Im Grenzland: Reportagen aus drei Kontinenten 9783112402887, 9783879976447

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Im Grenzland: Reportagen aus drei Kontinenten
 9783112402887, 9783879976447

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Carsten Wieland Im Grenzland

Carsten Wieland

Im Grenzland Reportagen aus drei Kontinenten

KLAUS SCHWARZ VERLAG • BERLIN

Bibliografische Information ¿1er Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar unter: http://dnb.ddb.ik

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© 2008 Klaus Schwarz Verlag Berlin Erstausgabe 1. Auflage 2008 Lektorat & Satz: textintegration.de Umschlaggestaltung: J2P Berlin Titelfoto: © Henrik Jeep Foto Umschlagrückseite: © Ludovic Lanoe — Fotolia Druck: dd-ag, Birkach Printed in Germany ISBN:

978-3-87997-644-7

Inhalt Vorwort

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Nahost und Arabische Halbinsel Waghalsige Flucht vor dem Checkpoint Beten und Bangen hinter dem Erdwall Und der Jordan öffnet sich doch! Zwiespalt und Resignation im unheiligen Land Erstarrt in der Politik der Steine Die Grenzen, die heimlich wandern Drusische Hochzeiten im Minenfeld Die Wüste verschlingt den roten Stern Der endgültige Sieg des Halbmonds

21 24 41 53 59 70 75 91 119

Balkan Der multi-ethnische Traum trotzt den Granaten Rückkehr in eine geschundene Stadt Ein Leben in der ethnisch sauberen Einöde Am Horizont der Höllenstadt glänzt ein Silberstreifen Der Held, der auf der „falschen" Seite kämpfte Auf den Spuren von Alexander dem Grenzenlosen

128 150 157 164 179 184

Indischer Subkontinent Die hässliche Narbe der verfeindeten Brüder Im Tal der zitternden Erde kämpfen die „Urenkel Alexanders" ums Überleben

197 218

Lateinamerika Das Friedenslabor in der Höhle des Löwen Dreiländer-Dschungel: Ureinwohner im Fluss der Moderne

233 264

Index

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Der Autor: Dr. Carsten Wieland ist Redakteur bei der Deutschen Presse-Agentur (dpa) und Politikberater. Als Korrespondent hat er mehrere Jahre unter anderem aus dem Nahen Osten, den USA und Kolumbien berichtet. Wieland hat Geschichte, Politik, Philosophie und Internationale Beziehungen an der Humboldt-Universität Berlin, an der Duke University in North Carolina (USA) und an der Jawaharlal Nehru Universität in Neu-Delhi (Indien) studiert. Zudem lernte er in der Universität Damaskus Arabisch und war Fellow an der Georgetown University in Washington. Während des Bosnien-Kriegs berichtete Wieland 1994 als freier Journalist aus Sarajevo. Er promovierte über einen Vergleich zur muslimischen Nationsbildung und ethnischen Konflikten in Bosnien und Indien! Pakistan.

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Vorwort

„Ein Mann, wie du, bleibt da Nicht stehen, wo der Zufall der Geburt Ihn hingeworfen: oder wenn er bleibt, Bleibt er aus Einsicht, Gründen, Wahl des Bessern."

Sultan Saladin zu Nathan dem Weisen (Gotthold Ephraim Lessing, 1779)

Dieses Buch ist ein Plädoyer, den Respekt vor Grenzen zu verlieren. Es verbindet die Erlebnisse eines Reisenden und Journalisten mit Einsichten in Politik, Kultur und Gesellschaft von Grenzregionen. Einige der Reisen erlebte ich als Korrespondent ftir die Deutsche PresseAgentur (dpa). Meine Wege führten mich an Grenzen, nicht nur im geografischen Sinn. Dort tragen sich intensive Begegnungen zu, handeln Menschen widersprüchlich, hämmern sich Augenblicke des Glücks und der Trauer ins Gedächtnis ein, siegt das Menschliche mitunter über das politisch Erzwungene. Die Eindrücke eines Reporters lassen sich nicht immer in die Tagesberichterstattung pressen. Meldungen, die man im Büro oder im Hotelzimmer hektisch in den Laptop tippt, bestehen meist aus kurzen Sätzen und einfachen Linien. Das meiste — die Kuriositäten am Rande von Konflikten, die menschliche Tragik - erlebt der Journalist meist im Stillen, erzählt sie höchstens seinen Freunden und Bekannten. Oft unterscheiden sich jedoch die politische und die menschliche Perspektive deudich voneinander. Die folgenden Kapitel aus fünf Weltregionen verstehen sich daher auch als Beitrag der Geschichte von unten, die mit Mosaiksteinchen ein ungewohntes Gesamtbild zeichnet. Menschen auf beiden Seiten von Grenzen kommen zu Wort — und sprechen für sich selbst. Sie können die Trennlinie häufig nicht überschreiten und kommen doch manchmal zu verblüffend ähnlichen Ansichten wie ihre Nachbarn auf der anderen Seite. Könnten sie doch nur selbst miteinander reden...! Kein Mensch hat ursprünglich mehr Recht als ein anderer, an einem bestimmten Ort der Erde zu sein. Davon war der Königsberger Philosoph Immanuel Kant überzeugt. Außerdem, so schrieb er, ist die Erde 7

bekanntlich eine Kugel, und ihre Oberfläche damit begrenzt. Also müssen Menschen einen W e g finden, irgendwie miteinander auszukommen. Sie können sich abschotten und Grenzen ziehen oder sie wagen sich zu öffnen, miteinander Handel zu treiben, zu reisen und sich gedanklich auszutauschen. Diese Option nannte Kant Kosmopolitismus. Er entspringt der Vernunft und kommt dem nahe, was wir heute unter Globalisierung oder Mondialisierung fassen. Die neuen Begriffe beschreiben allerdings soziale, politische und wirtschaftliche Phänomene. Das Weltbürgertum, der Kosmopolitismus, ist mehr: eine menschliche Grundeinstellung, eine Weltanschauung. Den Konzepten ist dennoch eines gemeinsam: Sie scheren sich nicht um künstliche, von Menschen gezogene Grenzen. Ihr Gegenstück nannte Kant den Nationalwahn, gespeist aus blindem Instinkt, den die Vernunft bekämpfen müsse. Diese triebgesteuerte Abgrenzung sollte sich hartnäckiger auf der Erde festkrallen, als der Königsberger — der übrigens selbst kaum reiste — im 18. Jahrhundert annehmen konnte.* Kants

humanistische,

kosmopolitische

Idee

ist

ein

Grundsatz

menschlicher Größe. Er hilft, das Gemeinsame in den Bewohnern der Erdkugel zu suchen. Öffnung verlangt M u t , die natürliche und gleichsam - in Kants Worten — „tierische" Angst vor dem Fremden zu überwinden und das Gemeinsame zu erkennen. W e r mit offenen Augen reist, wird feststellen: O b im abgelegenen Bergdorf im Jemen, in den rauen Tälern des Hindukusch oder in der unendlichen Weite des Amazonas — überall finden sich gemeinsame Gedanken, ähnliche Gefühle und vielleicht auch ein gemeinsamer H u m o r . W e r

mit

Fremden lachen kann, hat bewiesen, dass die menschliche Verbindung tiefer ist, mögen die Traditionen, Bräuche und Wertvorstellungen auch noch so verschieden sein. Kants Kosmopolitismus ist nicht als naiver globaler Anarchismus zu verstehen. Irgendwie müssen sich Gesellschaften ja organisieren. Uber-

* In Kants Sprache klingen diese Gedanken so: „[A]llen Menschen [steht zu], sich zur Gesellschaft anzubieten vermöge des Rechts des gemeinschaftlichen Besitzes der Oberfläche der Erde, auf der als Kugelfläche sie sich nicht ins U n endliche zerstreuen können, sondern endlich sich doch nebeneinander dulden müssen, ursprünglich aber niemand an einem Orte der Erde zu sein mehr Recht hat, als der andere." Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden, 1795. Die Stelle über Kosmopolitismus und Nationalwahn findet sich in Kants handschriftlichem Nachlass zur .Anthropologie in pragmatischer Hinsicht", 1798.

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schaubare und handhabbare Einheiten sind daher notwendig. Das war auch Kant klar. Doch seine Forderung, überall auf der Erde weilen zu dürfen, provoziert. Die Lebensbedingungen in Regionen der Welt sind äußerst unterschiedlich und die Mobilität der Menschen inzwischen sehr hoch. Wörtlich genommen, könnte dies zu riesigen Wanderungsbewegungen führen. Doch der Trend geht eher in die andere Richtung. Seit den Anschlägen vom 11. September 2001 in N e w York und Washington versuchen sich besonders die westlichen Staaten von Gefahren und demnach auch von Menschen aus „Gefahrenregionen" abzuschotten. Kontrollen, Zäune und neue Grenzen entstehen - auch innerhalb unserer Gesellschaften. Grenzen gewinnen und verlieren an Bedeutung, je nachdem wie es der Zeitgeist gerade diktiert. Sie sind nicht immer Trennlinien, sondern könnten auch Schnittstellen sein. Doch meist sprechen wir von Grenzen im „harten" Sinn. Grenzen sind besonders seit dem 19. Jahrhundert, im Zeitalter des Nationalismus, emotional beladen und zum Selbstzweck verkrustet. Dabei macht es Sinn, sich als Gegengewicht die Willkürlichkeit, Kurzlebigkeit und Beweglichkeit von Grenzen vor Augen zu führen, wie es die Reportagen in diesem Buch tun. Schon 1882 hatte der französische Religionshistoriker Ernest Renan gewarnt: „Der Mensch ist weder Sklave seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Religion, noch des Laufs der Flüsse oder der Richtung der Gebirgsketten." Grenzen lassen sich dann bewegen, wenn Menschen es wollen. Wie oft hat das Elsass zwischen Deutschland und Frankreich die Seiten gewechselt; ganze Länder wurden auf der Landkarte verschoben, wie Polen; andere Staaten verschwanden, wieder andere tauchten durch Abspaltung plötzlich auf; unüberwindlich geglaubte Grenzen fielen plötzlich in sich zusammen, wie die Berliner Mauer und der gesamte Eiserne Vorhang quer durch Europa. Längst ist nicht klar, was eine Nation bedeutet und was die Menschen gemeinsam haben und tun müssen, um eine Nation zu sein. Das hielt Romantiker wie Johann Gottfried von Herder am Ende des 18. Jahrhunderts und Anfang des 19. Jahrhunderts nicht ab, die N a tion einem organischen Wesen mit eigener Seele gleich zu setzen. Für den Sprachwissenschaftler definierte sich das Volk durch seine Sprache und ist „sowohl eine Pflanze der Natur als eine Familie". Gesellschaft sollte zur Gemeinschaft werden. Grenzen markierten so auch kulturelle Gräben. U n d Kontraste tendieren dazu, zu den Grenzen

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hin schärfer zu werden. Das alles entstand freilich in den Köpfen der Menschen und schlug sich nirgendwo in der Natur nieder. Menschen dachten sich entzwei. Trennungen und Bindungen versteinerten allerdings zu einer „fiktiven Realität", wie der Berliner Ethnologe Wolfgang Kaschuba es nannte. Herders Ideen wuchsen bald zusammen mit der Vorstellung, dass jeder Nation ein eigener Staat gebühre, obwohl der Nationalstaat selbst ein Mythos blieb. Die meisten Staaten dieser Welt beherbergen in ihrem Territorium Menschen verschiedener Herkunft, Religionen oder sogar Sprachen (wie in Indien) und sind weit davon entfernt, ein „ethnisch" homogenes Gebilde zu sein. Eine letzte Konsequenz dieses Ideals sind „ethnische" Vertreibungen. Mit Gewalt passen sie die Lage auf dem Boden dem fragwürdigen Programm an, wie im BosnienKrieg geschehen. Die vereinfachte Sichtweise „Staat gleich Nation" und „Nation gleich Staat" verhärtete Grenzen derart, dass EthnoNationalisten, wie im kolonialen Indien, wagten, eine von Menschen gerade erst erdachte Trennlinie als „Naturgesetz" und als ewig bestehend darzustellen oder als etwas, das bis in die Steinzeit zurück reicht. Vor langer Zeit, als die Erde dünner besiedelt war, hatten Grenzen eine weichere Bedeutung. Natürliche Trennlinien dienten als Orientierung. In den fünf Jahrhunderten vor unserer Zeitrechnung gingen große Eroberungszüge in die Geschichte ein - durch Alexander den Großen, Dschinghis Khan, die Römer und andere - und mit ihnen die Zeit der großflächigen Reiche. In ihnen herrschte eine Vielfalt von Völkern, Lebensformen und Sprachen. Ihre Außengrenzen waren schwer zu bewachen und brüchig. Minderheiten im Inneren empfand niemand als störend. Im frühen Mittelalter ging vor allem in Mitteleuropa der Trend wieder zurück zu Fürstentümern und kleinkarierten Mini-Grenzen, während sich woanders große Einheiten, wie das Osmanische Reich, vom späten Mittelalter bis in die Neuzeit hinein hielten. Auch groß, aber in ihrer Natur ganz anders, waren die Kolonialreiche der europäischen Mächte, die bis zum Ersten Weltkrieg 1914 die Landkarte prägten. Durch sie entstanden vielerorts neue, willkürliche Grenzen. Ob im Nahen Osten, Asien oder Afrika, Trennlinien durchschnitten plötzlich Gebiete, auf denen Beduinen, Stämme und Gesellschaften früher frei umher gezogen waren oder sich gemeinsam angesiedelt hatten. Die europäischen Kolonialherren kopierten in den eroberten Regionen das europäische Staatenprinzip. Doch statt so 10

genannter Nationalstaaten entstanden meist willkürlich zusammen gewürfelte Einheiten ohne emotionale „Nationsfüllung". Das birgt Konfliktstoff bis heute. Nirgendwo sonst auf der Welt sind Grenzen so ideologisch durchtränkt wie im Nahen Osten. Ein kleines Fleckchen Erde gilt religiösen Eiferern als Bestandteil historischen Rechts, als Gott gegeben und heilig. Wenig anders verhält es sich folglich mit den Grenzen, die den brisanten Boden politisch umrahmen. Vom Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern, der in vieler Hinsicht zum blutigen Nabel der Weltpolitik geworden ist, handelt der erste Teil des Buchs. Menschen sprechen über Frust und Enttäuschungen, über ihre Hoffnungen auf Frieden oder ihre Furcht vor der „anderen Seite". Ob im israelischen Tel Aviv, israelisch-palästinensischen Jerusalem oder palästinensischen aber israelisch besetzten Bethlehem — die Momentaufnahmen zum Zeitpunkt größter Auseinandersetzung im Jahr 2002 enthüllen trotz Frust und Hass auch menschliche Züge links und rechts der Front. Heute, nur wenige Jahre später, haben sich Grenzen erneut verschoben. Der Konflikt ist keiner Lösung näher gekommen, aber um eine Grenze reicher. Im Juni 2007 eroberten islamistische HamasKämpfer brutal die Schaltstellen des Gaza-Streifens, den israelische Truppen auf Anweisung der Regierung Sharon im September 2005 von jüdischen Siedlern gewaltsam geräumt hatten. Nun sind Palästinenser — als Opfer und Täter zugleich — zwischen Fatah- und HamasGebieten zerrissen. Der Gaza-Streifen und das Westjordanland sind nicht mehr nur geographisch, sondern auch ideologisch getrennt. Zwar kann auf wenigen Seiten nicht der komplexe Nahost-Konflikt erklärt werden, doch will das Kapitel politische Zusammenhänge aufzeigen, weil in dieser Region vieles eng mit Debatten über Grenzen verknüpft ist. Dazu gehört der schleichende Ausbau jüdischer Siedlungen im Westjordanland ebenso wie das Ringen um einen palästinensischen Staat, das nicht zuletzt im Streit um den „unteilbaren" Tempelberg in Jerusalem in eine Sackgasse geriet. Muslime wie Juden verankern religiöse Mythen im selben Hügel. Grenzen zu ziehen erscheint hier unmöglich. Das Tauziehen um die Souveränität über das religiöse Heiligtum ist so weit eskaliert, dass inzwischen der Querschnitt durch einzelne Gesteinsschichten als religiöse und sogleich politische Markierung dient. Hier erhält der Ursprung des Wortes Geschichte neue Bedeutung. Bei diesen Feinheiten und gezielten 77

Rückgriffen auf bestimmte Teile uralter Vorzeit kommt Archäologen, wie in jenem Kapitel zu lesen, eine wichtige Aufklärungsarbeit zu. Zum Kontrastprogramm zählt eine Reise, die verfeindete Grenzen überwindet, den Menschen in der gespaltenen Region jedoch unmöglich ist. Für einen Europäer stellen sich nur bedingte Hindernisse in den Weg zwischen Israel, Jordanien und Syrien hin und her zu pendeln. Die Hürden bestehen aus einem hohen Stressfaktor, weniger aus einer Bedrohung für das eigene Leben. Mit nur einem Pass, viel Glück und freundschaftlicher Hilfe gelang mir ein schlecht vorbereiteter Spontan-Besuch von Tel Aviv nach Damaskus und wieder zurück. Die Kontraste im Alltag beider Metropolen sind Atem beraubend. Welten scheinen zwischen den beiden Seiten zu liegen. Dabei könnte man in vier Stunden von Tel Aviv nach Damaskus fahren, gebe es eine Autobahn zwischen den Städten. Die Strecke würde jedoch über die Golanhöhen führen, die zum Symbol der israelisch-syrischen Feindschaft geworden sind. Unter der israelischen Besatzung des Gebirgszugs leidet besonders eine bestimmte Volksgruppe, die Drusen. Seitdem die Grenze 1967 am Ostrand des Golans verläuft, zieht sich ein scheinbar unüberwindlicher Graben durch die religiöse Minderheit, zwischen Familienangehörigen auf israelischer Seite und Verwandten in Syrien. Lange Zeit war der Zaun am „Berg der Rufe" für sie die einzige Möglichkeit, sich aus der Ferne zu sehen und Neuigkeiten auszutauschen. Aber auch diese Grenze hat Lücken bekommen. Drusinnen dürfen zwischen den Schlagbäumen an einem kleinen Checkpoint in eine Familie auf der anderen Seite heiraten. Doch es ist eine Entscheidung ohne Rückkehr. Denn sie werden ihr Elternhaus nie wieder sehen. Nur das Internet durchbricht inzwischen die Trennlinie: Statt auf den Berg zu laufen, setzen sich immer mehr junge Drusen an den Bildschirm und tippen E-Mails auf die andere Seite. Damit haben sie weitaus mehr Kontakt untereinander diesseits und jenseits der feindlichen Staatengrenze als die meisten Israelis und Palästinenser, die (noch) im gleichen Staat leben. Der Begriff des Fremden erhält durch den unbeschwerten Informationsfluss eine neue Dimension. Fremd sein ist keine Frage der geographischen Entfernung mehr, sondern wird abhängig von Kommunikation. Sicher trifft dies oft nur auf Eliten zu, die einen Zugang zum Handy oder Modem haben. Doch Zeit, Raum und Unterschiede schrumpfen für immer mehr Menschen. 72

Das machen sich auch Terroristen zu Nutze, die ohne nationale Schranken blitzschnell agieren. M i t den Anschlägen vom 11. September 2 0 0 1 erreichte diese Erkenntnis eine neue Dimension. M i t diesem Datum ist auch ein Land ins neu justierte Rampenlicht der Weltpolitik gerückt, das ich zuvor unter ganz anderen Vorzeichen kennen gelernt hatte: der Jemen. Dort wurde Osama bin Laden geboren, und dort hat der fanatische Terrorist im islamischen Gewand eigene Kampf-Einheiten. Doch es wäre zu kurz gegriffen, den Staat am südlichen Zipfel der Arabischen Halbinsel nur mit dem internationalen Terrorismus in Verbindung zu bringen. Das zeigen Eindrücke und die Menschen der faszinierenden Region im dritten Teil des Buches. Die Reportagen gehen auf die Suche nach einer besonders skurrilen Trennlinie — einer ideologischen System-Grenze quer durch die W ü s te. Fast vergessen ist die Zeit, als es neben zwei Deutschlands auch zwei Jemens gab, ein islamisch-kapitalistisches im Norden und ein sozialistisches mit säkularem Anspruch im Süden. Doch was ist vom Wüsten-Kommunismus in Mitten von Religion, Stammeskultur und Prä-Kapitalismus überhaupt übrig geblieben? Den ersten Eindrücken im Jahr 1992 folgt eine Wiederkehr sechs Jahre später. Inzwischen war die friedliche Vereinigung des Landes durch einen blutigen Bürgerkrieg überschattet worden. Hohe Dünen liegen auf dem W e g zur Vollendung der bisher einzigen Demokratie auf der Arabischen Halbinsel. Die friedliche Vereinigung Europas gilt vielen in der arabischen Welt als unerreichtes Vorbild. In Europa haben politische Grenzen in einem solch revolutionären Ausmaß an Bedeutung verloren, dass Kant seine Freude daran gehabt hätte. Schlagbäume wurden nieder gerissen, Grenzposten abgebaut, Kontrollen zur großen Ausnahme gemacht. Das Inkrafttreten des Schengener Abkommens 1995 hatte niemanden mehr so richtig überrascht. Nur einige ältere Europäer, die den Zweiten Weltkrieg am eigenen Leibe erleben mussten, hatten Freudentränen in den Augen. Die Jungen haben sich längst daran gewöhnt, Grenzen frei und ohne Schikanen überqueren zu dürfen. Der Eintritt von zehn meist osteuropäischen Staaten (Estland, Lettland, Litauen, Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn, Slowenien, Malta und Süd-Zypern) in die EU im M a i 2004 und von Rumänien und Bulgarien im Januar 2 0 0 7 hat diese politische und administrative Meisterleistung abgerundet. Bald wird auch dies eine Selbstverständlichkeit sein. Dabei lag einer der blutigsten Kriege in Europa nur fünfzig Jahre zurück, eine Generation entfernt. 13

In den Jahrhunderten zuvor war Krieg der Normalfall. Grenzen wurden mit militärischer Gewalt verschoben statt per Dekret durchlöchert. Jetzt scheint der Spieß umgedreht: Friede und offene Grenzen werden als Normalfall begriffen. Ein wichtiger Paradigmenwechsel, zumindest in Europa. Am 22. Januar 2003 tagten sogar die Parlamente zweier ehemaliger Erzfeinde, die Französische Nationalversammlung und der Deutsche Bundestag, zum ersten Mal gemeinsam, in Versailles, dem historischen Ort gegenseitiger Demütigungen. Ein anderes Datum zeigt, wie zerbrechlich Hoffnungen sein können, und wie wenig selbstverständlich die gegenwärtige Entwicklung der Europäischen Union ist. Im gleichen Jahr 1992, als die Ratifizierung des Maastrichter Vertrags die EU enger zusammen schweißte, brach nur 500 Kilometer Luftlinie von München entfernt der brutalste Krieg auf europäischem Boden seit 1945 aus. In Bosnien-Herzegowina hetzten fanatische Ethno-Nationalisten Menschen aufeinander, die sich in nichts als Religion voneinander unterschieden und Jahrzehnte lang friedlich zusammen gelebt hatten. Die EU, die noch im Prozess war, sich außenpolitisch zusammen zu raufen, stand Jahre lang konzeptlos wie angewurzelt daneben. Vom Leben der Menschen während des Bosnien-Krieges — den niemand so richtig verstand — handelt der zweite Teil des Buchs. Mit einem UNO-Frachtflugzeug, einer Art Rosinenbomber, flog ich in das umzingelte Sarajevo. Für Zivilisten war das damals eine fast unüberwindliche Grenze, freilich erst recht in die entgegengesetzte Richtung. Drinnen im Kessel zerbrachen viele Trennlinien, welche auch die Medien gezogen hatten. Die drei „ethnischen" Blöcke, die sich angeblich bekämpften, zerfielen in zahlreiche Einzelschicksale. Die ethnischen Grenzen verliefen keineswegs so geradlinig, wie es die Kriegstreiber wahr machen wollten. Die Menschen, die hier zu Wort kommen, bringen mehr Licht in diesen Konflikt als zahlreiche Medienberichte oder politische Erklärungsversuche. Als ich sechs Jahre später wieder nach Bosnien kam, waren die ehemaligen Frontlinien passierbar. In der Stadt traf ich alte Bekannte aus Kriegszeiten, die überlebt hatten und mit ihnen die Vision einer ungeteilten Stadt ohne „Berliner Mauer" mit „ethnischen" Sektoren. Auf der anderen Seite der Berge traf ich junge Menschen — Serben — die sich im neu geschaffenen „ethnisch reinen" Gebiet langweilten. Am liebsten würden sie auswandern ins multi-kulturelle Australien oder in den meltingpot USA. In Srebrenica dagegen stieß ich auf ei14

nen Greis, der als erster Muslim den Mut hatte, in die Stadt des Massakers von 1995 zurück zu kehren. Wie vor dem Krieg sind er und seine alte serbische Nachbarin enge Freunde. Ein Silberstreifen in der „Stadt des Silbers". Mehr Vergangenheit als Zukunft drängte sich dagegen auf der Reise vom EU-Staat Griechenland in das junge Land Mazedonien auf. In der Region tobte der Streit, wem als nationales Erbe Alexander der Große und damit der Name Mazedonien zufallen sollte. Die Debatten kreisten um neue staadiche, alte „ethnische" oder uralte Reichsgrenzen aus der Antike, die eigentlich bis an den Hindukusch reichen müssten. Dort, am Hindukusch, regierten lange Zeit die Briten. Die ehemalige Kolonialmacht hat großen Anteil daran, dass heute eine feindliche Grenze den Subkontinent durchschneidet. Vor ihrem Abzug aus Indien 1947 gaben sie einer gut organisierten Strömung muslimischer Ethno-Nationalisten nach und ließen die Gründung Pakistans zu. Damit lösten sie Millionen Menschen starke Flüchtlingsströme und einen schwelenden Dauerkonflikt zwischen beiden Bruderstaaten aus, die inzwischen sogar Atom-Mächte geworden sind. Die indo-pakistanische Grenze ist auch für Reisende eine ganz besondere Herausforderung, wie im dritten Teil des Buchs deutlich wird. Schikanen auf beiden Seiten, Misstrauen und ein fast sportlicher Trieb, der Gegenseite eins auszuwischen, prägen die Stimmung an der Trennlinie zwischen Amritsar und Lahore. Mit gefälschtem Visum und geschmuggelten Geldnoten erreiche ich nach sechs Stunden Kampf, Tricks und Tumulten die andere Seite. Damals konnten Reisende die Grenze nur zu Fuß überqueren, was inzwischen sogar mit einer Bus- und einer Bahnlinie möglich ist. Uberraschend begegne ich in Pakistan Jugendlichen, die aus ihrer Verachtung vor ihren Politikern keinen Hehl machen und sich eine offene Grenze wünschen. Schließlich sprechen sie die gleiche Sprache wie die Inder und schauen die gleichen Kino-Filme. Per Internet sind sie ohnehin verbunden. Doch angesichts des politischen Misstrauens auf beiden Seiten erscheint ihr Wunsch in weiter Ferne. An der anderen Flanke Pakistans stoße ich dagegen auf eine offene Grenze. Kurz vor meiner Reise im Dezember 1996 hatten die Taliban Kabul eingenommen und damit ihre Herrschaft über fast ganz Afghanistan ausgedehnt. Die fanatischen Mullahs wurden in den Koranschulen Pakistans ausgebildet, und Pakistan sah das Nachbarland als geeigneten Hinterhof für seine Interessen. Irgendwo dazwischen, 15

in den rauen Bergen des Hindukusch, hat ein kleiner färben- und lebensfroher Stamm überlebt. Die Kalash haben mit den muslimischen Traditionen ihrer Umgebung nichts zu tun. Stattdessen schauen sie nach Europa und leiten ihre Herkunft selbstbewusst — wenn auch unbewiesen — von dem mazedonischen Heerführer Alexander dem Großen ab. Sie bauen W e i n an, opfern Ziegen, sagen Erdbeben voraus und machen sich Sorgen um das Uberleben ihrer Kultur. Nur noch 3 000 von ihnen gibt es. Viele treten zum Islam über. Dennoch: In den drei verschlafenen Tälern, jenseits der großen Politik feiern Kalash und Muslime zusammen und heben sogar auch mal einen Becher Rebensaft gemeinsam. Lange werden sie jedoch nicht mehr Gelegenheit dazu haben... Nahe an einer Grenze zu leben, kann, wie für die Kalash, ein Segen sein. Die Abgeschiedenheit war lange Zeit ihr Schutzraum. Für andere wird die Nähe zur Grenze zum Verhängnis, wie vielen Einwohnern im südlichen Kolumbien. In dem vom Bürgerkrieg gebeutelten Land bestehen Trennungen nicht einmal als Staatsgrenzen. Doch sie sind weitaus gefährlicher und blutiger als die meisten völkerrechtlichen Linien, wie der letzte Teil des Buchs zeigt. In der Guerilla-Zone der FARC, der größten Rebellengruppe des Landes, traf ich Menschen, die fast täglich um ihr Leben bangen mussten. Zwar war es im autonomen „FARClandia" im Jahr 2000 noch recht still. Aber es war die Ruhe vor dem Sturm. Die Viehhändler und Bauern schauten mir nicht in die Augen, wenn sie Angst hatten. Ihr Blick blieb fest auf den Boden geheftet. Einige litten unter dem eisernen Gesetz der Guerilla, andere suchten unter der Herrschaft der Rebellen Schutz vor den mordenden Schwadronen der Paramilitärs, die an den Außengrenzen der Zone wie Wölfe um eine Schafsherde lauerten. Ich begegnete traurigen, aber auch fröhlichen und herzlichen Menschen in dieser Kunstwelt, aus der sich die Regierung militärisch zurückgezogen hatte. Das Leben ging natürlich auch unter der Guerilla weiter - mit Salsa-Partys, Fußballturnieren, Hahnenkämpfen und zwielichtigem Nachtleben. Die Normalität lullte ein. Ich konnte mich frei bewegen — bis ich einen folgenschweren Fehler beging und schleunigst das Rebellenreich verlassen musste. Zwei Jahre später marschierte das Militär wieder in die Zone ein, und einige Einwohner, die mit der Guerilla kollaborieren mussten, rannten erneut um ihr Leben. Weitaus ruhiger leben die Menschen im tiefen Dschungel des Ama16

zonas-Gebietes. Im Dreiländereck zwischen Kolumbien, Brasilien und Peru haben Grenzen kaum eine Bedeutung. Der Reisende sucht vergeblich nach Schlagbäumen, Grenzposten und Stacheldrahtzäunen, als sei er im Schengenland. Die Bevölkerungsinsel im Urwald hat keine Landverbindungen zu den erschlossenen Gebieten der jeweiligen Staaten. Trotzdem sitzen die Einwohner in unterschiedlichen nationalen „Filmen". Die einen gehen gerade wählen, die anderen machen sich Sorgen um die Guerilla, die dritten drückt die Wirtschaftskrise im Land. Satellitenschüsseln verbinden die Menschen mit ihrem jeweiligen nationalen Programm, dabei leben sie nur wenige Dutzend Meter voneinander entfernt. Wieder andere Probleme kreisen in den Köpfen der Ureinwohner des Amazonas. Um zu ihnen zu gelangen, musste ich zweimal nationale Grenzen überqueren, zwei Flugzeuge und ein Holzboot nehmen. Anders als die Weißen, die blancos, haben die indigenas lediglich Respekt vor Flüssen, nicht vor menschlichen Grenzen. Doch jetzt müssen auch sie lernen, wie ein Staat funktioniert. Denn nur so können sie ihre eigenen Interessen vertreten und die Autonomie schützen, die ihnen Kolumbien seit 1991 gewährt. Zehn Tage verbrachte ich mit Eingeborenen im Urwald an einem Seitenfluss des Amazonas, aß Fisch und nochmals Fisch, kämpfte mit Moskitos, duschte mit Regenwasser und erfuhr allmählich, was die indigenas am meisten fürchteten: Neben dem weißen Mann - „der uns nie zuhört" — haben sie besonders Angst vor der Guerilla. Die Rebellen überschreiten jetzt auch deren Grenzen, dringen in ihre Schutzzone ein und unterwerfen sie ihren Gesetzen. Wenn sie schon ihre traditionelle Lebensform nicht mehr aufrecht erhalten können, möchten die Ureinwohner am Amazonas zumindest selbst bestimmen können, wie schnell und wohin die Entwicklung gehen soll. Wie sie erzählten, sind sie Neuerungen gar nicht abgeneigt. Neben Motorbooten und Benzin wünschten sie sich vor allem eines: Handys. Damit könnten sie besser von Dorf zu Dorf kommunizieren. Die Bedürfnisse und Verrücktheiten der Menschen in den verschiedensten Nischen der Erdkugel ähneln sich verblüffend. Auch das ist ein Teil der Globalisierung. Schon 1921 stellte der indische Philosoph Rabindranath Tagore fest: „Die Welt ist im Begriff, durch die technischen Erleichterungen zu einem einzigen Land zu werden." Der Streit, ob diese Entwicklung für die Menschen, oder gar die 77

Menschheit, eher gut oder schlecht ist, wird ebenso weiter gehen wie die Eigendynamik, die sie ausgelöst hat. Immanuel Kant dürfte in einem zufrieden sein: Menschen überall tauschen sich mehr aus als früher und handeln mehr miteinander. Damit sind sie in der Regel eher an Frieden interessiert als an Krieg, der Kommunikation und Märkte zusammen brechen lässt. Doch Kants gewagtes Postulat, dass jeder überall auf der Erde sein dürfen soll, konnte sich bisher nicht durchsetzen. Ein Hindernis sind weiterhin harte Grenzen durch Feindschaft oder Abschottung. Das andere Problem: Nur für relativ wenige, die den richtigen Pass besitzen und die nötige Reisekasse haben, ist die Grenzenlosigkeit greifbar. Der Ureinwohner aus dem Amazonas, der Druse aus den Golanhöhen, der Student in Lahore oder gar manch Bosnier aus Sarajevo hat kaum eine Chance in umgekehrter Richtung ähnlich unbeschwert die Welt zu entdecken. Kosmopolitismus als Philosophie und Maxime ist damit nicht am Ende. Doch solange eine kulturelle Einbahnstraße besteht, wird das praktische Lebensgefühl des Weltbürgertums ein Luxus weniger bleiben. Jahrelang radelte ich in Berlin an einem Graffiti-Spruch vorbei, der mir zu denken gab. Er war in weißer Farbe an die zerbröselnde Wand eines besetzten Hauses gepinselt, wenige Meter neben dem einstigen deutsch-deutschen Mauerstreifen in Kreuzberg: „Die Grenze verläuft nicht zwischen den Völkern, sondern zwischen oben und unten." Dass dieses Buch entstehen konnte, danke ich allen Menschen, die mich auf meinen Reisen aufgenommen und mir von ihren Gedanken, ihrem Leben und ihren Abenteuern berichtet haben - auf welcher Seite einer Grenze sie auch immer lebten. Manchmal sind dabei auch lange Freundschaften entstanden. Ich bedanke mich ebenfalls bei den Wissenschaftlern und Journalisten, die Informationen geprüft und Kapitel kritisch gegengelesen haben, insbesondere Zdravko Ljubas von dpa in Sarajevo, dem deutschen Archäologen Dr. Gunnar Lehmann von der Universität in Berschewa (Israel), dem Sprachwissenschaftler und Orientalisten Prof. Dr. Eckehard Schulz von der Universität Leipzig, dem Ethnologen Dr. Ronald Barghuti von der Österreichischen Orient-Gesellschaft Hammer-Purgstall in Wien und Dr. Sabine Kurtenbach vom Institut für Iberoamerika-Kunde in Hamburg. Für wertvolle Anmerkungen, die das Buch besser gemacht haben, bin 18

ich Annegret Schober und Annette Pöschel zu großem Dank verpflichtet. Für Überspitzungen oder Auslassungen bin freilich ich selbst verantwortlich. Schließlich danke ich der Deutschen Presse-Agentur, die mir ermöglicht hat, dieses Projekt und viele andere Abenteuer zu beginnen und zu vollenden. Carsten

Wieland

Berlin, im Juli

2007

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Nahost und Arabische Halbinsel Waghalsige Flucht vor dem Checkpoint Ramallah, im Mai 1999 Kurz vor dem Checkpoint an der Stadtgrenze zu Jerusalem reißt der Fahrer plötzlich den Lenker herum. Er biegt nach rechts in eine kleine Seitenstraße ein. Wir fahren an niedrigen, schmutzig-grauen Wohnhäusern vorbei. Wäsche hängt auf den Leinen. „Wohin fahren Sie?", frage ich, etwas irritiert, und tippe dem Taxi-Fahrer von hinten auf die Schulter. Keine Antwort. „Wohin fahren wir?", wiederhole ich. Bleierne Stille. Keiner der Mitfahrer erwidert meine Blicke. Die jungen Männer starren geradeaus. „Ich will zurück auf die Hauptstraße!", rufe ich. Der gestreckte Mercedes-Pullmann knallt immer häufiger in Schlaglöcher. Die Straße steigt leicht an und gelangt an eine freie Fläche. Dann lenkt der Fahrer scharf nach links und verlässt den Asphalt. Felsbrocken krachen an den überlangen Fahrzeugboden. Die Chassis knistert wie in einem U-Boot, das seine maximale Tauchtiefe unterschreitet. „Ich will nach Jerusalem. Und wo wollen Sie hin?", starte ich einen neuen Versuch, diesmal energischer. „Wir auch", meint einer knapp. Inzwischen hat sich das Auto so weit nach vorne geneigt, dass es sich sofort überschlagen würde, wenn der Fahrer nicht mehr streng senkrecht hinab steuerte. Felsbrocken schaben weiter am Unterboden, der Wagen wippt bedrohlich von einer Seite auf die andere. Begonnen hat die Fahrt in Ramallah, das zu dieser Zeit noch offiziell unter Verwaltung der Palästinensischen Autonomie-Behörde steht. Im Mai 1999 ist die palästinensische „Hauptstadt" noch eine pulsierende Mini-Metropole. Israel steht kurz vor der Ablösung des Hardliners Benjamin Netanjahu und der Wahl des Kandidaten der Arbeitspartei, Ehud Barak, zum Ministerpräsiden. Hupende Autos drängen sich durch die Straßen im Zentrum und um den Kreisel, der später immer wieder in Fernsehbildern erscheinen sollte, als aufgebrachte palästinensische Mobs mutmaßliche Kollaborateure mit Israel öffentlich abschlachteten. Doch jetzt sind die Geschäfte voller Leben. Die Menschen wuseln mit Taschen und Paketen umher. Bevor ich in das zwielichtige Taxi stieg, war ich vom Besuch einer befreundeten palästinensischen Familie in Nablus gekommen. Die Landstraße war 21

zu dem Zeitpunkt noch frei und das Innere des Westjordanlands gut im Sammeltaxi zu erreichen. Auf der Rückfahrt von Nablus hatte mich ein Taxi im Stadtzentrum von Ramallah abgesetzt. Ich schaute mich nach den orangefarbenen Mercedes Pullmann-Limousinen um, die zwischen Ramallah und Jerusalem pendeln. Eine Handvoll Pullmanns parkte vor einer Ladenzeile und ich rief „Jerusalem?". Doch statt der prompten Einladung, Platz zu nehmen, gaben mir umherstehende Palästinenser widersprüchliche Zeichen. Sie zögerten, mir eine Limousine zuzuweisen, obwohl sich die Passagiere normalerweise über jeden weiteren Mitfahrer freuen, damit sich der Wagen endlich füllt und losfahren kann. „Ja", wiegelte einer umständlich ab. „Der fährt nach Jerusalem, aber der ist nicht gut." Den Grund wollte er nicht nennen. Das ging so mehrere Minuten lang. Ich rätselte, worin das Problem liegen könnte. Die Fahrt nach Jerusalem - oder Al-Quds, wie es die Araber nennen — dauert kaum zwanzig Minuten. Schließlich winkte mich ein Fahrer mit einer ganz kurzen Handbewegung in seinen Mercedes. Man merkte ihm an, dass ihm etwas unangenehm war. Im Wagen wurde mir bewusst, dass um mich herum nur junge Männer saßen, so Mitte zwanzig. Die meisten mit einem rauen Dreitage-Bart. Das Taxi fuhr los. Keiner der Passagiere sprach ein Wort. Ich machte mir weiter keine Gedanken und blätterte in meinen Notizen. Doch jetzt poltere ich mit ihnen auf einmal den steilen Berghang hinunter. „Wo wollen Sie hin?!", rufe ich schließlich verärgert. Der Mercedes quält sich durch eine Bachsenke. Weit vor uns reihen sich die ersten Häuserblocks von Jerusalem auf. „Wir wollen nach AlQuds", rafft sich endlich einer auf. „Aber keiner von uns hat ein Permit." Ich muss schlucken. Wir überqueren also illegal mit einem Wagen von Schwarzarbeitern die Grüne Grenze ins israelische Kernland. Ich bin unfreiwillig Zeuge geworden von den Strapazen und Risiken, die viele Palästinenser auf sich nehmen müssen, um ihre Familien mit schwarz verdienten Schekeln zu ernähren. Zu dieser Zeit können Palästinenser, die das Glück haben, ein Permit zu besitzen, noch mehr oder minder regelmäßig in Israel arbeiten. Doch auch das änderte sich ab der zweiten Intifada im Jahr nach meiner Reise und spätestens seit der Operation Schutzschild mit der Wiederbesetzung und Abriegelung des größten Teils des Westjordanlands von April 2002 an. 22

Schwer vorstellbar, dass die israelischen Soldaten von dem Schleichweg nichts mitbekommen haben. Erst im Nachhinein ist mir die Gefahr bewusst geworden. Aber die Episode zeigt, dass vieles trotz strenger Kontrollen möglich war. Drei Jahre später wäre ein so waghalsiges Manöver tödlich ausgegangen. Zur Abwehr von Selbstmord-Attentätern hat Israel inzwischen versucht, die Grenze mit einer acht Meter hohen Mauer so dicht wie möglich abzuschotten. Die grauen Betonplatten erinnern an die Zeit des Kalten Krieges in Berlin. Mit dem Auto jenseits von Checkpoints zu passieren, ist unmöglich geworden. Selbst wer zu Fuß illegal versucht, nach Israel einzudringen, riskiert, vom Boden oder aus der Luft verfolgt und erschossen zu werden.

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Beten und Bangen hinter dem Erdwall Bethlehem, im Mai 2002 Der buschhohe Wall aus Erde und Schutt ist eine der letzten Verbindungen zur Außenwelt. Die verschachtelten Grenzen zwischen Palästinensern und israelischen Siedlungsgebieten sind während der Operation Schutzschild im Frühjahr 2002 nach einer dichten Reihe von Selbstmord-Anschlägen in israelischen Städten so streng bewacht wie selten zuvor. Doch der Erdwall am Ortsrand von Beit Jala bleibt unbehelligt. In Notfällen machen sich palästinensische Männer, Frauen und Kinder zu Fuß auf den Weg zum Wall. Von dort aus fahren sie mit einem wartenden Privatauto oder einem Taxi Richtung Jerusalem beziehungsweise Hebron — oder so weit sie eben kommen. Palästinenser schleppen Kranke mit Tragen aus Krankenwagen mühsam über den Erdwall und packen sie in Autos, die auf der anderen Seite warten. Die Hauptstraße von Jerusalem nach Bethlehem ist mit Felsbrocken unpassierbar gemacht und wird von israelischen Soldaten verriegelt. Mitarbeiter von christlichen Einrichtungen berichten von schwangeren Palästinenserinnen, die am Checkpoint verbluteten, weil sie stundenlang festgehalten wurden und nicht rechtzeitig ins Krankenhaus zur Entbindung konnten. Heute, am 10. Mai, wird der Erdwall überwiegend von internationalen Journalisten bevölkert. Zum wiederholten Mal deutet sich nämlich das Ende der Belagerung der Geburtskirche in Bethlehem an. Schon einmal war ich Tage zuvor vergeblich angereist, um für dpa zu berichten. Seit mehr als einem Monat halten sich in der Geburtskirche, einem der wichtigsten Heiligtümer der Christen, rund 150 Palästinenser verschanzt. Einige von ihnen sind bewaffnet. Am Dienstag nach Ostern hatten sie sich vor den einrückenden israelischen Soldaten in das trutzige Bauwerk aus dem sechsten Jahrhundert geflüchtet. Seitdem harren sie dort trotz knapper Vorräte mit dutzenden eingeschlossener Geistlicher aus. Die Journalisten wie alle Beteiligten hoffen, dass der Nervenkrieg endlich ein Ende nimmt. Das Beten und Bangen in Bethlehem zerrt an den Nerven. Immer mehr Autos steuern den Erdwall von Beit Jala an. Bei israelisch-arabischen Taxifahrern in Jerusalem hat sich die Öffnung längst herum gesprochen. Der Schuttberg liegt keine Viertelstunde Rich24

tung Süden an der Umgehungsstraße nach Hebron. Gleich nach dem zweiten Tunnel links ein paar Meter den Berg hoch. Die Bypass Road wurde gebaut, damit israelische Siedler auf ihrem Weg durch Bethlehem nicht mehr mit Steinen beworfen werden. Angesichts der jüngsten Eskalation mutet die Begründung eher harmlos an. Heute würde ein direkter Kontakt zwischen Siedlern und Palästinensern kaum noch so glimpflich verlaufen. Wer in Israel Geld machen will, baut Umgehungsstraßen. Sie wachsen von Jahr zu Jahr, durchschneiden besetztes Gebiet, winden sich um palästinensische Ortschaften, tauchen in Tunnels ab oder retten sich auf Brücken. Viele Strecken bestehen doppelt. „Israelische" und „palästinensische" oder „jüdische" und „muslimische" Betonpisten laufen parallel. Beide Seiten sollen sich nicht in die Quere kommen. Das erinnert an die Ideologie der ethnischen Trennung in BosnienHerzegowina Anfang der 1990er Jahre. Als Krönung ihrer diplomatischen Bemühungen im Krieg zwischen fanatischen Serben, Kroaten und Muslimen schlugen die internationalen Vermittler Owen und Stoltenberg damals in ihrem Plan vor, über den so genannten „serbischen Korridor" bei der nord-bosnischen Stadt Brcko eine dreistöckige Autobahn-Überführung zu bauen. Auf der ersten Ebene sollten Serben fahren, auf der zweiten Muslime, auf der dritten Kroaten. Für einen Zugang der Muslime zum Meer sollte zusätzlich im Süden eine fünf Kilometer lange Brücke über „fremdes" Gebiet gespannt werden. Ganz so weit ist es in Israel noch nicht gekommen. Das liegt weniger am Mangel an ethnischer Blut-und-Boden-Ideologie oder landschafitsplanerischer Kreativität als daran, dass nur eine Seite baut. Die Israelis geben die Bedingungen vor. Dennoch wird das Problem offensichtlich, wenn ein palästinensischer Staat aus dem Westjordanland und dem Gazastreifen entstehen sollte. Eine Verbindung beider knapp vierzig Kilometer entfernten Teile könnte so absurde Vorschläge wie aus der Zeit des Bosnien-Kriegs wieder aufleben lassen. Nach der gewaltsamen Eroberung der palästinensischen Institutionen des Gaza-Streifens durch die Hamas-Bewegung im Juni 2007 sind die beiden Gebiete jedoch so weit entfernt voneinander wie noch nie. Die Umgehungsstraße bei Beit Jala trennt nahe des Erdwalls palästinensisches Autonomie-Gebiet von der jüdischen Siedlung Gilo. Israelis betrachten sie quasi als Vorort Jerusalems, obwohl sie zum Westjordanland gehört. Hin und wieder schießen militante Palästinenser von den gegenüberliegenden Hügeln auf die großen hellen Wohnblö25

cke von Gilo. Die Einwohner der Siedlung haben daher eine Mauer errichtet. Damit sie nicht auf den schönen Blick ins Tal nach Bethlehem verzichten müssen, haben sie den Beton von innen mit einer Kopie dieser Landschaft bemalt. Mit einer israelischen Kollegin steige ich am Erdwall aus dem weißen Jerusalemer Taxi aus. Mehrere zum Teil gepanzerte Jeeps mit den Aufschriften „TV" oder „Press" parken daneben. Kein israelischer Soldat ist weit und breit zu sehen. Vorsichtig laufen wir über den Hügel. Auf der anderen Seite warten die gelben palästinensischen Taxis, sichtbar gezeichnet durch mangelnde Wartung. Mohammed, ein gutmütiger Mann mit klaffender Zahnlücke, fährt uns mit seinem klapprigen Peugeot 504 durch die ausgestorbenen Straßen. Vorsorglich hat er, wie alle anderen Taxifahrer auch, mit Klebeband groß „TV" auf die Front- und Heckscheibe geklebt. „Natürlich wissen die Israelis, dass es nicht stimmt. Aber alle machen es trotzdem. Sicher ist sicher", grinst Mohammed. Rostige Autowracks und stinkende Müllsäcke stapeln sich an den Straßenrändern. Schwarze Flecken sind als Brandspuren auf dem Asphalt zu erkennen. Wahrscheinlich hatten ein paar Palästinenser den Israelis brennende Autoreifen entgegen geworfen. Panzerketten haben Narben in die Fahrbahn gerieben. Die kleinen Häuser mit grauen, unverputzten Backsteinwänden sehen ungepflegt aus. Lampenpfosten sind von Gewehrkugeln durchlöchert, andere durch Panzer umgeknickt und platt gewalzt. Im Deheische Flüchtlingsviertel holen wir Amina ab, eine freie Journalistin, die als stringer für dpa arbeitet. Wir fahren an einem Panzer vorbei, der quer eine Straßenhälfte einnimmt und ungerührt in seiner Position verharrt. „Manchmal halten sie uns an und fragen, wohin wir wollen", sagt Mohammed ruhig. „Manche Soldaten behandeln einen grob, andere höflich. In den Uniformen stecken eben Menschen wie wir auch." In den Gassen der Altstadt von Bethlehem bietet sich ein Bild der Verwüstung. Auf dem kleinen Marktplatz stehen zerschossene und ausgebrannte Autowracks. Große Löcher, die in die Dächer der Marktbuden gerissen sind, deuten auf schweren Beschuss aus der Luft hin. Neben mir modert ein schwarzer Haufen Bananen. Hunderte Fliegen kreisen darum und durchdringen mit ihrem Brummen die angespannte Stille. Die Einwohner hatten nicht einmal mehr Zeit, ihr Obst von den Ständen zu räumen. 26

Die Souvenirläden in der schmalen Gasse Pauls IV., die auf den Vorplatz der Geburtskirche führt, sind verrammelt. An den Holzläden kleben Poster mit Porträts von „Märtyrern" (Shahid). Oft sind es Jünglinge, manchmal Männer mit dickem Vollbart in stolzer Pose mit Gewehr in der Hand. Im Hintergrund leuchtet fast immer die goldene Kuppel des Felsendoms auf dem Haram Al-Sharif (Tempelberg) in Al-Quds (Jerusalem) oder die Landkarte Palästinas ist abgebildet in den Farben der Palästinenser: rot, grün, weiß und schwarz. Die Männer seien „im Kampf gegen die israelischen Besatzer" ums Leben gekommen, sagt ein Passant mit stolzem Blick. Einige der „Helden" sind auch Selbstmord-Attentäter, die israelische Zivilisten in den Tod gerissen haben. „Shahid, Shahid!", rufen ein paar Kinder, als wir die Poster betrachten. Zum ersten Mal seit Wochen wagen sich die Kleinen heute wieder auf die Straße. Wenige Schritte vor dem Krippenplatz versperren Barrieren und Stacheldraht die Gasse Pauls IV. Dahinter stehen junge israelische Soldaten in Uniform und mit Gewehren. Einige von ihnen lächeln traurig, als ein Dutzend kleiner Palästinenser-Kinder sich ein Spiel daraus macht, sie zu ärgern und am Stacheldraht zu rütteln. Dazwischen hat sich ein buddhistischer Wandermönch aus Japan verirrt. Beharrlich schlägt Junsei Terasawa in weißer Robe und rundem Stroh-Hut monoton seine Trommel. „Ich bete für eine friedliche Lösung", murmelt er. „Alle Religionen teilen die gleichen spirituellen Werte und Prinzipien." Schon drei Tage steht er hier und trommelt. Mit ihm warten und hoffen an der Barriere übermüdete und durstige Journalisten aus aller Welt, dass sie heute ein letztes Mal über die Geburtskirche berichten müssen. Mit unseren israelischen Presse-Ausweisen dürfen wir schließlich die Barriere passieren. Ein paar Schritte weiter, gegenüber dem Vorplatz der Kirche, schlüpfen wir durch einen Hintereingang ins Rathaus, das zum Truppen-Quartier mutiert ist. Ein paar Soldaten liegen erschöpft auf ihren Isomatten auf dem Steinboden des Erdgeschosses. An der Wand hängen Urkunden aus besseren Zeiten, auch der Vertrag über die Städtepartnerschaft mit Köln. Auf dem Dach haben sich Fotografen mit den langen Zooms ihrer Kameras postiert. Vor ihnen liegen der Krippenplatz und das Gebäude des Bethlehem Peace Centre. Dessen Eingang ist mit einem braun-olivgrünen Tarnnetz verhangen. Davor stehen Panzer, Panzerwagen und Militärjeeps. Die Reporter und Fotografen starren von oben auf die dicken Kir-

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chenmauern und die winzige Tür der Demut, die vom Hauptschiff der Kirche auf den Vorplatz fuhrt. Die Beobachter versuchen zu erahnen, was sich im Inneren der sakralen Festung abspielen mag. Trotz Hunger — am Ende aßen viele nur noch Gras —, katastrophaler Hygiene, Feuer durch Brandbomben und mehrerer Todesopfer durch israelische Scharfschützen haben sich vor allem die Geistlichen in dem Kirchenkomplex während der 39 Tage Belagerung tapfer geschlagen. Auch wenn viele von ihnen mit dem Schicksal der Palästinenser sympathisieren oder selbst Palästinenser sind, fiel ihnen ungewollt die Rolle von Vermittlern zwischen palästinensischen Kämpfern und israelischer Armee zu. Gleichzeitig müssen sie die unendlichen Anfragen von Journalisten auf ihren Handys beantworten oder abwimmeln. Eine harte Herausforderung. Denn jedes einzelne Wort kann in der prekären Situation politische Folgen haben. Pressearbeit gehört unter normalen Umständen nicht zum Repertoire der Geistlichen. Der deutsche Konventsverwalter Pater Johannes hatte mir zum Beispiel vor wenigen Tagen in einem Moment der Verzweiflung über Handy gestanden, er komme sich vor wie ein menschlicher Schutzschild. Damit spielte er ungewollt der israelischen Seite in die Hände, die von einer Geiselnahme spricht. Daraufhin blieb er stumm, und die Pressearbeit wurde auf nur wenige Geistliche konzentriert. Die Nerven lagen blank. Auch die israelische Seite zeigte sich zeitweise überfordert. „Die Lage ist eine Kombination von Elementen gewesen, auf welche die Armee nicht vorbereitet gewesen war", räumt ein Militärsprecher ein, der auf dem Dach des Rathauses steht und übermüdet durch seine Brillengläser blinzelt. In das diplomatische Geflecht mussten nicht nur Israelis und Palästinenser vor Ort, sondern Rom, Brüssel, Washington und schließlich Zypern eingespannt werden. Am Ende stellten sich auch noch zehn „Friedensaktivisten" quer, die vor wenigen Tagen unerklärlich an den israelischen Soldaten vorbei in die Kirche geschlüpft waren. Sie fürchten nun eine Verhaftung und verlangen einen Anwalt. Der errungene Kompromiss sieht schließlich Folgendes vor: 13 von Israel gesuchte „Top-Terroristen" sollen ins Ausland, zunächst nach Zypern, und 26 vor ein palästinensisches Gericht in den Gazastreifen. Eine merkwürdige Unruhe erfasst plötzlich den Vorplatz. Mehr und mehr Geistliche in schwarzen Roben kriechen aus der Tür der Demut heraus ins Freie. Die Kameramänner auf dem Dach greifen hastig an 28

ihre Objektive. Hat das Warten etwa ein Ende? Unrasiert, ausgemergelt, aber mit einem Lächeln auf den Lippen kommen die Palästinenser aus der Kirche. Einer fällt sofort auf die Knie und verbeugt sich Richtung Mekka. Nach mehr als fünf Wochen ist der Psycho-Krieg in Bethlehem beigelegt. Am Ende hat der Hunger gesiegt. „Die Situation hier ist sehr tragisch, und wir wollen alle gehen", hatte Fahmi Kanan von der radikalen Bewegung „Islamischer Jihad" (Heiliger Krieg) kurz zuvor über sein Handy aus dem trutzigen Kirchenbau gemeldet. Priester, Diplomaten, Militante und Militärs haben in den vergangenen Tagen mühsam einen Knoten nach dem anderen durchschlagen. Unten in der Gasse Pauls IV. harren Verwandte und Freunde der Eingeschlossenen aus. Bei vielen überwiegt nicht Freude, sondern Trauer und Wut. Muslimische Frauen mit Kopftüchern sammeln sich und wettern gegen den ausgehandelten Deal. „Kein Exil!", rufen sie. „Sie sollen hier bleiben, das ist unser Heimatland." Neben ihnen steht schüchtern die 16-jährige Rascha Kassas, eine Freundin von Jihad Jihara, einem lokalen Anführer der militanten Al-Aqsa-Brigaden. Sie trägt ein langes schwarzes Kleid, das in einen Schleier übergeht, der ihre Haare bedeckt. „Ich bin sicher, sie kehren bald zurück", meint sie mit leiser Stimme. Inzwischen werde sie ihr Versprechen einlösen, den Widerstand fortzusetzen und keine Angst vor den Israelis zu haben, sagt das Mädchen trotzig. Nach einer Pause fügt sie hinzu: „Alle Kinder Palästinas wollen Selbstmord-Attentäter werden." Als ich sie frage, ob auch sie selbst so etwas tun würde, weicht sie aus. So genau wisse sie das noch nicht. Doch sagt sie, es mache keinen Unterschied, ob die Anführer aus Bethlehem jetzt ins Exil müssten. Tausende stünden bereit, um ihre Plätze einzunehmen. Dann greift sie zu ihrem Halskettchen, an dem ein goldenes, fingergroßes Palästina hängt — in der Form des heutigen Israels einschließlich des Westjordanlands und des Gazastreifens. „Das wollte ich eigentlich Jihad mitgeben, damit sein Heimatland im Exil stets bei ihm ist." Ihre Augen röten sich und über ihre Wange kullert eine Träne. Rascha führt uns aus der Altstadt heraus zu einem Haus am Berghang. Dort wohnt die Familie des Al-Aqsa-Chefs von Bethlehem, Ibrahim Abaiat. Mehrere Verwandte haben sich schon versammelt und diskutieren wild untereinander. Wir werden freundlich und offen begrüßt. Eine Frau serviert schwarzen Tee mit einem frischen 29

Pfefferminzblatt. Draußen hallen die Rufe der Muezzine durchs Tal. Sie preisen den angekündigten Abzug der israelischen Truppen aus Bethlehem. Einer aus der Familie übersetzt einen Satz mit den Worten: „Die Palästinenser schliefen und wurden von den arabischen Staaten verraten. Aber wir werden erwachen!" Abaiats Mutter Fatima bittet uns in das kleine Wohnzimmer, wo wir uns auf schweren weinroten Sofas niederlassen. Auf dem Tisch steht ein Strauß mit blau-weißen Plastikblumen. In der Ecke summt ein Ventilator. Die Mutter schaut ernst und verbittert. Uber ihre Haare hat sie locker ein weißes Tuch geworfen. Zwischen Oberlippe und Nase ziehen sich senkrechte Falten. Die Mundwinkel zeigen grimmig nach unten. Das macht sie älter als sie ist. Stolz zeigt sie uns Fotos von ihrem Sohn: Ein gepflegter junger M a n n im Polo-Hemd, der wie der perfekte Schwiegersohn aussieht. In der Tat sollte er nach dem Willen der Mutter bald heiraten. Doch er entschied sich für den Kampf. N u n zieht sie Bilder hervor, auf denen Ibrahim mit Uniform, Helm und Maschinenpistole in Kampfstellung posiert. Ohne Zweifel: W i r sitzen in einem Terroristen-Haus, wie es die Israelis nennen würden. Möglicherweise wird es — wie viele andere Häuser — nach der israelischen Ideologie der kollektiven Bestrafung niedergewalzt. Die kleinen Kinder der Familie drängeln sich am Türrahmen und beobachten uns mal schüchtern, mal mit verschmitztem Grinsen. Mit jedem zerstörten Haus wird der Teufelskreis fortgesetzt. Die Kinder kennen keine andere Welt als die des gegenseitigen Hasses. O b Fatima ahnt, wie viele Menschen ihr Sohn auf dem Gewissen hat? „Das Land, das Ibrahim aufnimmt, muss wissen: Er ist kein Terrorist! Er verteidigt sein Volk", beharrt sie. Ihr Sohn sei ein Held. „Aber als Mutter bin ich traurig über jeden Menschen, der getötet wird, ob Jude oder Muslim. W i r wollen Frieden, keinen Krieg", ergänzt sie schnell. Plötzlich klingelt das Telefon. Fatima nimmt den Hörer ab und ruft aufgeregt: „Es ist Ibrahim! Er ist gut in Zypern angekommen." Schwer vorstellbar, was in einer Mutter und den anderen Verwandten in solchen Situationen wirklich vorgeht. Ein palästinensischer Journalist hat mir ein paar Monate später ein Erlebnis geschildert, das mir lange Zeit im Gedächtnis blieb. Als einer der ersten war er am Haus eines 23-jährigen Selbstmord-Attentäters, der in einem Dorf bei Bethlehem wohnte und Ende November 2002 in Jerusalem sich und 30

einen Bus mit Schulkindern in die Luft sprengte. Elf Menschen kamen dabei ums Leben. Der Reporter, der einen Schreibblock in der Hand hielt, fragte die Mutter nach ihren Gefühlen. Sie weinte und verurteilte die Tat. Gleichzeitig schimpfte sie über die fanatischen muslimischen Anfuhrer, die Kinder und Jugendliche zu einem solchen Wahnsinn aufhetzten. Dann rückte ein Kamerateam an und richtete die Linse auf die verzweifelte Mutter. Plötzlich gab sie sich einen Ruck und erzählte die Geschichte des heldenhaften Widerstands: Sie sei stolz auf ihren Sohn, der als Märtyrer im Kampf gegen die Besatzer starb. Die Episode macht den Gruppendruck deutlich, dem viele Palästinenser ausgesetzt sind. Und sie zeugt von fehlendem Rückgrad, zu einer abweichenden M e i n u n g zu stehen. W i e hätte die Frau dagestanden, wenn ihr Gesicht über die Bildschirme im Westjordanland und Gazastreifen geflimmert wäre und sie Familien zum Widerstand gegen die Fanatiker in den eigenen Reihen aufgerufen hätte? Aber auch israelische Soldaten stecken im Zwiespalt. Fatima erzählt, dass sie drei Mal während der Belagerung der Kirche bei ihr hier im Haus waren. Einmal verlangten sie von ihr, dass sie per Lautsprecher öffentlich alle Kämpfer zur Aufgabe überreden solle. Sie lehnte ab. Stattdessen warf sie den jungen Reservisten entgegen: „Israelis und Palästinenser sterben, und Scharon wird immer fetter." Ein Soldat musste lachen und meinte: „Sie haben recht." Schließlich fragte sie: „Warum seid ihr eigentlich hier? Ihr besetzt unser Land." Daraufhin habe der junge Israeli ihr gestanden: „Wenn es eine persönliche Entscheidung wäre, wäre ich nicht hier." Ahnliche Geschichten werden von verschiedenen Quellen aus anderen Orten der Westbank berichtet. Der Konflikt zwischen Kriegsdienstverweigerern und der israelischen Regierung nimmt zu. Nachdenklich und erschöpft verabschieden wir uns von der Familie Abaiat. In einem anderen Stadtviertel nicht weit entfernt sitzt der Gouverneur der Palästinensischen Autonomie-Behörde von Bethlehem, M o hammed Madani, fahl und grau in seinem kahlen W o h n z i m m e r . Während der Belagerung war er in der Kirche einer der wichtigsten Verbindungsleute zwischen Priestern, palästinensischen Kämpfern und der Außenwelt. Madani zeichnet ein weiteres Mosaiksteinchen der Besatzung. „Der Hunger und die Bedrohung haben Christen und Muslime zusammengeschweißt." Zunächst habe er Angst gehabt, die Priester würden sich daran stören, wenn die muslimischen Palästinen31

ser in einem der heiligsten Orte des Christentums beteten. „Doch sie schauten ihnen dabei ruhig zu. Manchmal haben die Priester sogar zur gleichen Zeit wie die Muslime gebetet." Der christlich-palästinensische Bürgermeister von Bethlehem, Hana Nasser, sieht in der Stadt ein Modell für das friedliche Zusammenleben von Christen und Muslimen. W i r sitzen im W o h n z i m m e r seiner Villa am Rande der Altstadt. Konflikte zwischen beiden Religionen tut er als „isolierte Vorfälle" ab. V o n den 2 8 0 0 0 Einwohnern Bethlehems seien etwa 4 5 Prozent Christen, sagt er. Andere sprechen von etwa einem Drittel. V o r der Gründung des Staates Israel seien es noch 9 0 Prozent gewesen. Viele muslimisch-palästinensische Flüchtlinge haben sich danach hier angesiedelt. „Auf nationaler Ebene teilen Christen und Muslime das gleiche Schicksal", sagt der alte Herr mit dem grauen Kinnbart. Die politische Konfliktlinie verlaufe zwischen jüdischen Israelis und Palästinensern aller Religionen. Israelis beschlagnahmten Land von Christen und Muslimen ohne Unterschied. „Das sind Diebe. Mein Vater hat fünf Häuser in Ost-Jerusalem verloren", sagt Nasser. „Er bekam nicht mal einen Cent Entschädigung." Auch in Bethlehem geht die Enteignung von Land schleichend weiter. Nasser trägt ein strahlend weißes H e m d und eine elegante schwarze Hose. Heute ist ein Festtag. „Die Israelis ziehen ab. Ich hoffe, dass es nie wieder einen Einmarsch geben wird", sagt er, als würde er selbst nicht recht daran glauben. „Allein diese Invasion hat fünf Millionen Euro Schaden angerichtet." Gewalt werde den Israelis keinen Frieden bringen, sagt er, nur ein palästinensischer Staat. „Israel hat mit seiner aggressiven Politik die Fundamentalisten auf beiden Seiten gestärkt." Inzwischen erreicht uns die Nachricht, dass nach der Räumung der Kirche die israelischen Truppen aus Bethlehem tatsächlich abgezogen sind. W i r machen uns wieder auf den W e g zum Krippenplatz. M e n schen strömen in der Dämmerung aus allen Gassen und fallen sich in die Arme. D i e Stimmung ist ausgelassen wie zum Weihnachtsfest in besseren Tagen. Der Platz vor dem Peace Centre verwandelt sich in eine Arena mit Open Air Party. Junge Mädchen mit offenen Haaren haben sich mit viel Schminke und frisch gebügelten Kleidern zurecht gemacht. „Wir haben eine richtige Gänsehaut", sagt die junge Lehrerin Susann Atalla und lacht befreiend. „Zum ersten Mal nach fünf W o c h e n sind wir wieder auf der Straße. W i r wissen gar nicht mehr, wie Laufen

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funktioniert." Die Einwohner drängeln sich wie Touristen in der eigenen Stadt an der winzigen Tür der Demut, die wochenlang im Fokus der Kameras aus aller Welt stand. Sie ist immer noch verriegelt. Ein junger Souvenir-Verkäufer stößt zu uns im Menschengewühl an der Kirchenmauer. Stolz erzählt er, wie er unter Lebensgefahr Pakete mit Reis und Linsen in ein offenes Fenster des griechischorthodoxen Kirchentrakts geworfen hat. „Ich habe meinen Freund in der Kirche angerufen und ihm gesagt, dass er ans Fenster kommen soll", erzählt Khadar. Sein Freund habe am Telefon geweint, er wolle endlich raus. Khadars Cousin war ebenfalls in der Kirche. Er erlitt einen Bauchschuss durch israelische Scharfschützen, als er sich im Hof des Konvents aufhielt. So fugen sich die Geschichten in kleinen Mosaik-Steinchen zu dem großen Bild zusammen, das Korrespondenten im fernen Tel Aviv oder anderswo zuvor mühsam per Telefon versucht hatten zusammenzutragen. Am Ende gelingt uns noch ein kleiner Coup. Ein Feuerwehrlastwagen rückt an, weil Gerüchte über mögliche Bomben in der Kirche kursieren. Ich laufe auf den Feuerwehrmann zu und rede auf ihn ein, dass wir in die Kirche möchten. „Wir können es ja mal versuchen", meint er hilfsbereit. An den Menschentrauben vorbei drängeln wir uns zum Seiteneingang. Ein paar Priester sind verzweifelt damit beschäftigt, die hartnäckigen Massen von der Tür abzuhalten. Doch zusammen mit dem Feuerwehrmann gelingt es uns, in die Festung zu schlüpfen. Es ist stockfinster. Das Gebrüll der Meute verstummt langsam hinter den mächtigen Außenmauern. Wir tasten uns durch den Innenhof, der für Belagerte so oft zur Todesfalle geworden war. Zynisch wirkt vor diesem Hintergrund der steinerne Totenkopf, der dem ehemaligen Klostervorsteher, dem heiligen Hieronymus (347—419 u. Z.), auf der Steinsäule in der Mitte des Hofs zu Füßen liegt. Ein Priester schreitet herbei und leuchtet uns mit einer Kerze den Weg. Durch eine niedrige Tür gelangen wir in das Hauptschiff, in der sich die Palästinenser verbarrikadiert hatten. Es riecht muffig und sieht aus wie in einem verwahrlosten HippieCamp. Unter uralten Kronleuchtern und der goldverzierten Kanzel liegen wild durcheinander Decken, Matratzen, Kerzen, Teller, Tassen und Tüten. Auf dem Plateau in der Mitte des Schiffs, dessen Dach von schweren dunklen Holzbalken getragen wird, liegt ein kleiner 33

Gaskocher mit zwei Flammen. Einige Priester in schwarzen Kutten stehen apathisch umher. Andere sprechen freundlich und konzentriert, als sei nichts gewesen, mit den wenigen Reportern, die es auch geschafft haben, ins Innere der sakralen Festung vorzudringen. M a n sieht einigen Journalisten an, dass selbst die Profis unter ihnen für Augenblicke ins Staunen und Sinnieren geraten. Nur die junge Kollegin des arabischen Nachrichten-Senders Al-Jazeera macht schon im Lichtkegel des Kamera-Strahlers ihren ersten Aufsager live vom O r t des Geschehens. Draußen vor der Kirche wartet geduldig unser Taxifahrer M o h a m med. Er freut sich über den Menschenauflauf. D o c h es ist schon spät und die Journalistin Amina lädt uns zu sich ins Deheische-Flüchtlingscamp zum Abendessen ein. W i r haben den ganzen Tag nichts in den Magen bekommen. Zwischen den Terminen mussten wir unsere Reportagen schreiben und sie per E-Mail ans Büro nach Tel Aviv schicken. W i r freuen uns auf eine Pause. D o c h so schnell wie wir dachten, sollten wir nicht aus der Stadt kommen. In Aminas Haus fällt mir auf, dass ich meinen Geldbeutel mit mehreren hundert Schekeln, Presseausweisen und anderen wichtigen D o kumenten verloren habe. W i r durchsuchen das gesamte Auto - vergeblich. Was ist, wenn israelische Soldaten mich auf dem Rückweg kontrollieren? Es ist Nacht und Ausgangssperre. Amina hat eine zunächst abwegig erscheinende Idee: W i r sollen zum lokalen Fernsehsender fahren. „Jeder schaut hier den Kanal", meint sie. „Sonst haben wir ja während der Ausgangssperre keinen anderen W e g , Informationen zu bekommen. Eine Polizei gibt es ja ohnehin nicht mehr." Damit hatte sie wohl Recht. Die Infrastruktur der Autonomiebehörde und ihrer Organe wurde von israelischen Truppen weitgehend zerstört. In den kleinen verqualmten Räumen der Fernsehstation treffen wir eine Handvoll Kollegen, die Nachtdienst schieben. D i e Technik ist einfach und alt, die Einrichtung spärlich. An einer T ü r klebt ein Schild: „Wir haben einen Traum: Ein freies Palästina." Die Journalisten notieren meinen Namen und den Inhalt meiner Geldbörse. Ich setze keine große Hoffnung in die Aktion. Eine Zeit lang warten wir vergeblich. Schließlich machen wir uns auf den W e g zurück zum Erdwall. Ich entschuldige mich peinlich bei M o h a m m e d , dass ich ihm ftir seine Dienste nichts zahlen kann. Er soll mir seine Adresse geben. Dann werde ich ihm die 5 0 0 Schekel nachschicken. „Nein,

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das brauchst du nicht", sagt er. „Beim nächsten Mal." Er ist nicht davon abzubringen. „Was macht schon Geld aus? Hauptsache wir leben noch", lacht er. Gerade wollen wir aussteigen und wieder über den Erdwall laufen, da klingelt Mohammeds Handy. Die FernsehLeute sind dran. Jemand hat meinen Geldbeutel gefunden! Wir fahren zurück zu einem kleinen Haus mit mehreren Stockwerken und einer unverkleideten Betontreppe. Ein hagerer Familienvater begrüßt uns herzlich. Sein kleiner Sohn hat mein Portemonnaie mit den vielen Scheinen auf der Straße gefunden und artig seinem Vater gebracht. W i r werden ins Wohnzimmer geführt, das keine Möbel hat außer ein paar dünnen Sitzpolstern auf dem kahlen Boden. Die Mutter bringt ein Tablett mit vielen kleinen Teetassen herein. Der Mann sagt, er sei Lehrer und verdiene umgerechnet 250 Euro im Monat. Aber er komme irgendwie zurecht. Seine Kinderschar versammelt sich mit großen Augen um uns herum. Dazwischen der kleine Wohltäter, der mich mit einer Mischung von Schüchternheit und Stolz mustert. Ich bedanke mich mehrmals bei ihm und seinem Vater. Als ich dem Kleinen als Finderlohn einen 20-Schekel-Schein zustecken möchte, weicht er entrüstet zurück. Er starrt auf den Schein, als sei er eine giftige Schlange. „Ich will nicht!", ruft er. Als der Vater die Situation erkennt, schreitet er dazwischen und weist das Geld höflich aber bestimmt ab. „Das war eine Selbstverständlichkeit", betont er. „Wenn Sie wieder kommen und das Leben hier wieder normal ist, können Sie den Kindern ja ein Eis kaufen."

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Bethlehem, im Dezember 2002 Früher als geahnt, nicht ganz ein halbes Jahr später, stehe ich wieder am Erdwall vor Beit Jala. Diesmal mit einer kleinen Gruppe Journalisten auf Recherchetour. Erneut ist die Stadt belagert. Ende November hat sich ein 23-jähriger Palästinenser im Jerusalemer Stadtbus in die Luft gesprengt und mehrere Menschen in den Tod gerissen, darunter viele Schüler. Von seiner widersprüchlichen Mutter war oben bereits die Rede. Obwohl der Palästinenser nur kurze Zeit in einem Dorf bei Bethlehem gewohnt hatte und sonst aus der Gegend um Hebron stammte, nahm das die israelische Regierung zum Anlass, erneut die gesamte Stadt einzunehmen und eine Ausgangssperre zu verhängen. Sie sollte bis nach Weihnachten anhalten. Vom „normalen Leben", von dem der Vater des kleinen, ehrlichen Finders meiner Geldbörse gesprochen hatte, kann keine Rede sein. Doch im Vergleich zum Mai, als die Kirche belagert war, wirkt die Stadt nun fast lebendig. Der Erdwall neben der Umgehungsstraße — die inzwischen mit hohen Betonplatten auf der Seite nach Beit Jala vor Schüssen geschützt wird — ist größer geworden. Mehr Schutt und Betonplatten wurden zusammengeschoben. Die frühere Straße nach Beit Jala ist unpassierbar. Doch gleich daneben führt eine andere bis an den Hügel heran. Heute, am 6. Dezember, ist die Ausgangssperre für fünf Stunden aufgehoben. Sogar Busse parken vor dem Erdwall. Zahlreiche palästinensische Kinder, Frauen und Männer kraxeln in beiden Richtungen über die absurde Grenze. Eine Frau mit Kopftuch schleppt einen dicken Korb voller Plastikflaschen mit eingelegten Weinblättern auf ihrer Schulter. Ein junger Mann spricht uns an, der sich mit dem Namen Tony vorstellt. Er lädt uns ein, in seinem alten Mercedes ins Stadtzentrum zu fahren. Früher war Tony in der kirchlichen Jugendarbeit aktiv. Auch in Sommercamps in Deutschland war er schon. Jetzt sitzt er in Beit Jala fest. W i r fahren am Polizeihauptquartier vorbei — ein Schuttberg aus grauen Betonplatten. Ein Zeugnis israelischer Vergeltung nach dem Busanschlag in Jerusalem. Damit sind auch die letzten funktionierenden Ordnungskräfte lahm gelegt. Tony will kein Geld für die Fahrt ins Zentrum, auch nicht, nachdem wir eindringlich darum bitten. Dafür tauschen wir Adressen aus. Am Hussein Hospital treffen wir wieder Amina, lebenslustig und mit schwarzem Humor, wie immer. „Die Leute feiern", sagt sie. „So lange 36

an einem Stück durften wir schon lange nicht mehr ins Freie. D u siehst, wir leben im Paradies." Halbstarke Jugendliche rasen mit wummernden Bässen und quietschenden Reifen durch die hügeligen Straßen, so wie an einem ersten warmen Frühlingstag in Deutschland. Kein israelischer Soldat ist zu sehen. Die Gasse Pauls IV. ist nicht wiederzuerkennen. Menschenmassen drängen sich an den kleinen Läden vorbei. Schmuckgeschäfte, Souvenirshops, kleine Fotolabors und Kassettenverkäufer haben geöffnet. Marktschreier preisen an den vollen Straßenständen ihr O b s t an. A u f einem kleinen Platz findet eine Versteigerung statt. Jemand hält einen Karton mit einem Hi-Fi-Tower nach oben. Hunderte drängeln sich drum herum. Lautes Stimmengewirr erfüllt auch den Marktplatz. Hier stehen keine ausgebrannten Autowracks mehr, sondern gefüllte Buden. Frische Bananen liegen in Bündeln bereit. Nur ein paar Einschusslöcher in den Dächern erinnern an die Operation Schutzschild im Frühjahr. Die schlimmsten Szenen provozieren diesmal kleine Bengel. M i t täuschend echten Pistolen spielen sie Häuserkampf. Kleine Plastikkugeln zirpen durch die Luft. Unerschrocken zielen sie auch ins Gesicht. An den Häuserecken gehen sie gekonnt in Deckung, wie James B o n d es nicht besser könnte — oder vielleicht ihre älteren Brüder mit scharfer Munition. Ein Vater trägt einen Knirps auf der Schulter, der mit einem Spielzeugmaschinengewehr fuchtelt. Das Gerät ist länger als er selbst. Aus Bedenken, es könnte den Eltern peinlich sein, versuche ich versteckt, ein Foto von ihm zu machen. D o c h die Mutter erblickt mich und zieht ihren Mann lachend in meine Richtung. Er dreht sich um und posiert stolz mit Kind und Gewehr. Ein trauriges Bild. Dabei schießt mir die Szene durch den Kopf, die ich im April am Checkpoint zwischen Jerusalem und Ramallah erlebt habe. Israelische Soldaten sprengten dort mit Tränengasgranaten und Holzprügeln eine friedliche Demonstration von tausenden jüdischen, arabischen und internationalen Friedensaktivisten auseinander. W e n i g e Meter vom Checkpoint entfernt beginnen auf jüdischer Seite die ersten Wohnbezirke. Dort standen kleine jüdische Kinder mit ihren Eltern im Schutz hoher Gitter und blickten hinunter auf das turbulente Treiben. M i r gerann fast das Blut in den Adern, als ich begriff, was die Kinder taten. W i e Zuschauer eines Fußballspiels feuerten sie die israelischen Soldaten an und klatschten vor Freude, als Demonstranten verletzt auf der Straße liegen blieben. Die Knirpse jubelten und grölten,

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als ein regungsloser Palästinenser von Helfern auf den Schultern an ihnen vorbei getragen wurde. Nachdenklich laufen wir in Bethlehem an den palästinensischen Kindern mit den Plastikpistolen vorbei. In den Gassen entdecken wir sogar eine Handvoll Touristen, die behaupten, mit dem Bus über den Checkpoint gekommen zu sein. Angesichts der Lage in der Stadt ist es unerklärlich, warum die Pressestelle der israelischen Armee auf Anfrage immer noch davor warnt,

Bethlehem

zu betreten.

„Es

herrscht Ausgangssperre. Kein Journalist darf hinein. Das ist militärisches Sperrgebiet", warnte mich ein Sprecher noch am gleichen Tag. Die Augen der Weltöffentlichkeit sind nicht erwünscht. V o r der Geburtskirche bedrängen uns Souvenirverkäufer mit Ketten und Perlen, wie in alten Zeiten. W i r ducken uns und schreiten durch die T ü r der Demut, die diesmal weit offen steht. Hinter den dicken Mauern

im

großen

Mittelschiff mit

den

schweren

Holzbalken

herrscht Stille. D e r Boden ist sauber, keine wild umher liegenden Matratzen, Decken oder Blechtöpfe. Ein altes Mütterchen mit langen, grau gelockten Haaren schließt uns den hohen Glockenturm auf. A u f dessen Spitze pfeift ein lauer W i n d durch die offenen Fensterbögen. V o r uns liegen weite trockene Hügel, unter uns volle Gassen, Kirchtürme, Minarette und ineinander verschachtelte Flachdächer. Das Auge schweift über die typische Topographie der Trennung:

Im

Nordwesten hinter den Tunneln der Umgehungsstraße erstrecken sich auf einem Bergrücken die großen Häuserblocks von Gilo. Im Südosten trotzt die kleine jüdische Siedlung Har Huma wie eine Festung auf einer Anhöhe. Dazwischen im Tal liegen Beit Jala und Bethlehem. V o n neuen Plänen zur Landnahme berichtet der Bürgermeister. Einmal mehr empfängt uns Hanna Nasser in seinem weitläufigen Haus aus hellem Stein. „Die Israelis wollen einen nördlichen Teil Bethlehems annektieren", sagt er. „Das würde 3 5 0 0 dort lebende Palästinenser betreffen." Gleichzeitig sieht er die Wirtschaft und den T o u rismus der Stadt bedroht. „Die Straße im Norden ist die direkte Verbindung nach Jerusalem. Diese könnten wir dann nicht mehr benutzen. Jahrzehntelang sind wir darauf gefahren." Schlaff und blass hängt Nasser in seinem Sessel. N u r sein gepflegter hellgrauer Anzug verleiht ihm noch Statur. In der Ecke steht ein kunstvoll verzierter Schreibtisch in kolonialem Stil. „Die Stadt ist tot, gelähmt." Das sei die sechste Invasion in zwei Jahren. „Statt W e i h nachtsbäumen haben wir jetzt Panzer hier."

