indem es sie überbietet und ihre Grenzen sprengt. Die religiöse Konnotation ist also nicht mit einer ihr entsprechenden Wirkung, dem Blick auf Gott, verbunden; wunder ist zweideutig. Die Überwältigung der Wahrnehmung setzt sich in überbordender Lichtmetaphorik fort, wenn Konrad zur regelgerechten Beschreibung ihrer Schönheit nach dem rhetorischen Muster a capite ad calcem übergeht: das Haar schein so liehtebcere, / als ez gespunnen wcere / äz golde von Aräbiä (V. 19909-11); zwei Locken über den Ohren glizzen äne kunterfeit / reht als goldes drcete 26

WOLFGANG MONECKE: Studien zur epischen Technik Konrads von Würzburg. Das Erzählprinzip der wildekeit. Mit einem Geleitwort von ULRICH PRETZEL, Stuttgart 1968 (Germanistische Abhandlungen 24).

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(V. 19914f.); aus den Augen strahlt der österliche tac (V. 19920); die schwarzen Brauen glizzen (V. 19927); der ougen spiegel, etwas schräg darunter, schein so lieht (V. 19932f.); ideal die Nase und ir forme glast (V. 19939); der Teint ein glanziu varwe reine (V. 19944); liehteberndiu wangen (V. 19953), leuchtend als ein rosenblat (V. 19956); der Mund lieht unde heiz, / der bran noch vaster unde gleiz / denn ein rubin durliuhtic rot (V. 19961-63), daraus die Zähne leuchtend, wiz geverwet [...] / als ein niuwevallen sne (V. 19972f.), blitzend, wenn Helena lacht (V. 19976-82); und so geht es mit kaum nachlassender Intensität weiter. In der Beschreibung von Helenas Schönheit geht Konrad stärker ins Detail, aber die Konturen der Gestalt werden durch immer neues Strahlen überblendet. Die Farben ihrer Haare oder ihre Haut sind Lichtvaleurs, und ihre Kleidung formt weniger ihren Körper, als dass sie seiner Ausstrahlung weiteren Glanz hinzufugt. Die descriptio dient nicht der perspicuitas, indem sie in regelgerechter rhetorischer Technik Körperteil nach Körperteil ,vor Augen stellt',27 sondern es werden Lichtreize, die vom Körper ausgehen, kumuliert. Der rhetorische locus des Rühmens α corpore wird also aufgerufen, um in der Überbietung seine Ordnungen untergehen zu lassen. Das Fazit lautet: sö glänzen noch sö wcehen / lip kein frouwe nie getruoc (V. 20032f.). Helenas Gestalt löst sich gewissermaßen in den Lichtwellen auf, die von ihrem Körper ausgehen. Der strahlende schi[n] (V. 19951) der Schönheit entzieht sich klarer Bestimmbarkeit. Helenas glanziu varwe (V. 19944) ist nämlich (V. 19946-51): ... ζ'einte wunder mit wize und ouch mit röte vermischet so genöte, daz da weder rot noch wiz bewceren mohte sinen mit volleclichem schine.

fliz

19950

Man kann nicht sagen, ob im Anblick (varwe) ihres Gesichts weiß oder rot vorherrscht. Die Überwältigung bringt den Blick um sein Unterscheidungsvermögen. Ähnlich verhält es sich mit Helenas Gewand aus golddurchwirktem Seidenstoff, einemplyät (V. 20056). Er hat die Eigenart (V. 20072-83), daz er des tages sibenstunt verkerte sine varwe. er wart gestellet garwe recht als ein frischiu rose rot. diu meisterschaft im daz gebot, diu von zouber lac dar an, daz er in blüender raete bran

27

20075

Es ist vor allem das Gesicht und das, was man sehen kann (Arme!), die diese Wirkung ausüben; die übrigen Körperteile entsprechen eher dem üblichen .plastischen' Schönheitspreis.

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und sich verwandelte dar in. dar nach verkerte er sinen schin in kurzer wile, niht ze lanc, und wart geverwet also blanc, daz nie kein lilje wart so wiz.

20080

und so ist er sieben Mal am Tag rot, sieben Mal weiß. Der Mantel ist aus Fell und Haut eines Tieres namens Dindialus (V. 20144), das nicht nur auf seltsame Weise gefangen wird, nicht nur aus einem Land stammt, in dem der liehten clären sunnen blic / der glenzet [...] / so gar unmcezeclichen heiz (V. 2015052), sondern das auch noch in allen Farben changiert (V. 20186-89): sehs varwe sint üf ez geleit, die glizent näch dem wünsche dä. wiz, brün, gel, rot, grüen unde blä siht man von im dä schinen.

Wie der Stoff, aus dem ihr Kleid gemacht ist, ist Helenas Schönheit nicht bestimmbar. Auch die Gegensätze kalt und heiß sind aufgehoben: Man empfindet in diesem Gewand weder Frost noch Hitze (V. 20118-25) - so wie auch Helenas Antlitz im heißesten Sommer wie kühler Schnee, im kältesten Winter wie frische Rosen scheint (V. 20018-23). In der Häufung immer neuer sinnlicher Reize geht sinnliche Wahrnehmung unter. Sie mündet in die gleiche Unterscheidungslosigkeit wie der strahlende Glanz und der Farbenrausch der blutigen Schlachten (V. 34050-84). In Konrads Beschreibungen steckt eine Ambivalenzstruktur, die den Roman insgesamt bestimmt. Konrad hat diese Ambivalenz im Apfel der Discordia-Gestalt verdichtet, um den die drei Göttinnen erbittert streiten und der nach dem Urteil des Paris der Auslöser der Katastrophe des Trojanischen Kriegs sein wird. Dieser Apfel ist ebenso schön und ebenso zweideutig wie die Gestalt der Helena (V. 1402-25): ein wunderlich mixture üz dem rilichen apfel schein, diu was verworren under ein von aller hande glaste so sere und also vaste, daz keiner liehten varwe schin dä vollecliche möhte sin; und was ir aller teil doch dä. wiz, brün, rot, gel, grüen unde blä diu wurden elliu dä geborn und heten alliu doch verlorn dä ganzen unde vollen glänz, so daz ir keines was do ganz noch in volleclicher kür. ir schin was wider unde für zerdrcejet und zersprenget

1405

1410

1415

schin und Verwandtes und also gar vermenget mit wilder temperunge, daz manic wandelunge dä fremdecliche lühte und iegelichen dühte so mcezlich und so cleine, als ir dä vil nach keine solte schinen unde wesen.