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Mit Kritik an palästinensischer Gewalt tut sich Nasser diesmal schwer. Er als Bürgermeister könne nichts gegen Selbstmordattentäter tun. Die Aufgabe der Stadtverwaltung sei eine technische, wie die Müllentsorgung zu garantieren. „Jeder verurteilt die Selbstmordattentate: Die Palästinensische Autonomiebehörde verurteilt sie und Israel ebenso, aber keiner tut etwas dagegen." Die Palästinenser seien keine Terroristen, sondern Freiheitskämpfer. „Zuerst müssen die Demütigungen aufhören", beharrt Nasser und zeigt damit auf den Teufelskreis, den beide Seiten unentwegt vorantreiben. „Etwas Wichtiges fehlt dieses Jahr zu Weihnachten", sagt er zum Abschied. „Das Lächeln in den Gesichtern der Kinder." Die Kleinen ballern unterdessen mit ihren Plastikpistolen weiter in den Gassen der Stadt. Keiner kommt auf die Idee, dass sie sich damit selbst in Gefahr bringen könnten. Vielleicht verwechselt ein junger israelischer Soldat einmal eine Spielzeugknarre mit einer echten und schießt scharf zurück. Dann geben die Korrespondenten zum wiederholten Mal eine der kleinen Routinemeldungen über den Ticker „...wurde ein 9-jähriges palästinensisches Kind von israelischen Soldaten erschossen", oder so ähnlich. Meine Journalistenkollegen werden unruhig, denn wir haben die Deadline für das Ende der Ausgangssperre bereits überschritten. Es ist wenige Minuten nach 16 Uhr. Doch noch immer tummeln sich Menschen auf den Straßen. Händler packen in Ruhe ihre letzten Kisten ein. Niemand scheint mehr Angst zu haben. Die Kinder spielen weiter Straßenkampf. „Keine Sorge", lacht Amina. „Die Israelis sind auch schon ziemlich orientalisch geworden. Manchmal kommen sie eine halbe Stunde später, manchmal zwei Stunden später..." Wir zwängen uns in ein Taxi. Leider kenne ich den Namen des Erdwalls an der Umgehungsstraße nicht und wir fahren wirr umher. Der Fahrer versucht es an zwei weiteren Orten und muss schließlich passen. So viele Schlupflöcher gibt es also aus Bethlehem, nur keine Straße mehr ftir Autos. Die anderen Journalisten werden nervös. Wir fahren ohne TV-Zeichen umher. Es wird dunkel, und die Ausgangssperre gilt seit vierzig Minuten. Doch weit und breit ist kein israelischer Soldat oder Panzer zu sehen. Das überrascht uns, weil wir die Berichte kennen, nach denen israelische Soldaten Palästinenser erschießen, weil sie Ausgangssperren missachtet haben. Wir steigen schließlich an einem anderen Erdwall aus und wandern in der Dämmerung über die Hügel bis zum zweiten Tunnel der Umgehungsstra39

ße. Beit Jala liegt friedlich im Tal. Aus den Fenstern der Häuser dringt weiches Licht. Der Rauch von verbranntem Müll steigt in die Nase. Morgen ab 11 Uhr dürfen die Menschen wieder ins Freie.

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Und der Jordan öffnet sich doch! Tel Aviv, Damaskus und zurück, im Mai 2002 Wegen der feindlichen Grenzen ist der Nahe Osten eine Region, die den Reisenden vor besondere logistische Herausforderungen stellt. Vor allem muss er seinen Reisepass geschickt einsetzen. Sobald ein Tourist einen israelischen Stempel im Dokument hat, bekommt er in vielen arabischen Staaten Arger. Besonders in Syrien (und damals im Irak unter Saddam Hussein) darf nicht herauskommen, dass der Reisende zuvor in Israel war. Im besten Fall wird er an der Grenze zurückgewiesen. Allerdings wäre der Nahe Osten nicht der Nahe Osten, wenn es nicht auch hier Umwege gäbe. Die Israelis wissen um ihren schweren diplomatischen Stand in der Region und belasten Touristen nicht unnötig mit ihrem Stempel, wenn diese nicht wollen. Das müssen Ausländer aber dem Grenzbeamten bei der Einreise rechtzeitig mitteilen, bevor die Faust mit dem Siegel auf den Pass herunterknallt. Die Touristen bekommen auf Wunsch ein loses Stück Papier, das den Stempel trägt und bei der Ausreise wieder herausgenommen wird. Wer zu Hause ein syrisches Visum beantragt, muss auf dem Formular erklären, dass er niemals in Israel war. Wer auch nur einen jordanischen Stempel von einem der Grenzübergänge zu Israel im Pass hat, bekommt eine Ablehnung und wohl auch einen Eintrag im Register der Botschaft. Möglicherweise wäre dann eine Fahrt nach Syrien für immer geblockt - bis zu dem lang ersehnten Friedensvertrag. Aber auch hier habe ich schon Ausnahmen erlebt. Die Folge: Eine Fahrt von Syrien nach Israel und zurück ist zwar heikel, aber nicht verdächtig, solange man sich nicht verplappert. Denn auch die Jordanier verzichten an der Grenze zu Israel auf einen Stempel. Die Story am Grenzübergang muss also lauten: „Ich war die ganze Zeit in Jordanien." Einreise- und Ausreise-Stempel von Syrien nach Jordanien sind ja vorhanden. Umgekehrt ist das Risiko ungleich größer. Denn wer über den Landweg nach Amman und dann nach Damaskus reist, mag zwar kein israelisches Siegel haben, es fehlt aber der jordanische Einreisestempel. Das könnten die syrischen Grenzbeamten merken und ihre Schlüsse ziehen. Vor dieser Situation stehe ich, als ich meinen zweimonatigen Einsatz 41

als dpa-Korrespondent in Tel Aviv im Mai 2002 beende. Vor meinem Flug nach Deutschland möchte ich noch schnell Freunde in Damaskus besuchen. Zufällig fahren an meinem Reisetag auch jordanische Freunde von Amman über Damaskus nach Beirut. Ich könnte mich ihnen anschließen. Die Gelegenheit ist günstig. Die Spannung in Israel ist zu dieser Zeit auf einem Höhepunkt. Die Operation Schutzschild ist angelaufen. Alle palästinensischen Städte bis auf Jericho sind von den Israeli Defence Forces wieder besetzt worden. In der Westbank herrscht strikte Ausgangssperre. Weltuntergangsstimmung macht sich breit, auch bei israelischen Freunden in Tel Aviv. Im März und April ging fast jeden Tag irgendwo eine Bombe hoch, explodierte ein Bus oder sprengte sich ein Selbstmordattentäter in einem Restaurant oder Supermarkt in die Luft. Tel Aviv ist wie ausgestorben. Kaum jemand traut sich auf die Straßen, wo sonst das Leben bis tief in die Nacht pulsiert. Die unermüdliche Partystadt ist zur Geisterstadt verkommen. Vor jedem Lokal tastet ein Wächter die wenigen Besucher ab. Die Wellen des Mittelmeers plätschern einsam auf den Sandstrand. Die Sonnenliegen stehen verlassen. Die Musik aus den Bassboxen der Cafés dröhnt ins Leere. Die Bewohner scheuen sich vor großen Menschengruppen. Hastig kaufen sie ihre Lebensmittel ein und verschwinden wieder in ihren Wohnungen. In dieser Zeit haben die Internet-Supermärkte ihren Absatz drastisch steigern können. Auch die virtuelle Flirtseite „JDate" verzeichnet seit März einen Boom und wird immer häufiger angeklickt. Blind Dates finden zunehmend in privaten Wohnungen statt und nicht mehr in unverbindlichen Cafés. Die Stimmung ist so emotional geladen, dass sich Singles inzwischen im Web auch nach politischer Einstellung suchen - links, liberal, konservativ, orthodox, koschere Regeln beachtend oder nicht. Sonst führt jede Diskussion über Politik und Religion schnell in ein emotionales Desaster. Die israelische Gesellschaft ist seit der zweiten Intifada stark nach rechts gerückt und hat sich trotzig eingeigelt. Moderate Töne sind Verzweiflung und Wut gewichen. Viele, die sich als liberal und weltoffen ansehen, finden sich heute am extrem linken Rand wieder und werden von ihren Nachbarn als Idealisten belächelt. In dieser Atmosphäre breche ich Richtung Damaskus auf. Es ist Donnerstagmorgen. Im Morgengrauen nehme ich den ersten Uberlandbus von Tel Aviv nach Jerusalem. Das neue Bus-Terminal, das mit einer riesigen Shopping Mall im amerikanischen Stil kombiniert ist, 42

wird bewacht wie ein Flughafen. Abtasten. Rucksack öffnen. Fragen nach Waffen beantworten. Viele junge Reservisten in Uniform und Gewehren sind unterwegs. Frauen und Männer. Während jeder aus Angst auf Busfahrten verzichtet, wenn er nur kann, sind viele junge Soldaten darauf angewiesen, um das Wochenende günstig zu Hause zu verbringen. So ist mein Bus zur Hälfte leer und zur anderen Hälfte gefüllt mit olive-braunen Uniformen und klappernden Knarren. Ein Soldat schräg vor mir schläft ein. Sein Gewehrlauf zeigt still auf mich. In Jerusalem stoppt der Bus wieder in einem riesigen Einkaufszentrum. Noch einmal Gepäck-Kontrollen. Im Hintergrund plätschert aus den Lautsprechern der Shops sanfte Popmusik. V o r dem Eingang will ich ein Taxi zum Damaskus-Tor nehmen. Aber es ist nicht einfach, einen Fahrer zu finden, der nach der Taxiuhr fährt. Die Krise hat die Kunden vertrieben. So wächst der Druck, wenigstens von scheinbar ahnungslosen Touristen höhere Fahrpreise abzustauben. Endlich habe ich mich mit einem älteren, etwas dicklichen Fahrer geeinigt, der eine jüdische Kippa trägt. D o c h als er losfährt und zu reden beginnt, wäre ich am liebsten wieder ausgestiegen. Blanker Hass kommt über seine Lippen. „Hüte dich vor den Moslems! Sie sind unser aller Verderben", ereifert er sich, während er die leeren, hügeligen Straßen Richtung Altstadt fährt. „Ich bin bereit, auf jeden Araber zu schießen, auch auf Frauen und Kinder. Sie haben es nicht anders gewollt! M i t ihnen kann man nicht reden." Beim Sprechen spritzt ihm Spucke aufs Lenkrad. „Ich verspreche dir: Auch wenn du noch 5 0 0 Jahre hier lebst, wirst du keinen Frieden sehen!" Ich sage während der gesamten Fahrt fast kein W o r t , über mein Reiseziel schon gar nicht. D e r Mann fährt mich sogar bis direkt vor das Damaskus-Tor und lässt mich nicht — wie es mir schon passiert ist — hundert Meter weiter an der unsichtbaren Grenze zwischen dem jüdischen West- und dem palästinensischen Ost-Jerusalem aussteigen. Kurz vor der Altstadtmauer passiert der Fahrer mit seinem neuen, weißen Mercedes kleine arabische Strafiencafés, Kebabbuden

und

Marktstände - vorbei an den Menschen, die er am liebsten umbringen würde. Zugleich gebe es hier sicher mehr als einen Passanten, der spontan die gleichen Tiraden in umgekehrte Richtung abfeuern würde. Fußgänger und Fahrer schauen sich in die Augen. Sie sind nur wenige Meter voneinander entfernt. Stille im Wagen. So verdammt nah ist der Hass. Jerusalem ist ein atemberaubendes Mosaik.

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Zum Glück denken nicht alle so wie der Fahrer, beruhige ich mich und schaue dem Mercedes nach, wie er mitten durch das wilde Markttreiben und das arabische Wortgewirr davonbraust. Gleich gegenüber dem massiven Damaskus-Tor an der Stadtmauer, in einem kleinen Hinterhof, ist die Anlaufstelle für Reisende zu „der Brücke". Israelis nennen die Verbindung über den Jordan nördlich des Toten Meeres Allenby-Bridge, benannt nach dem britischen General Edmund Allenby. 1918 schlug er die Türken mit Hilfe des exzentrischen Oberst T. E. Lawrence („Lawrence of Arabia") und der arabischen Stämme in der palästinischen Megiddo-Ebene. Damit leitete Allenby die Kapitulation des Osmanischen Reichs ein. Auf jordanischer Seite ist die Brücke nach König Hussein benannt, dem 2001 verstorbenen Haschemiten-König Hussein ibn Talal, der fast fünfzig Jahre in Amman herrschte. Im Volksmund heißt sie einfach „die Brücke" und ist für die meisten Palästinenser in den besetzten Gebieten die einzige Verbindung zur Außenwelt. Im kleinen Raum der Reiseagentur am Damaskus-Tor sitze ich in einem abgegriffenen Sessel und warte auf Mitfahrer. Ein junger Palästinenser und eine alte katholische Nonne mit großer Brille und grauem Gewand werden Teil der Fahrgemeinschaft sein. Als niemand mehr kommt, entscheiden wir uns, mit einem kleinen Aufpreis halbleer loszufahren. Schließlich will mich Moussa, mein jordanischer Freund, schon mittags treffen, damit wir gemeinsam nach Damaskus fahren können. Als der lange Mercedes Pullmann am Tempelberg vorbei nach Osten Richtung Wüste fährt, gebe ich Moussa noch schnell per Handy durch, dass er jetzt in Amman losfahren kann. Von beiden Seiten bewegen wir uns nun auf die Brücke zu. Die Siedlerstraße zum Toten Meer ist gut ausgebaut und fällt steil ab. Jenseits der Stadtgrenze erstrecken sich auf beiden Seiten Dünen und Berge. Nur Geröll und Sand, sonst nichts. Hin und wieder sind ein paar Grasbüschel zu sehen. Jedes Mal, wenn ich diese Strecke durch das Westjordanland fahre, frage ich mich, was um alles in der Welt Menschen dazu bewegen kann, wegen eines derart öden Landstrichs einen der hartnäckigsten und blutigsten Konflikte der Gegenwart zu führen. Dogmatischer Glaube, ein paar alte Bücher, Erzählungen von Vorfahren, engagierte Reden von Politikern und Ideologen, Holocaust, Existenzangst. Wirtschaftliche Gründe sind es jedenfalls nicht. Sonst hätten beide Seiten längst die Grenzen von 1967 wieder hergestellt, Frieden geschlossen und Handel getrieben. 44

Das mag simpel klingen. Aber in so verfahrenen Situationen denke ich gerne an Grundsätzliches, wie an den Aufklärer Immanuel Kant. Während die braune Wüstenlandschaft an den Fenstern des Sammeltaxis vorbei zieht, fallen mir drei Grundsätze des alten Königsbergers ein. Erstens: Kein Mensch hat ursprünglich mehr Recht als ein anderer, an einem bestimmten Ort der Erde zu sein. Zweitens: Da die Erde eine Kugel und ihre Fläche demnach endlich ist, müssen alle Menschen zwangsläufig miteinander auskommen. Drittens: Je mehr Handel Menschen und Staaten miteinander treiben, desto weniger rentiert sich für sie wirtschaftlich ein Krieg. Weisheiten, die in der Wüste des Nahen Ostens versanden. Die Nonne stupst mich an und zieht ihren knallroten Reisepass hervor. Ein Sonderdokument aus dem Vatikan, mit dem sie zwischen den irdischen Fronten pendelt. Passkontrolle. Nach nur knapp vierzig Minuten sind wir bereits am militärischen Vorposten im Jordantal angelangt, rund 380 Meter unter dem Meeresspiegel. Es ist heiß. Keine Menschenseele zu sehen, nur drei gelangweilte, stämmige israelische Soldaten mit der typischen Spiegelsonnenbrille stehen an der Barrikade. Nach ein paar Routinefragen lassen sie uns kommentarlos zum israelischen Grenzposten durch. Eigentlich ist es eher ein Reisezentrum mit dem Charme einer halbwegs gepflegten Autobahnraststätte. Drinnen ist es angenehm kühl. Eine junge Israelin mit langen, braun gelockten Haaren begrüßt mich am Schalter. „Sie wollen nach Jordanien?", fragt sie höflich. „Wo ist Ihr Visum?" Selbstsicher antworte ich: „Das Visum gibt es auf der jordanischen Seite." Doch sie schüttelt den Kopf. „Nein. An diesem Ubergang nicht. Diese Grenze gilt noch immer als umstritten." Verflixt! Daran habe ich gar nicht gedacht. Jordanien betrachtet nur die beiden Grenzübergänge zum Kernland Israel als vollwertig — im Norden die Scheich Hussein Brücke südlich vom See Genezareth und im Süden der Ubergang nahe des Roten Meeres zwischen Aqaba und Eilat. „Sie können hier nicht rüber", meint die Beamtin. Doch ich habe schon die ersten Ziffern auf meinem Handy gedrückt. Moussa sitzt noch im Auto und rast gerade die kurvige Landstraße vom Plateau des Ostjordanlandes herab. „Versuch' es auf jeden Fall!", drängt er. ,Alles andere erledigen wir drüben. An der Grenze habe ich einen Freund. Viel Glück!" Wieder gehe ich zum Schalter und sage zu der hübschen Grenzbeamtin: „Ich will trotzdem rüber. Das ist ein jordanisches Problem, kein 45

israelisches." Sie zögert ein wenig, dann sagt sie freundlich: „Wie Sie wollen. Sie kommen aber wahrscheinlich gar nicht bis zum jordanischen Grenzposten. W e n n Sie umkehren müssen, bekommen Sie die Ausreisegebühr von 2 5 0 Schekel nicht erstattet!" 2 5 0 Schekel für die Ausreise? Das sind zu der Zeit etwa 6 0 Euro. Am Flughafen wird die Gebühr nicht erhoben. Ich zahle mürrisch und tausche nebenan gleich meine letzten Schekel in jordanische Dinar. Dann warten wir eine lange halbe Stunde auf den Reisebus, der im kilometerbreiten Niemandsland zwischen den Grenzposten hin und her pendelt. Der Busfahrer steigt aus und ruft „Visum! Visum!". Bevor die knapp ein Dutzend Passagiere einsteigen können, kontrolliert er die Pässe. M i t ihm kann man sicher nicht handeln, denke ich. Er tut nur seine Pflicht und will seine Haut retten. Jetzt ist auch noch die Handyverbindung abgebrochen. Was mache ich nun? Die hintere T ü r des Busses ist verschlossen. Verlegen stehe ich etwas abseits. Plötzlich erblicke ich wieder die alte Nonne. O h n e zu zögern gehe ich lächelnd auf sie zu, packe ihren großen, alten Koffer, halte den Atem an und laufe schnell auf die vordere Bustür zu, ohne mich umzudrehen. Mein Plan ist aufgegangen: Der Fahrer glaubt, wir reisen zusammen. Einen M i t arbeiter der Kirche wollte er nicht bedrängen. Schließlich sind Geistliche samt Anhang keine normalen Touristen, und sie achten in der Regel sorgfältig auf die korrekten Dokumente. Erst als ich im dunklen Bus sitze, spüre ich meinen Puls pochen. Ich hoffe, dass der Fahrer nicht noch auf die Idee kommt, mich hier drin zu kontrollieren. Aber in der Hektik des Ablaufs bin ich längst vergessen. Stumm schiebe ich die schweren Stoffvorhänge zur Seite, schaue aus dem Fenster und atme auf. W i r fahren an trockenen, kreidefarbenen Hügeln vorbei. Einige sehen künstlich aus. Hier verbergen sich israelische Stellungen. Die Gegend ist trostlos und unheimlich. Im Bus zischt die Luft aus dem Klimagebläse. Sonst könnte man eine Stecknadel fallen hören. Niemand spricht ein W o r t . Langsam fahren wir über den Jordan, der nur ein plätschernder Bach ist und im Sommer zum Rinnsal schrumpft. Nach biblischer Legende hielt G o t t den damals breiten Strom auf, damit sein Feldherr Josua die Israeliten aus dem östlichen Jordanland in das „gelobte Land" Kanaan fuhren konnte - am Ende von angeblich vierzig Jahren W ü s tenwanderung nach der Vertreibung aus Ägypten. Am Vorabend ihres Zuges gen Westen ins Gebiet der Kanaanäer soll Moses die Israeliten in der letzten Rede vor seinem T o d noch einmal ermahnt haben:

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„Auch Ihr seid Fremdlinge gewesen im Ägyptenland. Darum sollt auch Ihr die Fremdlinge lieben." Der Kontrast zu heute könnte nicht größer sein. Statt den Strom aufzuhalten wie Gott, haben die Japaner erst kürzlich auf konventionellere Art versucht, aus dem Jordan eine Verbindung zu machen. Noch Anfang 2 0 0 0 stellte die Regierung in Tokio 9,7 Millionen US-Dollar zur Verfügung, um eine vierspurige Brücke zu bauen. Sie löste das provisorische Gerüst ab, das nach dem Sechstagekrieg 1967 errichtet wurde. In einer Pressemitteilung des japanischen Außenministeriums vom 19. Januar 2000 heißt es noch hoffnungsvoll: „Da die Palästinensische Autonomiebehörde errichtet wurde und Jordanien 1994 einen Friedensvertrag mit Israel geschlossen hat, wird erwartet, dass der Verkehr zwischen beiden Seiten des Flusses in den kommenden Jahren aufleben wird. Bessere Transportmöglichkeiten werden gebraucht." Neun Monate später bestieg der neue Ministerpräsident Ariel Scharon provokativ den Tempelberg in Jerusalem, der unter muslimischer Verwaltung steht, und die zweite palästinensische Intifada fegte über das Land. Nicht einmal unser pendelnder Reisebus ist mit Passagieren gefüllt. Außerdem fährt er viel seltener über die Brücke als früher. Von Lastwagen oder Privatautos keine Spur. Hinter dem Jordan stoppt der Bus plötzlich. Ein jordanischer Soldat steigt zu. Jetzt wird es wieder eng. Er läuft langsam durch die Reihen, sammelt die Pässe ein und kontrolliert sie nach dem Visum. Ich beginne trotz der Klimaanlage zu schwitzen. Als letztes kommt er zu mir. Der Bus fährt schon wieder. Ich reiche ihm freundlich meinen Pass und schaue sofort wieder aus dem Fenster. Plötzlich zischt der Soldat „Visum?!". Ich zeige nur auf meinen Pass und nicke. Er blättert nochmals. Das Spiel treiben wir ein paar Mal. Als ich schließlich vorgebe, nichts zu verstehen, gibt er auf, schüttelt den Kopf und legt meinen Pass auf den Stapel der anderen, vorne aufs Armaturenbrett. Noch einmal atme ich tief durch. Geschafft! Auf jordanischer Seite falle ich Moussa in die Arme. Er klopft mir auf die Schulter und führt mich gleich zum Chef des Grenzpostens. Der stolze M a n n mit grau meliertem Haar begrüßt mich herzlich, bietet mir einen Tee an, und startet mit Moussa eine lange Diskussion auf Arabisch. Ich gehe in den Nachbarraum, wo zwei erschöpfte Rucksacktouristen sitzen. Einer ist Australier, der andere muslimischer USAmerikaner. Beide fluchen über die Israelis und schreiben gerade einen Bericht über das, was ihnen widerfahren ist.

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Als sie die Grenze passierten, so erzählen sie, habe ein israelischer Soldat das Gepäck durchwühlt und den Koran des Amerikaners gefunden. Daraufhin seien die Reisenden aggressiv befragt und geschlagen worden. Nach ihren Angaben wurden sie in eine Militärzelle gesperrt und kamen erst am nächsten Tag frei. Dann wurden sie abgeschoben. Ob die Geschichte in ihren Einzelheiten stimmt, ist nicht nachzuprüfen. Sicher ist allerdings, dass die israelische Armee und Polizei während der Operation Schutzschild und der drohenden Gefahr von Terroranschlägen äußerst gereizt reagiert. Die Geschichte der beiden Rucksacktouristen fällt in eine Zeit, in der mehrfach Ausländer, unter anderem auch Mitarbeiter internationaler Nichtregierungsorganisationen, mit fadenscheinigen Gründen an der Einreise gehindert worden sind. Oft dürfen sie den Flughafen Ben Gurion bei Tel Aviv nicht verlassen und müssen mit der nächsten Maschine zurück fliegen. Angesichts dessen ist mein Grenzübertritt in entgegen gesetzte Richtung recht glimpflich verlaufen. Eine halbe Stunde nach meiner Ankunft auf jordanischer Seite erreicht uns ein Fax des Innenministeriums aus Amman: Die Grenzbeamten dürfen mir ein eintägiges Transitvisum ausstellen, kostenlos. Ich nehme das Papier erleichtert entgegen und bin Damaskus einen wichtigen Schritt näher gekommen. Mit Moussas neuem schwarzem V W Golf rasen wir bergauf nach Amman. Dort treffen wir seine Kollegen aus verschiedenen Stiftungen, die sich für ein Seminar in Beirut vorbereitet haben. In einem bulligen amerikanischen Geländewagen und einem Pkw fahren wir im Konvoi Richtung Norden. Nur 190 Kilometer liegen zwischen Amman und Damaskus. Je näher wir der Grenze kommen, die etwa auf halber Strecke liegt, desto stärker drängt sich wieder der Gedanke auf, im Notfall die geeignete Story parat zu haben. Was ist, wenn die Syrer Verdacht schöpfen und merken, dass mir der jordanische Einreisestempel fehlt? „Don't worry", kommt es immer wieder von Moussa herüber. Er probiert im Auto gerade seinen neuen Laptop aus und schaut einen Spielfilm auf CD-Rom. Doch am Grenzposten zwischen Jordanien und Syrien bei den Orten Ramtha und Der'a wird auch Moussa kurz unruhig. Auf jordanischer Seite verschwindet mein Papier mit dem Transitvisum für lange Zeit in verschiedenen Hinterzimmern. Es geht von Hand zu Hand, und immer mehr und hochrangigere Beamten werden an der Prozedur beteiligt. Mehrmals haken wir nach und geben wieder auf. „Das

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Schlimmste, was passieren kann, ist, dass du alleine zurückfahren musst", meint selbst Moussa resigniert. Am Ende stellt sich heraus, dass das Papier nur so ungewöhnlich war, sodass die Beamten nicht wussten, wie sie damit umgehen sollten. W i r wähnen uns in Sicherheit und steigen wieder in die Wagen. D e r letzte Grenzsoldat vor Beginn des jordanisch-syrischen

Nie-

mandslandes stoppt uns unerwartet noch einmal. „Passport", sagt er scharf. Langsam wandern seine Augen über die Papiere. W i r halten den Atem an, als ich meinen Pass zeige. D e r Soldat schaut auf und fragt die Frage, die wir befürchtet hatten: „Wo bist du nach Jordanien gekommen?" Moussa springt als erster in die peinlich lange Pause und sagt freiherzig: „Na, über die Brücke eben." Der Soldat mustert mich. „Aus Israel?" „Ja", sage ich. „Das ist doch kein jordanisches Problem, sondern ein syrisches", sage ich trotzig, mein Patentrezept wiederholend. M i t einer kurzen Handbewegung lässt er uns ziehen. D i e öde Pufferzone zwischen beiden Ländern ist nur ein Beispiel der viel beschworenen aber missglückten „Bruderschaft" zwischen den arabischen

Staaten.

Stacheldraht, Wachanlagen,

Autowracks

und

Mauern. Meist dann, wenn Bruderschaft — ob die arabische, islamische oder sozialistische — am stärksten propagiert wird, ist die Nachbarschaft am ungemütlichsten. Im Kalten Krieg waren die Grenzen zwischen der D D R und Polen oder der damaligen Tschechoslowakei ebenfalls härter als die der westeuropäischen Staaten, selbst zu Zeiten vor dem Schengener Abkommen. Die jungen Staaten Jordanien und Syrien, deren Grenzen durch das Sykes-Picot-Abkommen 1 9 1 6 zwischen Großbritannien und Frankreich erstmals willkürlich gezogen wurden, haben völlig unterschiedliche politische Systeme und Ideologien. Das Königreich Jordanien hat sich unter der Haschemiten-Dynastie Richtung Westen orientiert und ist wirtschaftlich zunehmend von den U S A abhängig geworden. M i t einem Parlament mit

einge-

schränkten Rechten wagte König Hussein erste kleine Schritte in Richtung

Demokratie,

Frauenwahlrecht

eingeschlossen.

Husseins

Großvater, König Abdullah, der 1951 auf dem Tempelberg in Jerusalem ermordet wurde, hegte Pläne für ein arabisches Großreich. D e m entsprechend misstrauisch begegneten ihm seine arabischen Nachbarn. Er annektierte zudem das Westjordanland, einschließlich OstJerusalem, obwohl andere arabische Staaten damals schon für eine palästinensische Unabhängigkeit eintraten. Erst sein Enkel Hussein,

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der die palästinensische Guerilla im eigenen Land — Arafats P L O — aufs Messer bekämpfte, erklärte vor dem Friedensvertrag mit Israel 1994

Jordaniens

endgültigen

Verzicht

auf das

Westjordanland.

Zugleich hat Jordanien aber mehr für die Integration palästinensischer Flüchtlinge getan als alle anderen arabischen „Brüder". Die spärliche Beduinenbevölkerung des Landes verdoppelte sich durch die Palästinenser, von denen die meisten einen jordanischen Pass bekamen. Husseins Sohn Abdullah II., der ihm nach seinem T o d 2 0 0 1 folgte, ist sogar mit einer Palästinenserin verheiratet. In Syrien dagegen leben die meisten Palästinenser noch in so genannten Flüchtlingslagern, die ausgewiesene oder neu errichtete Stadtviertel sind. Damit wollen Damaskus und vor allem die Palästinenser das Problem auf der politischen Tagesordnung köcheln lassen und die Forderung nach einer vollständigen Rückkehr nach Palästina aufrechterhalten. Die syrische Diktatur hat sich sozialistisch und arabisch-nationalistisch ausgerichtet mit engen Beziehungen zur Sowjetunion. Nicht mit dem Nachbar Jordanien, sondern mit Ägypten unter dem populären General Jamal Abdel Nasser bildete Syrien 1958 bis 1961 einen gemeinsamen Staat, die Vereinigte Arabische Republik. Jordanien versuchte sich dagegen in einer Föderation mit dem Irak (dessen Monarchie allerdings ein Jahr später durch britische Truppen gestürzt wurde). Während sich die Haschemiten direkt vom Stammbaum des Propheten M o h a m m e d ableiten, spielt der Islam im syrischen Staatsverständnis eine untergeordnete Rolle. D i e regierende Ba'ath-Partei — unter Hafez Assad und seit 2 0 0 0 unter seinem Sohn Baschar — stützt sich traditionell besonders auf Alewiten, Drusen, christliche Minderheiten und säkulare sowie moderate Muslime. Assad hat islamische Fundamentalisten stets mit aller Härte verfolgt und ein friedliches Zusammenleben zwischen den verschiedenen Religionen angestrebt. Während die radikale Muslim-Bruderschaft in Jordanien sogar Parlamentsabgeordnete stellt, bekämpfte Assad sie bis aufs Messer, was im berüchtigten Massaker von Hama 1982 gipfelte. Hart blieb der Präsident auch stets gegenüber dem Westen und Israel. Anders als Jordanien, das seit 1967 an keinem Krieg gegen das Nachbarland mehr teilnahm, griff Syrien zusammen mit Ägypten Israel noch einmal im J o m Kippur Krieg 1 9 7 3 an, wo es allerdings erneut verlor und einen noch größeren Teil der Golanhöhen abtreten musste. So war auch ein separater Frieden Jordaniens mit Israel Assad ein Dorn im Auge.

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Die Unterschiede und Reibungspunkte beider Länder ließen sich noch lange fortsetzen. Jedenfalls ist es an diesem T a g für mich ein glücklicher Umstand, dass sich die arabischen Staaten nicht gut untereinander verstehen. Denn der Soldat, der den fehlenden jordanischen Einreisestempel in meinem Pass entdeckt hatte, hat dies nicht an seine syrischen Kollegen auf der anderen Seite weitergemeldet. D a ich zuvor an der Universität Damaskus Arabisch studiert hatte, ist mein Pass voll mit syrischen, libanesischen und jordanischen Stempeln. An der syrischen Passkontrolle kommt mir ein rundlicher Beamter am leeren Touristenschalter Freude strahlend entgegen und heißt mich warmherzig willkommen. Kurz halte ich dennoch den Atem an, als er den Pass aufschlägt. Doch sein Blick landet sofort auf der Seite mit dem syrischen Visum. Er lacht und stempelt. Die übrigen Seiten schaut er sich gar nicht erst an. Ich hätte selbst israelische Stempel im Pass haben können und wäre trotzdem nach Syrien gekommen. Ein so leichtes Endspiel nach all den Strapazen hätte ich mir nicht vorgestellt. In Damaskus verabschiede ich mich müde von Moussa und seiner Truppe, die noch über die Berge nach Beirut weiter fahren müssen. In den dunklen schmalen Gassen der osmanischen Altstadt, im überwiegend christlichen Viertel zwischen Thomas-Tor (Bab T o u m a ) und Ost-Tor (Bab Sharqi), suche ich meine Freunde auf. Einige sind Syrer, andere internationale Studenten, die hier Arabisch oder Philosophie studieren. Kaum zu glauben, dass ich in den frühen Morgenstunden noch in der Strandmetropole Tel Aviv war. Stärker könnte der Kontrast kaum sein. D a ich nur wenige Tage Zeit habe und meine Termine in Israel koordinieren muss, lasse ich mich dazu verleiten, meine Freunde in Tel Aviv per E-Mail anzuschreiben. Das Internet wird jedoch vom syrischen Geheimdienst ( Muchabarat) kontrolliert. Ich sitze in einem der vielen Internetcafes, die seit dem Amtsantritt Baschar Assads aus dem Boden sprießen. Nach kurzem Überlegen schicke ich die Mails ab. Ich bin gespannt, ob die elektronische Post, die mit ,,.il" endet, ankommen wird. Meine Sorge war unbegründet. Denn schon am nächsten T a g habe ich die ersten Antworten aus Tel Aviv auf dem Schirm in Damaskus. An meinem Abschiedsabend gehen wir ins Marmar tanzen, eine Disco in einem Jahrhunderte alten osmanischen Haus in der N ä h e des Thomas-Tors. Muslimische, drusische und christliche Mädchen win57

den ihre schlanken Körper in orientalischen Pop-Rhythmen. Männer und Frauen tanzen ungeniert zusammen. Die Mode fällt ebenso knapp und sexy aus wie in den israelischen Tanzschuppen. Männer mit langen Bärten, die wie islamische Eiferer aussehen, scheitern schon am Türsteher. Ob im Marmar, beim Märchenerzähler im traditionellen Teehaus AlNaufara (Die Fontäne) neben der Umayaden-Moschee oder auf dem Suq Al-Hamidiya, der quirligen Marktgalerie in der Altstadt, würde es meinen israelischen Freunden sicher auch gefallen. Assaf, ein junger Journalisten-Kollege aus Jerusalem, hatte mir vor meiner Abfahrt gesagt: „Mein Traum ist es, einmal in der Altstadt von Damaskus einen arabischen Kaffee zu trinken und dann zur römischen Wüstenstadt Palmyra zu fahren. Aber das werden wir wohl nie erleben." Lior, ein anderer Freund aus Tel Aviv, den ich beim Bergsteigen am Toten Meer kennen gelernt hatte, meinte: „Ich träume schon seit meiner Kindheit von einer Bahnfahrt von Amman nach Istanbul. Du hast es so gut, du kannst über die Grenzen gehen als sei nichts gewesen. Wir sitzen hier fest." Wie eine Reise in der Zeitmaschine kommt es mir vor, als ich schon am Abend nach dem Marmar-Ausflug plötzlich auf dem Vorplatz des modernen Tel Aviver Museums auf der „Techno-Party for Peace" tanze. Meine Rückfahrt war weniger spektakulär verlaufen. Die Ausreise aus Syrien war Routine und an der Brücke standen die Israelis kurz vor Feierabend. Ihnen war nicht nach langen Fragereien zu Mute. „Enjoy your stay", verabschiedete mich die Grenzbeamtin freundlich. Während auf dem Museumsplatz von Tel Aviv die Bässe in meinem Magen wummern, flimmern Bildfetzen der Intifada und des israelischen Einmarsches in die besetzten Gebiete über eine Großleinwand. Bunt gemischte Jugendliche, die nach Aussehen und Kleidung ebenso in der Kulturbrauerei im Berliner Prenzlauer Berg tanzen könnten, haben ihre Augen auf die große Leinwand geheftet oder schauen in die Sterne am Nachthimmel. Ihre Körper zucken im grellen Neongewitter. Immer wieder flackern Bilder von schreienden Kindern auf, von Leichen, Soldaten, Panzern, von Stacheldraht, Mauern und den bekannten Politikerköpfen. Der blutige palästinensisch-israelische Konflikt hat mich - hat uns alle - wieder eingeholt. Im Rückblick erscheint das verschlafene Damaskus wie ein unendlich weit entfernter Ruhepol. 52

Zwiespalt und Resignation im unheiligen Land Israel, im Frühjahr

2002

Unsichtbare und sichtbare Trennlinien prägen in Israel den Alltag. Viele Einwohner haben sich in dem Gefühl der Angst und Enge längst irgendwie eingerichtet. Doch immer wieder stoßen Menschen auch an ihre eigenen Grenzen. So geschieht es dem etwas schüchternen jüdischen Taxifahrer, der mich gerade von Tel Aviv nach Jerusalem gebracht hat. Er gerät ins Schwitzen, als ich ihm sage, ich möchte ins bekannte arabische Hotel American Colony im Ostteil der Stadt. „Aber nur schnell zum Absetzen", sagt er hastig. Leider verfährt er sich etwas. So genau kennt er sich dort nicht aus. E r ist nervös. „Ich habe zwei Kinder zu Hause", meint er, als wolle er sich entschuldigen. Dabei sind die gelben Nummernschilder mit schwarzen Zahlen für jüdische und arabisch-israelische Autos gleich. Daran kann man niemanden erkennen, außer der Fahrer verrät sich durch seine unsichere Fahrweise, durch eine Kippa in Ost-Jerusalem oder eine Kaffiye (schwarz-weiß gemustertes „Arafat-Tuch") im Westen der Stadt. N u r die palästinensischen Wagenschilder im übrigen Westjordanland und im Gazastreifen tragen eine grüne Aufschrift - die Farbe des Islam auf weißem Grund. A u f der Rückfahrt habe ich ein ähnliches Erlebnis. Ein Palästinenser aus Ost-Jerusalem fährt mich nachts zurück nach Tel Aviv. A u f halber Strecke beginnt er zu grübeln. „Kann ich Sie auf der Autobahn am Stadtrand absetzen?", fragt er. Ich stutze etwas. „Warum das?" Er schweigt und beißt die Zähne zusammen. Seine Hände kneten das Lenkrad. „Wissen Sie genau, wo Sie hinwollen?", fragt er nach einer Weile. „Ja", sage ich. „Ins Zentrum, zum Dizengoff-Platz." „Ich kenne mich in T e l Aviv nicht so gut aus." „Das macht nichts, ich kenne die Abfahrt. Ich führe sie." Noch ein paar Mal fragt er, ob ich nicht doch an der Autobahn aussteigen und ein anderes Taxi nehmen könne. Es ist ihm spürbar peinlich. Dann kommt der gleiche Satz wie am Vormittag von seinem palästinensischen Kollegen: „Ich habe zwei Kinder zu Hause." Schweißperlen bilden sich auf seiner Stirn. Kaum habe ich ihn überredet, doch weiterzufahren, begehe ich einen folgenschweren Fehler: Ich verwechsele die Ausfahrt und wir fahren

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zu früh ab. Jetzt ist er dort, wo er nicht sein wollte: im Straßengewirr von Tel Aviv. D i e Häuserzeilen werden enger, der Verkehr dichter. Ich habe selten einen Menschen gesehen, der sich so furchtet. Seine Hände zittern. Gas- und Bremsbewegungen werden ruckartig. Penibel genau hält er sich an jede Verkehrsregel, lässt jeden Fußgänger vor und vermeidet es, Menschen in die Augen zu schauen. Ich entschuldige mich bei ihm. „Es ist o.k.", sagt er verkniffen. D a n n schweigt er wieder. Nach etwa zwanzig langen Minuten Irrfahrt finden wir mein Hotel. Ich zahle — und sofort braust er davon. Richtung Autobahn. Noch kreuzen viele Taxifahrer täglich die Sektoren in Jerusalem in beide Richtungen oder pendeln kommentarlos zwischen Tel Aviv und der „heiligen Stadt". D o c h die unsichtbare Grenze hat sich in den Köpfen eingegraben. Gerade israelische Araber sitzen dabei zwischen den Stühlen. Sie sind diejenigen Araber, die nach dem arabisch-israelischen Krieg 1 9 4 8 / 4 9 und der Gründung des Staates Israel unter israelische Herrschaft kamen. Heute leben von ihnen etwa eine Million in Israel. Sie machen 18 Prozent der Bevölkerung aus. Die anderen Araber flüchteten oder wurden vertrieben und begannen, sich langsam mit der jungen palästinensischen Nation zu identifizieren. Israelische Araber haben einen israelischen Pass, gelten aber dennoch als Bürger zweiter Klasse. Im statistischen Durchschnitt investiert die Regierung in Jerusalem in die vorwiegend arabisch bewohnten Städte und Gemeinden deutlich weniger als in jüdische Siedlungen

im

Westjordanland oder in jüdische Ortschaften im israelischen Kernland. In den vergangenen Jahrzehnten hielten die israelischen Araber jedoch still und solidarisierten sich nicht offen mit den Palästinensern. Zur Regierungszeit von Premierminister Ehud Barak ( 1 9 9 9 2 0 0 1 ) gewannen arabische Parteien an Einfluss in der Knesset, dem israelischen Parlament. Viele israelische Araber hatten Barak ihre Stimme gegeben. Zuvor hatte der linke arabisch-israelische Philosoph Asmi Bischara — nur symbolisch — seine Kandidatur zum Regierungschef in den Ring geworfen. Der eloquente Bischara, der zu D D R - Z e i t e n an der H u m boldt-Universität studierte, hat mehrfach vor einem „jüdischen Faschismus" gewarnt, der religiöse Orthodoxie zur Grundlage staatlicher und gesellschaftlicher Ordnung mache. Sein Ideal ist ein säkularer binationaler Staat aus Israelis und Arabern. D o c h dafür müssten sich die liberalen Kräfte auf beiden Seiten zusammenraufen. Danach

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sieht es nicht aus, und Bischara wurde 2 0 0 2 ein Prozess angehängt, der ihn um eine erneute Kandidatur fürs Parlament bringen sollte (was nicht gelang). Als Anlass dienten seine politischen Kontakte zum Erzfeind Syrien. Seit Beginn der zweiten Intifada Ende 2 0 0 0 und dem Scheitern der Friedensverhandlungen hat sich das Verhältnis zwischen arabischen Israelis und der jüdisch-israelischen Regierung deutlich verschlechtert. Erstmals lancierten israelische Araber gewalttätige Solidaritätsaktionen für die Palästinenser. Symptomatisch Rir den Zwiespalt der arabischen Israelis ist ein Gespräch, das ich wieder auf einer der vielen Fahrten von Jerusalem nach Tel Aviv führte. „Klar ist die Situation verfahren. Die Gewalt auf beiden Seiten ruiniert uns", sagt der Taxifahrer Ahmed Salhab. „Aber wenigstens ist Israel eine Demokratie. D u kannst sagen, was du willst, auch „Scharon, geh' zur Hölle!", und du wirst nicht dafür eingesperrt." Die Israelis seien clever und könnten gut organisieren. Die Straßen sind gut, die Müllabfuhr klappt. „Die arabischen Regierungen sind dagegen alle korrupt bis auf die Knochen", schimpft er. Auf Palästinenserpräsident Yassir Arafat ist er nicht gut zu sprechen. Er sei kein Staatsmann, sondern ein korrupter Guerilla-Kämpfer. In ähnliche Richtung geht ein Interview, das ich mit einem Abgeordneten des Palästinenser-Parlaments geführt habe. Denn nicht nur israelische Araber, auch Palästinenser selbst erheben zu diesem Zeitpunkt zunehmend Kritik gegen Arafat, der im November 2 0 0 4 starb. Hossam Chader, der Parlamentsabgeordnete aus Nablus, wirft Arafat in dem Gespräch vor, Reformen jahrelang verzögert zu haben und Vetternwirtschaft zu betreiben. „Ich denke nicht, dass Arafat an Demokratie und Veränderung interessiert ist. Denn seine Mentalität ist traditionell", sagt er. „Solche Führer haben mehr Furcht vor der Demokratie als vor der israelischen Besatzung." Selbst der langjährige Weggefährte Arafats und inzwischen ebenfalls verstorbene Historiker Edward Said hatte sich von dem ehemaligen Rebellen-Chef abgewandt, der sich selbst als eine Art mystische Inkarnation des palästinensischen Freiheitskampfes begriff. Der Frust an der palästinensischen Führung reicht natürlich erst recht in diejenigen Lager der jüdisch-israelischen Gesellschaft, die sich bisher als links und kompromissbereit eingeordnet haben. So ergeht es dem Vater einer israelischen Freundin. Galit - und ihren Mann Lior — habe ich beim Bergsteigen kennen gelernt. Kurz danach laden mich Galits Eltern am Samstagabend zum traditionellen Sabbat-Essen nach

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Rischon Lezion ein. Der Vorort südlich von Tel Aviv sollte wenige Wochen später Schauplatz eines blutigen Selbstmordanschlages werden. Ein Palästinenser lief unbehelligt mit einem Sprengstoffkoffer in einen Billardsalon und riss mehr als ein Dutzend Menschen in den Tod. Wenige hundert Meter von dem Schauplatz entfernt sitze ich in einem der gepflegten Apartmenthäuser mit Galits Familie. Die zweistöckige Wohnung ist modern eingerichtet, sehr geräumig und hell. Ich werde herzlich empfangen. Eltern, Kinder und Enkelkinder sitzen beisammen. Die Eltern stammen ursprünglich aus Tripolis. Daher serviert die Mutter scharfen Fisch und andere libysche Spezialitäten. Danach verstricken wir uns in eine Diskussion, die bis zwei Uhr morgens dauert. Der Vater, ein braun gebrannter, warmherziger Mann in den Fünfzigern, war ein Grenzgänger-Pionier nach dem abgeschlossenen Friedensvertrag zwischen Jordanien und Israel im Oktober 1994. „Wir betreiben ein Juwelier-Unternehmen", berichtet er. „Ich war der zweite Unternehmer im Land, der nach dem Vertrag ein Joint Venture mit einer jordanischen Firma wagen wollte." Er glaubte fest an das, was der ermordete israelische Premierminister Yitzhak Rabin am 25. Juli des gleichen Jahres auf dem Rasen des Weißen Hauses in Washington sagte. Kurz zuvor hatten er und Jordaniens König Hussein den 46 Jahre dauernden Kriegszustand beider Länder feierlich für beendet erklärt. Rabins Worte waren sehr emotional: „Ich beginne mit dem hebräischen Wort „Schalom" (Frieden). Millionen Augen auf der ganzen Welt schauen uns in diesem Moment zu mit großer Erleichterung und großer Freude. Wieder könnte ein kriegerischer Alptraum vorbei sein. Gleichzeitig schauen jetzt Millionen Augen im Nahen Osten auf uns mit großer Hoffnung im Herzen, dass unsere Kinder und Enkel nie mehr einen Krieg erleben werden." Galits Vater sagt, er habe selbst mit anpacken wollen, um dieses Ziel zu erreichen. Er sei Bezirksvorsitzender der Friedensbewegung Peace N o w gewesen und habe sich für die Räumung der jüdischen Siedlungen in den Palästinensergebieten stark gemacht. Trotz der Warnungen und Miesmachereien seiner konservativen Bekannten habe er an eine Aussöhnung geglaubt. Deshalb war ihm auch ein Joint Venture mit einer jordanischen Firma so wichtig gewesen. Doch als es konkret wurde, fühlte er, dass

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beide Seiten von Normalität noch weit entfernt waren. „Der Vertragsabschluss zog sich ewig in die Länge", sagt der Vater und erregt sich, als sei es gestern gewesen. „X-mal bin ich nach A m m a n gefahren. Niemand wagte es, seine Unterschrift neben die eines Juden unter das Dokument zu setzen. Keiner hatte das Rückgrad dazu." Stattdessen gab es jede Menge Ausreden. Selbst die jordanische Handelskammer unterstützte das Projekt nicht. Die Prozedur zog sich hin und die jordanische Seite machte immer mehr Auflagen. So sollte die neue Fabrik in Irbid errichtet werden, nicht in Amman. Schließlich kam der Deal doch zu Stande. Selbst heute arbeitet die Firma noch, in Irbid. „Normalerweise ist es so, dass überall sonst auf der Welt die weniger Gebildeten Hass nachbeten und verbreiten. Hier waren es die Unternehmer und die gebildete Mittel- und Oberschicht. Ich war entsetzt", meint der Vater, der selbst in vier Kriegen kämpfte und fünf erlebte. „Ich hatte einen T r a u m " , sagt er schließlich in Anlehnung an die berühmte Rede des schwarzen US-amerikanischen Bürgerrechtlers Martin Luther King gegen die Rassentrennung. „Ich hatte den T r a u m , dass unsere Kinder nie mehr kämpfen müssen, dass wir mit den Arabern Seite an Seite in Frieden zusammen leben, dass unsere Kinder zum Bergsteigen und als Touristen in unsere Nachbarländer fahren können, und wir so reisen können wie in Europa." Er macht eine Pause und schluckt. „Heute müssen wir dagegen fürchten, dass unsere Kinder nicht mehr heil von ihrem Schulweg zurückkommen." Das T h e m a berührt ihn so sehr, dass er sein Temperament merklich zügeln muss. Seine Frau mahnt ihn hin und wieder zur Ruhe. „Alles, an was ich geglaubt habe, ist zusammengebrochen." Arafat ist für ihn ein rotes Tuch. Er habe nicht nur die Israelis, sondern auch die Palästinenser verraten und sie durch die Unterstützung von Gewalt in die ausweglose Situation gebracht, schimpft er. Längst hat der Vater sein Engagement bei Peace N o w an den Nagel gehängt. „Wir haben den Palästinensern [unter Rabin] 40 0 0 0 Gewehre gegeben, um ihre Polizei aufzubauen. Jetzt sind ihre Läufe gegen uns gerichtet." Die Argumente gegen seine rechtsgerichteten Bekannten seien ihm ausgegangen. „Alles das, was ich als Linker an Zugeständnissen gemacht habe, muss ich mir heute als Verrat vorwerfen lassen." Er spricht in der Vergangenheit: „Ich war links. ... Ich bin es immer noch." Der Nachsatz klingt nicht mehr ganz überzeugt. „Ich war für Frieden. ... U n d ich bin immer noch dafür." Er - wie alle Familien-

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mitglieder am Tisch — schimpfen auf die jüdischen Siedler und treten dafür ein, dass sie das Westjordanland verlassen sollen. Doch jetzt herrscht Stillstand. Der Vater betont: „Ich bin trotz aller Enttäuschung bereit, wieder einen Versuch zu machen. Aber wir warten sehnsüchtig auf jemanden, dem wir die Hand schütteln können. Die Person gibt es zurzeit nicht." Nun ist auch er nach rechts gerückt, wie die gesamte israelische Gesellschaft. Ob es wirklich Hardliner sind oder ob sie lediglich eine tiefe Enttäuschung gegenüber den Politikern verspüren, ist dabei oft schwer auszumachen. „Was jetzt zählt, ist Sicherheit", sagt der Vater. „Sicherheit vor dem Terrorismus. Das würde jeder Vater so sehen." Lior und alle anderen am Tisch nicken. Die Friedensvision ist zum Existenziellen geschrumpft, die Angst ums Uberleben. Deshalb könne er nicht verstehen, warum die ganze Welt samt UNO — außer den USA — gegen Israel sei, wenn es sich doch nur verteidige. Nach langer Diskussion räumen Lior und Galits Vater schließlich ein, dass auch israelische Truppen Fehler gemacht hätten mit der sinnlosen Zerstörung von Polizeieinrichtungen, Schulen, Banken, Ministerien. „Wie jeder Mensch hat auch jedes Land gute und schlechte Zeiten, in denen es sich gut oder schlecht verhält. Die Welt sieht Israel im Moment nicht von seiner besten Seite." An diesem Abend fällt auf, dass ausschließlich die Frauen am Tisch trotz allen Frusts Mitleid äußern mit dem Schicksal palästinensischer Familien. Die Männer meinen dagegen, die Palästinenser seien selbst Schuld: „Sie haben das Geld in Korruption versenkt und in Waffen gesteckt statt in Infrastruktur und Schulen." Vielleicht sollten im Nahen Osten doch Frauen Regierungschefs werden, denke ich auf dem Weg nach Hause. In dem Strudel der Gewalt und Depression ist jedenfalls kaum noch jemand in der Lage, die andere Seite zu sehen und zu verstehen. Ein Satz des Vaters klingt mir noch lange Zeit im Ohr: „Im Nahen Osten wird es erst dann Frieden geben, wenn die Araber ihre Kinder mehr lieben als sie uns Juden hassen."

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Erstarrt in der Politik der Steine

Jerusalem,

im Dezember

2002

Grenzen stellt man sich gewöhnlich als waagerechte Trennlinien vor, die eine Fläche von einer anderen abschneiden. Dabei können sie mehr oder minder durchlässig sein. Wer diese Beschreibung für banal u n d überflüssig hält, sollte nach Jerusalem k o m m e n . Dort, wo M u s lime, J u d e n u n d Christen auf engstem R a u m in verschachtelten K o n struktionen neben- und übereinander wohnen u n d beten, reicht diese Definition nicht mehr aus. In dieser Stadt, die die Araber A l - Q u d s („die Heilige") nennen, verlaufen Grenzen dreidimensional. N u r unter solch absurden Bedingungen konnte der Begriff der „vertikalen Souveränität" geboren werden. Dieser hat freilich mit d e m zentralen politisch-religiösen Zankapfel zu tun — dem T e m p e l b e r g oder H a r a m Al-Sharif. Unter anderem an der Frage, welche archäologische Gesteinsschicht unter wessen völkerrechtlicher

Souveränität

stehen solle, zerschellten E n d e 2 0 0 0 die vorerst letzten ernsthaften Versuche, einen Frieden zwischen Israelis und Palästinensern

zu

schließen. D a s Scheitern der Verhandlungen zählte zu den bittersten persönlichen Niederlagen von US-Präsident Bill Clinton, brach d e m israelischen Ministerpräsidenten Ehud Barak politisch das G e n i c k u n d ließ die zweite Intifada eskalieren. Z u s a m m e n mit gekränktem persönlichem u n d religiös-nationalem Stolz verhinderten ein paar uralte Steine einmal mehr Frieden und wirtschaftlichen W o h l s t a n d für die Gegenwart einer gesamten Region. Der deutsche Archäologe G u n n a r Lehmann, der damals an der U n i versität in Berschewa lehrte, gibt einen tieferen Einblick in die Steine, die im N a h e n Osten Politik machen. M i t ihm u n d einer G r u p p e deutscher Journalisten stehe ich im Dezember 2 0 0 2 an der Südwestseite des Tempelbezirks — d e m heiligsten Ort der J u d e n u n d d e m drittheiligsten der M u s l i m e nach M e k k a und Medina. V o r uns liegt der mächtige Wall aus hellen sandbraunen Steinquadern. D i e unterste Schicht besteht aus großen, groben Klötzen, die nach oben hin feiner werden. A u f der Südseite lugt die silbergraue Kuppel der AlAqsa-Moschee über die Mauer. An der südwestlichen Ecke des Bezirks ragt ein vierkantiges Minarett mit einer kleinen, überdachten Galerie in den strahlend blauen H i m m e l .

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Auf dieser Anhöhe wollte Abraham — der Urvater der Juden, Christen und Muslime — der Legende nach seinen Sohn Isaak opfern. Der jüdische König Salomo (965-926 v. u. Z.), der Sohn Davids, ließ nach jüdischer und christlicher Uberlieferung hier einen riesigen Tempel errichten. Knapp 400 Jahre später, 586 vor unserer Zeitrechnung, zerstörte der babylonische König Nebukadnezar das Bauwerk und große Teile der Stadt. „Damals wohnten hier 60 000 bis 70 000 Menschen", sagt Lehmann und lässt seinen ausgestreckten Arm über den Hügel schweifen. Dabei räumt der Archäologe sogleich mit einem Mythos auf: Das Alte Testament spricht davon, dass die Babylonier das gesamte jüdische Volk deportiert hätten. Das Ereignis ging als die Babylonische Gefangenschaft in die Bibel ein. Wahrscheinlich habe es sich aber nur um die Elite Judas gehandelt, die den Babyloniern gefährlich werden konnten, sagt Lehmann. Unter diesem Zehntel der Bevölkerung waren die Gefolgsleute des Königs, Priester, Großgrundbesitzer und dergleichen. N u r wenige Kilometer von Jerusalem entfernt konnten Archäologen keine Zerstörungen mehr feststellen. Stattdessen fanden sie heraus, dass viele Städte unter den Babyloniern wuchsen und florierten. Die daheim gebliebenen Judäer lebten weiter wie bisher. Für sie interessieren sich die Bibelautoren nicht, obwohl die zurück Gebliebenen die Mehrheit des in der Bibel viel beschworenen „Volkes Israel" oder gar der „israelischen Nation" darstellten. Kritische Archäologen haben im Lauf der Jahrzehnte mehrere Mythen zerbrochen, die die Bibelautoren schufen und moderne Juden gerne selektiv nutzen, oft zu Gunsten einer historisch „tief verwurzelten" staatlichen Legitimation des heutigen Israels. Die US-amerikanische Journalistin Amy Dockser Marcus ist in ihrem Buch „Tempelberg und Klagemauer - die Rolle biblischer Stätten im NahostKonflikt" vielen dieser Unstimmigkeiten nachgegangen. Die neuen archäologischen Erkenntnisse kratzen am Bild einer frühen und dauerhaften „jüdischen Nation". Z u m einen ist „Nation" ein modernes Phänomen aus dem späten 18. und dem 19. Jahrhundert. Menschen einer „Nation" leben mit einem Mindestmaß an Infrastruktur, dichter Kommunikation, zentraler Staatsgewalt. Es ist ein Phänomen moderner Massenpsychologie, das mitunter in Massenpsychose entartet. Es diente aber auch gesellschaftlichen Reformen und der Festigung staatlicher Verwaltung in größeren Territorien.

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Zum anderen lässt sich die These eines Nationalstaats im zehnten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung deshalb schlecht aufrecht erhalten, da kurz nach Salomos Tod (ca. 931 v. u. Z.) das Reich in zwei Staaten zerbrach - Israel im Norden und Juda im Süden mit der Hauptstadt Jerusalem. Die Bibel betrachtet zwar beide als „Bruderstaaten" mit gemeinsamen ethnischen, kulturellen und religiösen Wurzeln. Was das Buch nicht beschreibt, sind die internen Grenzen, die sich durch das „jüdische Volk" zogen. Zwar hatten beide Teile einiges gemeinsam: Beide beteten Jahwe an, sprachen eine ähnliche Sprache und schrieben mit gleichen Schriftzeichen. Doch hatte Juda kulturell, politisch und klimatisch mit Edon im Süden des heutigen Jordanien mehr gemeinsam als mit Israel. So lauten die provozierenden Thesen der Wissenschaftler. Auch in der Bibel finden sich Anhaltspunkte dafür, dass die nördlichen und südlichen Stämme außer einem König wenige Gemeinsamkeiten hatten, und dass es schon immer eine Art Doppelreich gewesen war. Es stellte eben ein heterogenes Reich dar — mit vielen kulturellen Facetten und autonomen Bereichen — ähnlich wie in jüngerer Zeit das Osmanische Reich oder sogar Österreich-Ungarn. Niemand würde sie als Nationen beschreiben, da die Ideologie eines „ethnischen Substrats" als Nukleus des Staates fehlte. Achtzig Jahre später, nachdem Juda von den Babyloniern in die Knie gezwungen und der Tempel in Jerusalem zerstört worden war, besiegten die Perser die Babylonier. Daraufhin kehrten die meisten Deportierten wieder zurück nach Jerusalem und ließen den zweiten Tempel bauen. (So will es zumindest das Alte Testament. Für den ersten wie den zweiten Tempel gibt es jedoch bisher keine archäologischen Belege.) Kaum wurde das Bauwerk der Uberlieferung nach unter König Herodes (73 bis 4 v. u. Z.) renoviert, schliffen es die Truppen des römischen Kaisers Titus im Jahr 70 u. Z. während der jüdischen Revolte. Drei Jahre später begingen die letzten Aufständischen in der Felsenfestung Massada am Toten Meer nach langer Belagerung Massenselbstmord, um nicht den römischen Soldaten in die Hände zu fallen. Im Jahr 138 ließ Kaiser Hadrian im Gefolge des zweiten Aufstands der Juden unter Bar Kochba zu ihrer Demütigung auf dem Berg in Jerusalem einen Tempel des Juppiter Capitolinus errichten. Doch auch dieses Bauwerk stand nicht lange. Mehrere Jahrhunderte blieb der Platz wohl leer. Der legendären Tempelzerstörungen erinnern 67

sich die Juden heute noch jedes Jahr mit dem Feiertag Tisch'a be Av, dem neunten T a g des jüdischen Monats Av. M i t der arabischen Eroberung Jerusalems 6 3 8 unter dem Kalifen O m a r beginnt die Geschichte kompliziert und für den heutigen Konflikt bedeutsam zu werden. Im Jahr 6 8 5 , zur Zeit des UmayadenHerrschers Abdul Malik ibn Marwan, soll auf den Überresten des zweiten Tempels der Bau des Felsendoms begonnen haben. M i t seiner riesigen vergoldeten Kuppel wurde das achteckige Bauwerk bald zum Wahrzeichen Jerusalems. Maliks Sohn Walid legte zudem 7 1 5 den Grundstein der benachbarten Al-Aqsa-Moschee. Sie heißt übersetzt die „Entfernte Moschee", da jener O r t von Mekka aus die entfernteste Stelle der nächtlichen Reise des Propheten M o h a m m e d war, von der die 17. Koransure handelt. Hier soll er zusammen mit Abraham, Mose, König Salomo und Jesus gebetet haben. Danach ritt er mit seinem Pferd in den Himmel und zurück nach Mekka. So ist der Tempelbezirk ebenso für die Muslime ein unverrückbarer Bestandteil ihrer Mythologie geworden. „Die meisten Muslime leugnen, dass auf dem Berg überhaupt ein jüdisches Bauwerk stand", erklärt Lehmann den deutschen Journalisten. Während er spricht, erfüllen die Rufe der Muezzine im Kanon die umliegenden Hügel und das palästinensische Stadtviertel Silwan in dem kleinen Tal, das südlich der Stadtmauer abfällt. D e r Wissenschaftler berichtet von einer Gruppe palästinensischer Archäologiestudenten, die er eines Tages an die Mauer des Tempelbergs geführt hatte. „Das haben alles die islamischen Kalifen gebaut", hätten sie hartnäckig behauptet; auch die unteren Schichten, die älter als der Islam selbst sind. „Das war ganz schön deprimierend", meint Lehmann. „Das sind doch junge Wissenschaftler! Die ganze Empirie geht baden." Danach habe er sich mit ihnen drei Stunden lang in einem Café eine Diskussionsschlacht geliefert — ohne Ergebnis. Zu Lehmanns Überraschung wendete sich jedoch das Blatt, als die Studenten am Ende einzeln zu ihm kamen, um sich zu verabschieden. O h n e dass die Kommilitonen mithören konnten, gestand einer nach dem anderen heimlich: „Ich glaube, Sie haben Recht. Aber das kann ich nicht vor der Gruppe sagen. Dann kann ich mich vor meinem Professor nicht mehr blicken lassen." Das Aufrechterhalten von Mythen und Dogmen gehört für beide Seiten zum täglichen Ritual. Derart tief getränkt in religiösen E m o tionen und nationaler Ideologie ist es nicht verwunderlich, dass der

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Tempelberg eines der vertracktesten Probleme auf dem Weg zu einem Friedensvertrag darstellt. Der Bezirk selbst steht unter muslimischer Verwaltung und bis heute unter jordanischer Hoheit — ein Relikt aus der Zeit bis 1967, als das Westjordanland und Ost-Jerusalem zu Jordanien gehörten. Damals hatten Juden keinen Zugang zur Klagemauer. Sie ist die westliche Stützmauer des alten Tempels und wird heute israelisch kontrolliert, ebenso wie die sich anschließende Grotte mit den Thora-Schreinen, Gebetstischen und meterlangen, vollen Bücherregalen. Während der verzweifelten Verhandlungen zwischen Barak, Arafat und Clinton in Camp David im US-Bundesstaat Maryland im Sommer 2000 und im ägyptischen Tab'a im Januar 2001 kreiste die Frage immer wieder um dieses Fleckchen Erde. Mehrere Optionen waren im Gespräch, wie eine gemeinsame oder eine palästinensische Treuhandverwaltung. Am Ende kamen die Israelis so weit entgegen, dass sie eine palästinensische Souveränität des oberen Tempelbergs akzeptieren wollten. Die unteren Schichten allerdings, so beharrten sie, sollte unter israelische Souveränität kommen, also israelisches „Territorium" sein oder bleiben. Ein völkerrechtliches Novum. Praktisch erschien dies ein schier unlösbarer Anspruch. Doch wichtiger war die Symbolik. Das Alte Testament und der Koran sind und bleiben die Handbücher für die Probleme der Gegenwart. „Historische" Anspielungen gehen den politischen Köpfen der Region besonders dann leicht von den Lippen, wenn die Lage ausweglos erscheint oder ihnen andere Argumente abhanden kommen. So reagierte Arafat im April 2002 aus seinem von israelischen Truppen belagerten und zertrümmerten Hauptquartier in Ramallah auf die Aufforderung Scharons, er solle ins Exil gehen, mit den Worten: „Ist das mein Heimatland oder seins? Wir [Palästinenser] waren hier vor dem Propheten Abraham", wetterte er mit zitternden Lippen. „Kennen die Israelis die Geschichte nicht?" Kurz darauf konterte Scharons außenpolitischer Berater Danni Ayaion in einem Interview im US-Sender CNN: „Wir sind keine Besatzer. Wir leben in einem gottgegebenen Land." Seit 4 000 Jahren, seit der Zeit Abrahams, sei das heutige Israel das Land jüdischer Nationsbildung. Diese Methoden verurteilt der kritische palästinensische Archäologe Adel Jachia aus Ramallah ebenso wie Lehmann: „Die Geschichte wird hier wie nirgendwo anders auf der Welt politisiert", klagte er mir in einem Interview. „Wenn Leute in Bussen durch Selbstmordattentäter

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sterben oder sich im Westjordanland blutig bekämpfen, ist es dämlich, darüber zu streiten, wer vor 4 0 0 0 Jahren zuerst da war." Für die Juden sei Geschichte zur zweiten Religion geworden. Lehmann ergänzt, dass sich aber die Palästinenser genauso in den zirkulären historischen Wettstreit hineinziehen lassen. „Wenn die Israelis ihre N a tionsbildung bei den Israeliten verankern, kontern die Palästinenser damit, sie seien Nachfahren der vorisraelitischen Kanaanäer." Bei der Vielfalt der Völker, die zu jener Zeit im Nahen Osten lebten, sei das Argument geschichtlicher Nonsens. „Genauso könnte man fragen, sind die Deutschen eigentlich Germanen, Alemannen oder Kelten?". Dabei sehen Archäologen Anzeichen dafür, dass Israeliten und Kanaanäer eigentlich das gleiche V o l k waren, schreibt Marcus in ihrem Buch. Zumindest gab es keine schnelle Invasion, wie in der Bibel behauptet, sondern eine Verschmelzung. Funde aus dem zentralen Hochland des Westjordanlandes — die als Kernstück der ersten israelitischen Siedlungen in Kanaan gelten — ergaben, dass die dort lebenden Menschen die traditionellen Götter der Kanaanäer anbeteten, ihr Alphabet und ihre Keramikkunst anwendeten. Lehman weist zusätzlich auf eine Ironie der modernen Geschichte hin: Die Zionisten siedelten vor 1 9 6 7 überwiegend im einstigen Land der Kanaanäer, also in der Küstenebene in Aschkelon, Jaffa, T e l Aviv oder Haifa — nicht im Kernland der Israeliten. Im starken Interesse der Juden an Archäologie — oft um ihre heutigen Gebietsansprüche

abzuleiten

— sieht

der

Wissenschaftler

einen

Grund, warum Palästinenser die Archäologen prinzipiell als Feinde und Eindringlinge betrachten. „Sie befurchten, dass sie ihnen ihre Legitimation abgraben wollen." Dabei ließen sich mit Hilfe der W i s senschaft auch viele Mythen zertrümmern oder Ereignisse ein paar Nummern kleiner interpretieren. In diesem Sinn zählt sich Lehmann zu der Richtung der Minimalisten. Sie entstand Anfang der 1 9 9 0 e r Jahre in Großbritannien und Dänemark („Kopenhagener Schule"). Ihre Anhänger erkennen die Bibel nicht als wirkliches Geschichtsbuch an und vertreten viele Thesen, die Kritiker als ketzerisch, antizionistisch oder sogar antisemitisch verdammen. Allerdings sind darunter auch israelische Archäologen wie Israel Finkelstein. Seine provozierenden Thesen finden sich in dem Buch: „Keine Posaunen vor Jericho, Die archäologische Wahrheit über die Bibel". Lehmann ist davon überzeugt, die Israeliten seien keinesfalls das Kernvolk der Region gewesen. Vielmehr hätten sie in wirtschaftlicher

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Abhängigkeit der Menschen gestanden, die in der fruchtbareren Küstenebene siedelten. „David war also eher ein Vasall der verfeindeten Philister." Wie in der Gegenwart waren die Küstenstriche also wirtschaftlich weiter entwickelt als das Hügelland Judäa und Samaria beziehungsweise das heutige Westjordanland. „Außerdem waren die Bauten, die die Bibel in Jerusalem beschreibt, keinesfalls so monumental", erklärt Lehmann. „Hier ging es lange Zeit eher dörflich zu." Wieder erinnert sich der Wissenschaftler an die Gruppe palästinensischer Stundenten, die er an den Tempelberg geführt hatte. „Die waren von der Methode des Minimalismus ganz begeistert", meint Lehmann. „Bis ich daran ging, den Spieß umzudrehen und das gleiche mit den Inhalten des Koran zu tun." Der Aufschrei sei groß gewesen. „Der Koran ist heilig!", wiesen sie den Versuch beleidigt ab. „Das fuhrt dazu, dass wir uns nie verstehen werden", sagt Lehmann resigniert. „Die Diskurse gehen völlig aneinander vorbei." Genau hier liegt der Grund, warum der Tempelberg prinzipiell unteilbar ist. Eine Grenze zu ziehen, erscheint unmöglich. Das zeigte auch ein Vorfall im Jahr 1996. Der Rabbiner Schlomo Goren hatte sich in den Kopf gesetzt, einen Tunnel unter den Tempelberg zu graben. Dort vermutete er die vergoldete Bundeslade — das Wanderheiligtum der Juden, das nach der Uberlieferung auch die Gesetzestafeln enthielt. Seit der Babylonischen Gefangenschaft gilt sie als verschollen. Das israelische Religionsministerium unterstützte den Rabbi. „Das Graben war gesetzeswidrig", kritisiert Lehmann, „Es gab keine archäologische Lizenz." Zudem waren die Arbeiten so stümperhaft, dass einige muslimische Häuser darüber ins Rutschen gerieten. Als Gegenreaktion füllten die Muslime Beton in ein Ende des Tunnels und zerstörten damit wertvolles archäologisches Material. Die Palästinenser sahen ihre Moscheen in Gefahr und begannen einen Aufstand, der zu tagelangen Straßenschlachten zwischen palästinensischen Polizisten und israelischen Soldaten führte. Mehr als 80 Menschen kamen dabei ums Leben. Wenn die palästinensische Geschichtsschreibung alle Steine auf dem Berg als muslimisch betrachtet, wird klar, warum Arafat in Tab'a dem Kompromiss mit der vertikalen Souveränität auf keinen Fall zustimmen konnte. Als Verräter an der palästinensischen Sache wäre ihm bei der Rückkehr nach Gaza oder Ramallah möglicherweise das gleiche Schicksal widerfahren wie 1995 dem israelischen Ministerpräsidenten Rabin — der Brudermord. Der greise Palästinenserpräsident 65

machte aber auch zu keinem Zeitpunkt einen Gegenvorschlag, wie sich israelische Verhandlungspartner beklagten. Ebenso Barak wurde von konservativen Juden als Verräter beschimpft. Jede Anerkennung palästinensischer Rechte kommt einer Aufweichung jüdischer Gründungsmythen gleich, vor allem die biblisch hergeleitete und ideologisch missbrauchte Vorstellung vom „auserwählten Volk". Doch Barak war den Palästinensern in C a m p David und Tab'a so weit entgegen gekommen wie kein israelischer Ministerpräsident vor ihm. Nach Gebietsaustauschen sollten die Palästinenser in etwa die Größe der jetzigen Westbank und des Gazastreifens als Staatsgebiet erhalten, mit einem sicheren Korridor zwischen beiden Einheiten. D a s entspricht etwa 2 2 Prozent des früheren Mandatsgebiets Palästina. Außerdem sollten Ost-Jerusalem und die Hälfte der Altstadt Teil des Palästinenserstaats werden. Rund 80 Prozent der jüdischen Siedlungen in den besetzten Gebieten sollten geräumt werden. Selbst bei der umstrittenen Frage nach der Rückkehr von palästinensischen Flüchtlingen gab es eine erste Annäherung, wenn auch noch keine Lösung (in der UN-Resolution 194 ist das Recht der Flüchtlinge auf Rückkehr verankert, gegen das sich die Israelis stellen, auch Barak). Hier ist nicht der Platz, alle Details der Vorschläge des Verhandlungspokers nachzuzeichnen, besonders da jede Seite dies im Nachhinein anders darstellt. Doch vor allem an den symbolischen Steinen des Tempelbergs zerschlugen sich am Ende die Hoffnungen auf Frieden. Neben der vertikalen Streitfrage entstand zusätzlich eine horizontale. So blieb strittig, ob der Clinton-Vorschlag nur die 57 Meter breite Klagemauer als israelischen Besitz vorsah oder den gesamten 4 7 0 Meter langen Westwall. Eine Lösung des Konflikts hing buchstäblich an Metern und Zentimetern „heiligen" Bodens einer Stadt, die bereits ein Dutzend Mal in der Geschichte die herrschende Glaubensrichtung gewechselt hatte. Ebenfalls um Meter geht es bei der „jüdischen Rückeroberung" der arabischen Altstadt. Sie besteht aus vier Vierteln — muslimisch, jüdisch, christlich und armenisch — die nahtlos ineinander übergehen. Zusammen mit Lehmann laufen wir durch den quirligen Suq. Menschen drängeln sich in den engen Gassen aneinander vorbei. Marktschreier preisen Kebab, Süßigkeiten, Schuhe, Musikkassetten oder Wasserpfeifen an. Ein D u f t von Zimt und Nelken liegt in der Luft. An einer Stelle schlängelt sich eine Gasse als Treppe bergauf. Oben angekommen, erblicken wir auf den Dächern des arabischen Markts 66

eine zionistische Minibastion,

umgeben mit hellblau

gepinselten

Zäunen und Stacheldraht. Eine fanatische jüdische Familie hat sich trotzig auf den Köpfen der Muslime eingenistet, um den Anspruch auf den „heiligen Boden" im Ostteil der Stadt zu demonstrieren. N u r über die Dächer und mit einer Eisenleiter erreichen die Bewohner ihren kleinen Flachbau, der mit zwei Sonnenkollektoren ausgestattet ist. An einem Pfeiler hängt schlaff eine weiß-blaue israelische Flagge herab. Verloren steht eine kleine Holzburg mit Kinderrutsche auf dem Dach. Ein paar Quadratmeter bleiben dem Nachwuchs zum Spielen. U m sie herum nichts als Zäune und Denkblockaden. Subtiler ist die Methode des Landerwerbs. Palästinensern werden Baugenehmigungen von der israelischen Stadtverwaltung oft verwehrt. Ministerpräsident Ariel Scharon hat sich ebenfalls ein Haus im Ostteil der Altstadt gekauft und damit seine Ideologie des expansiven Zionismus öffentlich untermauert. Er liebt symbolische Gesten, wie er mit seinem überflüssigen Marsch auf den Tempelberg am 2 8 . September 2 0 0 0 demonstrierte. V o n Polizei-Hundertschaften bewacht, von Medien aus aller Welt begleitet und unter harschen palästinensischen Protesten betrat er das umstrittene Heiligtum. Barak hatte dem Besuch zugestimmt. „Es ist mein gutes Recht, sogar meine Pflicht", sagte Scharon damals. Ebenso wie Palästinenser jeden jüdischen Bezug des Areals leugnen, lehnen Zionisten wie Scharon kompromisslos jeglichen muslimischen Anspruch auf den Berg ab. Barak habe in C a m p David und T a b ' a nur falsche Hoffnungen geweckt, sagte Scharon trotzig. Scharons Aktion und die harschen Reaktionen israelischer Truppen gegen palästinensische Demonstranten werden häufig als Auslöser der zweiten Intifada gesehen. Palästinenser nennen sie nach dem O r t des Auslösers Al-Aqsa-Intifada. Andere behaupten, die Militarisierung des Widerstands sei von langer Hand vorbereitet gewesen und habe Arafat vor weiteren Zugeständnissen auf der politischen Bühne gerettet. Sicher ist, dass Scharons Geste eine bewusste politische Provokation darstellte. Sie ließ die Emotionen hochschlagen und zog Gewalt nach sich. Damit schürte der einstige General genau die Atmosphäre der Enttäuschung und Angst, die er benötigte, um den glücklosen Barak ein gutes halbes Jahr später aus dem Amt zu treiben. Dabei war Scharons Kurzvisite auf dem Tempelberg streng genommen sogar antireligiös und ebenso eine jüdische Provokation. D e n n gläubige Juden dürfen den Ort des Tempels nicht betreten. Sie könnten aus Verse-

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hen auf die heiligste Stelle treten, die nur den Hohepriestern vorbehalten ist. Scharons Besuch auf dem Tempelberg veränderte die politische Landschaft vollends. W o c h e n zuvor waren israelische Familien noch auf palästinensischen Märkten einkaufen, ließen Taxifahrer aus T e l Aviv ihre Autos bei den billigeren Schraubern im nahen Westjordanland reparieren, fuhren betuchte Israelis ins Spielcasino nach Jericho. Jetzt sind die Grenzen wieder härter geworden. Kontakte und Kommunikation zwischen Menschen beider Seiten wurden gekappt. Freundschaften zerbrachen. Eine Mauer aus Beton entsteht an der Grünen Linie. Auch im arabischen Suq begegnen wir keinem Israeli mehr. Zahllose unsichtbare Grenzen durchziehen die unheilige Stadt. W e r verträumt durch den Markt läuft, wird vielleicht nur merken, dass es um ihn herum auf einmal still wird. Dann ist er in das jüdische Viertel eingetreten. Ich schaue an den Mauern und den eingelassenen Felsquadern auf dem Boden der Gasse entlang. Nichts weist auf irgendeine T r e n n linie hin. Nur die plötzliche Stille. D e r letzte Laden auf arabischer Seite hat Schuhe und Taschen für Passanten ausgelegt. Danach enden die Blechmarkisen über den Laden-Nischen, und ich laufe unter einem Rundbogen hindurch. Es ist Samstag. Die meist konservativen oder orthodoxen Juden, die hier leben, befolgen die Sabbatruhe. A u f alt getrimmte, nach 1 9 6 7 errichtete Apartmenthäuser prägen das Straßenbild. Das Leben findet heute hinter den Mauern im Kreis der Familie statt. Selbst an der Bank ist der Geldautomat „vorübergehend außer Betrieb", wie auf dem Bildschirm mitgeteilt wird. Die Straßenschilder auf dem W e g zur Klagemauer sind verunstaltet. Sie nennen auf Hebräisch, Arabisch und Englisch die Namen der Gassen. D o c h auf jedem ist der arabische Schriftzug überklebt. Die rot-schwarzen Sticker tragen den hebräischen Text: „Barak go home!" Versöhnlichere T ö n e kommen ein paar Schritte weiter und einige Treppen tiefer aus der Polizeistation gegenüber der Klagemauer. Neben den schwer bewaffneten Polizisten sitzt in einem kleinen Büro der Direktor des berühmten Monuments. Der humorvolle Rabbi Danbloch stammt aus dem Elsass und bekleidet seit drei Monaten sein Amt. Er untersteht

dem Erziehungsministerium.

In

seinen

Träumen stellt sich Danbloch den umstrittenen O r t , den er verwaltet, am liebsten ganz ohne Grenzen vor. „In Jerusalem gibt es so viele

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Religionen. Jeder sollte hierher kommen", sagt er auf Französisch. Hinter seinem dicken Schreibtisch stehen zwei Vitrinen mit alten Büchern, vor ihm ein altes, graues Telefon, das ununterbrochen klingelt. In der Ecke hängt die israelische Flagge. „Es wäre schön, wenn sich Muslime, Christen, Juden, Hindus, Buddhisten und wer auch immer hier auf dem Platz vor der Mauer treffen könnten", sagt er und schaut durch die weißen Gardinen hinaus in die Sonne auf den Wall. Ein krasser Gegensatz zur Realität: Besucher der Mauer werden an Checkpoints gefilzt und müssen durch Metalldetektoren gehen. Muslime unter 45 Jahren dürfen in der Regel nicht zum Freitagsgebet auf den Tempelberg. NichtMuslimen ist der Zutritt dort ohnehin derzeit verboten. Vor dem jüdischen Areal vor der Klagemauer werden wiederum Muslime abgewiesen, während dort religiöse Juden besonders Freitagabends unter Polizeischutz zum Sabbatgebet antreten. Das alles geschieht nur wenige Meter voneinander entfernt, neben- und übereinander. Welche Regeln wann genau gelten, ist allerdings keinem so recht geläufig. Nebenbei verkündet Danbloch stolz, dass Gläubige nun auch E-Mails mit Gebeten und Wünschen aus aller Welt schicken können. Sie werden ausgedruckt, von einem Rabbi vor den Steinquadern laut verlesen und in eine der Ritzen zu den vielen handgeschriebenen Zettelchen gesteckt. „Mit der Religion gibt es dabei keinen Konflikt", betont Danbloch. „Im Gegenteil: Die Technik hilft uns, unseren religiösen Pflichten und Wünschen besser nachzukommen. Mit dem Auto kommt man auch schneller zum Beten als ohne." Entspannt beschreibt er den Ort fasst sportlich als ein Ventil, wo jeder friedlich D a m p f ablassen kann. Die Funktion der Klagemauer vergleicht er mit dem Hyde Park in London: „Das ist so wie in Speaker's Corner, wo sich jeder auf eine Kiste stellen und sprechen darf. Jeder sagt seine Meinung und drückt seine Gefühle aus. Es ist besser, wenn das mit einem Zettel geschieht als mit Steinen oder Gewehren." Eine selten harmlose und wohltuende Metapher angesichts des vielen Blutes, das seit Jahrtausenden über diese Steine geflossen ist.