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1420

1425

Der Apfel der Discordia ist von unbeschreiblicher Schönheit und stiftet unausdenkbares Verderben. Und wie Helenas strahlende Erscheinung entzieht sich seine ungewisse Farbe distinkter Wahrnehmung: Aus der Ferne sieht man nichts wan silbers unde goldes (V. 1433); die Unbestimmbarkeit seiner Färbung bemerkt man nur, wenn man ihn nähe zuo den ougen hält (V. 1427). Doch ist er in zwei Hälften geteilt, die durch eine grüne Leiste aus Smaragden getrennt sind, auf der eine Schrift aus leuchtenden, doch klar gefärbten28 und sich vom grünen Untergrund eindeutig abhebenden Perlen die Bestimmung des Apfels, jene Bestimmung, die den Streit auslöst, erklärt. Die Beschreibung des Apfels erweist sich als mise en abyme des Romans29 und als Schlüssel seiner Poetik. Er ist klar in zwei Hälften von eindeutiger Farbe geteilt, und das differentielle und Differenzen festlegende Medium der Schrift erklärt seine Bedeutung, doch die Schrift stiftet in diesem Fall nicht Ordnung, sondern heillose Verwirrung, und seine Gestalt löst sich in einer oszillierenden Wahrnehmung auf; je nach dem, aus welcher Distanz man ihn betrachtet, wechselt er die Farben. Was aus der Ferne schön und kostbar scheint, verliert aus der Nähe seine Bestimmtheit; man weiß nicht recht, wie es zu beurteilen ist. Der Apfel enthält die Allegorie des Lesens eines Romans, der die Schönheit der höfischen Welt in unerhörtem Glanz feiert und sie zugleich in grässlichem Schlachten untergehen lässt. Was strahlend scheint, verliert bei näherem Zusehen seine Eindeutigkeit. Auch vom Roman könnte man sagen, was vom Apfel gesagt wird: an im lac hoher künste fliz / von meisterlicher küre (V. 1400f.). Konrad hat diese doppelte Sicht erzählerisch umgesetzt. Das Strahlen von Helenas Gestalt und der Schrecken blutiger Kämpfe sind bis in den Wortlaut hinein dieselben, von gleicher Preziosität. Was die Forschung als .Ästhetisierung' der Ritterwelt bezeichnet, hat darin seinen Grund: Die Kämpfe lösen sich, gewissermaßen aus der Vogelschau betrachtet, in ein Meer von Licht, Farben,30 Klängen auf, die Bewegung der Lanzen scheint wie ein Wald, den der Wind bewegt (V. 34046-49), die Fahnen ein Schilf, die prächtigen Gewänder und 28

Sie lühten und glizzen röt, gel unde blä (V. 1449f.).

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Z u m B e g r i f f ,mise

en abyme'

HARALD FRICKE: Art. . P o t e n z i e r u n g ' . In: R L W , B d . 3

( 2 0 0 3 ) , S. 1 4 4 - 1 4 7 , h i e r S . 145.

30

Die dritte Schar in der Schlacht ist gel unde weitin / röt, grüene, wiz, brün unde blä (V. 31630f.). Über das Gewoge der Fahnen heißt es: die vanen brün, gel unde röt, / wiz, grüene und als ein lasür blä (V. 36874f.).

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blitzenden Waffen vil manicvalte wunne (V. 36891). Aus der Nähe aber sieht man schreckliche Szenen der Gewalt, der Verstümmelung, des Sterbens, jämer unde mort (V. 33343), gespaltene Schädel, abgetrennte Gliedmaßen, Hackfleisch, detailliert geschilderte Wunden (dur stner brüste warzen, V. 32312). Am offenkundigsten ist die Zweideutigkeit bei Helena. Helenas Farben opalisieren wie die auf der Oberfläche des Apfels. Das wunder Helena ist wie die meisten Frauen im Trojanerkrieg ebenso verführerisch wie Verderben bringend.31 Ihr schln ist tödlich. Nachdem Konrad sich über Hunderte von Versen über ihre Reize ausgelassen und sie zuletzt mit dem Tag, der durch die Wolken bricht, verglichen hat, fugt er an (V. 20282-87): daz sich min zunge pinet ser uf ir lop, daz tuot mir not, sit daz den bitterlichen töt durch si leit so manic lip, daz nie durch keiner slahte wip verdarp so manic höher man.

20285

Wildes Kämpfen und leidenschaftliche Liebe sind verbunden durch denselben Irrsinn: tobeheit (V. 16456 u. ö.). Das Unterscheidungsvermögen, das in der Schilderung des Rauschs der Farben und Klänge, des blendenden Strahlens der Schönheit untergeht, meldet sich in der Stimme des Erzählers, der das mcere ergründet hat und die Geschichte bis zum Ende verfolgt: so wie der Apfel eine Aufschrift trägt, die sagt, was er bedeutet. Trotzdem ist Konrads Poetik keine Poetik des desengano, der Entlarvung des falschen Scheins, wie sie die Literatur des 17. Jahrhunderts kennt. Anders als dort gewinnt fur den Betrachter der Schein niemals totale Verführungsgewalt und muss deshalb auch nicht total destruiert werden. Und anders als dort ist der Glanz nicht bloßes Blendwerk, sondern wird trotz seiner Zweideutigkeit gefeiert. Es fehlt die desillusionierende Alternative zur höfischen Welt, obwohl sie sich doch allenthalben als brüchig erweist.32 Konrads ,Ästhetisierung' ist nicht abtrennbar von seinem ethischen Engagement. Er treibt die vollendete Schönheit in ein Maximum, um am Untergang des Vollendeten die Defizite der Vollendung zu zeigen. Anders als Maria in der Goldenen Schmiede hat der Glanz keinen Bestand, so sehr auch er wunder scheint und auf das wunder des