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Die Grenzen, die heimlich wandern Israel, im Frühjahr

2002

In Israel und Palästina sind Grenzen zwar zunehmend verkrustet und undurchlässig geworden. D o c h sie sind auch dehnbar. Das erscheint paradox. V o n dem Geschacher um Gebietsprozente war bereits im Zusammenhang mit den Friedensbemühungen in C a m p David und T a b ' a die Rede. Religiöser und ethno-nationaler Fanatismus haben dazu geführt, dass der Boden in diesem „Heiligen Land" für alle Seiten einen ideologisch überhöhten Stellenwert besitzt. Er ist keine W a re, die einfach den privaten Besitzer wechseln könnte, sondern stets Teil eines größeren ethno-religiösen Projekts. Es k o m m t immer auf darauf an, ob der Käufer ein Jude oder ein muslimischer Araber ist. Längst vergessen ist die Zeit, als der Zionistische Weltkongress Anfang des 2 0 . Jahrhunderts die jüdische Nationsbildung, wie die anderen nationalen Bewegungen in Europa auch, als eher weltliches statt heiliges Projekt begriff und die territoriale Frage noch vergleichsweise entspannt sah. So erklärt sich, warum führende Zionisten wie T h e o dor Herzl damals unter anderem Uganda, Zypern, Südafrika oder die U S A als mögliche „Heimstätte" einer jüdischen Nation in Erwägung zogen. Erst mit der Besinnung auf die Bibel erschien Palästina als plausible Lösung. Das Streben nach staatlicher Souveränität erhielt einen sakralen Charakter. M i t der Balfour-Deklaration willigten die Briten 1 9 1 7 schließlich ein, aus ihrem Mandatsgebiet Palästina (das ihnen neben Transjordanien gehörte) ein Stück für eine jüdische Staatsbildung heraus zu brechen. M i t den wachsenden Pogromen gegen Juden in Europa, die im H o locaust durch die deutschen Nationalsozialisten gipfelten, wuchs der Druck der jüdischen Flüchtlinge und Einwanderer auf das „gelobte Land". Dabei gab es vor allem ein weltliches und ein spirituelles Problem. Das weltliche war, dass der Boden keinesfalls leer war, sondern von Arabern bewohnt. Das spirituelle ist, dass alle drei Religionen in dieser Gegend - Juden, Christen und Muslime - in dieser Reihenfolge aufeinander aufbauen und somit ihre Legenden aus denselben historischen Orten schmieden. Das ist beispielhaft am T e m pelberg zu sehen. Christen hatten ihren religiös-politischen Anspruch auf die Region

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glücklicherweise schon nach den erfolglosen Kreuzzügen des Mittelalters begraben. So standen sich Muslime und Juden nun immer aggressiver gegenüber. Die Araber lehnten den Teilungsplan ab, den die Vereinten Nationen 1947 vorlegten. Er sah einen Staat Israel in der Größe von 53 Prozent der Fläche Palästinas vor. Die Araber wehrten sich prinzipiell gegen einen jüdischen Staat, wie klein er auch ausfallen sollte. So setzten die Zionisten ihr „natürliches und historisches Recht", wie es ihr Anführer David Ben Gurion beschrieb, in einem Bürgerkrieg durch. Am 15. Mai 1948 rief Ben Gurion den Staat Israel aus, der nach dem Krieg etwas größer ausfiel als von den Vereinten Nationen vorgesehen. Jerusalem wurde praktisch zur geteilten Stadt. Der UN-Teilungsplan hatte ihr dagegen noch einen internationalen Sonderstatus zugewiesen. Schon immer hatte es Zionisten verschiedener Strömungen gegeben, die einen Ausgleich mit den Arabern, ja sogar einen Staat der zwei Völker anstrebten. Je etablierter und stärker Israel wurde, desto mehr verloren diese Stimmen jedoch an Einfluss. Die heikle Frage der heutigen Grenzen begann nach dem Sechstagekrieg 1967. Damals eroberte Israel von Jordanien Ost-Jerusalem und das Westjordanland, von Ägypten den Gazastreifen und den Sinai (den es 1982 wieder abtrat), sowie von Syrien die Golanhöhen. Völkerrechtlich gelten diese Gebiete weiterhin als besetzt. Israel hat sich darüber in zweifacher Hinsicht hinweggesetzt: Es annektierte den Golan und Ost-Jerusalem, und es dehnt sein Territorium bis heute durch den Bau jüdischer Siedlungen in den besetzten Gebieten aus. Damit werden täglich Fakten geschaffen, die durch einen Friedensvertrag schwer rückgängig zu machen sind oder bestenfalls als Faustpfand bei Verhandlungen dienen können. Die 720 Kilometer lange und acht Meter hohe Mauer, die Israel zum Schutz vor palästinensischen Selbstmord-Attentätern seit 2004 dabei ist zu errichten, weicht im Durchschnitt 7,5 Kilometer von der Grünen Linie zu lasten des palästinensischen Gebiets ab, bezieht Siedlungen ein, durchschneidet Dörfer und schnürt selbst größere Ortschaften vom Hinterland ab. Damit werden weitere 16,6 Prozent des Territoriums von der Westbank abgeschnitten mit 237 000 Palästinensern und 320 000 jüdischen Siedlern. Das sind etwa 80 Prozent der Siedler in der Westbank. 160 000 Palästinenser werden dann in fast vollkommen durch die Grenzmauer eingekreisten Kommunen leben. Aus diesem Schaffen von Fakten speist sich ein großer Teil des Miss77

trauens, das die Palästinenser gegen israelische Regierungen hegen, egal welcher Couleur. Denn in der Zeit seit den Friedensverträgen von Oslo — unter Rabin, Netanjahu und Barak — wurden die Wohnkapazitäten in jüdischen Siedlungen kräftig aufgestockt. Dagegen fordern die Oslo-Abkommen und sämtliche internationale Vermittler einen Baustopp. Die stärkste Steigerung an Wohneinheiten von plus 90 Prozent fand genau in dem Jahr statt, als Barak und Arafat mit Clinton in C a m p David am Verhandlungstisch saßen. Im Frühjahr 2 0 0 2 berechnete die angesehene israelische Menschenrechtsorganisation Betselem, dass 41,9 Prozent des Westjordanlands bereits von Israel kontrolliert seien, wenn auch davon lediglich 1,7 Prozent bebaut. Das war vor dem Bau der Mauer. Ministerpräsident Scharon hatte zwar mehrfach klar gemacht: Mit ihm als Regierungschef werde keine einzige Siedlung geräumt. Doch im September 2 0 0 5 machte er eine Kehrtwende und setzte den Plan durch, wenigstens die Siedlungen im Gazastreifen zu verlassen. N u r drei Jahre zuvor hatte er noch bei gemäßigten Israelis harsche Kritik provoziert, als er die festungsartige jüdische Siedlung Nezarim im Gazastreifen in ihrer Bedeutung für Israel mit der Strandmetropole Tel Aviv gleichsetzte. Schlomo Swirski vom Adva Institut für Gleichheit und Soziale Gerechtigkeit in Tel Aviv kritisierte im Mai 2002: „Die Regierung subventioniert die Siedlungen um ein Vielfaches mehr als alle übrigen Gemeinden in Israel." Nach seiner Studie aus dem Jahr 2000 flössen 3 679 Schekel (damals etwa 830 Euro) Subventionen pro K o p f in jüdische Siedlungen auf Palästinensergebiet, nur 2 3 0 0 Schekel in israelische Ortschaften und 1 700 Schekel in Gemeinden israelischer Araber. Die Siedlungen verschlingen die Steuergelder des israelischen Mittelstands, und viele säkulare Israelis wären die Siedler selbst gerne los. So umfasste zum Beispiel die Siedlung Nezarim im Gazastreifen 50 Häuser, die von einer Tausendschaft Soldaten bewacht wurden. Sie riskieren täglich ihr Leben für zionistische Einsiedler, ob in Häusern oder Wohnwagen auf Hügeln im Westjordanland. Z u m Einkaufen, zur Schule oder zum Flughafen fahren die jüdischen Siedler unter Militärschutz. N u r unter Rabin gingen die Investitionen in die Siedlungen kurzzeitig um 65 Prozent zurück. Er hatte zur Lösung des Konflikts mit den Palästinensern die Formel „Land gegen Frieden" ausgegeben und wurde deshalb schließlich von einem jüdischen Extremisten ermor-

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det. V o n dieser Formel ist Israel wieder weit entfernt. Der Landpreis in den Siedlungen ist bis zu vier Mal niedriger als in T e l Aviv. Das lockt auch säkulare Israelis aus wirtschaftlichen Gründen auf den riskanten Boden, die ihren W o h n o r t nicht aus der zionistischen Idee des „Heiligen Landes" ableiten. Zudem bekommen Familien dort günstige Kredite, die oft in Zuschüsse umgewandelt werden. Dror Etkiff, Koordinator des Settlement W a t c h Teams der Friedensbewegung Peace Now, weist darauf hin, dass die jüdische Siedlungsbevölkerung deutlich schneller wächst als die israelische Gesamtbevölkerung. Die Einbunkerung der Siedler brächte aber Menschen hervor, die „ausschließlich religiös und rassistisch" dächten, kritisiert Etkiff. Bleibe es bei der Besatzung ohne die Aussicht auf einen palästinensischen Staat und bleibe es bei den ethno-religiösen

Grund-

pfeilern des Staates Israel (was eine Integration der Palästinenser per Definition ausschließt), kämen die rund 2 , 5 Millionen Palästinenser dauerhaft unter ein Regime, das Etkiff mit dem früheren ApartheidSystem in Südafrika vergleicht. Auch die Menschenrechtler von Betselem schlussfolgern in ihrem Landbericht: „Israel hat in den besetzten Gebieten ein Regime der T r e n n u n g geschaffen, das sich auf Diskriminierung stützt. Es wendet zwei getrennte Rechtssysteme in dem gleichen Gebiet an und macht die Rechte von Individuen von ihrer Nationalität abhängig. Dieses Regime ist das einzige seiner Art in der Welt und erinnert an abscheuliche Regime aus der Vergangenheit, wie an Apartheid-Regime in Südafrika." Während israelische Juden Arabern Land abkaufen und damit Grenzen fast unmerklich verschieben — da dieses Land dann automatisch Teil des jüdisch-israelischen Gesamtprojekts wird — werden Palästinenser enteignet oder bekommen Steine beim eigenen Landerwerb in den W e g gelegt. Im Mai 2 0 0 2 sprach ich mit M o h a m m e d Halaika von der Ost-Jerusalemer Bauverwaltung. Er sagte, es sei schwieriger für Palästinenser im Ostteil der Stadt geworden, Baugenehmigungen von der israelischen Stadtverwaltung für ihr eigenes Land zu erhalten. „In den vergangenen zwei bis drei Monaten haben wir einen Rückgang erteilter Genehmigungen von etwa 2 0 0 Prozent beobachtet." Ohnehin

könnten sich viele Palästinenser eine

Baugenehmigung

kaum leisten. Anwaltskosten eingeschlossen müssen sie dafür mindestens 2 0 0 0 0 Dollar aufbringen. D i e israelische Regierung wendet im Westjordanland gezielt das O s -

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manische Landrecht an, das auch ins jordanische Recht übergegangen ist. Damit lassen sich Gebiete legal enteignen, wenn für den Boden Folgendes zutrifft: Er wurde in den letzten drei Jahren nicht ununterbrochen bewirtschaftet; er wurde weniger als zehn Jahre bewirtschaftet; er liegt zu weit vom nächsten D o r f entfernt. Betselem kritisiert, dass das osmanische Recht auch nur dann angewendet werde, wenn es den Behörden ins Bild passe. Sonst scheuten sie sich nicht, Land auch unter dem Deckmantel von Notstandsgesetzen zu enteignen. K o m m t es eines Tages doch zu einem Friedensvertrag mit den Palästinensern, befürchten viele eine Konfrontation mit den jüdischen Siedlern. Fernsehbilder von israelischen Soldaten, die Juden mit G e walt aus dem „Heiligen Land" in der Westbank vertreiben oder von ihrer Scholle tragen, wie bei der Räumung des Gazastreifens 2 0 0 5 , möchte keine Regierung in Jerusalem gerne provozieren. D o c h diese Szenen spielten sich schon einmal 1 9 8 2 ab beim Rückzug Israels aus dem ägyptischen Sinai. Der damalige Verteidigungsminister, der die jüdischen Siedlungen räumen musste, war kein anderer als Ariel Scharon. D o c h im Stillen werden täglich weiter Grenzen ausgedehnt. Prinzipien eines expansiven

Nationalismus erinnern

Die

an die An-

fangstage des Staates: A m 14. Juni 1 9 4 8 legte Ben Gurion dem Kabinett ein Fünf-Punkte-Programm vor. Darin hieß es unter anderem: „Wir haben uns Veröffentlichungen zu enthalten, denn ihr Schaden ist größer als ihr Nutzen. Es ist ratsam, dass wir an die Neuansiedlung ohne viel Aufhebens in beschleunigtem T e m p o und in größerem Umfang herangehen."

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Drusische Hochzeiten im Minenfeld Golanhöhen,

israelische Seite, im Dezember

2002

Ein scharfer W i n d beugt das grün-beige Schilf am Ufer. Kleine W e l len kräuseln sich an der Oberfläche des Sees. Die Mittagssonne verwandelt sie in tausende kleine Reflektoren. Ein Paradies für Windsurfer und Camper. Doch am See Genezareth herrscht Totenstille. Seit Beginn der zweiten Intifada bleiben die Touristen aus. Ausländer scheuen den Ort. Und auch den meisten Israelis ist nicht mehr nach Reisen zumute, erst recht nicht in eine Grenzregion. In einem Radius von etwa dreißig Kilometern liegen der Libanon im Norden, Syrien im Osten und die abgeriegelte Westbank im Südosten. M i t zwei Journalistenkollegen fahre ich in einem kleinen Mietwagen auf der gepflegten Asphaltstraße um die südliche Spitze des Sees. Er liegt 2 0 8 Meter unter dem Meeresspiegel. Auf der östlichen Uferseite erheben sich gewaltige, nackte, hellbraune Berge — das Golan-Massiv. Schwer vorstellbar, dass hier einst saftig grüne Wälder standen. Zahlreiche Völker und Eroberer zogen hier vorbei und holzten kräftig ab: Assyrer, Perser, Römer, Kreuzfahrer und Türken. In mühsamer Arbeit pflanzten jüdische Siedler in ihren Kibbuzim neben Obst und Gemüse auch wieder kleine Wäldchen an. In einer geschwungenen Linkskurve am Örtchen Kinneret passieren wir eine unscheinbare Brücke mit einem kleinen Eisengeländer. Darunter fließt der biblische Jordan, ein Bächlein von mageren drei Metern Breite — und eine potenzielle zukünftige Grenze. W i e der Fluss verliert auch der See jedes Jahr dramatisch an Wasser. Der Schilfgürtel hat sich in den vergangenen zehn Jahren um stellenweise zwanzig bis dreißig Meter verbreitert. Der See ist für Israel überlebenswichtig. Aus ihm zapft das Land rund ein Drittel seiner Wasserversorgung mit Pipelines bis an die Küste von Tel Aviv. Gespeist wird er von unterirdischen Rinnsälen und kleinen Bächen aus den Bergen, die völkerrechtlich weiterhin zu Syrien gehören. Nach einer Vereinbarung zwischen Großbritannien und Frankreich 1923 wurden die Golanhöhen dem französischen Mandatsgebiet Syrien zugeschlagen. Seit Israels Unabhängigkeit und dem israelisch-arabischen Krieg 1 9 4 8 / 4 9 verläuft die international anerkannte Grenze teilweise entlang des Jordan und seiner Quellen, streckenweise etwas östlich davon.

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D o c h bis 1 9 6 7 schössen syrische Truppen mit freiem Blick ins Tal regelmäßig auf die israelische Stadt Tiberias und ihre Umgebung am Westufer des Sees. Dabei kamen insgesamt 1 4 0 Israelis ums Leben. Im Sechstagekrieg überrannten israelische Truppen die Golanhöhen und blickten von der anderen Seite des Plateaus nun auf das nur vierzig Kilometer entfernte Damaskus. N o c h einmal, im J o m Kippur Krieg 1 9 7 3 , versuchten die Syrer, den Gebirgszug zurückzuerobern. D o c h schließlich wurden sie von israelischen Truppen noch weiter als zuvor zurückgedrängt. Seit 1 9 7 4 ist die Waffenstillstandslinie eingefroren. Der damalige US-Außenminister Henry Kissinger vermittelte ein Entflechtungsabkommen mit einer UN-Pufferzone. Zwischenfälle gab es an der Linie bisher kaum. Angesichts der brodelnden Intifada im nahen Westjordanland und dem Gazastreifen gleichen die Golanhöhen heute eher einer Idylle. Keine Straßensperren, keine israelische Grenzpatrouille. Natur. Stille. Vorbei an ausgestorbenen Campingplätzen, Bungalows und Rastplätzen verlassen wir den See Genezareth. Die Straße wird schmaler, als sie sich an der Westwand des Bergmassivs empor schlängelt, der Asphalt älter und heller. Die Steppenlandschaft des Plateaus mit viel Geröll und knorrigen Büschen erstreckt sich auf bis zu zwanzig Kilometern Breite und rund hundert Kilometern Länge zwischen dem Berg Hermon im Norden und der Krokodilfarm an den römischen Bädern des Yamuck-Flusses im Süden. Kaum lassen wir die ersten Hügel hinter uns, fahren wir plötzlich in ein Schlachtfeld, genau so, wie es vor dreißig Jahren ausgesehen haben muss. Am rechten Straßenrand erhebt sich wie zur Ermahnung eine zerschossene Moschee aus grauen Backsteinen und einem eingestürzten Flachdach. Einzig das zernarbte Minarett mit zwei kleinen Rundgalerien ragt trotzig in den kristallblauen Himmel. Die Atmosphäre ist geisterhaft. Ein paar hundert Meter weiter stehen die zerborstenen Gerippe syrischer Militärbaracken. Alle sehen gleich aus, ein kleiner Block mit zwei Fenstern, die Außenwände von Kugeln durchlöchert. Durch die Fensterhöhlen pfeift der W i n d . Israelische Touristen haben einige Wände mit hebräischem Graffiti besprüht. A u f der östlichen Seite des feindlichen Lagers rostet ein alter sowjetischer Panzer vor sich hin. W i r fragen uns, ob wir nicht einen israelischen Checkpoint übersehen haben, nachdem was wir aus dem Westjordanland gewohnt sind. Dürfen wir hier überhaupt entlang fahren? Ich nehme den Fuß leicht

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vom Gas. Auf einmal stoßen wir auf ein grünes Holzschild, das eine heile Welt vorgaukelt. Israel hat 1981 völkerrechtswidrig die Golanhöhen annektiert und betrachtet sie offiziell als eigenes Territorium, nicht als militärische Pufferzone. Statt die Besucher vor Militärschrott und Minen zu warnen, steht dort auf Hebräisch und Englisch: „Rekhes-Bashanit Natur-Reservat: Bitte laufen Sie nur auf ausgezeichneten Wegen! Gehen Sie mit Flora, Fauna und der Landschaft pfleglich um. Keine Lagerfeuer. Halten Sie das Reservat sauber. Nehmen Sie Abfall wieder mit. Genießen Sie Ihren Besuch!" Daneben liegen verrostete syrische Munitionskisten und neben einem Erdhaufen ein improvisiertes Denkmal, das wie ein verlassenes Grab aussieht. Wir biegen Richtung Osten in eine noch kleinere Straße ab. Sie ist kaum breiter als unser Wagen. Langsam schlängeln wir uns zwischen zwei dunklen Felswänden vorbei, die wie eine Schießscharte nur einen engen Zwischenraum lassen. Dahinter öffnet sich eine weite Steppe mit dornigem Gestrüpp und trockenem Gras. Vor uns liegt Syrien. In der Ferne heben sich hin und wieder kleine weiße Fleckchen aus der braun-grauen Landschaft ab — syrische Dörfer, in jedem ein kleines, weißes Minarett. Auf einer Landstraße wäre man in einer knappen halben Stunde in Damaskus. Stattdessen schleichen wir am rostigen Grenzzaun entlang. Rechts von uns ein etwa drei Meter breiter Erdstreifen, der wie an der deutsch-deutschen Grenze sorgfältig gerecht ist, damit jeder Fußstapfen oder Reifenabdruck deutlich erkennbar bleibt. Ich tue mein Bestes, um den Wagen auf dem schmalen Asphaltstreifen zu halten. Denn gleich links von uns liegen olivgrüne Panzerminen zwischen Gestein und Gestrüpp. Die verblichenen gelben Schilder am rostigen Stacheldraht mit der Warnung „Gefahr, Minen!" in roten und schwarzen Lettern in Englisch, Hebräisch und Arabisch können nur mäßig beruhigen. Einige syrische Dörfer, die wir passieren, sind gerade einen Steinwurf entfernt. Es herrscht immer noch Totenstille. Jenseits des Zauns bläht der Wind hin und wieder ein kleines Fähnchen mit den schwarzweiß-roten syrischen Nationalfarben auf, das von den flachen D ä chern der geweißelten Häuser weht. Die weißen israelischen Flaggen mit dem hellblauen Davidstern flattern dagegen auf den Hügeln hinter uns. Sie teilen die Bergkuppen mit unzähligen Antennen und Satellitenschüsseln. Jetzt wird klar, warum uns keine Patrouille anhält. Jeder Meter, den wir rollen, wird durch Späher genau beobachtet.

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„Urlaubsfotos und Luftaufnahmen können wir nachher am besten bei den Israeli Defence Forces bestellen", scherzt mein deutsch-türkischer Kollege Cem. Auf halber Strecke der Golanhöhen fahren wir auf die syrische Geisterstadt Quneitra zu. „Dort", sagt Cem bewegt und zeigt auf die Ruinen, „dort ist mein Großvater geboren." Von 1516 bis zum Ende des Ersten Weltkriegs 1918 gehörte der Golan ebenso wie weite Teile des heutigen Syrien, Libanon, Israel/Palästina und Jordanien zum Osmanischen Reich. 1974 machten israelische Truppen bei ihrem Teilrückzug Quneitra dem Erdboden gleich, obwohl die Kämpfe längst beendet waren. Die Vereinten Nationen hatten dies verurteilt. Heute macht die Waffenstillstandslinie einen Knick gen Westen, um die frühere Provinzhauptstadt in syrisches Gebiet einzuschließen. Einst wohnten hier 17 0 0 0 Muslime und Christen. Heute sind es noch ganze elf Personen — und dutzende Polizisten. Mit einem besonderen Permit aus dem Innenministerium in Damaskus dürfen Touristen von syrischer Seite die Geisterstadt besuchen, die früher zur Hälfte von Muslimen und Christen bewohnt war. Die Syrer nutzen gerne die zertrümmerten Krankenhäuser, Moscheen und Kirchen mit byzantinischen Fresken zur Demonstration israelischer Brutalität. Gras wuchert zwischen den Betonruinen und lädt Syrer zum Familien-Picknick in gespenstischer Idylle ein. Schafe weiden unter Bäumen, die früher in Vorgärten standen oder Alleen begrenzten. Am 7. Mai 2001, ein gutes halbes Jahr nach dem Beginn der zweiten Intifada, kehrte für einen kurzen Augenblick wieder Leben in Quneitra ein. Der greise Papst Johannes Paul II. machte auf seinem Besuch in Syrien dort Zwischenstopp und betete zusammen mit muslimischen Geistlichen für den Frieden. Unter anderem sprach er die Worte: „Herr ... wir bitten Dich für die Völker des Nahen Ostens. Hilf ihnen, die Mauern der Feindschaft und Trennung niederzureißen und gemeinsam eine Welt in Gerechtigkeit und Solidarität zu bauen. [...] Führe sie [die Anhänger aller Religionen], damit sie in Dir die Kraft suchen, Furcht und Misstrauen zu überwinden und in der Freundschaft wachsen und in Eintracht zusammenleben." Der Olivenbaum, den der Papst damals in Quneitra pflanzte, trug keine politischen Früchte. Diejenigen, die bis heute auf dem Golan am meisten unter Trennung und versiegelten Grenzen leiden, sind die Drusen. Gerne würden sie in Eintracht zusammen leben, wie der Papst es beschwor. Denn ihre Familien sind seit der israelischen Be-

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setzung des Golan getrennt, wie einst Deutsche in der Bundesrepublik Deutschland und der DDR. Aber wie auch in der deutschen Geschichte spielen sich auf dem Golan merkwürdige Ausnahmen ab. Keine noch so strenge und ideologisch motivierte Grenze ist völlig dicht. Neben Quneitra durchschneidet ein kleiner Checkpoint den rostigen Grenzzaun zwischen den verfeindeten Staaten. Nur jeweils fünfzig Meter voneinander entfernt liegen der israelische Schlagbaum im Westen, die blau-weiße UN-Schranke in der Mitte und der syrische Militärposten im Osten. Ich halte spontan einen weißen UN-Jeep an, der gerade den Checkpoint verlassen hat, um ein wenig mehr über diesen Ubergang zu erfahren. Ein sympathischer österreichischer Hauptmann mit geschwungenem Bismarck-Schnauzbart berichtet Unglaubliches, während er den Motor seines Cruisers laufen lässt. „Mehrmals im Jahr finden hier drusische Hochzeitsfeiern statt", sagt er routiniert, als seien die Wachcontainer Teile einer romantischen Hacienda, die man für Familienfeierlichkeiten günstig mieten kann. „Ausgewählte Verwandte von syrischer und israelischer Seite, meist etwa sechzig Leute, dürfen dann durch die Barrieren." Sie treffen sich auf dem schmalen Weg am UN-Schlagbaum, um von der Braut Abschied zu nehmen oder sie in ihren Reihen zu begrüßen. Vor drei Jahren, so erinnert sich der Hauptmann, durften einmal sieben Pärchen gleichzeitig heiraten. So tummelten sich rund 400 Hochzeitsgäste zwischen Stacheldrähten, Panzersperren und Minenfeldern. Die Bräute heiraten einen Drusen jenseits der Grenze und wissen, dass sie ihre eigene Familie wahrscheinlich nie wieder sehen werden. Die UN-Pufferzone, die achtzig Kilometer lang und zwischen einem und zehn Kilometern breit ist, dient also nicht nur der Trennung, sondern auch der Verkupplung, des active engagement, um es militärisch auszudrücken. Der Hauptmann mit dem Bismarck-Bart muss schmunzeln, als er uns die Abkürzung der UN-Truppe erläutert: United Nations Disengagement Observer Force (UNDOF). 1 044 Blauhelmsoldaten aus Osterreich, Kanada, Japan, Polen, Nepal und der Slowakei schieben ihren Dienst auf bis zu 2 800 Metern Höhe. Sie bilden den Puffer, auch am „Checkpoint Charlie", der einzigen Verbindung zwischen beiden Staaten. Durch ihn transportieren sie Post oder den Hausrat der Bräute in das Drusendorf Majdal Schams auf israelisch besetzter Seite. Für die Soldaten sind die Drusenhochzeiten eine willkommene Abwechslung. Sie sitzen sonst auf den windigen 79

Bergen und schieben einen öden Job. „Cooking and looking" — so nennen sie ihren Alltag. Seit dem Abkommen von 1974 gab es hier keine nennenswerten Zwischenfälle. So heißt es zumindest, wenn über Politik gesprochen wird. Auf menschlicher Ebene haben die Drusen jedes Jahr über reichlich „Zwischenfälle" zu berichten. Mehr über die Hochzeiten erfahre ich beim Vertreter des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes (ICRC), zwanzig Kilometer weiter im nördlichsten Drusen-Dorf Majdal Shams. Dort, am Fuße des mehr als 2 800 Meter hohen Berges Hermon, setzen mich meine Begleiter ab und fahren alleine weiter. Lange Funktürme, riesige Satellitenschüsseln spicken den Gipfel des Hermon und funkeln in der Nachmittagssonne. Von hier aus hören die Israelis in die große Ebene hinein, die sich gen Osten öffnet. Damaskus liegt verwundbar nah. Im Nordwesten beginnt der Teil des Libanons, den Israel von Mitte der 1980er Jahre bis Mai 2000 als „Sicherheitszone" besetzt hielt. Das 800 Quadratkilometer große Gelände ist rau und öde, die wenigen Straßen schmal und holprig, ganz anders als der restliche Libanon. An Wegkreuzungen und Betonwänden kleben Plakate von Ayatollah Khomeini und Kampfparolen, wie ich wenige Monate vor meinem Trip nach Majdal Shams auf der anderen Seite sehen konnte. Die dreitausend Mann starke schiitische Hisbollah-Miliz („Partei Gottes"), die vom Iran und von Syrien unterstützt wird, operiert in diesem Gelände. Immer wieder feuern die Guerillakämpfer Geschosse auf die andere Seite ab, wenn sie Israel provozieren wollen oder als Vergeltung dafür, dass Israel wieder den libanesischen Luftraum verletzt hat. Doch seit dem Abzug der Israelis ist es hier im Vergleich zu früher verhältnismäßig ruhig geblieben. Das änderte sich freilich dramatisch im Sommer 2006, der so friedlich und fröhlich mit der Fußball-Weltmeisterschaft in Deutschland begann. Israel griff den Süden Libanons an, mit dem Ziel, die Hisbollah zu zerschlagen, welche am 12. Juli zwei israelische Soldaten an der Grenzzone als Geiseln genommen hatte. Als am 14. August endlich die Waffen schwiegen, war der Süden Libanons fast unbewohnbar und wichtige zivile Infrastruktur auf Jahre hin zerstört. Israel verfehlte seine Kriegsziele politisch und militärisch. Weder wurden die israelischen Geiseln befreit, noch wurde die Hisbollah ausgelöscht. Dafür starben fast 1200 Zivilisten auf libanesischer Seite, einige hundert Hisbollah-Kämpfer, 43 israelische Zivilisten und 120 israelische Sol-

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daten. Rund 4000 Katyuscha-Raketen hatten Hisbollah-Kämpfer auf israelisches Territorium herunterregnen lassen. Innenpolitisch ist der Libanon seither in Grabenkämpfen der politisch-religiösen Gruppen versunken und viele furchten, dies könne der Beginn eines neuen Bürgerkriegs in dem zerschundenen Land werden. Als ich in dem kleinen Café am kleinen Hauptplatz von Majdal Shams sitze, ist diese Katastrophe noch weit entfernt. Mohamed Safadi hat einen weißen Plastikstuhl in die strahlende Sonne gerückt. Er lässt sich entspannt gegen die Lehne fallen. Der 41 -jährige Druse mit schütterem Haar vertritt hier in einem Minibüro das Rote Kreuz. Zu ihm kommen alle, die grenzüberschreitend heiraten wollen. Safadi setzt sich dann über Genf indirekt mit der Außenstelle des Roten Kreuzes in Damaskus in Verbindung, um die Begegnung einzufädeln. In der rund hundert Kilometer entfernten Stadt Afula, nördlich von Jenin, hat das israelische Innenministerium eine Außenstelle eingerichtet. Dort liegen die meisten Anträge etwa drei bis fünf Jahre lang. Nach Angaben des Ministeriums entspricht das der Dauer, mit der auch andere Ausländer rechnen müssen, wenn sie einen Israeli oder eine Israelin heiraten wollen und eine Aufenthaltsgenehmigung möchten. „Ich mag diese Hochzeiten nicht", gesteht Safadi und rückt seine schmale, glitzernde Sonnenbrille im schwarzen Plastikrahmen zurecht. „Du siehst wunderschöne Bräute, die an ihrem Freudentag anfangen zu weinen. Die Eltern wissen, dass sie ihre Tochter nie mehr wieder sehen", beschreibt er die Szene am Checkpoint bei Quneitra. „Die Gäste sind bepackt mit Tüten und Kartons, mit Essen und Süßigkeiten." Manche Familienmitglieder haben sich seit 35 Jahren nicht mehr gesehen. Safadi fällt der undankbare Job zu, die Gruppen nach einer Stunde wieder auseinander zu reißen. „Auf beiden Seiten stehen Soldaten, mit dem Gewehr im Anschlag. Es ist sehr unangenehm. Ich bin Tage danach noch deprimiert." Seiner 18jährigen Tochter will er so eine Hochzeit ersparen und ermutigt sie, auf israelischer Seite einen Mann zu finden. „Israel erlaubt diese Kontakte trotz der Angst vor Spionen, um die Drusen zu besänftigen", meint Safadi. „Die Drusen hier sind sehr clever. Sie haben diese Gelegenheiten nie ausgenutzt. Bisher gab es kaum Probleme, auch nicht mit Blick auf die nationale Sicherheit." Doch seiner Ansicht nach gehen seit dem Ausbruch der zweiten Intifada und der Terrorwelle in Israel die Zahl der Hochzeiten zurück.

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Das Innenministerium bestreitet dies. D o c h Safadi hält dagegen: „Dieses Jahr gab es nur vier Feiern. Davor waren es fünfzehn im Jahr." Die Drusen schotten sich im Gemeindeleben nach außen ab und heiraten oft entfernte Verwandte. Als Sekte spalteten sie sich im 11. Jahrhundert vom Zweig der Schiiten ab. Ihre Religion und den heiligen Kanon, der aus 111 Briefen besteht, halten sie streng geheim. Neben islamischen Elementen soll ihre Lehre unter anderem auch Aspekte antiker griechischer Philosophie und anderer Religionen, wie des Hinduismus, enthalten. D e r Glaube formierte sich in der Endzeit des fatimidischen Kalifen Al-Hakim ( 9 9 6 - 1 0 2 1 ) , der in Kairo regierte. Ihr N a m e geht auf den türkischen Ismailiten Anuschtekin zurück, der den Beinamen Al-Darasi („der Schneider") trug. Er erklärte Hakim für eine Inkarnation Gottes und musste deshalb von Ägypten nach Syrien flüchten. Dort wuchs die Gemeinde. D i e patriarchalisch organisierten Sippen weichen in einigen Bereichen stark von muslimischen Bräuchen ab. Ohnehin sehen sich die meisten Drusen selbst weder als muslimisch, noch werden sie von Muslimen als solche akzeptiert. Drusen lehnen unter anderem das islamische Recht (Sharia)

ab und glauben an die Seelenwanderung. Nach ihrer Auffassung offenbarte sich Gott, der mit menschlichem Geist nicht erfassbar ist, in der Vergangenheit auch als menschliche Gestalt. Bis heute warten die Drusen auf die irdische Wiederkehr Hakims und seines Schülers Hamsa ibn Ali aus göttlichen Gefilden. Rund 5 0 0 0 0 0 Drusen leben im Libanon, in Syrien, Jordanien und Israel. Während sie in der heutigen Zeit eher als tolerant und pragmatisch gelten - in Gesellschaft, Berufsleben oder Politik - halten sie im privaten Alltag an einem strengen Dogma fest: Heiraten dürfen sie nur untereinander, und niemand kann zum Drusentum übertreten. D a die Auswahl von potenziellen Partnern begrenzt ist, geht die Nachfrage nach grenzüberschreitenden Heiraten kaum zurück. D e n n Israel erlaubt zusätzlich rund 4 0 0 Drusen - Frauen und Männern - , an der Universität Damaskus zu studieren. „Alleine in diesem Jahr haben wir 137 Studenten nach Damaskus geschickt. Hier gehen die Zahlen eher nach oben", erklärt Safadi. Im Kreis der sehr überschaubaren Minderheit lernen die jungen Drusen aus dem Golan in der syrischen Metropole schnell attraktive Kommilitoninnen kennen — und bald liegt beim Roten Kreuz ein neuer Heiratsantrag vor. Die

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Studenten aus Majdal Shams und den anderen vier Drusendörfern auf dem Golan sind auch wegen ihres relativen Wohlstands begehrt. Das Einkommen auf israelischer Seite ist für Drusen zwar im Durchschnitt geringer als für jüdische Israelis. Doch mit einem Stipendium der syrischen Regierung und reichlich Taschengeld heben sie sich von den mageren syrischen Einkommen deutlich ab. Noch etwas bringen die Drusen vom Golan nach Damaskus: Wenn keiner mitbekommen soll, worüber sie gerade reden, sprechen die Studenten in der Hauptstadt des israelischen Erzfeinds einfach hebräisch. Mein Blick schweift auf die klapprigen Autos, die um den Verkehrskreisel von Majdal Schams kurven. In der Mitte des Platzes steht ein syrisches Revolutionsdenkmal — auf israelisch kontrolliertem Gebiet! Jemand hat dem Helden sogar die schwarz-weiß-rote Flagge auf das Schwert gespießt. „Das ist Sultan Atrash, der 1925 die syrische Revolution gegen die Franzosen anführte", sagt Safadi und muss schmunzeln. Die Drusen nahmen damals aktiv an der Revolution gegen die französische Mandatsmacht teil. „Das Denkmal hatten die Israelis zunächst gesprengt, als es vor fünfzehn Jahren errichtet wurde", meint Safadi. „Doch dann haben es die Drusen wieder aufgebaut, und die Israelis haben es einfach stehen lassen." Die Anekdote symbolisiert das zwiespältige Verhältnis zwischen arabischen Drusen und jüdischen Israelis. Während sich die Drusen, die in und um Haifa leben, staatstreu verhalten, haben sich viele Glaubensgenossen auf dem Golan nach der einseitig erklärten Annexion gegen israelische Pässe gesträubt. Durch eine gezielte Siedlungspolitik leben auf dem Golan inzwischen mehr Juden (17 000) als Drusen (16 000). Zwar gelten viele Siedler in den örtlichen Kibbuzim als links, und rund ein Drittel von ihnen sind säkulare russische Einwanderer. Doch als Ende der 1990er Jahre erstmals ein israelischsyrischer Friedensvertrag in greifbare Nähe rückte, machten die jüdischen Siedler gegen die Rückgabe des Golan mobil. Die Spannung bleibt und erhält mit immer wieder kehrenden Gerüchten um geheime syrisch-israelische Friedensgespräche neue Nahrung. Syrien hatte lange Zeit eine Rückgabe des Golan zur Bedingung für einen Friedensvertrag gemacht. Und Israel hat angekündigt, die Zahl der jüdischen Siedler auf dem Golan verdoppeln zu wollen. Das Dilemma der Drusen wird an ihrem Identitätswirrwarr deutlich. „Wir sind arabisch-syrisch", sagen Madad (31) und Uissam (28) Sabagh ohne Zögern auf meine Frage. „Religion ist nicht so wichtig. Sie 83

kommt an unterer Stelle." Die beiden sind eines der inzwischen sechzig bis siebzig Grenzpärchen auf dem Golan. Uissam kam vor fünf Jahren über den Checkpoint aus Damaskus. Ihre Adresse habe ich von Safadi bekommen. Die Sabaghs wohnen im zweiten Stock eines kleinen Flachbaus ein paar Schritte vom Revolutionsdenkmal bergauf. Wir sitzen im Wohnzimmer mit westlichen Sofas und trinken arabischen Tee. Das Nachbarzimmer ist dagegen als orientalischer Diwan hergerichtet mit weichen roten Sitzpolstern auf dem Boden. Madad, der sanftmütige Bauarbeiter mit den kurzen wuscheligen Haaren, hat wenig gute Worte für Israel übrig. „Das ist nicht mein Land. In Tel Aviv leben sie in Saus und Braus, und wir sind Bürger unterer Klasse", sagt er und zuckt mit den Schultern. Die jüdischen Siedler bekommen großzügige Steuerrabatte und subventionierte Häuser, weil sie in einer Grenzregion wohnen. Die Drusen zahlen die vollen Sätze. In Madads israelischem Pass steht, dass er Druse aus den Golanhöhen ist. „Damit habe ich auf allen Seiten Probleme", beklagt er sich. In Israel werde er diskriminiert, und die meisten arabischen Staaten ließen ihn nicht einreisen, da er auf dem Papier Israeli ist. „Die einzigen Länder, in die ich fahren darf, sind Jordanien und Ägypten." Nur mit diesen beiden hat Israel einen Friedensvertrag geschlossen. Ihre quirlige vier Jahre alte Tochter haben die Sabaghs demonstrativ auf den Namen Sham getauft. So hieß das alte syrisch-arabische Großreich. Doch als Madad seine Telefonnummer auf einen Zettel schreibt, zählt er die Ziffern laut auf Hebräisch mit - die Sprache der Besatzer. Tritt Uissam vom Wohnzimmer auf den kleinen Balkon, schaut sie auf die kahlen Hügel, die unerreichbar sind. Vor ihren Augen frisst sich der dunkelbraune Erdstreifen mit dem rostigen Drahtzaun durch die Landschaft und schlängelt sich links hinauf auf den Berg Hermon. Ein paar Meter weiter im Norden beginnt der Libanon. Was der Zaun für die Drusen bedeutet, erzählt ein Wandkalender auf dem Gang zum Wohnzimmer ihres Hauses: Ein großes Schwarzweißfoto zeigt eine schöne, weinende Frau im Brautkleid. Darunter steht auf Englisch und Arabisch eine Kurzgeschichte, die ebenso auf Uissam passen würde. „Es war die Liebe. Die zählt über alles", begründet Uissam ihre Entscheidung, von Damaskus den schwierigen Weg nach Majdal Shams zu gehen. „Aber ich habe Angst, dass ich meine Familie nie wieder sehen werde." Ihr Mann nickt: „Es ist sehr traurig, die Menschen am Zaun weinen zu sehen."

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Jeden Freitag spielt sich in Sichtweite ihres Balkons das gleiche Schauspiel ab: Drusen aus Damaskus und Umgebung machen sich auf den Weg zu den Hügeln, um ihre Verwandten auf israelischer Seite zu sehen und zu sprechen. Von beiden Seiten schleppen sie Megaphone und Ferngläser an und tauschen den neuesten Familientratsch aus. Für die große Politik ist hier kein Platz. Die skurrilen Begegnungen haben dem Ort vor dem Balkon der Sabaghs seinen Spitznamen gegeben: Berg der Rufe (shouting hill). Von 1967 an bot der Berg lange Zeit die einzige Möglichkeit, Kontakt aufzunehmen. Doch seit dem israelisch-jordanischen Friedensvertrag 1994 treffen sich viele getrennte Drusenfamilien manchmal in Amman. Seit dem Jahr 2000 können Drusen auf dem Golan und in Syrien sogar miteinander telefonieren. „Wir sprechen jeden Monat fiir eine Stunde mit Uissams Familie", erklärt Madad und nimmt seine unruhige Tochter auf den Schoß. „Öfter können wir es uns nicht leisten. Das ist zu teuer." Safadi hatte berichtet, eine Minute nach Syrien zu telefonieren koste 1,50 US-Dollar. „Der Berg der Rufe ist immer noch der billigste Weg. Er ist kostenlos", scherzte Safadi. Aber auch er musste einräumen, dass diese Tradition immer mehr an Bedeutung verliert. Besonders die jungen Drusen, die in Damaskus studieren, verlassen sich nicht mehr auf die Zaunbegegnungen am Berg. Sie schreiben sich EMails und schicken sich Fotos zu. „Hier gibt es mehr Internetanschlüsse als im israelischen Durchschnitt", sagte Safadi, als ein weißer Kombi mit der Aufschrift „www.majdal. net" um den Kreisel mit dem syrischen Denkmal kurvte. „Fast jedes zweite Haus hat einen Netzanschluss. Wir betreiben auch eigene lokale Server." Madad meint, arrangierte Heiraten aus der Ferne über den Zaun oder über das Internet gebe es nur selten. „Das finde ich auch nicht gut", sagt er mit fester Stimme. „Ich muss mich doch mit meiner Verlobten zusammensetzen können, mit ihr reden und wissen, wie sie denkt." Safadi hatte von einem besonders tragischen Fall berichtet. Eine Drusin ließ sich scheiden und hatte auf israelischer Seite nun niemanden mehr, der ihr nahe stand. Die Behörden drückten ein Auge zu und ließen sie wieder in den Kreis ihrer Familie nach Damaskus zurückkehren. Doch es gab auch schlimme Momente, wie die Hochzeit, die in letzter Minute abgesagt werden musste. Die Israelis hatten der Braut ein Reise-Dokument ausgestellt, welches sie am Checkpoint abstempeln wollten. Das lehnten UNO und Rotes Kreuz jedoch ab, 85

weil das unterstellt hätte, es handele sich um eine völkerrechtlich anerkannte Grenze. D i e Sonne ist längst über dem Libanon versunken, und ich verabschiede mich von Madad und Uissam. Schnell kritzelt sie noch Adresse und Telefonnummer ihrer Familie in Damaskus in meinen Block. M i t seinem klapprigen Peugeot bringt mich Madad am Revolutionsdenkmal vorbei an die Hauptstraße. Ich will Richtung Süden trampen, zum D r u s e n - D o r f Bukata. Dort möchte ich ein weiteres Grenzpärchen treffen. Helle Scheinwerfer blenden mich. Es ist kalt geworden. Niemand hält an. Plötzlich bremst ein dicker ToyotaCruiser und ein junger Kerl winkt mich ins Auto. Der 18-jährige W a s e f am Steuer präsentiert mir eine ganz andere drusische Identität. „Ich liebe die U S A " , wiederholt er ständig in leidlich gutem Englisch. „Sie nennen mich Nick. Darauf bin ich stolz." Er streicht mit der Hand durch seine schwarzen, mit Gel gestärkten Haare und legt eine Kassette von Madonna ein. „Ich will keine Frau aus Damaskus. Ich lebe lieber in Israel, weil ich hier geboren bin." Während W a s e f durch die dunklen Kurven der engen Landstraße rast, schwärmt er von der israelischen Provinzstadt Kiriat Shemona, westlich der Jordanlinie. „Dort gehe ich oft mit meinen Freunden aus. Es gibt dort alles: Kino, Bars und Frauen." Probleme mit den Israelis habe er keine. „Die sind nur misstrauisch gegenüber muslimischen Arabern, nicht gegenüber uns Drusen." Als was er sich fühlt, frage ich ihn. „Als Syrer", kommt es auf einmal wie aus der Pistole geschossen. Einen Widerspruch sieht er darin nicht. Konsequenter pflegt dagegen der alte Scheich Taufiq Amasha seinen syrischen Patriotismus. Sein mächtiges Haus in Bukata erreichen wir, nachdem wir durch mehrere dunkle und verlassene Straßen abseits der Hauptstraße gekurvt sind. Im V o r h o f präsentiert mir der Scheich stolz ein großes Foto des syrischen Präsidenten Baschar Al-Assad. Darauf schüttelt er einem Militär die Hand. Beide tragen Uniform. Links unten im Rahmen klemmt ein kleines Bild von Baschars Vater Hafez Al-Assad, der ab 1971 Syrien mit eiserner H a n d regierte und kurz vor seinem T o d im Juni 2 0 0 0 einem Friedensvertrag mit Israel — und damit der Rückgabe des Golan - so nah gekommen war wie noch nie. „Haben die Israelis nichts dagegen, wenn so ein Poster vor ihrer Nase hängt?", frage ich Amasha. D e r Scheich schüttelt langsam den K o p f und antwortet mit knorrig-tiefer Stimme: „Die Israelis sind nicht dumm. D i e regen sich nicht wegen Kleinigkeiten auf." So muss

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es auch mit dem Revolutionsdenkmal in Majdal Shams gewesen sein. D e r stolze Amasha trägt eine schwarze Kutte, die sich in Bauchhöhe deutlich ausbeult, und einen typischen weißen Drusenturban. Entspannt lässt sich der 70-Jährige auf seinem dunkelroten W o h n z i m merpolster nieder. M i t einer ausschweifenden Handbewegung lädt er mich zum Abendessen ein. Es gibt traditionelles dünnes Fladenbrot mit Ziegenkäse, Oliven und Ei. An der W a n d hängen unzählige gerahmte Fotos von ernsten Männern mit weißen Bärten und Turbanen, die alle ziemlich wichtig aussehen. Die Frauen der Familie bleiben auf Distanz im Nebenraum und in der Küche. „Auf der ganzen Welt kann man reisen, nur wir dürfen nicht ins Nachbardorf zu unseren Familien", klagt der Alte. Sein 4 3 Jahre alter Sohn Eikab ist mit einer syrischen Drusin verheiratet. „Eine Reise nach Syrien ist eine menschliche Angelegenheit, keine politische Sache. W a r u m bleiben uns die T o r e versperrt?", brummt der Scheich und nippt an seinem kleinen Teeglas. D o c h einen Hass auf Israelis spürt der Großgrundbesitzer nicht. „Die Israelis sind hier durch G o t tes W i l l e n . " Die Familie, die wie viele Drusen hier vom Apfelanbau lebt, hat sich mit dem Leben in Israel arrangiert. Eikab hat in Jerusalem Hebräisch und Pädagogik studiert und lehrt den Drusen nun die Sprache der Besatzer. „Auch meine Kinder studieren jetzt Hebräisch", sagt er stolz, als er während des Essens zu uns stößt. Nur wenn er über den Berg der Rufe spricht, wird Eikabs Gesicht noch fahler und bleicher als es ohnehin schon ist. „Der Zaun ist für viele ein Ort großen Leids", sagt er leise. „Das Schlimmste war, als wir uns im Februar 2 0 0 2 am Berg der Rufe in Majdal Shams trafen. M e i n Schwiegervater auf der anderen Seite wollte gerade sein Megafon anheben, da brach er vor Aufregung tot zusammen", flüstert er und blickt vor seine Füße auf den Teppich. „Fünfhundert Menschen standen darum herum. Es war eine Tragödie!" Zur Beerdigung konnte niemand von hier kommen. D o c h der alte Scheich kreist mit seiner Hand langsam auf seinem Bauch und beruhigt: „Nichts hält für ewig. In dieser Region haben sich schon viele Nationen niedergelassen: die Türken, die Franzosen, die Syrer und jetzt die Israelis. Auch die Israelis werden irgendwann gehen. Nur G o t t bleibt ftir immer."

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Golanhöhen, syrische Seite, im März

2004

Am frühen Vormittag, als die Sonnenstrahlen schräg vom Osten her auf die kahlen Bergrücken fallen, lachen die Hochzeitsgäste ausgelassen und begrüßen enthusiastisch jeden voll besetzten Wagen, der mit neuen Verwandten heranbraust und auf dem kleinen Parkplatz vor dem syrischen Schlagbaum anhält. Einige haben syrische Nummernschilder, andere libanesische. Die kleine Asphaltpiste füllt sich schnell mit Menschen. Denn auch eine Gruppe drusischer Studenten ist an die Grenze gekommen. Sie haben ihr Studium in Damaskus beendet und mussten sich entscheiden, ob sie in Damaskus bleiben — und ihre Familie auf den Golanhöhen nicht wieder sehen — oder ob sie nach Majdal Shams zurückkehren — und damit ihren Freunden in Syrien für immer den Rücken kehren. Diese Entscheidung ist ihnen offensichtlich ähnlich schwer gefallen wie den beiden Bräuten, die heute heiraten. Ich schaue in die bewegte Menschenmenge und sehe vereinzelte versteinerte Gesichter. Daran erkennt man, wer in den nächsten Minuten den syrischen Schlagbaum gen Westen durchschreiten wird. Najua Abu Shaqra presst ihre Lippen fest zusammen. Es sind nur noch wenige Augenblicke. Dann wird die Braut ihr Land und ihre Familie zum letzten Mal sehen. Eine Träne kullert ihr über den schwarz geschminkten Augenrand. Dabei wollte sie tapfer bleiben. Mit fester Stimme hat sie eben noch Interviews gegeben. „Ich gehe von einem zu Hause in ein neues", sagte sie. „Ich habe keine Angst. Ich bin glücklich, zu dem Menschen zu gehen, den ich liebe." N u n sitzt die 21 -Jährige eingefallen auf einem Plastikstuhl im Schatten des Grenzhäuschens und starrt auf den Strauß weißer Rosen, die ihr jemand in die H a n d gedrückt hat und die nun schlapp in ihrem Schoß liegen. Hinter ihr windet sich Stacheldraht. Darauf warnt ein rotes Dreieck vor Minen. Ein paar hundert Meter weiter erheben sich Antennentürme und Satellitenschüsseln auf einem steilen Hügel. Der erste israelische Beobachtungsposten. Ich erinnere mich an die Worte Safadis, dem Vertreter des Roten-Kreuzes in Majdad Shams: Nirgendwo sonst auf der Welt sind die Gesichter der schönen Bräute an ihrem Freudentag von derartiger Traurigkeit gezeichnet. Je näher der Moment kommt, vom Plastikstuhl aufzustehen und die einsame Asphaltpiste Richtung Israel entlang zu schreiten, desto tiefer kauert sie sich zusammen. Najuas Verwandte, die aus Damaskus gekommen sind, tragen Musikinstrumente und Tüten voller Gebäck

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und Süßigkeiten. Einige Mädchen sprechen mit Najua, haben selbst rote Wangen und glasige Augen und wischen ihr mit einem weißen Taschentuch die Tränen ab. Freude, Trauer und eine zerreißende Nervosität liegen in der Luft. Mitten im Gewühl aufgeregter Menschen, die diskutieren, sich umarmen oder unentschlossen hin und her laufen, steht der UN-PresseOffizier Stefan May und versucht, sich noch einmal auf den politischen Kontext zu konzentrieren. „Immer wieder kommt es vor, dass Schafhirten die neutrale Zone betreten. Wir müssen sie dann zurückpfeifen", beschriebt May die einzigen Zwischenfälle auf diesem kargen Boden. „Politisch ist die UN-Mission ein Misserfolg, weil es dreißig Jahre lang keinen Friedensschluss gegeben hat", sagt der Österreicher. „Militärisch ist es ein Erfolg, weil dreißig Jahre lang hier kein Krieg stattgefunden hat. Und das ist in dieser Region sehr beachtlich." May schaut nachdenklich auf die andere Seite. Dann hebt er seinen Arm und zeigt nach drüben. Wer die Augen zusammenkneift, sieht über dem Tor dort in großen blauen Lettern „Welcome to Israel" stehen. „Das stimmt natürlich nicht", stellt er klar. „Denn das ist der israelisch besetzte Golan. Auch wenn Israel alles dazu tut, um das als Grenzposten darzustellen, ist das international nicht anerkannt." Plötzlich holt ein UN-Offizier ein zerknittertes Stück Papier aus der Hosentasche und hält es in die gleißende Sonne. Die Spannung in der Menschentraube wächst. Einige brechen ihr Gespräch abrupt ab. Der Offizier liest die Namen der Hochzeitsgäste vor, die an der Feier zwischen den Schlagbäumen teilnehmen dürfen und die der Studenten, die auf die israelische Seite gehen wollen. Jetzt wird es ernst. Najua und die andere Braut schlucken. Doch zunächst sind die Studenten dran. Bis zur letzten Sekunde können sie sich noch umentscheiden. Feiza, ein junges schlankes Mädchen mit braunen, halblangen Haaren, ist in sich zerrissen. Seit mehr als zwei Stunden läuft sie hin und her, diskutiert mit ihrer Freundin, setzt sich hin und versenkt ihre glänzenden Augen in ihre Handflächen, steht wieder auf und läuft im Kreis. Jetzt hebt ein syrischer Soldat den Schlagbaum an. Die Studenten setzen sich langsam in Bewegung. Feiza steht wie angewurzelt da. Dann fällt sie ihrer Freundin um den Hals, und beide beginnen laut zu weinen. Die UN-Soldaten müssen drängeln. Die anderen sind schon auf dem Weg, und die Hochzeitsgäste warten auch noch auf 89

ihre Feier. Schließlich reißt sich Feiza los, läuft langsam auf die Asphaltpiste, der Gruppe hinterher, ihr Blick wie eingefroren gen Westen gerichtet. Der syrische Schlagbaum fällt wieder zu. Feizas Freundin stützt sich auf die Schranke und schaut Feiza weinend hinterher. Plötzlich, als Feiza fast schon am israelischen Tor angelangt ist, spielt sich eine dramatische Szene ab. Mit einem Schrei dreht sich Feiza um und rennt zurück, den Stacheldraht entlang. „Salam, Salam!", ruft sie den Namen ihrer Freundin. Am syrischen Schlagbaum fallen sich beide noch ein letztes Mal schluchzend in die Arme. N u r die Schranke trennt ihre Körper. Dann reißt sich Feiza los und rennt hinüber auf die andere Seite. Eine weitere Studentin kauert in einer Ecke und ringt noch mit sich, ob sie die Seiten wechseln soll. Sie bleibt. Sogar die jungen UN-Soldaten schauen betreten und haben einen Klops im Hals. In wenigen Augenblicken werden sie eine schwierige Aufgabe zu erledigen haben: Die Soldaten müssen die Verwandten der beiden Hochzeitspaare am UN-Schlagbaum in der Mitte der Zone, am Checkpoint Charly, auseinander ziehen. Denn nur eine Stunde darf die Hochzeit auf der kleinen Asphaltpiste im Minenfeld dauern. Najua erhebt sich wie betäubt von ihrem Stuhl. Weinende Cousinen haken sich bei ihr ein. Sie durchqueren den syrischen Schlagbaum und gehen die fünfzig Meter langsam auf die UN-Schranke zu. Von der israelischen Seite kommt ihnen die Familie des Bräutigams entgegen. Ich drehe mich um, steige still in meinen alten V W Golf, mit dem ich aus Berlin gekommen war, und fahre wie betäubt zurück nach Damaskus.

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Die Wüste verschlingt den roten Stern Jemen, im Juli und August 1992 Vom kleinen Fenster herein dringen Stimmengewirr, das Knirschen schwerer Holzräder von Handwagen und das Stakkato eines Gemüsehändlers, der seine Ware anpreist. Der Duft von Ingwer, Kardamon und Nelken liegt in der Luft. Sanftes Licht dringt in das niedrige Zimmer mit den weiß gekalkten Lehmwänden. Ich sitze in der Ecke auf dünnen, harten Matratzen, die ein langer roter Teppich bedeckt. Den Rücken polstern bequeme dunkelrot gemusterte Kissen. Die kleine Stube ist nur ein wenig länger als ich groß bin und in ihrer Schlichtheit eine Oase der Ruhe. Vor mir ausgebreitet liegt eine Landkarte des Jemen — mit vielen verschachtelten Bergzügen und großen leeren Flächen. In der märchenhaften Altstadt von Sana'a bereite ich mich auf die Reise über eine skurrile Grenze vor. Heute existiert sie nicht mehr. Doch auch früher, als sie noch ihre Bedeutung hatte, wusste niemand so richtig, wo sie in großen Teilen verlief. Dabei trennte die Linie in der Zeit des Kalten Krieges zwei feindliche Staatensysteme voneinander: den islamisch-marktwirtschaftlich geprägten Nordjemen mit der Hauptstadt Sana'a und den sozialistischen Südjemen mit der Hafenmetropole Aden. Karl Marx hätte zwar sicher Probleme gehabt, eine wirtschaftlich so „rückständige", vorindustrielle Gesellschaft dem kommunistischen Lager zuzuordnen. Aber weitab auf der Arabischen Halbinsel verlaufen diese ideologischen Ungereimtheiten im Sand. Die Grenze zwischen den zwei Jemens war zwar durchaus bewacht. Doch für einen Deutschen, der Todesstreifen, Mauer und Stacheldraht zu seiner jüngsten Geschichte zählt, erscheint es kaum vorstellbar, dass zwei feindliche Ideologien streckenweise mehr oder weniger durch ein Wüstenvakuum auseinander gehalten werden konnten. Das eigensinnige, aber ebenso pragmatische Berg- und Wüstenvolk war schließlich auch das erste, das sich Knall auf Fall nach dem Bankrott des Kommunismus wiedervereinigte, am 22. Mai 1990. Das war knapp ein halbes Jahr vor den Deutschen. Nur noch die Koreaner tragen das Erbe der Teilung aus dem Kalten Krieg weiter mit sich. Die Reise über die ehemalige Systemgrenze stellt sich als schwieriges Projekt heraus. Schon immer war das Rub Al-Khali (das „leere Vier97

tel") im Grenzgebiet zwischen dem Jemen und Saudi Arabien eine gefürchtete Wüste, die viele Reisende verschlang und hart gesottenen Stammeskriegern eine raue Heimstatt bietet. Mehrere Tage habe ich schon in den verwinkelten Gassen in Sana'a nach den spärlichen Touristen Ausschau gehalten und gefragt, wer mit mir die T o u r wagen möchte. Bisher haben alle abgelehnt. Die Einheimischen raten ohnehin davon ab. Zu oft schon haben Entführungen Schlagzeilen gemacht, mit denen die Stämme der Regierung Zugeständnisse abringen wollten. Das kleine Zimmer im Silbermarkt von Sana'a, in dem ich übernachtet habe, gehört Yahya, einem Silberhändler und Bekannten eines jemenitischen Freundes. Wenn ich morgens die schmale, steile Treppe heruntersteige, begrüßt mich jeden Tag ein betagter Obsthändler wie ein alter Freund und schenkt mir eine Handvoll Trauben oder saftige Granatäpfel. Dann hat meist auch Yahya schon seine massiven Holzläden aufgeklappt und den Blick auf den kleinen Laden freigegeben. Auf verstaubtem grünem Samt liegt schwerer und reich verzierter silberner Halsschmuck ftir Frauen aus, stehen traditionelle Krummdolche (Djambija) für den Mannesstolz, viele kleine Kästchen, kunstvolle Einlegearbeiten und eine Reihe runder Ollampen aus Alabaster mit gezackten Außenrändern. Der hell-beige Alabasterstein diente im Jemen bis in die jüngste Vergangenheit als Fenstermaterial. Denn erst vor etwa 150 Jahren wurden wirkliche Glasscheiben im Jemen bekannt. Die Imame ließen Glas für ihre Paläste zum Beispiel aus Venedig einschiffen. Sieht man in Sana'a nachts aus alten Häusern besonders mildes, milchiges Licht auf die Straße fallen, dringt es aus Alabaster-Fenstern. Auch in vielen anderen Dingen scheint die Zeit stehen geblieben. Erst seit den 1950er Jahren lösten die ersten Autos die Wüstenschiffe ab. Liebevoll haben die Jemeniten die ungewohnten Blechkisten daher „Toyota-Kamele" getauft. Zu Anfang warfen sie den ersten Autos noch Heu und Futter vor, damit sie etwas zu essen haben, erzählen einige schmunzelnd. In den 1960er Jahren zählte das Land weiterhin zu den unberührtesten und traditionsgeprägtesten der Welt. Seit den 1970er Jahren versucht das staatliche Fernsehen in seinen Verlautbarungen möglichst ein einheitliches Arabisch unters Volk zu bringen. Wegen der Jahrhunderte dauernden Abgeschiedenheit des Jemen hat eine Vielzahl von nord- und südarabischen Dialekten teilweise noch in archaischen Formen überlebt.

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Das Leben der Jemeniten wird geprägt von der Großfamilie, dem Stamm und dem Islam. Im Osten, Süden und in der Ebene am Roten Meer (Tihama) leben überwiegend Sunniten. Im Norden sind die Zaiditen daheim, ein Zweig der Schiiten. Die Ehre der Familie und des Clans nimmt eine zentrale Rolle im Leben ein. Viele Traditionen stammen noch aus vorislamischer Zeit und haben sich mit den neueren Einflüssen durchmischt. Schon vor Mohammed trugen die meisten Jemenitinnen lockere Kopftücher, wie auch die Männer sich Tücher zum Schutz gegen die sengende Sonne umbanden. Heute verhüllen sich Frauen vor allem in den städtischen Regionen in der Regel stärker mit einem grauen oder schwarzen Schleier (Sharshaß. Manchmal lässt ein Schlitz die großen braunen Augen frei, manchmal überlässt der Schleier alles der Fantasie. Im Familienleben treten die Frauen im Jemen dafür mitunter energisch auf und bestimmen wichtige Entscheidungen. In einigen abgelegenen Gebieten des Nordostens sollen Jemenitinnen sogar Auto fahren und Waffen tragen, wie freilich auch im sozialistischen Süden. Ich spaziere mit meinem Freund Hussein durch die engen Gassen des Suq, an Weihrauch-, Gewürz- und Stoff-Händlern vorbei. Packesel kreuzen den Weg. Jeder Straßenzug beherbergt einen anderen Berufszweig, jeder Handwerker arbeitet in seiner winzigen Ladennische — Schmied, Schreiner, Töpfer oder Wasserpfeifen-Bauer. Diebstahl ist hier unbekannt. Türen stehen offen. Wir drängen uns an Ständen der Geldwechsler vorbei. Links und rechts auf den Tischen stapeln sich bündelweise Rial-Scheine. Sie liegen offen herum. Niemand kommt auf den Gedanken, ein paar im Vorbeigehen verschwinden zu lassen. An jeder zweiten Ecke hält Hussein an, schüttelt Hände, begrüßt Bekannte und tauscht Neuigkeiten aus. Der Markt in der Altstadt von Sana'a ist wie ein Dorf geblieben, wo persönliche Bekanntschaften die sozialen Verbindungen zusammen halten. Hussein, der stets penibel rasiert ist, ein weinrotes Sakko und gebügelte Hosen trägt, war seit mehr als einem Jahr nicht mehr hier. Nach seiner Rückkehr aus Deutschland, wo er in einem Entwicklungshilfeinstitut eine Ausbildung als Mechaniker gemacht hat, ist sein Ansehen rasch gestiegen. Besonders in seinem Dorf Rada'a, südöstlich von Sana'a auf halber Strecke Richtung Aden, wurde er mit großem Respekt empfangen. Noch sind seine Eindrücke frisch, und in ihm ist ein kultureller Wirrwarr entstanden. Wir laufen zügig und biegen zahllose Male links und rechts in Gässchen ein, was eine Orientierung fast unmög93

lieh macht. Auf dem Kleidermarkt nahe des Haupttors der Altstadt, des Bab AI-Jemen aus osmanischer Zeit, spaziert uns eine deutsche Touristin mit langen, wilden blonden Haaren, engen Leggins und einem knappen schwarzen Top entgegen. Gerade will ich mich über das fehlende Einfühlungsvermögen der Frau beklagen, da meint Hussein: „Lass sie doch. Das macht nichts. Bei euch in Deutschland dürfen ja Frauen auch verschleiert herumlaufen. Dann können sie bei uns eben auch so offen gekleidet sein wie bei euch zu Hause." Ein erstes Mal hatte mich Hussein mit seinen Interpretationen überrascht, als wir eines Abends auf dem flachen Dach seines alten Steinhauses in Rada'a saßen und Hirse und Fladenbrot aßen. Mutig vertraute er mir an, dass einige Leute hier unter der Hand sagten: „In Deutschland gibt es Muslime ohne Islam. Die Deutschen sind fleißig, tüchtig, pünktlich — das sind alles Tugenden des Islam. Wenn die Deutschen den Islam übernehmen würden, wären sie bessere Muslime als die Jemeniten. Im Jemen gibt es Islam, aber keine Muslime, oder nur wenige." Ein Mann aus dem Dorf drückte mir als Geschenk ein englischsprachiges Buch in die Hand mit dem Titel: „Menschenrechte im Islam" von Abol-Hassan Bani-Sadr, dem ersten Präsidenten der Islamischen Republik Iran nach dem Sturz des Schahs. Als Reformer und Kritiker des konservativen schiitischen Klerus musste Bani-Sadr nicht einmal zwei Jahre nach seinem Amtsantritt 1981 den Iran verlassen. Als ich nachts in Rada'a auf dem Flachdach unter freiem Himmel vor einer Kerze in dem Buch blätterte, fand ich unter anderem folgende Passagen: „Das Recht, eine abweichende Meinung zu haben, ist ein öffentliches Recht, und jede Person darf es ausüben." „Die islamische Gesellschaft ist auf dem Prinzip aufgebaut, dass eine Person, eine Gruppe, selbst eine Generation alleine nicht die gesamte Wahrheit besitzt, sondern nur einen Teil der Wahrheit kennt." „Nicht-Muslime haben einen Anspruch darauf, einem anderen religiösen Glauben anzuhängen sowie anderen politischen und ideologischen Uberzeugungen." An das schmale Büchlein aus dem Bergdorf sollte ich mich noch lange erinnern. Es lieferte auf Reisen in die arabische Welt oft ein willkommenes Gegengewicht zu verkrusteten Koran-Interpretationen. Hussein und ich diskutieren noch lange über den Islam, während wir weiter durch die Gassen von Sana'a schlendern, entlang der verspielten braun-weißen Fassaden. Wenn es das Märchen von 1001 Nacht noch gibt, dann hier in Sana'a und im bergigen Nordjemen. Viele 94

Häuser aus Lehm und Stein sind ein halbes Dutzend Stockwerke hoch. Im Parterre hausten früher Nutztiere, meist Ziegen. Einige Bauten haben noch große Unterstellräume mit weiten Rundbögen für die Kamele, die tagelang durch die Wüste aus Saudi Arabien oder von einer der Küsten angeschaukelt kamen. Steile Treppen mit sehr hohen Stufen führen an einer Art quadratischen Steinturm, der das Haus stabilisiert, nach oben in die Empfangsräume und Schlafgemächer. Reliefartig nach außen gesetzte Schmuckbänder grenzen die Stockwerke voneinander ab oder laufen verschnörkelt um die halbrunden Fensterbögen. In der Regel kalkt der Besitzer die zierenden Ziegel einmal im Jahr weiß. Dann sehen die Häuser besonders frisch und märchenhaft aus. Sana'a ist eine der ältesten noch bewohnten Städte der Welt. Der Legende nach wurde sie von Sem, dem ältesten Sohn Noahs, am Fuß des Berges N u q u m 2 2 5 0 Meter über dem Meeresspiegel gegründet. Die älteste Erwähnung Sana'as als Stadt ist aus dem ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung bekannt. Die U N E S C O hat den O r t auf ihre Liste des Weltkultur-Erbes gesetzt. Auch die Stadtmauer aus Lehm, welche die im Laufe der Geschichte oft belagerte Altstadt festungsartig umschließt, wird mit den originalen Baustoffen

immer

wieder ausgebessert. Jenseits der Mauer sind moderne Betonbauten aus dem Boden geschossen. Doch zumindest zieren auch deren Fenster die traditionellen, oft bunt bemalten und mit Gipsornamenten bestückten halbrunden Oberlichter. Damit unterscheiden sie sich trotzdem von den billigen Betonschachteln vieler anderer Entwicklungsländer. Das konservative Jemen hat jedoch mit 3 , 8 Prozent Bevölkerungswachstum im Jahr eine der höchsten Geburtenraten der Welt. Nach Schätzungen wird der Jemen im Jahr 2 0 2 0 mit 3 6 Millionen M e n schen mehr als doppelt so viele Einwohner haben als jetzt. 7 6 Prozent der Frauen und 3 7 Prozent der Männer sind Analphabeten. M i t einem Bruttosozialprodukt pro K o p f von 3 8 0 U S Dollar ist der Jemen eines der ärmsten Länder. Die Bevölkerungsexplosion verstärkt auch den Druck auf einen schnellen und möglichst billigen Städtebau. Plastikmüll, vor allem Wasserflaschen aus französischer Produktion, liegt in den Straßen der Stadt und draußen auf den Dorfplätzen herum. Westlicher Konsum kam schneller als moderne Müllentsorgung. Zwei weitere Tage streife ich durch Sana'a auf der Suche nach M i t fahrern durch die Wüste. In einem Wasserpfeifencafe am Bab Al-

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Jemen treffe ich schließlich einen humorvollen Ethnologiestudenten aus W i e n , der sogar ein wenig Arabisch spricht. Ronald ist der ideale Reisepartner. In meinem kleinen Z i m m e r über dem Silbergeschäft breiten wir noch einmal die Landkarte aus und entscheiden uns, zunächst mit dem Sammeltaxi nach Marib zu fahren. V o n dort aus wollen wir uns weiter nach Osten zum W a d i Hadramaut durchschlagen. In den letzten Stunden vor unserer Abfahrt treffen wir zufällig einen weiteren Jemeniten aus dem deutschen Entwicklungshilfeinstitut. Als M u n i r von unseren Plänen erfährt, rennt er nach Hause, packt sein kleines Bündel und schließt sich uns an. D e r kleine hagere M a n n mit dem wuscheligen Lockenkopf war selbst noch nie im Südjemen und ist neugierig auf den neuen Teil seines eigenen Landes. Außerdem fühlt er sich nicht ganz wohl dabei, uns allein ziehen zu lassen. A m nächsten Morgen gehen wir zur Haltestelle für Sammeltaxis gen Osten. Der klapprige Toyota-Jeep nach Marib hat eine mehrfach gesprungene Frontscheibe. A u f dem Beifahrersitz quetschen sich zwei Passagiere, und noch einmal sieben auf zwei Bänken hinten. Der Fahrer des Sammeltaxis hat die Tachonadel abgeklemmt. „So beschweren sich die Leute nicht, dass ich zu schnell fahre", meint er grinsend. Die Straßen tragen astreinen Asphalt, sind sehr gut ausgebaut, haben exakte Begrenzungslinien und werden in Serpentinen von silbernen Leitplanken westdeutscher Machart begrenzt. Die Entwicklungshilfe der Bundesrepublik an den Nordjemen ist allgegenwärtig. „Deutschland eins, Jemen eins!", meint der Fahrer zur jüngsten Vergangenheit und reckt seinen K o p f nach hinten. Einmal mehr nimmt er die Hände vom vibrierenden Lenkrad. Er streckt beide Zeigefinger aus und legt sie parallel nebeneinander: „Sadiq!" - „Freund!" ruft er freudig und greift wieder in seine Plastiktüte, wo er das Qat-Kraut aufbewahrt. Während der rasanten Fahrt zupft er nach und nach die Qat-Blätter vom Stengel und schiebt sie sich in die linke Wange. Dann kaut er sie zu Brei und schluckt nur den bittersüßen Saft. So wird seine Wange immer kugeliger. In Sana'a, besonders in der Altstadt, ist ab dem frühen Nachmittag kaum noch ein M a n n ohne die typische Ballonbacke anzutreffen. Das Q a t ist zum Markenzeichen der (Nord-) Jemeniten geworden, das sie auch von anderen Arabern abhebt. Im Süden des Landes ist es vielerorts dagegen als unproduktive Folklore verpönt. Ursprünglich soll das Kraut, das woanders als Droge verboten ist, vor 7 0 0 Jahren aus Äthiopien eingeführt worden sein. Nur dort und im

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Jemen wird es auch angebaut. Doch erst in diesem Jahrhundert und besonders in den vergangenen vier Jahrzehnten nahm der Q a t Konsum stark zu. Bei manchen Familien verschlingt er ein bis zwei Drittel des monatlichen Einkommens. Ethnologen, Soziologen und Politiker streiten deshalb darüber, ob die Pflanze der Gesellschaft eher schadet oder nützt. Dadurch dass besonders die Männer bis zu sechs Stunden am T a g Q a t kauend in den lang gezogenen Diwans mit dem Kraut, Wasser, Cola und Wasserpfeife zusammensitzen, geht viel nützliche Arbeitskraft verloren. Außerdem verdrängt das Kraut wegen seines hohen Marktwerts den traditionellen Kaffee- und Weizenanbau und verschlingt das immer knapper werdende Wasser. Der stellenweise fruchtbare Jemen muss immer mehr Grundnahrungsmittel importieren. Im Gegenzug festigt Q a t jedoch soziale Bindungen, baut Aggressionen ab, trägt zur Kommunikation bei und zur friedlichen Lösung von Konflikten. Alle Beteiligten haben ja genug Zeit, sich ausgiebig zu unterhalten. Die Jemeniten unterscheiden verschiedene Qat-Arten in der gleichen Weise wie Franzosen über Weinsorten philosophieren. Auch die islamischen Gelehrten im Jemen haben sich dem Kraut nicht in den Weg gestellt, obwohl der Koran den Genuss von Drogen verbietet. Hier zeigen die eigensinnigen Jemeniten trotz ihrer Nähe zu Mekka einmal mehr ein traditionales Selbstbewusstsein unabhängig von religiösen Vorgaben. Ein typisch salomonisches Urteil lässt die Frage auf diese Weise offen: Q a t gehört zu den so genannten zweifelhaften Fällen, die auch nach dem Koran nicht eindeutig entschieden sind. Die Wirkung ist jedenfalls weniger schädlich als Alkohol im Ubermaß oder andere Drogen. D e m Amphetamin ähnliche Stoffe erhöhen die Körpertemperatur, den Blutdruck und erregen das Gemüt (die Behauptung erhöhter männlicher Potenz ist dagegen ein weit verbreitetes Gerücht). Der Körper wird ruhig und der Geist rege. Eine ideale Kombination für stundenlange Diwan-Sitzungen, Prüfungen oder lange Autofahrten. Kaum ein Sammeltaxifahrer, der kein Q a t im Auto hätte. D a s Kraut gibt unserem Steuermann zusätzliche Selbstsicherheit für wagemutige Überholmanöver in den Serpentinen hinab in die Wüstenebene. Vorbei an Dörfern mit hohen Turmhäuschen klettert der Allrader über malerische Pässe. Schließlich verlassen wir die grünen Berge und Täler, die bereits die Römer wegen ihrer Fruchtbarkeit Arabia Felix (glückliches Arabien) genannt haben. Die Trauben- und

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Qatfelder weichen den ersten felsigen Canyons, die mit kleinen Wellen goldenen Flugsands überzogen sind. Mit jedem Kilometer abwärts steigt die Temperatur spürbar. Plötzlich halten wir an ein paar rostigen Tonnen. Ein Checkpoint. Offensichtlich wird er von Regierungssoldaten gehalten. Das ist nicht selbstverständlich. Denn in manchen Teilen des Landes gilt Stammesrecht. Mit ihren Revieren ziehen die Krieger zusätzliche Grenzen. Sie lähmen die Arme der Verwaltung und machen das Reisen riskant. Hier liegt ein Grund, warum die Grenze zwischen Nord- und SüdJemen so anders war als in Deutschland. Die Teilung des Landes in verschiedene, relativ moderne Ideologien ist weitaus oberflächlicher als bei durchorganisierten Nationalstaaten. Stamm geht vor Marx oder Marktwirtschaft. Der Soldat am Checkpoint nimmt unsere beiden ausländischen Pässe und verschwindet in einer kleinen Strohhütte. Während wir warten, berichtet mir Ronald von einem Ethnologen, der einmal von Stammeskriegern als Geisel genommen wurde. „Die westlichen Medien bringen das häufig mit irgend einem islamischen Fundamentalismus in Verbindung", sagt er. „Dabei ist der Anlass meist viel harmloser. Die meisten Stämme fühlen sich von der Zentralregierung in Sana'a vernachlässigt und wollen damit eine neue Straße oder ein neues Krankenhaus erpressen." Die Entführung des Wissenschaftlers sollte sich als noch banaler erweisen. An einem Abend wurde er streng bewacht in ein Beduinenzelt geführt. Auf dem Boden stand ein festliches Mahl bereit. Der Stammesführer lud den Fremden mit einer herzlichen Armgeste ein, sich zu ihm zu setzen und zu speisen. Als der Ethnologe fragte, warum man ihn denn entführt habe, antwortete der Häuptling: „Ich habe gehört, dass Sie ein so berühmter Professor sind. Hätte ich Sie zum Essen eingeladen und Sie hätten abgelehnt, wäre das mit meiner Ehre nicht vereinbar gewesen." Andere Entführte berichteten von freundlicher Behandlung und sogar von Abschiedsgeschenken. Doch erpicht darauf, das auszuprobieren, sind wir trotzdem nicht. Wir werden etwas unruhig, als der Soldat keine Anzeichen macht, unsere Pässe herauszurücken. Hinter der Düne lugt das Kanonenrohr eines Panzers hervor. W i r sehen den Soldaten durch die Hüttenwand mit einem Kameraden sprechen. Auch unser Fahrer knabbert immer nervöser an seinem Qat. Munir und die anderen Fahrgäste beginnen zu diskutieren. Die Sonne prallt auf das Autodach. Schließlich steigt 98

der Fahrer aus und läuft auf die Hütte zu, wechselt ein paar energische Worte und kommt mit unseren Pässen zurück. Er gibt Gas. Ernüchternd ist die Einfahrt ins neue Marib. Die Umgebung erinnert eher an Kuwait oder Saudi Arabien als an jemenitische Geschichte. Die großen Ölfunde prägen das Bild der jungen Wüstenstadt. Flachbauten, Lastzüge, Tankstellen, ausladende Straßenpisten und vereinzelte Luxushotels mit Marmor und Klimaanlage. Die meisten wirken geisterhaft leer. Munir, Ronald und ich haben Mühe, eine halbwegs bezahlbare Unterkunft zu finden. Noch schwieriger wird es, einen Beduinen aufzuspüren, der bereit ist, uns durch die Wüste in den Südjemen zu fahren. Zeit bleibt uns nicht viel, denn über das Leere Viertel hat sich bereits die Dunkelheit gelegt. Kurz entschlossen heuern wir ein wildes Taxi an und schwingen uns auf die Ladefläche des Toyota-Pickup. Ein milder Wind weht uns durch die Haare. Doch die Nacht wird nicht gemütlich. Der Fahrer setzt uns an mehreren Privathäusern ab, wo angeblich Beduinen wohnen oder Leute, die angeblich welche kennen. Mehrmals warten wir vergebens auf die versprochenen Scouts. Manche Bewohner mustern uns skeptisch. Es kommt wohl nicht alle Tage vor, dass hier Reisende auftauchen, die ihre Weiterfahrt nicht bereits in Sana'a gebucht haben. Ein paar Führer verlangen Schwindel erregende Preise. Erschöpft willigen wir nach mehr als zwei Stunden Suche ein. Der Beduine Syed will uns für 9 0 0 0 Rial mitnehmen. D a s sind etwa 3 0 0 Dollar. Früh am nächsten Morgen brechen wir auf — zunächst tief in Jemens Vergangenheit hinein, zum alten Marib. Syed fährt einen moderneren Toyota Land Cruiser. Farbe Wüstenbeige. Gleich neben dem Lenkrad hat er seine Kalaschnikow postiert, so dass er blitzschnell zugreifen kann. Der Wüstenwind hat tiefe Furchen durch sein sonnengegerbtes Gesicht gezogen. Seine Augen sind dunkel und wirken unergründlich. Er trägt ein strahlend weißes H e m d ; um seinen K o p f hat er ein weißes Tuch gewickelt und um seine Hüfte einen hellen langen Rock, der die heiße Luft wenigstens zirkulieren lässt. Etwa zehn Kilometer fahren wir auf einer Teerstraße, dann holpert der Geländewagen über Steine und Sandwellen zum alten Staudamm am Ausgang des Wadi Adhana. Die großen Steinquader, die heute noch fugenlos aufeinander liegen, erzählen eine der faszinierendsten Geschichten des alten Jemen. An einigen Steinen entdecken wir Schriftzeichen der Sabäer, die hier ab der ersten Jahrtausendwende

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vor unserer Zeitrechnung eines der bedeutendsten Reiche der arabischen Antike bildeten. Marib speiste seinen Reichtum aus den Karawanen der Weihrauchstraße. Die wichtige Handelsader verlief von Qana an der südjemenitischen Küste, wo die Duftsteine hergestellt wurden, über Marib bis nach Damaskus. Schiffe kamen selbst aus dem indischen Bombay und luden im Hafen von Qana Gold und andere kostbare Waren ab. Vierzehn Jahrhunderte trotzte das Sabäer-Reich allen Wüstenstürmen, Eroberungszügen und konkurrierenden Dynastien — bis der Weihrauchhandel versiegte. Der Damm verwahrloste und brach schließlich 570 u. Z. zum letzten Mal. Eine riesige Flut vernichtete das Leben in der Ebene, und die übrig gebliebenen Bewohner verließen den Ort. Das 600 Meter breite Bauwerk hatte fast 1 500 Jahre standgehalten. Es war der Lebensnerv des Tales, das zur fruchtbaren Oase wurde. In der Uberlieferung ist auch von zwei großen saftigen Gärten die Rede. Der Beduine Syed wischt mit seiner knöchrigen Hand etwas Sandstaub beiseite. Weitere Zeichen der Keilschrift werden sichtbar. „Der große Unterschied zwischen Ägypten und Jemen ist", sagt Syed und spielt auf die Pyramiden an, „dass solch kolossale Bauwerke, die unter so großen Opfern entstanden, in Ägypten nur für einen Mann erstellt wurden und im Jemen für alle Menschen." Statt eines Pharao haben die Jemeniten aber eine andere Lichtgestalt vorzuweisen: Die Königin von Sab'a. Die Autoren der Bibel sowie des Koran gleichermaßen schwärmen von ihrer Schönheit und Weisheit. Sie galt als mächtigste Herrscherin Südarabiens zu der Zeit, als König Salomo in Jerusalem regierte (965-926 v.u.Z.). Auch wenn es sie als Person wohl nie gegeben hat, steht sie symbolisch für die Tatsache, dass in der Periode durchaus auch weibliche Herrscherinnen die Geschicke der Königreiche bestimmten. Außerdem sind die Legenden über die Königin von Saba so schön, dass sie im Laufe der Zeit immer weiter ausgeschmückt und zum festen Bestandteil der Mythologie wurden. Selbst in Comic-Streifen ist Bilqis, wie die Königin im Koran genannt wird, inzwischen ein beliebtes Motiv. Die Geschichten lassen Kinder heute noch mit roten Ohren lauschen. Das wurde mir zehn Jahre nach meinem ersten Besuch im Jemen nochmals klar. Im August 2002 hörte ich die Sagen aus dem Munde eines Märchenerzählers in der „Königin von Saba-Ausstellung" im Britischen Museum in London. Dutzende Kinder drängten sich um den Märchenerzähler WO

und starrten ihn mit großen Augen an, als er zunächst die 27. Sure des Koran zitierte. Darin wird das Treffen von Bilqis und Salomo (Suleiman) am phantasievollsten beschrieben. Salomo erhielt Kunde von Bilqis durch einen zunächst verschollen geglaubten Wiedehopf. Der Zugvogel war weit in den Süden geflogen — oder nach rechts mit Blick auf die aufgehende Sonne, was im Arabischen jamin heißt. Er kam also aus dem Jemen und berichtete dem zornigen Salomo als Entschuldigung für seine Verspätung: „Ich habe etwas entdeckt, was du nicht kennst. Ich komme aus Saba mit wirklichen Neuigkeiten. Ich fand dort eine Frau, die über die Menschen herrschte, und ihnen sind alle Dinge zuteil geworden, die jeder Herrscher der Erde auch nur besitzen kann, und sie hat einen großen Thron." Dann sprach der Wiedehopf entrüstet: „Ich sah sie und ihre Untertanen die Sonne anbeten statt Gott (Allah)." Salomo blieb skeptisch. Während der Koran darüber schweigt, sprechen andere Quellen wie die Bibel von Rätseln und Proben, die sich Salomo und Bilqis über Boten gegenseitig aufgaben. Schließlich wurde auch Bilqis neugierig, ließ sich überreden und ritt mit einem riesigen Tross, beladen mit Weihrauch und anderen Geschenken, in Jerusalem ein. Dort trickste Salomo die Königin zunächst aus. Er ließ sie über eine Glasplatte laufen, unter der Wasser plätscherte und Fische schwammen. Bilqis dachte, sie laufe tatsächlich durch Wasser und hob ihren Rock an, so dass die Umstehenden ihre unteren Schenkel sahen. Als sie ihren Irrtum bemerkt, tritt Bilqis im Koran voller Scham zum Islam über. In anderen Legenden beweist die Szene, dass die Königin gekräuseltes Haar an den Schenkeln hatte, wie böse Zungen schon zuvor gemunkelt hatten. Das war ein Indiz, dass man sie auch als ein übernatürliches Wesen betrachtete. Berühmt wurden vor allem die Rätsel, mit denen sich Salomo und Bilqis in Jerusalem gegenseitig im Wettstreit ihre Weisheit beweisen wollten. Bei so vielen Autoren, die in der Geschichte über das Treffen schrieben, sind der Phantasie keine Grenzen gesetzt. Der Märchenerzähler in London ließ die Kinder raten: „Was bleibt immer an einem Ort, wenn es lebt? Und wenn es stirbt, reist es um die ganze Welt?" — Ein Baum, aus dem man zum Beispiel ein Boot bauen kann. Salomo löste die Frage und Bilqis legte nach: „Was kommt aus der Dunkelheit und erleuchtet die Dunkelheit?" — Ol, das in den Lampen verwendet wurde. Bilqis glaubte, dass Salomo zwar weise sei, aber nicht viel Ahnung von Frauen habe. Daher fragte sie: „Was taucht man ins 101