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Das zeigt sich in der Schlacht, wenn die Kämpfer nur für sie Augen haben, statt auf den Gegner zu achten. Zu zeigen wäre Ähnliches vor allem für Medea; dazu BURKHARD HASEBRINK: Rache als Geste. Medea im Trojanerkrieg Konrads von Würzburg. In: Literarische Leben. Rollenentwürfe in der Literatur des Hoch- und Spätmittelalters. Festschrift für Volker Mertens zum 65. Geburtstag. Hrsg. von MATTHIAS MEYER/HANSJOCHEN SCHIEWER, Tübingen 2002, S. 209-230. Dies spiegelt sich in dem eigenartigen, von WORSTBROCK (Anm. 18; S. 282) hervorgehobenen Befund, dass der Tod des Herkules auf allen Ebenen Schuld und Versagen voraussetzt, für die Figuren des Romans aber zum Anlass für Klage und Rühmung genommen wird.

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Schöpfers verweist.33 ,Geblümte Rede' sucht hier nicht in unablässiger, doch vergeblicher Annäherung das zu fassen, was sich jeder Rede entzieht, sondern spiegelt die der höfischen Kultur von Anfang an eingeschriebene Aporie: höchste Vollendung sein zu wollen und doch den Gesetzen der Welt und ihrer Vergänglichkeit anheim gegeben zu sein. Die daraus resultierende Ambiguität unterminiert die Geltung der höfisch-ritterlichen Ästhetik, aber sie verweist auch indirekt auf die Maßstäbe, die sie aufzuheben behauptete. Damit steht Konrad mindestens typologisch am Ende der höfischen Epik (auch wenn einige Werke der Gattung noch nachklappem), nämlich indem er die Aporien von deren Ansprüchen aufzeigt, des Anspruchs einer Ethik, die auf Gewalt gegründet ist, des Anspruchs einer Ästhetik, die ihre ethischen Maßstäbe nicht aufgeben will, auch des Anspruchs einer Religion, die sich Gott nach dem eigenen Bild modelt. Konrad hat wie kein zweiter mhd. Erzähler der elocutio besondere Sorgfalt gewidmet und seine Virtuosität in immer neuen Klangspielen und immer exquisiteren Metaphern demonstriert. Aber diese Virtuosität ist nicht .Einkleidung' des Gegenstandes mit flores rhetorici, um ihn besser herauszustreichen, sondern Konrad trachtet danach, seine Konturen im flirrenden, ebenso faszinierenden und fürchterlichen Glanz, den er ausstrahlt, verschwimmen zu lassen. Das Übermaß des Lichtes kann blenden - durch den Glanz des Göttlichen und verblenden - wie der Glanz der höfischen Kultur. Paradox formuliert, die Kumulierung von Sichtbarem beeinträchtigt und verunsichert die visuelle Wahrnehmung, zielt auf ihre Überschreitung. Aus diesem Grunde ist es bei ihm nicht möglich, Redegegenstand und Redeschmuck, Inhalts- und Ausdrucksebene zu trennen. Geblümte Rede ist bei Konrad nicht allegorisch, wie man dies bei Mügeln beobachtet hat, indem dessen Metaphorik sich aus der wissenschaftlichen Begriffssprache speist und mittels Allegorese einen Erkenntnisprozess ,ornamental' begleiten will.34 Und sie überschreitet nicht wie bei Frauenlob die Grenzen zwischen einem theologischen und einem poetischen Diskurs.35

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SCHNYDER (Anm. 12) hat dafür plädiert, bei Konrad zwischen den .weltlichen' und den .geistlichen' Dichtungen, und hier noch einmal zwischen Marienlob und Darstellung gewöhnlicher Legendenheiliger wie Alexius zu unterscheiden (S. 42, 45). Blüemen hat da jeweils eine besondere Funktion. KLBELKA (Anm. 1), S. 155 u. 162-218 (zur Abhängigkeit von wissenschaftlichem Denken), S. 270-274 (zur Allegorie und zur abstrakten Begrifflichkeit). Zur ornamentalen Funktion STACKMANN, Der Spruchdichter Heinrich von Mügeln (Anm. 1), S. 156f., Ders., Rhetoricae artis practica (Anm. 2), S. 323. KÖBELE (Anm. 1), S. 209-215 hat dies, ablesbar am Entwurf einer „kosmisch entgrenzten Liebe" (S. 211) als eine literaturgeschichtliche Tendenz des 14. Jahrhunderts beschrieben, die die - im übrigen in je eigenen Traditionen stehenden - Dichtungen des dolce stil nuovo mit Frauenlob verbindet; vgl. zu dessen Abgrenzung gegen Heinrich von Mügeln bes. S. 151-154, 160f.