Dunkle, lässt es dann um zwei Becken kreisen, manchmal mit Tränen?" - Einen Make-up-Stift, den man in den Behälter tunkt und dann um die Augen kreisen lässt. Malt man daneben, kommen Tränen. „Gut, du scheinst auch über Frauen zu wissen", sagte Bilqis nach den Worten des Erzählers. „Aber Männer wissen fast nichts über Mütter, weil sie sich nicht für sie interessieren." Deshalb versuchte sie dieses Rätsel: „Was hat zunächst ein Loch offen und neun geschlossen, und später eins geschlossen und neun offen?" — Ein Baby, zunächst an der Nabelschnur, dann geboren mit geschlossenem Nabel. Bilqis war beeindruckt. Sie blieb sechs Monate in Jerusalem und lernte von Salomo. Wie es kommen musste, verbrachten beide (mindestens) eine Liebesnacht. Bilqis, die zurück nach Marib reiste, gebar dort ihren Sohn. Menelik wurde später König von Aksum, dem Nachbarreich Sabas im heutigen Äthiopien und Eritrea. Deshalb hat die Legende auch fiir die Äthiopier große Bedeutung. Lange Zeit leiteten sie sich direkt von Salomo her. Denn auch in Äthiopien lebten südarabische Stämme, die zum Königreich von Saba gehörten. Die äthiopische Kirchensprache ist eng mit dem Altsüdarabischen verwandt. Äthiopien und Jemen haben also weit mehr gemeinsam als nur die Begeisterung fiir Qat. Heute sind es nationalstaatliche Grenzen, welche die Länder voneinander trennen. Doch in Geschichte und Mythologie war die Region über das Rote Meer hinweg vereint. Es war schließlich der Dammbruch von Marib, der den Glanz von Saba endgültig fortspülte. Ronald, Munir und ich versuchen uns vorzustellen, wie grün das Land gewesen sein musste, das jetzt so trocken und staubig vor uns liegt. Ein paar hundert Meter Wadi aufwärts steht heute ein unspektakulärer Damm aus den 1980er Jahren. Der Grundwasserspiegel in dem kleinen See sinkt jedoch rapide, wie überall im Jemen. Das Land trocknet aus. Unsere Augen schweifen vom alten Damm Wadi abwärts. Dort stehen auf einem flachen Hügel die Uberreste von AltMarib. Im Bürgerkrieg in den 1960er Jahren bombardierten ägyptische Einheiten, die die jemenitischen Royalisten unterstützten, die historische Siedlung. Damit wurden die letzten Zeugen des SabäerReiches ausgelöscht. Doch nicht ganz: Als wir die Geisterstadt betreten, merken wir, dass noch zwei Lehmhäuser bewohnt sind. Um sie herum ragen Ruinen wie hohle Zähne in den klaren blauen Himmel. Bis zu sechs Stock-

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werke hoch sind einige der quadratischen Bauten. Andere haben Wind und Wasser zu harten Lehmbergen zusammengestampft. Dazwischen liegen uralte Holzbalken. Mit jedem Schritt in einem der geisterhaften Treppenhäuser rieselt Lehm herab. Der Wind pfeift durch die kleinen Fenster, die nicht größer sind als Schießscharten. Von den rissigen Flachdächern ist der Ausblick grandios: Vor unseren Augen breitet sich das Leere Viertel aus. Sand, so weit das Auge reicht. Noch ein letztes Mal tanken wir den Wagen voll. Der Beduine Syed füllt noch ein Fass mit Sprit auf, das hinten im Wagen steht. Damit haben wir 180 Liter Benzin. Ronald und ich packen drei Kartons mit je 60 Flaschen Wasser ein. „Das ist viel zu viel", lacht Syed uns aus. Doch was ist, wenn der Jeep stecken bleibt? Wir verstauen Plastiktüten voller Bananen, Äpfel, Granatäpfel, Trauben, Zitronen und natürlich Qat. Syed fährt noch an den Tempelruinen der Sabäer vorbei. Besonders bekannt ist der Mondtempel. Von ihm sind nur noch fünf monolithische Säulen zu sehen, die in den Himmel ragen. Dazwischen hangeln sich kleine Kinder in der Grätsche nach oben und lassen sich wieder herunter rutschen. Die wertvollen Böden der Tempel und die meisten Mauern bleiben im Sand verborgen. Die Archäologen hatten nämlich nach Querelen mit Stammeskriegern und royalistischen Soldaten in den 1950er Jahren das Land fluchtartig verlassen müssen. Die Funde liegen nun ungeschützt herum. Ich wühle ein wenig im Sand und stoße auf einen alten Schminktopf aus grob bearbeitetem, leicht gebranntem Lehm. Nach ein paar Kilometern Teerstraße macht Syed eine abfällige Handbewegung Richtung Fahrbahn und reißt den Lenker nach links. Die Reifen fressen sich in goldenen, weichen Sand. Keine Spur, kein Pfad liefert einen Anhaltspunkt für unsere Fahrt. Von jetzt an sind wir ganz und gar dem Beduinen ausgeliefert. Sanddünen ziehen vorbei, hin und wieder das grüne Dickicht kleiner Oasen. Vor uns in der flimmernden Fata Morgana können wir die Erdkrümmung erahnen. Die Sonne brennt. Selbst die Hand aus dem Fenster zu strecken, bringt keine Kühlung. Ich zucke zurück. Der Fahrtwind scheint die Haut zu verbrühen. Es sind etwa fünfzig Grad im Schatten und die Luft ist staubtrocken. Ronald und ich lassen unsere Wasserflaschen nicht mehr aus der Hand. In sie könnte man inzwischen Teebeutel werfen. Auf dem Wagenblech ließen sich Spiegeleier

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braten. Manchmal schaut Syed vorsichtig um sich, dann presst er leicht die Augen zusammen und korrigiert das Lenkrad um wenige Zentimeter nach rechts oder links. Dabei gibt es keine geografischen Anhaltspunkte, die uns hätten auffallen können. Wir rasen mit bis zu 100 Stundenkilometern auf einer endlosen Ebene aus Geröll und Sand. Kein Wunder, dass sich niemand so richtig über die Grenzen hier einigen kann. Das Leere Viertel trennte hier Kommunismus und Kapitalismus. Lediglich im bergigen Süden war die Grenze genau markiert. Dann verlor sie sich im Niemandsland, das fest in der Hand der Stämme blieb. „Es könnte sein, dass wir gerade Saudi Arabien streifen", sagt Syed auf einmal und fasst an seine Kalaschnikow, die immer noch mit dem Lauf nach oben neben dem Lenkrad steht. „Wenn man saudischen Soldaten begegnet, kann das gefährlich werden. Wenn sie meinen, man hätte die Grenze überschritten, stecken sie einen ins Gefängnis." Syed grinst. Seine Lippen ziehen sich links verzerrt auseinander. Denn seine Wange hat sich bereits mit zerkauten Qatblättern gefüllt. Nur selten nippt der Beduine an seiner Wasserflasche. „Keine Angst", meint er. „Dieses Jahr bin ich die Strecke schon mindestens zwanzig Mal gefahren und nichts ist passiert." In der Zeit, als wir durch das ehemalige Dreiländereck reisen, ist die 2 000 Kilometer lange Grenze zwischen Saudi Arabien und Jemen zwar unsichtbar, aber dennoch heftig umstritten. Hinzu kommt, dass Saudi Arabien seit dem Krieg zwischen beiden Staaten 1934 die nordjemenitischen Provinzen Asir und Najran besetzt hält. Im Leeren Viertel geht es auch noch um das Recht auf Ol, das unter dem Wüstensand schlummert. Erst im Jahr 2000 sollten sich beide Seiten zu einem Grenzabkommen durchringen. Darin verzichtet Saudi Arabien auf seinen Anspruch auf das weite Gebiet des Wadi Hadramaut im Südost-Jemen und der Jemen endgültig auf seine beiden ehemaligen Provinzen im Norden. Wir begegnen keinen saudi-arabischen Soldaten, die uns in der unklaren Situation für Eindringlinge hätten halten können. Dafür ruft Syed plötzlich: „Aufgepasst! Jetzt sind wir im Südjemen." Unsere Köpfe drehen sich wild in alle Richtungen. Woher weiß er das bloß? Syed zeigt nach rechts auf einen winzigen Vulkan, dessen schwarze Felsen zur Hälfte von Sand zugeweht sind. Das ist der einzige Anhaltspunkt seit zwei Stunden. Keine Mauer, kein Stacheldraht oder Wachtürme. Einfach nur Wüste. Syed fährt auf eine Geröllplatte und

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hält den Wagen an. Er klappt die Motorhaube auf und wir legen eine Pause ein an der einstigen feindlichen aber unsichtbaren Systemgrenze. Immerhin haben beide Jemens zwei Kriege um den Verlauf ihrer Grenze geführt — 1972 und 1979. Das blieb den deutschen Staaten glücklicherweise erspart. Denn sie standen ja im Zentrum des Kalten Krieges und im Fokus der Supermächte USA und der Sowjetunion. In einen Konflikt hätten die Deutschen die halbe Welt mit hinein gezogen. Auf der südlichen Arabischen Halbinsel dagegen franste der Eiserne Vorhang aus. Jemen lag, zwar geteilt, aber an der Peripherie des Geschehens. Die Spaltung hat ihren Ursprung auch nicht in erster Linie in verschiedenen Ideologien, sondern in der Zersplittertheit des Landes in sich befehdende Stammes-Dynastien. Schon Mitte des 18. Jahrhunderts verloren die Zaiditen, die die Osmanen aus dem Land geworfen hatten, die Kontrolle über Aden und den Küstenstreifen am Arabischen Meer. Den Süden beherrschte nun der Abdali-Stamm. Als der koloniale Ehrgeiz der großen Reiche im 19. und 20. Jahrhundert zunahm, wurden die jemenitischen Stämme erneut von außen in die Zange genommen. Von Norden drangen wieder die Türken vor. Im Süden brachten die Engländer das Land mit „Freundschaftsverträgen" nach und nach unter ihre Kontrolle und regierten es vom indischen Bombay aus. Beide Mächte einigten sich 1905 auf eine Trennlinie zwischen ihren Einflusszonen. Das ist die Grenze, an der wir jetzt mit unserem Jeep stehen und die bis 1990 galt. Das 20. Jahrhundert war äußerst turbulent für die südliche Arabische Halbinsel. Bürgerkriege innerhalb der Landesteile und Grenzkonflikte zwischen beiden Jemens zerrissen die Region und lähmten ihre Entwicklung. Während sich Royalisten und Republikaner im Norden bis aufs Messer bekämpften, formierte sich im Süden Anfang der 1960er Jahre eine marxistisch-nationalistische Guerilla-Bewegung gegen die britischen Besatzer (die zum großen Ärger der Rebellen auch noch die Royalisten im Norden unterstützten). Die Freischärler vertrieben 1967 die Engländer aus Aden und erklärten den Südjemen für unabhängig. Drei Jahre später erhielt das Land den Namen Demokratische Volksrepublik Jemen. Ihre Regierung klinkte sich in das Machtgefüge des Kalten Krieges unter Führung der Sowjetunion ein. Im gleichen Jahr etablierte sich im Norden die Arabische Republik Jemen, die sich nach und nach an Saudi Arabien und am Westen 105

orientierte (was freilich keinen allzu großen Widerspruch darstellte). Syed lässt die Motorhaube mit einem Knall zufallen und bittet mich ans Steuer. „Nur immer fest Gas geben, wenn der Sand weich wird, und bloß nicht schalten, sonst bleiben wir stecken", warnt er kurz. Dann lehnt er sich zurück, kaut Qat und gibt mir hin und wieder Anweisungen, etwas weiter nach links oder rechts zu fahren. Nach weiteren drei Stunden meist Geröllwüste beginnt langsam die Steppe. Links türmen sich an der westlichen Öffnung des Wadi Hadramaut die imposanten dunkelbraunen Gebirgsmassive der Tafelbergkette auf. Wilde Kamele rennen beim Geräusch unseres Autos davon. Sträucher und Palmen verraten immer häufiger Oasen. Manchmal blähen sich daneben die schwarzen Tücher von Beduinenzelten im Wind auf. „Ihnen war wohl ziemlich egal, ob ihre Regierung sozialistisch oder kapitalistisch war", sage ich zu Ronald und blicke auf die Wüstenbewohner. „Mir war das auch ziemlich Wurst", meint Syed und lacht. „ A b e r jetzt kann man endlich Geld verdienen mit Touren durch die Wüste. Früher war das Sperrgebiet." Die Sonne, die eben noch fast senkrecht herab prallte, hat sich in unseren Rücken gelegt und taucht das Wadi in ein goldenes Licht. Die Sandpiste durchziehen immer mehr Radfurchen. Auf einmal hat der Toyota zum ersten Mal wieder etwas Festes unter den Reifen: Kopfsteinpflaster. Die Steine am Rand des Wegs hat bereits der Sand verschlungen. W i r hoppeln über Schlaglöcher. Erste Vorboten des real existierenden Sozialismus in der Wüste - und der Entwicklungshilfe aus dem europäischen Ostblock. Doch das Vorurteil trügt. Zwar war die DDR in der Tat eine der Hauptunterstützer des sozialistischen Jemen. Doch die alte Hadramaut-Straße wurde bereits in den 1930er Jahren angelegt. Seither ist sie allerdings verkommen. W i r stoppen an einem Kontrollpunkt. „Der stammt noch von den Engländern", erklärt Syed. Gegen eine Quittung gibt der Beduine seine Waffe ab. Dann passt er den Reifendruck an. Der Wadi Hadramaut nimmt uns mit seinen burgenartigen, windgeformten Canyons allmählich immer mehr in die Zange. Nach neun Stunden und 600 Kilometern erhebt sich vor uns das berühmte Manhattan der Wüste: der Ort Shibam. Wie zu einer Festung kauern sich die langen Lehmhäuser dicht aneinander zum Schutz vor Hitze und Sandstürmen. Ich kann mir keine faszinierendere Belohnung vorstellen, als nach einer mehrtägigen Tortur am Wüsteneingang auf dem Rücken eines Kamels von der einzigartigen Skyline Shibams 106

begrüßt zu werden. Es sind die ersten Wolkenkratzer der Welt. Von der Ferne gleicht die Stadt verschwommen einem Haufen Bienenwaben und hebt sich farblich kaum von den Felsmassiven ab, die sie von allen Seiten umrahmen. W i r sind die einzigen Touristen. Doch offensichtlich nicht die ersten. Eine Schar Kinder rennt uns hinterher und ruft „Qalam, Qalam!". Sie hoffen auf einen Kugelschreiber. Manchmal rufen sie „Sura! Sura!" und wollen, dass wir von ihnen ein Foto machen. Nach Geld fragen sie (noch) nicht. Dafür sprechen sie ein wenig mehr englisch als ihre Altersgenossen im Norden. Auf das Bildungssystem legte das Regime in Aden viel Wert, wie viele andere sozialistische Entwicklungsländer auch. Mädchen erhalten mehr Unterricht als im Norden, und mehr von ihnen können lesen und schreiben. Noch etwas erinnert hier am Rand der Wüste an den Sozialismus: In ganz Shibam gibt es nur ein Restaurant, an der Hauptstraße. Ein Telefon sucht man vergebens. Wir verabschieden uns von Syed, dem Toyota-Beduinen, und danken ihm für die unerwartet gefahrlose und gelungene Tour. Die vielen Wasserflaschen haben wir umsonst eingepackt. Die geben wir Syed mit auf den Weg, der morgen die gleiche Strecke wieder zurück fahren will. Dann schreiten Ronald, Munir und ich durch das weiße Stadttor Shibams aus der englischen Kolonialzeit. Uber dem Durchgang klebt zu unserer Überraschung ein großes Poster des damaligen deutschen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker. Er war kurz zuvor auf Staatsbesuch im Jemen, die erste solche Visite in der deutsch-jemenitischen Geschichte. Die Politiker tauschten sich auch über ihre Erfahrungen mit der Wiedervereinigung aus, die für beide Staaten ja erst zwei Jahre zurück lag. So ähnlich der Verlauf der Geschichte für Jemen und Deutschland erscheint, so unterschiedlich fand die Vereinigung beider Teile statt. Zwar ging alles ziemlich plötzlich. Doch hatten beide Jemens bereits nach ihren zwei Grenzkriegen ernsthafte aber erfolglose Anläufe zu einer politischen Vereinigung unternommen. Die jemenitische Variante ist — anders als die deutsche, die eher einer administrativen Übernahme durch den Westen gleichkam - stärker durch Kompromisse geprägt: Im Norden wurde Alkohol erlaubt, im Süden gibt es Qat jetzt jeden Tag, nicht nur an Wochenenden; im Norden zogen mehr politische Parteien ein, im Süden das freie Unternehmertum. Das Land erhielt nun den gemeinsamen Namen Republik Jemen.

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Im Mai 1991 stimmten die Jemeniten über eine neue Verfassung ab, welche die Vereinigung besiegelte. Der Präsident des Nordens, Ali Abdullah Saleh, ging auf die meisten Forderungen des bankrotten Südens großzügig ein, gegen die Unkenrufe der Islamisten. Die Mullahs verbreiteten von den Kanzeln ihrer Moscheen Propaganda über den säkularen Süden, wo die Frauen angeblich alle unverschleiert und die Männer betrunken durch die Straßen liefen. Zumindest vorerst sollten ihre Rufe ungehört verhallen. Saleh wurde schließlich Oberhaupt des vereinigten Landes und der Präsident des Südens, Ali Salim al-Beed, sein Premierminister. Doch bei all ihrem Pragmatismus „vergaßen" die Jemeniten, ihre Armeen zu verschmelzen. Das sollte sich bald bitter rächen. Während in Deutschland rasch viele Ikonen des Kommunismus vom Dach geholt oder vom Sockel gestürzt worden sind, scheren sich die Jemeniten weniger um Symbole. Gleich hinter dem Stadttor von Shibam, neben dem UNESCO-Büro, prangt der rote kommunistische Stern am Rathaus. Er wirkt fremd in dieser Szene. Vielleicht empfindet es gerade deshalb niemand als Widerspruch, dass er immer noch auf Posten ist. Der Ort wirkt besonders in der Mittagshitze wie ausgestorben. Die Abwanderung aus der verlassenen Region ist ein Problem. Außer den Kindern lässt sich fast niemand blicken, als wir die staubigen schmalen Gassen entlang laufen. Die enge Bauweise spendet Schatten und lässt gleichzeitig den Wind angenehm durch die hohen Hauswände ziehen. Drei Bauarbeiter bessern an einem Haus die verwitterten Lehmwände aus. Mit einem Seil ziehen sie den Plastikeimer mit nassem Lehm und Stroh in die Höhe. Die Bauten aus Stampflehm und getrockneten Lehmziegeln brauchen viel Pflege. Da sie unter Denkmalschutz stehen, müssen sich alle Bewohner an strikte Auflagen halten. Shibam soll mehrere tausend Jahre alt sein. Allerdings wurde die Stadtfestung im 13. und 16. Jahrhundert zerstört und wieder aufgebaut. Erst 1982 setzte eine Flut im Wadi den Wolkenkratzern zu, von denen einige bis zu 300 Jahre alt sind. Wie viele Schichten alter Bauwerke unter ihnen auf dem 400 mal 500 Meter kleinen Grundriss der Stadt verborgen liegen, lässt sich nur erahnen. Überall treten wir auf verstreuten Ziegen- und Eselkot. Die Haustiere wohnen in den ersten Stockwerken der 500 Hochhäuser. Die Lehmbauten besitzen bis zu neun Etagen und ragen dreißig Meter hoch in den Himmel. Die obe-

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ren Räume sind oft mit dem Nebenhaus durch einen Steg verbunden. So müssen die Einwohner nicht immer treppauf treppab laufen, wenn sie ihre Nachbarn besuchen. Die kleinen hölzernen Eingangstüren und die Fensterrahmen sind mit Schnitzereien verziert. Mehrere kleine Erker mit kunstvollen Windlöchern dienen als Kühlschrank für Getränke und Obst. Die Sonne wird sich bald im Wüstenstaub verkriechen. Es ist Zeit aufzubrechen. Wir stellen uns neben das Restaurant an die Hauptstraße und warten auf eines der seltenen Autos. Die meisten Einwohner hier fahren per Anhalter. Vor dem Losfahren handeln sie mit dem Fahrer den Preis aus. Arme zahlen oft weniger, Reiche etwas mehr. Wir steigen in einen alten beigen Datsun mit Rechtslenkung. Viele Autos aus der englischen Besatzungszeit kurven noch durch die Wadis, auch wenn längst Rechtsverkehr gilt. Im Laufe der Jahre haben sie sich mit Skodas und Ladas vermischt. Wir hoppeln auf der Kopfsteinpflaster-Straße nach Osten Richtung Seyun, dem Hauptort der Region. Auf dem Weg präsentieren sich weitere Zeugen des real existierenden Wüstensozialismus. An der Straße stehen staatliche Betriebe wie die Public Electricity Company oder der National Drug Store. Neben mir sitzt ein aufgeweckter Junge, der ziemlich gut englisch spricht. Sofort berichtet er über die Probleme der deutschen Vereinigung und landet schließlich bei Bismarck, unter dessen harten Regiment als preußischer Kanzler 1871 die deutschen Fürstentümer zum ersten Mal zu einem Reich zusammengeschlossen wurden. Ich bin beeindruckt. All das habe er in der Schule gelernt, meint der Kleine. Das ist das erste Mal, dass hier jemand von Bismarck als Vorbild und großem Staatsmann spricht. Im stärker konservativ geprägten Norden haben wir stets eine peinliche Begeisterung für Hitler erfahren müssen, weil er Deutschland stark gemacht habe und die Juden vernichtete. Mit Englisch, so scheint es, kommen wir besser zurecht als Munir mit seinem Arabisch. Die Jemeniten sprechen ja zahllose Dialekte, und der Unterschied zwischen Munirs Mundart aus Ta'izz in den nordjemenitischen Bergen und dem südjemenitischen Hadramaut scheint besonders stark zu sein. Da hatten es die Deutschen nach der Vereinigung leichter. Wir müssen immer wieder lachen, wenn Munir an den Dialogen mit seinen Landsmännern verzweifelt und keif ? (wie?) und aisch ? (was?) zwischen ihnen zur häufigsten Vokabel werden. Aber auch atmosphärisch hat Munir Probleme. Er wird mit den Süd709

Jemeniten nicht warm. Ihm fehlt die vertraute Gemeinschaft in Ta'izz und das tägliche Qat aus dem grünen Bergland. Nach langem Suchen finden wir in Seyun ein ziemlich heruntergekommenes Hotel, eines der wenigen überhaupt. Die Temperatur, die wir mit unserem Fieberthermometer messen, sinkt in der Nacht auf angenehme 39 Grad. Erschöpft fallen wir in die harten Betten. Selbst die Moskitos stören uns nicht mehr. Der nächste Morgen beginnt mit einer Überraschung: M u n i r ist über Nacht plötzlich verschwunden. Er hat uns nur einen Zettel hinterlassen. Er habe eine Nachricht von seiner Familie erhalten und müsse dringend zurück. Dabei gibt es von hier aus keine direkte Telefonleitung nach Sana'a. Später stellte sich heraus, dass M u n i r einfach das Geld ausgegangen war. Es war ihm jedoch zu peinlich, uns das zu gestehen. Also wollte er nicht zur Last fallen und hat sich aus dem Staub gemacht. Per Anhalter schlug er sich im südlichen Bogen entlang der Küste nach Sana'a durch. Er wusste, dass wir es sicher durch die Wüste geschafft hatten und wohlauf sind. Damit war seine wichtigste Mission erfüllt. Auch wir brauchen Geld und laufen ins Stadtzentrum von Seyun. Als wir unsere Dollar wechseln wollen, fällt uns eine weitere Besonderheit der jemenitischen Wiedervereinigung auf. W ä h r e n d die Politiker in Deutschland — auch nach dem offen bekundeten Wunsch großer Teile der Bevölkerung — vor allem das Materielle schnell und gründlich regelten, haben es die Jemeniten bei zwei Währungen belassen. Sie wollen eben schauen, welche sich durchsetzt. Das schafft nicht nur uns Kopfzerbrechen. Durch den englischen Einfluss prallen hier zwei Zählsysteme aufeinander, die auch die meisten Jemeniten im Alltag kaum durchblicken. W i r haben noch Rial aus dem Norden in der Tasche. Diese sind aufgeteilt in 100 Fils. Im Süden gelten Dinar. Sie bestehen aus 2 0 Schilling oder 1000 südjemenitischen Fils. Ein Dinar ist wiederum 2 6 Rial wert. Die Herausforderung besteht darin, in einer W ä h r u n g zu zahlen und in einer anderen das Wechselgeld zu bestimmen oder gar eine Rechnung mit einer Mischung beider Prägungen zu begleichen. Die Ladenbesitzer legen kurz die Stirn in Falten, greifen dann ziemlich willkürlich ein paar Münzen aus ihrem abgegriffenen Holzkasten und reichen sie als Wechselgeld. Der Augenschein zählt, nicht der genaue Wert. A m besten einen Sechskant und einen Runden. Das sieht immer gut aus. Bewussten Betrügern laufen wir im Jemen äußerst selten über den Weg. 7 70

Der Nabel des quirligen Straßenlebens von Seyun ist der Sultanspalast. Er liegt auf einer kleinen Anhöhe und seine vier dicken, runden T ü r m e an den Außenseiten thronen majestätisch über dem Marktplatz. Auch der Palast ist aus Lehm gebaut, aber außen mit weißer Farbe verputzt. Der letzte Sultan aus dem Hause Kathiri verließ mit dem Sieg des sozialistischen Regimes 1967 den Hadramaut. Im Gefolge seines wohlhabenden Clans floh er nach Saudi Arabien. Seine Dynastie war im 15. Jahrhundert aus dem Nordjemen in das W a d i gekommen und hier sesshaft geworden. Damals war das Leere Viertel noch ein recht durchlässiges Karawanengebiet. Die marxistische Regierung in Aden misstraute lange den Einwohnern des Wadis mit ihrer feudalen Sozialstruktur. Die Region fiel in einen Tiefschlaf. Erst in den 1980er Jahren begann Aden, das trockene Wüstenland wieder zu entwickeln. Eine Bevölkerung von damals etwa 100 0 0 0 M e n schen in einer strategisch so wichtigen Ebene als Puffer zu Saudi Arabien konnten die Politiker nicht länger ignorieren. Der freundliche alte Pförtner am Eingang des Sultanspalastes in Seyun trägt eine Hornbrille, wie viele Südjemeniten und Bewohner des ehemaligen europäischen Ostblocks auch. Er führt uns ins Innere der dicken Lehmmauern. Die Stadt hat im Palast ein interessantes Museum eingerichtet mit einem historischen und einem volkskundlichen Teil, einer Bibliothek und gemütlichen Leseräumen in den Turmnischen. Das geistige Zentrum der Region liegt allerdings 24 Kilometer W a d i aufwärts im Städtchen Tarim. Bis dorthin führt eine neue Asphaltstraße, dann bricht sie ab. Nur zwei Restaurants bieten den Reisenden hier Stärkung. Dafür soll es in Tarim angeblich einmal so viele Moscheen gegeben haben, wie das islamische Jahr Tage zählt: 354. Heute sollen es noch hundert sein. Ins Auge fällt besonders das mehr als fünfzig Meter hohe, relativ junge Minarett der Al-Midhar M o schee, ein weißer schlanker und rechteckiger Steinturm, der mit Fenstern, Luftlöchern und Ornamenten übersät ist. Im 17. bis 19. Jahrhundert reisten aus der ganzen Südhälfte der Arabischen Halbinsel junge Männer tagelang auf Kamelen durch die Wüste in diese Stadt, um den Koran zu studieren. Die orthodoxe Strömung in Tarim hat seit der Wiedervereinigung wieder Auftrieb erhalten. Umso befremdlicher wirkt der dicke rote Stern, der immer noch hoch oben am rot-weißen Verwaltungsgebäude aus der britischen Kolonialzeit auf einer Eisenstange steckt. Als Bote des atheisti111

sehen Kommunismus erscheint er im erzkonservativen Tarim nicht mehr als eine oberflächliche Fassade aus einer fremden Welt. Manche Einwohner beäugen uns aus ihren Fensterspalten mit großem Misstrauen. Kinder bewerfen uns von hinten mit Steinen. Wenn wir uns umdrehen, rennen sie weg. Doch sie bleiben neugierig auf Distanz. Dabei waren die Einwohner Tarims im 19. Jahrhundert schon einmal fremden Einflüssen ausgesetzt. Einige Männer aus der Stadt brachen durch den engen Horizont des Hadramaut und segelten ins heutige Indonesien. Dort erarbeiteten sie sich als Händler großen Wohlstand. Als sie zurückkamen, bauten sie unzählige Paläste und Villen in Tarim. Sie waren zwar ebenfalls aus Lehm, doch trugen sie bunte südasiatische Farben und Ornamente. Das einzige Hotel am Ort, in dem Ronald und ich auf Notmatratzen in einem Durchgang die Nacht verbringen, ist eine solche indonesische Oase, mit knallbunten Rundsäulen, verzierten Fensterbögen und Dachleisten, einem alten Swimmingpool und einem schattigen Palmenhain mit plätschernden Rinnsälen. Das Timing für die Weiterfahrt ist äußerst schlecht gewählt. Es ist Freitag und wir stehen am letzten und konservativsten Zipfel des erschlossenen Hadramaut. Die Moscheen sind voll, die Straßen leer. Kein Taxi, kein Auto weit und breit. Der Wüstenwind weht braunen Staub in Wellen über das Pflaster. Unser Ziel ist die Hafenstadt Mukallah. W i r benötigen am Ende mehrere Stunden, bis wir uns nach Seyun durchschlagen und ein Auto finden, das uns über die gewundene Passstraße des südlichen Hadramaut mitnimmt. Spät nachts kommen wir in der zweitgrößten Stadt des Südjemen an. Die Luft in Mukallah ist genauso heiß, allerdings durchtränkt mit hoher Feuchtigkeit. Die langen Hosen kleben an unseren Schenkeln. Das Hotel in einem kleinen Hochhaus sozialistischen Stils ist leer und vergammelt. Die Dusche tropft nur. Alte Blutflecke kleben auf dem Kopfkissen. Ronald ist mit Hepatitis A und Durchfall schachmatt gesetzt. In Mukallah muss man nicht lange suchen, um auf die Uberreste des einzigen arabischen Sozialismus-Experiments zu stoßen. Ich spaziere auf der Küstenpromenade an der Poliklinik Hadramaut vorbei. Schwarz verschleierte Frauen und Männer mit karierten Hemden kreuzen auf dem Bürgersteig meinen Weg. Die meisten Häuser sind schlicht und schachteiförmig. In Hafennähe erstrecken sich die schönen alten Kaufmannsgalerien in zwei Stockwerken. Auf dem langen Rechteck ihres Daches liegt ein muslimischer Friedhof. Ähnlich un112

passend wirkt eine ausgebleichte Bildwand im Erdgeschoss im typischen kantig-sozialistischen Realismus: Ein fleißiger Proletarier im hellblauen Arbeitsanzug hält einen Hammer in der Hand, ein zweiter eine Sichel. Daneben sitzt eine Frau am Schreibtisch, mit offenen Haaren. Im Hintergrund sieht man Zahnräder und einen Teil der Weltkugel. Schwarze Fabrikschlote qualmen. Rechts oben prangt der rote Stern. Uber dem Bild hängt kontrastreich ein längliches Schild mit zwei Zeilen verschnörkelter arabischer Schriftzeichen. Die Kaufmannsgalerie, die Moscheen und viele Privathäuser in Mukallah sind weiß getüncht. Die Farbe kommt aus den Kalkbrennereien am Ortseingang. Von der etwas herunter gekommenen Promenade habe ich einen freien Blick auf die großen Schiffe, die im Hafen vor Anker liegen. Schon in früher Zeit fuhren sie von hier und von Aden aus nach Indien und Indonesien. In den Straßen tummelt sich eine deutlich stärker gemischte Bevölkerung, auch Gesichtszüge aus Südasien sind zu erkennen. Jemen hat bis heute eine winzige hinduistische Minderheit, ebenso wie ein paar jüdische Familien im äußersten Nordjemen, die das Silberhandwerk beherrschen — zumindest noch 1992. Auch Mukallah lebte lange Zeit vom Silberhandel und Handwerk. Der Wirtschaftszweig ist jedoch zunehmend ins nordjemenitische Ta'izz und Sana'a abgewandert. Am nächsten Tag steigen wir auf einen Pickup und fahren per Anhalter mit mindestens zehn weiteren Passagieren an Bord weiter Richtung Aden, das mehr als 600 Kilometer entfernt liegt. Zum Erstaunen unserer Mitfahrer lassen wir uns aber schon nach etwa hundert Kilometern beim verlassenen Fischerort Bir Ali abwerfen. Wir atmen durch. Das Meer schickt eine wohltuende Brise über die Küste. Sand wirbelt durch die Luft in unsere Augen. Ein paar Fischer knüpfen ihre Netze neben ihren kleinen Holzbooten am Strand. W i r wandern ein paar Kilometer nach Westen und stoßen am Wasser auf mehrere Grundrisse von Hauswänden aus schwarzen Lavaquadern. Wir stehen im berühmten Qana. An diesem traumhaften Sandstrand begann einst die Weihrauchstraße, die durch das Rub Al-Khali nach Marib und weiter gen Norden führte. Hinter uns liegen schwarze Lavahügel und Berge. Die goldenen Sandverwehungen bilden darauf einen faszinierenden Kontrast. Dazwischen zieht sich die einzige Straße zwischen Mukallah und Aden. Sanddünen drängen sich von beiden Seiten auf den Asphalt. Anderthalb Tage lang fahren außer schleichenden alten Mercedes113

Lastwagen keine Autos mehr nach Westen. Die drei Busse haben wir verpasst. Ronald und ich sind in Bir Ali gestrandet. Ein Hotel oder auch nur ein Restaurant gibt es nicht. In einem kleinen Laden kaufen wir Dosen mit Bohnen und löffeln sie kalt mit den Händen, dazu Granatäpfel und Tütenmilch. Hier, abseits der Urbanen Sittenwächter trauen sich auch die jungen Frauen zum ersten Mal, auf uns zuzugehen. Ein paar dünn verschleierte Mädchen schütteln uns sogar die Hand. Das ist uns bisher noch nie passiert. Am Strand laufen sie auch unverschleiert und sammeln Krebse. Die erste Nacht schlafen wir im freien auf einer verlausten Matratze, die uns die Wächter der kleinen Polizeistation geliehen haben. Wilde Katzen, Ziegen und Esel lassen uns nachts immer wieder zusammenschrecken. Schlaftrunken verjagen wir sie mit Steinen. Für die zweite Nacht lädt uns ein Fischer in sein flaches Haus ein, das mit Stroh bedeckt ist. Nach langer Zeit essen wir wieder einmal frischen, goldbraun gebratenen Fisch. In Mukallah, erzählt der Mann, habe er eine Weile mit ostdeutschen Werftarbeitern zusammengearbeitet. Auch sowjetische, ostdeutsche und kubanische Militärs waren im Südjemen besonders seit den 1980er Jahren stationiert. Ein deutsches Wort, meint der Fischer, ist ihm dabei besonders hängen geblieben: „kaputt". Am nächsten Morgen kommt endlich das lang ersehnte Auto. Die Fahrt in die ehemalige südjemenitische Hauptstadt wird eine Strapaze. Sandsturm, stecken gebliebene Fahrzeuge, kochender Motor und ein unzuverlässiger Fahrer, der uns letzten Endes irgendwo in den Bergen statt in Aden heraus lässt. Wir wechseln erschöpft das Sammeltaxi und finden uns am späten Abend in einer anderen Welt wieder. Aden hat, so scheint es, mit dem übrigen Jemen wenig zu tun. Graue Häuserblocks aus britischer und sozialistischer Zeit reihen sich entlang der breiten Straßen. Eine Altstadt, die auch nur im Entferntesten an die Gassen von Sana'a oder an den Wüstenstil Shibams erinnern könnte, sucht man vergebens. Die zahlreichen Erdbeben haben die meisten alten Lehmhäuser längst platt gemacht. Bürgerkriege erledigten den Rest. Auch viele Steinruinen schlagen Lücken in die Häuserzeilen. Bleiche Farbe blättert von den Wänden. Nach dem Ende des Kommunismus drehte Moskau auch dem Südjemen die Finanzhilfe ab. Die letzten Jahre des arabischen Sozialismus waren von Mangel und Verfall geprägt. Wir fahren in den Stadtteil Tawahi, der früher als Steamer Point bekannt war und als Landzunge einen Teil der Hafenbucht einschließt. 114

Dort entdecken wir am nächsten Tag katholische und evangelische Kirchen aus der Kolonialzeit. Mehrere Zeitalter stoßen hier auf engstem Raum aufeinander. Gegenüber einer Kirchengemeinde trägt ein grauer Verwaltungskomplex den Schriftzug „Planungsministerium" auf Arabisch und Englisch. In einer anderen Behörde, dem Innenministerium, fragen wir dringend nach einer Straßenkarte von Aden. „Stadtpläne gibt es jetzt in der Hauptstadt Sana'a", erklärt uns der Beamte mit der dicken Hornbrille an der Pforte freundlich. „Wie praktisch", meint Ronald. Die Hafenmetropole am Eingang des Roten Meeres ist nur noch ein Schatten ihrer selbst mit Blick auf die ruhmreiche Vergangenheit aus den Tagen der großen Seefahrer. In der Antike war sie Umschlagplatz für Gold, Diamanten, Elfenbein, Baumwolle, Indigo, Zimt, Pfeffer, Datteln, Myrrhe und Weihrauch. In der britischen Kolonialzeit bot der Hafen am Bab Al-Mandeb (Tor der Tränen) den wichtigsten Zwischenstopp zwischen Indien und Großbritannien. Im 19. Jahrhundert galt Aden nach New York und Liverpool sogar als der drittgrößte Hafen der Welt. Die Öffnung des Suezkanals 1869 brachte einen zusätzlichen Boom. Der Hafen von Aden war auch deshalb beliebt, da der mehr als 500 Meter hohe Vulkankegel Shamsan die Monsunwinde am Ufer abfing. „Als ich jung war, gingen hier dreißig Schiffe am Tag vor Anker", sagt ein alter Ladenbesitzer, der uns zu einem Tee in seine schmale Nische geladen hat. „Aden war das Bindeglied zwischen Europa und dem fernen Asien. Hier war ein internationales Volk. Aden lebte!" Er schweigt und lässt seine eben erhobene Hand wieder herabsinken. „Jetzt war es dreißig Jahre tot. Es wird nie mehr werden wie früher. Zumindest nicht für mich. Ich hoffe, dass die Jungen die gute Zeit wieder erleben. Wir zehren von der Hoffnung." Der Veteran mit der großen Zahnlücke konnte zu diesem Zeitpunkt noch nicht ahnen, dass Aden in nur zwei Jahren eines seiner finstersten Kapitel bevorstand. Er nippt an seinem Teeglas und fragt uns in gepflegtem Englisch Löcher in den Bauch zur deutschen Vereinigung. Nach zwei weiteren Gläsern schwarzen Tees zieht er selbst seine Schlüsse. Für deutsche Ohren klingen sie sehr vertraut: „Viele Leute im Südjemen sagen, früher im Sozialismus war es besser. Die Milch war billig, das Brot und alles andere war billig. Natürlich haben wir Probleme, aber hier muss keiner hungern. Jetzt können wir endlich reisen. Die Jemeniten 115

fliegen nach Syrien oder Ägypten. Früher war das kompliziert. Man brauchte ein Passbild, einen Stempel, ein Visum, eine Garantie, dass man zum Beispiel nach einem Monat wieder zurückkehrt. Jetzt können wir frei reden. Früher hätte ich nicht einmal mit Ihnen sprechen dürfen. Die da oben hatten Angst, es würden Geheimnisse verraten. Jetzt können wir sprechen, über was wir wollen. Heute darf man auch überall wieder fotografieren. Das ist Freiheit! Die zählt mehr als billige Milch." Die alten Autos, die vor dem Laden vorbei röhren, spiegeln wie die Bauten der Stadt die wechselhaften Einflüsse wider: Modelle wie Opel Kapitän und Kadett, V W Käfer, Renault 4, Citroen-Enten, Austins, Skodas und Ladas. Dazwischen brummen die klassischen Tata-Busse aus indischer Produktion. Die Einwohner der Stadt tragen Hemden, T-Shirts und weite Sommerhosen. Vereinzelt spazieren junge Frauen mit offenen Haaren und geschminkten Lippen durch die Straßen. Der Ladenbesitzer empfiehlt uns ein Hotel, das weder eine der vielen Absteigen, noch eines der teuren Nobelkolosse sein soll. Das Hotel Ambassador in Tawahi ist noch in Staatsbesitz und damit auf höherem Niveau bezahlbar. Die Fassade ist sozialistisch auswechselbar. Teppich und Vorhänge im Innern sind muffig und schmutzig in Dunkelorange gehalten, die Möbel aus kantigen Spanplatten. Selbst der süßlich-scharfe Geruch der typischen Reinigungsmittel und PVC-Böden erinnert an die Auslegeware in den langen Gängen der Humboldt-Universität im Osten Berlins, an der ich studierte, und an zahllose andere Gebäude in Osteuropa. Dafür gibt es hier eine Klimaanlage. Zum Frühstück kommt weder Bohnenbrei (Ful) noch Fladenbrot auf den Tisch, sondern pappiges Weißbrot, halb zerlaufene Butter und knallrotes Gelee, das wie geschmolzene Gummibärchen schmeckt. Ein Kellner fragt uns zum ersten Mal auf unserer Reise: „Möchten Sie Bier?" Die Hauptstadt Sana'a wirkt mit ihren Qat-Büschen und Ziegen in den Marktgassen, mit den verspielten weiß-braunen Lehmhäusern, den bärtigen Männern und ihren umgeschnallten Krummdolchen dagegen wie tiefste Provinz. In Aden weht trotz aller Dekadenz auch heute noch ein Hauch Kosmopolitismus aus den alten Seefahrerzeiten. Vom Ambassador-Hotel aus schauen wir auf einen Park mit Palmen. Kinder lutschen Softeis. Auf den Bänken unter Baldachinen sitzen junge Pärchen und schäkern. Aus den Lautsprechern klingen 116

Abba-Songs aus den 1970er Jahren. Männer spielen Domino auf den Steintischen und trinken Bier bis tief in die Nacht. Doch ebenso wie in Sana'a haben einige Ladenbesitzer das Konterfei des irakischen Staatschefs Saddam Hussein an ihre Tür genagelt. Dabei ist die Sympathie zu dem Diktator die Jemeniten während des Golfkriegs 1991 teuer zu stehen gekommen. Die jemenitische Regierung hatte sich für eine „arabische Lösung" der Krise um das irakisch besetzte Kuwait eingesetzt und einen Abzug der ausländischen Truppen aus Saudi Arabien gefordert. Das nahm ihr der große Nachbar übel und schickte die jemenitischen Gastarbeiter nach Hause. Ebenso taten dies die anderen Golfstaaten. Saudi Arabien war das erstarkte und bevölkerungsreiche Jemen an seiner Südflanke ohnehin schon länger ein Dorn im Auge. Lange hatte Riad versucht, die Vereinigung beider Teile zu hintertreiben. Die Rückkehr von nun einer Million Arbeitslosen in den Jemen und das Ende der finanziellen Unterstützung durch die arabischen Nachbarn bedeutete einen schweren Schlag für den labilen Wirtschaftskreislauf des Landes. Nicht alle Jemeniten sympathisierten jedoch mit Saddam Hussein. In Sana'a gab es auch Gegendemonstrationen. Wir brechen wieder auf. Im Sammeltaxi von Aden ins nördliche Ta'izz erfahren wir, was die Jemeniten noch so voneinander trennt. Neben mir sitzt ein dicker, wohlhabender Geschäftsmann aus Aden. Sein hellblaues Gewand ist picobello sauber, der verzierte Kragen bis knapp unters Doppelkinn zugeknöpft. Einen Diener hat er auch dabei, der als einziger über seine Witze lacht. Alle Vorväter des Geschäftsmannes stammen aus der Hafenmetropole. „In Aden sind die Menschen zivilisiert, im Norden gibt es keine Kultur", spricht er von dem, was die Deutschen unter Ossi-Wessi-Vorurteilen einordnen würden. Nur im Jemen passiert das mit umgekehrten Vorzeichen: Die Einwohner des politisch und wirtschaftlich bankrotten Südens verachten die „Nordis" in den Bergen als kulturell rückständig. Etwa so, wie westdeutsche Städter gerne in die brandenburgischen Dörfer fahren, weil dort noch Kuhfladen auf dem Kopfsteinpflaster liegen und die Bauernhöfe so urig alt aussehen, reist der Geschäftsmann aus Aden zu einem Picknick am Wochenende nach Norden an die Ostküste des Roten Meeres zur verfallenen Kaffee-Metropole Al-Mokha. „Die Leute im Norden leben wie Tiere. Sie sind welche", fährt der dicke Mann in halbem Ernst fort, und sein Wanst bebt vor Lachen. Vor lauter Erzählen haben wir auf der Teerstraße zwischen Aden und 117

Ta'izz gar nicht bemerkt, dass wir wieder über die Grenze in den Nordjemen gefahren sind. Hier war die Linie, anders als in der Wüste, zwar eindeutig markiert. Doch alte Wachtürme, Mauer- oder Stacheldrahtreste sind ebenso wenig zu sehen. Der Unterschied fällt nur bald durch die saftig grünen Berge auf und den Terrassenfeldbau, der im Norden möglich ist. Der Geschäftsmann lässt sich nicht stoppen. Mit dem Finger, an dem ein dicker Goldring steckt, zeigt er durchs Autofenster auf die Menschen auf der Straße: „Schaut euch nur ihre Kleidung an. Lumpen, wie Tiere. Hört wie sie lachen, wie Tiere. Und die arabische Bergmusik - einfach schrecklich!" Er jault wie ein H u n d . Diesmal lachen alle im Taxi, nicht nur sein Diener. Wären die Nord-Süd-Klischees doch nur so harmlos und auf diesem unterhaltsamen Niveau geblieben! Niemand konnte 1992 ahnen, dass die jemenitische Vereinigung, die so pragmatisch und hoffnungsvoll begann, besonders für den Geschäftsmann und seine Zeitgenossen aus Aden bald zu einem Alptraum werden sollte.

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Der endgültige Sieg des Halbmonds Jemen, im August 1998 Fast auf den Tag genau sechs Jahre nach unserer ersten Tour verabreden Ronald und ich uns wieder im Jemen. Er hat inzwischen über die Regelung sozialer Konflikte auf dem Silbermarkt von Sana'a seine Promotion abgelegt und spricht fließend Arabisch. Die schmalen Gassen der Altstadt quellen immer noch über von wuseligen Händlern und Käufern aus der Stadt und den umliegenden Dörfern. Yahya lädt uns wieder in sein Silbergeschäft zum Tee ein. Der kleine Raum mit der steilen, schmalen Treppe über seinem Shop bietet uns wie damals Ruhe zum Erzählen und Qat kauen. Unser Freund Hussein aber hat sein weinrotes Sakko längst abgelegt und trägt keine gebügelten Hosen mehr. Er hat sich einen Vollbart wachsen lassen und erscheint im typisch weißen Gewand. Vor seinem Bauch steckt der traditionelle Krummdolch. Auch Hussein kaut jetzt Qat, das er früher verschmäht hatte. Ob er über die spärlich gekleidete deutsche Touristin, die wir damals im Suq von Sana'a trafen, heute genauso tolerant denken würde, wage ich nicht zu fragen. Einiges hat sich verändert. Innerhalb der vergangenen zwanzig Jahre ist der Jemen zumindest äußerlich vom Mittelalter in die Moderne katapultiert worden. Ein sichtbares Zeichen ist das Meer von Satellitenschüsseln, das auf den flachen Lehmdächern der denkmalgeschützten Altstadt entstanden ist. Die Toyota-Jeeps sind protziger geworden. Mehr und mehr Blech-Kamele verstopfen die Straßen am Bab AI-Jemen und um die Lehm-Mauer der Altstadt. Erste Ampeln sollen den Verkehr regeln. Da sie aber von den Fahrern noch nicht ernst genommen werden, stehen an den Kreuzungen weiterhin Polizisten, um den Farbsignalen menschlichen Nachdruck zu verleihen. Viele moderne Geschäftsgebäude aus Beton und Glas sind in den neuen Stadtvierteln entstanden. Der Rial ist jetzt die einzige Währung im Land, aber gegenüber dem Dollar nur noch knapp ein Drittel Wert. Neue wie traditionsreiche Hotels sehnen sich nach Gästen. Westliche Touristen sind von den zunehmenden Entführungen abgeschreckt worden. Aus diesem Stoff sind oft die einzigen Nachrichten, die aus dem Jemen in die westlichen Medien dringen. Zwischen den Stämmen und der Zentralregie119

rung tobt ein Machtkampf. Dabei ziehen die Stämme mancherorts immer deutlicher ihre Grenzen. Schon ein uraltes jemenitisches Sprichwort sagt: Der unglücklichste M a n n ist jener, der einen Löwen reitet oder den Jemen regiert. Das müssen auch Ronald und ich erleben, als wir wieder das Wadi Hadramaut besuchen. Diesmal überqueren wir das Leere Viertel im Flugzeug. Erinnerungen werden wach an die Königin von Sab'a, an unseren Beduinen Syed mit der Kalaschnikow am Steuer, an die unsichtbare Grenze am Vulkanhügel und an Munir, der uns so plötzlich verlassen hatte. Unter uns ziehen die braunen Krater und Plateaus der Tafelbergkette vorbei. Von oben wirkt die Wüste noch unwirtlicher als im Jeep. In Seyun setzen wir auf der staubigen Piste auf. Zahllose kleine Privathotels haben in der Stadt eröffnet. Die verzweifelte Suche nach einer Bleibe ist ein D i n g der Vergangenheit. Zuerst fahren wir auf der Kopfsteinpflasterstraße nach Shibam, eine symbolische Wiederkehr. Das Restaurant an der Hauptstraße ist immer noch das einzige am Ort. Dafür füllt weitaus mehr Leben die Gassen. Souvenirverkäufer und Kinder ringen um Aufmerksamkeit. Manche sind sogar aufdringlich. An kleinen Ständen und Buden gegenüber dem U N E S C O Gebäude verkaufen Einwohner und Händler kunstvolle Handarbeit und Kitsch. Uns fallen mehr beschädigte Lehmhäuser auf. Vor allem an den Außenwänden der Stadtfestung bröseln Fassaden oder stehen Wolkenkratzer verlassen. Aus der Ferne hat das Manhattan der Wüste jedoch nichts an Würde eingebüßt. Wir klettern auf der anderen Seite des Wadis auf einen Felshang und betrachten lange das architektonische Wunder, das von allen politischen Wirren unbeeindruckt blieb. Weiter östlich in Tarim wollen wir in den noch nicht erschlossenen Hadramaut vordringen. Im schwer zugänglichen Gelände liegt das größte islamische Heiligtum des Wadi verborgen. Einmal im Jahr wird Q a b r H u d , die Grabmoschee des Propheten H u d , zum Wallfahrtsort. H u d soll auf der Flucht vor Stammeskriegern in eine sich öffnende Felsspalte geflohen sein. So beschreibt es die 46. Sure des Koran. Die Spalte ist heute noch in der Moschee zu sehen. Doch bis dahin liegt noch ein beschwerlicher Weg. Der angeheuerte Toyota-Jeep holpert auf der rauen Piste durch eine faszinierende Steppenlandschaft. Ruinen alter Lehmhäuser und Scheichspaläste, vom W i n d geschliffene Felsformationen, kleine tro720

ckene Wadis, knorrige Büsche, Oasen und Dörfer wechseln sich ab. Im Örtchen Aynat fahren wir an einem Friedhof mit großen Kuppelgräbern vorbei. Die alten Grabsteine tragen hier ausführliche Inschriften, eine Seltenheit im islamischen Raum. Gegenüber steht ein mächtiges Haus mit Steinbockgehörnen an der Außenmauer. Die Tiere sind längst ausgerottet, galten damals aber als heilig. Die hochgezogenen Ecken der meisten Lehmhäuser dienen nicht nur der Statik, sondern symbolisieren auch die Steinbockhörner. Sie sollen das Heim vor Unglück schützen. Eines hat sich seit dem Propheten H u d nicht geändert: Die Stämme hier sind äußerst eigenwillig und besitzen ein großes Selbstbewusstsein. Denn plötzlich müssen wir kurz hinter einer Felswand abrupt stoppen. Kein Stammeskrieger, sondern ein ziemlich mürrischer Soldat stellt sich uns in den W e g . „Hier gibt's kein Weiter", ranzt er den Beduinen an. Ronald und ich zeigen unsere Permits vor. Die hatten wir uns in Tarim besorgt, um dieses Gebiet betreten zu dürfen. „Da hinten ist es zu gefährlich", sagt der Soldat und murmelt etwas von Kidnapping. „Umdrehen!" Mehr als vierzig Minuten streiten wir mit dem Militär. Er nimmt sogar Kontakt mit Tarim auf. Doch letzten Endes müssen wir uns eingestehen, dass unsere Fahrt hier zu Ende ist. Ebenso andere Gebiete, auch im Norden des Landes, die bei unserer ersten Reise 1992 noch frei zugänglich waren, sind jetzt gesperrt. Die Stämme lassen ihre Muskeln spielen, und die Regierung in Sana'a fürchtet im Falle weiterer Entführungen um das Image des Landes. Zurück in Tarim steuern wir das Verwaltungsgebäude an. W i r wollen wissen, warum die Behörden so widersprüchliche Auskünfte geben. Trotz langer Diskussionen erhalten wir keine Antwort und ziehen schließlich erschöpft ab. Erst als ich mich das letzte Mal umdrehe, merke ich eine winzige Veränderung an dem britischen Kolonialgebäude. Der große rote Stern auf dem Dach des Eingangsportals ist verschwunden. Auf der Eisenstange weht nur noch die schwarz-weißrote jemenitische Flagge. Einmal mehr hat die Wüste eine menschliche Epoche verschlungen. Das alte Kräftemessen zwischen Sozialisten und Konservativen ist zwei Jahre nach unserer ersten Reise endgültig und blutig entschieden worden. Ein Bürgerkrieg tobte zwei Monate lang im Sommer 1994 durchs Land. Truppen aus dem Norden belagerten Aden und plünderten es am Ende aus. Insgesamt 7 000 Tote und 15 0 0 0 Verwundete auf beiden Seiten war die traurige Bilanz. Die Vision des Ladenbe121

sitzers von damals, die Stadt könne wieder eine vibrierende, weltoffene Hafenmetropole werden, lag in Trümmern. Der dicke Geschäftsmann aus dem Sammeltaxi nach Ta'izz wird seine Worte gegenüber den „kulturlosen" Nordjemeniten jetzt wohl vorsichtiger wählen. Die Euphorie nach der pragmatischen Vereinigung beider Länder war verflogen. Was war geschehen? Am 21. Mai 1994 hatten die dogmatischen Sozialisten in Aden noch einmal die alte Grenze aufleben lassen und proklamierten die Abspaltung der Demokratischen Republik Jemen. Sie fürchteten um ihr Uberleben durch die Ubermacht des konservativen und bevölkerungsreichen Nordens. Einige Parteifunktionäre waren auf den Straßen Sana'as durch Attentäter erschossen worden. Die Sozialisten beklagten sich, dass den Morden nicht konsequent genug nachgegangen werde. Sie weigerten sich schließlich, ihre Jemenitische Sozialistische Partei (YSP) mit dem Allgemeinen Volkskongress (GPC) des Nordens zu fusionieren. Die YSP befürchtete, ihren Parteiapparat aufgeben zu müssen und damit an Einfluss zu verlieren. Besonders die Stämme arbeiteten gegen die Sozialisten und verbündeten sich mit den erstarkenden Islamisten. Die Stammesführer befürchteten neben dem Einfluss der „Ungläubigen" aus dem Süden auch eine Ubermacht der Zentralregierung, falls sich die immer noch getrennten Armeen vereinigen sollten. Doch dazu kam es nicht mehr. Stattdessen gingen die oft parallel stationierten Soldaten in den Kasernen aufeinander los. Gezielte Truppenverlagerungen der nördlichen Armee hatten dazu gefuhrt, dass sich die im Norden stationierten südjemenitischen Verbände eingeschlossen fühlten. Die Bevölkerung wollte jedoch keine Grenze mehr durch den Jemen sehen. Die Mehrheit besann sich auf die 3 000 Jahre alte „gemeinsame" Geschichte und auf Mohammed statt Marx. Auch hatte die Regierung Saleh im Norden mehr Geld im Rücken und konnte Militärs und Funktionäre aus dem Süden bestechen. Der Bürgerkrieg endete für die Sozialisten in einem Selbstmord, wie es Salehs Anhänger nannten. Ihre Anfuhrer flohen ins Nachbarland Oman oder nach London. Sozialisten verloren ihre Positionen in Politik und Verwaltung. Auch nach dem Krieg blieb die YSP unter ihrer dogmatischen Führung erstarrt, boykottierte Wahlen und koppelte sich trotzig aus der politischen Gestaltung des Landes ab. Erst im Jahr 2000 raffte sie sich wieder langsam zu einer konstruktiven Opposition auf. Trotz des blutigen Rückschlags war die Entwicklung des Jemen zur 122

einzigen und ersten formalen Demokratie auf der sonst feudal beherrschten Arabischen Halbinsel nicht aufzuhalten. Zweiundzwanzig Parteien waren zu den ersten Wahlen 1993 angetreten. Ein Jahr nach dem Bürgerkrieg stimmten die Jemenitinnen und Jemeniten nochmals ab. Frauen genießen aktives und passives Wahlrecht. 1999 wählten sie Präsident Saleh erneut ins Amt und bestimmten 2001 erstmals Kommunalvertretungen. Sorgen bereitet Beobachtern die autokratische Tendenz Salehs. Mit dem Fortschreiten seiner langen Herrschaft versucht er, demokratische Institutionen durch seinen Familienclan auszuhöhlen. Nachdem die Sozialisten ausgeschaltet sind, machen zudem immer mehr die Islamisten als Opposition von sich reden. Ihre Partei, das Jemenitische Reformbündnis (Islah), wurde im Jahr der Wiedervereinigung 1990 gegründet. Vorsitzender ist Scheich Abdullah AlAhmar, Oberhaupt des größten und stärksten Stammesverbandes. Anders als zum Beispiel in Algerien, werden die Islamisten im Jemen jedoch politisch integriert und halten im Parlament rund ein Viertel der Sitze. Damit werden sie in die Verantwortung zumindest teilweise eingebunden und verselbständigen sich nicht als militante Bewegung auf der Straße. Nachdem wir aus dem Hadramaut nach Sana'a zurück geflogen sind, will ich mehr über den Gegensatz zwischen Modernisierern und Islamisten wissen. Dazu suche ich die einzige englischsprachige Wochenzeitung des Jemen auf. Das Impressum der Yemen Times verschweigt allerdings die Redaktionsadresse. Darin ist nur eine Postfachadresse für Leserbriefe und eine Telefonnummer zu finden - aus Angst vor Anschlägen. Ein kurzer Anruf genügt. Ich bekomme einen Termin. Auf einer Ausfallstraße von Sana'a fahre ich ins Viertel der Neureichen und Botschaften. Rechts am Fenster zieht das Büro der Lufthansa an mir vorbei. Klimaregulierte Geschäfte haben Hometrainer, Video-Geräte und Saunen in ihren Schaufenstern ausgestellt. Davor laufen schwarz verhüllte Frauen mit Augenschlitzen auf den Bürgersteigen. In einer kleinen unbefestigten Seitenstraße steht das zweistöckige beige Redaktionshaus mit den kunstvoll verzierten Fensterbögen. Die dritte Etage ist noch im Bau, das Erdgeschoss verrammelt. Gegenüber schaufeln verschwitzte Straßenarbeiter Sand aus einem Graben in Plastikeimer. Ich gehe am Türsteher vorbei durch das schwarze Eisengitter. Im ersten Stock empfangen mich junge Damen mit zartrot 123

geschminkten Lippen und schattierten Augenlidern. Über ihre Haare haben sie nur ein lockeres Tuch geworfen. Im Eckzimmer erwartet mich Abdulaziz Al-Saqqaf an seinem riesigen Schreibtisch. Die Vorhänge hat der Chefredakteur zugezogen. Er trägt eine silberne Brille, ein strahlend hellblaues Hemd und eine schwarz-goldene Krawatte. Al-Saqqaf begrüßt mich freundlich und ordert eine Runde Tee. Nach der Wiedervereinigung, so berichtet der Volkswirtschaftler, schössen viele unabhängige Zeitungen aus dem Boden. Die relativ große Pressefreiheit ist neben dem Ministaat Katar, dem Sitz des TVSenders Al-Jazeera, einmalig auf der Arabischen Halbinsel. Dennoch war Al-Saqqaf in den letzten vier Jahren nach eigenen Angaben sieben Mal im Gefängnis. Einmal, weil er im Bürgerkrieg eine weit höhere Zahl der Kriegsopfer behauptet hatte als die Regierung zuließ. Doch Prügel und Haft haben den Professor nur bekannter gemacht. Als erster arabischer Journalist erhielt er 1995 den Washingtoner Freedom of Press Award. Die Yemen Times unterstützt auch andere jemenitische Zeitungen, die mit den Behörden in Konflikt geraten. „Wir stellen Rechtsanwälte, gehen mit vor Gericht und berichten ausführlich darüber", sagt Al-Saqqaf. Das sozialistische Blatt AlMustaqbal (Die Zukunft) sei von der Regierung allerdings so mit Verfahren überzogen worden, dass es habe aufgeben müssen. Al-Saqqaf ist eine harte Nuss für das Establishment. Staatspräsident Saleh versucht den weichen Weg und will den streitbaren Redakteur politisch einbinden. Er ist nun Senator. In diesem engen Beraterkreis um den Präsidenten ist er zuständig für „Menschenrechte, bürgerliche Freiheiten und Nichtregierungsorganisationen". „Sie wollten mich auch zum Minister machen. Sie bieten Autos und Geld. Aber ich habe abgelehnt", sagt der Journalist nicht ohne Stolz. Feinde hat er vor allem im Lager der Islamisten. „Wir wollen die Werte der modernen Welt in den Jemen bringen. Das passt ihnen nicht." Al-Saqqaf erläutert die heikle Gratwanderung: „Wir versuchen immer wieder zu erklären, dass wir den Jemen nicht verwestlichen wollen. Die Werte, nach Freiheit zu streben, öffentliche Amtsträger zur Rechenschaft zu ziehen, sind nicht westlich, sondern menschlich. W i r wollen ein System des Fair Play, ohne Vetternwirtschaft und Stammesseilschaften." Fast mit Genugtuung zählt Al-Saqqaf seine Gegner auf: „Religiöse Extremisten, Stammesführer, die Bürokratie, das Militär und Sicherheitsleute". In einem Editorial hat er die Predigten der Imame offen 124

als Gehirnwäsche kritisiert. Gleichzeitig, so betont er, akzeptiere er auch streng religiöse Ansichten. Allerdings nur, wenn sie Toleranz gegenüber anderen Meinungen zuließen. Einer seiner Kollegen wettert in der neuen Ausgabe gegen eine drohende Afghanisierung des Jemen. Damals ahnt Al-Saqqaf noch nicht, dass sein Land ab dem 11. September 2001 sogar in einem Atemzug mit den weltweit größten Kalibern islamistischer Terroristen genannt werden würde. Der Chef der Terror-Organisation Al-Qaida, Osama bin Laden, hat jemenitische Vorfahren aus dem Hadramaut, lebte dort eine Zeit lang und hat im Jemen, zum Teil durch Deckfirmen, viel geschäftlich investiert. Auf jemenitischen Bankkonten soll er große Beträge verschoben haben. Etwa in der Zeit, als Ronald und ich uns in Sana'a wiedersehen, soll dort bin Laden gesichtet worden sein und in der Nähe einen neuen Stützpunkt errichtet haben. In seiner berühmten „Kriegserklärung" von 1996 hatte Bin Laden die Bedeutung des Jemen im Kampf der Islamisten gegen den Westen und Israel unterstrichen: „Die Präsenz einer Gruppe von Milizen im Süden Jemens, die für die Sache Allahs kämpfen, ist eine strategische Bedrohung der Allianz der zionistischen Kreuzritter in der Region." In der Tat begannen islamische Extremisten im Jemen, die eher harmlose Stammestradition aufzugreifen und Touristen zu entfuhren. Bei einer Befreiungsaktion kamen dabei Ende 1998 vier Ausländer ums Leben. In Abyan, rund 250 Kilometer südlich von Sana'a, unterhalten Al-Qaida-Sympathisanten ein Trainingscamp. Ihren größten Coup landeten sie im Oktober 2000 mit dem Anschlag auf das US-Kriegsschiff USS Cole vor Aden. Die bekannteste jemenitische Terrorgruppe ist die „Armee Aden-Abyans". Viele Kämpfer kommen aus mehreren arabischen Ländern und wurden in Afghanistan ausgebildet. Die islamistischen Gruppen waren 1993 mit Rückendeckung der nordjemenitischen Regierung in Sana'a entstanden - als Helfer im Machtkampf gegen die Sozialisten in Aden. Bald verselbstständigten sie sich jedoch und verdammten die „säkulare und korrupte Regierung" in Sana'a. Beobachter ziehen Verbindungen zwischen den militanten Islamisten und der islamischen Partei Islah. Ende Dezember 2002 ermordete ein ehemaliges Islah-Mitglied den zweiten Generalsekretär der sozialistischen Partei YSP. Er kam von der gleichen Islamschule wie der Attentäter, der zwei Tage später im zentraljemenitischen Jiblah drei US-amerikanische Ärzte erschoss. 125

Schon vor dem 11. September hatte jedoch Präsident Saleh den Islamisten den Kampf angesagt. Er ließ mehrere Islamschulen schließen und verwies tausende ausländische Studenten des Landes, die meisten aus Afghanistan. Einige jemenitische Imame haben sogar begonnen, Kurse für radikale Bin-Laden-Fans zu organisieren, um sie von den verzerrten und falschen Lehren des Islam abzubringen. Saleh selbst bemüht sich in einem Drahtseilakt, die Außenpolitik am Westen zu orientieren und gegen die Terroristen mit den USA zu kooperieren. Schließlich steht viel Entwicklungshilfe auf dem Spiel. Den Fehler aus dem Golfkrieg 1991 möchte er nicht wiederholen. Damit erntet er freilich Kritik aus der Bevölkerung. Dennoch wäre es zu kurz gegriffen, eine breite Unterstützung der konservativen Stammesgesellschaft für die recht junge Strömung der Bin-Laden-Islamisten zu unterstellen. Als Al-Saqqaf und ich auf dem weichen Sofa seines Arbeitszimmers sitzen, stehen diese Terrorverbindungen noch nicht auf der Tagesordnung. Doch der Journalist hat ein feines Gespür. Er macht sich Sorgen um die Modernisierung des Landes. Skeptisch sieht er nicht nur den Einfluss der Islamisten, sondern auch der Stämme: „Seit dem Bürgerkrieg ist Jemen wieder konservativer und traditioneller geworden. Man will den Süden retribalisieren. Frauen werden dort Schleier aufgezwungen." Die Yemen Times hält dagegen und veröffentlicht Fotos von Frauen mit offenen Haaren, die niemand so auf der Straße zu sehen bekommt. Sie unterstützt Jemenitinnen, die eine berufliche Karriere verfolgen und erfolgreich sind. Die Meinungsseite legt überraschend mutig Tabus offen. Leserbriefe berichten von sexuellen Übergriffen auf Frauen in Bussen und Taxis. Eine Autorin fragt: „Es gibt Länder, wo viele nicht-Muslime wohnen und Frauen unverhüllt herum laufen. Sie werden kaum belästigt. Warum passiert so etwas im Jemen?" Andere Artikel kritisieren Korruption und Folter. Und die Drohungen am Telefon? „Die nimmt keiner mehr ernst", gibt sich Al-Saqqaf gelassen. Die größten Gegner sind jetzt die Militärs. Die Islamisten riefen kaum noch an. „Vielleicht, weil sie kein Englisch können", grinst er überlegen. Unterstützung erhält die Yemen Times von ihren Lesern aus der aufstrebenden städtischen Mittelklasse, von Bankern, Geschäftsleuten, der Intelligentia wie Professoren und Studenten. Kopfzerbrechen bereitet den Redakteuren derzeit vor allem die wirtschaftliche Krise. Sie befürchten dadurch einen Aufschwung der Islah und radikalerer Gruppen, die nicht im Parla126

ment vertreten sind. Vor kurzem hat ein Fanatiker drei Nonnen aus dem Orden Mutter Teresas erschossen, berichtet Al-Saqqaf. Die Yemen Times widmete den christlichen Missionarinnen daraufhin einen langen und wohlwollenden Artikel. „Wir setzen uns für alle Gruppen ein, die bei uns nicht genügend repräsentiert sind", beschreibt der Redakteur den Gedanken. „Wir wollen auch, dass sich Bürger mehr in der Gesellschaft engagieren, dass der Jemen von einer Stammes- zu einer Zivilgesellschaft wird." Sein Vorbild ist dabei die Aufklärung. „Ihr in Europa habt es gut", meint der Professor, und seine Hände hämmern in die Luft wie zum Anheften eines Pamphlets. „Ihr hattet Martin Luther und die Reformation. Ihr hattet eine Bewegung, in der Menschenrechte zählten und in der der Einzelne zur Rechenschaft gezogen wurde. Darauf müssen wir auch hier hinarbeiten." Zehn Monate nach unserem Gespräch ist Al-Saqqaf tot. Ein Auto hat ihn auf der Straße überrollt. Vor Gericht war zu der Zeit noch eine Klage gegen ihn anhängig. Der streitbare Journalist hatte einen Bericht verfasst, in dem er der Regierung Korruption beim Verbuchen der Erdöleinnahmen vorgeworfen hatte. Al-Saqqafs Tod, so hieß es in Sana'a, war ein Unfall.

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Balkan Der multi-ethnische Traum trotzt den Granaten

Sarajevo,

im November

1994

Olgeruch steigt in die Nase. Dunkle Tropfen fallen aus den Kühlaggregaten der verschmierten Container auf den Metallboden. Die klobigen weißen Kisten tragen die schwarzen Lettern U N . Die Fracht drängt die Passagiere noch enger an die Außenwand der Transportmaschine. Blauhelm-Soldaten haben so viele Lebensmittel wie möglich an Bord geschleppt. Mit dem Rücken zur Flugzeugwand sitzen wir der Länge nach auf harten Bänken. Vier schmutzige, kleine Bullaugen spenden etwas Licht. Es ist neun Uhr morgens, im feuchten Nebel. Zagreb, 8. November 1994. Die Motoren röhren und zischen. Der R u m p f des Flugzeugs vibriert. Eine Holzleiter wird von der Seite eingeholt. Die Klappe, durch die wir von hinten in den Laderaum gestiegen sind, fällt mit einem lauten Rums ins Schloss. Für die 44 Passagiere an Bord gibt es kein zurück mehr. In meiner Hosentasche habe ich noch das zerknitterte „Ticket". Ein Soldat im UNO-Hauptquartier in Zagreb hatte es mir in die H a n d gedrückt. Auf dem grauen Papier steht Maybe Airlines. Die Blauhelm-Soldaten haben Galgenhumor. Vielleicht kommen wir ja an, 300 Kilometer Luftlinie entfernt in der belagerten bosnischen Hauptstadt Sarajevo. Der Krieg auf dem Balkan ist in seinem dritten Jahr. Längst hat die Außenwelt den Überblick verloren, um was es überhaupt geht, wer gegen wen kämpft und wo die Fronten verlaufen. Wir fliegen über kleine grüne Hügel, über verschachtelte Gebirgsketten. Ein raues, unübersichtliches Gelände. Unter uns tobt der grausamste Krieg auf europäischem Boden seit 1945. Mindestens 2 2 0 0 0 0 Menschen sollten bis 1995 ums Leben kommen, davon 160 0 0 0 Muslime. Am Ende des Jahrzehnts wird das gebeutelte Land nur noch knapp 74 Prozent seiner Vorkriegsbevölkerung von 3,2 Millionen Menschen haben. Man spricht von mehr als 2,5 Millionen Flüchtlingen, von denen sich 9 0 0 0 0 0 ins Ausland retteten. Der Rest muss bei Verwandten unterkommen oder lebt in den leeren Häusern der anderen Vertriebenen, die nur deshalb gehen mussten, weil sie einer anderen Religion oder „Ethnie" angehörten. 128

Dabei hatte die Dekade so hoffnungsvoll begonnen. Die beiden Teile Deutschlands wurden vereint. Die osteuropäischen Staaten befreiten sich vom Joch des Stalinismus und des Warschauer Pakts. Doch es war gerade dieser neu auflebende Nationalismus, der die Kulisse für die Eskalation auf dem Balkan schuf. Das blockfreie Jugoslawien saß erneut zwischen den Stühlen. Die sozialistische Ideologie war diskreditiert, bei den meisten Politikern des Landes wie in der Bevölkerung. In das Vakuum stießen ab 1990 die Ethno-Nationalisten vor, welche die ersten freien Wahlen in den Teilrepubliken, auch in BosnienHerzegowina, haushoch für sich entschieden. Der neue Slogan lautete: Jedem Volk ein Nationalstaat — und den möglichst in der größten Ausdehnung seiner Geschichte. Ein fatales Konzept für eine derart durchmischte Bevölkerung wie in Ex-Jugoslawien. In Belgrad hatte der skrupellose Kommunistenchef Slobodan Milosevic bereits seit 1986 großserbische Pläne gehegt und die Atmosphäre vergiftet. Das Wort vom drohenden Serboslawien machte die Runde. In Zagreb feilte sein Counterpart, der Historiker und ExGeneral Franjo Tudjman, bald an ähnlichen, nur entgegen gesetzten Vorhaben. Für beide lief das unter anderem darauf hinaus, Bosnien aufzuteilen und ein denkbar großes Stück für sich selbst herauszuschlagen. Ethno-nationale Ideologen und Historiker auf beiden Seiten haben längst darauf hingearbeitet, die Muslime jeweils als eigentlich serbisch oder kroatisch darzustellen. Die überrumpelten europäischen Staaten unterstützten nur halbherzig den zerfallenden Bundesstaat Jugoslawien, der 1943 aus dem Partisanenkampf unter Marschall Tito entstanden war und die Südslawen zum zweiten Mal — nach dem gemeinsamen Königreich zwischen 1918 und 1941 - unter einem Dach vereinte. Zunächst spalteten sich die Slowakei und Kroatien Ende 1991 aus dem Verbund ab. Während die Slowakei fast ungeschoren davon kam, konzentrierten sich die Kämpfe zwischen der serbisch dominierten jugoslawischen Bundesarmee und den Separatisten zunächst auf Kroatien. Deutschland preschte vor und erkannte die Unabhängigkeit beider Staaten an. Die Europäische Gemeinschaft zog grummelnd nach. Eine Kettenreaktion kam in Gang. In einer Volksabstimmung, welche die meisten Serben boykottierten, sprach sich im März 1992 die große Mehrheit bosnischer Muslime und Kroaten für eine Unabhängigkeit Bosnien-Herzegowinas aus. Der ethnische Flickenteppich der kleinen Republik zerbrach in feindliche La129

ger, die territorial schwer zu definieren waren. Aus Protest gründeten die bosnischen Serben ihre eigene Serbische Republik (Republika Srpska) mit dem Hauptdorf Pale. Am 6. April erkannte die EG schließlich auch Bosnien als selbstständigen Staat an. Bosnien wurde zum ersten Mal in seiner Geschichte unabhängig. Daraufhin verlagerte sich der Krieg von Kroatien auf unserer Fluglinie endang gen Osten in die multi-ethnische Republik, wo er sich vier Jahre lang blutig und mit verworrenen Fronten festkrallen sollte. Erst am 21. November 1995 werden sich Milosevic, Tudjman und Alija Izetbegovic von der - überwiegend - muslimischen Regierungsseite nach dreiwöchigen, nervenaufreibenden Verhandlungen auf das Abkommen von Dayton im fernen USBundesstaat Ohio einigen und das Blutvergießen beenden. Knapp rechts unter uns liegt jetzt Bihac. Das muslimische Örtchen am westlichen Zipfel Bosniens ist seit 1992 eingeschlossen - zwischen kroatischen Krajina-Serben im Westen und der vorstoßenden bosnischserbischen Armee im Osten. Die blutige Schlacht um die kleine Enklave hat der Welt bis Mitte 1994 den Beweis geliefert: Eigentlich handelt es sich gar nicht um einen ethnischen Krieg, wie die meisten behaupten. Der muslimische Agrar-Unternehmer Fikret Abdic paktierte mit den Serben, nahm Bihac zusätzlich mit seiner abtrünnigen Privatarmee in die Zange und stand den regierungstreuen Soldaten gegenüber — die seine Glaubensbrüder waren. Der Wind bläst stark. Die schwere Transportmaschine kämpft mit Turbulenzen. Im kahlen Rumpf herrscht Stille. Nur wenige unterhalten sich leise. Ich schaue auf die angenähten Flaggen an den Schultern der Soldaten, die für die glücklose UNPROFOR (United Nations Protection Force) ins Kriegsgebiet müssen: Frankreich, Norwegen, Indien, Brasilien. Die Männer starren Löcher in die Luft. Augen glänzen. Werden alle, die hier sitzen, wieder zurückkehren? Einige der schweigenden Soldaten haben ihren blauen Helm auf dem Schoß und streicheln ihn, geistig abwesend, wie ein Baby. Wir gehören zu den wenigen Zivilisten an Bord. Mit vier Studenten der Jungen Europäischen Föderalisten (JEF) - zwei Italiener, ein Brite und ein Slowake - reise ich als Pressesprecher der Delegation auf Einladung der Stadtverwaltung von Sarajevo. Mit der ungewöhnlichen Fahrt wollen wir ein Zeichen setzen: Auch Bosnien gehört zu Europa, selbst wenn die große Politik dem Blutbad bisher apathisch und ratlos zugeschaut hat. Wir machen uns keine Illusionen. Mehr als ein kleines Symbol können wir nicht setzen. 130

Ein anderer Teil von uns ist nach Mostar aufgebrochen. Die Kleinstadt liegt malerisch im Tal der Neretva in der Herzegowina. Sie ist nun praktisch zweigeteilt. Die berühmte Steinbrücke, die zum UNESCO-Weltkulturerbe zählte, wurde am 9. November 1993 durch bosnisch-kroatische Granaten zerbombt. Ganze 426 Jahre hatte sie standgehalten. Auf dem linken Ufer wohnen Muslime in alten osmanischen Häuschen. Das rechte Ufer ist fest in der Hand kroatischer Nationalisten. Mit uns im Flugzeug sitzt zufällig einer der drei letzten Chirurgen Sarajevos. Seit diesem Jahr ist Faruk Konjhodzic auch Geschäftsführer des größten Krankenhauses in Bosnien. „Wir haben nur einen einzigen Krankenwagen und das Benzin ist knapp", berichtet der Arzt von seinem Alltag in der belagerten Stadt. Ein Drittel der Verletzten wird mit Privatautos ins Spital gefahren. Die anderen werden von Freunden herbeigeschleppt oder auf Schubkarren transportiert. Handschuhe oder Nähfäden müssten die Arzte mehrfach benutzen. Häufig operiert Konjhodzic sogar am Gehirn mit lokaler Betäubung. Das macht ihm zu schaffen. Seit 23 Jahren Unterbrechung raucht er wieder. „Wir sind im psychologischem Stress", sagt er und lacht bitter. „Mit der Zigarette sind wir nicht alleine." Zu ihm halten auch seine serbischen Kollegen. Ein Drittel der Belegschaft seines Krankenhauses sind weiterhin Serben, darunter der Leiter der psychologischen Abteilung, sagt Konjhodzic stolz. Die „ethnischen" Grenzen, die nationalistische Politiker beschwören, gibt es hier nicht. Alle arbeiten auf Hochtouren. Täglich kommen drei bis vier neue Verwundete ins Haus. Bald ist kein Platz mehr. Ein Bombenangriff hat das Rehabilitationszentrum und die Kinderabteilung völlig zerstört. Die Zahl der Betten sank um 1 000 auf 2 200. „Alle Menschen in Sarajevo fühlen sich wie in einem Konzentrationslager man kann weder kommen noch gehen", sagt Konjhodzic. Es ist für Außenstehende grotesk, dass wir freiwillig in diese strangulierte Stadt fahren. Auf dem Flug tauschen wir Adressen unserer Angehörigen aus. Für den Notfall. Martin, unser jüngstes Delegationsmitglied aus der Slowakei, hat eine kugelsichere Schutzweste übergestülpt. Die slowakische Regierung hat sie ihm gestellt. Wir fliegen an Banja Luka vorbei. Die heute größte Stadt der bosnischen Serben liegt knapp unter uns links. Hier riefen die serbischen Nationalisten unter ihrem Kriegstreiber Radovan Karadzic am 7. April 1992 die Republika Srpska aus. Ihr zerfranstes Gebiet versuchen sie mit immer 131

neuen Vorstößen abzurunden, zu erweitern und ethnisch zu „säubern". Dazu zählt auch, nicht nur die Menschen, sondern auch alle Kulturgüter der anderen Seite zu vernichten. Die berühmte osmanische Ferhad-Pascha-Moschee in Banja Luka aus dem 16. Jahrhundert - die größte in ganz Bosnien — wurde 1993 gesprengt. Unsere Maschine geht in den Sinkflug. Von oben wird leicht sichtbar, warum die einstige Olympiastadt so verwundbar ist. Sarajevo liegt lang gestreckt im Tal des Flusses Miljacka, umzingelt von Hügeln und Bergen. Sie schnüren die Stadt der Länge nach ein. Die bosnisch-serbischen Truppen lauern auf ihren Gipfeln mit Panzern, Artilleriegeschützen und Maschinengewehren. Von dort sehen sie jeden Menschen, der sich auf dem Asphalt bewegt und hastig Wasser oder Lebensmittel besorgt. Wer schnell rennen kann, erhöht seine Uberlebenschance. Doch besonders die kurzen Querstraßen zum Fluss werden häufig zu tödlichen Fallen. Die berüchtigten bosnisch-serbischen Heckenschützen haben unter den Einwohnern der Stadt eine Atmosphäre der Angst geschaffen. Manchmal schießen sie nur aus Spaß in Arme und Beine, lassen die Menschen zappeln, bevor sie ihnen den Todesschuss versetzen - als säßen sie am Joystick eines Computerspiels. 200 Mark (100 Euro) Belohnung erhalten die Scharfschützen ftir jedes Opfer, sagt man. Auch Jugendliche verdienen sich so etwas nebenbei. An besonders notorischen Punkten — an Kreuzungen, Brücken oder Plätzen — haben Einwohner „Gefährliche Zone!" oder A c h t u n g Heckenschütze!" geschrieben, auf Plastikfolie oder Holzbrettern, oder einfach mit Kreide an die Hauswand, wie wir später sehen sollten. Nach Daten von 1995 wurden während des Krieges in Sarajevo 225 Menschen von Heckenschützen erschossen, davon 60 Kinder. 1 030 wurden verwundet. Insgesamt erlitten von den 500 000 Einwohnern ein Zehntel zum Teil schwere Verletzungen. 10 615 Menschen kamen ums Leben, darunter 1 601 Kinder. Im Dunst erhebt sich südlich der Stadt der große Berg Igman. Er wird von den bosnischen Regierungstruppen gehalten. Ein schmaler Korridor reicht von dort bis an den Flughafen. Das ist der einzige Weg, um aus der Enklave heraus zu kommen. Früher rannten die Menschen über das Rollfeld, auf das die Gewehrläufe der serbischen Truppen gerichtet sind. Die UNO hat versucht, dies zu verhindern. Daraufhin bauten sie mit Hilfe bosnisch-serbischer Kriegsgefangener einen schmalen Tunnel unter den Flughafen hindurch. Der 760 Me132

ter lange Schacht bleibt für Zivilisten jedoch zunächst verschlossen. Ausländische Diplomaten, bosnische Parlamentarier aus anderen Ortschaften erhalten eine Ausnahme. Sie dürfen durch das 1,20 Meter breite und 1,60 Meter hohe Nadelöhr in die Außenwelt — und zurück in die Hölle. Die Serben haben natürlich von der Lücke in ihrem Besatzungsring W i n d bekommen. Mehrfach haben sie den Eingang bombardiert. Auch versuchten sie, einen Gegentunnel zu graben und mit dem Wasser des Flüsschens Zeljeznica die einzige Lebensader der Stadt zu fluten. Ohne Erfolg. Der Tunnel ist zum größten zivilen Sieg Sarajevos geworden. Immer stärker wird er auch wirtschaftlich genutzt, wobei sich Mittler dabei eine goldene Nase verdienen. Güter gelangen leichter in die Stadt. Seitdem sind die Preise in der Enklave gesunken. Wer es geschafft hat, eine Erlaubnis zu erhalten, den Tunnel zu durchqueren, wird am Ausgang zum Berg Igman mit einem handgemalten Schild begrüßt: „Paris 3 765 km". Die Rollbahn und der angrenzende Vorort Dobrinja aus sozialistischen Häuserblocks, wo der Tunnel beginnt, liegen direkt an der serbischen Frontlinie. Von dort aus ostwärts haben sich die serbischen Truppen in Form einer Einbuchtung bis ans südliche Flussufer ins Stadtzentrum vorangefressen. Von diesen Positionen aus können die Heckenschützen ihren Opfern fast in die Augen schauen. Auch das schwer zerstörte Parlaments- und Regierungsgebäude liegt einen Steinwurf entfernt. Dessen Wände sind geschwärzt mit Ruß. Dort hatten sich am 6. April 1992 rund hunderttausend Bürger Sarajevos versammelt. Sie protestierten gegen die Politik der Ethno-Nationalisten auf allen Seiten, gegen eine Spaltung der Stadt und verlangten Neuwahlen. Doch zu dem Zeitpunkt war es bereits zu spät. Serbische Heckenschützen eröffneten aus dem gegenüber liegenden Hotel Holiday Inn das Feuer und trieben die Menschen - muslimische Bosnjaken, Serben und Kroaten — auseinander. Symbolisch wurde an diesem Ort die jugoslawische Idee endgültig zu Grabe getragen. Unsere Transportmaschine setzt hart auf dem Rollfeld auf. Nach dem Stillstand öffnet sich rasch die Ladeklappe im Heck. Sofort werden wir angehalten, über die Bahn hinter die Sandsäcke am kleinen Flughafengebäude zu rennen. Das mit blau-silbernem Wellblech verkleidete Terminal ist von Einschussnarben übersäht. Zwischen Sandsäcken, Erdwällen und weißen UN-Blech-Containern suchen wir unsere Gepäckstücke zusammen. Die UN-Jeeps sind mit Staub und rot133

braunem Schlamm verschmiert. Immer wieder blicke ich auf die grünen Berge und versuche mir vorzustellen, wo die serbischen Panzer stehen, die uns beobachten. Der Betrieb auf dem Flughafen hängt von ihrer Gnade ab. Es kommt darauf an, was gerade zwischen Belgrad, Pale, Sarajevo, Brüssel und Washington vor sich geht, ob die Rosinenbomber hier landen können oder ob der Tunnel wieder zum einzigen Lebensnerv der Stadt wird. Wir klettern in einen UN-Schützenpanzer. Ein ägyptischer UNPROFOR-Soldat begleitet uns. Er freut sich über die Abwechslung, endlich mal mit „Touristen" fahren zu dürfen. Wir rollen durch den Checkpoint. Bis an den Schlagbaum ragen Erdwälle und stapeln sich Sandsäcke. Das laute Röhren des Motors hallt von den Betonskeletten wider, an denen wir vorbeifahren. Wir passieren geschundene Wohnblöcke, in denen unzählige Löcher klaffen. Kaum zu glauben, dass hier noch Menschen wohnen sollen, direkt an der Frontlinie. Plötzlich springt uns eine Handvoll Kinder in den Weg. Sie erklimmen die offene hintere Einstiegsluke und mustern uns neugierig. Ihre Beine baumeln in der Luft. Der Lenker des Panzerfahrzeugs setzt die Fahrt unbeirrt fort. „Passport Control!", rufen die Knirpse in abgeschürften Jeansjacken. Der ägyptische Blauhelm-Soldat zwinkert mit den Augen: „Ein Sport." Einer der Jungs fragt mich: „Muslim?" „No", antworte ich. Er schaut skeptisch. Die Brust des Ägypters schwillt an: „Yes!", sagt er. „Muslim good", wirft der Kleine in ernstem Ton zurück. Immer mehr Kinder strömen auf einmal aus den verlassenen Straßen. Der Ägypter wirft ein paar Gummibärchen aus der Luke. Lange rennen sie uns noch hinterher, bis unser Panzerfahrzeug an Fahrt gewinnt. Nun biegen wir in eine der gefährlichsten Straßen der Stadt ein. Der Volksmund hat sie Allee der Heckenschützen ( S n i p e r s Alley) getauft. Auf beiden Seiten der breiten Hauptstraße durch das Neubaugebiet parallel zum Fluss stapeln sich Autowracks. Selbst alte Stadtbusse und Container liegen als Schutzschilde aufeinander. Wir sehen sogar einen greisen Fahrradfahrer, der entlang der Heckenschützen-Allee unbeirrt Richtung Stadtzentrum unterwegs ist. Abgestumpft ist das Gefühl der Todesangst. Die Wohnblöcke zeugen von bescheidenem Wohlstand. Unter Tito ging es den Jugoslawen wirtschaftlich weitaus besser als den meisten Menschen in den Ostblock-Staaten. Wertvolle Devisen kamen unter anderem von ausländischen Touristen ins Land. Auch die Jugoslawen 134

durften reisen, und die meisten Einwohner Sarajevos hatten Zentralheizung. Jetzt sehen wir am Straßenrand einen alten Mann, der gerade eine Wurzel ausgegraben hat. Mühsam hackt er den schmutzigen Klumpen mit einer Axt klein. Brennholz für den bitter kalten Winter. Die meisten Bäume in der Stadt sind bereits abgeholzt, wie damals im eingeschlossenen Berlin 1948-49. Der Kubikmeter Holz kostet 350 Mark in der Stadt (175 Euro). Grauer Rauch hängt in den Straßen, als wir aus dem Schützenpanzer steigen. Wir können bei einer privaten Familie wohnen, in einem der modernen Wohnviertel im Norden der Stadt. Es liegt nahe dem Stadion, in dem 1984 ein Teil der Olympischen Spiele stattfand. Die Fußballwiese ist nun voller kleiner Grashügel — ein riesiger Friedhof. Einwohner beerdigen ihre Verwandte auch um Moscheen herum oder neben ihrem Haus, da ein Stadtfriedhof jetzt im Feindesland liegt und der andere gefährlich nah an der Frontlinie. Unweit unseres Hauses stoßen zwei Straßenröhren durch den Hügel. Sie gehören zu einer Schnellstraße. Jetzt dienen die Tunnel als sichere Treffs für Freunde, als Abkürzung zum Schutz vor Heckenschützen und als Transportweg ftir Wasser und Lebensmittel. Unter der Straßenbrücke, ein paar Schritte entfernt, haben die Leute ein paar Marktstände aufgebaut. Dort verscherbeln sie ihr letztes Hemd, Zigaretten oder ein wenig Obst und Gemüse. Die Blicke der Menschen sind starr nach vorne gerichtet. Sie laufen an Autos vorbei, die von Kugeln durchbohrt sind. Unsere Familie hat Glück. Ihre Wohnung liegt im halb eingelassenen Erdgeschoss, vor Granaten sicher. In den Stockwerken darüber sind Wände durchbohrt, Balkons zerbröckelt. Der große Leuchter im Wohnzimmer trägt nur eine Birne. „Nach zehn Tagen haben wir endlich wieder Strom", berichtet die Mutter froh. Das gleiche gilt für Wasser. Im Badezimmer stehen volle Eimer und Kanister. In der Nacht kann ich nicht schlafen. Eine Grippe plagt mich, und im Dunkeln schlagen ständig irgendwo Granaten ein. Im Hintergrund grollen die Berge. Am nächsten Tag schreiben wir den 9. November. Ein bedeutsames Datum für die deutsche Geschichte: 1918 ruft der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann auf dem Reichstag in Berlin die erste deutsche Republik aus, 1938 zerstören hasserfüllte rassistische Deutsche die Geschäfte und Synagogen ihrer jüdischen Mitbürger in der „Reichskristallnacht", 1989 fällt die Berliner Mauer und besiegelt das Schick135

sal der DDR; wildfremde Deutsche liegen sich mit Freudentränen in den Armen. Den Tag haben wir bewusst gewählt, da er auch Auftakt der Einigung Europas nach dem Zusammenbruch des Stalinismus geworden ist. Der 9. November 1994 in Sarajevo bleibt trostlos. Wir haben einen Termin im Gebäude der bosnischen Präsidentschaft, einem trutzigen Bau im Stil der Neo-Renaissance aus dunkelrotem und grauem Sandstein. Er wurde 1885 erbaut, sieben Jahre nachdem BosnienHerzegowina unter Habsburger Verwaltung gekommen war. Auf jeder freien Rasenfläche sehen wir gepflügte Erde. Menschen bauen Kartoffeln, Tomaten und Rüben an. Viele geborstene Fensterscheiben haben die Anwohner durch Plastikfolien ersetzt, die die Aufschrift des Flüchtlingshilfswerks U N H C R tragen. An einer Ecke hält ein V W Golf mit einem Anhänger mit Wasser-Kanistern. Menschen eilen herbei und füllen sich ihren Teil ab. Auf dem Straßenschild einer Kreuzung steht noch: Belgrad, gerade aus, Mostar rechts ab — unerreichbar weit. In der heutigen Ausgabe von Oslobodenje, der letzten Tageszeitung der Stadt, ist zu lesen: „Massaker auf Sarajevos Straßen. Sechs tot, zehn verwundet durch Granat-Einschlag und Heckenschützen nahe dem Holiday Inn", und „Parlament diskutiert Verfassung für die Bosnische Föderation, um sie zum Funktionieren zu bringen." Im Jahr zuvor war die Föderation zwischen bosnischen Kroaten und der überwiegend muslimischen bosnischen Regierungsseite auf Druck von US-Präsident Bill Clinton entstanden. Zwar war es ein reines Zweckbündnis, überdauerte jedoch den Konflikt und befreite die bosnische Regierungsseite von einem Zweifrontenkrieg. Im Präsidentschaftsgebäude treffen wir Mirko Pejanovic, den Vorsitzenden der serbischen Gemeinschaft in Sarajevo und der Bürgerlich Demokratischen Partei. Noch nie habe er in den letzten Jahren und Monaten eine solche Delegation mit jungen Leuten gesehen, freut er sich. Pejanovic revanchiert sich mit ungewöhnlichen Zahlen, die alle „ethnischen" Grenzen verschwimmen lassen. „Mehr als die Hälfte der bosnischen Serben nimmt an der Aggression nicht teil", betont der graumelierte Professor. Von den 1,3 Millionen Serbien seien nur 600 000 in der Republika Srpska dem Kriegstreiber Karadzic hinterher gelaufen, der derzeit siebzig Prozent des Territoriums von Bosnien-Herzegowina kontrolliert. „Karadzic repräsentiert die Serben und kämpft gegen den muslimischen Fundamentalismus", wie es in 136

den europäischen Medien heißt, sei reine Propaganda. 200 000 bosnische Serben leben weiter zusammen mit Muslimen und Kroaten in der Föderation. Auf dem Territorium der bosnischen Regierung wohnen vor allem in Sarajevo noch 60 000 Serben, 30 000 Kroaten und 10 000 Juden. Ich muss an den Chirurgen im Flugzeug denken, der von seinen serbischen Kollegen sprach. Alle Bürger von Sarajevo, die wir treffen, weisen stolz daraufhin, dass in der Altstadt in einem Umkreis von nur hundert Metern alle Glaubensrichtungen ihr Gotteshaus haben: eine Moschee, eine Synagoge sowie eine orthodoxe und eine katholische Kirche. „Das gibt es nicht einmal in Jerusalem", sagen sie. Während des Krieges finden in allen weiterhin Gottesdienste statt. „Friede in Sarajevo bedeutet Friede in Europa", unterstreicht Pejanovic. „Die Vielfalt der Kulturen in Europa verteidigen bedeutet Bosnien-Herzegowina verteidigen." Deshalb sei er so enttäuscht von der Untätigkeit der Europäer, diese Aggression zu stoppen. Wenn er in die Vergangenheit schaut, sieht er neben Hass auch eine Tradition des friedlichen Zusammenlebens. „Auch diesmal wird die Toleranz siegen", ist er überzeugt. „Toleranz lässt sich nicht mit Gewalt zerstören." W i r hoffen, dass er Recht behält und wagen uns wieder auf die Straße. In dem großen Konferenzsaal mit dem langen polierten Holztisch, dem Kronleuchter an der Decke und den schweren grauen Vorhängen hatten wir den Krieg draußen fast vergessen. Doch er holt uns schnell wieder ein. Kaum haben wir das Gelände der Präsidentschaft verlassen, schlägt dort eine Granate ein. Salven von Gewehrschüssen folgen. Die Menschen rennen von den Straßen und drücken sich eng an den Häuserwänden entlang, besonders in den Seitenstraßen. Wir tun das Gleiche, denn wir spazieren gerade in einer solchen Querstraße Richtung Norden, bergauf zum einzigen freien Radiosender Studio 99. Das Rundfunkgebäude ist durch Granatsplitter vernarbt. Graue Betonplatten lehnen schief aneinander. Die Journalisten senden seit Mai 1992 aus dem feuchten Keller. Wir schlüpfen durch ein kleines Tor in den Hintereingang, den UNPROFOR-Soldaten in einem Plastikhäuschen bewachen. Unten kommt uns dicker Zigarettenqualm entgegen. Die Luft ist zum Schneiden. Fenster sind keine zu sehen. Die Redakteure bitten uns in ein kleines Studio. Ein miefiger Vorhang trennt es vom Mischpult. Der Raum besteht aus einem Biertisch, umhüllt von einer schmutzig grauen Decke und zwei alten Mikrofo137

nen. Die freie Radio-Oase sendet in einem Radius von 120 Kilometern. Damit überwindet das Programm alle tödlichen Grenzen und reicht auch bis nach Pale, dem Hauptquartier der bosnisch-serbischen Kampftruppen unter Karadzic. Im Interview reden wir vom Ideal eines multi-ethnischen Bosnien, das nicht zerstört werden dürfe, und von einem grenzenlosen Europa, das auch erst dadurch entstanden sei, nachdem nationale Borniertheit überwunden werden konnte. Auch zwischen Frankreich und Deutschland habe es lange Zeit Krieg gegeben, der heute unvorstellbar erscheint. Davon können sich die Bürger Sarajevos an diesem Tag freilich nichts kaufen. Aber vielleicht macht es ihnen ein wenig Hoffnung, dass auch dieser grausame Krieg einmal vorbei geht. Im verrauchten Studio sitzt Zoran Ilic, zweiter Chefredakteur des Senders. Er wirkt müde. Seine Augen sind matt. Auch wenn das rote Lämpchen „Achtung Aufnahme!" brennt, bleibt seine raue Stimme ohne Höhepunkte. Er schluckt häufig; die Sätze kommen zäh. Während der Live-Aufnahmen zündet er sich eine Zigarette an. Alle Journalisten in den zwei kleinen Kellerräumen halten sich am Glimmstängel fest. Tabak macht Stress und Hunger erträglicher. Zigaretten werden hoch gehandelt, bis zu 100 Mark (50 Euro) die Stange! Manchmal bekommt man für eine einzelne Packung auch mehrere Konservendosen Essen. Immer wieder klingelt das vergilbte Telefon. Hörer rufen an und sagen ihre Meinung. Um 17.00 Uhr werden täglich Nachrichten gesendet, die wegen ihrer Objektivität weit über „ethnische" und militärische Grenzen hinweg verfolgt werden. „Wir wissen viel mehr als andere Journalisten", grinst Ilic verschmitzt. Die Neuigkeiten um 21.00 Uhr übernimmt der Sender live von Radio France Internationale. Das Abendprogramm mit Pop-Musik aus West- und Osteuropa beschreibt Ilic als eine „Therapie". An den grauen Kellerwänden hängen Poster mit schmerzhaften Botschaften. Eines zeigt die schlafende Schönheit Europa mit der Aufschrift: „Wach auf, Europa! Sarajevo ruft." Ein anderes zeigt das berühmte Shakespeare Zitat „Sein oder nicht Sein", bei dem das „oder nicht" rot durchgestrichen ist, darunter die Worte: „Keine Frage". Auf einem weiteren tragen Soldaten die weiße Fahne mit den olympischen Ringen auf das Schlachtfeld. Darüber steht: „Olympische Spiele Sarajevo 1994". Keiner der sechzehn Mitarbeiter von Studio 99 wird für die Arbeit 138

bezahlt. Die Journalisten ernähren sich von Konserven der weißen Rosinenbomber aus Zagreb und dem italienischen Ancona. „Wir leben wie jede andere Familie auch, nur von humanitärer Hilfe", erklärt Asim Abdurahmawovic, Vizedirektor des Senders. Er sitzt auf einem muffigen Sofa vor den Wandpostern. Alle zwei bis drei Wochen erhält er eine Dose Fleisch, zwanzig Gramm Salz und ein Kilogramm Mehl von den Vereinten Nationen. Zigaretten kommen von Freunden, wie er sagt. Seine Familie ist längst in Spanien. Doch er will seine Wohnung und den Arbeitsplatz halten, bis der Krieg vorüber ist. Im Studio 99 arbeiten Menschen aller drei „Ethnien" zusammen. Das ist auch ihr Credo, das sie den Hörern vermitteln. Damit haben sie sich viele Feinde geschaffen, auch in der muslimischen Partei SDA von Alija Izetbegovic, dem Vorsitzenden der bosnischen Präsidentschaft. An der Wand hängt ein altes Foto von Tito. Erfolgreich habe sich der Sender mit Unterstützung der Bevölkerung gegen die geplante, „ethnische" Trennung des Schulunterrichts eingesetzt, berichtet Abdurahmawovic stolz und drückt seine Zigarette aus. Sein Kollege Ilic sagt: „Vor dem Krieg wurden in Sarajevo 34 Prozent der Ehen gemischt geschlossen." Selbst jetzt seien es noch 15 Prozent. Einen weiteren Erfolg in diese Richtung können die Redakteure vorweisen: Zusammen mit dem Intellektuellen-Zirkel Krug 99 haben sie eine Aktion für ein „freies, offenes und ungeteiltes Sarajevo" gestartet. Ihre Horror-Vision ist die Mauer, die Berlin zerschnitt. So etwas dürfe es nie wieder geben. Doch vielen Ethno-Nationalisten schwebt die gleiche Lösung für die bosnische Hauptstadt vor. Sarajevo wäre dann in unüberbrückbare „ethnische" Sektoren zerteilt. Den gemeinsamen Aufruf gegen solche Pläne haben nach Ilics Angaben bisher 150 000 Bürger aller Volksgruppen unterzeichnet, die Hälfte der Bevölkerung Sarajevos. Das Pamphlet, das uns die Journalisten in die Hand drücken, ist mit „Die Bürger von Sarajevo" unterzeichnet. Darin erklären sie: „Wir sind fest davon überzeugt, dass unser Leben der Vielfalt und Toleranz ein unbezahlbares Erbe unserer Vergangenheit ist und die einzige sichere Grundlage für eine friedliche und glückliche Zukunft für alle Bürger von Sarajevo und Bosnien-Herzegowina. [ . . . ] W i r werden niemandem erlauben, unsere Stadt aus welchem Grund auch immer zu teilen, besonders nicht zu einer Zeit, da die gesamte Welt sich in Richtung stärkerer inter-kultureller Zusammenarbeit und Integration 139

bewegt." Damit schlössen sich die Bürger einer Deklaration der Stadtversammlung zu Kriegsbeginn 1992 an. Darin hieß es: „Die Stadt Sarajevo mit ihren 500 Jahren Geschichte gemeinsamen Lebens in einer multikulturellen, multikonfessionellen und multinationalen Gemeinschaft ist unteilbar." Selbst bis zu den Vereinten Nationen war dieses Bild durchgedrungen: Die UNO-Resolution 824 von 1993 spricht von der „Einzigartigkeit der Stadt Sarajevo, die als Zentrum mehrerer Kulturen, Volksgruppen und Religionen veranschaulicht, dass das Zusammenleben aller Bevölkerungsgruppen der Republik Bosnien-Herzegowina und Beziehungen zwischen ihnen möglich sind." W a s es persönlich bedeutet, wenn auf einmal neue, feindliche Grenzen das Leben bestimmen, musste Sanela Hadzihasanovic erleben. Die 19-jährige Muslimin studiert Journalistik, arbeitet auch im Studio 99 und sitzt mit uns auf den weichen Sofas im verrauchten Keller. Ihre Haare sind kurz und gewellt, ihre Lippen violett geschminkt. Sanelas beste Freundin war Serbin. „Wir haben in der Schule das Pausenbrot geteilt." Auf einmal verschwand sie. Drei Tage zuvor hatte sie noch gesagt: „Mach' Dir keine Sorgen. Der Krieg ist bald vorbei." Als Sanela ihre Freundin anrief, war plötzlich eine fremde Stimme am anderen Ende der Leitung. Die Freundin ist mit ihrer Familie auf die andere Seite gegangen, zu den „Tschetniks", sagt Sanela. So hat sie während des Kriegs viele Bekannte und Freunde verloren. Tschetniks sind die gefürchteten serbischen Milizen. Der Name stammt aus dem Zweiten Weltkrieg, wo serbische Tschetniks und faschistische, kroatische Ustasa-Verbände unter der Zivilbevölkerung ein Blutbad anrichteten. Leidtragende waren vor allem Muslime und kommunistische Partisanen. „Religion ist Privatsache", beharrt Sanela. „Ich bin Muslimin. Trotzdem kann ich Bier trinken und kurze Röcke tragen. Ich bin Muslimin, weil ich einen muslimischen Namen habe. Das ist alles." So oder so ähnlich haben wir es von vielen Menschen hier gehört. Der N a m e entscheidet über Leben und Tod. „Ethnische", also in irgendeiner Form erkennbare Unterschiede zwischen den Menschen gibt es nicht. Sie sprechen im Grundsatz auch die gleiche Sprache: SerboKroatisch, nur schreiben die Serben kyrillisch, die Kroaten lateinisch und viele Muslime beides. Sollte auch der Name nicht eindeutig sein, müssen Männer, die zwischen die Fronten geraten, manchmal ihren Penis zeigen. Sind sie beschnitten, sind sie Muslime und müssen das Schlimmste befürchten.

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Auf einer Zugfahrt von Wien nach Berlin saß ich einmal mit einem jungen bosnischen Muslim im Abteil. Er war gerade von der Frontlinie in Bosnien zu Fuß und per Esel geflohen und besuchte nun seine Verwandten in Berlin. Er erzählte mir, dass er und seine Kameraden unerkannt in die serbischen Dörfer gegangen sind, sich in Bars und Discos vergnügt und mit den serbischen Mädchen getanzt hätten. Oft erfuhren sie dabei auch wichtige Informationen. Sie mussten vorher jedoch peinlich genau darauf achten, dass ihre Kleidung — bis zur Unterhose — keinen Grund zum Verdacht lieferte. Am besten, die Klamotten waren aus serbischer oder russischer Produktion. Am Aussehen, an der Sprache und an anderen Details sind sie nicht zu erkennen gewesen. Viele von Sanelas Bekannten sind in den vergangenen zwei Jahren umgekommen, weil sie den „falschen" Namen hatten. Ein muslimischer Freund verschwand auf einmal, nachdem er nach einem Gefecht seinen sechzehn Jahre alten serbischen Freund unter den Opfern entdeckt hatte. „Wahrscheinlich hat er sich dann selbst erschossen", meint Sanela. Ihre Tante und ihr sieben Jahre alter Sohn sind in Gorazde gestorben, einer muslimischen Enklave in Südost-Bosnien. Der Mann ihrer Schwester hat nur noch ein Bein, und auch ihr Vater ist verwundet. „Ich habe die Nase voll von dieser Scheiße", sagt Sanela und zischt mit ihren Lippen. „Jeden Tag sehe ich die gleichen Straßen, die gleichen Gesichter. Wenn ich die Fußgängerzone entlang gehe, kenne ich jeden zweiten, der mir begegnet. Das hier ist kein Gefängnis. Es ist schlimmer." Ihre braunen Augen starren in den Dunst. „Manche Mädchen machen ein paar Mark durch Prostitution", sagt sie. „Sie klopfen im UNPROFOR-Camp an die Türen der Quartiere und sagen nur: „Sex Business". Für 100 Mark die Nacht. Wer Glück hat, hängt sich an einen ausländischen Ubersetzer. Einige fahren Taxi." Bei einem Benzinpreis von zehn Mark pro Liter ein hartes Geschäft. Selbst mit der Ausgangssperre ab zehn Uhr abends wüssten einige noch ihr Geld zu machen, erzählt Sanela und grinst: „Einer hat sich ständig mit Absicht festnehmen lassen. Dann hat er nachts den rauchenden Polizisten seine Zigaretten teuer verkauft." Die machtlosen Blauhelm-Soldaten haben bei der Bevölkerung einen schweren Stand. Viele kommen sich überflüssig vor. Die Einwohner machen sich über sie lustig oder verdammen sie. Auf einem dokumentarischen Stadtplan, in dem auch Kriegsgeschichten erzählt wer141

den, fand sich nach dem Krieg folgende leicht zynische Beschreibung der Weltpolizisten: „Die Rolle der UNPROFOR war vielfältig: Die Soldaten dienten als Geiseln der Aggressoren, sie räumten den Müll weg, sie fuhren in Straßenbahnen zum Schutz gegen Heckenschützen mit, sie verteilten Süßigkeiten, brachten Mehl, zerstörten die Oberfläche der Straßen in Sarajevo mit ihren Panzern und Transportern, stellten für lange Zeit die einzigen Transportmittel dar, sie reparierten Fernmeldekabel, sie kontrollierten den Flughafen. Sie waren lange der wichtigste Faktor im Wirtschaftsleben der Stadt, weil sie mit den Gütern, die sie hatten, handelten." In einer Karikatur in der Redaktion der Zeitung Oslobodenje macht sich Karadzic im „U" der UN wie in einer Hängematte gemütlich. Wir sind neugierig auf die kritische Tageszeitung, die so hartnäckig dem Krieg trotzt und dadurch weltweiten Ruhm erlangt hat. 1993 wurde sie mit dem Preis von Inter Press Services ausgezeichnet. Die grausamen Geschichten liegen den Journalisten täglich vor den Füßen. Vom provisorischen Büro der Zeitung, im dritten Stock eines alten Bürogebäudes im Zentrum der Stadt, blicken die Redakteure auf den Marktplatz, auf dem erst im Februar eine Granate Marktfrauen und Käufer zerfetzte. Heute rumpelt langsam die Straßenbahn an dem vollen Platz und den leeren Ständen vorbei. Der Redakteur Vlado Stanka setzt sich zu uns an den kleinen Besuchertisch. „Wir versuchen als normale Zeitung unter unnormalen Umständen zu arbeiten", sagt der 31-Jährige lapidar. „Es gab Tage und Wochen, da war Oslobodenje die einzige Verbindung mit der zivilisierten Welt. Auch in den schlimmsten Kriegswirren konnte jeder Einwohner sicher sein, dass er, wenn er den Fuß vor die Tür setzt, jemanden finden würde, der Oslobodenje verkauft." Vier seiner Kollegen sind von Heckenschützen erschossen worden; ein Fotograf kam durch eine Granate ums Leben. Mehrere der sechzig Mitarbeiter wurden verwundet. Die anderen leiden an Hepatitis, Unterernährung oder Vitaminmangel. Mit einer Zigarette zwischen den Fingern klemmen sie sich trotzdem jeden Tag hinter den Computer in der Redaktion. Die „Freiheit", wie das Blatt heißt, entsteht jeden Tag nur dreißig Meter von der Frontlinie entfernt, im Westen der Stadt. Dort arbeitet die Druckerei im Keller des völlig zerstörten Redaktionsgebäudes. Ziemlich am Anfang des Kriegs, im Sommer 1992, feuerten bosnisch-serbische Truppen systematisch Dutzende Brandbomben auf

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das Hochhaus, jeden Tag. Die freie Berichterstattung und der Informationsfluss war den Kriegstreibern ein Dorn im Auge. Die Journalisten rannten täglich in den Keller des brennenden Gebäudes und — mit den Zeitungsbündeln unterm Arm — wieder hinaus. Einige schlafen heute auch in dem verwundeten Nervenzentrum der Zeitung und arbeiten in Schichten rund um die Uhr. Die Ruine ist als Denkmal stehen geblieben. Stanka wirkt ruhig und konzentriert. „Unsere Auflage hängt ab vom Papiervorrat. Sie schwankt zwischen 2 000 und 5 000 Exemplaren", sagt er weiter. Der knappe Rohstoff stammt vor allem von der Organisation Reporter ohne Grenzen. Von ihr bekam Oslobodenje zum ersten Mal in ihrer 51-jährigen Geschichte ein gepanzertes Fahrzeug. Bei dem Benzinpreis, der im Jahr zuvor laut Stanka sogar 45 Mark pro Liter betrug, nutzen sie es jedoch kaum. „Bald sind es tausend Tage Belagerung." Stanka kneift die Augen zusammen. „Und der Krieg wird nicht weniger als ein Jahr andauern", sagt er ziemlich treffend voraus. 395 zähe Tage sollten noch vor ihm liegen, bevor die längste Belagerung in der modernen Geschichte zu Ende ging. Ahnlich wie seine Radio-Kollegen von Studio 99 kann der Redakteur die „ethnische" Einteilung von Menschen nicht nachvollziehen und schreibt dagegen an. In der Redaktion arbeiten selbstverständlich Muslime, Serben und Kroaten, wie früher auch. Stanka selbst ist russisch-serbischer Herkunft, seine Frau Kroatin. „Es wäre eine harte Wahl zu entscheiden, welcher Teil von mir politisch akzeptabel ist und welcher nicht", sagt er und muss lachen. Dann fährt er in ernstem Ton fort: „Das hier ist Teil eurer Geschichte." Europäische Geschichte. Lange hätten sie als Journalisten und Menschen um die Wahrheit kämpfen müssen. „Doch jetzt ist sie doch glasklar: Die Bilder von Konzentrationslagern und Massakern gingen um die Welt. Wir sind es leid, immer wieder um neue Argumente ringen zu müssen, um die Wahrheit zu verteidigen." Auf die Vereinten Nationen ist er nicht gut zu sprechen. In Anspielung auf die jüngste Offensive der bosnischen Armee sagt er bitter: „Wenn wir uns selbst verteidigen, sind wir auf einmal Fundamentalisten oder Militaristen und werden von der UNO zurückgepfiffen." Vorwürfe richtet er auch gegen die westlichen Medien, die einen islamischen Fundamentalismus herbei geredet hätten. „In Paris laufen mehr Frauen mit Kopftüchern herum als in Sarajevo. Und wen es stört, der soll halt wegschauen."

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In der Tat begegnen wir in der Fußgängerzone nur ein paar wenigen Frauen mit bedeckten Haaren. Die meisten Mädchen sind grell geschminkt. Die Männer sind tot, alt oder an der Front. Mit Korbsesseln, schummrigem Rotlicht oder Neon-Dekoration locken die zahlreichen Cafés. Unter den Bässen balkanischer Popmusik wandern türkischer Kaffee, Tee (der hier durch türkischen Einfluss Shai genannt wird), Cola oder auch das dunkle, einheimische Bier aus Sarajevo über den Tresen. Doch wer hat das Geld, sich den täglichen Konservenfraß mit dem edlen Gebräu herunter zu spülen? An einer Straßenecke in der Fußgängerzone sitzt ein bettelnder Greis. Auf der Außenwand seines Kartons ist die europäische Flagge gedruckt. Darin liegen fast nur wertlose, krumpelige Scheine und ein paar kroatische. Das Pflaster ist gesät mit Einschlaglöchern; um sie herum die Narben wegspritzender Granatsplitter. Die Einwohner nennen sie ihrer Form wegen Rosen. Meist waren die Rosen mit rotem Blut getränkt, als sie noch frisch waren. Wer die Fußgängerzone von West nach Ost durchschreitet, passiert zwei Grenzen, die diesmal historisch sind und einen durchaus ästhetischen Charakter haben. Der Spaziergang beginnt im Sozialismus. Kantige, graue Klötze prägen den Straßenzug. Ein paar Schritte weiter beginnt die Habsburger Zeit. Die Fassaden präsentieren sich im Stil der Neo-Renaissance und im Jugendstil. Stuckbögen schwingen sich über Fenster und Erker. Die Erdgeschosse sind gefüllt mit modernen Cafés, Restaurants und Geschäften. Der Boden Fußgängerzone ist hier mit hellen Platten belegt. Danach tauchen wir ins osmanische Zeitalter ein, dem zauberhaftesten Teil der Altstadt ( B a s c a r s i j a ) . Bosnien war 400 Jahre lang Teil des Osmanischen Reichs, von 1463 (die Herzegowina von 1482) bis 1878. An einer Linie in der Fußgängerzone beginnen schlagartig grobe, unbehauene Steinquader die Bodenplatten abzulösen. Von diesem Punkt an stehen einstöckige Häuschen mit Holzverschlag und schmucken Glasvitrinen, alte Minarette und Moscheen. Die Schaufenster sind prall gefüllt mit Souvenirs, Handarbeiten, Messingkannen, Ledertaschen - und Brautkleidern. In normalen Zeiten durchzieht hier Cevapcici-Duft die Gassen. Viele gemütliche traditionelle Restaurants haben sich in den geduckten Häusern eingenistet. W i r biegen links auf den malerischen Hauptplatz ein mit dem öffentlichen Trinkbrunnen aus dem späten 19. Jahrhundert. Seit der Belagerung fließt hier kein Wasser mehr, wie in allen öffentlichen Quellen der Stadt auch. 144

W i r setzen uns in ein kleines Café. Die Stühle draußen bleiben leer, denn der Platz ist fiir Heckenschützen zu einladend. Im Hintergrund grollen weiter die Berge. Der Muezzin ruft vom hohen, kunstvoll verzierten Minarett der benachbarten Moschee. Dagegen dröhnt aus den Lautsprechern an der Wand des Cafés westliche Popmusik. Sarajevo trägt den Titel eines Treffpunks zwischen Orient und Okzident zu Recht. Die bunt geschminkte Kellnerin serviert uns türkischen Kaffee in zierlichen Messingkännchen und Tee mit viel Zucker. Auch hier zahlen die Gäste mit deutscher Mark: Fünfzig Pfennig für Kaffee und Tee, vier Mark für eine eingeflogene Cola. Auf einmal erscheinen vier bosnische Soldaten im Türrahmen. Die bittere Realität kehrt zurück. Doch sie beachten uns gar nicht, setzen sich an den kleinen runden Nachbartisch und erzählen, als säßen wir alle irgendwo in einem Bistro in Paris. Da wir zwei Italiener in unserer Gruppe haben, erwartet uns deren Konsul in seiner Residenz. Das Haus liegt steil bergauf im Osten der Altstadt, ziemlich nah an der Frontlinie unter den Gewehrläufen der serbischen Truppen. Vor der Tür des bescheidenen Hauses parkt ein neuer, dunkler Lancia. Vittorio Pennarola freut sich über die Abwechslung. Sein Alltag besteht aus viel diplomatischem Geplänkel, manchmal hilft er Leuten mit Strom aus seiner Residenz aus, manchmal wirft er einen Brief in Italien ein, den ihm jemand zugesteckt hat. Der Konsul setzt sich an seinen kleinen Schreibtisch. Hinter ihm steht das Fenster weit offen. Die braunen Rollläden sind jedoch herunter gelassen. Sonnenstrahlen dringen durch viele kleine Schusslöcher ins Zimmer. Draußen brummt eine Motorsäge. Jemand hat sich auf den Berghang gewagt und legt sich Holzreserven für den Winter zu. Pennarola berichtet begeistert, dass der Erzbischof von Sarajevo zum Kardinal erhoben worden ist, zum ersten Mal in der bosnischen Geschichte. Doch noch wichtiger sei, dass der muslimische Bürgermeister der Stadt, Tarik Kupusovic, darüber seine Freude ausgedrückt habe. Dieses Ereignis sei wichtiger fiir die Muslime als für die Kroaten, also Katholiken, habe er gesagt. Das sei eine Auszeichnung für ganz Bosnien. Doch es gibt auch bedenkliche Zeichen, meint Pennarola. Kürzlich habe eine Lieferung Schweinefleisch von einer Hilfsorganisation Wirbel ausgelöst. Die muslimisch dominierte Regierung unter Izetbegovic habe daran Anstoß genommen. Dadurch würden Muslime von der Hilfe ausgeschlossen. Nun sei der Verkauf von Schweinefleisch 145

ganz verboten worden, sagt Pennarola. Andere Journalisten in der Stadt sagten uns später dagegen, außer dem Protest habe es am Ende doch keine dauerhaften Konsequenzen gegeben. Der Skandal habe allerdings gezeigt, meint Pennarola, dass es „einige Schritte Richtung islamischen Fundamentalismus" gebe. Gleichzeitig schwächt er ab: „Die Behörden reden den Islamisten meist nur nach dem Mund, weil die größte Unterstützung derzeit aus muslimischen Ländern kommt, und nicht vom Westen." An der Wand hängt ein großer Stadtplan. Mit Bleistift hat Pennarola die serbische Frontlinie nachgezeichnet und die Zone mit gelbem Textmarker ausgefüllt. Der Würgegriff um die Stadt könnte deutlicher kaum werden. „Bis zum Februar schlugen 2 000 Brandgranaten täglich ein", meint der Konsul. „Was jetzt herunter kommt, das sind nur noch Peanuts." Auch von 4 000 Granaten an manchen Tagen ist die Rede. Trotzig leben die Einwohner dennoch so normal wie möglich. Musicals wie Hair werden aufgeführt. Vier Theater bieten Vorstellungen; vier von 27 Kinos zeigen regelmäßig Filme. „Das hier ist eine ununterbrochene Theater-Aufführung", beschreibt Pennarola die Lage trocken. Dass die Belagerung kein Spiel ist, wird uns wieder auf dem alten Friedhof bewusst, der hinter Pennarolas Haus auf einer großen Anhöhe liegt. Von hier aus bietet sich ein herrlicher Blick auf die gesamte Stadt Richtung Westen ins Tal. Im Rückblick war dieser Spaziergang mehr als leichtsinnig. Ein paar Meter weiter in den Wäldern müssen die ersten serbischen Geschütze gestanden und die gefürchteten Scharfschützen gelauert haben. Warum sie nicht abgedrückt haben, bleibt ein Rätsel. Wie auf dem Präsentierteller schlendern wir im Gras an den weißen, muslimischen Grabsteinen vorbei. Einige von ihnen haben die Form eines Turbans sowie anderer islamischer oder osmanischer Kopfbedeckungen. Wenn überhaupt, wagen sich die Bewohner der Stadt nur noch nachts auf Friedhöfe und Begräbnisse. Die Heckenschützen haben solche Gelegenheiten zu oft ausgenutzt. Auch frische Erdhaufen sehen wir. Die Namen der Toten sind auf ein Holzbrett graviert. Das Datum stammt meist von 1992 oder 1993; das Geburtsjahr liegt in den 1960er oder 70er Jahren. Als unsterblich gilt dagegen die Geschichte, in Schrift und Bildern verewigt. Doch nicht einmal diese Weisheit hat mehr in Sarajevo Bestand. Die „ethnische" Kriegsführung zielt darauf, alles auszulöschen, was an kollektiver Erinnerung, kulturellen Traditionen oder 146

historischen Ansprüchen existiert. Fünf Minuten bergab erhebt sich vor uns am Rande der Altstadt die einst größte Bibliothek des Balkans. Selbst als Skelett wirkt das mächtige goldgelbe Gebäude noch voller Würde. Die Österreicher bauten es 1894 als Rathaus im maurischen Stil mit vielen arabischen Elementen. Unzählige Zinnen reihen sich entlang der Dachkante; zierliche Ornamente schmücken Mauerbögen und Säulen. W i r treten durch den verrußten Hauptbogen ins Innere und stoßen auf einen Haufen Schutt. Unter dem Staub scharre ich mit den Füßen ein altes Mosaik frei. Die Zwischendecken über unseren Köpfen sind eingestürzt, die Rundbögen nackt. Selbst harter Granit an den Säulen ist gesprungen und abgesplittert. Die Hitze muss immens gewesen sein, als im August 1992 etwa fünfzig Brandgranaten einschlugen und das wertvolle Innengemäuer samt zehntausender alter Bücher vernichteten. Als Feuerwehrleute und Einwohner den Schatz retten wollten, mussten sie vor den gezielten Maschinengewehr-Salven der Heckenschützen weichen und die Nationalbibliothek ihrem Schicksal überlassen. Viele Bücher gingen unwiederbringlich verloren. Die wenigen, die gerettet werden konnten, stehen heute in der Universitätsbibliothek auf dem Gelände der Marschall Tito Kaserne. Mit gesenkten Häuptern verlassen wir das Stück zerstörter Geschichte und tauchen wieder in das Gassengewirr der osmanischen Altstadt ein. Am letzten Abend hat sich die Tochter unserer Gastfamilie etwas ganz besonderes ausgedacht: Ein festliches Abendessen. Doch nicht etwa zu Hause, sondern in einem „Restaurant". Was wir dort erleben, wird uns im Halse stecken bleiben. Der Fahrer der Vereinten Nationen holt uns mit einem weißen Kleinbus ab und fährt Richtung Olympiastadion. Vor einem wunderbar erhaltenen Privathaus mit schneeweißem Putz bleiben wir stehen. Eine vornehme Familie empfängt uns. Wir setzen uns um einen langen Tisch im Wohnzimmer. Auf hellem Parkettboden stehen dunkelbraune, verzierte Holzmöbel. Keramikfiguren zieren die Vitrinen. W i r haben auch Sanela eingeladen, außerdem Zdravko Ljubas, einen kroatischen Bosnier. Der junge Journalistik-Student war von der bosnischen Nachrichtenagentur auf eine unserer Pressekonferenzen im Präsidentschaftsgebäude geschickt worden. Danach haben wir uns angefreundet. Der Kontrast zum Kriegsalltag ist uns fast peinlich: Auf der weißen Tischdecke liegen goldene Löffel. Es gibt mehrere Vor147

speisen, Steaks mit Senf, saftige Spieße, Torte, Bier, Wein, Whisky und verschiedene Cognac-Sorten. Die Gastgeberin raucht teure, originale Marlboro. „Kriegsgewinnler" schießt es mir durch den Kopf. Draußen graben die Menschen nach Wurzeln und kauen Kräuter. Ich frage Sanela, warum sie nur so wenig isst. Nicht einmal das Steak hat sie zu Ende gebracht. „Mein Magen hat sich im Krieg so zusammen gezogen. Ich schaffe nicht mehr", antwortet sie. „Dann nimm doch den Rest mit nach Hause für deine Familie, und die Spieße gleich mit. Hier gibt's genug", fordere ich sie auf. Sie hebt höflich die Hand. „Nein danke. Wenn wir hungern, dann hungern wir alle gemeinsam." Zur Krönung des Abends knöpfen uns die Gastgeber auch noch 560 Mark fiir das Essen ab. A m nächsten Morgen begleiten uns Sanela und Zdravko zum Präsidentschaftsgebäude. Ein weißer Schützenpanzer wartet darauf, uns über die Allee der Heckenschützen wieder zum Flughafen zu bringen. Der Abschied fällt sehr schwer und es fließen Tränen. Wir sind frei und dürfen gehen. Sanela und Zdravko bleiben dazu verdammt, in diesem Kessel auszuharren. Es ist grotesk, dass wir einer Stadt schweren Herzens den Rücken kehren, während tausende Menschen ihr Vermögen dafür gegeben hätten, um aus dem Inferno heraus zu kommen. Auf unseren Tickets steht diesmal „Priorität 1". Denn wir sind Zivilisten und dürfen als erste fliehen, wenn die Situation sich verschärft. Wir haben Glück gehabt. Nur drei T a g e nach unserem Abflug beschossen die bosnisch-serbischen Truppen den Flughafen wieder regelmäßig. Der Flugverkehr und die Versorgung blieben für Monate eingestellt. Für Sarajevo und seine Menschen wurde es ein verdammt harter Winter. *

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Sanela und Zdravko gründeten kurz nach unserer Abfahrt die Jungen Europäischen Föderalisten Bosnien-Herzegowina. Sie luden Politiker zu Vorträgen ein und nahmen selbst an Debatten teil. Wir hatten in der Zeit tiefster Verzweiflung einen gemeinsamen politischen Nenner gefunden: Föderalismus, Demokratie und Toleranz. Drei Wochen später sandte Zdravko ein prägnantes Fax in den friedlichen Teil Europas: „Ihr habt uns die Uberzeugung gegeben, dass wir auch Europäer sind. Dafür danken wir euch!" Kurze Zeit später ergänzte er: 148

„Wir kämpfen gegen den Krieg, denn wir wissen am besten, was Frieden bedeutet. Wir kämpfen gegen jegliche Form des Nationalismus — wir haben schmerzvolle Erfahrungen damit gemacht. Die Menschen in Sarajevo haben schon immer zusammen gelebt - Serben, Muslime, Kroaten, Juden und andere. Ihre Multikulturalität ist Jahrhunderte lang gewachsen." Als wir ihn in Sarajevo kennen lernten, hatte er uns immer wieder gesagt: „Jungen Leuten ist die Religion egal, nur die Politiker wollen das nicht begreifen." Ein Jahr später durften beide mit einer Ausnahme-Genehmigung auf Antrag der JEF durch den Tunnel unter dem Flughafen die belagerte Stadt verlassen. Sie kämpften sich im Süden bis Mostar durch und kamen schließlich auf ein Europa-Seminar der JEF ins elsässische Straßburg. Dort berichteten sie vom tragischen Leben in ihrer Stadt und den Facetten des Krieges, den so viele als „ethnisch" missverstanden. Sanela nutzte die Gelegenheit und setzte sich zu Verwandten nach Kalifornien ab. Zdravko kehrte wieder in die Hölle zurück, durch den Tunnel, mit den Worten: „Ich kann meine Eltern und meine Stadt nicht allein lassen."

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Rückkehr in eine geschundene Stadt

Sarajevo, im Juni 2000 Sechs Jahre nach dem Besuch während des Kriegs lande ich mit einem Passagierflugzeug der Lufthansa auf dem renovierten Flughafen von Sarajevo. Keine Sandsäcke, keine Barrieren, kein Grollen aus den Bergen. An Bord sind vor allem Geschäftsleute, Politiker, Mitarbeiter von Nichtregierungsorganisationen und Familienangehörige der Uberlebenden. Bosnien-Herzegowina ist nach dem Dayton-Abkommen ein fragiles staatliches Gebilde, gezimmert aus vielen ethno-nationalen Zugeständnissen und Widersprüchen. Das Land besteht aus Kantonen und vor allem aus zwei großen Teilen mit weit reichenden Vollmachten, Repräsentanten und eigenen Parlamenten, der bosnjakisch-kroatischen Föderation und der serbischen Republika Srpska. Zwischen ihnen verläuft weiterhin eine unsichtbare Grenze. Für die Menschen bedeutet das unter anderem häufige Wahlgänge für die zahlreichen Verwaltungsebenen und eine Konfrontation mit verschiedenen Behörden, die nach „ethnischen" Schlüsseln zusammengesetzt sind. Das geht bis zur Präsidentschaft des Landes. Sie besteht aus drei Mitgliedern die turnusgemäß rotieren — jeweils einer aus einer „Ethnie". Das Abkommen von Dayton hat zur Schlichtung des Konflikts einer „ethnischen" Repräsentation im öffentlichen Leben großen Raum eingeräumt. Machtkämpfe sind entstanden zwischen ethno-nationalen Hardlinern und multi-ethnischen Kräften, die Mühe haben, in diesem System ihre eigene Nische zu finden. Erst 2002 sollte das Hohe Gericht den Grundsatz in Kraft setzen, dass alle „Ethnien" des Landes in beiden Teilen Bosnien-Herzegowinas als gleichberechtigt gelten. Die UNPROFOR heißt nun SFOR (Stabilisation Force), genießt unter Teilen der Bevölkerung aber einen ähnlich zweifelhaften Ruf wie ihre Vorgängerin. Die internationalen Soldaten sollen nun nicht mehr Frieden schaffen, sondern erhalten. Doch wirkliche Durchsetzungskraft besitzen sie genauso wenig, und Gerechtigkeit ist in den Augen vieler weit entfernt. Der Kriegshetzer Karadzic und sein erbarmungsloser Schlächter, General Ratko Mladic, sind weiter auf freiem Fuß. 2003 endete die UN-Mission ganz und die SFOR wurde von Mitarbeitern der Europäischen Union abgelöst, die meisten davon zivile Polizisten.

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Die Muslime nennen sich nun Bosnjaken. Der Begriff kam zwar bereits im 17. Jahrhundert auf. Er verschwand dann aber wieder aus dem Alltag, da die Muslime relativ wenig nationalen Ehrgeiz entwickelt hatten. Das hat sich seit dem jüngsten Krieg gewandelt. Mit dem Rückgriff auf den alten Namen wollen sich Muslime heute einen gleichen nationalen Status geben wie die älteren Konkurrenz-Projekte der orthodoxen Serben und katholischen Kroaten. Sie sind es leid, sich immer auf ihre Religion beziehen zu müssen, wenn sie sich abgrenzen und definieren wollen. Das hat in der Vergangenheit viele Missverständnisse provoziert. Schließlich haben sich die bosnischen Muslime gegen islamistische Einflussversuche während des Krieges als standhaft erwiesen. Sie haben den arabischen Mullahs mit neuen, fundamentalistischen Lehren die kalte Schulter gezeigt und den Mujaheddin ebenfalls, die als Glaubenskrieger und Abenteurer aus Afghanistan und anderen Ländern herbei eilten, um „den Islam in Europa" zu verteidigen. Einige von ihnen zogen desillusioniert wieder von dannen, obwohl sie von Izetbegovic sofort die bosnische Staatsbürgerschaft erhalten hatten und manche von ihnen auch Bosnierinnen heirateten. Der Krieg hat die meisten Muslime in Bosnien nicht islamischer gemacht, sondern eher als Schicksalsgemeinschaft zusammengeschweißt. Viele sind weiterhin sehr säkular geprägt, einige weiterhin sogar Atheisten. Der Name Bosnjaken hat allerdings einen Nachteil und ist auch unter Muslimen umstritten. Denn er schließt gleichzeitig - zumindest terminologisch — diejenigen bosnischen Serben und Kroaten aus, die sich dem multi-ethnischen Projekt Bosniens weiter verbunden fühlen. Auch im Krieg in Sarajevo und anderswo hatten sie ja ebenso gelitten wie ihre muslimischen Mitbürger. Noch etwas hat sich verändert: Die Sprache der meisten Südslawen heißt nun nicht mehr Serbo-Kroatisch, sondern penibel getrennt nach ethno-nationalen Projekten Kroatisch, Bosnisch oder Serbisch. Jede Seite versucht, möglichst viele „ethnische" Elemente in ihren Dialekt einzubauen, um ihn von den anderen zu unterscheiden. Muslime tun dies zum Beispiel mit türkischen Lehnwörtern. Eine derartige politische Auseinanderentwicklung eines gemeinsamen Sprachzweigs gibt es auf der Welt nur noch einmal: Als ethno-nationale Aktivisten im kolonialen Indien die Ideologie zweier Nationen der Muslime und Hindus unters Volk brachten, entwickelten Gelehrte passend dazu zwei verschiedene Sprachen auseinander: Hindi für Hindus 151

und Urdu für Muslime. Beide stammen aus dem gleichen Sprachzweig Hindustani und sind auch heute noch in der Lautsprache kaum zu unterscheiden. Wie im Serbo-Kroatischen werden beide Varianten nur in unterschiedliche Schriftformen gegossen. Als das koloniale Indien in das heutige Indien und Pakistan (plus Bangladesch) gespalten wurde, sollte Urdu zur Nationalsprache des muslimischen „Homelands" Pakistan werden und Hindi die des überwiegend hinduistischen Indiens. Wie im ehemaligen Jugoslawien entstanden dabei jede Menge Ungereimtheiten, die diesem Blockdenken entgegenliefen. Doch davon wollten die ethno-nationalen Aktivisten freilich nichts wissen. Am Flughafen von Sarajevo holt mich Zdravko mit seinem neuen weinroten Skoda ab. Aus ihm ist inzwischen ein gestandener Journalist geworden. Nach mehreren Posten bei bosnischen und internationalen Nachrichtenagenturen arbeitet er inzwischen auch für die dpa. Wir sind also Kollegen - und Freunde. Zdravko hat trotz des persönlichen Leids, das er während des Krieges in seiner Familie erfahren hat, nie den distanzierten Blick verloren, genauso wenig seinen zynischen Humor. Um den Flughafen herum sehe ich die Häuserblocks, durch die wir damals im Schützenpanzer fuhren. Sie haben noch keine frische Farbe. Doch die Einschusslöcher sind meist mit rötlichen Backsteinen gestopft, die Balkons mit Holz geflickt. Einige Wohnungen sind leer geblieben, die Einwohner verschollen, geflüchtet oder tot. An der Hauswand, wo die Flughafenstraße auf eine Hauptstraße stößt, werden die Reisenden mit einer großen Landkarte der Europäischen Union begrüßt, daneben die EU-Flagge mit den 12 Sternen. In goldgelber Schrift ist zu lesen: „Europe for Sarajevo". Wiederaufbau ist das Zauberwort. Die Allee der Heckenschützen ist wieder eine offene Schnellstraße. In der Mitte rumpeln in kurzem Takt die Straßenbahnen, einige neue Modelle aus Wien sind auch darunter. Viele Gebrauchtwagen aus Westeuropa kurven auf den Straßen. Die Ruine der Oslobodenje-Redaktion ragt wie ein Mahnmal am westlichen Stadteingang empor. Auf den Betonplatten wachsen schon Grasbüschel. Die Narben des Krieges sind auch an anderen Gebäuden unübersehbar. Einige Mauern sind noch verrußt. Doch das Holiday Inn, das während des Krieges die internationalen Journalisten beherbergte, erstrahlt in frischen knallgelben Farben. Gegenüber verfällt das stark zerschossene, ehemalige Parlamentsgebäude. 752

In der sozialistisch-habsburgisch-osmanischen Fußgängerzone tummeln sich jede Menge Leute mit vollen Taschen. Sie tragen Röcke, Jeans, T-Shirts. Nur wenige Frauen haben sich ein islamisches Kopftuch umgebunden. Doch es sind mehr als in der Vorkriegszeit. Dazwischen schlendern kleine Grüppchen SFOR-Soldaten. Andere sitzen in den Cafés unter den roten Coca-Cola-Schirmen bei lauter Popmusik. Einige Bosnierinnen haben sich inzwischen ausländische Freunde geangelt: Soldaten oder Mitarbeiter von Nichtregierungsorganisationen. So können sie endlich im Ausland studieren oder arbeiten. Viele Mädchen laufen aufgetakelt umher als seien sie auf dem Weg zur Oper. Sie tragen enge Hosen, kurze Röcke und verhakein sich mit ihren Stöckelabsätzen in den Ritzen der osmanischen Steinquader. Meist laufen sie in Cliquen auf und ab. Man begegnet ihnen immer wieder zwischen dem österreichisch-ungarischen und dem osmanischen Teil der Promenade. Geld, um in einem Café sitzen zu bleiben, haben sie nicht. Bis Mitternacht ist die Fußgängerzone ein Volksfest, an jedem Wochentag. Die Granat-Rosen auf dem Steinboden sind inzwischen wieder rot. Zum Gedenken an die Opfer der Einschläge haben sie die Menschen mit Farbe gefüllt. Jedes Mal, wenn ich aus Versehen auf eine der Rosen trete, schießen mir die Bilder des Krieges durch den Kopf. Die meisten Fassaden tragen neuen Putz. Ein Mädchen verkauft Wörterbücher an einem Stand. Ich kaufe mir eines mit dem Titel „Kroatisch". Ein anderes gibt es (noch) nicht für die einheimische - nun bosnische - Sprache. Die kunstvollen Messingteller und Kannen, die orientalischen Teppiche, Holzschnitzereien und die Brautkleider finden endlich wieder Abnehmer. Auch in der Ruine des alten Türkischen Bads, dem Hammam, hat sich ein gemütliches Café eingenistet. Aus den kleinen Häuschen duftet es nach saftigen Cevapcici. Die Fensterrahmen der alten Stadtbibliothek sind mit Holzlatten vernagelt. Drinnen poltern Hammerschläge. Die Pracht der historischen Moscheen kommt voll zur Geltung. Ein Muezzin ruft von einem hohen Minarett mit bloßer Kehle ohne Lautsprecher, die Handflächen auf seine Ohren gelegt. Das sehe ich zum ersten Mal. In keinem arabischen Land habe ich das beobachtet. Selbst in der kleinsten Stadt krächzen dort Lautsprecher oder Megafone auf die Gläubigen herab. Im kleinen Touristen-Büro gibt es ein Poster zu kaufen, auf dem die vier Gotteshäuser - Moschee, Synagoge, katholische und orthodoxe 153

Kirche, die im Zentrum im Umkreis von hundert Metern stehen — auf einer Fotomontage nebeneinander zu sehen sind. Darüber ist in mehreren europäischen Sprachen geschrieben: „Für immer." Doch Sarajevo ist nicht mehr die Stadt, die es einmal war. Sie hat viele ihrer weltoffenen und intellektuellen Bürger verloren. Stattdessen kamen zahlreiche bosnjakische Flüchtlinge aus den Dörfern mit traditionelleren Lebensweisen und Einstellungen. Die Zahl der Muslime in der Stadt stieg von etwa 45 auf 70 Prozent. Neben zerbombten Häuserblocks aus der Tito-Zeit erheben sich im Neubauviertel Novi Grad die graziösen Minarette der nagelneuen König Fahd Moschee aus edlem Marmor. Saudi Arabiens Könighaus hat das mehrere Millionen Dollar teure Bauwerk mit Zentralheizung gestiftet, einschließlich eines Kindergartens mit Islamunterricht, während viele Menschen in zugigen Apartments hausen und ums nackte Uberleben kämpfen. Das Tauziehen zwischen Ethno-Nationalisten und liberalen Kräften ist in vollem Gange, auch innerhalb der einzelnen Parteien. Eines Abends sitze ich mit Zdravko und seinem Vater im Wohnzimmer und diskutiere über den Fortschritt, den das Land seit dem Krieg gemacht hat. Zdravkos Vater, Radoslav Ljubas, berichtet aus seiner Perspektive als stellvertretender Vorsitzender des Parlaments im Kanton Sarajevo. Der 58-Jährige befindet sich in einem aufreibenden Spagat. Er gehört der ethno-nationalen kroatischen Partei HDZ an, ist jedoch Teil des Flügels, der sich für ein Zusammenleben der „Ethnien" im Land stark macht. Die Partei steht vor der Spaltung zwischen den ethno-nationalen Betonköpfen in der gesamten Herzegowina und den multi-„ethnischen" Kräften in Sarajevo. Für die Funktionäre aus Mostar hat Ljubas, der seit einem Granateinschlag schwerhörig ist, kein gutes Wort übrig: „Ihr Beruf ist, Kroate zu sein — und sonst nichts. Heimlich basteln sie immer noch daran, die Herzegowina an Kroatien anzuschließen." Seit dem überraschenden Wahlsieg der Sozialdemokraten in Zagreb nach Tudjmans Tod weht der HDZ auch in Bosnien-Herzegowina der Wind stärker ins Gesicht. „Wir haben jetzt einen Machtkampf. Die Hardliner versuchen, auch die Moderaten in Sarajevo zu entmachten und die Kriminellen aus der Herzegowina auf die Posten zu hieven." Sie hätten sogar versucht, bosnische Kroaten dazu zu drängen, Sarajevo zu verlassen und in die Herzegowina zu ziehen. Ljubas hatten sie sogar ein neues Haus versprochen. „Wir wollen keine Kolonialisten 154

sein", sträubt sich Ljubas gegen den erneuten Versuch einer „ethnischen" Vertreibung. „Wir sind in Sarajevo geboren und wir denken, dass die Stadt nicht ohne Kroaten existieren kann, aber auch nicht ohne Serben und Muslime." Dann grinst er: „Damit verderben wir auch den serbischen Hardlinern in der Republika Srpska die Idee, dass wir nicht zusammen leben könnten." Ahnlich sehen es gemäßigte bosnische Serben, die während des Krieges in Sarajevo ausharrten. Ich suche wieder Mirko Pejanovic auf, der uns im Krieg mit seiner Perspektive so beeindruckt hatte. Jetzt gehört er dem Serbischen Bürgerrat in Sarajevo an. Der Soziologie-Professor sitzt in einem alten Gebäude der Universität auf der Südseite des Flusses. Sein Büro ist winzig, die Möbel aus sozialistischer Zeit sind abgestoßen. Er begrüßt mich freudig. Klar erinnert er sich an die jungen Leute, die damals so unerwartet in die besetzte Stadt geflogen waren. „Die Entwicklung ist eine andere, als es die serbischen Nationalisten im Krieg geplant hatten", resümiert er zufrieden. „Karadzic wollte mit Gewalt ethnische Gruppen zusammenstampfen und „reine" Gebiete schaffen. In der Republika Srpska ist er dem Ziel sehr nahe gekommen. Aber selbst während des Krieges hatte er es nicht geschafft, „reine" Einheiten zu produzieren." Jetzt drehe sich alles wieder um, sagt Pejanovic. „Die Rückkehr der Serben in die Föderation ist stärker als die Rückkehr der Muslime in die heutige Republika Srpska." Mehr als 30 000 Serben seien seit dem DaytonAbkommen in die Föderation zurückgekommen. „Das heißt, sie haben das Vertrauen in ein Zusammenleben nicht aufgegeben." Wir sitzen auf abgewetzten Holzstühlen. Das Regal in der klapprigen Vitrine hinter mir biegt sich vor Büchern: „Srebrenica - Genozid in Bosnien", „Bosnien und Venedig", ein Band über den Philosophen Albert Camus, „ABC der Demokratie". Pejanovics Sekretärin bringt uns Tee. „Die bosnische Gesellschaft: kann nicht bestehen, außer sie bleibt multi-ethnisch. Alle Ethnien müssen die gleichen Bürgerrechte bekommen", fährt Pejanovic fort. „Bosnien-Herzegowina ist daher ein wichtiges Modell für Europa, ja vielleicht für die gesamte Welt." In der Stadt gebe es kein Café, wo nicht Leute der drei „Ethnien" zusammen säßen und miteinander redeten. Doch vor allem die internationale Gemeinschaft müsse begreifen, dass sie nicht mehr mit den EthnoNationalisten zusammenarbeiten sollen, fordert der Soziologe. Während des Krieges habe sie die Serben, die in der Föderation blieben, vernachlässigt. „Aber das ist jetzt eine Frage für Historiker." 155

Die ethno-nationalen Parteien befinden sich in einem internen Machtkampf. Pejanovic freut das. Neben der H D Z , von der Ljubas sprach, gilt das auch für Izetbegovics SDA. Dort ringen ebenfalls moderate und islamische Kräfte miteinander, wie mir deren Vertreter in anderen Interviews berichteten. Es geht allen ums politische Uberleben. Doch nach viel versprechenden Wahlen im Jahr 2000, wo überwiegend die Sozialdemokraten siegten, bauten die ethno-nationalen Parteien 2002 wieder deutlich ihre Stellung aus. „Ich bin optimistisch", betont Pejanovic und lehnt sich in den knarrenden Holzstuhl zurück. „Schon im Krieg war ich optimistisch, dass die drei Nationen zusammen leben können." In zehn Jahren, so hofft er, könne das Land schon in der EU und der N A T O sein. Für die Serben in der Stadt und in der Föderation kommt dabei eine schwere Aufgabe zu: „Sie können eine wichtige Brücke sein."

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Ein Leben in der ethnisch sauberen Einöde Serbiscb-Sarajevo und Pale, im Juni 2000 Es dauert nicht lange, bis Pejanovics Optimismus von der grauen Realität relativiert wird. Ich fahre zu den Serben, die Pejanovic als Aggressoren ansieht und die eine multi-ethnische Gesellschaft ablehnen. Sarajevo ist dem Schicksal Berlins zwar knapp entgangen. Keine Mauer durchschneidet die Stadt. Doch eine Grenze ist geblieben. Das Dayton-Abkommen hat einen Vorort der „serbischen Seite" zugeschlagen. „Srpska Sarajevo" hat auch einen eigenen Bürgermeister. Das war ein bitteres Zugeständnis, wo doch das erklärte Ziel der internationalen Gemeinschaft war, möglichst am multi-ethnischen Ansatz festzuhalten. In der Nähe des Flughafens, wo die am stärksten zerschossenen Häuserblöcke stehen, beginnt das Viertel Lukavica. Die Straße ist offen. Nur ein Schild begrüßt die Autofahrer in Serbisch mit kyrillischer Schrift und Englisch in der Republika Srpska. Auch die Straßenschilder erscheinen plötzlich in Kyrillisch, ebenso die Aufschrift auf den Polizeiautos, die hier ein dunkelgrüner Streifen ziert. Ähnlich wie in Israel ist es nicht selbstverständlich, einen Taxifahrer zu bekommen, der auf die andere Seite fährt. Doch erscheint es hier weniger dramatisch. Nur zwei haben abgelehnt und die anderen, die ich auf der Hin- und Rückfahrt anheuere, sind gut gelaunt und gesprächig, egal ob im „muslimischen" oder im „orthodoxen" Teil der Stadt. Eines der Dekrete, die der Hohe Repräsentant der internationalen Gemeinschaft in Bosnien gegen den Willen der Ethno-Nationalisten durchgesetzt hat, sind neue Autokennzeichen. Sie bestehen aus einer willkürlichen Kombination von schwarzen Zahlen und Buchstaben auf weißem Grund. So kann niemand von der Herkunft des Wagens auf die „Ethnie" des Fahrers schließen. Das wurde nötig, da Menschen im jeweils „falschen" Teil Bosniens immer wieder angegriffen oder mit Steinen beworfen wurden. Wieder erinnert es an Israel, mitten in Europa. Durch die neuen Kennzeichen sollen sich die Menschen nun freier bewegen können. Die alten Plaketten trugen, wie in Deutschland, die zwei Anfangsbuchstaben der Stadt, wie SA für Sarajevo. Danach folgte ein kleiner roter Stern auf weißem Grund, der für die kommunistischen Ideale stand.

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Wir fahren an zerfallenen Bauernhöfen vorbei. Granateinschläge sind jedoch fast keine zu sehen. In einem Garten steht eine alte Frau mit einer Handvoll Ziegen um sie herum. Sie trägt ein traditionelles Kopftuch, freilich kein islamisches, sondern das einer Marktfrau. Ihre faltigen Hände und ihr Kinn hat sie auf einen langen Holzstock gestützt. Die Gegend wirkt trostlos und grau, die Straßen leer. Nur nahe der gedachten Grenze zum bosnjakischen Stadtbezirk am Flughafen stehen Baukräne und neue Beton-Skelette. Die bosnischen Serben, die dem übrigen Sarajevo den Rücken gekehrt haben — ob aus Hass oder Angst — brauchen nun ein dauerhaftes Dach über dem Kopf. Alte Zastava-Wracks liegen am Straßenrand, rostige Erinnerungen an die letzte gemeinsame jugoslawische Automarke. Nahe der neuen Bushaltestelle hebt sich eine orthodoxe Kirche aus dem Grau ab. Die Wände tragen frischen hellbeigen Putz. Einsam und trotzig steht das Gebäude auf der matschigen Wiese. Vor unserem Auto läuft ein alter Mann mit einer Kuh an der Leine über die Straße. Links aus dem Autofenster sehe ich einen verwahrlosten muslimischen Friedhof. Das Gras wuchert hüfthoch. Einige Grabsteine sind umgekippt. „Siehst du rechts das Gebäude am Ende der kleinen Straße hinter den Bäumen?", fragt mich der Taxifahrer. „In dem Restaurant und nebenan im Bauernhof haben die Serben muslimische Gefangene gefoltert und ermordet." Heute werden dort wieder Cevapcici und Cola serviert. Ein Mercedes parkt vor der Tür. Ein paar hundert Meter weiter sind wir am Ziel: Die SFOR-Kaserne in Butmir. Dorthin fuhrt eine schmale Straße, an der sich links und rechts dutzende kleine Holz- und Blechbuden aneinander reihen. Meist junge und attraktive bosnische Serbinnen verkaufen hier alle denkbaren Musik-CDs: Latino-Pop, Kuschelrock, Abba, Céline Dion, Madonna, Eros Ramazzotti. Daneben liegen Videofilme aus, Pornoclips, interaktive Sex-CD-Roms, die neuesten Computerspiele und die aktuellste Microsoft-Software. Eine schwarz gebrannte Musik-CD kostet nur acht Mark, eine CD-Rom fünfzehn Mark. Die bunten Werbeschilder erscheinen hier zur Abwechslung in lateinischer Schrift. Kunden sind die jungen Soldaten aus Deutschland, Frankreich oder Italien, die oft gelangweilt oder mit ihren privaten Fotoapparaten in ihren Jeeps durch die Landschaft kurven. Die Straße zur SFOR-Kaserne hat sich in Lukavica praktisch zum Zentrum der trostlosen Serben-Enklave entwickelt. Am Ende der Straße hat ein kleines Restaurant geöffnet. Im blau-grünen Neonlicht 158

trinken Männer mit Stoppelbärten starken Slivovic. Die Kellnerin spricht nur gebrochenes Französisch, kein Englisch wie die meisten Leute auf der anderen Seite. Die serbisch-französischen Beziehungen waren historisch immer eng gewesen. „Das Leben ist langweilig hier", gesteht Dragana. Die schlanke Blondine mit den großen braunen Augen und der rauchigen Stimme verkauft CDs in einer der Holzbuden. Das Geld braucht die 22-Jährige, um ihr Wirtschaftsstudium in Pale zu finanzieren. In dem Bergdorf, der einstigen Hochburg der bosnischen Serben und Kommando-Zentrale Karadzics, wurde nach dem Krieg eilig eine Universität eröffnet, damit die jungen Serben dort „ethnisch" rein studieren können, ohne ins viel näher liegende Zentrum von Sarajevo zu müssen. Um der Öde in Lukavica zu entkommen, fährt Dragana aber manchmal doch mit Freunden ins quirlige Stadtzentrum. „Nur tagsüber, nicht nachts zum Tanzen", schiebt sie schnell nach und verzieht das Gesicht. „Wir bleiben lieber unter uns." Ihre Freundin Maja ergänzt: „Wir sind anders als die Leute dort drüben. Die denken ganz anders als wir." Dann lacht die 20-Jährige mit den langen schwarzen Haaren laut auf: „Wenn Serben Alkohol trinken, sind sie nicht mehr zu halten." Deshalb reden sie bloß nicht über Politik, wenn sie in der Stadt sind. Maja studiert Englisch in Pale. „Englisch ist das Tor zur Welt, die Sprache des Fortschritts", sagt sie begeistert. „Ich möchte viel Geld haben und reisen, weit weg von hier." Am liebsten nach Australien oder nach China, weil ihr die Häuserdächer dort so gut gefallen. Wie Dragana fährt sie aber nur nach Serbien oder höchstens in die Berge nach Montenegro. Manchmal besucht sie Verwandte und Freunde in Belgrad oder Nis. Doch im Moment reicht das teure Benzin in ihrem alten Golf gerade mal von ihrer Arbeit, den Holzbuden, nach Hause und zurück. Ein Freund hat gerade eines der begehrten Schengen-Visa erhalten und will in Darmstadt schwarz arbeiten, sagt Maja. In Lukavica könne es niemand lange aushalten. „Es gibt nur eine Disco hier", sagt Dragana und zündet sich eine Winston-Zigarette an, made in Kosovo. Über Italien oder Montenegro kommt der Tabak hierher, meint sie. Ihre CDs sind aus Belgrad. Maja legt eine Scheibe mit kroatischer (!) Popmusik ein. Sie beginnen auf die warmen Rhythmen zu singen und zu tanzen. Andere Freunde kommen hinzu und begrüßen sie mit drei Küssen auf die Wangen. „Das ist eine alte Tradition von uns. Die Kroaten 159

küssen nur zwei Mal", betont Maja und beginnt, ihr Geschichtsbild zu zeichnen. „Die Orthodoxen sind uralte Einwohner des Balkans. Sie waren zuerst hier. Dann erst kamen die Katholiken und ganz viel später erst die Muslime. Sie sind eigentlich auch Orthodoxe. Irgendjemand kam her und sagte: ,Nun seid Muslime!' Keine Ahnung wer und wann. Dann wurden sie Muslime", betet sie die serbische Propaganda nach. Nach kurzem Zögern sagt sie: „Doch die Muslime sind zu viele, um sie zu ignorieren. Wir müssen sie als Nation akzeptieren." Eigentlich interessiert sich Maja ja viel mehr für die Kelten. „Das waren noch richtige Männer." Auch ihr Vater starb im Krieg „wie ein richtiger Mann". „Es ging nicht um Serben, Kroaten, Muslime", sagt Maja. „Er kämpfte um seine Familie, um seine Kinder, um sein Haus." Ich verabschiede mich von den Jugendlichen und steige in einen klapprigen Bus. Er fährt den Weg, den Dragana und Maja in die Universität nehmen. Die eigentliche Hauptstraße nach Pale führt durch das Stadtzentrum von Sarajevo und verschwindet im Osten in einen Tunnel, unweit der zerstörten Stadtbibliothek. Doch diese zwanzig Kilometer lange Strecke ist seit den ersten Kriegstagen gesperrt. Später hat sie ein Erdrutsch begraben. So kriecht der Bus die gewundene schmale Landstraße hinauf auf die Berge, die Sarajevo so bedrohlich einschnüren. Auf den Anhöhen erhalte ich den Blick, den die bosnisch-serbischen Soldaten hatten, als wir damals wie alle Einwohner von Hausecke zu Hausecke gerannt sind aus Furcht vor Heckenschützen. Mir läuft ein Schauer über den Rücken. Hinter den hohen Nadelbäumen ist von oben jedes Haus zu erkennen, jedes Fenster, jeder Bürgersteig, jede Haustür. Dieser Bergrücken war die tödliche Grenze. Hier kauerten die Soldaten hinter Autowracks, die als Schießstände noch immer zwischen den Bäumen liegen, als sei es gestern gewesen. Nur am Straßenrand sind heute rot-weiße Plastikbänder gespannt mit der Aufschrift „Vorsicht Minen!". Ein paar Baumspitzen sind abgeknickt und hängen seitlich an den Stämmen herunter. Granaten, die in heulendem Bogen in die Stadt unterwegs waren, hatten sie gestreift. Einige Baumstämme sind ganz verkohlt. Hin und wieder kommen wir an einer Häuserruine vorbei: das Dach verbrannt, die Wände von Kugeln durchsät, vielleicht während des Nahkampfes in den letzten Tagen des Krieges. Einige Hütten wurden wohl zur Zielscheibe bei einem Gegenangriff aus dem belagerten Tal.

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Die Straße schlängelt sich bergab durch dichten Wald. Unter normalen Umständen wäre das eine ideale Landschaft zum Wandern. Im Bus spricht kein Mensch ein Wort. Der ruppige Dieselmotor würde jede Unterhaltung auch sehr mühsam machen. Irgendwo in Pale steige ich aus und stehe im Staub bei einem Kiosk. Neben mir raucht ein älterer Mann. Wir kommen ins Gespräch. Milinko Matan ist 52 und arbeitet bei Energo Invest, einem heruntergekommenen staatlichen Energieunternehmen aus jugoslawischer Zeit. „Meinen Lohn bekomme ich nur ab und zu", sagt er und hustet den Rauch aus der kratzigen Lunge. „Aber auf Arbeit hänge ich auch nur rum." Der monatliche Mindestlohn ist in der Republika Srpska nur etwa halb so hoch wie in der bosnjakisch-kroatischen Föderation. 1997 betrug er auf Seiten der Föderation 22 und auf dem Gebiet der bosnischen Serben 11 Euro. Zum Jahrtausendwechsel sind es rund 220 beziehungsweise 150 Euro geworden. Das ist auch noch erbärmlich. Doch Geld ist zweitrangig. Viele scheinen sich auch heute noch nicht bewusst zu sein, dass die Politik des ethnischen Hasses und der neuen Grenzen Schuld an ihrem Schicksal ist. Der Arbeiter Matan plappert die alten Parolen: „Karadzic ist gut. Er ist der Vater aller Serben." Er zeigt hinüber auf den Berghang. Dort steht im Wald ein wuchtiges Haus aus Stein und Holz mit flachem Giebel — das Hotel Panorama. Dort hatte der Psychologe Karadzic zeitweise sein Hauptquartier. Heute dient es als Disco, eine von zweien in der Stadt. An manchen Abenden dröhnt Techno-Musik vom Berghang herab, an anderen Tagen sind es serbische Volkslieder. „Ich will nicht mehr zurück nach Sarajevo", sagt Matan. „Mit den Muslimen kann ich nicht mehr zusammenleben. Vielleicht die Jungen, aber ich nicht." Muslime leben jetzt in seinem Haus in Sarajevo, und er wohnt in einem muslimischen Haus in Pale. Er schaut auf das Gebäude gegenüber uns: „Schau, die obere Wohnung gehört auch einer muslimischen Familie. Am Wochenende kommt sie hin und wieder vorbei." Er schüttelt den Kopf. „It's crazy", sagt er mehrmals. Langsam schlendere ich durch die dörflichen Straßenzüge. Auch hier entstehen viele neue Apartmenthäuser. Pale ist während des Krieges von 3 000 auf 15 000 Einwohner angeschwollen, Flüchtlinge. Links von mir glänzt eine hübsche kleine, frisch verputzte serbisch-orthodoxe Kirche. Auf dem Fußballfeld bolzen ein paar Jugendliche. Andere sitzen gelangweilt in einem der wenigen Straßencafe. Ich lasse mich auf einem bequemen Korbsessel nieder und bestelle einen Eistee. 161

„Es ist langweilig", ist der erste Satz, den mir auch Tomo entgegen bringt. Der 22-Jährige mit dem blonden Ziegenbart und den kurzen unfrisierten Haaren sitzt mit Freunden am Nachbartisch des Cafes und wohnt ein paar Kilometer entfernt in dem 1 600 Meter hohen Ski-Dorf Jakorina. Dort fanden 1984 die Abfahrtsrennen der Olympischen Spiele statt. Abends fährt Tomo manchmal ins Nachtleben der Hauptstadt, wo er vor dem Krieg gewohnt hatte. „Aber es ist nicht mehr das gleiche in Sarajevo", sagt er nachdenklich. „Du bist immer der hässliche Serbe." Aus den Lautsprechern dringen die Kastanietten der Gipsy-Kings. „Wenn du dort ein Mädchen kennen lernst und dann sagst, du bist aus Pale, hast du es sofort verdorben." Seine Freunde am Tisch lachen. „Dabei ist es mir egal, ob ich ein muslimisches, serbisches oder kroatisches Mädchen kennen lerne. Für mich zählt nur Schönheit." Auf die Frage nach Karadzic wehrt er ab: „Ich mag keine Politik - nur Geld und schöne Mädchen." Die nächsten fünf Minuten schwärmt er von seiner ehemaligen Freundin, einer Muslimin. Seine neue wohnt dagegen in Belgrad. Das Privatleben und die Kommunikationsstränge haben sich den neuen politischen Vorgaben angepasst. In etwas mehr als drei Stunden rast er an den Wochenenden in die serbische Hauptstadt, um die Nächte durchzumachen. „Belgrad ist eine große, schöne und billige Stadt mit toller Musik", tröstet er sich. Schließlich spricht der Wirtschaftsstudent doch noch über Karadzic. Die älteren Leute redeten gut über ihn, meint er. „Er hat diesen Ort gerettet." Dass er den Krieg angezettelt habe, sei nur Propaganda. Er selbst kennt Karadzics Sohn Sascha. „Ein prima Kerl, wenn er allein ist und nicht zusammen mit seinen Mafia-Freunden aufkreuzt." Im gleichen Atemzug sagt Tomo jedoch: „Milosevic ist in Belgrad immer weniger beliebt. Tito war einfach der Beste!" Er macht eine kurze Pause und zündet sich eine dieser Winston-Zigaretten aus dem Kosovo an: „Die einzige Perspektive ist, das Land zu verlassen." Er glaubt nicht, dass die Menschen noch einmal zusammen leben werden. „Unsere Generation ist fucked-up." Nachdenklich fügt er hinzu: „Der Krieg hat unsere Persönlichkeit geprägt. Es ist nicht mehr das Gleiche wie früher mit meinen Freunden in Sarajevo. Wir waren alle jung damals." Am liebsten würde er nach Australien oder in die USA auswandern. Die aufgestülpte „ethnische" Identität drückt ihn wie eine Zwangsjacke: „Überall, wohin man geht, wird man schief angeschaut. Das has162

se ich! In Europa [er meint die EU] ist es viel besser. Dort ist jeder gleich. Jeder sollte Europäer sein!" Neben Tomo sitzt sein Freund Deah. Der 24-Jährige im gelben PoloHemd trinkt Bier aus Sarajevo. Der gepflegte junge Mann mit weichen Gesichtszügen und kurzen schwarzen Haaren war Soldat im Krieg. Jetzt entschärft er die Minen, die er früher gelegt hat. Tomo feixt: „Er war einer dieser hässlichen Serben." Alle am Tisch lachen. „Jetzt hat er nur seinen Vollbart abrasiert." Deah könnte sich vorstellen, ins bunte Stadtleben nach Sarajevo zurück zu ziehen. „Warum nicht?" Er zuckt mit den Schultern und lächelt. Dort gebe es ohnehin viel mehr hübsche Mädchen als hier im öden Pale. „Warum lebst du dann noch in Pale?", frage ich ihn. „Hast du Angst, dass dich jemand in Sarajevo erkennt?" Einige lange Sekunden herrscht peinliche Stille. Deah beißt die Kiefer zusammen und schweigt.