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Die Leistung ,blümenden' Sprechens ist schon bei diesen drei Autoren vielfältig. Sie erschließt sich weder allein auf der Ebene der elocutio noch von einem bestimmten pragmatischen Aussagerahmen (Lob/Tadel) her. Vielmehr sind gattungs- und diskursspezifisch Form und Funktion des blüemens mit unterschiedlicher semantischer Leistung voneinander abzuheben. Die Diversität geblümter Rede, die NYHOLM zurecht betont hat,36 berechtigt nicht, die vielen gemeinsamen Züge zu übersehen, so wenig umgekehrt die Gemeinsamkeiten berechtigen, die elokutionelle wie funktionale Vielfalt zu überspringen. Dies legt einige Folgerungen für eine dem Mittelalter angemessenen Poetik nahe: Mit bliiemen ist ein Terminus mittelalterlicher Provenienz genannt, der allerdings nicht durchweg terminologisch gebraucht wird, sondern meist in einem uneigentlich-untechnischen Sinn auftritt.37 .Technisch' wird er fast nur dort verstanden, wo er als Wiedergabe von ornare in der Rhetorik erscheint. Da der umgangssprachliche Gebrauch überwiegt, ist die Überlieferungsdichte von blüemen im Kontext von .Loben'/,Tadeln' besonders hoch, umso mehr als auch die Bedeutung von ornare vor allem für die epideiktische Rede (deren Ziel laudatio bzw. vituperatio ist) expliziert wird. Allerdings verstellt dies den Zugang zu dem Phänomen eher. Es erweist sich nämlich bei genauer Analyse (wie sie probeweise für einige Passagen von Konrads Trojanerkrieg vorgenommen wurde) die Bindung an Lob- bzw. Scheltrede als bei weitem zu eng, die dem blüemen in diesem Zusammenhang zugewiesenen Funktionen weit vielfaltiger. Andererseits erwies sich der Versuch, Stilphänomene in den Werken notorischer ,Blümer' zu isolieren und als ,geblümten Stil' zu beschreiben, als undurchführbar. Zum einen ließen sich diese Phänomene kaum alle auf einen Nenner bringen; zum anderen treten viele von ihnen schon bei Autoren auf, die man gemeinhin nicht mit .geblümtem Stil' assoziiert. Wenn man einzelne Stilzüge (etwa einen bestimmten Typus von Genitivketten) wohl in der Regel diesem Stil zuordnet, bleiben viele seiner übrigen Merkmale recht unspezifisch, zumal blüemen manchmal nichts weiter heißt als .kunstvoll ausgestalten'. Allenfalls kann man trachten, Intensitätsgrade des ornare voneinander abzuheben. Wie in vielen vergleichbaren Fällen, etwa in der Diskussion um den Märenbegriff, lässt der mittelalterliche Sprachgebrauch also zwar in Umrissen einen poetologischen Problemkern erkennen (eine bestimmte Weise der Rede, zu bestimmten Zwecken eingesetzt), doch fehlen trennscharfe Abgrenzungen ebenso wie eine klare begriffliche Explikation. Das macht solche Termini freilich nicht unbrauchbar. Der Verzicht auf mittelalterliche Prägungen dieses Typs, die ein begriffliches Potential enthalten, ohne seine Entfaltung schon leisten zu können, wird zwar immer wieder als bequemer Ausweg vorgeschlagen, ist aber in der 36 37

NYHOLM (Anm. 2). S. 123f., zieht das Fazit, dass die einzelnen .Blümer' in ihrer stilistischen Besonderheit und der Besonderheit ihrer Vorbilder analysiert werden müssen. Vgl. HÜBNERS (Anm. 1) wortgeschichtliche Untersuchungen (S. 33-86) und seine begriffsgeschichtliche Zusammenfassung (S. 87f.).

schin und Verwandtes

305

Regel mit einem Verzicht auf wissenschaftliche Erkenntnis erkauft. Die Aufgabe wäre vielmehr, in wissenschaftlicher Konstruktion das terminologische Defizit auszugleichen und die unterminologischen Komponenten aus der Begriffsbildung auszuscheiden. So ist die Abhängigkeit des blüemens von der rhetorischen Theorie des ornatus zwar evident, aber bei weitem zu unspezifisch. Was muss hinzukommen, um blüemen vom gewöhnlichen ornare zu unterscheiden? Häufung bestimmter Rede- und Gedankenfiguren? Ausstellung des Verfahrens und Hinweis auf die Kunstfertigkeit? Die Bindung an eine bestimmte agonale Literaturpraxis, in der sich der Dichter gegen Konkurrenten zu behaupten hat? Die Erörterung und Beantwortung solcher Fragen bedeutet auch, dass der zeitgenössische Sprachgebrauch allein nicht Grundlage der Begriffsbildung sein darf. Dieser Sprachgebrauch muss zwar in seinem Kern jedenfalls ihr Ausgangspunkt sein, aber nicht jede abweichende Verwendung des Worts spricht gegen dessen Angemessenheit zur Bezeichnung eines bestimmten Begriffsinhalts.38 Ferner müssten begriffsgeschichtlich notwendige, vom zeitgenössischen Sprachgebrauch aber möglicherweise ausgeblendete Komponenten ergänzt werden. So ist das blüemen in der spätmittelalterlichen Literatur an eine bestimmte Autorrolle und an eine bestimmte Literaturpraxis gebunden, die sich seit dem ersten Drittel des 13. Jahrhunderts im Bereich der Volkssprache auszubilden beginnt. Mit blüemen soll ,Könnerschaft' nachgewiesen werden, auf die der Autor sein Ansehen und berufliches Fortkommen baut. Diese Rahmenbedingungen werden zeitgenössisch nicht artikuliert, weil sie selbstverständliche Voraussetzimg sind, müssen aber bei der Explikation des Begriffs berücksichtigt werden. Durch diese und weitere Bestimmungen könnten blüemen, .geblümte Rede', ,Blümer' als historisch spezifische Begriffe rekonstruiert werden, die an den Rändern möglicherweise unscharf bleiben, aber einen Kernbestand stilistischer Verfahren, Wirkungsintentionen, gattungsgeschichtlicher Alternativen und literarischer Praxis im 13./14. Jahrhundert erfassen. Diskutiert wurden ferner drei Begriffe, die kein Äquivalent im mittelalterlichen Sprachgebrauch haben und an späteren literarischen Phänomenen abgelesen wurden: ,Ästhetisierung', .Manierismus', ,mise en abyme'. Die Frage, ob es legitim ist, solche Begriffe überhaupt auf ältere Phänomene anzuwenden ist m. E. müßig und längst entschieden. Wohl aber sind die Bedingungen, unter denen dies geschieht, zu klären. Sie liegen in jedem der drei Fälle ein bisschen anders. ,Ästhetisierung' könnte historisch falsche Assoziationen hervorrufen, ist aber sinnvoll als Differenzkategorie. Gemeint ist damit, dass ethische Kategorien, die im höfischen Roman die Phänomene minne und Kampf ebenso wie den Plot insgesamt bestimmen, in der späten höfischen Literatur, insbesondere 38

Dies hat die strikte Unterscheidung von Wort- und Begriffsgeschichte im RLW immer wieder erwiesen. Vgl. die Vorrede .Über das neue Reallexikon'. In: RLW, Bd. 1 (1997), S. VHf.