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Am Horizont der Höllenstadt glänzt ein Silberstreifen Srebrenica, im Juni 2000 Fata Ibisevic saß gerade in ihrem Haus und erzählte ihrem drei Jahre alten Sohn tröstende Geschichten, als die Nachbarn angerannt kamen und die Schreckensnachricht verkündeten: „Die Serben kommen! Die Serben kommen!" Hals über Kopf rannte Fata mit ihrem Kleinen ins Freie. Sie war 23 Jahre und schwanger. Auf der Straße stieß sie auf die anderen Einwohner von Srebrenica. In der Straße brach Panik aus. Angst und Schrecken standen in den weit aufgerissenen Augen der Menschen. Frauen klammerten sich schreiend an ihre Kinder, die sie im Arm trugen. Mütter flehten die nervösen UNPROFOR-Soldaten an, sie zu retten. Es war Dienstag, der 11. Juli 1995, nachmittags. Die bosnisch-serbischen Truppen unter General Ratko Mladic rückten von Südosten her in die Enklave Srebrenica ein, welche die Vereinten Nationen fahrlässig zur „Schutzzone" erklärt hatten. Die niederländischen Blauhelm-Soldaten flohen von ihren Stützpunkten vor den serbischen Soldaten wie die Hasen. Sie waren kaum bewaffnet und erhielten keine Verstärkung. Die angeforderten und versprochenen NATOBomber, welche die Serben zurück treiben sollten, durften nicht starten. Die Muslime waren dem Schlächter Mladic und seiner hasserfüllten Truppe auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Was folgte, war das größte Massaker auf europäischem Boden seit dem Zweiten Weltkrieg und gleichzeitig das finsterste Kapitel in der Geschichte der Vereinten Nationen. „Die Schande dessen, was in Srebrenica passiert ist, hat sich tief ins Gewissen der Welt hineingefressen", sagte UN-Generalsekretär Kofi Annan im November 2002 in Sarajevo und sprach offen von einem Versagen der internationalen Organisationen. „Man hat uns gesagt, die NATO beschützt uns", erinnert sich Fata an die schlimmsten Stunden ihres Lebens. Die heute 28 Jahre alte Frau sieht aus wie etwa 40. Ihre dunklen Augen stecken in tiefen Löchern. Darunter haben sich düstere grau-blaue Augenränder eingefressen. Ihre Haut ist fahl. „Wir hatten die Hoffnung, dass alles gut wird." Monate lang hatten sie kaum Essen, kein Wasser, kein Strom. „Es war schrecklich!" Ihre Freundin, die 33-jährige Hasnija Gabeljic, 164

wirft wütend dazwischen: „Ich hasse die UNO und die NATO! Sie sind an allem Schuld." Mit den beiden jungen Witwen sitze ich in einem ausgemusterten deutschen Stadtbus des Flüchtlingshilfswerks UNHCR. W i r schreiben den 5. Juli 2000. Seit zwei Jahren fährt der weiße Bus zwei Mal in der Woche von Sarajevo nach Srebrenica, um die „ethnische" Grenze trotz des erlebten Horrors langsam aufzuweichen. Für die ehemaligen Einwohner der Bergstadt im Nordosten Bosniens ist es eine Höllenfahrt, die den Albtraum von damals wieder lebendig werden lässt. Doch einige Muslime zieht es wieder nach Srebrenica, auch wenn sie nur einen kurzen Blick auf ihr altes Haus werfen können, in dem nun serbische Flüchtlinge wohnen. Fata und Hasnija sitzen in dem Bus, weil sie in der Stadtverwaltung ihre Geburtsurkunden abholen wollen. „Die brauchen wir, um in Sarajevo arbeiten zu können", erklärt Fata. Ihr Haus in Srebrenica ist zerstört. „Meine Freunde sind jetzt alle in Sarajevo." Nach Srebrenica möchte sie nie wieder zurück. „Ich habe zu große Angst, das alles könnte sich wiederholen", meint sie und schluckt. „In Sarajevo lebt es sich gut. Niemand bekommt mich mehr von dort weg." Zum zweiten Mal fährt sie heute in die Stadt, die zum Inbegriff des Grauens und der „ethnischen" Vernichtung in letzter Konsequenz geworden ist. Ich frage Fata, ob sie schon einmal mit einem der neuen Einwohner in Srebrenica gesprochen hat. Sie zischt durch die Zähne, dann schnalzt sie abwehrend mit der Zunge. „Es gibt keinen Grund, mit jemandem zu reden, und ich will auch nicht." Manchmal sitzen in dem Bus auch ein paar neue serbische Einwohner Srebrenicas. Sie fahren dann umgekehrt zum Besuch in ihre alte Heimatstadt Sarajevo. „Der Bus hat durchaus gemischte Passagiere", berichtet die junge Begleiterin vom UNHCR, eine bosnische Serbin, die während des Krieges in der belagerten Stadt mit den überwiegend muslimischen Einwohnern ausharrte. „Aber Probleme hatten wir noch nie." Nur hin und wieder käme es vor, dass bosnische Serben den Bus auf dem Gebiet der Republika Srpska mit Steinen bewerfen, besonders in den Nachbarstädten Srebrenicas wie Bratunac. Regentropfen prasseln auf die Scheibe. Der Himmel ist grau und trostlos. Das alte Fahrzeug quält sich gewundene Straßen entlang, die immer schmaler und holpriger werden, je tiefer wir ins Gebiet der Republika Srpska vorstoßen. In Waldlichtungen entlang der Landstraße vergammeln die Überreste einzeln stehender Häuser. Die meis165

ten tragen noch einen alten weißen Putz. Manche Gegenden bestehen nur noch aus Ruinen. Sie lassen die alte Frontlinie zwischen bosnischserbischen und überwiegend muslimischen Regierungstruppen erahnen. Im zweiten Kriegsjahr hatten sich die Muslime aus Srebrenica unter ihrem gefürchteten athletischen Anführer Naser Oric bis knapp acht Kilometer an das Hauptgebiet der bosnischen Regierungstruppen heran gekämpft. Dabei ermordeten auch die muslimischen Kämpfer viele bosnisch-serbische Zivilisten auf brutale Weise. Letztendlich blieb Srebrenica im Krieg aber immer eine Enklave. Das sollte im brütend heißen und letzten Kriegssommer tausenden männlichen Muslimen zum Verhängnis werden. Dabei war die „Stadt des Silbers", wie Srebrenica übersetzt heißt, bis 1991 eine florierende Ortschaft. Schon die Römer bauten hier vor 2 000 Jahren das geschätzte Metall ab und nannten den Ort entsprechend Argentaria. Der Bergbau hatte auch zu Jugoslawiens Zeiten Wohlstand gebracht. Die meisten Arbeiter konnten sich Fernseher und Videorecorder leisten, hatten Zentralheizung und ein eigenes Auto. Die kommunistische Regierung ließ Fabriken für Autobatterien, Bremsen und Zinkverarbeitung im Dorf Potocari bauen, das drei Kilometer nördlich vom Stadtkern Srebrenicas liegt und zum Schauplatz des beispiellosen Massakers werden sollte. In Srebrenica selbst lebten nach den letzten Schätzungen vor dem Krieg 9 000 Menschen, in der gesamten Gemeinde etwas mehr als 37 000. Davon beschrieben sich 73 Prozent als Muslime, 25 Prozent als Serben und 2 Prozent als Jugoslawen oder Mitglied keiner „ethnischen" Gruppe. Auch Touristen besuchten den Kurort etwa 15 Kilometer entfernt von der serbischen Grenze, die damals keinen interessierte. Knapp zwei Kilometer östlich der Stadt sprudelt eine heilende Quelle. Das stark eisenhaltige Wasser mit einer Mischung vieler anderer Mineralien soll unter anderem gegen Rheuma, Multiple Sklerose und Hautkrankheiten helfen. Jugoslawen konnten dort sogar ein eigenes Kurbad genießen. Während des Krieges umzingelten bosnisch-serbische Truppen die Gemeinde, ähnlich wie die Stadt Gorazde weiter im Süden. Die inzwischen fast ausschließlich muslimische Bevölkerung Srebrenicas litt unter Hunger und im Winter zudem unter beißender Kälte. Müll stapelte sich in den Straßen. Aus den Gullydeckeln stank es nach Fäkalien. Am Ende drängten sich etwa 60 000 Menschen in der weiteren Enklave, die näher an Belgrad als an Sarajevo liegt. Die serbischen 166

Truppen ließen nicht einmal ein Drittel der UN-Hilfstransporte nach Srebrenica durch. D a half es wenig, als der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen die Enklave am 16. April 1993 zur „Sicheren Zone" erklärte. Kurz zuvor hatte der französische General Philippe Morillon in Srebrenica eigenmächtig und zum Zorn seiner Vorgesetzten den Einwohnern der Stadt ein öffentliches Versprechen gegeben: „Sie sind nun unter dem Schutz der Vereinten Nationen. Ich werde Sie nicht im Stich lassen." Kurz darauf wurde Morillon abgezogen. Die Ereignisse in den heißen Julitagen des Jahres 1995 haben viele Politiker, Journalisten und Menschenrechtler lange Zeit beschäftigt und führten zumindest zu einigen politischen Konsequenzen. Im April 2 0 0 2 trat die gesamte niederländische Regierung unter W i m Kok nach einem niederschmetternden Untersuchungsbericht über die Rolle der niederländischen Blauhelm-Soldaten zurück. Zuvor besuchte er jedoch noch selbst die Stätte des Massakers. Der Sozialdemokrat übernahm die politische Verantwortung für das Versagen seiner Landsleute. Viele der jungen Soldaten müssen sich heute psychologisch betreuen lassen. In beeindruckender und gleichzeitig schauriger Detailliertheit sind die Ereignisse nachzulesen in David Rohdes Buch „A Safe Area". Der Journalist und Pulitzer-Preisträger, der bei seinen hartnäckigen Recherchen 1995 kurzzeitig in serbische Gefangenschaft geriet, hat anhand von Zeugenberichten die Abläufe akribisch rekonstruiert. Mit diesem Buch in der Hand bin ich in Sarajevo in den U N H C R - B u s gestiegen. Ich war so lange in Rohdes logbuchartige Reportage versunken, bis Fata und Hasnija begonnen haben, mir ihre eigenen Geschichten zu berichten. Die Erzählungen vermischen sich und setzen sich als kleine Mosaiksteinchen langsam zu einem schaurigen Bild zusammen. „Ich hatte nur eine einzige Tasche bei mir und das, was ich anhatte", versucht sich Fata an die wirren Stunden zu erinnern. „Ich zerrte meinen kleinen Sohn am Arm. Wir liefen in der Menge mit nach Norden, nach Potocari. Die Frauen weinten, Kinder schrien." Dazwischen fuhren die verängstigten niederländischen Blauhelm-Soldaten mit ihren schweren, weißen U N P R O F O R - J e e p s . Ihnen blieb nur, Verwundete zu transportieren, von denen einige später ebenfalls vor ihren Augen abgeschlachtet werden sollten. Oder sie hofften, mit ihrer Präsenz die Serben wenigstens davon abzuhalten, in die dichte Menschenmenge zu feuern. Einige Einwohner zwängten sich in alles, 767

was Räder hatte, andere rannten um ihr Leben. Srebrenica stand unter laufendem Beschuss. Ein drei Kilometer langer Flüchtlingstrek mit Alten, Schwachen und Verwundeten am Ende - formierte sich auf der Dorfstraße Richtung Norden zum Industrie-Dorf Potocari. Dort drängten sich schließlich mehr als 13 000 Zivilisten in Todesangst im und am Lager der ratlosen Blauhelm-Soldaten. Auch die 450 Niederländer waren zu Geiseln geworden. Sie ließen die meisten Flüchtlinge nicht ins Camp. Die meisten von ihnen kauerten deshalb nebenan in den verlassenen alten Fabrikhallen. W o ihr Mann zu diesem Zeitpunkt war, weiß Fata nicht. Er war Soldat, 21 Jahre alt. Alle Muslime in der Enklave kämpften freiwillig. Ihnen blieb nichts anderes übrig. Oft hatten sie wichtige Stellungen auf den Bergrücken blutig erkämpft, die sie den UN-Soldaten abtraten. Diese wiederum hatten sie aber aus Angst oder Unachtsamkeit wieder aufgegeben. Seit Beginn des Krieges verloren mehr als 1 500 muslimische Kämpfer um Srebrenica ihr Leben. Die Übriggebliebenen hatten ihr Schicksal ganz in die Hände der Blauhelm-Truppe gelegt und waren deren Auflagen gefolgt. Unter anderem hatten sie ihre letzten schweren Waffen abgegeben. Im Gegenzug erhofften sie im Notfall Schutz aus der Luft, wie versprochen. „Als die Serben von den Hügeln in die Stadt herunter kamen, rannte mein Mann mit anderen Soldaten aus Angst in den Wald", sagt Fata. „Sie wollten nicht den Serben in die Hände fallen." Sie stockt, und sagt leise: „Er kam nie wieder." Fatas Augen röten sich, Feuchtigkeit sammelt sich in den schweren Tränensäcken. Nun zählt ihr Mann zu den 8 000 „Vermissten" von Srebrenica. Im Jahr 2000 sind 4 000 Tote zum Teil in Massengräbern um Srebrenica entdeckt worden. Nur 76 wurden bis dahin identifiziert. Wie tausende anderer Männer, Frauen und Kinder ließ sich Fata damals durstig und erschöpft am weißen UN-Camp nieder. Die Sonne prallte ihnen aufs Haupt. Einige schwangere Frauen gingen in Frühgeburten nieder. In ihrer Verzweiflung versuchten die Blauhelm-Soldaten einen letzten Rest an Ordnung zu wahren und die Menschen zu beruhigen. Ihnen würde nichts passieren. Die Serben wollten nur, dass sie die Stadt verlassen. Sie würden in die nordbosnische Stadt Tuzla gebracht. Doch den Einwohnern von Srebrenica schwante nichts Gutes. Zu lange hatten sie den sanftmütigen Niederländern vertraut, die sich wiederum selbst von ihren Vorgesetzten in Zagreb und New York versetzt fühlten. Viele von ihnen starrten nun wie die 168

Flüchtlinge hilflos und geschockt ins Leere. Am Morgen hatten sie noch zusammen mit den Einwohnern verzweifelt mit ihren Augen den Himmel abgesucht und gehorcht, ob sie das Dröhnen von Flugzeugmotoren vernehmen konnten. Vergeblich. Außer der peinlichen Aktion zweier niederländischer Maschinen, von denen eine ein paar Rauchbomben abwarf, blieb der Himmel leer. N u n saßen vor ihnen die verzweifelten Einwohner der Stadt zusammengepfercht auf dem brennend heißen Asphalt. „Die bosnischserbischen Soldaten begannen, die jungen Männer von Frauen und Kindern zu trennen", erzählt Fata mit zunehmend zitternder Stimme. Die Niederländer mussten machtlos zuschauen, wie die Serben an jenem Tag und vor allem am folgenden 12. Juli Muslime nach und nach zur Schlachtbank abführten. Sie spalteten einigen von ihnen den Schädel mit der Axt, trieben andere in den Wäldern zusammen, erschossen sie und verscharrten sie in Massengräbern. Schüsse und Schreie drangen aus den Fabrikhallen. Einige Männer wurden direkt unter den Augen der Blauhelm-Soldaten durch Kopfschüsse hingerichtet. Im nahe gelegenen Dorf Kravica hatten sich 2 000 Männer Mladics Truppen ergeben. Sie wurden auf Lastwagen verladen und stundenlang in brütender Hitze umher gefahren. In der Nacht führte man sie bei Bratunac zu einem Platz im Freien, stellte sie zu fünft oder zehnt nebeneinander auf und erschoss sie. Ein Zeuge dieses Blutbades überlebte, indem er sich unter den Leichen tot stellte und sich einige Stunden später in Sicherheit brachte. US-Amerikanische Satellitenaufnahmen von Bratunac zeigten die frisch umgepflügte Erde von Massengräbern. „Auf uns Frauen und die Kinder warteten Busse und Lastwagen", sagt Fata weiter. Mit den Fahrzeugen ließ General Mladic die meisten von ihnen aus „humanitären Gründen" ziehen. „Die Serben wollten ein „sauberes" Srebrenica haben. Ich habe aber auch gesehen, wie viele alte Männer und Kinder verschwanden. Was mit ihnen passiert ist, weiß ich nicht." Serbische Einheiten hielten den Konvoi der Frauen und Kinder auf dem Weg nach Tuzla mehrfach an. U m die Weiterfahrt zu erkaufen, mussten die Menschen Geld und Schmuck abgeben, junge Frauen wurden von Soldaten aus den Lastwagen herausgezerrt. Etwa sechs Kilometer vor der Frontlinie entfernt hielten die Fahrzeuge an. Von dort aus mussten sich die Flüchtlinge zu Fuß auf das von der bosnischen Regierung kontrollierte Gebiet durchschlagen. 169

Unser UNHCR-Bus kurvt durch trostlose Dörfer und dichte Wälder. Nur einmal halten wir kurz an einer Gaststätte an und trinken einen schwarzen Tee, vorsichtshalber weit ab von jeder Siedlung. Fata und Hasnija werden zunehmend nervöser, je näher wir Srebrenica und ihren schrecklichen Erinnerungen kommen. Von den hinteren Reihen des halbleeren Busses gesellt sich ein aufgeweckter Typ zu uns. Er ist zwar erst 43, doch durch sein Gesicht ziehen sich viele Furchen. Unter dem schwarzen Schnauzbart klaffen Zahnlücken. Der Bauarbeiter Ibrahim Mehinovic ist einer der wenigen Männer im kampffähigen Alter, die das Massaker von Srebrenica überlebt haben. Während Fata und Hasnija damals mit ihren Kindern den Bus nach Tuzla bestiegen, schlug er sich mit einer Gruppe von fünfzig Leuten in den Wald, unter ihnen auch Frauen und Kinder. Ibrahim hatte in einem Schützengraben an der Frontlinie ausgeharrt. „Doch alle rannten weg, als sie hörten, dass die Serben kommen. Auch ich habe stark auf den NATO-Schutz gezählt. Aber ich gebe der NATO keine Schuld. Wir hatten einfach keine Munition mehr." Drei Mal wurde er während der Belagerung verwundet. Drei Jahre lang hatten sie durchgehalten, trotz Hunger und altersschwacher Waffen. „Jetzt gab es Panik unter den Soldaten. Denn alles war vorbei." Ziellos rannten sie in den Wald. Für die Gruppe begann eine Jagd auf Leben und Tod. Einige wurden im Gehölz niedergestreckt. Bosnisch-serbische Soldaten verfolgten sie oder lauerten in Schützengräben. Sie beschossen die Flüchtenden mit Granaten und Maschinenpistolen. Ibrahim und seine Männer feuerten zurück. „Mein Bruder wurde im Wald getötet." Ein kleiner Teil der Männer von Srebrenica hatte sich retten können. Schon am 10. Juli machten sich nach Angaben der Gesellschaft für Bedrohte Völker etwa 15 000 Menschen zu Fuß auf den Weg, vorwiegend Zivilisten, aber auch etwa 3 000 leicht Bewaffnete als Begleitschutz. Für viele dieser Menschen wurde der Weg zum Todesmarsch. Die Tortur verlangte Übermenschliches. „Sieben Tage irrten wir durch die Wälder", erinnert sich Ibrahim. Auch seine 19-jährige Tochter war dabei und überlebte. „Wir hatten die Tage über nichts zu Beißen. Ich hatte nur etwas Salz in meiner Hosentasche. Das habe ich gegessen, und manchmal ein paar Pilze." Sie stiegen vorsichtig über knarrende Aste, robbten sich mit pochendem Puls lange Strecken am Boden entlang und schliefen in Mulden. Mindestens einer 7 70

hielt immer Wache. Als er am Ende seiner Kräfte war, umnebelten Ibrahim Halluzinationen: „Auf einmal stieß ich mit meinem Kopf gegen eine dicke Eiche. Plötzlich erschien eine schöne Braut vor mir, ganz in weiß. Es war wunderschön." Knapp achtzig Kilometer von Srebrenica entfernt war der Alptraum schließlich zu Ende. Nahe der Industriestadt Tuzla krochen sie aus dem Wald. Einige von ihnen stießen dort zu ihrer Erleichterung auf Verwandte. Ibrahim traf seine Schwester. Ihr Mann aber lag irgendwo tot im Gehölz von Srebrenica. Fast auf den Tag genau fünf Jahre nach dem traumatischen Erlebnis gibt sich Ibrahim im Bus locker und humorvoll. „Ich habe keinen Hass gegen Serben", betont er und zwinkert sogleich mit den Augen: „Im Gegenteil: Ich verehre serbische Frauen!" Mit der serbischen Familie, die früher in seinem jetzigen Haus im Dorf Stupari nördlich der Stadt Kladanj wohnte, hat er sich sogar angefreundet. „Die Tochter des Hausbesitzers hat mich sogar heiraten wollen", lacht er. „War aber nur Spaß." Ibrahim würde gerne nach Srebrenica zurückkehren. „Aber ich habe Angst, alleine zu gehen. Ich warte, bis sich eine Gruppe von Leuten findet. Ich kenne viele, die zurück wollen, aber sie warten alle auf den ersten." Genau hier setzt die Politik des Hohen Repräsentanten der Vereinten Nationen an, der von Sarajevo aus Bosnien quasi wie ein Protektorat verwaltet, weil sich die ethno-nationalen Parteien in wichtigen Fragen der Staatsführung und Verwaltung immer noch nicht einig werden. Die Behörden der Republika Srpska bekommen nur dann Geld für den Wiederaufbau, wenn sie Flüchtlinge anderer „Ethnien" wieder in ihre alte Heimat lassen. Dagegen haben sie sich aber bislang stärker gesträubt als die Politiker in der Föderation. Erst seit einiger Zeit, in der die engen Verbindungen zu Milosevic nach Belgrad aufweichen, würden die bosnischen Serben kooperativer, sagte mir die Pressesprecherin des Repräsentanten, Alexandra Stiglmayer, in Sarajevo. Das gelte auch für die Stadtregierung von Srebrenica. Doch viel wertvolle Zeit blieb ungenutzt. Deshalb sieht Srebrenica fünf Jahre nach dem Krieg noch genauso aus, wie Mladic es im Juli 1995 hinterließ. Unser Bus parkt am südlichen Ortsrand, dort wo einst die bosnischserbischen Truppen hauptsächlich einmarschierten. Die Stadt gleicht einem dünnen Sporn, der im Westen und Osten von zwei Bergrücken eingekeilt wird. Nebel drückt ins Tal. Die kleinen Häuser stehen grau und stumm. Die neuen serbischen Einwohner der Stadt 171

verkriechen sich in ihren Zimmern. Aus den Fenstern begutachten sie die Fremden mit einer Mischung aus Skepsis und Neugier. Ich marschiere langsam stadtaufwärts, an meiner Seite die serbische Busbegleiterin, die gleichzeitig als meine Übersetzerin einspringt. Wir laufen am betonierten kleinen Fußballplatz vorbei, auf dem sich damals die Alten zu sammeln hatten, die nicht mehr laufen konnten. Nur zwei Gebäude der Stadt erscheinen in unversehrtem und renoviertem Glanz: Die orthodoxe Kirche auf dem Berghang und das Rathaus am Hauptplatz. Durch das besondere Wahlrecht, nach dem Flüchtlinge fiir ihre ursprüngliche Heimatstadt Abgeordnete wählen dürfen, ist es in Srebrenica zu einer interessanten Konstellation gekommen: Der Bürgermeister, Nesip Mandic, ist Bosnjake (der selten in der Stadt weilt), aber sein Vize und Vorsitzender des Stadtrats ist Serbe. Das Stadtparlament besteht zur Hälfte aus Serben und Bosnjaken. Mandic traf sich mit den Mitgliedern der Stadtregierung erst 1999 zum ersten Mal. Neben vielen anderen Dingen hatten sie sich darüber in den Haaren, welche Flagge bei den Ratssitzungen aufgezogen werden sollte. Die politischen Blockaden der ethno-nationalen Betonköpfe erklären die Lähmung der Stadt, die im Zustand ihres finstersten Kapitels tiefgefroren erscheint. „Beide Seiten sind traumatisiert", sagte Stiglmayer im Interview. Auch Mitglieder der muslimischen Partei SDA von Izetbegovic seien bisher nicht besonders erpicht darauf gewesen, dass Muslime nach Srebrenica zurückkehrten. „Sie manipulieren das ganze politisch als Symbol für das Leiden der Bosnjaken. Manchmal streuen sie Gerüchte — zum Beispiel, dass die Häuser von Flüchtlingen abgebrannt seien. Aber das stimmt nicht." Die neuen serbischen Bewohner wären ohnehin froh, wenn sie aus der Stadt wegziehen könnten. „Sie sind tot unglücklich dort in den Bergen", meinte die Sprecherin. „Fast alle kamen nach 1995 und haben mit dem Verbrechen nichts zu tun." Kurz nach der Eroberung wurden flüchtende Serben aus der kroatischen Krajina in Srebrenica angesiedelt, danach folgten meist Serben aus Sarajevo. Der 64-jährige Desimir Lakic ist einer von ihnen. „Wir wollen nach Hause", sagt er — und meint damit die bosnische Hauptstadt. Vor seinem alten Haus an der Hauptstraße von Srebrenica stapelt sich mannhoch geschlagenes Holz. Daneben lehnen ein paar alte Türen, die er im Winter verheizen will. Noch immer fließt kein Trinkwasser aus dem Hahn. „Ich fühle mich hier um hundert Jahre zurück ver172

setzt", schimpft er. In Sarajevo wohnte er in einem sozialistischen Neubau mit Zentralheizung. „Wir warten nur noch auf den Möbelwagen", machen er und seine Frau sich Mut. Doch in der bosnjakisch-kroatischen Föderation bekomme er wohl keine Krankenversicherung, weil er nicht auf dem Gebiet der Föderation gearbeitet habe. Auch um seine niedrige Rente von hundert Euro im Monat furchtet er. Selbst wenn dies unnötige Ängste sein sollten, Vertrauen in die Behörden der anderen Seite hat hier niemand. Bosnien-Herzegowina ist fünf Jahre nach dem Krieg noch ein geteiltes Land. Freunde hat Lakic in Srebrenica keine gefunden. „Wir kennen niemanden, der hier schon früher gelebt hat." Stattdessen freut sich der Rentner mit den schneeweißen Haaren, seine guten Freunde in Sarajevo wieder zu sehen. Uber Karadzic will er nicht sprechen. „Den kenne ich nicht." Die erschütternde Vergangenheit der Stadt verdrängt er. „Ich weiß nicht, was hier passiert ist. Ich bin erst 1997 gekommen." Viele der Geschichten hätten ohnehin Journalisten erfunden. „Politik und Menschen sind etwas anderes", meint er nur. Und schließlich sagt er den Satz, der ein Schlag ins Gesicht aller EthnoNationalisten sein müsste: „Wenn nächstes Mal jemand versucht, ethnisch reine Gebiete zu schaffen, werde ich mein Haus nicht verlassen!" Zu Karadzics und Mladics Hinterlassenschaft gehören nicht nur Folter und Massaker, sondern auch unglückliche Menschen auf beiden Seiten der neuen „ethnischen" Grenze. Ich klopfe an weitere Haustüren. Vielerorts höre ich die gleichen Geschichten. Überraschend viele beklagen sich über die einstigen bosnisch-serbischen Helden und das gesamte Konzept der Umsiedlungen. Manche Serben sind allerdings so eingeschüchtert und misstrauisch, dass sie mir die Tür vor der Nase zuschlagen oder erst gar nicht aufmachen. Entlang der Hauptstraße stehen neben kleinen Giebelhäusern kommunistische Apartmentblocks. Manchen Bauten fehlt das Dach, Wände sind verrußt, Mauern von Panzergranaten durchschlagen. Rohbauten mit nackten rötlichen Ziegeln gammeln halbfertig vor sich hin. Am Hauptplatz der Ortschaft laufe ich ein paar Schritte den Berghang hoch zum Hotel Domavia. Der römische Name kann dem sozialistischen Block mit der grau-gelben Fassade und der großen kubischen Fensterfront allerdings kaum größeren Charme verleihen. In einem kleinen Zimmer sitzt der Vertreter des UN-Flüchtlingshilfswerks. Seine Sekretärin tippt auf einer mechanischen Schreibma173

schine. Die Lobby und der große Speisesaal des Hotels wirken dunkel und muffig. Spartanische Stühle lassen auch innen sozialistische Erinnerungen wach werden. Die Zimmer sind herunter gekommen und schmuddelig. Im Juli 1995 nistete sich Mladic hier kurz als Eroberer Srebrenicas ein. Bei seinem Einmarsch hatte Mladic in die Kameras gesagt: „Wir präsentieren diese Stadt dem serbischen Volk als Geschenk. Endlich, nach der Rebellion der Dahijas ist die Zeit gekommen, uns an den Türken in dieser Region zu rächen." Mladic nannte die bosnischen Muslime, wie viele andere serbische und kroatische Ethno-Nationalisten, abfällig Türken, nur weil ihre Vorfahren zur Zeit des Osmanischen Reichs zum Islam übergetreten waren. Die Rebellion der Dahijas war ein serbischer Aufstand 1804, den die Osmanen brutal niederschlugen. Fast 200 Jahre später sprach Mladic von Rache. Damit setzte er die verhängnisvolle Tradition fort, auf dem Balkan politische Ambitionen mit einem willkürlich herausgepickten Ereignis aus der Vergangenheit zu rechtfertigen. Ganze 600 Jahre hatte auch Milosevic zusammen geschmolzen, als er am 28. Juni 1989 hunderttausende Serben auf das Amselfeld (Kosovo Polje) gerufen hatte. Dort wurde der serbische Heerführer Prinz Lazar nach einer wohl eher schlappen Schlacht auf dem Amselfeld 1389 von den Osmanen exekutiert (einige Historiker zweifeln sogar daran, ob diese Schlacht überhaupt stattgefunden hat). In seiner Kosovo-Rede hatte Milosevic die Zeit der Rache und ein Großserbien angekündigt. Nicht einmal drei Jahre später versank das einstige Land der Südslawen im blutigen Chaos. Wie in Srebrenica residierte Mladic gerne in Hotels eroberter Städte. Ein paar Kilometer nordwestlich der Stadt, im serbisch besetzten Bratunac, machte er das Hotel Fontana zu seinem provisorischen Hauptquartier. Dort ließ er die Blauhelm-Soldaten und spontan benannte Vertreter der Stadt zu „Verhandlungen" antreten, als tausende Flüchtlinge zusammengekauert am UNPROFOR-Camp und in den Fabrikhallen von Potoöari ihr Schicksal erwarteten. Mladic zelebrierte in dem Hotel seine Rolle als nationaler Retter und großzügiger Partner gegenüber den Blauhelm-Truppen. Hier kam es zu der berüchtigten Szene, die Kameras in die ganze Welt trugen. Da stand der untersetzte jähzornige General und beschwerte sich beim niederländischen Colonel Ton Karremans, dass dieser NATO-Flugzeuge angefordert habe und seine Männer auf serbische Soldaten geschossen hätten. Er 174

habe zudem versagt, die Muslime in der Enklave zu entwaffnen. Doch dann gab er sich gnädig und schenkte genüsslich einen Drink aus. Der eingeschüchterte Karremans nahm an, und im Blitzlicht-Gewitter der Kameras erhoben beide ihre Gläser. Der Niederländer nippte an dem, was nach Wein oder Champagner aussah. Später stellte er klar, dass dies nur Wasser gewesen sei. Kurz darauf metzelten Mladics Truppen mindestens 8 0 0 0 Menschen dahin. Der UNHCR-Repräsentant im Hotel Domavia berichtet mir, dass in diesem Jahr der erste muslimische Rückkehrer nach Srebrenica gekommen ist. Er wohnt gleich auf dem Hügel gegenüber dem Hotel. Durch dichte Büsche besteige ich den kleinen Berg und erhalte einen eindrucksvollen Blick über die Silberstadt. Von hier aus fallen die eingestürzten Dächer der verkohlten Ruinen noch deutlicher ins Auge. Eine bedrückende Stille liegt im Tal. Außer ein paar Panzerfahrzeugen der S F O R bewegt sich kein Auto auf den schmalen Straßen. Ein Schotterweg fuhrt hinauf zu dem alten muslimischen Paar mit der unglaublichen Geschichte. Sacir Halilovic war der letzte, der Srebrenica verließ und der erste, der zurückkam. Ich treffe den hageren Mann mit einer Kelle in der Hand. Er trägt eine grau-braune Strickjacke und eine schwarze Mütze, steht auf einem wackeligen Stuhl und spachtelt Putz auf die rosaroten Ziegelsteine. Mit 86 Jahren baut Halilovic ein neues Haus, von G r u n d auf. Dabei hilft ihm seine Frau Mevlida, die mit 80 Jahren kaum kräftiger ist. Ihr einziger Sohn, ein Arzt, liegt im hinteren Teil des überwucherten Grundstücks begraben. Das greise Paar hat sich Anfang März offiziell im Rathaus zurück gemeldet und damit ihren Flüchtlingsstatus aufgegeben. Dafür bekamen sie Baumaterial und Unterstützung von Hilfsorganisationen. „Ich hatte gehofft, dass ich in Srebrenica bleiben kann", sagt der Alte, ohne seine Kelle abzulegen. „Ich hatte 81 Jahre lang keine Probleme mit den Serben. Aber als sie mich rauswarfen, waren sie grob." Sie drohten: „Wenn du nicht gehst, bringen wir dich um!" Halilovic blieb — zunächst. Die bosnisch-serbischen Soldaten, die das Blut tausender Zivilisten an den Händen hatten, wussten nicht so recht, was sie mit dem Greis anfangen sollten, der sich so bockig in seinem Haus verkroch. Mevlida hatte die Stadt mit den anderen Frauen und Kindern mit dem Bus nach Tuzla längst verlassen. Schließlich nahmen die Serben den Alten hinunter ins Zentrum von Srebrenica. Dort schlief er eine Nacht. Danach übernachtete er in einer der Fabrikhal-

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len in Potocari. Schließlich nahm ihn ein UNPROFOR-Jeep mit. Halilovic verließ Srebrenica erst am 14. Juli, am vierten Tag nach dem Einmarsch der Serben! Den Fahrer des Jeeps wies er an: „Ich will auf der Drina-Briicke abgesetzt werden." Der Fluss hat symbolische Bedeutung. Er spielt eine zentrale Rolle in dem Roman des Literaturnobelpreisträgers Ivo Andric „Die Brücke über die Drina". Darin beschreibt er das Osmanische Reich als dunkles Zeitalter, berichtet über grausame Szenen und „ethnischen" Hass zwischen den Volksgruppen im südlichen Balkan. Im Sommer 1990 besuchten Izetbegovic und Karadzic an der Drina gemeinsam eine Gedenkveranstaltung für die serbischen und muslimischen Opfer des Zweiten Weltkriegs. Karadzic soll damals noch gesagt haben: „Unsere muslimischen Brüder stehen uns [den bosnischen Serben] viel näher als viele christlichen Völker in Europa." In Foca liefen sie über die Brücke und erklärten, niemals wieder dürfe Blut die Drina herabfließen. Damit hatten sie die Massaker des Zweiten Weltkriegs im Auge. Nur wenige Jahre später färbte sich das Wasser der Drina erneut rot. Der alte Halilovic lief zu Fuß über die Drina nach Serbien. Er hatte keine Angst. „Ich war ein paar Tage in Serbien, alles war o.k.", erzählt er, als sei es die größte Selbstverständlichkeit zu jener Zeit gewesen, als Muslim diese Grenze zu überschreiten. „Nur müde war ich, und hungrig auch." Irgendjemand brachte ihn dann an die kroatische Grenze. Genau erinnert er sich nicht mehr. Dort strandete er schließlich an der Küste, nur mit dem bekleidet, was er trug, als er aus Srebrenica vertrieben wurde. Ein Mann gabelte ihn an der Adria auf und nahm ihn mit nach Hause. Dort gab er ihm Essen, und Halilovic konnte sich zum ersten Mal wieder richtig waschen. Der Helfer steckte ihm hundert Mark in die Tasche und setzte ihn in einen Bus nach Tuzla. Dort traf er seine Frau Mevlida. Sie wohnten eine Zeit lang im Haus einer ihrer vier Töchter. Im März 2000 kehrten sie zurück nach Srebrenica. Dass ihr altes Haus inzwischen zerstört ist, macht Halilovic nichts aus. „Ich bin froh und stolz, dass ich der erste bin, der zurückgekommen ist", sagt der Greis und grinst schelmisch durch die Zahnlücke. „Unsere Nachbarn und wir waren immer gute Freunde. Wenn die Leute normal sind, kommen sie zurück. Wenn sie verrückt sind, bleiben sie in dem Haus von jemand anderem." Halilovic wendet sich wieder den Ziegelsteinen und dem Mörtel zu. Er hat keine Zeit mehr zum Erzählen. Seine Frau führt mich zu einer provisorischen Hütte. Dabei streichelt 776

sie fürsorglich meinen Arm, als sei ich ihr Sohn. In der Hütte stehen nur zwei Betten, ein Tisch, ein weißer Plastikstuhl und ein alter Elektroherd. Von der Decke hängt eine Funzel an einem Kabel herab. Die Rückwand der kleinen Stube schmückt ein riesiger roter Teppich mit einem bunten Blumenmuster, gegenüber hängt ein Wandteppich mit dem Motiv eines Rehs. „Ich bin alt", sagt das Mütterchen mit dem weiß-braunen Kopftuch. „Wenn mich jemand töten will, kann er das tun. Aber ich will in meinem Dorf wohnen." Sie bietet mir einen heißen T e e an und setzt sich wieder zu mir aufs Bett. „Dieser Krieg war schlimmer als der Zweite Weltkrieg. Der Krieg kam so plötzlich. Die Leute lebten froh miteinander, und plötzlich haben sie sich bekämpft." Sie schüttelt den K o p f und zupft ihre dunkelblaue Strickjacke zurecht. „Titos Zeit war die beste." Ich frage sie, ob sie Hass empfindet nach all dem, was passiert ist. „Jeden, der so etwas Grausames getan hat, hasse ich", antwortet sie. „Aber gute Menschen bleiben immer gute Menschen. Sie verdienen Liebe." Z u m Beispiel hätten serbische Bauarbeiter geholfen, ihr neues Haus aufzubauen. „Das waren sehr nette Leute." Natürlich könne sie sich vorstellen, wieder mit Serben zusammenzuleben. Mit den neuen serbischen Einwohnern der Stadt hat sie allerdings keinen Kontakt, nur mit den alten Nachbarn. „Ihnen tut es auch leid, was passiert ist. Sie hassen den Krieg ebenso wie wir." Draußen ruft jemand ihren Namen. Eine Frauenstimme. „Komm', unsere Nachbarin ist da", sagt Mevlida froh und steigt mühsam wieder die Schritte hinauf zum Rohbau. Stana Andric ist gekommen mit einem Korb voll Obst und Brot. Die 60-jährige Serbin war schon immer die Nachbarin der Halilovics, lange bevor die Welt die Namen Karadzic oder Mladic zu Ohren bekam. „Ich bin sehr froh, dass sie zurückgekommen sind", sagt Andric. „Sacir ist ein sehr guter Mann, und unsere Kinder haben sich toll verstanden." Die Serbin erlebte genau das umgekehrte Schicksal der Halilovics. Als der Krieg 1992 begann, flüchtete sie von Srebrenica nach Serbien. „Wir haben die Stadt in Panik verlassen, weil wir hörten, Muslime wollten unsere Häuser verbrennen", berichtet sie. Nachdem die Enklave erneut serbisch wurde, kehrte sie 1995 zurück. Nach ihren Odysseen sind beide Familien jetzt wieder Nachbarn. Der alte Halilovic legt endlich seine Kelle zur Seite und zündet sich eine billige Zigarette an. Als hätte er nicht genug eigene Probleme, 777

tritt er an mich heran und sagt besorgt: „Sehen Sie, wir möchten dieser Frau helfen. Sie hat kein eigenes Haus mehr und muss in einem muslimischen Haus wohnen. Ihre zwei Söhne sind ohne Arbeit. Kennen Sie nicht eine Hilfsorganisation?"

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Der Held, der auf der „falschen" Seite kämpfte Sarajevo, im Juli 2001 Das Heulen der Granate schwoll an, kam immer näher. Dann durchschlug sie mit voller Wucht das Dach des Hauses in Sarajevo. Es war Mittag. Rauch stieg auf, Splitter flogen durch die Luft, wo sich die muslimische Familie zusammengekauert hatte. Drei Kinder blieben reglos und blutüberströmt auf dem Teppich liegen. An jenem 9. Juni 1992 war Jovan Divjak diensthabender Offizier in dem Stadtviertel Sedrenik. Der Mann war nicht irgendein Militär. Viele Muslime misstrauten ihm. In den westlichen Medien hatte er keinen Platz. Denn er passt nicht ins „ethnische" Schema. Der 64-Jährige mit der breiten Stirn und der weichen Stimme ist bosnischer Serbe und wurde zum höchsten serbischen Vertreter, der auf der so genannten muslimischen Seite für das Überleben der Bewohner in der eingekesselten Stadt kämpfte. 1993 wurde der Grenzgänger sogar zum General befördert, als stellvertretender Oberbefehlshaber der bosnischen Landesverteidigung. Divjak hat mich in sein Büro eingeladen, einen Häuserblock nördlich der osmanischen Altstadt. Wir sitzen in einem kleinen grauen Haus, an dem eine steile Treppe den Berghang hinauf fuhrt. Ich bin in Bosnien, um an einer internationalen Konferenz über „multi-ethnische Gesellschaften" in Konjic, einem kleinen Ort zwischen Sarajevo und Mostar, teilzunehmen. Am Rande des Kongresses hatte ich den General getroffen, der den Beiträgen aufmerksam folgte. Divjak berichtet über sein Schlüsselerlebnis im ersten Kriegssommer. „Wie wird die Familie wohl reagieren, wenn sie mich sieht?", fragte er sich, als er langsam auf das qualmende Haus zuschritt. „Mir war ein wenig bange", gesteht der Soldat. „Doch die Mutter stellte mich ihren überlebenden Kindern vor: ,Schaut, das ist unser Kommandant'." Divjak schweigt ein paar lange Sekunden und senkt seinen Blick auf die Schreibtischplatte. Dann schaut er auf: „Das hat mir so gut getan! Das hat mir den gesamten Krieg hindurch Energie gegeben." Seine Augen blinzeln. „Ich hatte den Kopf ihres 15-jährigen Sohnes in meiner Hand und mir rann sein Gehirn über die Finger", erinnert er sich. „Schaut, das ist unser Kommandant", hatte die muslimische Mutter gesagt. Ohne Zögern, ohne Zweifel. 179

Misstrauen schlug Divjak weniger von den Einwohnern Sarajevos als von der politischen Klasse entgegen. „Izetbegovic hat mir nicht vertraut." Der bosnische Präsident ließ den Offizier im Dezember 1992 sogar verhaften. „Doch dann hat er seine Meinung geändert", sagt Divjak lakonisch. Sein Verhältnis zum Regierungschef blieb gespannt. Als „nicht sehr persönlich" beschreibt es der General. Auch politisch ist Divjak enttäuscht. „In den ersten beiden Kriegsjahren habe ich noch an Izetbegovic geglaubt und an den bosnischen Multikulturalismus." Er lehnt sich weit zurück in seinem Sessel und atmet tief durch. „Aber ich bin überzeugt, dass er diese Idee verlassen hat." Divjak dagegen verkörpert wie kaum ein anderer die Idee des multiethnischen Bosniens. Als Anfang 1992 in der Ruhe vor dem Sturm zehntausende serbische Bosnier in Sarajevo heimlich und hektisch die Koffer packten, entschieden sich ebenfalls Zehntausende von ihnen für ihre Stadt und ihre kroatischen und muslimischen Freunde, meist unbemerkt von der westlichen Öffentlichkeit. „Es ist nichts besonderes, dass ich geblieben bin, sondern dass meine serbischen Freunde gegangen sind", findet Divjak. Diejenigen, die gegangen sind, nennt er „die Serben auf den Hügeln". „Tschetnik-Granaten" nennt Divjak die serbischen Geschosse, die von den Bergen kamen. „Für die Serben auf den Hügeln war ich auf der Liste der Kriegsverbrecher", sagt er und zuckt mit seinen breiten Schultern. Der Schlächter von Srebrenica, General Mladic, weigerte sich, mit einer muslimischen Delegation zu verhandeln, in der auch ein bosnischer Serbe saß. Divjak war der ethno-nationalen Propaganda auf beiden Seiten ein Dorn im Auge. Doch an ihm führte kein Weg vorbei. Selbst Mladic musste schließlich mit ihm an einem Tisch sitzen und drohte: „Eines Tages werde ich in Sarajevo einmarschieren." Darauf hielt Divjak Mladic entgegen: „Du kannst dich gar nicht in der Stadt bewegen. Du bist doch ein Bergmensch, ein echter Bauerntrottel." Mladic lachte bitter. Dabei ist Divjak kein Freund polternder Rhetorik und kein Haudegen. Er drückt sich gewählt in fließendem Französisch aus und gilt bei den Damen als Charmeur. Der Krieg konnte dem verheirateten Vater die Lebenslust nicht rauben. Seine beiden Söhne leben seit dem Krieg im Ausland. Einer ist mit einer Kroatin, der andere mit einer Muslimin verheiratet. Eigentlich wollte der Literaturliebhaber auch nie kämpfen, sondern Psychologie studieren. „Doch meine Mutter war zu arm und konnte sich das nicht leisten." Also ging er auf die Militärschule in Belgrad. „Ich bin durch Zufall in Belgrad geboren", 180

fügt er schnell hinzu und sagt mit fester Stimme: „Ich bin Bosnier." Seit 34 Jahren lebt er in der Olympiastadt Sarajevo. Die Armee füllte Divjak nie vollkommen aus. Im Jahr 1994 — zu der Zeit, als der Krieg tobte und seine Kräfte als führender Stratege der bosnischen Armee absorbierte — gründete er die Stiftung, die ihn heute weit über Bosnien hinaus bekannt gemacht hat: „Bildung baut Bosnien-Herzegowina" (Obrazovanje gradi BiH). Die Organisation zahlt Stipendien an Schüler und Studenten aller Ethnien, die durch den Krieg ein oder beide Elternteile verloren haben. Außerdem veranstaltet sie Workshops und Urlaubsreisen in gemischten Gruppen nach Frankreich, Spanien, Italien, Deutschland, Österreich oder Kroatien. In ganz Bosnien leben heute nach Angaben der Stiftung 25 0 0 0 Halbwaisen und 1 500 Waisen, davon 4 4 0 in Sarajevo. Im Jahr 2 0 0 0 haben 2 5 0 Jugendliche Geld für Essen, Kleider oder Bücher erhalten. N u r 140 sind es in diesem Jahr, „weil die Sponsoren nachgelassen haben", sagt Divjak. Aus Deutschland unterstützen das Projekt unter anderem das Rote Kreuz und die Heinrich-Böll-Stiftung. Der größte Spendensammler aber kommt aus Luxemburg und ist selbst indirekt Opfer des Krieges: Ein Vater, dessen Sohn 1995 als UN-Soldat auf dem Flughafen von Sarajevo erschossen wurde. Er hatte einen humanitären Transport begleitet. „Ohne Einmischung der internationalen Gemeinschaft hätte der Krieg noch länger gedauert", würdigt Divjak den Einsatz des Luxemburger Soldaten. „Nicht Europa, die Vereinten Nationen oder die U S A waren schuld an dem Krieg, sondern wir." Mehrmals stand das Schicksal Sarajevos auf der Kippe. „Wenn ich heute die Hügel sehe, frage ich mich: Wie konnten wir das nur überleben?" Einen G r u n d sieht der Stratege darin, dass die bosnisch-serbische Armee über keine guten Bodentruppen verfügte, um die gesamte Stadt zu erobern. „Doch viel wichtiger noch war der Zusammenhalt zwischen der Bevölkerung in Sarajevo und den bosnischen Soldaten." Darin sieht Divjak seine besondere Rolle. Er habe den Muslimen das Gefühl gegeben, für ein multikulturelles Bosnien zu kämpfen. „Mein Erfolg war, dass ich die Soldaten und die Bürger auf der Straße moralisch unterstützen konnte." Der Krieg, den niemand so recht verstand, machte den General schließlich doch noch zum Psychologen. Auch als Stratege handelte Divjak eigenwillig. Er war einer der ersten, die schon während der Gefechte in Kroatien 1991 reagierten und muslimische Polizisten im westbosnischen Kiseljak mit Gewehren 181

ausstattete. Sie sollten sich gegen die zunehmend serbisch dominierte jugoslawische Bundesarmee verteidigen können. Ein Tribunal der Belgrader Armee verurteilte Divjak dafür zu neun Monaten Gefängnis. Doch statt Dank erntete Divjak schließlich Demütigungen von bosnjakischer Seite. Keine Kugel, kein Granatsplitter verwundete den Soldaten. „Es war meine Entlassung, die mich tief verletzt hat." Seine Stimme wirkt noch sonorer als sonst. Mit der Hand fährt er langsam durch die buschig weiße Haarsträhne über der breiten Stirn. Seine Demission aus der bosnischen Armee musste Divjak 1996, ein Jahr nach Kriegsende, über das Radio erfahren. Kein persönliches Wort. Izetbegovic habe dies einen „normalen Akt" genannt. „Man hat mich aus der Armee getrieben", sagt Divjak gekränkt. „Seitdem habe ich alle Bindungen zu ihr abgebrochen." 1998 legte er auch seine militärischen Auszeichnungen nieder - aus Prostest gegen Izetbegovics Politik. Der Präsident habe Parteifreunde ohne militärische Ausbildung zu Generälen ernannt und sich geweigert, muslimische Kriegsverbrechen gegen Serben und Kroaten anzuerkennen, kritisiert Divjak. Die alten Fotos, die ihn in Uniform zeigen — sitzend, stehend, mit Gewehr, ohne Gewehr - hat Divjak im Büro seiner Stiftung auf die Innenflächen der Schrankwände geklebt. Meist sind die hellbraunen Spanholztüren aus sozialistischer Zeit jedoch geschlossen. An der Wand hängen Dokumente neueren Datums. Ein Foto mit ihm und Simon Wiesenthal, dem Gründer des Jüdischen Dokumentationszentrums in Wien. Urkunden über NATO-Fortbildungs-Seminare. Im Hintergrund tickt laut eine Uhr. Wenn Divjak neben Telefonaten und Terminen ein wenig Zeit findet, verfasst er in der kleinen Stube seine Memoiren. „Ich schreibe über alles, was ich mit den Soldaten gefühlt habe." Der Titel: „Schießt nicht!" Das hatte Divjak am 3. Mai 1992 durch das Megafon gebrüllt, als Truppen der serbisch dominierten Bundesarmee unter den Augen der bosnischen Soldaten aus Sarajevo abziehen durften. Alle hielten den Atem an. Kein Schuss fiel. Eine Eskalation im Herzen der Stadt blieb aus. Darauf ist Divjak bis heute stolz. Im Ausland wird Divjak immer bekannter. Im Juni 2001 wurde er von der französischen Armee zum Ehrenlegionär ernannt. „Vielleicht, weil ich auf Seiten der Guten war", spekuliert er schmunzelnd über die Gründe. „Oder es ist alles Propaganda." Inzwischen kennt er einige europäische Staaten besser als Teile seines Heimatlandes. Zwar furchtet er sich nicht vor Rache in Sarajevo. 182

„Man hat nur Angst, wenn man Schlechtes getan hat." Aber wenige Kilometer weiter beginnt fiir ihn eine Tabuzone, die Republika Srpska. „Ich will nichts provozieren." Niemand könne ihm Sicherheit vor serbischen Nationalisten garantieren. „Ich fürchte, dass irgendein serbischer Dummkopf mich erkennt." Er reißt seine Arme in die Höhe und ruft: „Ich liebe das Leben!" Dann schaut er auf die tickende Wanduhr. „Ich muss gleich los zu der muslimischen Familie." Zur Mutter, die damals rief: „Schaut, das ist unser Kommandant!" Heute noch besucht er sie, die ihm im Krieg so viel Kraft verliehen hatte. „Ihr jüngstes Kind hat heute Geburtstag", freut sich der General. Es wurde 1995 geboren. Im Jahr, als der Frieden kam.

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Auf den Spuren von Alexander dem Grenzenlosen Griechenland und Mazedonien, im November 1997 Mit dem Zerfall Jugoslawiens stiegen die sechs Teilrepubliken des Landes zu souveränen Staaten auf. Serbien und Montenegro blieben zunächst noch in einem Verbund, der sich irreführenderweise weiterhin Jugoslawien nannte. Titos Land der Südslawen zersplitterte in kleine Territorien. Die Vereinten Nationen in New York erhielten unerwartet reichlich Nachwuchs. Neue Grenzen entstanden, wo zuvor die Menschen frei reisen konnten. Mauern wuchsen auch in den Köpfen empor. Plötzlich spielten wieder uralte Mythen eine Rolle, nicht mehr die Sorge um den gegenwärtigen Wohlstand. Menschen opferten ihren Lebensstandard für neue Landkarten und neblige Versprechungen ethno-nationaler Rattenfänger. Nebenan waren die meisten europäischen Staaten gerade dabei, ihre Jahrhunderte alten Grenzen einzureißen und nach vorne zu blicken in eine zwar komplizierte aber friedlichere Moderne. Manchmal kommen alte Denkweisen besonders dann hervor, wenn die eigene vereinnahmte „Nationalgeschichte" herausgefordert scheint, wie 1997 in Griechenland. Mit dem Zerfall Jugoslawiens entstanden nämlich nicht nur neue Grenzen, sondern auch neue Staatsnamen. Am Flughafen von Thessaloniki holt mich der Jugendfunktionär Bakis Yallinthos ab. Er weiß, dass ich auf ein Seminar nach Skopje fahre, was ihm gar nicht passt. Denn den Name der jungen Nachbarrepublik Mazedonien hält er für Geschichtspiraterie. Das erste, was er mir daher in die Hand drückt, ist eine auf alt getrimmte Schriftrolle aus dem Touristen-Büro mit einem „Eid Alexanders des Großen" in mehreren Sprachen. Darin sagt der antike Herrscher zu Stammesvertretern in der Stadt Opis 324 v.u.Z. unter anderem: „Ich unterscheide die Menschen nicht nach Griechen und Barbaren, wie es die Engstirnigen tun. [...] Ich meinerseits werde alle als gleichwertig ansehen, ob Weiße oder Dunkelhäutige, und wünsche, dass ihr nicht nur Angehörige meiner Staatengemeinschaft seid, sondern Teilhaber, allesamt Gesellschafter." Damit wollen die heutigen Stadtväter dem Eindruck entgegen wirken, Griechen und Mazedonier seien verschiedene Völker. Eine solche Position wird mir später in der Republik Mazedonien begeg-

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nen: Die Griechen hätten die Mazedonier nur als Barbaren tituliert und nicht als Griechen akzeptiert. W i r sind unterwegs ins Stadtzentrum. Trotz der winterlichen Zeit ist es am Ufer der Agäis angenehm warm. Aus den Cafés rund um den Aristoteles-Platz dröhnen die Rhythmen von Samba de Janeiro und Lambada. Coole Jungs knattern mit ihren Motorrädern die Strandpromenade entlang. Mädchen, mit dunklen Augenrändern, halten stilvoll ihre Zigaretten zwischen Mittel- und Zeigefinger und schwingen ihre Hüften im tropikalen Rhythmus. Hotels, Bars, Palmen, dicht geparkte Autos, enge Hosen, Party Time in Thessaloniki. Fast alle haben schwarze Lederjacken an. Ihre Sonnenbrillen tragen sie bis tief in die Dämmerung hinein. Blaue Europa-Fahnen flattern zwischen Weißem Turm und Aristoteles-Platz. Das politische Statement ist deutlich. Nach Zentraleuropa, nicht zum Balkan geht die Richtung. Obwohl Griechenland geographisch dazu zählt, will zum Balkan hier niemand gehören. Wir gehen in ein Fast Food Restaurant. Bakis' Handy liegt auf dem kleinen, braunen Marmortisch. Immer wieder erschüttert und springt es, wenn die Faust des Griechen die Tischplatte trifft. Seine Hände beginnen zu fuchteln, wenn er über die Republik Mazedonien spricht. Er nennt den ungeliebten Nachbarn im Norden beim völkerrechtlich verkrampften Namen: FYROM (Former Yugoslavian Republic of Macedonia) oder einfach nur Skopje. „Mazedonien ist ein griechischer Name", poltert er. „Jetzt wollen die Mazedonier Thessaloniki als ihre Hauptstadt haben und die Griechen rausschmeißen. Sie strebten schon immer nach einem Zugang zum Meer, genauso wie die Bulgaren", verheddert er sich in der Eroberungsgeschichte des Balkans. Für die wahren Absichten der Regierung in Mazedonien interessiert er sich nicht. Mit einem Kugelschreiber kritzelt er mir eine Landkarte in meinen Schreibblock, in der fast der gesamte Norden Griechenlands Mazedonien heißt. Griechenland werde die Republik erst dann anerkennen, wenn sie ihren Namen ändert. „Wir Griechen sind die einzigen, die für die Existenz dieses neuen Staates bezahlen müssen." Der junge Bakis wächst sichtlich, wenn er von Altem spricht: „Die Mazedonier sind keine Nationalität. Sie haben nichts. Was will Europa eigentlich? Griechenland hat ein reiches kulturelles und politisches Erbe. Die paar Leute in Skopje haben gar nichts." Gut, dass wenigstens der Platz an der Strandpromenade die modernen Hellenen im täglichen Leben an Aristoteles erinnert. 185

Mit am Tisch sitzt Iphigenia, eine hübsche junge Frau mit langen gekräuselten schwarzen Haaren. Als Hostesse arbeitet sie in einem Casino in der Vorstadt. Die Welt wolle Griechenland den Namen Mazedonien stehlen, furchtet sie: „Die Leute werden das Wort Mazedonien hören und nur noch an FYROM denken." Was sie nicht sagt: Der Begriff Mazedonien hat in Griechenland erst mit einer Gebietsreform 1983 in das moderne politische Leben Einzug gehalten. Zuvor war er nur eine vage, regionale Bezeichnung. Das ist er ursprünglich auch. Das antike Mazedonien hat mit den heutigen Staaten Griechenland und Mazedonien (FYROM) weder etwas mit der Bevölkerung noch mit dem Territorium gemein - erst recht nicht mit dem Erbanspruch eines modernen Nationalstaats. In den heutigen Verwaltungsregionen West-, Zentral- und Ostmazedonien in Nordgriechenland lebt eine Bevölkerung, die zum größten Teil aus Griechen besteht, die nach dem griechisch-türkischen Krieg 1923 aus Kleinasien nach Westen gewandert ist (und im Gegenzug in Griechenland lebende Türken nach Osten). Die Argumente zwischen Pop-Bässen und Neonlichtern führen in finstere Vergangenheit. „Weißt du", sagt Bakis. „Eigentlich sind die heutigen Türken auch alle Griechen." Er spielt auf das Jahr 1923 an. „Die Türken sind nämlich nicht die Gleichen wie die Osmanen", fährt er fort. „Diese kamen nämlich von Dschinghis Khan." Kurze Pause, dann setzt er nach: „Naja, zumindest die Türken, die im Westen leben sind Griechen, in Konstantinopolis." „Istanbul" ist für ihn ebenso unaussprechlich wie „Republik Mazedonien". Sicher denken viele Griechen anders. Den Eindruck, den Bakis an diesem Tag abgibt, ist ein extremer. Doch gingen in der Zeit auch tausende Griechen auf die Straße, um gegen den Namen der Republik Mazedonien zu demonstrieren. So ganz aus der Luft gegriffen sind Bakis' Tiraden daher nicht. Sie bereiten mich jedenfalls gut auf die Diskussionen in den nördlichen Bergen vor. Bakis bringt mich zum Bahnhof. Die Halle wirkt dunkel und verlassen. Ich sehe kaum Passagiere. „Ich wusste gar nicht, dass es wieder einen Zug gibt", lacht Bakis. „Wir Griechen fahren kaum mit dem Zug. Wohin sollen wir auch fahren? Unsere Nachbarn sind für uns nicht sehr attraktiv. Wenn, dann fliegen wir nach Deutschland oder so." Ich verabschiede mich von Bakis und steige in den alten Waggon. Das Abteil ist muffig. Die Sitze sind zerschlissen und staubig. Uber 186

den Boden zerstreut haben Zigarettenstummel schwarze Punkte eingesengt. Die stinkende Toilette hat keine Spülung. An den Wänden hängen vergilbte Reiseprospekte über die Sozialistische Föderalistische Republik Jugoslawien, auf Serbisch. Die Bilder vom Belgrader Touristenbüro zeigen Zagreb, Sarajevo, Belgrad, Pristina. Sie liegen heute Welten auseinander. Zagreb: Kroatischer Nationalismus; Tudjman; erste Unabhängigkeit seit dem 12. Jahrhundert; Knebelung der Presse; Vertreibung der Krajina-Serben; Ansprüche auf die Herzegowina. Sarajevo: Krieg; ungewollte Unabhängigkeit; zerbombte Geschichte; ausgebrannte Bibliotheken; gemischte Ehen; Muslime, die radikale Serben für serbisch halten und radikale Kroaten für kroatisch. Belgrad: Traum von Großserbien „überall dort, wo Serben leben"; Milosevic; Mythen; fanatisierte Folklore; „ethnische Säuberung". Pristina: Kosovo-Kämpfe; Schlacht auf dem Amselfeld 1389; Albaner in Armut; Unterdrückung. Der Zug rattert langsam durch die Nacht. Eine Funzel in der Ferne lässt den Kontrollpunkt erahnen. Eine Handvoll Albaner springt plötzlich vom fahrenden Zug, sie rollen sich im Dickicht ab. Mitreisende zucken die Schultern: „Das ist normal." Albaner arbeiten illegal in Griechenland und schleichen sich zu Fuß über die Grenze, erklären mir ein paar griechische Jugendliche, die im Gang am offenen Fenster stehen. Es gibt also doch Griechen, die mit dem Zug reisen. „Warum fahrt ihr nach Mazedonien?", frage ich sie. „Nein, wir fahren nicht nach Skopje, sondern nach Pristina", sagt der im dicken Daunenanorak politisch korrekt. „Wir studieren dort Medizin." Ich erinnere mich an die Formel von Bakis: „Die Serben sind die einzigen Nachbarn, mit denen wir kooperieren können." Für ihn scheint die Zeit seit den Balkankriegen 1912/13 stehen geblieben. Zunächst verbündeten sich Griechenland und Serbien gegen die Osmanen, dann gegen Bulgarien. Alte Allianzen blühten während des Bosnien-Krieges wieder auf. Die griechische Regierung behielt während der Zeit noch am meisten Einfluss auf Belgrad. Athen wehrte sich lange gegen die Wirtschaftsblockade gegen Serbien und dann heftig gegen das NATO-Bombardement im Kosovo-Krieg. Dafür verhängte Griechenland über das junge Mazedonien, in dem bis dahin kein Schuss gefallen war, einen langen Boykott — alles wegen eines Namens. Ich schaue auf mein Bahnticket aus Thessaloniki. Blaue Buchstaben sind tief ins raue Papier gedruckt, auf Griechisch und Französisch.

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Kein Englisch. Die Beziehungen Griechenlands zu Frankreich sind bis heute eng. Frankreich engagierte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts stark auf dem südlichen Balkan. Auch Serbien wandte sich Frankreich zu, weil Belgrad gegen das Habsburger Reich Verbündete suchte. Außerdem erwies sich Frankreich als guter Absatzmarkt für serbisches Getreide. Selbst der Fahrschein ist ein wahres Geschichtslexikon. Am Grenzpunkt zieht sich die Wartezeit in die Länge. Die Heizung im Zug funktioniert nicht. Die Nacht in den Bergen ist bitterkalt. Auf dem Bahnsteig glimmen nur vereinzelt ein paar Funzeln. Serbische Bahnmitarbeiter füllen ihre Plastiktüten im kleinen Duty Free Shop. Die Passagiere im Zug unterhalten sich, wenn überhaupt, nur leise. Drückende Stille herrscht in den Abteilen. Es riecht nach kaltem Rauch. Mürrisch blicken die Grenzbeamten in die Pässe. Schließlich setzt sich der Zug ein paar Meter in Bewegung und bleibt erneut stehen, auf mazedonischer Seite. M i t Taschenlampen leuchten Soldaten unter jeden Waggon und in jedes Abteil. Ein Beamter fragt mich höflich, ob ich Jugoslawe sei. Als ich mich zu erkennen gebe, legt er in perfektem Deutsch nach: „Haben Sie etwas zu verzollen?" Draußen kann ich keine Flagge erkennen, nur einen Mast mit einer notdürftig festgezurrten Fernsehantenne. Die Gebäude sind frisch gestrichen und wirken freundlicher als auf griechischer Seite. Nach anderthalb Stunden Stillstand rumpelt der Zug weiter bergauf in den Norden. Mazedonien hat so ziemlich die ungemütlichste Nachbarschaft, die man sich vorstellen kann. Radikale Serben halten mazedonische Mazedonen (also nicht die Albaner, die im Land wohnen) für serbisch und träumen von der Zeit des serbischen Großreichs unter Stefan Dusan. Am Ende seiner Regentschaft (1331—1355) hatte er sogar in Skopje residiert. Die Griechen halten die Mazedonen für eine M i schung aus Slawen (was sie auch sind), und Bulgaren halten sie für bulgarisch. Die Mazedonen selbst nennen ihre Nachbarn traditionell die „vier Wölfe", die seit dem Jugoslawien-Krieg wieder Zähne zeigen: Griechenland, Albanien, Serbien, Bulgarien. Genauso wie die Bevölkerung im heutigen Griechenland seit der Zeit Alexanders des Großen im Fluss war, können auch mazedonische Nationalisten schwer mit einer uralten „ethnischen" Vergangenheit argumentieren. Der jugoslawische Regierungschef Tito hatte nach dem Zweiten Weltkrieg per Dekret die „Nationen" der Muslime in Bosnien-

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Herzegowina und die der Mazedonen geschaffen — als Puffer gegen die größeren Staatenprojekte der Kroaten und Serben. Die beiden Tito-Nationen bleiben weiter zwischen der Konkurrenz eingekeilt. D a s Kernland des antiken Mazedoniens sollen griechischsprachige Dorer bewohnt haben. Danach zogen Kelten, Römer, Kumanen, Awaren, Gothen und Slawen durchs Land und vermischten sich. Im 18. Jahrhundert kreuzten umherstreifende Banden das Gebiet, vor allem muslimische Albaner. Es ist also ebenso zweifelhaft, wenn mazedonische Ethno-Nationalisten von einer uralten mazedonischen Nation sprechen, welche die große albanische Minderheit zudem ausschließt. Laut einer Volkszählung von 1994 lebten in der Republik zwei Drittel slawische Mazedonier, knapp 23 Prozent Albaner, vier Prozent Türken, zwei Prozent Serben, und andere. Wahrscheinlich stellen die Albaner aber einen größeren Teil. Sie behaupten, knapp die Hälfte. Die Vielfalt hat sich auch kulinarisch verewigt, im Mazedonischen Salat, in dem Mais, Tomaten und alles andere Gemüse bunt durcheinander gemischt sind. J e nach Ideologie und Zeitvorstellung lassen sich die Grenzen dieses jungen Landes in dreifacher Hinsicht interpretieren und verschieben. Sieht man Mazedonien als einen Staat aller Bürger, die zurzeit in ihm leben, dient die jetzige Landkarte als Orientierung. Die Ethno-Nationalisten sehen dagegen nur die slawischen Mazedonier als Staatsvolk, würden die Albaner am liebsten wegwünschen und das Territorium nach balkanischer Tradition auf das größte Gebiet seiner Geschichte ausdehnen, also mindestens bis Thessaloniki (wobei andere bezweifeln würden, ob das damals überhaupt „richtige" Mazedonier im „ethnischen" Sinn waren, die in der Ägäis-Metropole lebten). Den ersten mazedonisch-slawischen Staat verankern sie bereits im Königreich Samuels ( 9 7 6 - 1 0 1 8 ) . N i m m t man schließlich die Antike als Ausgangspunkt, was ethno-nationale Griechen tun, enden die Grenzen vermutlich am Hindukusch. Der Bahnhof von Skopje hebt sich mit Blick auf Tristesse wenig von dem in Thessaloniki ab. Neben dem neueren Teil stehen einige alte Mauerreste als Ruinen. An der braunen Steinwand hängt eine Uhr, deren graue, klobige Zeiger auf fünf Uhr siebzehn verharren - seit dem 26. Juli 1963. In jener Minute legte ein Erdbeben die Stadt in Trümmer. Die Bahnhofsruine steht verloren zwischen den grauen, sozialistischen Häuserblocks. Die Reste der Rundbögen sind notdürftig mit Stangen abgestützt, auch seit 1963. Gegenüber in der Mar789

schall-Tito-Straße sind wir im alten Hotel Bristol aus der österreichisch-ungarischen Zeit einquartiert, eines der wenigen Bauwerke, die das Erdbeben überlebten. Früher diente es als Bordell. Drinnen mischt sich stumpf gewordener kaiserlicher Charme mit sozialistischem Spartanismus. Dicke, verrauchte Vorhänge hängen schwerfällig von den hohen Fensterrahmen. Ein alter weicher Teppich fuhrt die Gänge entlang zu den dunklen Zimmern. Die Betten sind durchgelegen, kurz und butterweich. Unten vor dem Fenster hoppeln alte Yugos, Fiats und Skodas auf dem Kopfsteinpflaster der Marschall-Tito-Straße vorbei. 32 Jahre nachdem die Zeiger der alten Bahnhofsuhr zum Stillstand gekommen waren, knallten Schüsse hier gegenüber dem Hotel. Der mazedonische Präsident Kiro Gligorov sank in seinem Wagen zusammen. Der Sozialdemokrat, der sich Anfang der 1990er Jahre zusammen mit dem Bosnier Izetbegovic am hartnäckigsten für den Erhalt Jugoslawiens eingesetzt hatte, kam bei dem Attentat mit einem blinden Auge davon. Vermutlich feuerten radikale Anhänger der Inneren Mazedonischen Revolutionären Organisation (VMRO) auf den Präsidentenwagen. Gligorov hatte wenige Tage zuvor Griechenland die staatliche Anerkennung Mazedoniens (unter dem von den Griechen erzwungenen Namen FYROM) und das Ende des griechischen Embargos abgerungen. Dafür musste die junge Republik ihre Staatsflagge ändern. Der 16-zackige Stern von Vergina, der am Grab des antiken mazedonischen Herrschers Philipps II. (382-336 v. u. Z.) in einem griechischen Dorf gefunden wurde, wich einer unverfänglicheren Sonne. Außerdem ergänzten die Mazedonier ihre Verfassung und verzichteten explizit auf territoriale Ansprüche gegenüber den Nachbarländern. Was die einen als außenpolitischen Erfolg feierten, sahen andere, wie Teile der VMRO, als Verrat. Die Widerstandsbewegung gegen die Osmanen gründete sich 1893 in Thessaloniki. In Lateinamerika würde man sie Guerilla nennen. Jetzt verstehe ich, warum Bakis am FastFood-Tisch mit einem seiner Faustschläge den Mazedoniern und den Bulgaren vorwarf, ans Meer zu streben und Thessaloniki als ihre „historische Hauptstadt" küren zu wollen. Einige der VMRO-Anhänger fühlen sich zu Bulgarien hingezogen. Mit ihnen kämpften die Mazedonier gegen die osmanischen Besatzer (viele Bulgaren behaupten aber, dass dies damals alles Bulgaren waren). Einige VMRO-Politiker haben sich Bärte wachsen lassen wie Gotse Delchev einen hatte. Del-

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chev war der Anführer der Guerilla. Bulgaren feiern ihn als bulgarischen und die Mazedonier als mazedonischen Widerstandskämpfer. W i r spazieren ins Zentrum von Skopje. Dort hat eine alte Rundbogenbrücke aus der Zeit des Osmanischen Reichs das Erdbeben überstanden. Ihre Quader sind mit Zement aus Eierschalen gekittet. Das Bauwerk über den Fluss Wardar sendet heute eine traurige Botschaft. Es verbindet die kleine Altstadt mit ihren Moscheen und dem Basar mit dem neuen Teil aus sozialistischen Blockbauten und mehrspurigen Straßen. Doch die Brücke schafft keine Verbindung. Sie ist zum Symbol der (freiwilligen) „ethnischen" Trennung geworden. In der Altstadt am Fuße des Forts wohnen Albaner in verwinkelten Gassen. Jenseits der Brücke leben mehrheitlich Mazedonier in ihren hohen Häuserblocks. Ein paar Querstraßen entfernt steht das mazedonische Außenministerium, ein schlichtes modernes Gebäude. Dort holt uns wieder ein Teil der Vergangenheit ein, der leidige Namensstreit. In einer Nische im Erdgeschoß ragen zwei Mikrofone aus kleinen Stehpulten. Der Standort ftir Pressekonferenzen des Ministers. Dahinter hängt ein ovales Schild an der dunkelbraunen Holzwand. Es trägt die karge Aufschrift: „Außenministerium". Der Staatsname fehlt. Selbst die Fernsehkameras sollen keine Bilder einfangen, welche die Griechen beleidigen könnten. Zwei Stockwerke höher ist die Zurückhaltung vorbei: In der Ecke eines kleinen Konferenzsaals steht die Büste Alexanders des Großen. Der Feldherr muss wahrlich ftir viele Projekte gleichzeitig herhalten. Als was er sich wohl selbst beschrieben hätte, hätte ihn damals jemand nach seiner Identität gefragt? Mit einem Blick in die Zeitung The Macedonian Times am Straßenkiosk lassen sich diese Diskussionen endlos fortsetzen. So genannte, meist alte Historiker und Journalisten ergehen sich in der Suche nach „ethnischen" Wurzeln, nach mazedonischen Minderheiten im Ausland und nach einer Abgrenzung gegenüber der albanischen Minderheit im eigenen Land. Philipp II. und sein Sohn und Nachfolger, Alexander der Große, sind Medienstars. Serien widmen sich ihrem Leben und ihren politischen Ideen. Unsterblich erscheinen auch zwei weitere, neue alte Nationalhelden: Kyrillus und Methodius. Die Times berichtet ausgiebig über ihr Werk. Die beiden Geistlichen brachten im 9. Jahrhundert das orthodoxe Christentum auf den Balkan und standardisierten die kyrillische Schriftsprache. Am 24. Mai feiern die Mazedonier (oder besser: deren 191

Historiker) den „Tag der slawischen Aufklärung und Kultur" zu Ehren von Kyrillus und Methodius. „Wir, die Mazedonier fühlen an diesem Tag Stolz", verkündet die Zeitung. Jede Nation hat ihre Helden. Je jünger die Nation ist, desto älter müssen die Helden sein. Auch das Mittelalter soll die Moderne legitimieren. Das Lexikon spricht von den beiden Brüdern als griechische Mönche - aus Thessaloniki. Mazedonier glauben, sie seien der Ursprung mazedonischer Kultur. M i t ihnen legitimieren sie unter anderem ihr Recht auf eine eigene Nation. Bulgaren dagegen halten sie, wie zu erwarten, für kulturelle Pfeiler der bulgarischen Nationalgeschichte. A m alten Bahnhof mit den toten Zeigern steigen wir in den Bus und fahren Richtung Süden, nach Ohrid, wo Kyrillus und Methodius lebten. Die Straße, meist glatt und leer, schlängelt sich durch die kompakten albanischen Gebiete im Westen des Landes. Sie grenzen an das Pulverfass Kosovo. Die Stille ist gespenstisch. Die meisten Menschen bleiben hinter den Mauern ihrer Häuser verborgen. „Das ist eine typisch albanische Bauweise", erzählt mir der Mazedone Aco, der bei den Jungen Europäischen Föderalisten in Skopje aktiv ist und neben mir im Bus sitzt. In perfektem Deutsch fährt er fort: „Die Muslime legen eine Mauer um ihren Garten und ihr Haus, damit kein Fremder ihre Frauen sehen kann." Zu Titos Zeiten hätten jugoslawische Behörden diese Mauern immer wieder niedergerissen. Jetzt bleiben die privaten Grenzen stehen. Nicht nur die Häuser, auch die dunkelgelben, verwitterten Straßenschilder sind wie Wegweiser in die mazedonische Problemgeschichte. Tetovo — rechts ab: Dort lieferten sich Albaner und die mazedonische Polizei im Sommer 1996 Straßenschlachten. Albanische Aktivisten wollten Unterricht in ihrer Sprache und gründeten dafür in Tetovo 1994 ihre eigene Universität. Die Regierung in Skopje wollte sie schließen, weil sie eine intellektuelle Kaderschmiede für Ethno-Nationalisten fürchtete. Gostivar - geradeaus: W i e in Tetovo hingen auch hier albanische Flaggen an Schulen und Rathäusern. Im Juli 1997 rissen sie mazedonische Polizisten von den Masten. Gostivar und Tetovo stehen auch für pan-albanische Solidarität. Eine Horrorvorstellung für viele slawische Mazedonier. Hierher kommen viele Kosovo-Albaner und verbrüdern sich mit ihren mazedonischen Volksgenossen. Das führte das junge Land kurz nach dem Kosovo-Krieg an den Rand eines Bürgerkriegs. Mazedonien hatte Monate lang Flüchtlingsströme von Koso192

vo-Albanern aufnehmen müssen. Sie flohen vor den serbischen Truppen, die auf Befehl Milosevics Albaner ermordenden. Der NATO-Angriff auf Serbien bereitete dem Morden im Kosovo ein Ende. Doch dafür wurden ab 2000 - und immer heftiger zu Beginn des Jahres 2001 — albanische Rebellen im westlichen Mazedonien aktiv, zum Teil UCK-Kämpfer aus dem befriedeten Kosovo. Sie lieferten sich Kämpfe mit mazedonischen Polizisten und Soldaten. Das grub das Misstrauen zwischen beiden „ethnischen" Gruppen in Mazedonien noch tiefer. Dennoch konnten die EU und die N A T O die Auseinandersetzungen schlichten, im ersten erfolgreichen diplomatischen und militärischen Kraftakt seit dem Zerfall Jugoslawiens. Auch deutsche Soldaten sind in dem bergigen Gelände im Einsatz. Die „ethnisch" mazedonische Seite musste am Ende große kulturelle und politische Zugeständnisse an die albanische Minderheit machen. Umstrittene Formulierungen in der Präambel der Verfassung über den „nationalen Charakter" des Staates wurden zurückgenommen. Albanisch stieg in den Rang einer offiziellen Sprache auf. Minderheiten dürfen im Parlament nicht mehr überstimmt werden. Der Anteil der Albaner in den staatlichen Institutionen, besonders in der Polizei, wurde gemäß ihrem Bevölkerungsanteil erhöht. Unser Bus röhrt über enge Straßen und schließlich über einen schneebedeckten Pass. Auf dem Scheitel steht eine Imbissbude rechts, eine links. Auf der anderen Seite wird die Luft auf einen Schlag milder. Das Mittelmeer ist nicht mehr weit. Nicht einmal 2 0 0 Kilometer entfernt liegt Thessaloniki: Aristoteles-Platz, Lederjacken, Sonnenbrillen, Samba de Janeiro. Neuer Putz auf alten Gedanken. Hier, beim griechischen Namensfeind, fehlt selbst der Putz. Erstaunlich viele neue Häuser stehen hier in den abgelegenen Tälern. Aco grinst: „Du glaubst gar nicht, wie viele Albaner bei euch in Deutschland ihr Geld verdienen." Er zeigt auf eine Gruppe von Rohbauten mit hellroten Ziegeln. „Sie bringen es hierher und bauen." Aber die neuen Häuser haben keine Mauern um ihre Gärten. Noch nicht? Ortsschild Kicevo: Hier ist die Schule gespalten. Im ersten Stock lernen die mazedonischen Kinder, im zweiten die albanischen. Ein tristes Nest. Am Ziel unserer Reise gelangen wir an den wunderschönen Urlaubsort Ohrid. Diesmal schlafen wir nicht in einem ehemaligen Bordell, sondern in einem der vielen protzigen Hotels entlang des malerischen Sees, ein Katzensprung von der albanischen Grenze entfernt. Weißer Marmorboden, Sessel in knallbunten Hawaii-Farben, 193

knautschige Sofas. Alles eine N u m m e r zu groß, scheint es. Die Touristen bleiben schon lange weg. Der kleine Flughafen am Ortsrand wirkt verlassen. Die Attraktion von Ohrid sind die unzähligen Klöster und Kirchen. Auf einem Felsvorsprung am Ende der Bucht trotzt eine gedrungene, romanische Kirche aus hellrotem Klinkerstein. Das orthodoxe Kreuz thront auf dem kurzen, achteckigen T u r m . Gegen den Sonnenuntergang wirken die dicken Mauern unheimlich. Hier entstand der mazedonische Film „Before the Rain": Ein Fotojournalist und PulitzerPreisträger kehrt während des Bosnienkriegs in sein Dorf zurück. Er gerät in den Strudel der „ethnischen" Konflikte, die sich dort in den Jahren seiner Abwesenheit hochgeschaukelt haben. Schließlich stirbt er durch eine Kugel seines eigenen Clans, nur weil er einer albanischen Freundin helfen wollte. W e n i g e Minuten Autofahrt entfernt liegt das Kloster Naum, eingepfercht zwischen zerklüfteten Bergen und dem Ufer des Ohrid-Sees. Eine schmale Straße schlängelt sich die steilen Felsküsten entlang. Ein paar Meter neben dem Kloster zerschneiden ein Zaun und Stacheldraht den kleinen Kiesstrand. Hier beginnt Albanien. Die kleine Klosterkirche erinnert an den Felsvorsprung von „Before the Rain". Drinnen erschlägt die Dekoration im niedrigen Gewölbe. Die Räume sind überladen mit Gold und Messing, Schreinen und Bildern. In einem winzigen Nebenraum liegt St. N a u m begraben. Er war ein Schüler von Kyrillus und Methodius. Die Besucher stolpern durch die tiefe Tür, beugen sich über die Gruft und legen ihr Ohr an den kalten Stein. Sein Herz schlägt weiter, heißt es. W e r es hört, darf sich etwas wünschen. Ich höre nichts. Langsam laufe ich an den bemalten W ä n d e n entlang und entdecke einen Heiligen mit einem Messer in der Hand. Mit einem Grinsen in den Mundwinkeln ersticht er gerade einen römischen Soldaten. Mein Blick schweift vom Römermord zur Gruft. Junge Leute murmeln Wünsche in den Steinsarg von St. Naum. Das Verharren in der Vorzeit kritisiert der sozialdemokratische Parlamentsabgeordnete und Soziologieprofessor Nano Ruzin. Er ist im hellen Marmorhotel in Ohrid eingetroffen und will M u t machen: „Wir müssen aus dem Teufelskreis ausbrechen. Befreit Europa von seinen alten Ikonen! Unsere neuen Ikonen sollen D-Mark, USDollar, N A T O und EU heißen", spitzt er zu. Geschichte und Geschichtsschreibung stünden sich auf dem Balkan oft entgegen. Nach-

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dem der Kommunismus ein Vakuum hinterlassen habe, könnten sich Nationalismus und Regionalismus austoben. Jede Volksgruppe habe sich trotzig hinter ihre Barrikaden zurückgezogen. „Einige Moscheen hier haben Lautsprecher, um die sie die Diskotheken in Skopje beneiden." Der Juraprofessor Gorgi Ivanov pflichtet ihm bei und kritisiert: „Geschichte ist auf dem Balkan eine Art Selbstverteidigung. Hier gilt: Wenn du dich nicht um deine Geschichte kümmerst, wirst du nicht überleben. Andere Völker und ihre Staatsprojekte werden dich vereinnahmen." Nach einer Pause fügt er hinzu: „Jeder geht zurück in die Geschichte und hält die Landkarte der Zeit hoch, als er der Größte war." Der Wissenschaftler lacht bitter. Denn er weiß, dass die Mazedonen, wenn sie bei dem Wettkampf unbedingt mitmachen wollen, als jüngste Nation Europas die Verteidiger spielen müssen. In Skopje hatten wir zuvor zwei Politiker getroffen, die ganz andere Ideen mit Grenzen hatten, nämlich sie quasi verschwinden zu lassen. Wenn sie an Bedeutung verlieren, gibt es weniger Streit darüber, entlang welcher Linie sie gezogen werden sollen. Interessant ist, dass Vertreter aller Parteien, die wir sprachen - ob ethno-national oder bürgerlich-demokratisch — eine Annäherung an die Europäische Union anstrebten. Da die Grenzfragen auf dem Balkan mit Blick auf die Geschichte und das „ethnische" Nationsprinzip schier unlösbar erscheinen, sehen sie ein Vorbild in Schengenland. So sagte die Vorsitzende der Liberal-Demokratischen Partei (LDP), Angelka Peeva: „Wir hoffen, dass das nationale Element mit der Abschaffung der Grenzen in Europa auch auf dem Balkan aus der Mode gerät. Hoffentlich werden wir das noch erleben." Konkreter drückte es noch der Fraktionsvorsitzende der gemäßigten albanischen Partei des Demokratischen Wohlstands (PDP), Ismet Ramadani, aus: „Wir brauchen kein GroßAlbanien. Aber wir würden gerne die Grenze nach Albanien auf einer Autobahn mit 120 Stundenkilometern überqueren wie von Belgien nach Holland." Grenzen überschreiten wir am letzten Abend in unserem Seehotel in Ohrid auf ganz besondere Weise. Auf der Studienreise und dem JEFSeminar treffen sich zum ersten Mal - nur zwei Jahre nach Ende des Bosnien-Krieges — kroatische und serbische Jugendliche. Außerdem begegnen sich bulgarische und mazedonische Studenten. Dazwischen sind unter den etwa zwanzig Teilnehmern als „Puffer" Westeuropäer aus Schweden, Italien und Deutschland. Das Treffen gipfelt in einem 195

„Heimatabend", an dem jeder ein Lied aus seinem Land singen und eine Spezialität mitbringen sollte. Wir sitzen an einem großen Tisch. Um uns stehen zwei kleine Elektroheizer, die den großen Raum im Keller des Hotels ein wenig angenehmer machen sollen. Doch heiß wird es ohnehin. Denn als die Bulgaren ein Lied anstimmen, protestieren die Mazedonier, das sei ein mazedonisches Nationallied. Es komme schließlich ein Fluss darin vor, der durch Mazedonien fließe. Nach kurzer Irritation schlagen die Westeuropäer vor, das Lied einfach zusammen zu singen. Kurz darauf liegen sich die Studenten in den Armen und stimmen ein Balkanlied nach dem anderen an. Aus der Tito-Zeit teilen Kroaten, Serben, Mazedonier und andere Südslawen das gleiche Kulturgut. Die Volkslieder sind immer noch die gleichen und populär, vor allem auf den Dörfern. Die Sprache ist ohnehin dieselbe, auch wenn das Ethno-Nationalisten hartnäckig bestreiten. Das Gegröle dauert bis tief in die Nacht. Bei der entstandenen Freundschaft macht es auch nichts mehr aus, dass die Kroaten aus ihrem Land Tourismusprospekte mit Fotos ihrer traumhaften Landschaft mitbringen und die Serben sagen: „Oh, das haben wir schon lange nicht gesehen. Mal schauen, ob ich irgendwo unser altes Haus finden kann." Ein anderer Serbe scherzt in schwarzem Humor: „Hier sind ja auch Luftaufnahmen. Dann wissen wir ja, wie wir das nächste Mal einmarschieren können." Alle müssen lachen, auch die Kroaten. Mit viel Slivovic — auch ein gemeinsames Kulturgut der Jugoslawen — singt die Gruppe bis in die frühen Morgenstunden schunkelnd und tanzend Balkansongs. Typisch ist auch, dass die Deutschen am Tisch als einzige kein Volkslied zusammenbekommen. Schließlich entscheiden sie sich für die europäische Hymne „Freude schöner Götterfunken". Einer erinnert sich sogar an den gesamten Text. Zumindest an diesem Abend sind alle Grenzen unendlich weit entfernt.