306

Jan-Dirk Müller

bei Konrad von Würzburg, ,zerbröseln', 39 zurücktreten oder mindestens ein Stück weit von ästhetischen entkoppelt werden, ohne dass sie freilich völlig aufgegeben würden. Das Schöne verselbstständigt sich in einem gewissen Grade gegenüber dem Guten und dem Wahren, ohne deshalb (was ja stets eine Alternative christlicher Ästhetik war) als ,luziferisch' abgewertet zu werden. Die Eindeutigkeit binärer Ordnungen bekommt einen Riss. Historische Konturen gewinnt der Begriff erst, wenn man ihn zu den poetologischen Reflexionen Konrads in den Prologen zum Partonopier und zum Trojanerkrieg in Beziehung setzt. Er ist also nur sinnvoll in Bezug auf ein bestimmtes Gattungskonzept. Er erlaubt, eine gattungsgeschichtliche Tendenz des späten höfischen Romans präziser zu beschreiben. Dagegen sind seine stilgeschichtlichen Implikationen mit dem Terminus blüemen genauer erfasst, und zu einer Charakteristik allgemeinerer literaturgeschichtlicher Tendenzen im Spätmittelalter ist er, durch neuzeitliche Traditionen vorbelastet, ungeeignet. Bei .Manierismus' ist die epochenspezifische Fassung erst recht auszuschließen, zusammen mit den damit verbundenen ästhetischen Phänomenen. Davon unabhängig lässt sich bei den Dichtern des späteren 13. Jahrhunderts ein Interesse an der demonstrativen Ausgestaltung der Form beschreiben. Indem durch blüemen offenbar der Blick auf das kunstvolle rhetorische Verfahren gelenkt werden soll, die .Manier', indem die rhetorische Verfasstheit des Textes gewissermaßen .ausgestellt' wird, kann man von einer bestimmten Spielart des .Manierismus' sprechen. Auch dabei handelt es sich um einen Relationsbegriff, der erlaubt, die Werke dieser Dichter von älteren abzugrenzen.40 Allerdings darf .Manier' gerade nicht als individuelle verstanden werden wie im 16. Jahrhundert das italienische maniera. Poetische Qualität zeigt sich im virtuosen Verfugen über ein kollektiv verfugbares Repertoire. Der Versuch, den Konkurrenten zu überbieten, zielt nicht auf den ausgefallenen Individualstil, sondern bleibt an die Regeln der Zunft gebunden. Der mittelalterliche .Manierismus' hat insofern eine besondere literatursoziologische Basis. Was als Stilphänomen .Manierismus' wie eine zeitlose Alternative zu einem ebenso zeitlosen .Klassi-

39

V g l . WORSTBROCK ( A n m . 18), S. 2 8 3 f .

40

Hohe Artifizialität allein ist kein hinreichendes Kriterium (so schon NYHOLM [Anm. 2], S. 11). Das Gegenargument HÜBNERs (Anm. 1; S. 25) gegen den Manierismus-Begriff Morungens artistische Raffinesse ist nicht geringer als die Burkharts von Hohenfels trifft die vorgeschlagene Begriffsverwendung daher nicht. HÜBNER ist darin zuzustimmen, dass es in der Tat nicht sicher ist, dass Burkharts Artifizialität „schneller, eher, vorrangiger auffiel" als die Morungens, aber das ist ein rezeptionsgeschichtlicher, kein poetologischer Sachverhalt. Es kommt darauf an, ob - im Vergleich mit Morungen - die Aufmerksamkeit primär darauf gelenkt wird und andere - ζ. B. inhaltliche oder konzeptionelle - Komponenten eher zurücktreten. Dabei gibt es selbstverständlich Grade der Demonstration von Kunstfertigkeit. Entscheidend ist die - wieder polar, nicht kontradiktorisch aufzufassende - Opposition zwischen demonstrate und celare artem, wobei es auf die Relation zwischen beidem ankommt.

schin und Verwandtes

307

zismus' erscheinen könnte, erweist sich infolgedessen als eine historisch spezifische Kategorie. Schließlich mise en abyme: Das Prinzip romantischer Ästhetik41 wurde in der poststrukturalistischen Diskussion zu einem universellen Verfahren der konzentrierenden und steigernden Spiegelung einer ästhetischen Ganzheit in einem ihrer herausgehobenen Teile umgedeutet. Das kann zu einer gewissen Beliebigkeit fuhren, eröffnet aber auch Möglichkeiten literarischer Analyse von Texten, die ein solches Verfahren benutzen, ohne es poetologisch zu reflektieren. In mise en abyme wird eine Leistung poetischer Texte auf den Begriff gebracht, die sich auch in älteren Literaturen finden lässt. So wenig die Figuren der Rede eine Erfindung der Rhetorik sind - sie systematisiert und bestimmt sie nur - , so wenig rufen Poetik und Ästhetik ihre Gegenstände selbst ins Leben. Im Lichte der nachromantischen Ästhetik werden deshalb ältere Texte neu lesbar, und es können poetische Strukturen entdeckt werden, für die die zeitgenössische Poetik keine Begriffe hatte. Der romantischer Ästhetik abgelesene Begriff erlaubt, intratextuelle Beziehungen herauszuarbeiten und die scheinbar funktionslose - Deskription eines Requisits als Schlüssel für Konrads Poetik zu erweisen. Die vier Fälle reflektieren die Schwierigkeiten einer wissenschaftlichen Terminologie in der Mediävistik. Weder ist es möglich, nur auf Begriffe der mittelalterlichen Poetik zurückzugreifen (geschweige auf deren ungenaue volkssprachige Adaptationen), noch kann man das poetologische und ästhetische Vokabular der Neuzeit ohne Zusatzerläuterungen auf mittelalterliche Texte übertragen. Das Problem wird nur in einer Kombination von Explizierung/Disziplinierung zeitgenössischen Sprachgebrauchs und der historisch reflektierten Anwendung nachträglich entwickelter Begriffe zu meistern sein. Die Mediävistik hat diese Aufgabe bisher kaum in Angriff genommen.

41

Vgl. FRICKE (Anm. 29).

IV.

äventiure Ein Paradigma historischer Semantik

FRANZ LEBSANFT

Die Bedeutung von altfranzösisch aventure Ein Beitrag zu Theorie und Methodologie der mediävistischen Wort- und Begriffsgeschichte

Based on a complex model of description the meanings of Old French aventure (ca. 1090-1230) are analysed. By systematically including syntagmatic and paradigmatic relations, a profile can be constructed that encompasses the characteristic meanings of 'occurrence' or 'event' ('Begebenheit', 'Ereignis'), 'chance' ('Zufall') and 'test of knighthood' ('ritterliche Bewährungsprobe'). It was Chretien de Troyes who established the collocation aler querre/trover aventure. Thus a meaning developed which includes and 'captures' in the character's intentions 'chance' - as a factor beyond human will - as a desired and accepted test. Although approaches to a metonymy of 'occurrence' or 'event' ('Begebenheit', 'Ereignis') towards 'tale' ('Erzählung') can be observed, they have, however, failed to establish a strong tradition of a rhetoric manifestation of concepts in Old French literature.

1. Zeichen- und bedeutungstheoretische Grundlagen der Wort- und Begriffsgeschichte Die Begriffsgeschichte der Geschichtswissenschaft stößt bei Sprachtheoretikern und -historikem in methodischer Hinsicht auf erhebliche Skepsis. Aus der Sicht von Linguisten mangelt es der Nachbardisziplin an einem zeichentheoretisch fundierten Begriff von .Begriff. 1 Angesichts des paradigmenbildenden Charakters der Geschichtswissenschaft 2 ist es daher angebracht, die Geschichte von afrz. aventure mit der Klärung theoretischer und methodologischer Aspekte zu verknüpfen.

1

2

DIETRICH BUSSE: Historische Semantik. Analyse eines Programms, Stuttgart 1987 (Sprache und Geschichte 13); ANDREAS BLANK: Prinzipien des lexikalischen Bedeutungswandels am Beispiel der romanischen Sprachen, Tübingen 1997 (Beihefte zur ZfromPh 285), S. 29; GERHARD FRITZ: Historische Semantik, Stuttgart, Weimar 1998 (Sammlung Metzler 313), S. 98. Rezenter interdisziplinärer Überblick in: Die Interdisziplinarität der Begriffsgeschichte. Hrsg. von GUNTER SCHOLTZ, Hamburg 2000 (Archiv für Begriffsgeschichte, Sonderheft) und Begriffsgeschichte, Diskursgeschichte, Metapherngeschichte. Hrsg. von HANS ERICH BÖDEKER, Göttingen 2002 (Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft 14).

Franz Lebsanft

312

Bis in jüngste Publikationen hinein geht REINHART K O S E L L E C K von der klassischen semiotischen Vorstellung eines „linguistischen Dreiecks" aus, das „Wort", „Bedeutung" und „Realität" bzw. „Objekt" miteinander verbindet.3 Demgegenüber arbeitet die romanistische Sprachwissenschaft mit einem von WOLFGANG RAIBLE in den 1980er Jahren entwickelten semiotischen Fünfeck, das der 2001 jung verstorbene ANDREAS BLANK in einer ausgefeilten, gleichwohl ergänzungsfähigen historischen Semantik operationalisiert hat.4 Mein Vorschlag besteht darin, diesen linguistischen Ansatz für die Wort- und Begriffsgeschichte nutzbar zu machen.5 Das BLANKsche Bedeutungsmodell umfasst drei Schichten:6 Auf der Ebene des einzelsprachlich-sememischen Wissens (1) besteht das Semem aus einem Bündel von sprachlich repräsentierten Merkmalen als Bedeutung des Zeichens {signum als Verbindung von signans und signatum). Auf einer zweiten Ebene des einzelsprachlich-lexikalischen Wissens (2) umfasst die externe Wortvorstellung (2a) die Einordnung des Zeichens in das Diasystem der Sprache, die interne Wortvorstellung (2b) die strukturelle Verankerung des lexikalischen signum in Grammatik und Wortfamilie sowie die syntagmatischen Relationen (2c) mit den Bereichen Wortbildung und Kollokationen. Schließlich verbindet sich das Zeichen auf der - dritten - Ebene des außersprachlichen Wissens (3) mit Vorstellungen (designata), die individuellen Konnotationen (3 a) und sozial geteiltem Weltwissen (3b) entsprechen. Vor dem Hintergrund dieses Bedeutungsmodells verstehe ich unter b e griff ein Zeichen, dessen Semem (1) explizit geführten Diskussionen und gegebenenfalls spezifisch vereinbarten Fixierungen unterliegt, und zwar insofern es seinen Platz in einem fachlich genauer bestimmten Redekontext (2a, 3b) findet. Ein derart diskutiertes und unter Umständen definitorisch fixiertes Semem stellt als signatum ein Bedeutungskonstrukt dar, dem verschiedene Ausdrücke (signantes) entsprechen können. Aus diesem Ansatz ist die häufig ausgesprochene, 3

REINHART KOSELLECK: Hinweise auf die temporalen Strukturen begriffsgeschichtlichen Wandels. In: Begriffsgeschichte, Diskursgeschichte, Metapherngeschichte (Anm. 2), S. 29-47, hier S. 33. Auch die Unterscheidung von Wort-, Begriffs- und Sachgeschichte bei HARALD FRICKE: Begriffsgeschichte und Explikation in der Literaturwissenschaft. In: Interdisziplinarität der Begriffsgeschichte (Anm. 2), S. 67-72, ist diesem Modell verpflichtet.

4

BLANK ( A n m . 1), S. 9 8 - 1 0 2 ; FRANZ LEBSANFT/MARTIN-DIETRICH GLESSGEN: Histori-

5

sche Semantik in den romanischen Sprachen. Kognition, Pragmatik, Geschichte. In: Historische Semantik in den romanischen Sprachen. Hrsg von F. L./M.-D. G., Tübingen 2004 (Linguistische Arbeiten 483), S. 1-28. Siehe meine Untersuchungen zur Wort- und Begriffsgeschichte von span, imagination und fantasia, bes. FRANZ LEBSANFT: Historia de las ideas, historia de las palabras, antropologia lingiiistica. imagination y fantasia en las Siete Partidas y otros textos medievales espaftoles. In: Historia del lexico espaftol. Enfoques y aplicaciones. Hrsg. v o n JENS LÜDTKE/CHRJSTIAN SCHMITT, Frankfurt a. Μ . , Madrid 2 0 0 4

iberoamericana 21), S. 39-60. 6

BLANK ( A n m . 1), S. 8 9 - 9 6 .