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Indischer

Subkontinent

Die hässliche Narbe der verfeindeten Brüder Indien und Pakistan, im Dezember 1996 Kaum setzt der Reisende den Fuß aus dem Bahnhofstor, ist er umringt von einer ganz besonderen Wagenburg. „Rikscha! Rikscha! Mister! Rikscha! Rikscha!", schallt es aus allen Richtungen. Die ausgemergelten Männer winken und fuchteln wild umher. Sie schreien durcheinander. Sie schreien um das Leben ihrer Familie und um eine Schale Reis. W i r haben Rucksäcke umgeschnallt und keine Koffer, die sie uns aus der Hand reißen könnten, um die Entscheidung zu Gunsten ihres Vehikels zu kippen. Bei der geballten Konkurrenz hat das Feilschen auf den ungefähren Normalpreis Erfolg, um den Ehrlichen und nicht den Dreistesten unter ihnen eine Chance zu geben. Ein junger Mann mit grauem Hemd und fettigem Haar schwingt sich auf den Sattel. Die Haut seiner Füße ist grau, schrumpelig und ausgetrocknet. Billige Plastiksandalen presst er gegen die Pedale. Die Richtung ist klar: Der Goldene Tempel von Amritsar. Etwa acht Stunden waren wir im Zug aus Delhi unterwegs, durch die indischen Bundesstaaten Haryana und Punjab im Nordwesten des Landes. Ich reise zusammen mit Shirani, einer Journalistin aus Sri Lanka. Unsere Augen blinzeln in das junge Tageslicht. Knapp 450 Schienenkilometer haben wir polternd auf harten Schlafpritschen hinter uns gebracht, um eine der feindlichsten Trennlinien der Welt zu überschreiten. Amritsar liegt nur fünfundzwanzig Kilometer östlich der pakistanischen Grenze und etwa sechzig Kilometer von der Stadt Lahore entfernt, das für viele Inder so unerreichbar erscheint. Die Straße zwischen beiden Städten ist neben einer beschwerlichen Zugverbindung das einzige Nadelöhr für Überland Reisende zwischen Indien und Pakistan. Nirgendwo sonst hatte die Grenze der feindlichen Brüder damals ein Loch. Manche nennen Amritsar daher auch das „Tor Indiens." Tapfer zirkelt der Rikschafahrer an hupenden Lastwagen vorbei, kämpft gegen die Flut der schweren Ambassador-Karossen. Die behäbigen aber unverwüstlichen Oldtimer baute Indien unter britischer Lizenz zu jener Zeit immer noch, wenn sich auch mehr und mehr 197

kleine und spritzige Marutis japanischen Nachbaus vor ihre verchromten Kühler drängeln. Durch die winzigen Spalten zwischen den Karossen wagen sich die tollkühnen Männer mit ihren Motorrollern. Oft haben sie auf das Gefährt Teppichrollen oder die gesamte Familie gepackt. Uber den gewienerten Kotflügeln der Autos sieht man dann fünf dicht hintereinander gelegte Köpfe vorbeiziehen. In den kleinen Ladennischen hängen Teppiche, Seiden- und Wollstoffe aus. Hektisch schwingen die Verkäufer den Staubwedel über ihre Ware. Da Amritsar die Hochburg der Sikhs ist, läuft das Geschäft zudem besonders gut mit Turbanen und traditionellen Armreifen. Ich drücke dem Rikschafahrer fünfzehn Rupees in die Hand, das sind etwa dreißig Cents. Er bedankt sich und berührt mit der Hand, in der er den Schein und die Münzen hält, kurz seine gesenkte Stirn. Vor dem Eingang in die Tempelanlage ziehen Shirani und ich die staubigen Schuhe aus und waschen unsere Füße. Gläubige und Besucher dürfen nur barfuss den glänzend weißen Marmor betreten. Ein paar Schritte noch, dann stehen wir vor einem der faszinierendsten Tempel der Welt. Die Sonne schickt grelle Blitze von der goldenen Kuppel herab in das spiegelnde Wasser, das das Heiligtum umgibt. Dieser „Nektarteich" hat der Stadt ihren Namen gegeben. Vögel flattern um die gold-gelben Zinnen und die vielen verzierten Erker. Einige Sikhs schreiten zum Bad an den Beckenrand. Händler verkaufen orangefarbene Girlanden aus Marigold-Blüten. Männer in blauen Gewändern tragen stolz ihre Schwerter. Die Galerien mit zahlreichen Bögen und Kuppeln, die den Komplex im Rechteck begrenzen, erstrahlen in der Morgensonne in unschuldigem, reinem Weiß. Einige Gebäude sind noch im Bau. Manche Marmorplatten, auf die wir treten, tragen frische Namen von Spendern. Der Wiederaufbau lässt ahnen, dass der Ort nicht immer so friedlich war. Militante Sikhs hatten den Goldenen Tempel im Juni 1984 besetzt und forderten einen unabhängigen Staat für ihre Glaubensgenossen. Die damalige Regierungschefin in Neu-Delhi, Indira Gandhi, machte kurzen Prozess und gab den Befehl zur Operation Blauer Stern. Panzer rollten in die Tempelanlage. Große Teile des Komplexes wurden bei den blutigen Kämpfen zerstört. Danach lag bleierne Stille über Amritsar, die noch fast zehn Jahre anhalten sollte. Indira Gandhi, die eiserne Tochter des ersten Premierministers Jawaharlal Nehru, fühlte sich gestärkt. Der Zentrale in Neu-Delhi und der gesamtindischen Nation hatte sie Respekt abgerungen. Sie fühlte sich sicher und dach-

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te auch nicht daran, ihre Leibgarde nach dem Angriff auszuwechseln. Doch das sollte ihr ein halbes Jahr später zum Verhängnis werden. Zwei ihrer Sikh-Wächter konnten ihr den Einmarsch in das Heiligtum von Amritsar nicht verzeihen. Am Morgen des 31. Oktober erhoben sie ihre Flinten und zielten plötzlich auf ihre Herrin. Indira Gandhi sank im Kugelhagel in ihrem Hausgarten in Neu-Delhi nieder. W i e viele andere Probleme Indiens war auch der Sikh-Aufstand in Amritsar großenteils ein Erbe aus der Teilung des Landes in Indien und Pakistan. Als die Briten nach langem Freiheitskampf der indischen Nationalbewegung im August 1947 den Union Jack auf dem Subkontinent einholten, konnten sich auch die Sikhs nicht so richtig über die lang ersehnte Unabhängigkeit freuen. Das koloniale Indien wurde in das heutige Indien sowie in West- und Ost-Pakistan gespalten. Muslimische Ethno-Nationalisten unter M o h a m m e d Ali Jinnah gelang es in den letzten Jahren vor dem Abzug der Kolonialherren, vielen Muslimen und vor allem den Briten weiszumachen, dass sie nicht zusammen mit Hindus in einem Land leben könnten. Der indische VizeKönig Lord Mountbattan war trotz der Turbulenzen darauf aus, den unvermeidlich gewordenen Abzug der Krone in W ü r d e zu gestalten, und gab der erstarkenden Pakistan-Bewegung zähneknirschend nach. Die neue Grenze zwischen West-Pakistan und Indien schnitt mitten durch das fruchtbare Punjab. Dort hatten die Sikhs die meisten ihrer Tempel und Schreine, dort bewässerten sie ihre Äcker und trieben Handel schon seit Jahrhunderten. Die Teilung des Punjab war die Teilung Indiens im Kleinformat. Das Ziehen der Trennlinie geschah so reißbrettartig, dass der britische Grenzbeauftragte Radcliff seine Unterlagen mit schlechtem Gewissen hastig vernichtete, bevor er Indien verließ. „Noch niemals war das Schicksal so vieler Millionen Menschen den willkürlichen Bleistiftstrichen eines einzelnen Mannes so hilflos ausgeliefert", kritisierte der spätere Staatspräsident Pakistans, Ayub Khan. Das Feilschen um „ethnische" Gebietsprozente sollte sich vierzig Jahre später in ähnlicher Weise in Bosnien wiederholen. Beide Teile Pakistans trennten 1 6 0 0 Kilometer voneinander. Jinnah forderte einen Korridor, doch dieser kam nie zustande. Schließlich überwogen innermuslimische Querelen und kulturelle Eigenheiten der Bengalen über das Konzept der muslimischen Ethno-Nation. Daher spaltete sich Ost-Pakistan 1971 mit Hilfe indischer Truppen als selbstständiger Staat unter dem

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Namen Bangladesh ab. Die Idee eines muslimischen Homelands brach endgültig zusammen. Noch 1933 hatte Jinnah Pakistan als unmöglichen Traum abgetan, als der Cambridge-Student Choudry Rahmat Ali im Londoner Waldorf-Hotel ihm gegenüber eine Spaltung des Landes zu begründen versuchte. Die territoriale Teilung des Subkontinents stellte für Ali sogar eine Art Naturgewalt dar: „Diese höchste Unterscheidung zwischen Pakistan und Hindustan ist unauslöschlich, da sie auf ewigen Wahrheiten beruht. Die Autoren unserer Verfassung müssen die Dekrete der Natur berücksichtigen. Diese großartige Trennungslinie existiert seit undenklichen Zeiten, und muss für immer bestehen." Etwas mehr als zehn Jahre später hatte Jinnah selbst den Briten trotz aller Widersprüche erfolgreich seine Zwei-Nationen-Theorie verkauft, die auch andere Ethno-Nationalisten wie die Sikhs für sich zurechtzimmern konnten: Hindus und Muslime haben danach nicht nur eine unterschiedliche Religion, sondern sind auch „ethnisch" anders. Das heißt, sie unterscheiden sich angeblich in Abstammung, Sprache, Geschichte und Gebräuchen. Ziehen die Briten ab, bedeutet das Hindu Raj, die Herrschaft der Hindus über das ganze Land und seine muslimischen Minderheit. Um dem zu entgehen, forderte Jinnah ein eigenes Homeland fiir „die Muslime", natürlich mit ihm als Premierminister. Sein Gegenspieler Nehru nannte Jinnahs Argumente „Baby Talk" und schlug sie verächtlich als rückwärts gewandte Pfeil- und BogenMentalität in den Wind. Er glaubte an ein säkulares Indien, in dem keine einzelne Religion Politik macht, sondern alle Inder sich als eine Nation begreifen sollten. Nehru, über dessen Arroganz sich Jinnah bitter beklagte, unterschätzte jedoch die Wirkungsmacht von Jinnahs Worten. Dessen Theorie stimmte mit der Realität zwar keineswegs überein: Die Vorfahren der meisten Muslime waren konvertierte Hindus; regionale Unterschiede mit vielfältigen Bräuchen und Sprachen bilden einen Flickenteppich, der weltweit seinesgleichen sucht und mit der Trennlinie Muslim-Hindu keineswegs übereinstimmt. Doch konnte sich Jinnah letztlich gegen Nehru durchsetzen. Zudem hatte Mohandas Karamchand Gandhi (1869-1948) mit seiner oft theatralischen Hindu-Symbolik — die manchmal auch Nehru auf die Nerven ging — den Eindruck einiger Muslime erweckt, die KongressPartei verfolge letztendlich doch eine Klientelpolitik zu Gunsten der Hindus. Mit Jinnahs Argumenten der Zwei-Nationen-Theorie können 200

nun Sikhs und andere Minderheiten ähnliche Schussfolgerungen ziehen. Während wir über den weißen Marmor schreiten, den Blick fest auf das glitzernde Zentrum, den Goldenen Tempel, gerichtet, erfahren wir auch die friedlicheren Dinge, die den Sikhs eigen sind: Sie gelten als sehr gastfreundlich, hilfsbereit, tolerant und geschäftstüchtig. Auf der Marmorplattform um das Tempelbecken sitzen Gläubige mit verschränken Beinen und beten, grübeln, dösen, lesen oder unterhalten sich. Ein junges Paar kommt auf uns zu und spricht uns neugierig an. Beide wohnen in den Vereinigten Staaten und sind erstaunt, dass wir nach Pakistan wollen. „Was wollt ihr denn dort?", fragt mich der Mann mit dem gepflegten Schnurrbart, einer randlosen Brille, einem kleinen weißen Turban und hellblauem Hemd. Viele indische Sikhs haben die Trennung ihrer Provinz noch immer nicht verwunden, auch wenn sie seit langem im Ausland leben. „Unser Heimatland ist amputiert. Jetzt sitzen wir auch politisch zwischen allen Stühlen, zwischen den Religionsgemeinschaften, aus denen wir ursprünglich stammen." Die Sikhs fuhren ihre Religion auf Guru Nanak (1469— 1539) zurück. Der Lehrmeister kombinierte Elemente des Hinduismus und des Islam miteinander und legte großen Wert auf Meditation. In einem Quartier am Rande des Tempelhofs dürfen Fremde bis zu drei Nächte kostenlos ruhen und speisen. Auch Shirani und ich laden dort in einem kleinen Zimmer unsere Rucksäcke ab. Dicke Decken dienen als Matratzen. „Willkommen im Tempel", lächelt der alte Mann, als er uns den Schlüssel reicht. Wir sind die einzigen Reisenden heute. Deshalb drückt der Wächter ein Auge zu und lässt uns zusammen in einem Raum schlafen. Sonst müssen Männer und Frauen getrennt die Nacht verbringen. Noch einmal schauen wir auf die Landkarte und verstauen unsere dicken Packen Geldscheine. 20 000 Rupees schleppen wir mit uns herum, etwa 500 Euro. Denn wir haben nur noch wenige Dollar und wollen anschließend nach Nepal. Bankautomaten gehören zu jener Zeit noch in eine andere Welt. In dieser friedlichen Nacht im Tempel konnten wir nicht ahnen, dass das indische Geld am nächsten Tag unsere Weiterreise um ein Haar sabotiert hätte. Eines der vielen Dinge, die alle Weltreligionen gemeinsam haben, ist wohl der Umstand, dass praktizierende Gläubige dem frühen Morgen huldigen. Die Nacht im Tempel wird sehr kurz. Doch die Zeit sollten wir an dem Tag auch brauchen. Die Grenze wartet. Sie hat nur 201

von neun bis 16 Uhr geöffnet. Wir frühstücken in der Sammelküche und schnallen unsere Taschen um. Zunächst fahren wir aber noch an einen Ort, der Amritsar einen traurigen Platz in der indischen Geschichte gesichert hat: Jallianwala Bagh. Hinter den dichten Heckenpflanzen öffnet sich eine große ausgetrocknete Wiese. Männer und Frauen, in Grüppchen schnackend oder alleine träumend, sitzen auf dem Boden und genießen die milde Wintersonne. Die Ecken des idyllischen Gartens begrenzen kleine Steinhäuschen mit weißen Zwiebelkuppeln. „Ich war noch ein Kind, als das hier geschah." Ein steinalter Mann hat sich neben uns ins Gras gesetzt. Seine Augen sind matt, seine Hände zittrig. Aber wenn er von dem Massaker erzählt, geht durch den dünnen Körper ein Ruck. „Ich weiß es noch, als wäre es gestern gewesen: Meine Mutter stand neben mir und schrie. Um uns herum brüllten alle und liefen wild umeinander. Meine Mutter drückte mich fest an sich. Auf einmal löste sich ihr Griff und sie sank zu Boden. Ich lag unter ihr." Der Greis lässt seinen Arm kraftlos auf den Boden neben seine gefalteten Beine fallen. Staub wirbelt auf bis zu seinem Knie. „Ich habe nichts gesehen. Nur dauernd diese Gewehrschüsse. Rattattattattatta...." Der Alte blickt uns musternd an. Dann lächelt er, fast stolz, durch eine Zahnlücke. Seine Mutter verlor an jenem 13. April 1919 ihr junges Leben. Doch für Indien begann eine neue Ära. Die blutige Szene ist auch eindrücklich in Attenboroughs Monumentalfilm „Gandhi" geschildert. Der britische General Dyer ließ seine Truppen mit Rückendeckung des Gouverneurs der Provinz auf 20 000 Zivilisten feuern, die sich in diesem Garten versammelt hatten. Sie begingen den Sikh-Feiertag Baisakh und protestierten dabei friedlich gegen die britische Besatzung. Auf der flachen, eingegrenzten Wiese steckten die Inder in der Falle. Kugeln zirpten durch die Luft während immer mehr Menschen zu Boden gingen. Am Ende lagen im Jallianwala Bagh etwa 380 Tote und rund 1 200 Verwundete auf der Wiese, darunter viele Frauen und Kinder. Dyers Schüsse erwiesen sich für die Kolonialherren als Bumerang. Aus Abscheu gab der große indische Philosoph Rabindranath Tagore der Krone seinen Ritterstand zurück. Das Massaker von Amritsar wurde symbolisch zur Geburtsstunde der indischen Unabhängigkeitsbewegung. Die Massen mobilisierte vor allem Gandhi, ein wenig erfolgreicher Rechtsanwalt und asketischer Pazifist, der zuerst im Kampf gegen die Apartheid in Südafrika Schlagzeilen machte und 202

schließlich als Mahatma („die Große Seele") eine der berühmtesten Figuren der Weltgeschichte werden sollte. Gandhis Programm des zivilen Ungehorsams gewann nach dem Massaker in Amritsar an Schwung und trieb die hoch bewaffneten Briten wehrlos in die Enge. Damals kämpften Muslime und Hindus noch gemeinsam für ein unabhängiges Indien. Heute fahren die Busse nur noch etwa zwanzig Kilometer von Amritsar in westliche Richtung. Dann ist politische Endstation. Im Ortchen Attari steigen wir aus. Die letzten Kilometer zur Grenze müssen die Reisenden per Rikscha zurücklegen. Die Landstraße ist menschenleer. Nur das Knirschen der Pedale und des alten Fahrradsattels ist zu hören, als wir uns auf den Weg machen. Auf beiden Seiten neben den ausgedorrten Straßenrändern erstrecken sich saftig grüne Felder. Die Kornkammer Punjab liefert mehr als sechzig Prozent der Weizen- und mehr als vierzig Prozent der Reisernte Indiens. W i n d streicht durch die Wipfel der Bäume, welche die Geisterstraße säumen. Durch die Provinz zieht sich ein weit verzweigtes System von Bewässerungskanälen, das durch die Spaltung auseinander gerissen wurde. Bis heute streiten Indien und Pakistan über Wasserrechte. Auch wirtschaftlich machte die Teilung des Landes wenig Sinn. Die älteren der Bäume entlang des Wegs müssten noch Zeitzeugen gewesen sein von dem Elend der Flüchtlingstreks, die in beide Richtungen hier vorbeizogen. Muslime marschierten nach Norden, Hindus in den Süden. Entlang der neuen Grenze entstand einer der größten Menschenströme in der modernen Geschichte. Schätzungen gehen von zwölf Millionen Flüchtlingen aus. Bis zu einer Million starben an Erschöpfung oder kamen bei Ausschreitungen unterwegs ums Leben. Besonders die Städte Delhi und Karachi schwollen durch die Entwurzelten kräftig an. Es erscheint wahnwitzig, dass Vize-König Mountbattan die Unabhängigkeit und damit die Teilung des Landes feiern ließ, bevor überhaupt der exakte Verlauf der 3 000 Kilometer langen Grenze zwischen Himalaya und Arabischem Meer veröffentlicht war. Die Briten fürchteten mit Recht Widerstand und Proteste. Die Folgen danach waren aber mindestens genauso schlimm. W o auch immer die Linie gezogen wurde, fanden sich Menschen auf der „falschen" Seite wieder. Die Jahre 1947 und 1948 wurden zum Trauma. Der indische Historiker Mushirul Hasan hat in seinem Buch „India Partitioned: The Other Face of Freedom" einen Zeitzeugenbericht 203

veröffentlicht. Darin berichtet eine Hindu-Frau, wie sie bei der Spaltung des Landes gerade auf der „falschen" Seite auf dem Feld ackerte. Eine Bande Muslime schlich sich an sie heran, verschleppte und vergewaltigte sie. Mehrere Wochen wurde sie festgehalten. Schließlich konnte sie fliehen. Sie rannte um Leben und Ehre. Erschöpft kam sie zu Hause auf indischer Seite an. Dort musste sie feststellen, dass ihr Ehemann und ihre Freunde sie nun verstießen. Das blieb kein Einzelschicksal. Beide Länder verhandelten, sobald die Lage es zuließ, über den Austausch verschleppter Frauen und darüber, wie man mit zurück gelassenem Eigentum umgehen sollte. In dem Flüchtlingsmeer befanden sich auch drei Personen, die später jeweils auf der anderen Seite ihrer Heimat Hauptakteure der Konfrontation werden und die Teilung des Landes politisch vertiefen sollten. Der pakistanische Militärdiktator Zia ul-Haq (1924-1988) kam aus dem Osten des Punjab. Der pakistanische General und Staatschef Pervez Musharraf, der sich im Oktober 1999 in Islamabad an die Macht putschte, wurde 1941 in Neu-Delhi geboren. Er gehörte zu den führenden Köpfen der pakistanischen Armee, die ein härteres Vorgehen gegen Indien forderten. Dagegen floh Lal Krishnan Advani (*1927), der langjährige Aktivist der faschistischen hinduistischen Kulturbewegung RSS und Vorsitzende der hindu-nationalistischen Indischen Volkspartei (BJP), entgegengesetzt aus dem Sind im südlichen Pakistan. Der politische Falke, der gerne auf Hitler Bezug nimmt, wurde im April 1998 Innenminister und 2002 Stellvertreter des kränkelnden Premierministers Atal Behari Vajpayee. Advani war auch Teil des Mobs, der im Dezember 1992 die Babri-Moschee im nordindischen Ayodhya niederriss. Für die Provokation übernahm er die politische Verantwortung. Danach überzogen blutige ethno-nationale Unruhen das Land. Dass Politiker auf der anderen Seite eines geteilten Landes Bedeutung erlangen, ist nichts Besonderes. Der dienstlängste Außenminister der Bundesrepublik Deutschland, Hans-Dietrich Genscher, wurde im ostdeutschen Halle geboren. Im Kontrast zum indischen Fall entwickelte er sich jedoch zu einem Protagonisten, der in kleinen Schritten auf die Einheit des Landes hinarbeitete und schließlich im Rampenlicht stand, als der Eiserne Vorhang aufriss. Unser Rikschafahrer bremst vor zwei weiß gepinselten Eisengittern. Von hier aus müssen wir zu Fuß weitergehen. Während der gesamten Strecke zwischen Attari und der Grenze ist uns kein einziges Auto 204

entgegen gekommen, nur eine leere Rikscha. Die Atmosphäre ist geisterhaft. Eine Handvoll Männer lungert auf angebrochenen Plastikstühlen herum. Jemand hat auf der Straße vor den Gittern zwei Tische aufgestellt. Ich bestelle eine indische Thumbs-Up-Cola am kleinen Holzkiosk. Ein Verkäufer bietet Nüsse auf einem Handwagen an. Ein Netz mit Chipstüten hängt von der Platte herunter. Sonst gibt es hier nichts. Vögel zwitschern. Einer der Männer fragt mich, ob ich Geld wechseln möchte. „Guter Kurs", verspricht er. „Besser als dort", meint er augenzwinkernd und zeigt auf das Holzschild, das auf dem Boden an einer Mauer lehnt: „Reserve Bank of India". Ich tausche eine kleine Summe. Zur N o t haben wir noch ein paar Dollars. Das muss reichen. Auf einmal sagt der Mann mit den prallen Jackentaschen, fast beiläufig: „Ihr wisst ja: In Pakistan sind indische Rupees verboten. Wer damit erwischt wird, kriegt großen Arger. Wahrscheinlich stecken sie dich ins Gefängnis!" Ich muss schlucken. Shirani und ich schauen uns verlegen an. „Ich glaube, wir müssen mal schnell austreten", sage ich. Wir verschwinden hinter einer Hütte. Toiletten gibt es hier nicht. Hektisch kramen wir die indischen RupeePacken aus unseren Taschen, verteilen sie in gleiche Häufchen und stecken sie uns in die Hose. Vor uns ein Weizenfeld, hinter uns die Hüttenwand. Ich schaue alle paar Sekunden nervös über die Schulter. Einer nach dem anderen tauchen wir wieder auf der Straße auf. Mit 20 000 indischen Rupees im prallen Hosenboden marschieren wir auf den ersten Grenzbeamten am Gitter zu. Der Sikh ist nicht gut drauf und mustert uns mürrisch. Seine erste Frage: „Was wollen Sie denn in Pakistan?" Die zweite: „Visum?!" Wir fühlen uns fast, als begingen wir ein Verbrechen, wenn wir in das Nachbarland reisen. Die Inder fühlen sich in ihrem Ego verletzt und würden am liebsten fragen: „Ist Ihnen Indien denn nicht schön genug? Was wollen Sie denn bei den islamischen Fanatikern?" Vorurteile haben immer dann fruchtbaren Nährboden, wenn die Kommunikation zwischen den Menschen abgeschnitten ist. Die Grenze, an der wir stehen, könnte kein besseres Beispiel sein. Der Beamte schaut skeptisch in Shiranis Visum. Uns hat es viele Tage Rennerei gekostet bis die pakistanische Botschaft es endlich ausgestellt hatte. Mit einem Dokument in der Hand werden zwei Menschen mit einem Mal ungleich. Meinen Stempel hatte ich ganz fix bekommen, fast zwei Wochen zuvor. Genau das wurde jetzt zum 205

Problem. „Ihr Visum ist abgelaufen!", sagt plötzlich der Sikh in der khaki-braunen Uniform. Ich stutze. Seitdem mir die Botschaft das Dokument ausgestellt hatte, habe ich nicht mehr in meinen Pass geschaut. In der Tat: Das Visum ist bis zum fünften Dezember gültig. Heute haben wir den zehnten. Der Grenzbeamte kneift die Augen zusammen und freut sich, dass wir nun doch nicht nach Pakistan dürfen. „Hier geht's nicht weiter! Sie müssen zurück nach Delhi. Mit dem abgelaufenen Visum haben Sie hier keine Chance." Nach Delhi? Noch einmal insgesamt tausend Kilometer und mindestens fünf verlorene Tage für nichts? Ich konzentriere mich: „Das ist doch nicht Ihr Problem!" „No way!", bleibt der Beamte hart. „Was haben Sie damit zu tun, dass ich ein abgelaufenes pakistanisches Visum habe?" „No!" „Lassen Sie mich rüber zu den Pakistanis und das mit denen klären. Dann komme ich auch wieder zurück." „No!" „Seit wann sprechen Sie für die Pakistanis? Sollen wir den Pakistanis in der Botschaft in Delhi sagen, dass die Inder uns nicht nach Pakistan gelassen haben?! Ich möchte bitte Ihren Namen." Der stolze Grenzer wird unruhig. Er schweigt ein paar Sekunden. Dann sagt er: „Sie müssen mit meinen Kollegen sprechen, da hinten", und winkt uns durch. Die erste Hürde ist genommen. Erleichtert schreiten wir durch das weiße Eisengitter. Vor uns liegen 500 Meter auf indischer Seite und noch einmal so viele auf pakistanischem Boden. Autos fahren hier keine. Die einzige Bewegung besteht aus einer Karawane Kulis mit dunkelblauen Arbeitsanzügen, die stumm Kisten auf ihren Turbanen tragen. Sie bilden eine geisterhafte Kolonne. Auf den Boxen sind die Lettern „For Transit" gedruckt. Das ist also der indo-pakistanischer Handel. Ein wahrlich kleiner Grenzverkehr. Die Kisten-Kulis laufen in der Straßenmitte von Pakistan nach Indien. Die leeren Träger marschieren am rechten Straßenrand in umgekehrter Richtung an ihnen vorbei. Und wir mit Rucksack und Schlafsack gehen auf der linken Seite. Ein skurriler Anblick. Etwas mehr als zwei Jahre danach sollte die Geisterstraße unerwartet aufleben. Der indische Premierminister Vajpayee stieg im Februar 1999 in Neu-Delhi in einen Bus und fuhr über die Schlaglochpisten nach Amritsar und schließlich durch diesen Checkpoint. Damit eröffnete er die erste direkte Busverbindung zwischen Delhi und Lahore seit der Teilung des kolonialen Indiens. Es war einer der rührendsten Augenblicke in der indo-pakistanischen Geschichte, als die Kameras die Freudentränen der Angehörigen zeigten, die sich seit Jahr206

zehnten nicht gesehen hatten und nun zum Familienbesuch nach Pakistan fuhren. Auch umgekehrt waren die Busse voll. Nach zwei Kriegen zwischen den feindlichen Bruderstaaten schien Frieden eingekehrt zu sein. Vajpayee wurde in Lahore von dem damaligen pakistanischen Premierminister Nawaz Sharif begrüßt. Dabei fiel ihm Vajpayee etwas zu überschwänglich in die Arme. Sharif war sichtlich unwohl in seiner Haut. Denn er trug in dem Moment den Dolch schon im Gewand. Die Vorbereitungen für eine neue Invasion in der umstrittenen Kaschmir-Provinz waren in vollem Gange. Nur zwei Monate später überquerten muslimische Freischärler und pakistanische Truppen — ebenfalls getarnt als Freischärler - in der Gletscherregion bei Kargil die WafFenstillstandslinie (Line of Control). Die Inder setzten ihre Luftwaffe ein und konnten die Pakistanis im Sommer von den strategisch wichtigen Höhenzügen zurückdrängen. Die Welt hielt den Atem an. Anders als früher waren die beiden Staaten inzwischen Atommächte. Seit ihren Nukleartests im Mai 1998 droht jeder Krieg in der dicht besiedelten Region zur Apokalypse zu werden. Doch Neu-Delhi ließ sich nicht provozieren und verzichtete auf Gebietsgewinne. Neben anderen übten besonders die USA unter Präsident Bill Clinton Druck auf Pakistan aus, den Krieg zu beenden. Pakistan hatte sich bisher immer schulterzuckend darauf zurückgezogen, es handele sich nur um Rebellen, auf die es keinen Einfluss habe. Viele von ihnen seien religiöse Eiferer aus Afghanistan, die dort schon gegen die Sowjetrussen kämpften. Doch diesmal war eine Beteiligung der pakistanischen Armee zu offensichtlich. Der Strippenzieher hinter der Operation Kargil war niemand anderes als Musharraf. Als sein verhasster Premier Sharif unter internationalem Druck die demütigende Niederlage und ein Ende der Offensive eingestehen musste, war für den General die Zeit gekommen, seinen eigenen Aufstieg vorzubereiten. Im Oktober 1999 stürzte Musharraf die korrupte Sharif-Regierung und putschte sich an die Macht in Islamabad. Die Busse zwischen Delhi und Lahore fuhren zu der Zeit schon lange nicht mehr. Der Hauch von Normalität zwischen beiden Ländern hatte sich als kurzes Intermezzo entpuppt. Jemand scheint uns zu rufen. Shirani und ich drehen uns um zu einem Beamten im beigen Flachbau auf der rechten Seite der Geisterstraße. „Hierher!", winkt er ungeduldig. Fast wären wir an der eigentlichen Grenzstation vorbeigelaufen. Jedem von uns kneifen immer 207

noch 10 000 Rupees in der Hose. Wir nehmen zwei Formulare auf grobem Papier entgegen. Ein gelbes und ein blaues. An einem kleinen Schalter sitzt ein einfach gestrickter Beamter, der unablässig Shirani anstarrt. Wir füllen unsere Bögen aus. Der Mann schaut in mein Visum. Ich halte den Atem an. Seine Augen wandern über den großen Stempel. Er blickt auf und fragt plötzlich: „Sind Sie verheiratet?" W i r hatten uns zuvor die Geschichte zurechtgelegt, dass wir uns als Ehepaar ausgeben, falls es islamische Traditionen verletzen sollte, wenn wir ein gemeinsames Hotelzimmer nehmen (was sich später in Pakistan jedoch als völlig unnötig erwiesen hat). Doch den Grenzbeamten geht das nun wahrlich nichts an. Während er noch Shiranis Dokumente durchwühlt, verschwinde ich kurz auf der Toilette, ein paar Schritte weiter im gleichen Gebäude. Sorgfältig sortiere ich die zerknitterten Rupee-Scheine. „Sind Sie verheiratet?", höre ich den Mann nochmals fragen, diesmal etwas grob. „Ja", sagt Shirani, leicht zögerlich. „Nein", sagt er frech zurück. „Doch!" „Nein!" „Doch!" Die alberne Diskussion hält noch an als ich zurück zum Schalter komme. „Ich will Ihren Trauschein sehen!", fordert der Typ auf einmal. „Das war eine kulturelle Hochzeit in Sri Lanka", verstrickt sich Shirani. „Da gibt es keinen Trauschein." „Dann dürfen Sie hier nicht weiter." Ich kann nur ahnen, wie schwer es südasiatische Frauen vor den Behörden ihres Landes haben. Sie werden einfach nicht für voll genommen. Als der Mann mich sieht, schweigt er kurz. Er merkt, dass es in mir kocht. „Das kann Ihnen doch egal sein, ob wir verheiratet sind oder nicht!", schreie ich ihn an. „Oder darf man Indien nur als Pärchen verlassen? Wir könnten wildfremde Leute sein und heute trotzdem getrennt einreisen! Was soll der Quatsch?!" Wie zur Strafe schaut er noch einmal streng in meinen Pass. Dann kommt, was kommen musste: Er entdeckt das abgelaufene Datum auf meinem Visumsstempel. Um ein Haar hätten wir es geschafft. Er hatte schon den Stempel in der Hand, um ihn auf die Formulare zu drücken. Nun schaut der Sikh mit dem schwarzen Turban in Siegerpose aus seinem Guckloch am Schalter. „Falsches Datum!", tippt er mit dem Finger hartnäckig auf den Pass. „No entry!" Ich wiederhole meine Floskel von „Das ist doch ein pakistanisches Problem." Aber in der aufgeheizten Stimmung hilft das nicht mehr weiter. Zudem gerate ich ins Schwitzen, als ich an meinen Gürtel fasse: Mein Fotoapparat ist weg! Der muss noch in der Toilette sein. Ich renne hin. Nichts. 208

Jetzt gibt es kein Halten mehr. „Ich habe nur Soldaten die Toilette benutzen sehen", fauche ich einen anderen Beamten in der Halle an. „Jemand von ihnen hat meinen Fotoapparat gestohlen!" Der Tumult schwillt an. Ein höherrangiger Grenzsoldat wird vorgeschickt. In gepflegtem Englisch erkundigt er sich, was los ist. „Wir klauen keine Kameras", sagt er schließlich beleidigt. „Wetten, dass das Ding sich findet?" Er brüllt ein paar Kommandos und einige Männer setzen sich in verschiedene Richtungen in Bewegung. Wieder wende ich mich dem bockigen Bürokraten am Schalter zu. Gleichzeitig rede ich laut und schaue auch den hohen Militär an: „Wenn Sie uns wegen des Visums nicht durchlassen, verlange ich ein Telefon!" Der Typ am Schalter lacht. „Ich will ein Telefon! Ich kenne den Pressesprecher der pakistanischen Botschaft in Neu-Delhi. Den rufe ich jetzt an. Ich erkundige mich bei ihm, ob mein Visum ein Problem ist." Schweigen auf der anderen Seite. „Ich will sofort ein Telefon!", wiederhole ich. „Hier gibt's kein Telefon", meint der Obersoldat dreist. „Was, hier soll es kein Telefon geben?! Hier an der gefährlichsten Grenze Südasiens? Was machen Sie denn, wenn die pakistanischen Truppen hier einmarschieren? Das können Sie Ihrer Großmutter erzählen!" Wieder Schweigen. Ein Soldat muss sein Lachen unterdrücken. Der Mann am Schalter winkt mich heran. Plötzlich wirkt er sehr versöhnlich. „Ich habe eine Idee", sage ich kumpelhaft zu ihm. „Wir spielen den Pakistanis jetzt einen Streich." Als hätte er in diesem Moment denselben Gedanken gefasst, reicht er mir einen schwarzen, dünnen Stift. Zunächst probiere ich ihn auf leerem Papier aus. Dann male ich vorsichtig einen kleinen Strich in meine Pass-Seite. Auf einmal gilt mein Visum nicht mehr bis zum 5., sondern bis zum 15. Dezember. Wir müssen beide grinsen. „Mister", sagt der Schalterbeamte und schaut mich erwartungsvoll an. „Ich habe nicht viel Geld. Wir sind Studenten", wimmele ich unwirsch sein Bakschisch-Gesuch ab. „Mister", sagt er nochmals. „Wenn Sie hier auf der Straße zurückkommen, dann denken Sie daran, für mich ein Transistorradio aus Pakistan mitzubringen." „Ok, wird gemacht", sage ich in der Hoffnung, nie wieder diesen Checkpoint passieren zu müssen. Wie kleine Jungs nach einem gelungenen Streich schlagen wir unsere Hände zusammen. Jetzt greifen zwei Soldaten unsere Rucksäcke und durchforsten sie bis ins letzte Fach. Mein Fotoapparat ist immer noch weg. Ich hoffe nur, 209

dass sie nicht auch noch unsere Körper abtasten und wegen des harten Hosenbodens Verdacht schöpfen. Das wäre das endgültige Aus: Gestrandet zwischen Indien und Pakistan. Während die beiden Soldaten noch in der schmutzigen Wäsche wühlen, kommt der Obersoldat wieder herein. Auf den Lippen trägt er ein erhabenes Lächeln. In seiner rechten Hand hält er ein kleines schwarzes Päckchen. „Hier ist Ihre Kamera, Sir!", sagt er. „Ich habe Ihnen doch gesagt: Indische Soldaten sind Ehrenmänner. Wir stehlen nicht." Ich bedanke mich so gut ich kann. „Wissen Sie, wer die Kamera mitgenommen hat? Der Putzjunge. Er hat uns das Ding kurz darauf im Büro abgegeben." Stolz drückt er mir den Apparat in die Hand und verabschiedet sich mit einem Handschlag. Bald sind auch die Reißverschlüsse unserer Rucksäcke wieder zu und wir entlassen. Erschöpft trotten wir wieder diese leere Straße entlang. Das Ziel kommt langsam näher. Vor uns ragt ein weißes Betontor empor. Auf dem oberen Balken prangt die safran-weiß-grüne Trikolore mit Gandhis Spinnrad im Zentrum, die indische Nationalflagge. Drumherum sind große blaue Lettern in Sanskrit gepinselt. Ein paar Meter weiter entdecken wir durch das Tor hindurch bereits das Gegenstück: einen Betonbalken mit der grün-weißen Fahne und dem islamischen Halbmond. Auf dem Balken steht auf Englisch: „Lang lebe Pakistan." In der Mitte ist die Trennungslinie mit einem weißen Strich markiert. Auch diese paar Meter sind wie ausgestorben. Nur die blauen Kulis mit den Exportkisten auf dem Kopf setzen ihren Schweigemarsch fort. Dieser Fleck an der Narbe des Subkontinents sollte später zu einer makaberen „nationalen Sportstätte" werden. Auf beiden Seiten der Trennlinie bauten Inder und Pakistanis im Jahr 2000 Tribünen auf. Taxis karren nun die Menschen links und rechts der Grenze heran, ein paar dutzende, hunderte, tausende. Um 16 Uhr werden die Flaggen beider Länder eingeholt. „Beating the Retreat" nannten es die Briten. Hier am Checkpoint zwischen Amritsar und Lahore gleicht das Ritual seither dem Anpfiff eines Fußballländerspiels. In den Fankurven schwenken die einen weiß-grüne, die anderen safran-weißgrüne Banner, die Grenzbeamte zuvor verteilt haben. Bald folgen Klatschen und Sprechchöre: „Hindustan Murdabad! Pakistan Zindabad!" — „Tod fiir Indien! Es lebe Pakistan!" schallt es von Westen nach Osten. „Pakistan Murdabad! Hindustan Zindabad!", ertönt es zurück. Ein Familienspektakel der nationalen Selbstaufgeilung. 210

Der langjährige indische Außenpolitik-Experte V.P. Dutt fasste das Phänomen einmal griffig und selbstkritisch zusammen: „Das indo-pakistanische Verhältnis ist eine komplexe Mixtur aus nationalen Vorurteilen, aufgeblasener Psyche, verletztem Ego und offener Rivalität." Das Brot-und-Spiele-Programm fiir das Volk an der Grenzlinie täuscht leicht darüber hinweg, welch ernste Gefahr von beiden Atommächten ausgehen kann, sollte die gereizte Psyche einmal ausflippen. Vielleicht aber wird der nationale Ego-Clash ein wenig herunter gekocht, wenn politischer Hass in sportlichen Ehrgeiz umgelenkt und das Volk auf den Tribünen eingelullt wird. Wie der Sport Dämme brechen kann, erfahren Shirani und ich an unserer nächsten Hürde auf dem langen Weg nach Pakistan. Ein paar Schritte hinter der Trennlinie sitzt ein pakistanischer Beamter auf einem alten Eisenstuhl am Wegrand. Er stoppt uns und drückt uns einen Flyer in die Hand. Darin werden die Gefahren des DengueFiebers erläutert. Die Krankheit hat vor ein paar Wochen besonders in Delhi um sich gegriffen und mehrere Menschen hingerafft. Moskitos aus kühlem, schattigem Wasser wie in Regentonnen oder Klimaanlagen tragen den Virus in sich. Ausnahmsweise haben sie diesmal daher nicht die Armen, sondern Menschen aus dem höheren indischen Mittelstand getroffen. „Können Sie eine Impfung gegen Dengue-Fieber vorweisen?", fragt der Mann. „Haben wir nicht." „Dann dürfen Sie nicht nach Pakistan." Schon wieder entspinnt sich eine elende Diskussion. Diesmal prescht Shirani vor: „Es gibt überhaupt keine Impfung gegen Dengue-Fieber!" „Doch, ich brauche Ihren Impfbeleg." „Nein, gibt es nicht!" In der Tat ist eine Impfung gegen Dengue so abwegig wie gegen Malaria. Wir haben den Verdacht, dass der Mann nur Bakschisch für sich herausschlagen will. Dafür hat er sich den Gag einfallen lassen, der den einen oder anderen Touristen sicher einschüchtert. Das Eis wird erst gebrochen als der Mann Shirani fragt: „Woher kommen Sie eigentlich?" „Aus Sri Lanka." „Ah, Sri Lanka! Großartiges Cricket-Team! Ich bin immer für Sri Lanka, wenn es gegen Indien antritt. Gemeinsam machen wir sie fertig!" Shirani schwenkt auf das Thema geschickt ein, und es entwickelt sich ein längeres Fachgespräch über Cricket — eines der vielen Dinge, welche die Briten auf dem Subkontinent zurückgelassen haben. Ich setze mich ins Gras und versuche, mich zu entspannen. Von Cricket verstehe ich ohnehin nichts. 211

Bald ist das Dengue-Fieber vergessen. Der Mann sagt „Welcome in Pakistan", wünscht eine gute Reise und lässt uns ziehen. Im nächsten Häuschen, an der Passkontrolle, geht dann alles ganz schnell. Mein gefälschtes Visum fällt überhaupt nicht auf. Unser Gepäck wird nur schnell inspiziert. Es ist kurz vor Feierabend. Die Beamten wollen nach Hause. Ihnen ist nicht mehr nach langen Gesprächen zumute. „Welcome in Pakistan." W i r laufen noch ein paar Meter weiter zu einem anderen Flachbau. In der Bankfiliale tauschen wir ein paar Dollars in pakistanische Rupees. Nach geschlagenen sechs Stunden schreiten wir durch ein letztes Tor mit persischen Schriftzeichen endlich ins Freie. Dort steht gerade ein alter Pickup. Wir schwingen uns zu der Menschenmenge auf die Pritsche und fahren über Geröll und Schlaglöcher ins Grenzörtchen Wagah. Anschließend bringt uns ein Linienbus in die kulturelle und intellektuelle Hauptstadt Pakistans. In Lahore werden wir erneut von Rikschas umzingelt. Allerdings sind die Fahrer weitaus weniger aufdringlich und höflicher. Die zweitaktigen, qualmenden Motor-Rikschas bieten dem Passagier, anders als in Indien, einen geschlossenen Fahrgastraum mit einer kleinen Klapptür aus Kunststoffbezug. Die Frauen sollen geschützt und dem Straßenvolk unsichtbar bleiben. Viele Rikschas, wie Busse und Lastwagen, sind kunstvoll bemalt mit knallbunten Symbolen, Geschichten und Schriftzügen. Manche Trucks tragen holzgeschnitzte Ornamentetagen als Schürze oder Dachschmuck. In einem kleinen Hotel nahe dem Bahnhof lassen wir erschöpft die Rucksäcke fallen. Doch noch einmal schießt Adrenalin durch unsere Adern, nämlich im Restaurant im Erdgeschoss der Pension. Als ich mich vom Stuhl erhebe, rasseln sämtliche indischen Rupee-Scheine an meinen Hosenbeinen herunter und verstreuen sich auf dem Boden. Die Gäste des Restaurants schauen neugierig auf das unbekannte Geld. Hastig sammele ich die Scheine wieder auf. Doch zum Glück ist das Licht schummrig und Details auf Distanz schwer zu erkennen. Schon bald sind die Kneipengäste wieder in ihr Kartenspiel vertieft. Wenn das am Grenzübergang passiert wäre! An diesem Tag hatten wir mehr Glück als Verstand. Am nächsten Morgen treffen wir drei junge Männer, Mitte zwanzig, auf der Straße. Mit ihnen laufen wir durch die quirlige Metropole, die einst Regierungssitz der Moghulen war und seit mehr als tausend Jahren Hauptstadt des Punjab. Daher stammen die zahlreichen Bau212

werke in verschnörkelter Architektur bis hinein in die Kolonialzeit. Dazwischen lassen ausladende Parks und Gärten Luft zum Atmen. Amritsar verblasst trotz seines Goldenen Tempels gegenüber dieser Stadt. Einer der drei Studenten stellt sich mit dem Namen Zia vor. Uber seinen Jeans trägt er ein dunkles Sakko. Als Mitglied einer kommunistischen Jugendorganisation, wie er sagt, fragt er mich interessiert nach dem Zusammenwachsen zwischen West- und Ostdeutschland. Er selbst würde sich Ahnliches auch auf dem Subkontinent wünschen. „Die Grenze zwischen Indien und Pakistan ist künstlich und von den Menschen nicht gewollt. Das war eine rein politische Entscheidung zwischen vier Männern: Nehru, Gandhi, Jinnah und Mountbattan. Das Volk war nur wieder der Leidtragende, wie so oft in der Geschichte. Wir in unserer Jugendorganisation und linke Parteien haben viele Verbindungen zu Gleichgesinnten in Indien, mehr als ihr euch vorstellen könnt." Gegenüber dem Fort und nahe dem Ehrengrabmal der Sikhs schreiten wir durch eines der vier Portale der Badshahi-Moschee. Der rosarote Sandsteinbau wurde 1676 unter dem Moghul-Herrscher Aurangzeb fertiggestellt und ist eine der größten islamischen Moscheen der Welt. Vor uns öffnet sich ein gigantischer Hof, in dem sich mindestens 60 000 Gläubige auf einmal gen Mekka beugen können. „Siehst du", meint der Politikstudent und schaut gegen die Sonne auf die riesigen Zwiebelkuppeln aus weißem Marmor. „Das ist der Stoff, aus dem die Regierenden die Legitimation unseres Staates ableiten. Sie nutzen die Religion, um sich von Indien abzugrenzen. Dabei versuchen sie, den Widerspruch zu verdrängen: Trotz der Teilung hatten sich mehr Muslime für Indien als für Pakistan entschieden." In der Tat blieben etwa 50 Millionen Muslime dem multi-religiösen Staat Indien treu. Dennoch hatten einige Spinner die Idee, sogar das Taj Mahal aus Agra abzutragen und in Pakistan wieder aufzubauen, nur weil der Bauherr ein muslimischer Herrscher war, Shah Jahan. Das Wahrzeichen Indiens entstand übrigens im gleichen Jahrhundert wie die große Moschee in Lahore. Als „muslimisches Bauwerk" sollte das Taj in einem „muslimischen Staat" stehen, so ging die Vorstellung von ethno-national homogenen Gebieten. Eigentlich hatte Pakistans Staatsgründer Jinnah nach der Ausrufung des Staates paradoxerweise ein multi-religiöses Konzept vor Augen, das Indien glich. In der Eröffnungsansprache vor der verfassungsge213

benden Versammlung am 11. August 1947 überraschte er mit den Worten: „Ihr seid frei, ihr seid frei, zu euren Tempeln zu gehen, ihr seid frei, zu euren Moscheen zu gehen und zu jedem anderen Gotteshaus in diesem Staat Pakistan." Alle sollten sich gleichermaßen als Bürger begreifen. Jinnah nannte sich plötzlich sogar Generalprotektor der hinduistischen Minderheit in Pakistan, ernannte einen Hindu als Minister und rief die in Indien verbliebenen Muslime dazu auf, gute indische Staatsbürger zu werden. Doch Jinnahs Nachfolger sollten den Islam bald nutzen, um das Legitimationsvakuum des jungen Pakistan zu füllen. Das hat bis heute radikalen Islamisten Auftrieb gegeben. Wenige Monate nach jener Rede starb Jinnah an Tuberkulose. Die tödliche Krankheit war sein bestgehütetes Geheimnis. Hätte man dies ahnen können, meinte später der britische Vize-König Mountbattan, hätte er der Teilung Indiens „höchstwahrscheinlich" gar nicht erst zugestimmt. Schräg gegenüber der Badshahi-Moschee, auf der großen Wiese des Iqbal-Parks, ragt das schlanke Monument empor, das an den politischen Ursprung der Pakistan-Idee erinnert: Das Minar-i-Pakistan (Pakistan-Säule). Der phallusartige Betonturm wurde 1960 zum zwanzigjährigen Gedenken an die Pakistan-Resolution errichtet, die Jinnahs Muslim-Liga verabschiedet hatte. Zwar kommt in der Resolution mit keinem Wort Pakistan vor, doch die Zielrichtung war klar gesteckt: Die Liga wollte politische Selbstständigkeit für „die indischen Muslime." Es ist bezeichnend, dass die Gedenktafeln aus Marmor am Fuße des Minar-i-Pakistan Äußerungen des recht säkularen, Schweinefleisch essenden und Alkohol trinkenden Jinnah zusammen mit Koranpassagen zitieren. Derjenige, der zu Lebzeiten von religiösen Eiferern als Ungläubiger verdammt wurde, ist zu einer Art islamischer Heiliger aufgestiegen, und mit ihm ganz Pakistan als Inkarnation eines islamischen Staatsmodells. Nach zwei Tagen verabschieden wir uns von Zia und seinen Freunden und machen uns auf den Weg in die Berge im Nordwesten. In Kalam, einem malerischen Bergdorf im obersten Zipfel des SwatTals, wird mir klar, dass Zias kritische Bemerkungen zwar nicht gerade dem Mainstream entsprechen, aber auch keine Einzelmeinung eines gestrandeten kommunistischen Idealisten sind. Womöglich liegt es am Alter, dass Jugendliche der gebildeten Mittel- und Oberschicht die Nase voll von den einengenden Grenzen haben, die Politiker ihnen setzen. Oder es liegt an Lahore, wo schon immer ein offener und 214

kritischer Geist wehte, wo sich Künstler zu alternativen Debatten treffen, wo Frauen mit offenem Haar und mit aufreizender Schminke durch die Straßen schlendern, ganz anders als zum Beispiel im islamisch-konservativen Peshawar an der afghanischen Grenze. Der Urlaubsort Kalam im Swat-Tal mit seinen massiven Holzhäusern, hohen Wäldern und schneebedeckten Berggipfeln ist nur ein Katzensprung entfernt von der umkämpften Frontlinie des geteilten Kaschmir. Unter strahlend blauem Himmel genießen wir die klare Höhenluft und den Ausblick, als uns erneut die Politik einholt. Zwei aufstrebende Wirtschaftsstudenten mit dicken Koffern spazieren auf uns zu. Sie sind aus Lahore, Anfang zwanzig und auffällig wohlgenährt. Shumail und Gohar sind für ein verlängertes Wochenende in die Provinz gefahren, die ihnen genauso wild vorkommt wie uns Fremden aus der Ferne. Was sie erzählen, klingt inzwischen fast vertraut: „Warum kann es nicht sein wie in West- und Ost-Deutschland, wo die Menschen zusammenkommen? Schließlich schauen wir die gleichen indischen Filme und himmeln die indischen Filmstars an. Und Inder hören unsere Songs. Wir haben Jahrhunderte zusammengelebt. Es waren die Briten, die uns getrennt haben", sagt Gohar. Pakistanis brauchen für die indischen Filme aus der Kinoschmiede Bollywood keine Untertitel. Sie sprechen grundsätzlich die gleiche Sprache: Hindi beziehungsweise Urdu. Nur schreiben Inder in Sanskrit-Schrift und Pakistanis in persischen Buchstaben. Gohars Freund Shumail schimpft: „Wir haben die Nase voll von der Teilung! Das ist doch nur ein Krieg der Regierungen." Er verlangt sogar eine Volksabstimmung darüber, ob die Grenze zu Indien geöffnet werden sollte. „Die meisten wären bestimmt dafiir, außer den Extremisten." In die pakistanischen Politiker haben die beiden kein Vertrauen. Sich selbst bezeichnen sie als „nicht besonders religiös". Auch ihre Politiker hätten mit dem Islam eigentlich nichts zu tun, finden sie. „Wir sind sie leid. Unser Staat ist in den Händen korrupter Feudalherren. Nur rund zweitausend Leute herrschen über das Land wie Diktatoren", sagt Shumail und schwenkt seinen Arm über die sonnigen Berge in Richtung Islamabad. Freilich denken nicht alle wie die beiden Studenten. Andere wollen Grenzen vertiefen oder neu schaffen. Das wird klar, als wir auf einem Polizei-Pickup per Anhalter talabwärts fahren. Am Wegrand steht auf einigen Felsen in weißer Urdu-Schrift geschmiert: „Wir wollen die 215

Sharia", oder „Für ein unabhängiges Swat". Das Tal genoss bis 1969 tatsächlich eine Art Souveränität und wurde erst darauf pakistanische Provinz. Viele Paschtunen aus Afghanistan siedelten hier, und die meisten Einwohner des Swat sprechen heute das in Afghanistan übliche Pushto statt Urdu. Das Tal sollte Jahre später Schlagzeilen machen als erstarkende Islamisten-Hochburg, wo Lehrern gedroht wird, die in gemischten Klassen unterrichten und sich Mädchen ohne Gefahr kaum noch ohne Kopftuch auf die Straße wagen können. Als wir durch die Serpentinen des Tals kurven, durch Dörfer, deren Häuser mit qualmenden Kaminen eng an den Felswänden kauern, muss ich an die andere Seite der Grenze denken. Der Händler, der ein paar Schritte von meinem Haus in Neu-Delhi entfernt Kleinkram verkauft, wurde im heutigen Pakistan geboren, im historischen Multan. Ich gehöre inzwischen zu seinen Stammkunden im kleinen Stadtviertel Jor Bagh, und mit der Zeit kamen wir ins Gespräch. Eines Tages bot er mir einen kleinen Holzhocker in seinem Shop an und begann seine eigene Geschichte der Teilung zu erzählen: „Es war im August 1947. Unsere muslimischen Nachbarn hatten uns noch zum Bahnhof gebracht und uns geholfen, unsere Sachen zu tragen. Ja, wir haben sie immer zu Diwali [dem hinduistischen Lichterfest] eingeladen. Wir haben immer zusammen gespielt. In jenem Sommer versprachen sie, auf unser Haus aufzupassen. Denn wir dachten alle: Das wird nicht lange dauern, wir kommen bestimmt bald zurück. Fast alles, was wir besaßen, haben wir hinter uns gelassen. Noch sechs Monate lang haben wir mit unseren muslimischen Nachbarn Briefe geschrieben. Doch dann brach der Kontakt ab. Die Teilung war besiegelt." Nandlal Khatter sprach über die traurigen Erinnerungen mit einem warmen Lächeln und einer sanften Stimme. Seine weißen Haare hatte er quer über die breite Stirn gekämmt, ein paar Strähnen fielen unter den Rand seiner großen Plastikbrille. Ich erschrak fast, als er mir sagte, er wähle die hindu-nationalistische BJP und sei seit 1948 in deren radikalen Kulturorganisation RSS Mitglied. Doch er war fest überzeugt, die BJP wolle den Muslimen in Indien nichts Böses. Dafür jage sie den Herrschern in Pakistan Furcht ein. Anders als die säkulare Kongress-Partei, die in der Tradition Nehrus und Gandhis steht, sei die BJP stark und nicht so zerstritten. Damit hatte er zu der Zeit wohl Recht. „Auch in Delhi habe ich muslimische Freunde", betonte er wie zu seiner Rechtfertigung. „Sie kommen zu Diwali und wir be216

suchen sie zum Fastenbrechen während des Ramadan." Die Schuldfrage der Teilung war für Khatter leicht gelöst: „Nehru und Jinnah haben uns gespalten. Jeder von ihnen wollte Premierminister werden. Keiner hatte das Land im Kopf, nur den eigenen Thron." Der Alte goss mir schwarzen Tee in ein winziges Glas und gab einen Schuss Milch dazu - auch eine Tradition, welche die Briten hinterlassen haben. Dann fuhr er fort: „Hindus und Muslime werden sich nicht ändern. Die Politiker müssen sich ändern, dass etwas geschieht. W i r haben viele Reisende aus Pakistan getroffen. Sie alle wollen, dass die Grenze endlich durchlässig wird." Dann machte er eine Pause, legte seinen Kopf leicht zur Seite und lächelte: „Ich werde das nicht mehr erleben. Aber ich glaube, dass meine Kinder eine offene Grenze sehen werden." Nur drei Jahre später lagen sich Indien und Pakistan wieder in den Haaren, wie oben bereits erwähnt. Die Operation Kargil 1999 löste nach 1965 und 1971 den dritten Krieg zwischen den feindlichen Bruderstaaten aus. Im Frühjahr 2002 standen sie dann am Abgrund des vierten Krieges, nachdem islamische Terroristen im Dezember 2001 einen blutigen Anschlag auf das Parlament in Neu-Delhi verübt hatten. Die Attentäter wurden durch Hintermänner aus Kaschmir und Pakistan gestützt, die wiederum Verbindungen zu Osama bin Laden hatten. Eine Eskalation konnte durch internationalen Druck nur um Haaresbreite verhindert werden. Doch eine Million Soldaten standen sich bis an die Zähne bewaffnet gegenüber. Erst seit 2003 und besonders nach dem überraschenden Sieg der Kongress-Partei bei den Parlamentswahlen 2004 stehen die Signale wieder auf Entspannung. Ein Nerven zerreibendes Wechselbad. Khatters Traum und der der pakistanischen Jugendlichen aus Lahore jedenfalls scheint weit entfernt. Die Grenze wurde während der Kämpfe immer wieder völlig geschlossen. Einwohner der grenznahen Orte flohen auf der Höhe der Spannungen in sicherere Gebiete. Die wenigen Händler und Geldwechsler, die von dem spärlichen Grenzverkehr auf der Geisterstraße zwischen Wagah und Attari lebten, mussten ebenfalls einpacken. Hotelbesitzer saßen in leeren Häusern. Amritsar, das „Tor Indiens", war wieder eine Sackgasse.

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Im Tal der zitternden Erde kämpfen die „Urenkel Alexanders" ums Überleben Grenzgebiet Pakistan/Afghanistan, im Dezember 1996 Abgelegene Grenzregionen sind manchmal wie Mauerspalten. In ihrem Schutz gedeihen seltene Pflanzen, die der raue Wind in der offenen Ebene längst hinweg geweht hätte. An der Grenze zwischen Pakistan und Afghanistan, hoch oben in den unwirtlichen Bergen, hat ein ganz besonderes Völkchen überlebt. Gerade dreitausend Menschen sind es noch gewesen, die sich Kalash nennen. Sie wohnen in drei kleinen abgelegenen Tälern in der North-West Frontier Province. Da sie keine Muslime sind, nennen sie die Pakistanis Kafirs, Ungläubige, oder Black Kafirs, weil sie schwarze Kutten tragen. Sie bauen Wein an und behaupten kühn, von den Truppen Alexanders des Großen abzustammen. Der mazedonische König überquerte im Jahr 327 v.u.Z. den Hindukusch, nachdem er das mächtige Reich der Perser unterworfen hatte. Dass Alexanders Soldaten auf dem langen Marsch aus Europa nicht nur kämpften, sondern auch Kinder zeugten, ist plausibel. Dass die Kalash tatsächlich direkte mazedonische Nachkommen sind, ist zweifelhaft. Das Rätselraten über ihre Herkunft hat jedoch eine mystische Aura um den Stamm gelegt, die viele Reisende fasziniert hat. Vielleicht verdankt das lebensfrohe Bergvölkchen diesen Legenden sogar sein Uberleben. Dennoch haben moderne Einflüsse und missionarische Mullahs ihre Zahl rasant schrumpfen lassen. Inzwischen sind die Kalash und ihre Kultur akut vom Aussterben bedroht. Die Reise zu den letzten Kalash beginnt in der Flüchtlings- und Schmuggelhochburg Peshawar. Der Ort, dessen Name aus der Moghul-Ara „Grenzstadt" beutet, ist zur Drehscheibe des Handels und der Menschenströme aus dem benachbarten Afghanistan geworden. Nur knapp vier Monate vor unserer Fahrt, im September 1996, hatten die Taliban Kabul erobert und damit ihren Sieg über fast ganz Afghanistan gefestigt. Nur die Nordallianz unter dem cleveren Kriegsherrn Ahmed Schah Masoud* hält weiterhin einen Zipfel in * Masoud starb am 9. September 2 0 0 1 an den Folgen eines Attentats. Zwei Tage vor den Anschlägen in New York und Washington hatten sich die Atten-

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den rauen Bergen des nördlichen Hindukusch. W ä h r e n d sich einige Afghanis von den Taliban endlich Frieden und Stabilität erhoffen, flüchten andere nach Peshawar. Sie treffen dort auf Millionen von Landsmännern und -frauen, die schon seit dem Bürgerkrieg Ende der 1970er Jahre und dem Einmarsch der sowjetischen Truppen Afghanistan den Rücken gekehrt haben. Die radikal-sunnitischen Taliban-Mullahs speisen ihre Dogmen aus den Koranschulen Pakistans. Ihre politische Unterstützung kommt zum großen Teil aus dem Geheimdienst und Teilen des politischen Establishments in Islamabad. Nicht zu vergessen ist, dass die Vereinigten Staaten, China und arabische Länder die islamischen M u jaheddin — darunter die Taliban und die Stammesführer der Nordallianz — im K a m p f gegen die sowjetischen Besatzer jahrelang förderten, finanzierten

und mit Waffen ausstatteten. Die U S A und andere west-

liche Länder pflegten auch enge zivile Kontakte wegen lukrativer Ö l geschäfte und Pipelineplänen. Ideengeschichtlich sind die Taliban aber vor allem ein Ergebnis der zunehmenden Instrumentalisierung des Islam als Ideologie-Ersatz für das gescheiterte muslimische Homeland Pakistan nach dem T o d von Staatsgründer Jinnah. Mehrere Regierungschefs -

in jüngerer Zeit

besonders stark Benazir Bhutto und zuvor ihr Vater Zulfiqar Ali — haben die eifernden Gotteskrieger frei walten lassen und ftir ihre politischen Zwecke instrumentalisiert. Damit wollten sie von eigenem Versagen und Korruption ablenken sowie die regionalen Grabenkämpfe im Land übertünchen. Jetzt haben sich die radikalen Islamisten verselbstständigt und besitzen einen idealen Hinterhof zum Unterschlupf und Training von Terroristen wie Osama bin Laden. Spätestens am 11. September 2 0 0 1 sollte auch die W e l t diese Auswirkungen spüren - und Pakistan seine Politik bereuen. Das Land wird die Geister, die es rief, nicht mehr los. „Kabul, Kabul!", rufen die Fahrer auf dem Busbahnhof von Peshawar zwischen einem Gewühl von Händlern, die ihre Waren anbieten. Die Grenze über den legendären Khyber-Pass ist offen und voller Leben. Kontrollen gibt es kaum. Ein krasser Unterschied zu der Trennlinie zwischen Indien und Pakistan. Z u m Engagement der pakistanischen Regierung gehören auch der Straßenbau und ein neues Telefonnetz.

täter als Fernsehjournalisten ausgegeben. Ihren Sprengstoff hatten sie in der Kamera versteckt, der neben Masouds Schädel explodierte.

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Wer nach Afghanistan anruft, muss keine Landesvorwahl wählen. Beide Staaten sind verdrahtet. In der Durchgangsstadt Peshawar liegen an Straßenecken und Marktgassen billige Koffer und Taschen zum Verkauf aus. Moscheen und Teestuben prägen das Stadtbild. Frauen lassen sich hier, anders als in Lahore, seltener blicken und nur in vollständiger Verhüllung. Ihre Augen schauen durch ein kleines Netz ins Freie. Ein stämmiger Teppichhändler hat zwei Läufer als Wandschmuck ausgehängt, die mehr über die gegenwärtige Alltagskultur der Region aussagen als eine Stunde Plausch beim Tee: Zu sehen ist die Landkarte Afghanistans, gespickt mit Raketen, Gewehren, Panzern und Flugzeugen. Eine Motor-Rikscha ist bemalt mit einem bluttropfenden Messer und einem blutüberströmten Kino-Helden mit langen schwarzen Haaren und grimmigem Blick. Seit Jahrhunderten ist die geschundene Region Aufmarsch- und Durchmarschgebiet größerer Mächte gewesen, von arischen Stämmen über Alexanders mazedonischer Armee oder Dschinghis Khans mongolischen Horden bis zu Arabern, Turkvölkern und Persern. Zwischen Russen und Briten tobte ein langer kolonialer Kampf um die Ebenen und Gebirgszüge, die sie als strategische Pufferzone betrachteten. Das Tauziehen beider Mächte um Afghanistan ging als Great Game in die Geschichte ein. Eine Art eigenes Machtzentrum entwickelte sich nur kurz in der Blütezeit des Landes zwischen dem 15. und dem 18. Jahrhundert. Sogar zwei Dynastien, die im indischen Delhi regierten, stammten aus dem usbekisch-afghanischen Raum: Die Lodhis (1451—1526) und die Moghulen (1526-1858). Doch die goldenen Zeiten sind lange vorbei. Wieder ist die Region in sich befehdende Stämme zerrissen und Spielbrett für politische Experimente von außerhalb geworden. Eingekeilt zwischen den Wirren der Weltpolitik fristen die Kalash in ihren Bergnischen ein friedliches und selbstgenügsames Leben. Ein Blick aus der Fokker-Maschine auf dem Flug in die Provinz Chitral lässt den Bruch mit der turbulenten Ebene um Peshawar nach vollziehen. Der 3 118 Meter hohe LowariPass schneidet die Bergstämme vom Rest des Landes ab. Im Winter sind die steilen Gipfel meist unpassierbar. Durch das Bullauge der Flugkabine sehen wir einen dünnen, braunen Bandwurm, der sich die verschneiten Berghänge entlang schlängelt. Der schmale Matschweg ist die einzige und Atem raubende Verbindung zwischen Peshawar und Chitral. 220

In der Distrikt-Hauptstadt Chitral müssen Shirani und ich uns auf der Polizeiwache registrieren lassen. Die Regierung furchtet um die Sicherheit der Reisenden. In den Bergen der North-West Frontier Province, sagt man, reichen die Gesetze des Staates nur bis zu den geteerten Hauptstraßen. Danach gilt Stammesrecht. Besonders seitdem viele Afghanen während des Bürgerkriegs die Grenze passierten, haben sich Raubüberfalle gehäuft. Ich blättere in dem großen, abgegriffenen Buch auf dem staubigen Schreibtisch in der Wachstube: In der Liste sind für dieses Jahr nicht ganz 3 000 Touristen vermerkt. In den schmalen Straßen brummen alte Jeeps und durchschneiden in Abständen die tiefe Stille im Tal. Die Luft ist kristallklar. In der Ferne glänzen weiße Berggipfel. Vor rustikalen Holzhäusern hängen blutig-frische Innereien und Rümpfe von Bergziegen, gehörnte Büffelköpfe und buschige Fellreste. In anderen Shops sind verstaubte, alte Holzgewehre zu haben, schwere Trinkkrüge oder flauschige Schals. Die Männer tragen dicke Anoraks oder haben sich eine Wolldecke umgeworfen. Ihren Kopf schützt die typische flache Pakol-Mütze mit gerolltem Rand. Mit einem engen Minibus fahren wir nach Süden zum Ort Ayun. Von dort öffnen sich die drei Täler der Kalash gen Süden und Südwesten: Rumbur, Bumburet und Birir. Die Namen klingen fast wie die Sagendörfer, in denen Bilbo Beutlin in Tolkiens „Herr der Ringe" seine Abenteuer bestehen muss. Die gedrungenen Häuschen aus rohem Stein, Lehm und dicken Holzbalken zwischen den rauen Berghängen bestätigen die Parallele. Mehrere Stunden müssen wir in Ayun warten, bis sich ein Jeep füllt und ins Bumburet-Tal fährt. Kinder rösten saftige Lammspieße auf einfachen Gaskochern für die wartenden Reisenden. Auf der Pritsche eines robusten Allrad-Pickups kriechen wir langsam ins Tal. Ich habe schon zahllose Angst einflößende Serpentinenstrecken erlebt mit kantigen Rändern, an denen die Reifen nur einen Finger breit am Abgrund entlang rollen. Doch die Geröllstraße durch den Bumburet-Canyon schlägt alle Vergleiche. Wir wissen nicht, ob wir den Atem aus Anspannung oder Faszination anhalten sollen. Senkrecht herab fällt der Hang. Die Straße ist in die Felswand gefräst und windet sich als längs aufgeschlitzter Tunnel empor. Uber unseren Köpfen hängen graue Granitplatten. Dazwischen klaffen schwarze Spalten. Unten, eine Handbreit rechts neben den staubigen Reifen, setzt sich die Felswand senkrecht fort. Der Fahrer schneidet waghalsig 221

die Kurven. Die warmherzigen Männer auf der Pritsche diskutieren, lachen und blödeln. Schließlich flacht das Bumburet-Tal ab. Grüne Büsche, trockene Bäume und Felder fressen sich in das Grau der kargen Felsen. An den Hängen drängen sich Blockhütten dicht aneinander. Die Dächer der unteren dienen oft als Terrassen der oberen. Im Dörfchen Brun springen wir von der Pritsche. Ein knapper Tagesmarsch entfernt talaufwärts liegt Afghanistan. Quartier beziehen wir bei dem Kalashi Noor Shahidin. Seinen alten Flachbau aus losen Steinplatten und Holz hat er zur Pension ausgebaut. Getauft hat er sie auf den Namen Kalash Guest House. In der Mitte der kleinen Privatstube steht ein flacher gusseiserner Holzofen. Das Abzugsrohr verschwindet in einem Loch im Dach. Trotzdem ist die Luft voller Qualm. Auf der heißen Herdplatte, neben der Teekanne, liegt das leckere Fladenbrot mit eingebackenen Walnüssen. Der Hüttenboden besteht aus brauner Erde. Shahidins junge Frau Fatima wärmt ihr fünftes Baby im Arm. In dem kleinen Raum ohne Fenster wohnt auch die Großmutter. Wir sitzen auf Betten aus Bast und auf Hockern um den heißen Ofen. Plötzlich klopft es an der Tür. Ein paar Dorfbewohner haben sich versammelt und wollen die Fremden sehen. Sie haben gehört, dass ein Journalist dabei ist. Berührungsangst haben sie nicht. „Wir sind froh, wenn sich Fremde für uns interessieren. In zwanzig oder dreißig Jahren sind die Kalash vielleicht nicht mehr da", meint Shahidin. „Wir haben schon immer alle Fremden willkommen geheißen. Fühlt euch wie zu Hause!" Aus der niedrigen Tür treten wir auf den Platz neben dem Blockhaus. Um uns herum hat sich eine Gruppe junger Mädchen versammelt. Im Kontrast zu den verschleiert grauen Musliminnen, die in Peshawar wie Schatten durch die Straßen ziehen, stechen die Kalasha durch Farbenfreude und kesse Neugier hervor. Auf ihren langen, stellenweise geflochtenen Haaren tragen sie knallbunte Bänder. Darin sind Knöpfe, Perlen, Münzen und Muscheln eingenäht. „Die Muscheln sind aus Indien geschmuggelt", sagt Shahidin. Um die Hälse der Mädchen baumeln rot-weiß-gelb-orangene Plastikketten in mehreren Schichten, zum Teil mit Perlen und vereinzelten Glöckchen. Am Körper tragen sie bunte Stickmuster und weite schwarze Kutten, die dem Stamm seinen Namen geben. Um ihre Hüfte schnüren sie meist ein rotes Band. Einige haben ihre Augen mit schwarzen Lidschatten geschminkt. In ihren Gesichtern sind bunte Punkte und Linien, un222

ter anderem mit Maulbeersaft gemalt. Ihre Haut, besonders um den Mund, ist mit gebranntem Ziegenhorn geschwärzt. Im Gegensatz zu ihren weichen Gesichtszügen sind ihre Hände oft rau, faltig und schmutzig. Die Augen der Mädchen wie der anderen Kalash variieren in verschiedenen Braun- und Grüntönen. Ihre Hautfarbe ist mitunter so hell wie die der Europäer. „Man sagt, dass unsere Vorfahren von Alexander dem Großen abstammen", gibt Shahidin die gängige Spekulation wieder. „Aber einen Beweis gibt es nicht." Nach Auskunft vieler Kalash stammen sie aus einem Ort Namens Tsiam. Aber niemand weiß mehr so recht, wo das liegen soll. Linguisten halten die Kalash für Nachfahren der indo-arischen Stämme, die hier im zweiten Jahrtausend vor der Zeitrechnung aufkreuzten. Tief in den Bergen haben sie sich als friedliche Überbleibsel einer größeren kriegerischen Stammesgruppe gehalten, die im Süden Chitrals und im Osten Afghanistans hausten. Die bunten Mädchen reichen auch mir als Mann die Hand zur Begrüßung. Sie fragen, woher wir kommen, wohin wir gehen und ob wir verheiratet sind. Sie schäkern und kichern wie Teenager überall auf der Welt. Einige haben sich schnell mit Shirani angefreundet. Shahidin zeigt auf ein einsames Haus, schräg oben am Rand des Dorfes. Als einziges ist es weiß verputzt. Die Wände zieren Zeichnungen: eine schwarze Bergziege, Blumen und Vögel. „Das ist das Menstruationshaus. Hier müssen die Frauen bleiben, so lange sie unrein sind. Männer sind dort streng verboten. Frauen, die zu Besuch hochgehen, müssen sich danach einer rituellen Waschung unterziehen", erklärt Shahidin. Dann richtet er seinen Arm noch weiter nach oben. „Und dort oben ist der Gebetsplatz mit dem Opfertisch für die Ziegen. Zu ihm dürfen nur die Männer." Ihr Gotteshaus sind die Felsen und Bäume. Inzwischen ist ein Freund Shahidins gekommen, ein gepflegter groß gewachsener Mann Ende dreißig. Wir setzen uns in die wärmende Sonne an einen kleinen Holztisch neben Shahidins Hütte. Faizi Khan betreibt die Pension Ishpadta Inn. Wie Khan selbst verbindet sie mehrere Welten miteinander: Ishpadta heißt die Begrüßungsformel der Kalash. Das Haus hat ein japanischer Designer entworfen. Die Kalash versorgen sich traditionell selbst und haben kaum Geld im Umlauf. So sind die kleinen Hotels oft die einzige, wenn auch spärliche Einnahmequelle. Khan beschäftigt sich nebenher mit der ausster223

benden Kultur der Kalash und ist dadurch zu einer Art HobbyLinguist geworden. Die Kalash geben die Stammesgeschichte mündlich an ihre Kinder weiter. Denn ihre Sprache besitzt keine Schrift. Mit Khans Hilfe versuchen Linguisten, die antiken Laute in arabische oder lateinische Buchstaben zu zwängen. Damit wollen sie zumindest ein Stück der bedrohten Kultur verewigen. Die religiösen Bräuche dagegen sind vergänglich. „Seit fünfzig Jahren haben wir keinen Priester mehr. Das ist ein kultureller Verfall", meint Khan, senkt seinen Kopf und nippt an einem Becher Rotwein. „Jeder ist gleich, und jeder ist sein eigener Lehrer. Einige Geschichten und Bräuche gehen verloren. Aber an das Wichtigste erinnern sich wenigstens noch alle, wie an die Feste." Die Kalash kennen nur einen einzigen Schöpfer, den sie Khodai nennen. Bali Mahin ist sein Prophet. Khan vergleicht ihn mit Moses. Denn auch M a h i n verfasste Gebote, die er den Kalash jährlich spektakulär ins Gedächtnis ruft. „Zu dieser Jahreszeit kommt Bali Mahin auf seinem Pferd vom Himmel geritten — und die Erde zittert. Nach drei Stunden steigt er wieder in den Himmel auf — und erneut wird die Erde beben", erklärt Khan ruhig. Seine großen, braunen Augen blicken bedeutungsvoll. „Das geschieht spätestens in der Nacht zum 22. Dezember." Das wäre ja heute Nacht, schießt es mir durch den Kopf. Dann werde ich schnell wieder abgelenkt von Khans Worten und schreibe weiter in meinem Notizblock. Vom 7. bis 22. Dezember feiern die Kalash Choimus, eine Art Erntedankfest. Sie loben Khodai für das Getreide, das Obst und die Ziegen, die sie für den Winter sammeln und züchten konnten. „Das ist für uns das größte Fest, wie bei euch Weihnachten", vergleicht Khan. Uberhaupt zieht er gerne Parallelen zum Christentum in Abgrenzung zum Islam einerseits und um dem Eindruck entgegen zu wirken, ungläubig zu sein. Khan verweist auf das Alte Testament und leitet davon den Brauch der Kalash ab, ihre Häuser von innen schwarz zu tünchen. „Unser Kalender geht nach dem Sonnensystem, wie bei den Christen." Muslime, Buddhisten, Sikhs und Hindus, die vorherrschenden Religionen Südasiens, richten dagegen ihre religiösen Festtage nach dem M o n d . Andererseits tragen die Kalash muslimische Namen, und die Untergötter, denen sie regelmäßig Ziegen opfern, erinnern eher an den Hindu-Glauben oder an antike griechische Gottheiten. Viele Kalash sind zum Islam konvertiert. „Muslimische Missionare

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kommen in Gruppen ins Tal. Sie versprechen unseren Schäfern und Bauern freies Essen und ein neues Haus. Sie kommen aus Karachi von der religiösen Organisation Dawat Koran und sogar aus Saudi Arabien." Während wir sprechen, knackt in der Ferne der Lautsprecher am Minarett der kleinen Moschee am Rand des Dorfes. Der Muezzin ruft zwischen den steilen Bergwänden zum Gebet. Bekehrte, einheimische und aus Afghanistan geflüchtete Muslime sind den Kalash in den drei Tälern Rumbur, Bumburet und Birir bereits zahlenmäßig überlegen. Viele Muslime heiraten die hübschen KalashMädchen. Diese streifen dann ihren bunten Schmuck und die wallende schwarze Kutte ab und hüllen sich in einen grauen Schleier. Wer von den Kalash zum Islam übertritt, wird von ihnen nicht mehr als Mitglied des Stammes betrachtet. Die Religion bestimmt auch die kulturelle Identität. „Im Gegenzug können Muslime keine Kalash werden", meint Khan. „Ihre Glaubensbrüder würden sie umbringen." Trotzdem leben Muslime und Kalash in dem abgelegenen Tal friedlich zusammen. Der lebensfrohe Dorfpolizist von Brun ist Muslim und hat sich zu uns an den kleinen Holztisch gesetzt. Er hält schonend seinen linken Arm, den er sich beim Jagen gebrochen hat. Sultan Baig ist einer von vielen, die den alten Stamm preisen: „Die Kalash sind so liebenswerte Menschen. Wer kann sie denn nicht mögen? W i r vertrauen uns und feiern miteinander. Wenn etwas im Tal gestohlen wird, dann kommen die Diebe von draußen, von Peshawar, aus dem Punjab und aus Afghanistan. Die Kalash können gar nicht lügen." Auch mit seinen Kalash-Kollegen im Revier kommt er gut zurecht. Von den sechs Polizisten sind zwei Kalash. In Brun, so sagt Baig, wohnen 800 Menschen, davon 500 Kalash und 300 Muslime. „Kinder kriegen beide Seiten genauso viele", lacht er. Die Sonne scheint durch die kristallklare Bergluft auf die apfelroten Wangen in seinem runden Gesicht. Mit dem Funkgerät in der Hand lehnt sich Baig zufrieden zurück in den Holzstuhl vor Shahidins Pension und plaudert mit den anderen Dorfbewohnern, die noch dazu gekommen sind. Auf dem Dorfplatz über uns am Hang haben schon die Tänze zum Choimus-Fest begonnen. Die bunten Plastikketten wippen im Rhythmus, wenn die Frauen klatschen und singen. Sie formen einen Kreis um die tanzenden Männer, die Balladen rezitieren und Monstermasken tragen. Auch ältere Muslime sind zu dem Fest gekommen. An der Hand haben sie ihre Enkel mitgebracht. Dass die Frauen un225

verhüllt sind, frech und offen auf Männer zugehen, stört sie nicht. Sie sind Nachbarn, jeder kennt jeden beim Namen, ob Muslim oder Kalash. Es scheint, als sei das Tal ein multi-kulturelles Kleinod. „Ich habe viele muslimische Freunde", sagt Shahidin. „Einige trinken auch unseren Wein", grinst er wie ein Schelm, und windgesengte Falten durchfurchen sein Gesicht. Auf die Rebkunst sind die Kalash besonders stolz. Auch das nehmen sie zum Anlass, ihre Vorfahren bei den alten Griechen zu verankern. In Pakistan, wo Alkohol verboten ist, genießen sie ein heikles staatliches Ausnahmeprivileg: Sie dürfen Wein anbauen, trinken und (an nicht-Muslime) vertreiben. Mundiger Rose und Rotwein machen bei Festen in Bechern die Runde und versüßen das traditionelle Ziegenopfer. Eine Flasche mit einem abgeknabberten Maiskolben als Korken kostet etwa ein bis drei Euro, je nach Saison. Sie verkaufen den Wein an Touristen, eine der wenigen Geldquellen neben dem Hotelgeschäft. Die meisten Kalash produzieren ihr tägliches Essen selbst: Fladenbrot, Bohnen, Walnüsse und Ziegenkäse. N u r die Kuhmilch kommt inzwischen in Tetrapacks. Nahrhaftes Obst und Gemüse sind rar. Auch Reis wächst nicht auf dem trockenen Boden und landet selten im Kochtopf auf dem rußigen Gussofen in den fensterlosen Zimmern. Kalash kaufen und verkaufen kaum. „Einige Leute leiden an Fehlernährung", klagt Khan. Die häufigen Ziegenopfer - zu den drei großen Festen im Jahr, Beerdigungen und Hochzeiten — machen viele Familien arm. W e n n ihnen die Tiere ausgehen, müssen sie für Fleisch auf dem Markt teuer bezahlen. Etwa dreißig bis vierzig Euro kostet eine Ziege. Das ist viel Geld, wenn ein Hotelgast nur zwei Euro pro Nacht zurücklässt. Trotzdem haben Shahidin und sein Bruder Bhuttou Khan große Pläne: Kalash Continental heißt das wahnwitzige Projekt auf Kredit. In dem „Luxushotel" mit Satellitenfernsehen sollen die molligen Touristen aus dem Punjab und verwöhnte Ausländer das Bumburet-Tal aus Plüschsesseln genießen, für 16 Euro die Nacht. Bisher zeugt allerdings erst eine hässlich langgestreckte, orangefarbene Holzbaracke mit Blechdach von den ehrgeizigen Plänen. Immer mehr Talbewohner versuchen sich im Hotelgeschäft. Eine Menge Rohbauten entlang der groben Geröllstraße lassen erahnen, dass die Kalash-Kultur noch einen anderen Feind kennt — den Massentourismus. Die Kalash vermarkten ihre eigene Kultur. Bouthou Khan, zum Beispiel, hat in Peshawar einen Fotoapparat aus Japan erstanden. Damit knipst er gera226

de die tanzenden Mädchen während des Choimus-Festes. Die Bilder will er dann an die Wand des Kalash Continental hängen. Mit diesen Projekten machen sich die Kalash von der Außenwelt abhängig. Die islamischen Fundamentalisten in Peshawar und Kabul werden ihnen das Geschäft gründlich verderben. Die Terroranschläge von Extremisten in Pakistan auch gegen Ausländer sollten bald zunehmen. Mit dem brutalen Regime der Taliban und besonders nach dem 11. September rückte die Region wieder ins Rampenlicht der Weltöffentlichkeit. Als US-Bomber, die im Oktober 2 0 0 1 über die Köpfe der Kalsh hinwegflogen, die Taliban von der Macht in Kabul vertrieben, dachte kaum ein Tourist daran, die Gastfreundschaft der Stämme in der angrenzenden North-West Frontier Province zu testen. Die Kalash blieben auf ihren halbfertigen Hotels und einem Berg Schulden sitzen. Wenigstens macht die Regierung in Islamabad keine Anstalten, die Kalash zu bekehren. Sie möchte den Stamm als Touristenattraktion erhalten. Besonders die in Ungnade gefallene ehemalige Premierministerin Benazir Bhutto ist im Kalash-Tal sehr beliebt. Denn ihr Vater Zulfikar Ali begann in den 1970er Jahren, sich u m den Stamm zu kümmern. „Die Regierung hat uns neue Schulen und Wasseranschlüsse gegeben", sagt Hotelbauer Bhuttou Khan. Mittlerweile liegen Stromleitungen in den meisten Häusern aus Lehm, Holzplanken und Granitsplittern, außer in Brun. Die Talbewohner genießen neben dem Wein- auch ein Steuerprivileg und müssen nicht in die Armee. Die pakistanische Regierung, so sagen sie, hat sogar schon Missionare hinter Gitter gebracht, die sich in ihre Täler geschlichen hatten. Einige Kalash sind auch politisch aktiv. Shahidin hat vor ein paar Jahren fast einen Parlamentssitz in Islamabad erstritten, wie er stolz berichtet. Auch in der Regionalversammlung in Peshawar mischen die Kalash mit. Die Investitionen der Regierung in die Kalash-Täler haben aber auch kulturelle Folgen. In den neuen Schulen lernen Stammeskinder die Geschichte Pakistans und die Nationalsprachen Urdu und Englisch. D a s färbt auf die Identität ab: „Ich fühle mich in erste Linie als Pakistani, in zweiter Linie als Kalashi", sagt Bhutou Khan. Auch Faizi Khan stimmt zu: „Schließlich leben wir in Pakistan." Die Sonne hat sich hinter die Gipfel verkrochen, die lange Schatten ins Tal werfen. Noch immer tanzen Frauen und Männer im Kreis aus Anlass des Choimus-Festes. Leute sind aus den Nachbardörfern ange-

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reist. Die Feiertage finden in den Ortschaften versetzt statt, damit die wenigen Kalash auch in die anderen Täler zu den Festen reisen können. Shirani und ich verabschieden uns von Bhutou und Faizi Khan und gehen im Tal spazieren. Unterwegs werden wir auch von muslimischen Familien spontan an den warmen Ofen in ihre Hütte geladen. V o n keinem kommt ein verächtliches W o r t gegen die „ungläubigen" Kalash. Die Häuser der Muslime sind ähnlich gebaut, drinnen jedoch mit Decken ausgelegt und sauberer. Morgen ist der 2 2 . Dezember. Bis dahin soll der Prophet Bali Mahin ins Tal geritten kommen und wieder aufsteigen. Am späten Abend spazieren wir im Mondlicht über die Felder und auf den schmalen Ziegenpfaden der Berghänge. Nachts schlafen wir in Shahidins Guest House fest wie ein Stein. Am nächsten T a g wandern ins Nachbardorf Krakal. D o r t sind ein österreichischer und ein australischer Rucksacktourist

abgestiegen.