(Linguistica

Die Bedeutung von altfranzösisch aventure

313

jedoch oft nicht beachtete Forderung abzuleiten, die semasiologische Analyse der Bedeutungen eines Zeichens durch die onomasiologische Untersuchung der mit diesen Bedeutungen verbundenen weiteren Zeichen zu ergänzen.

2. Eine Hypothese zu afrz. aventure: Semantische Innovation durch , Arbeit' an und mit den syntagmatischen Relationen Von diesen Überlegungen ausgehend, erlaubt die Sichtung der mir zugänglichen afrz. Belege von aventure die Erhebung einiger allgemeinerer Befunde. In der von mir überblickten französischen Literatur des Mittelalters gibt es keine Reflexe expliziter Diskussionen und natürlich auch keine definitorischen Fixierungen des sememischen Gehalts (1) des Ausdrucks aventure. Eine .fachliche' - und das wäre wohl eine im weitesten Sinne rhetorische - Begriffsbildung findet in dieser Zeit also nicht statt. Das afrz. aventure gehört zu keiner wie auch immer gearteten ,Fachprosa'. Eine externe Wortvorstellung (2a), d. h. eine in Ansätzen diasystematische Einordnung bietet allenfalls der berühmte Beleg aus Chretiens Yvain, da der Ausdruck hier an die Welt des arthurischen Hofes gebunden wird, V. 358-369: „-Je sui,fet il, uns chevaliers Qui quier ce que trover ne puis; Assez ai quis, et rien ne truis. 360 - Et que voldroies tu trover? - A v a n t u r e , por esprover Ma proesce et mon hardemant. Or te pri et quier et demant, Se tu sez, que tu me consoille 365 Ou d 'aventure ou de mervoille. - A ce,fet il.faudras tu bien: D'aventure ne saije rien, N'onques mes η 'en οϊparier. " (ca. 1177 YvainR 362, 366, 368) 7

Daher trägt die gesamte Last der modernen Rekonstruktion des signatum (1) das sei mit hermeneutischer Pedanterie erläutert - die synchrone mikrokontextuelle Analyse der internen Wortvorstellung, also der paradigmatischen und der syntagmatischen Relationen (2b, 2c). Es ist also genau darauf zu achten, in welche sprachlichen Kontexte aventure eingebettet wird und welche Satz- und Sachverhaltsschemata sich daraus ableiten lassen. Im Fall von YvainR 362 7

Ich zitiere nach den Sigeln der DEAFBibl; vgl. KURT BALDINGER: Dictionnaire 6tymologique de l'ancien fran9ais. Complement bibliographique 1993 par FRANKWALT MÖHREN, Tübingen 1993 (Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Kommission für das altfranzösische etymologische Wörterbuch); DEAFBibl ist online verfugbar (DEAFBiblEl): www.deaf-page.de.

314

Franz Lebsanft

handelt es sich etwa um das Satzschema aucuns querre/trover aventure, das unterstellt man aventure im intuitiven Vorgriff die allgemeine Bedeutung .etwas Außergewöhnliches, das jemandem widerfährt' - die von dem Substantiv intendierte Sache vermeintlich zum Gegenstand eines Willensaktes macht. Das Besondere dieses Schemas erschließt sich natürlich nur aus einem Überblick über alle möglichen Typen von Kontexten. Individuelle Konnotationen (3a) lassen sich heute nicht mehr erschließen; das sogenannte Weltwissen (3b) hingegen kann man aus den weiteren Sachkontexten der Belege erarbeiten. So ist in YvainR 362 selbstverständlich bedeutsam, dass die Rolle des Erstaktanten (aucuns) von einem Ritter übernommen wird und dass das Handeln des aventure querre/trover in den Horizont der ritterlichen Erprobung (esprover) von proesce und hardemant gestellt wird. Natürlich führt der Chretiensche Text ein Wissen über die aventure mit; er expliziert und definiert es aber gerade nicht. Daraus leite ich die These ab, dass die mittelalterliche Diskussion um den Bedeutungsgehalt des Wortes auf eine viel subtilere, implizite Weise geführt wird, und zwar durch die bewusste Auswahl vorhandener oder die Kreation neuer syntagmatischer Relationen, d. h. durch die Gewichtung bekannter oder sogar durch die Erweiterung der überhaupt möglichen Kollokationen. Ich nenne das, da Chretien hier eine besondere Rolle spielt, seine .Arbeit' mit oder an der Sprache.

3. Bedeutungsbeschreibung 3.1 Methodik Mein Bochumer Kollege KLAUS-PETER WEGERA hat eine exzellente Analyse der Wort- und Begriffsgeschichte von mhd. äventiure vorgelegt, die in mancher Hinsicht als Vorbild dienen kann.8 Methodisch möchte ich an seiner Untersuchung die Merkmale (i) Exhaustivität durch Verwendung systematisch erstellter, elektronischer Korpora, (ii) Datierung der Belege nach Handschriften, (iii) diatopische und diastratisch-diaphasische Einordnung unter Einbeziehung von Textsorten, (iv) Verwendung eines Bedeutungsmodells auf der Basis des WlTTGENSTElNschen Konzepts der Familienähnlichkeit und (v) Bedeutungsrekonstruktion unter Berücksichtigung von Kollokationen, besonders der Verknüpfungen ,Adjektiv + äventiure' und ,Verb + äventiure' hervorheben. Mangels vergleichbarer französischer Datenbanken stütze ich mich auf ein traditionell erstelltes Korpus, das die wichtigsten Texttraditionen zwischen ca. 1090 (AlexisS) und ca. 1230 (TristPrM) umfasst, ergänzt durch die Belege in 8

KLAUS-PETER WEGERA: „mich enhabe und Begriffsgeschichte von äventiure strukturelle und kulturelle Dimension. burtstag. Hrsg. von VLLMOS AGEL U. a.,

diu äventiure betrogen ". Ein Beitrag zur Wortim Mittelhochdeutschen. In: Das Wort. Seine Festschrift für Oskar Reichmann zum 65. GeTübingen 2002, S. 229-244.

Die Bedeutung von altfranzösisch aventure

315

einschlägigen Monographien, Aufsätzen und Wörterbüchern.9 Insgesamt habe ich 385 Belege, die hier allerdings nicht alle ausgebreitet werden, gesichtet. DEAFBibl (vgl. Anm. 7) ermöglicht die Datierung nach Entstehungszeit des Werks und der in den Editionen verwendeten Handschriften. Die Zugehörigkeit eines Belegs zu einer bestimmten Texttradition - ζ. B. Heiligenvita, Heldenepos, Versroman - ergibt sich unmittelbar aus der Angabe des zitierten Werks. Auf dem Hintergrund des BLANKschen Modells rekonstruiere ich die Bedeutungen mit besonderem Augenmerk auf das aventure enthaltende Nominalsyntagma und Satzschema. In Ergänzung zu den von WEGERA berücksichtigten Aspekten gehe ich nicht nur auf das Substantiv aventure, sondern auf die gesamte Wortfamilie (aventuros, aventurer; bone/male aventure; mesaventure, desaventure; aventurete; par aventure; conte d'aventure, roman d'aventure) und wenigstens in Ansätzen auch auf paradigmatische Beziehungen, d. h. also semantisch verwandte Ausdrücke, ein.10

9

ELENA EBERWEIN: Zur Deutung mittelalterlicher Existenz (Nach einigen altromanischen Dichtungen), Bonn, Köln 1933 (Kölner Romanistische Arbeiten 7), S. 27-33; ROSSANA LOCATELLI: L'awentura nei romanzi di Chrdtien de Troyes e nei suoi imitatori. In: Acme. Annali della Facoltä di Filosofia e Lettere dell'Universitä di Milano 4 (1951), S. 3-22; ERICH KÖHLER: Ideal und Wirklichkeit in der höfischen Epik. Studien zur Form der frühen Artus- und Gralsdichtung, Tübingen 2 1970 (Beihefte zur ZfromPh 97); GLYN SHERIDAN BURGESS: Contribution Ä 1'etude du vocabulaire pre-courtois, Genf 1970 (Publications Romanes et Fran9aises 110), S. 44-55; ARNULF STEFENELLI: Geschichte des französischen Kemwortschatzes, Berlin 1981 (Grundlagen der Romanistik 10), S. 77, 129, 131, 172 u. 209. Lexika zum Lateinischen, Französischen, Provenzalischen, Italienischen, Spanischen und Englischen (Sigeln nach DEAFBibl [Anm. 7]): CHARLES DUFRESNE Du CANGE: Glossarium mediae et infimae latinitatis. Editio nova aucta pluribus verbis aliorum scriptorum a LEOPOLD FAVRE, 10 Bde., Niort 1883-87, Nachdruck in 5 Bdn., Graz 1954 [DC], Bd. 1, S. 97b-c; WALTHER VON WARTBURG: Französisches etymologisches Wörterbuch. Eine darstellung des galloromanischen Sprachschatzes, Tübingen u. a. 1922ff. [FEW], Bd. 24, S. 194b-197b; ALAIN REY : Dictionnaire historique de la langue fran ,fait auquel vient aboutir une situation' > ,fait d'une certaine importance pour l'etre humain, de par son caractere exceptionnel'. Das Wörterbuch verweist auch auf mfrz. event, von dem sich das entsprechende engl. Wort ableitet.

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334

• ,Zufall4 Für ,Zufall* finden sich im Mittelalter neben aventure die Ausdrücke cas, fortune und cheance.'7 Die Entlehnungen cas und fortune verweisen auf eine aus der Antike ererbte, gelehrte Tradition, die in der mittelalterlichen Philosophie mit der Unterscheidung von ,Zufall' (Automaton) und ,Glück' (Tyche) für die natürliche' bzw. die ,intellektuelle' Form der Kontingenz weitergeführt wird.18 Sprachlich liegt wiederum das allgemeine Verfahren zugrunde, eine abstrakte Vorstellung nach dem Bild eines konkreten Vorgangs zu formen. Lat. CASUS repräsentiert das Partizip Perfekt von CADERE .fallen' (> afrz. cheoir), lat. FORTUNA verweist auf FORS und FERO .tragen, tragend bringen'. Afrz. cheance (aus lat. CADENTIA, Partizip Präsens Neutrum Plural von CADERE) meint vor allem den ,Fall der Würfel, Wurf und daher auch ,Zufall'. Aus demselben Vorstellungsbereich stammt schließlich auch das dem Arabischen entlehnte afirz. hasart .Würfelspiel; Wurf, das vom 16. Jahrhundert an zum Normalwort für .Zufall' (hasard) wird.19 • ,Glück, Unglück' Die Zusammensetzungen bone aventure ,Glück', male aventure/mesaventure .Unglück' entsprechen einem Bedürfnis nach Verdeutlichung des ambivalenten aventure, das teilweise auch die anderen Ausdrücke erfasst. Schon im Altfranzösischen werden zu positiv sich orientierendem cheance die Bildungen male cheance und mescheance geformt,20 im Mittelfranzösischen zu fortune die Unterscheidung bonne fortune vs. mauvaise fortune?1 Zu afrz. eur, das im Zusammenhang mit .Los, Schicksal' zu behandeln ist, werden bon eur .Glück' und mal eur .Unglück' geschaffen, welche die Grundlage für die nfrz. NormalWörter bonheur und malheur darstellen. yy

17 18

TL (Anm. 9), Bd. 2, Sp. 61 (cas); Sp. 339 (cheance); Bd. 3, Sp. 2163 {fortune). Vgl. STEFENELLI (Anm. 9), S. 160, 275 (cas)\ S. 146, 226 (