W i r hatten sie wenige Tage zuvor nach unserem Flug in Chitral getroffen und uns verabredet. Was die beiden ahnungslos berichten, versetzt uns einen Schlag. Sie haben sich nicht lange mit den Kalash unterhalten und wissen nichts von Bali Mahin, von seinen Geboten und der Legende mit dem Pferd. Als wir am Ofen zusammensitzen und geröstetes Walnussbrot essen, fragt der österreichische Jurastudent beiläufig: „Habt ihr gestern Nacht auch das Erdbeben gespürt?" Shirani und ich schauen uns ungläubig an. „Was ist los?", fragt der Österreicher. „Wir haben

nichts gemerkt", antworte ich

knapp.

„Doch", bestärkt der Australier. „Das war so gegen sieben

Uhr

abends. Ich stand gerade auf der kleinen Holztreppe. Die fing plötzlich an zu wackeln.... W a s schaut ihr so komisch?" Der Österreicher legt nach: „Genau, und dann, so gegen zehn U h r dreißig, hat's noch mal gebebt." Zwei Erdbeben innerhalb von etwa drei Stunden in der Nacht zum 2 2 . Dezember. Genau das hatte Faizi Khan vorausgesagt. Shirani und ich beginnen, den beiden zu berichten, was uns Faizi Khan am Vortag über die Religion der Kalash erzählt hatte. Jetzt fällt auch den Jungs die Kinnlade herunter. Das trockene Walnussbrot liegt ein paar Sekunden unzerkaut zwischen ihren Zähnen. „Stimmt das wirklich, was ihr da erzählt?", fragt der Australier skeptisch. „Na klar, du kannst mit nach Brun kommen und Faizi Khan fragen. Er wird mit den Schultern zucken und sagen: ,Habe ich euch doch gleich gesagt'." W i r diskutieren die halbe Nacht und kommen zu dem Schluss, dass

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dies ein großer Zufall sein müsse. Schließlich sind Erdbeben hier keine Seltenheit. Erst vor ein paar Tagen zitterte der Boden kurz bei Chitral. Wahrscheinlich gibt es hier jeden Tag eine kleine Erschütterung. Doch so einen offensichtlichen Zufall haben wir noch nicht erlebt. Zurück in Brun, wollen uns Shahidin und Khan so schnell nicht gehen lassen. „Ihr seid nach Birir zum Choimus-Fest eingeladen. Dort findet ein großes Ziegenopfer statt." Birir ist das südlichste KalashTal und gilt als das traditionellste. Auf Jeeps von Brun Richtung Ayun warten wir vergeblich. Kalash sind es gewohnt, kilometerlange Fußmärsche zurückzulegen. In der Mitte des Wegs springen wir jedoch dankbar auf einen Pickup auf und fahren wieder die atemberaubende Piste an den Granithängen entlang. Im Birir-Tal dringen wir bis ins Dörfchen Aspar vor. Hier gibt es elektrisches Licht. Doch die Holzhäuser wirken viel älter und märchenhafter. In einigen Dörfern stehen sie sogar in mehreren Stockwerken aufeinander, weil sie sich an einen so steilen Hang dicht am Flussufer schmiegen. Shirani muss zurückbleiben, als sich die Männer im Dunkel der Nacht zum Opferritual aufmachen. Wir balancieren auf schmalen Ziegenpfaden. Den steilen Abgrund neben mir kann ich nur erahnen. Ich habe Mühe, mit dem Tempo der geübten Männer mitzuhalten. Manchen Schritt muss ich blindlings ins Schwarze wagen. Einige Kalash sind schon vom Wein beschwipst und kraxeln dennoch sicher wie die Bergziegen empor. Nach etwa einer halben Stunde kommen wir auf einem kleinen Plateau an. Dort warten schon andere Männer und einige Ziegen, von denen manche so groß und stämmig sind wie junge Esel. Heute ist der große Tag eines kleinen Jungen, der zum Mann wird. Zehn Jahre ist er gerade alt geworden und soll die Tiere nach den Vorschriften opfern, die an das muslimische Schächten erinnern. In der Hand hält er ein scharfes Messer. Noch blickt er die großen Tiere etwas schüchtern an. Doch dann wird es ernst. Die Männer legen brennende Zweige auf den Opferplatz und stimmen in einen lebhaften Gesang ein, der immer dann anschwillt, wenn der Kopf einer Ziege abgetrennt wird. Der hellblaue Anorak des Kleinen ist mit Blut bespritzt. Die Männer helfen ihm, eine besonders große Ziege festzuhalten. Dann werfen sie das zottelige Tier mit einem Schlag um und halten die Beine fest. Die Ziege verdreht die Augen, als der Kleine mit dem Messer an der Kehle ansetzt. Beherzt öffnet er die Gurgel mit einem 229

schnellen Schnitt. Eine kleine Fontäne stößt den dunkelroten Lebenssaft in Pulsschüben nach draußen. Die Ziegenkörper zuckt. Der Kleine schneidet nur an, nicht durch. Er befeuchtet seine Hand mit dem herausgurgelnden Blut, rennt zu den brennenden Zweigen und sprenkelt ein paar Tropfen ins Feuer. Die Männer tanzen in der Gruppe mehrere Male singend auf das Feuer zu und rückwärts wieder zurück. Ihre Handflächen haben sie gen Himmel gewendet. Der Kleine rennt zurück und drückt das Messer immer fester in den Ziegenhals. Die Fontäne wird zum Bach und bildet einen dunklen Teich. Da es der Kleine nicht schafft, helfen die Großen nach, der Ziege mit einem Ruck das Genick zu brechen. Dabei halten sie das Tier am Kinn und an den Hörnern fest und verdrehen den Kopf bis zum Anschlag. Es krachen die Wirbel und bald liegt der Kopf lose neben dem Feuer. Die blauen Augen der Ziege blicken starr und offen in die feiernde Runde. Im Kreis sitzen die Männer zusammen, erzählen, jubeln, und trinken klaren Wein. Die anderen hängen die geopferten Tiere mit dem Kopf nach unten an einen Balken und schlitzen sie längs auf. Das Herz, das noch schlägt, wird neben das Feuer gelegt. Andere Delikatessen verteilen die Männer sofort frisch an die feiernde Runde. Ich erhalte eine lauwarme Leber. Vor lauter Hunger beiße ich sofort hinein. Sie ist zart und schmeckt mild. Mit Wein spüle ich sie herunter. Es folgen im Feuer gebratene Nieren. Die Kalash haben mir die große Ehre zuteil werden lassen Zeuge dieses Rituals zu werden. Leider kam mir nicht rechtzeitig in den Sinn, mich finanziell an einer Ziege zu beteiligen. Das wäre sicher angemessen gewesen. Während des Festschmauses machen sich Zeichen des Zerfalls der Kalash-Kultur bemerkbar. Einige Jugendliche rauchen Marihuana, das in Chitral angebaut wird, wie sie sagen. Besoffen schimpft einer zum ersten Mal über die Muslime: „Die sind verrückt. Die wollen unsere Kultur kaputt machen. Sie trinken keinen Wein. Muslimische Polizisten stoppen dich, wenn sie dich mit einer Weinflasche erwischen und wollen Bakschisch!" Ein paar Freunde drücken ihn zur Seite und schimpfen ihn aus. Die anderen Männer unterhalten sich ausgelassen, lachen viel und behandeln mich wie einen alten Kumpel. Zurück im Dorf sitzen die Kalash mit muslimischen Nachbarn zusammen im Holzhaus und stoßen mit Weinbechern an. „Schau, das ist ein guter Muslim!", scherzt Shahidin. Auch sein muslimischer Kumpel lacht und kippt den Rotwein in einem Zug.

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Bei den ersten Sonnenstrahlen bedanken Shirani und ich uns bei der lebenslustigen Sippe für die Gastfreundschaft. Wieder fährt kein Jeep durchs Tal, so beginnen wir einen fünfzehn Kilometer langen Fußmarsch. Nach einer halben Stunde kommt plötzlich ein Mann einen Pfad herab und schwenkt auf unseren Weg ein. Der Muslim begrüßt uns höflich und nimmt Shirani den schweren Rucksack ab. Dann läuft er ein paar Meter vor uns, um uns nicht zu stören. Wenn er spricht, dann nur mit mir. Etwa zwei Stunden sind wir gemeinsam unterwegs, bis wir in den Durchgangsort Drosh gelangen. Hier wollen wir einen Minibus nehmen, denn der Lowari-Pass ist zu dieser Jahreszeit ausnahmsweise befahrbar. Der Mann führt uns direkt zum Busbahnhof und drückt uns zwei Tickets in die Hand. Als ich ihn frage, wo ich bezahlen soll, winkt er ab. Stattdessen sagt er: „Ihr habt bestimmt Hunger." Wir nicken kräftig und finden uns auf dem Boden sitzend in einer gepflegten Gaststätte wieder. Dicke Schaschlikspieße werden aufgetischt. Unser Reisebegleiter lässt uns alleine essen und verzieht sich in die gegenüberliegende Ecke, wo er offensichtlich mit Bekannten plaudert. Als wir gehen wollen, ist der Weggefährte verschwunden. Der Wirt winkt ab. „No bill." Keine Rechnung. Der Unbekannte hat bezahlt. Mit diesen unvergesslichen Eindrücken verlassen wir die rauen Berge von Chitral. Dass ein großes natürliches Hindernis wie der LowariPass auch zur mentalen Grenze werden kann, wird uns am Abend klar. Durch die Verspätung in den Kalash-Tälern stranden wir am 24. Dezember auf der Südseite des Passes in einem Nest Namens Dir. Hier bleibt kaum jemand länger als einen Tag, wenn er nicht unbedingt muss. In dunklen Spelunken und billigen Absteigen bereiten sich die einen auf den beschwerlichen Pass im nächsten Morgengrauen vor. Die anderen haben den kantigen Bergrücken erschöpft hinter sich gelassen, den halben Tag im Erbrochenen der Mitreisenden zugebracht und einen Anschluss nach Peshawar verpasst, wie wir. Die versteckten Täler Rumbur, Bumburet und Birir erscheinen im Rückblick umso mehr als friedliche Idylle aus einer anderen Welt. In der Kneipe unserer Pension sitzt der muslimische Lehrer Mohammed Rahman. Er spricht über die Kalash, als seien sie seine Nachbarn. Doch selbst ist er nie in die tiefen Schluchten jenseits des Passes gefahren. Dennoch glaubt er zu wissen: „Die Kafir Kalash mögen keine Muslime, und Muslime mögen keine Kalash. Sie verkehren 231

nicht miteinander." Selbstzufrieden fugt er hinzu: „Ihre Kultur verkommt. Denn viele besinnen sich zum wahren Glauben des Islam. Die muslimischen Missionare tun Gutes für unser Land." Es scheint, als beginnen die Probleme der Kalash erst richtig südlich des LowariPasses, eine Grenze durch Felsen und Ignoranz.

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Lateinamerika Das Friedenslabor in der Höhle des Löwen Kolumbien, Guerilla-Zone Caguán, im März 2000 D e r Pressesprecher der deutschen Botschaft in Bogotá muss schlucken, als er von meinen Plänen erfährt. Ein paar Sekunden bleibt es stumm am anderen Ende der Leitung. „Sie wissen, auf was Sie sich da einlassen. Ich habe Ihnen meine offizielle Warnung mitgeteilt. W e n n Sie trotzdem fahren wollen ... dann wünsche ich Ihnen alles Gute und viel Glück!" In meinen Rucksack packe ich einen Stapel Ersatzbatterien und einen kleinen Weltempfänger. Bei klarer Nacht im Dschungel dringen die Kurzwellen

ungestört durch den Äther. Meine

kolumbianischen

Freunde in Bogotá sehen meine Reisepläne ins Guerillagebiet nicht gerne. Aus ihrer Perspektive ist das verständlich: Seit Jahren trauen sie sich nicht mehr aus der Hauptstadt heraus. Zahllose unsichtbare Grenzen durchziehen das Land. Ein Flug nach Miami liegt näher als ein Ausflug zur Finca in die Berge. Landstraßen sind unpassierbar, Rebellen lauern hinter jedem dicht bewachsenen Hügel. Überfälle, Entführungen und Morde gehören zum Alltag der Kolumbianer. Seit mehr als vierzig Jahren tobt ein bewaffneter Konflikt mit mehreren Akteuren: Guerilleros, Paramilitärs, Soldaten und Kriminellen. Drogenhändler sind auf allen Seiten zu finden und liefern das Schmieröl für den Binnenkrieg. Das Land hatte zur Jahrtausendwende viele traurige Rekorde zu bieten: M i t jährlich mehr als 7 7 Gewaltopfern pro 100 0 0 0 Einwohner war Kolumbien lange das gewalttätigste Land der Erde, wurde jedoch Ende der 1990er Jahre vorübergehend von El Salvador überholt. Kolumbiens Gewaltrate war damit zehn Mal so hoch wie in den U S A und etwa zwanzig Mal so hoch wie in Deutschland. Allein in den 1990er Jahren gab es 2 5 0 0 0 0 Opfer. Noch im Jahr 2 0 0 2 wurden im Schnitt zehn Menschen pro T a g entfuhrt. Schätzungen zu jener Zeit gingen von zwei Millionen Binnenflüchtlingen aus (im Jahr 2 0 0 7 waren es nach UN-Angaben bereits drei Millionen). Häufigste T o desursache für Männer zwischen 15 und 4 5 Jahren waren Kugeln, Messerstiche oder Bomben. In Medellin, der einstigen Hochburg des

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inzwischen ermordeten berüchtigten Drogenbarons Pablo Escobar, starben in den 1990er Jahren sechzehn Menschen am Tag. Damit war der Ort im Nordwesten des Landes die gewalttätigste Stadt der Welt. W e r damals in Escobars Milizen aufgenommen werden wollte, musste als Mutprobe zunächst eine ihm nahe stehende Person umbringen. Nach dem Amtsantritt des rechtsliberalen Präsidenten Alvaro Uribe im Jahr 2 0 0 2 hat sich die Situation im Land zu entspannen begonnen. Mord- und Entführungsraten sind drastisch zurückgegangen. Die Kolumbianer können ihr Land endlich wieder mit Bussen und Autos bereisen. Viele junge Städter hatten bis dahin noch nie im Leben ihr eigenes Hinterland gesehen. Statt zehn Menschen wurden im Jahr 2 0 0 6 weniger als zwei pro T a g entführt. Für kolumbianische Verhältnisse ist das ein beachtlicher Fortschritt, auch wenn das Heer der Binnenflüchtlinge im gleichen Zeitraum schneller als zuvor anschwoll. D o c h dafür legten mehr als 3 2 0 0 0 Paramilitärs bis 2 0 0 7 nach offiziellen Angaben ihre Waffen nieder. Die Hauptstadt Bogotá und die Regionalmetropole Medellin haben dank fähiger Bürgermeister auch auf kommunaler Ebene die Kriminalitätsrate deutlich senken können. Medellin ist in dem M o m e n t , als dieses Buch in den D r u c k ging, sogar zur Modellstadt für soziale Projekte und Versöhnungspolitik geworden. Aber der alte R u f klebt weiterhin an der Stadt und ist schwer loszuwerden. Als ich sieben Jahre zuvor als Korrespondent das Land bereiste, hatten die Kolumbianer wahrlich keinen Anlass, mit solcher Hoffnung in die Zukunft zu blicken. Die Frage, warum Kolumbien im Innern so zerrissen ist, obwohl andere lateinamerikanische Staaten eine ähnliche Kolonialgeschichte, krasse Armut und eine schier unüberwindbare soziale Kluft aufweisen, ist nicht einfach zu beantworten. Als einen Grund für die Misere sehen Experten den schwachen Staat und einen extremen Föderalismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, den die Liberalen eingeführt hatten. Die Zentrale in Bogotá hatte praktisch

keine

Vollmachten mehr über die Provinzen. Auch dort verselbstständigten sich die Interessen zusehends. Konflikte wurden häufig mit Gewalt ausgetragen. Der kolumbianische Staat hat weder ein Gewalt- noch ein Steuermonopol. Es gab zwar auch relativ ruhige Jahrzehnte, doch seit Ende der 50er Jahre steckt Kolumbien im Strudel der Gewalt. Alltagskriminalität, Drogenhandel, Guerillakrieg und weiterhin relativ schwache staatliche Strukturen in den ländlichen Regionen haben

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das Land in einen ewigen Ausnahmezustand versetzt, der deutlich zu spüren ist, als ich zum ersten Mal das Land bereise. Auch für Journalisten ist Kolumbien ein gefährliches Pflaster. Sie laufen Gefahr, von Guerilleros und Paramilitärs eingeschüchtert, entführt oder ermordet zu werden. Im Jahr vor meiner Reise starben sieben Kollegen, 24 wurden verschleppt, 15 verließen das Land. Nach Angaben der Organisation Reporter ohne Grenzen lag Kolumbien zu jener Zeit nach Sierra Leone damit weltweit auf Platz zwei. Für zwei Monate werde ich in Kolumbien für die dpa und die älteste kolumbianische Tageszeitung El Espectador arbeiten (die später wöchentlich erschien). Eine Schonfrist gibt es nicht. Schon am ersten Arbeitstag erhält mein Ansprechpartner beim El Espectador, Ignacio Gómez, 26 Drohbriefe. Der etwas fahrige, aber hartnäckige Journalist hat ein paar Tage zuvor eine Reportage über ein Massaker veröffentlicht. Daran sollen Regierungssoldaten und Paramilitärs gemeinsam beteiligt gewesen sein. Hinzu kommt: Die Soldaten wurden von den USA ausgebildet. N u n muss der unkonventionelle Individualist und mehrfach preisgekrönte Reporter mit der Chefredaktion klären, wie die Zeitung darauf reagieren soll. Eine typische Zwickmühle zwischen Wahrheit und eigenem Leben. Auch das Redaktionsgebäude des El Espectador war bereits Ziel eines Bombenanschlags. Erst am Nachmittag verlassen wir den flachen Betonbau in einem Industriegebiet im Westen der weit ausladenden Metropole. W i r sitzen noch im Taxi zu Gómez' kleiner W o h n u n g , als er mich mit seiner tiefen, rauchigen Stimme fragt: „Hast du eigentlich keine Angst, heute mit mir unterwegs zu sein?" Der 37-Jährige grinst durch seine schmale, leicht getönte Brille und schüttelt mit dem Packen Drohbriefe. „Es gibt zwei Möglichkeiten", antworte ich. „Die erste: Sie töten mich mit. Die zweite: Sie töten mich nicht, und ich mache eine gute Geschichte daraus." W i r müssen lachen. „Das ist die einzig realistische Haltung, in diesem Land als Journalist zu arbeiten", meint Gómez. Natürlich unterstützt er mich, ins Guerillagebiet zu fahren. W e r sonst, wenn nicht Journalisten, müssen sich über diese Grenzen wagen? W e r verleiht den Menschen eine Stimme, die unter der Herrschaft der Rebellen leben? W e r sonst kontrolliert die Verlautbarungen der Regierung über den Verlauf des steinigen Friedensprozesses? Gerade in solchen Situationen muss der Journalistengrundsatz gelten: Audiatur et altera pars — auch die andere Seite muss gehört werden. Ganz so dramatisch ist meine geplante Reise nun auch wieder nicht. 235

Schließlich tummeln sich bereits zahlreiche Reporter in der Enklave, die der konservative Präsident Andrés Pastrana im November 1998 den Revolutionären Streitkräften Kolumbiens (FARC) überlassen hat. Die FARC sind die größte Guerillagruppe des Landes. Die zweitstärkste Rebellenorganisation ist das Nationale Befreiungsheer (ELN), das einst von einem katholischen Priester gegründet würde. Daneben kämpfen noch mehrere kleinere Gruppen. In der FARC-Enklave sollen in diesem Moment die offiziellen Verhandlungen zwischen Vertretern der Guerilla und der Regierung beginnen. Die „Unabhängige Republik von Caguán", wie sie die Guerilla scherzhaft-provokant nennt, ist ein weltweit einzigartiges Zugeständnis und ein gewagtes Experiment. Sie liegt im südlichen Dschungelgebiet des Landes und ist mit 42 139 Quadratkilometern etwa so groß wie die Schweiz. Eine Korrespondentin des El Espectador ist ebenfalls vor Ort und erwartet mich. Die meisten Journalisten fliegen direkt in die Zone nach San Vicente del Caguán, ein 15 000-Seelen Nest von Viehhändlern und Bauern, das zur Rebellen-Hauptstadt mutiert ist. Doch ich möchte auch die Grenze zwischen FARClandia und Restkolumbien erleben, die für viele Einheimische Leben oder T o d bedeutet. Kolumbien heißt in dem Fall das Gebiet, das entweder von der Regierungsarmee oder den Paramilitärs oder beiden kontrolliert wird. Leider ist das zu dieser Zeit nicht immer so einfach zu trennen. Drei Tage nach dem Erlebnis mit Ignacio Gómez — der später in den USA Schutz suchen musste — sitze ich in einer kleinen Maschine im Anflug auf La Florencia. Die Hauptstadt der Provinz Caquetá liegt nur vierzig Kilometer westlich der Guerilla-Enklave. W ä h r e n d das Propellerflugzeug über malerische Bergzüge, Sturzbäche und ein dunkelgrünes tropisches Pflanzenmeer vibriert, blättere ich in einem „Handbuch zur Berichterstattung über Krieg und Frieden", das unter anderem die deutsche Botschaft in Kolumbien herausgegeben hat. Darin finden sich Hinweise, wie sich Journalisten in Kolumbien am besten verhalten sollen: „Seien Sie zurückhaltend in Ihren Gesprächen, Ihrem Verhalten und Ihrer Kleidung. Geben Sie keine auch noch so kleine Information über am Konflikt Beteiligte an die Gegenseite weiter; auch dann nicht, wenn Ihnen als Gegenleistung andere Informationen angeboten werden." ,Akzeptieren Sie keine Treffen mit Unbekannten und an unsicheren Orten." „Misstrauen Sie unerwarteten Briefen und Pa236

keten." „Lassen Sie Ihren Wagen nur in bekannten Werkstätten warten." „Wenn Sie zu Fuß gehen, laufen Sie nicht am Rande des Bordsteins, sondern auf der Innenseite des Bürgersteigs, und bewegen Sie sich in der Gegenrichtung der Fahrzeuge." „Wenn möglich, fahren Sie auf dem linken Streifen, wenn die Straße zweispurig ist, oder auf dem Mittelstreifen bei drei Spuren." „Führen Sie ein Dokument mit Ihrer Blutgruppe bei sich." „Wenn vor Ihrem Auto auf Sie geschossen wird, drücken Sie weiter aufs Gas und ducken Sie sich so tief es geht. Der Motor bietet guten Schutz." Hoppelnd setzt die Maschine auf dem Rollfeld auf. Ein gelbes Rudel Taxis lauert vor dem kleinen Terminal. Polizisten erklären Reisenden die Tarife. Das ungewöhnliche Ritual ist nötig, denn erst als ich vorgebe, ich sei Student, kein Journalist, erhalte ich einen halbwegs annehmbaren Preis. La Florencia, das Tor zum Amazonasgebiet, ist eine Drehscheibe des Handels. Doch ihre besten Tage scheint die Stadt längst überlebt zu haben. Ein kleiner Hauptplatz mit zerschlissenen Bänken, graue Häuser, herumlungernde Teenager. Der 100 000-EinwohnerOrt wirkt verschlafen. Wenige Menschen bewegen sich auf der Straße, nur in den dunklen Einkaufsgalerien. Verkaufsschlager sind Sicherheitsschlösser und Alarmanlagen. Ich laufe an Geschäften mit bunten Kleiderhaufen vorbei, an Tangas und Brathähnchen. Die Sonne knallt auf meine Baseballkappe. Hinter dem Bahnhof parken antike, bunte Uberlandbusse mit offenen Holzpritschen {Chivas). Ich frage an der stark besetzten Polizeiwache nach einem Sammeltaxi nach San Vicente. Niemand schaut mich schräg an. Scheinbar ein ganz normales Reiseziel über die grüne Grenze hinweg ins Guerilla-Gebiet. In der Tat füllt sich bald der gepflegte weinrote Daewoo. Vor uns liegen 150 Kilometer und vier Checkpoints, drei von den Militärs und einer der Guerilleros. Die Mitfahrer wohnen in San Vicente und waren in La Florencia shoppen. Ein gewöhnlicher Tagestrip für die, die es sich leisten können und keine Angst vor den Paramilitärs haben. Kekse und Kaugummis machen die Runde im Auto. Die Stimmung ist ausgelassen. Passagiere reißen Witze über die Guerilleros und über Soldaten an den Militärposten. Jorge Valderama fährt seit vier Jahren die gleiche Strecke. „Seitdem es die Zone gibt, ist es hier viel ruhiger geworden. Aber die Leute aus Bogotá haben Angst. Sie denken, die Landschaft ist voller Tiger und Guerilleros." Der 33-Jährige lacht. Er hat ein gepflegtes und sympa237

thisches Aussehen, trägt trotz Hitze und Staub ein weißes H e m d und frische Jeans. Eigentlich hat er Betriebswirtschaft studiert, doch einen anderen J o b hat er nicht gefunden. D e r bewaffnete Konflikt bremst die Wirtschaft des Landes. Er verschlingt laut Schätzungen jedes Jahr bis zu einem Zehntel des Bruttoinlandsprodukts. Trotz der immensen Probleme hat Kolumbien im Vergleich zu anderen lateinamerikanischen Staaten ökonomisch bisher überdurchschnittlich abgeschnitten. D i e Inflation liegt während der Zeit meiner Reise zwar hoch, doch die - legale und illegale - Wirtschaft boomt. Exportschlager sind Kaffee und Kokain. Der Wohlstand ist extrem ungleich verteilt. D i e Hälfte der Bevölkerung lebt in Armut. Die Kluft zwischen ihnen und den Reichen wächst stetig. Deshalb hat sich Jorge vor zehn Jahren ein Taxi gekauft. „Ich hatte keine Chance, eine Arbeit zu finden", sagt er und zuckt mit den Schultern, die Hände weiter fest ans Lenkrad gepresst. Die Tachonadel berührt die 120 - auf einer kurvigen Piste, die zudem durch Senkungen und Schlaglöcher zerfressen ist. Manche Kolumbianer kaufen keine Taxis, wenn sie anders nicht mehr weiter wissen. Sie greifen zur Waffe. Eine vorwiegend neoliberale Wirtschaftspolitik sowie die Herrschaft der Konglomerate weniger Tycoons und Dynastien haben Verarmte und Frustrierte an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Einige davon landen in den Armen der Guerillagruppen, die heute jedoch rein kriminelle Banden geworden sind, jede Glaubwürdigkeit in politischen oder sozialen Belangen verloren haben. Der Ursprung des Konflikts ist und bleibt jedoch in erster Linie ein sozialer. D i e FARC-Rebellen zum Beispiel, die auch heute noch behaupten, der marxistisch-leninistischen Ideologie zu folgen, spalteten sich in den späten 1950er Jahren im Streit um eine überfällige Agrarreform von den Liberalen ab. V o n 1 9 4 8 bis 1 9 5 3 hatten beide Gruppen in der Violencia, einem der traumatischsten Bürgerkriege des Landes, noch gemeinsam gegen die Konservativen gekämpft. Auslöser der Violencia war die Ermordung des liberalen Hoffnungsträgers und Präsidentschaftskandidaten Jorge Eliecer Gaitän. Bis dahin hatten Konservative und Liberale im K a m p f um die Vorherrschaft das Land zwar tief gespalten; Kolumbien zählt neunzehn Bürgerkriege auf nationaler Ebene, regional sind es noch viele mehr. D o c h konnte die eine Seite die andere nach dem Gemetzel jedes Mal wieder mit Zugeständnissen und der Verteilung von Pfründen in die Tagespolitik einbinden. Als in den 50er Jahren die soziale Frage im-

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mer brennender wurde, versagte jedoch das bewährte Prinzip. Die linke Guerilla etablierte sich zur „außerparlamentarischen Opposition." Inzwischen ist der Marxismus jedoch nur noch ein dünnes Gewand für ein rücksichtsloses Regiment von Kidnappern, Mördern und Terroristen. Manche Gruppen operieren versprengt und sind von oberen Kommandos schlecht zu beherrschen. So erklärt sich, dass Personen auch „aus Versehen" verschleppt oder umgelegt werden. W i r fahren an einem Friedhof vorbei, an Palmen, Tümpeln, kleinen Flüssen und weidenden Kühen. Am letzten Militär-Checkpoint müssen wir aussteigen. Soldaten durchwühlen unser Gepäck. Ich stutze. Die Uniformierten tragen Gummistiefel. Das kann zu fatalen Verwechslungen fuhren. Die Kriegsparteien sehen sich nämlich so ähnlich, dass man beide Seiten oft - und oft zu spät — lediglich am Schuhwerk erkennt. Deshalb gilt die ungeschriebene Regel: Regierungssoldaten tragen im Zweifel schwarze Schnürstiefel und Guerilleros olivgrüne Gummistiefel. Vielleicht fühlen sich die Soldaten hier am Rande der Rebellenzone wohler in Gummistiefeln. Schließlich gibt es immer wieder Übergriffe. Ein Mitfahrer wirft gedankenlos einen Trinkbeutel ins Gras. Einen Katzensprung weiter haben sich die Rebellen verschanzt, und dennoch findet eine Soldatin die Muße, mit strenger Stimme ein umweltbewusstes Verhalten zu fordern. Kleinlaut hebt der M a n n die T ü t e wieder auf und wirft sie in einen Papierkorb. Jorge gibt wieder Gas. W i r überholen mehrere Lastwagen, die zur Sicherheit Kolonne fahren. Die Straßenschilder sind mit Schusslöchern durchsiebt. Rechts und links stehen bunt bemalte Farmhäuschen. Hinter ihren Fenstern lesen wir Schilder „zu verkaufen." Jorge kennt jedes Dorf, in dem es schon einmal geknallt hat. Erst vor ein paar Tagen seien Rebellen in die Ortschaft El Doncello eingedrungen und hätten sich Scharmützel mit Soldaten geliefert. „Jetzt sind wir in der Zone", sagt Jorge plötzlich. „Die Grenze ist der kleine Fluss Guaya." Rote Erde verleiht der Landschaft einen Kontrast zum saftigen Grün. Auf der linken Straßenseite taucht auf einmal ein verlassener Esel auf, daneben ein leeres Motorrad. „Achtung: Guerilleros im Busch!", sagt Jorge lachend. „Wir werden beobachtet." Hinter einer Biegung, wo zwei Erdwälle die Straße flankieren, stoßen wir auf den Checkpoint der FARC. Sie tragen Gummistiefel. Ein junger Kerl schaut durchs Wagenfenster, sieht mich und grinst. Ich habe schon meine Ausweise gezückt. Doch die will er gar nicht sehen. „Du bist auch Journalist?", fragt er. „Ja", nicke ich kurz. „Willkom239

men", nuschelt der Rebell und winkt uns ohne Gepäckkontrolle durch. Während der neu gestarteten Verhandlungen möchten sich die FARC von ihrer besten Seite zeigen. Sie wollen es sich nicht leisten, besonders ausländische Journalisten in dieser Situation schlecht zu behandeln oder gar zu entführen. Das war zumindest mein Kalkül. Die Aufständischen möchten der Welt beweisen, dass sie fähig sind, einen Staat zu fuhren. FARClandia hat immerhin 80 000 Einwohner. San Vicente ist verstopft. Jorge bringt den Wagen nur im Schritttempo voran. Die Straßen quellen über von Bauern und Rancheros, die sich in den vielen Kneipen besaufen, von Taxis, dreckverschmierten Pickups und US-Trucks aus den 50er Jahren. Esel ziehen Holzwagen hinter sich her. Viehtreiber bieten im Stimmengewirr aufgerollte Lassos feil. Kinder zerren ihre Mütter am Arm und betteln um Eis. Mädchen mit knappen Tops tuscheln in Grüppchen. Aus jeder Bar schallt ein anderer Salsa-Song oder der traditionelle, melancholischbeschwingte Vallenato. In den kleinen Läden liegen BHs, Hemden und Hüte aus, woanders Rucksäcke und Taschen. Straßenhändler haben Gummistiefel zum Verkauf aufgereiht und Regale mit billigen Musikkassetten. Die Rebellen halten sich im Straßenbild zurück. Sie bummeln zu zweit oder dritt die schmalen Straßen entlang. Hin und wieder reden oder schäkern sie mit Passanten. Auch junge Guerilleras, die aufregend enge Uniformen tragen, laufen locker Patrouille. Angst scheinen die Menschen vor ihnen nicht zu haben. Auf den Plätzen der Stadt haben die FARC politische Botschaften an die Bäume geknüpft. „Keine Folter mehr", steht auf einem Banner ein Grundsatz, an den sich auch die Rebellen selten halten. „Friede und Wohlstand für alle", verlangt ein anderes. Ich quartiere mich in einer kleinen Pension ein, direkt an der quirligen Hauptstraße. Dort hat Gloria, die Guerilla-Korrespondentin des El Espectador, bereits eine Nachricht für mich hinterlassen. Ich soll ihnen so schnell es geht nach Los Pozos nachfahren. In dem Dorf, dreißig Kilometer von San Vicente entfernt, haben schon die Verhandlungen zwischen den Friedensbeauftragten der Regierung und den Rebellenchefs begonnen. Auch Manuel Marulanda soll dort zur Feier des Tages aufkreuzen. Besser bekannt ist er unter seinem Spitznamen Sicherer Schuss ( T i r o f i j o ) . Den erhielt er beim Vogelschießen, bei dem es freilich nicht lange blieb. Manche in der Zone beschreiben den militanten „Marxisten" als eine Mischung zwischen Don Quichote und Stalin. Der dienstälteste „Freiheitskämpfer" 240

der Welt dürfte inzwischen Anfang 70 sein. So genau weiß er es selbst nicht, sagt man. Marulandas Legende begann, als er 1964 eine kommunistische Landkommune gegen mehrere tausend Soldaten verteidigte. Das war die Geburtsstunde der FARC. Jetzt hat er selbst mehr als 15 000 Kämpfer hinter sich und kontrolliert zu diesem Zeitpunkt etwa 450 der 1 075 Landkreise Kolumbiens. Der Präsident des Landes schickt seinen engsten Vertrauten per Helikopter zu ihm in sein Dschungelreich, ohne Bodyguards. Sogar Pastrana persönlich hatte Marulanda in einer spektakulären Aktion noch vor seiner Wahl im Mai 1998 in einem Versteck aufgesucht. Beide verabredeten vorab einen Fahrplan für Verhandlungen. Die Wahl Pastranas war somit eine klare Abstimmung der Kolumbianer für den Friedensprozess und für diese „Entspannungszone" (zona de despeje). Vierzig Millionen Menschen schauen seither gespannt, aber mit gedämpften Illusionen, auf dieses kleine Dorf. Nach Los Pozos führt eine Schotterpiste durch zerklüftetes Weideland. Der Fahrer rast so schnell er kann, damit ich die Guerilleros noch am Verhandlungstisch treffe. Er kurbelt das Fenster hoch, damit der aufgewirbelte Staub nicht in die Lungen zieht. Entlang der Straße wehen erneut FARC-Banner: „Schluss mit der Scheindemokratie!", „Macht den Gringo-Militärs ein Ende!". Um uns herum ragen reihenweise verkohlte Baumstümpfe aus der Erde. „Wir haben mit der Guerilla nichts zu tun. Schreiben Sie das, damit es alle wissen", beschwört mich der Fahrer Hubert Gutierrez. Der 35-Jährige weiß, wovon er spricht. Draußen vor den Grenzen der Zone lauern die Paramilitärs und picken sich aus der Ferne ihre Opfer heraus. Alle diejenigen, die mit der Guerilla kooperieren, werden umgelegt. Doch wer will das beurteilen? Die Bauern, die den Rebellen ihre Finca zur Übernachtung verweigern, das verlangte Essen oder gar den geforderten Sohn zur Rekrutierung, werden erschossen. Diejenigen, die ihnen zitternd eine Suppe bereiten oder ein Bett beziehen, sind Kollaborateure und sterben am nächsten Tag im Kugelhagel der Paramilitärs. So sieht es im ganzen Land aus. Die Zone hat jetzt alle Einwohner zu Verdächtigen gemacht. Hier befiehlt zwar nur eine Seite, doch die andere macht Psychoterror von außen. „Meine Schwester, mein Bruder und mein Vater bekommen alle zwei Wochen Drohanrufe aus La Florencia", klagt Hubert. „Das halten wir bald nicht mehr aus! So viele sind schon aus der Zone geflüchtet, nach Bogota. Deshalb geht es hier mit der Wirtschaft bergab." 241

M i t quietschenden Reifen bringt der Fahrer die Karre in Los Pozos zum Stehen. Der Asphalt ist frisch geteert. Eine kleine Gruppe Journalisten und Kameramänner aus aller Welt lungert vor der billigen Mehrzweckhalle mit Wellblechdach, wo sich die Parteien auf weißen Plastikstühlen und wackligen Tischen heiß reden. Daneben parken die modernen Landcruiser der Rebellen. W e r weiß, wem sie einst gehört haben. Nummernschilder tragen sie nicht. Die wartenden Reporter plaudern mit Guerilleros und Guerilleras, tauschen Adressen aus oder reißen Witze. Doch zu ernsthaften Gesprächen kommt es nicht. Sobald es zu persönlich wird oder jemand neugierig fragt — „Wie viele seid ihr denn hier?" „Wo übernachtet ihr?" - blocken die jungen Rebellen ab. Sie sind gut gedrillt und aufmerksam. Ein vorsichtiges Annäherungsspiel von beiden Seiten, ein Sport. Einige Wachposten wirken leicht angespannt. Schließlich sind die vielen neugierigen Zivilisten vor ihnen ein ungewohnter Anblick. Das Flachsen gehört zur Latinokultur, kann aber plötzlich jederzeit in bitteren Ernst umschlagen. Am besten demonstriert das der kolumbianische Spielfilm Golpe de Estadio (übersetzt ist das Wortspiel eine Mischung aus Staatsstreich und Fußballstadion). In einem kleinen Dorf bekämpfen sich Guerilleros und Regierungssoldaten in Schützengräben bis aufs Messer. Doch dann kommt die Fußballweltmeisterschaft. Kolumbien ist im Endspiel — und im ganzen Dorf gibt es nur einen Fernseher! Mehrmals wird er von der einen oder anderen Seite geraubt, bis er kaputt geht. Der katholische Dorfpriester muss vermitteln. Rechtzeitig vor dem Finale einigen sich beide Seiten auf einen Waffenstillstand. Nach umständlicher Shuttle-Diplomatie erreicht der Priester, dass zwei Techniker — jeweils einer von jeder Seite — den Apparat wieder in Schuss bringen. Alle versammeln sich schließlich zum Endspiel in der kleinen Dorfkirche und jubeln gemeinsam der kolumbianischen Mannschaft im Spiel gegen Fußballerzfeind Argentinien zu. Der bewaffnete Konflikt ist für neunzig Minuten vergessen. Rebellen und Soldaten liegen sich in den Armen. Nach dem Abpfiff kriechen sie zurück in ihre Gräben und ballern erneut aufeinander los. Auf dem Gelände in Los Pozos, ein paar Schritte hinter den Grüppchen von Rebellen und Journalisten hat das Rote Kreuz im Auftrag der Regierung weitere Leichtbauhütten errichtet. Draußen sind drei Satellitenschüsseln montiert. Drinnen sitzen Guerilleros an C o m p u terschirmen, surfen im Internet und emailen, telefonieren und faxen.

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Ein High-Tech-Sekretariat mitten im Urwald. Im Örtchen hat die Regierung ein großes Schild aufstellen lassen: „Villa Nueva Colombia". Das ist das Modell des neuen Kolumbien oder zumindest der Traum davon. Das ist der Ort, an dem Monate lang Rebellen, Politiker und Journalisten wild durcheinander laufen und zu richtigen Bekannten werden. Hier treffe ich auch Gloria vom El Espectador. Kurz spreche ich mit dem Bürgermeister von Medellin, Juan Gömez Martinez, der zu einer Delegation gehört. Der humorvolle Opa trägt eine schwarze Baseballkappe und betont, seine Stadt sei lange nicht mehr so gewalttätig wie früher. Die Zeit der großen Drogenkartelle sei vorbei. Nur ein paar Banden hätten sich in den Armenvierteln gehalten. Die brächten sich aber nur gegenseitig um. In den Vororten gebe es zwar noch sechs Tote pro Tag, doch das Zentrum sei ruhig. Touristen sollten kommen, sie seien sicher. Medellin gilt als Kulturmetropole des Landes und als eine der wichtigsten Kulturzentren Lateinamerikas mit berühmten Festivals. „Wir hoffen, dass die Presse auch bald ein anders Bild von Medellin zeichnet." Dann grinst er schelmisch: „Ich war auch mal Journalist." Martinez flachst mit dem Guerillero Bernardo Penalosa, der neben ihm steht und zum politischen Arbeitskreis der FARC gehört. Er trägt ein khaki-braunes T-Shirt mit der Aufschrift „Nein zur Intervention der Gringos in Kolumbien", das zivilste Outfit eines Rebellen, das ich hier gesehen habe. Sonst tragen sie Uniformen und Kalaschnikows. Einige Journalisten fragen sofort, ob man das FARC-TShirt kaufen kann. Penalosa muss lachen. „Weiß ich nicht. Ich werde mal fragen." Sein Leben dagegen, erzählt er, enthielt wenig Grund zur Freude. Zwei seiner Brüder seien durch Paramilitärs ermordet worden. Einer sei Gewerkschafter gewesen, der andere Bürgermeister der Patriotischen Union. Damit spricht der 39-Jährige ein kolumbianisches Trauma an. Schon einmal ließen sich die FARC auf den Versuch ein, sich ins politische System des Landes einbinden zu lassen. Die Aufständischen gründeten die Patriotische Union, eine linke politische Kraft, die sich soziale Gerechtigkeit auf die Fahnen schrieb. 1986 nahm sie erfolgreich an Wahlen teil. Doch dann kam die Katastrophe: Mehr als 3 500 Mitglieder der Partei wurden kurz darauf von Paramilitärs ermordet. Dieser Schlag sitzt den Rebellen noch tief in den Knochen. So wird klar, wie schwer es ist, die FARC diesmal zu überzeugen ihre Waffen ab243

zugeben. Außerdem: Nach Schätzungen von Beobachtern würden nur etwa zwei Prozent der Bevölkerung eine andere als die etablierte konservative oder die liberale Partei wählen. W a r u m sollten die FARC ihre militärische Stärke gegen eine politische Niederlage eintauschen? Ein paar Jahre später sollten die FARC auch den letzten Anspruch verlieren, die „politische Linke" im Land zu vertreten, als sich das demokratische Spektrum um eine sozialdemokratische Partei erweiterte, den Polo Democrático Alternativo. Peñalosa nennt einen sehr persönlichen Grund, sich für ein Leben mit Kalaschnikows entschieden zu haben: „Lieber töten sie mich mit einer Waffe in der Hand, als dass ich wie meine Brüder ende oder wie meine anderen Compañeros der gewerkschaftlichen Intelligentia. In diesem Land ist es möglich, dass du mit dem Tode bestraft wirst, weil du eine Gewerkschaft gründest. Genau deshalb bin ich jetzt in der FARC." Mit 17 Jahren trat er der Guerilla bei. Seitdem ist für den spritzigen und humorvollen M a n n der Dschungel das Zuhause geworden. W a s wäre aus ihm wohl in einer normalen Gesellschaft geworden? Ein Gewerkschafter, ein Politiker, ein Lehrer, ein Journalist? Dann spricht Peñalosa die Drohung aus, mit der die F A R C die Bewohner der Zone geschickt an sich bindet: „Wenn es in diesem Land eine sichere Gegend gibt, dann hier in der Entspannungszone. Doch sobald die Guerilla geht, kommt die Armee und die Polizei, und sie werden sich an denen rächen, die in irgendeiner Form mit uns in Verbindung standen. Sie werden terrorisieren und massakrieren. Es gibt ein Informationsnetz der Armee, der Paramilitärs und der Nationalen Polizei. Sie haben sicher schon Listen der Leute aufgestellt, die uns nahe stehen." Plötzlich kommt Bewegung auf unter den auf Plastikstühlen lungernden Reportern draußen vor der Mehrzweckhalle. Die Verhandlungsrunde ist beendet. Dösende Journalisten springen unter den schattigen Palmen hervor, zücken Mikrofone oder Notizblöcke. Kolumbianische Rundfunkjournalisten halten den Rebellenführern direkt ihr Satellitentelefon an den M u n d und schalten live nach Bogotá. Geduldig bedienen die Rebellen jeden Interviewwunsch. Doch Tirofijo ist schon längst wieder im Busch. Als der Trubel sich legt, trägt einer der Verhandlungsführer der FARC, Pressesprecher C o m m a n dante Raúl Reyes, zwei Plastikstühle ins Freie. W i r setzen uns unter eine schattige Palme. Reyes ist ein gewitzter Taktiker und Schlitzohr. Mal flirtet er mit den

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Journalistinnen (und sie mit ihm) oder witzelt mit den Kollegen. Mal schaut er ernst durch seine getönten Brillengläser und schafft eine sachlich-professionelle Atmosphäre, in der er auch die schärfsten Fragen emotionslos abbügelt. Während unseres Gesprächs schreibt er seine E-Mail-Adresse auf. Mein T o n b a n d läuft. Reyes appelliert vor allem an die Europäer, ein Gegengewicht zu den Vereinigten Staaten zu setzen. D i e 1,7 Milliarden Dollar, die Washington im „Plan C o lombia" an Bogotá vor allem als Militärhilfe überweisen will, sei eine staatliche Intervention. Präsident Pastrana und die U S A sprechen dagegen in erster Linie von einem Anti-Drogen-Programm.

„Die

Drogenhändler haben keine Armee. Der Plan ist eindeutig gegen die Guerilla gerichtet", kritisiert Reyes und reibt sich seinen gepflegten, grau melierten Vollbart. In der FARC-Zone liegen etwa 12 0 0 0 Hektar Koka-Anbaugebiet. Das ist ein Sechstel der landesweit geschätzten Fläche. Peñalosa hatte zuvor eingeräumt: „Für uns ist Koka eine Nutzpflanze wie jede andere auch. Natürlich nimmt die F A R C Steuern aus dem Drogenhandel ein." Sein C h e f Reyes wiegelt nun ab: „Der Anteil ist minimal und berührt nicht die Entwicklung der F A R C . " Das sehen Beobachter jedoch ganz anders. In Bogotá hatte ich zuvor mit Hans Blumenthal gesprochen, dem langjährigen Vertreter der Friedrich-Ebert-Stiftung in Kolumbien. Er sagte: „Dank der Besteuerung des Drogenhandels und des Drogenanbaus konnten die Guerillagruppen, vor allem die F A R C , seit Ende der 1980er Jahre ihre finanzielle und militärische Stärke erlangen." Schutzgelder für Drogenlabors und Flughafensteuern auf Landepisten flössen ebenfalls in die Taschen der Rebellen. „Vermutlich sind auch einzelne Kommandoeinheiten der Guerilla in Drogenanbau und den Handel verwickelt." Reyes betont, die F A R C besteuerten nur die Drogenhändler und nicht die Bauern selbst. In den Reihen der Rebellen selbst werde Drogenkonsum hart bestraft. „Nada!", sagt er bestimmt, als ich ihn frage, ob er selbst schon mal Drogen genommen hat. Nach UN-Angaben wurden im Jahr 2 0 0 0 auf 163 0 0 0 Hektar illegale Pflanzen angebaut. Das ist ein sprunghafter Anstieg im Vergleich zum Beginn der 90er Jahre. Nach diesem Spitzenjahr schrumpfte zwar die Anbaufläche von Koka (zum Beispiel auf 7 8 2 6 0 im Jahr 2 0 0 6 ) durch Giftsprühungen und manuellem Ausreißen von KokaPflanzen. D o c h Anbaumethoden und Vertriebswege haben sich verbessert und Ernten sind häufiger, so dass Produktion und Export

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trotz Milliardeninvestitionen im K a m p f gegen Drogen nicht oder kaum zurückgegangen sind. Vizepräsident Francisco Santos in der Regierung Uribe verglich 2 0 0 7 die Anstrengung im K a m p f gegen die Drogen resigniert mit dem Treten der Pedale eines Hometrainers. Eine Studie der Asociación Nacional de Instituciones Financieras (Anif) aus der Zeit meiner Reise im Jahr 2 0 0 0 bezifferte den Anstieg des Drogenexports seit 1 9 9 0 auf 8 0 0 Prozent. Die Ware, die aus Kolumbien in die U S A und Europa gelange, habe dort einen W e r t von 4 6 Milliarden US-Dollar. Das ist mehr als die Hälfte des damaligen kolumbianischen Bruttoinlandprodukts.

Der Gewinn ist immens:

Ein Kilo Kokain kostet in den Wäldern Kolumbiens 5 0 0 bis 7 0 0 Dollar und wird in Washington für 158 0 0 0 Dollar verkauft. Anfang der 90er Jahre stammten 6 0 0 der weltweiten 1 0 0 0 T o n n e n Kokain aus Kolumbien. D a auch die Zahl der Guerilleros in der vergangenen Dekade so stark gewachsen ist wie nie zuvor, bleibt Pastrana keine Wahl: Er kann die Guerilla nicht ohne die Drogen, und Drogen nicht ohne die Guerilla bekämpfen. U n d genau das will Raúl Reyes verhindern. D e r leicht untersetzte Commandante sitzt breitbeinig und entspannt auf dem Plastikstuhl, die Kalaschnikow liegt über seinen Knien. Fast alle anderen sind schon mit den dicken Landcruisern zurück in die Camps gefahren. Es war ein langer T a g für die Rebellen im Kampf auf einem ungewohnten diplomatischen Terrain. Ich verabschiede mich von Reyes und reiche ihm meine Visitenkarte. Kurz darauf ist auch er im Urwald verschwunden. M i t Gloria vom El Espectador und zwei anderen Kollegen begeben wir uns wieder auf die Schotterpiste zurück nach San Vicente. V o r uns fährt ein dunkelblauer Jeep. Auf das Rückfenster hat jemand mit dem Finger die Buchstaben F A R C in den Staub gemalt. „Das ist Bernardo", ruft eine Kollegin. „Los schneller!" „Den kriegen wir", meint unser Fahrer und drückt aufs Gas. Der Pickup schlittert auf der engen Geröllstraße um die Kurven. D o c h Peñalosa gewinnt das W e t t rennen mit den Journalisten. D e r Guerilla macht im Dschungel eben niemand Konkurrenz. W i r verabreden uns für den Abend in einem kleinen Restaurant am Parque, dem Dorfplatz. Zunächst höre ich im Hotel mein T o n b a n d ab und kritzele den Bericht über das Interview mit Reyes in meinen Block. D o c h mein Handy hat hier keinen Empfang. M i r bleibt nichts anderes übrig, als quer durch den O r t zur Telecom zu laufen und

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mich in die Schlange zu stellen. Das Hotel hat, wie fast alle hier, keinen Anschluss an das kolumbianische Netz. Endlich bekomme ich eine freie Kabine und wähle Buenos Aires an. Dort sitzt der zuständige dpa-Korrespondent. Da ich auch nicht faxen kann, muss ich ihm meine Story umständlich diktieren. Uber diesen Umweg nach Argentinien gelangt die Meldung aus dem Dschungel schließlich nach Deutschland auf die Ticker der Nachrichtenredaktionen. Doch auch wenn auf San Vicente mehr Augen gerichtet sind als früher, interessieren sich daheim nur wenige wirklich fiir den Friedensprozess und das Schicksal der Menschen in Kolumbien. Lateinamerika liegt im Windschatten der Weltpolitik. Das Häufchen Journalisten in der Zone könnte sich dagegen im Moment keine größere Herausforderung vorstellen. Jeden Abend treffen sie sich in dem kleinen Restaurant am Park, tauschen Neuigkeiten und Tipps über gute Informationsquellen aus, sprechen über Gefahren, das Verhalten der Guerilla, über Frauen und Fußball. „Beckenbauer", fällt Carlos nur dabei ein. Carlos ist der Kollege mit dem weißen Cowboyhut von Radio Caracöl. Er sitzt am Tisch und hebt sein drittes Bier. Sein Sender strahlt eine populäre Sendung an den Wochenenden aus: Die Stimmen der Entführung (Las vozes del secuestro). Darin grüßen Angehörige unter Tränen die im Dschungel Verschollenen und fordern sie auf durchzuhalten. Die Entführten drehen zur gleichen Zeit den Sender auf und schreiben Briefe ans Radio zurück. Moderatoren verlesen sie. Dazwischen läuft Musik. In Kolumbien sitzen etwa 3 000 Menschen in Verstecken von Rebellen, Paramilitärs und gewöhnlichen Kriminellen fest, sagt Carlos. 550 davon sind Polizisten und Soldaten. Das Leben der meisten Entführten ist zerstört. Die Qual kann mehrere Jahre dauern, wenn die Angehörigen das horrende Lösegeld nicht aufbringen können. Das skrupellose Geschäft ist eine wichtige Einnahmequelle für die FARC. Ihre Opfer kennen die Gegend um San Vicente weitaus besser als wir. Denn die meisten fristen irgendwo hier in der Nähe ihr Dasein, auch Journalisten. Ein mulmiges Gefühl. Das Plaudern auf Plastikstühlen in Los Pozos, die Runde im Restaurant am Park, das recht geregelte Leben unter dem Gesetz der Guerilla erscheint vor diesem Hintergrund wie eine künstliche Kulisse. „Warst du denn schon auf der Pressestelle?", fragt mich Gloria. „Pressestelle?" „Ja, gleich hier nebenan. Dort musst du dich unbedingt melden, damit die Guerilla weiß, dass du da bist. Wer das nicht 247

tut,...." - Gloria fährt lachend mit ihrer flachen Hand langsam über die Kehle. Carlos grinst, legt seine Arme ausgestreckt nebeneinander auf den Tisch und mimt Handschellen. Mein erster Gang am nächsten Morgen steht also schon fest. Ich habe nämlich noch einen Abstecher ins Hinterland vor. Besser, die Guerilleros wissen Bescheid. In der Nacht scheint das Rebellen-Hauptdorf nicht zu schlafen. Auf den vollen Straßen schlendern Viehhändler, Frauen und Jugendliche in Grüppchen. Einige verschwinden in kleinen Disco-Schuppen und Salsatecas. Seit die Guerilla hier das Kommando hat, ist Kriminalität praktisch ausgeschaltet. Die Menschen wagen sich zu später Stunde wieder vor die Haustür. In der Straße vor meinem Hotel konzentriert sich das Nachtleben. „Tsssssss! Tssssss!" zischt es neben mir. „Tssssss! Tssssss!" Große braune Augen mit üppig getünchten Wimpern blicken mich an. Volle, dunkelrot geschminkte Lippen formen sich zum Kuss. Die junge Dame winkt mich heran. Ihre zarten Brüste sind prall in enge Körbchen gepresst. Darüber hat sie locker eine fast durchsichtige Seidenbluse geworfen. Helle Nylonstrümpfe fließen ihre schlanken Schenkel herab, bis sie von schwarzen kniehohen Stiefeln verschluckt werden. „Tssssss! Tssssss!" kommt es plötzlich noch aus einer anderen Richtung. Die Abendbrise weht ein dünnes Leinentuch sachte aus der Türöffnung auf den Gehsteig. Schummriges Licht und dumpfe Vallenato-Klänge dringen nach draußen. „Tssssss! Tssssss!" Hinter dem Leinentuch lassen sich schemenhaft ein Dutzend Mädchen auf kleinen Barhockern erkennen. Neben einigen sitzen Männer mit Biergläsern in der Hand. Vor allem die Rancheros kommen abends aus den Dörfern hierher, oft sturzbesoffen. Sie lassen „die Alte" daheim in der Finca sitzen und nehmen sich ein leichtes Mädchen für fünfzehn Euro die Nacht. Ich beschleunige meinen Schritt und bevorzuge die Spelunken ohne Leinentücher vor den Türen. Die Nacht ist kurz. Bald poltern Viehtrucks am Fenster vorbei. Musik und Marktgeschrei bohren sich in die Ohren. Ich packe Notizblock, Tonbandgerät und Kamera in den Rucksack und ziehe los. Auf dem Weg zur „Pressestelle" ist noch Zeit für ein Bauernfrühstück: Öliges Rührei, Speck, Brot und frisch gepresster Orangensaft. Am Taxistand treffe ich wieder Jorge, der mich aus La Florencia gebracht hatte. Er berichtet, kurz nachdem wir gestern gegen drei Uhr Nachmittags den Guerilla-Checkpoint passiert hatten, erschossen die Rebellen dort einen Taxifahrer. Er habe nicht angehalten.

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Im Park krabbeln kleine Kinder auf dem Klettergerüst, das neu aussieht. Pärchen sitzen auf den Bänken. Mädchen flirten mit Guerilleros. Auf der gegenüber liegenden Seite des Platzes, neben dem Journalisten-Restaurant, ist die „Pressestelle". Das hellblau getünchte Gebäude war früher das Kulturhaus. Ein langes, selbst gemaltes FARC-Banner listet den Einwohnern die Vorteile eines „Friedens des Volkes" auf im Kontrast zu einem „Frieden der Oligarchien". Dabei tropft in roter Farbe gemaltes Blut von den Buchstaben. Ich klopfe an die offene Tür. Drinnen führt Nora das Regiment. Die kühle, hochgewachsene Frau in Uniform und Gummistiefeln hat eine Grippe, glasige Augen und ist schlecht gelaunt. Ich sage knapp, was ich hier treibe. Sie nickt nur und meint: „Schon in Ordnung." Was meinen Abstecher ins Hinterland angeht, da müsse sie erst Commandante Orlando anrufen von Front Nummer fünf, um die Erlaubnis einzuholen. In den kahlen Räumen kleben Che Guevara-Poster über Kindermalereien aus früheren Zeiten. Im schmalen, dunklen Gang hängt ein Bild von Napoleon. Sechs Guerilleros sitzen auf dem Boden vor einem Fernseher und schauen sich ein Video der letzten Nachrichtensendung an. Nebenan im Restaurant bestelle ich mir einen Orangensaft. Lange bleibe ich nicht allein. Ein junges Mädchen setzt sich an den Tisch. Sie ist 22 und hat einen neugierigen Blick. „Wie heißt du? W o kommst du her? Du hast so schöne blaue Augen! Was machst du hier? Wie lange bleibst du? Bist du verheiratet?" Gleich stellt sie ihre hübsche Zwillingsschwester vor, die bisher schüchtern auf einer Bank im Park saß und uns beobachtet hat. Beide haben ihre langen braunen Haare streng nach hinten gebunden. Doch je mehr wir uns warm reden, desto verstockter werden die beiden — bis der Damm bricht und sie zu erzählen beginnen. Beide Mädchen sind Grenzgänger mit grausamer Vorgeschichte. Nennen wir sie Maria und ihre Schwester Lucia — sie möchten ihre Namen nicht genannt wissen. Beide lebten bis vor kurzem in La Florencia, bis zum 9. Februar. Es war sieben Uhr abends. Sie saßen mit ihren Eltern im Wohnzimmer und schauten fern. Plötzlich schlug die Tür krachend auf. Vier maskierte Paramilitärs stürmten die Wohnung und zielten mit ihren Maschinenpistolen auf ihre Eltern. Maria verkroch sich unters Bett. „Ich musste mit eigenen Augen ansehen, wie sie meine Eltern niederschossen." Ihr Vater war Geschäftsmann. Ihre drei Brüder sind seit ihrer Kindheit bei der FARC. „Hilf mir! 249

Sag' mir, wo meine Eltern jetzt sind! Ich hoffe, sie sind an einem wunderbaren Ort", schluchzt Maria und wischt sich über ihre feuchten Augen. Die Paramilitärs entstanden ursprünglich als Zusammenschluss von Grundbesitzern, die den Kampf gegen die Rebellen selbst in die Hand nahmen, weil der Staat das Machtvakuum auf dem Land nicht füllen konnte. Carlos Castaño, heute einer der meist gesuchten Männer des Landes, schloss die Milizen zu den Vereinten Bürgerwehren Kolumbiens (AUC) zusammen. Längst haben sie sich von einer Selbstverteidigungstruppe selbst zu Todesschwadronen entwickelt, die der Guerilla an Grausamkeit in nichts nachstehen. Laut Schätzungen gehen drei Viertel der Menschenrechtsverletzungen im Land auf ihr Konto. Carlos Castaño wurde später von seinem Bruder Vicente umgebracht. Maria und Lucia flüchteten in Panik in die FARC-Zone nach San Vicente. Hier lungern sie herum, ohne Universität, ohne Freunde. Maria hat noch ihren Freund in La Florencia. Dort auf der anderen Seite können sich die Mädchen aber nicht mehr blicken lassen. „Wir telefonieren", sagt sie bitter. „Ich weiß nicht, ob ich ihn jemals wiedersehen werde." Nun steht Maria vor einer schweren Entscheidung: „Ich will meine Eltern rächen! Ich will, dass die Paramilitärs ihr Leben lang nicht mehr glücklich werden. Ich muss jetzt viel nachdenken. Sag' mir, was ich tun soll! Das Guerillaleben gefällt mir. Man zieht überall herum. Das ist romantisch. Die Guerilleros sind starke Männer, sehr nett und charmant. Vielleicht bin ich bald in Uniform wie meine Brüder." Lucia schüttelt den Kopf. „Geh' nicht, bitte!", sagt sie, obwohl Paramilitärs auch ihren Freund erschossen haben. Er war 28. Lucia möchte den zivilen Weg gehen. „Willst du mich heiraten?", überrascht sie mich. „Warum nicht?", fragt sie unschuldig. „Ich werde auch gut für dich sorgen, deine Wäsche bügeln und alles. Du gefällst mir!" Ich kann beide Schwestern nur auf eine Verabredung am nächsten Abend vertrösten. Es gibt noch viel anderes zu tun in dieser Zone. Ich laufe quer über den Platz an jungen Schuhputzern vorbei zum Gemeindehaus. „Friedenslabor", steht auf die Wand gepinselt. Ein Straßenverkäufer trägt den gleichen Slogan auf seinem Handwagen. Darunter: „Willkommen im neuen Millennium." Dazu eine weiße Taube auf dunkelgrünem Grund. Weniger Euphorie herrscht im Büro der staatlichen Menschenrechts250

behörde Defensorä del Pueblo, die in dem Gemeindehaus untergebracht ist. Es grenzt an ein Wunder, dass die FARC sie hier duldet. Der Friedensprozess ringt beiden Seiten merkwürdige Kompromisse ab. Hier melden sich die Bauern und Viehzüchter und beschweren sich, falls sie sich trauen. Der kleine Mann mit der Halbglatze erklärt, warum die Leute kommen: Entführungen, Zwangsrekrutierungen, Vergewaltigungen, Vertreibungen. „Flüchtlinge kommen vor allem aus dem Grenzgebiet. Die FARC kommt zu ihnen und stellt ein Ultimatum: In drei oder vier Tagen müsst ihr weg sein. Hier gilt das Gesetz der Guerilla. Die Menschen gehorchen aus Angst." Erfolge kann der Menschenrechtler kaum verbuchen. „Wenn wir eine Entführung anprangern, zucken sie mit den Schultern. „Den kennen wir nicht", sagen sie dann. Die Rebellen haben viele Floskeln, sich herauszuwinden. Nur selten bringen sie mal jemanden zurück." Die offenen Worte überraschen mich, mitten in der Höhle des Löwen. Neben der klappernden Schreibmaschine sitzt ein Ranchero mit einem geschwungenen Sombrero aus Stroh eingefallen auf einem Holzstuhl. Zwischen den Fingern qualmt eine billige Zigarette. Sein vergilbtes Hemd ist oben aufgeknöpft und lässt die verschwitzten grauen Brusthaare hervorquellen. Guillermo Lombana Gutierrez ist 45, sein zerfurchtes Gesicht wirkt jedoch zwanzig Jahre älter. „Wenn die Leute sagen, hier ist es ruhig, dann ist das pure Lüge", entrüstet er sich. „Hier ist das Leben nichts wert. Die Mehrheit arbeitet mit der Guerilla zusammen. Aber ich will nicht. Deshalb habe ich jetzt keinen Sohn mehr." Die Guerilleros kamen nachts um halb zehn. Lombana saß gerade mit der Familie auf den Stufen vor seinem kleinen Haus. Drei Männer in zivil entrissen ihm seinen einzigen Sohn und verschwanden mit einem Taxi in der Dunkelheit. Das war am 16. April 1999. Drei Tage lang hat Lombana schlaflos nach seinem Sohn gesucht. Zwanzig Jahre alt war der Chemiestudent. „Ich weiß nicht einmal, ob er noch lebt", meint Gutierrez und zieht seinen Sombrero noch tiefer über die rot unterlaufenen Augen. „Die Zone einzurichten war der größte Fehler, den die Regierung je gemacht hat. Die Guerilla ist nicht auf Seiten der Armen, wie sie immer behauptet." Das Geschäft mit den Kühen sei auch noch eingebrochen. Die Rebellen verlangten Steuern von den Arbeitgebern, fünf Euro pro Angestellten. Nach Schätzungen des Roten Kreuzes in San Vicente sind in der Zone zwischen 60 und 80 Prozent der Menschen arbeitslos. „Ich werde von hier verschwin251

den. Aber erst muss ich suchen, was ich suchen muss." Jedes W o chenende hört er die Entfiihrten-Sendung von Radio Caracol. D i e Menschenrechtler schauen machtlos zu. Auch von der Regierung in Bogotá bekommen sie keine Unterstützung. Die große Sache, der Friedensprozess, soll nicht gefährdet werden. Schräg gegenüber dem Büro in einer ungeteerten Seitengasse hat ein anderes institutionelles Spezialgewächs der Zone sein Quartier. D i e Zivilpolizei. Im kleinen Innenhof stehen Orangenbäume. Z u m C h e f gelangt man durch kahle Räume unter Wellblechverschlägen. Eine Holzleiter dient einem Fernseher als Podest. An einem verstaubten Holztisch sitzt Juan Carlos Miranda. Früher war der 31 -Jährige M a ler, heute sitzt er zwischen allen Stühlen. „Die Guerilla hat erklärt, dass sie eine zivile Polizei akzeptiert", erklärt er. „Ihr dürfen jedoch keine Mitglieder der alten Policía Nacional angehören und sie dürfen nicht bewaffnet sein. Unsere Männer gehen deshalb nur zu sechst auf die Straße, mit einem Knüppel am Gurt. Sie müssen gut reden und die Leute überzeugen können. Es ist eben ein Arrangement." Als die Nationale Polizei die Z o n e räumte, rief der Bürgermeister alle 17 freiwilligen Feuerwehrleute aus der Stadt zusammen -

darunter

Miranda — und bat sie, eine zivile Truppe aufzubauen. Meist schlichten sie Raufereien zwischen betrunkenen Farmern. „Nur fünf haben wir von denen da", grinst Miranda breitbackig. Er reißt mit einem Ruck die verklemmte Schublade auf und zieht einen Revolver hervor. Viel friedlicher sei es heute als vor dem Rebellen-Regime. „Früher ging an jeder Ecke eine B o m b e hoch." Die Bilanz für diesen Februar fällt so aus: Vier gestohlene Motorräder, zwei Autos und ein paar Fahrräder. Trotzdem ist Miranda nicht wohl in seiner Haut. „Wir furchten die Paramilitärs mehr als die Verbrecher. Dabei haben wir mit der Guerilla nichts zu tun." Zunächst war nicht einmal klar, wie viele der grau gekleideten Wachmänner es eigentlich geben sollte. „Wir hatten 6 0 Uniformen, also gab es 6 0 Polizisten. In der Truppe sind Arbeitslose, Automechaniker, zwei bis drei Studenten und Schulabgänger." D a das Gehalt bei der Polizei mit 2 0 0 Euro im Monat fast doppelt so hoch ist wie bei anderen Jobs, liegt noch ein Stapel Bewerbungen im Schrank. D o c h es fehlen Uniformen und Geld fürs Gehalt. „Noch vor kurzem wollten die Leute nicht zur Polizei. Langsam ist die Angst vor der Guerilla verschwunden. Oder umgekehrt: Nicht nur Polizisten, alle sind hier in San Vicente in Gefahr. W i r laufen

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jeden Tag an den Rebellen vorbei. W i r haben quasi einen Vertrag mit ihnen." Das könnte für viele zum Todesurteil werden. Dann nämlich, wenn „die von der anderen Seite" kommen. „Wir haben große Angst, wenn die Zone einmal aufgehoben wird. W i r hoffen, dass die Regierung sich um uns kümmert, wenn das passiert." So recht mag er aber selbst nicht daran glauben. Auch der Bürgermeister, der fünf Häuser weiter wohnt, weiß: Er steht auf der Todesliste der Paramilitärs ganz oben. „Wir können keine Feinde der FARC sein - aber erst recht sind wir keine Feinde des Friedensprozesses. In den Augen der Paramilitärs sind wir natürlich Kollaborateure. U n d wenn wir es sind, dann nicht freiwillig", sagt Omar Garcia Castilla, fast um Entschuldigung bettelnd, mit glasigen Augen und einer Alkoholfahne morgens um halb zehn beim Frühstück in seinem geräumigen Wohnzimmer. Garcia wurde bereits vor der Einrichtung der Zone gewählt und entschied sich, im Amt zu bleiben, wie die Vorsteher der anderen Gemeinden auch. „Wir stimmen mit der Guerilla überein, dass sich etwas in unserem Land ändern muss. Aber wir wollen keinen Krieg", windet er sich. Die Guerilleros seien mit der Zeit freundlicher geworden. Allmählich verstünden sie, wie ein Staat funktioniere. Voll des Lobes über die Rebellen ist dagegen der Besitzer des Sportladens Olympiada um die Ecke. „Es ist ein Paradies hier. Es ist hier so ruhig wie nirgends sonst im Land", schwärmt der junge Kerl mit der Baseballkappe. Er verdiene 2 500 Euro im Monat. Die Rebellen veranstalten viele Fußballturniere und kümmern sich auch sonst um ein reges Freizeitprogramm. Brot und Spiele. Im Open-Air-Kino laufen nachdenkliche sozialkritische Filme. „Man hat sich arrangiert", meint der Sportverkäufer. „Wir begeben uns auf keine Seite, und die Guerilla lässt uns in Ruhe." Für heute Abend hat die F A R C einen großen Salsa-Abend als Volksbelustigung organisieren lassen. Zuvor steigt ein Bolzturnier, zu dem sich mehrere hundert Jugendliche, Eltern und Eisverkäufer um das Feld im Park drängeln. Auch Maria und Lucia sind gekommen. W o sie wohnen, wollen sie mir immer noch nicht verraten. Schließlich haben dort auch die Rebellenbrüder ihr Quartier. Lucia fragt noch einmal nach den Aussichten, nach Deutschland zu kommen. Nach der Dämmerung füllt sich der gesamte Dorfplatz. Das Fußballfeld wird zur Tanzfläche. Dicke Lautsprecher lassen das Zwerchfell vibrieren. San Vicente ist eine einzige Party. Ganz unkommunistisch treten

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sogar Firmen als Sponsoren auf. Mit Johanna, der jungen Kellnerin des Journalisten-Restaurants, tanze ich unter dem Nachthimmel und zwischen den Korbsesseln der vielen Clubs um den Park bis in die frühen Morgenstunden. Dann ist es Zeit, San Vicente zu verlassen. Zwei Stunden flussabwärts lebt einsam ein US-amerikanischer Priester. Er sei wie eine Kultfigur, nehme kein Blatt vor den Mund und kenne wichtige Details, bekomme ich einen Tipp von einem Journalisten-Kollegen. Zwar hat mir die „Pressestelle" noch immer kein grünes Licht gegeben — Commandante Orlando sei nicht zu erreichen. Doch das ist jetzt auch egal. An der Bootsanlegestelle von San Vicente gruppieren sich Rancheros im Kreis um einen Hahnenkampf. Sie toben, hüpfen und feuern die zerrupften Gockel an. Das ist hier Volkssport neben Fußball. Ich klettere in ein langes Boot mit weißer Schutzplane und Holzbänken. Der Steuermann dreht den Außenbordmotor auf, und sofort bäumt sich der Bug der Barke auf wie ein wiehernder Hengst. In rasendem Tempo jagt er an Untiefen vorbei, reißt die Passagiere mal auf die eine und mal auf die andere Seite. Sandbänke, Weiden und gewaltige Baumkronen rasen vorüber und verschwimmen zu einem unscharfen grünen Streifen. Gischt spritzt ins Gesicht und kühlt den Schweiß in feucht-heißer Tropenluft. Nach zwei Stunden steige ich auf einem wackeligen Holzsteg in wild wucherndem Gestrüpp aus. Ein Pfad führt ein paar hundert Meter weiter nach Betania. Die 500-Seelen-Gemeinde, die vor zwanzig Jahren von Brandrodern in den besiegten Urwald gepflanzt wurde, ist der Inbegriff eines gottverlassenen Nests. Gerade deshalb harrt der Missionar Van Allen Hager hier aus. Am Kopf des Fußballfeldes steht seine kleine Dorfkirche, in leichtem Rosa verputzt. Blühende, gepflegte Sträucher zieren den Vorgarten. Damit hebt sich die Kirche deutlich von den flachen Holzhäusern drumherum ab, an denen die ausgebleichten Farblacke abblättern. Auf einem Elektromast steckt ein krächzender Lautsprecher, mit dem Hager die Seelen des Dorfes mit Kirchenmusik und geistlichen Botschaften berieselt. Aus der Ferne dringt sonst nur die Stimme der Telecom-Frau durch. Sie verkündet Anrufe und bittet Adressaten an die einzige Telefonleitung der Gegend. Neben der Kirche wohnt Hager in einem verfallenden Schuppen aus nackten, mit Moos bewachsenen Ziegelsteinen und rostigem Wellblechdach. Der Padre begrüßt mich freundlich und bittet mich in 254

seine Stube. In einem gusseisernen Wippstuhl mit Plastikbespannung lässt er sich nieder. Das ist das zentrale Möbelstück des Hauses. D a neben besitzt er lediglich ein spartanisches Bett und einen kleinen Holztisch, darauf eine Teetasse, eine Kerze mit Ständer, eine Bibel, eine Pfeife und eine leere Konservendose als Ascher. Seit vier Jahren hat sich Hager in Betania eingenistet und ist zu so etwas wie einem Erzfeind der örtlichen Rebellen geworden. „Es scheint zum Protokoll zu gehören, dass Commandante Orlando mich nicht treffen möchte. Ich habe es mehrmals versucht. Nur einmal hat er sich in einer öffentlichen Ansprache direkt auf meine Person bezogen: ,Die F A R C haben keine Entführten, wie der Padre behauptet, nur Kriegsgefangene.' Aber ich grüße die Guerilleros in der Straße, und sie grüßen zurück", sagt der 55-Jährige in stoischer Ruhe. Seine grauen Haare hat er nach hinten gekämmt, so dass Geheimratsecken sichtbar werden. Darunter begrenzen buschige Augenbrauen die faltige Stirn. Z u einer offenen Konfrontation mit den Aufständischen ist es noch nicht gekommen. Allerdings sabotiert die Guerilla sonntags ab und zu seinen Gottesdienst mit lauten Megaphonansagen und Fußballturnieren vor der ohnehin kaum besuchten Kirche. „Immer mehr Eltern schicken ihre Kinder zum Studieren aus der Zone heraus. Sie haben Angst, dass sie zwangsrekrutiert werden", sagt Hager weiter mit monotoner Stimme und streichelt die kleine Katze, die sich in sein langes weißes Gewand gekuschelt hat. Darunter trägt Hager offene Sandalen, trotz der Moskitos. Das Wellblechdach knistert im W i n d . Seit 1 9 8 0 seien in Kolumbien vierzig Priester umgebracht worden, sagt Hager, davon fünfunddreißig von Paramilitärs. „Ich vertraue auf den Herrn und in meine Arbeit. Angst hatte ich nur einmal in Äthiopien. Aber diese Erfahrung ging vorbei." Dabei hätten gewöhnliche Zeitgenossen in der Zone längst das Zeitliche gesegnet, würden sie die Worte in den M u n d nehmen, die er auszusprechen wagt: „Die Guerilla bereitet sich klar zum Krieg vor. Das sehen wir jeden Tag. Die Verhandlungen in Los Pozos sind nur ein Spiel." Damals wusste niemand, wie Recht er behalten sollte. „Diejenigen, die durch Viehzucht gut verdienen, werden entführt oder erpresst. Die Guerilla sackt alles Geld ein und die Leute werden immer ärmer. Letzten Samstag haben die Rebellen die Dorfbewohner zusammengerufen und ihnen gesagt, sie müssten noch mehr zahlen für die Straße, die sie bauen. Sie drohen ihnen damit, sie an die Paramilitärs auszuliefern." Die Straße — das ist das Hauptthema in Beta-

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nia. Die Landstraße aus San Vicente. Die Rebellen haben Bauern aus der Umgebung angeheuert, um die Schneise durch den Dschungel zu schlagen und zu befestigen. „Das ist Sklavenarbeit", schimpft der einsame Padre. Doch selbst er kann der FARC etwas Positives abgewinnen: „Der Vorteil der Guerilla ist, dass sie viele Straßen bauen und damit die Dörfer beleben. Das hat die Regierung nie getan, obwohl es ihre Pflicht ist." In der Tat waren auch die Gassen in San Vicente früher nicht geteert, und die Trucks wirbelten den Einwohnern Staub in die Lunge. Viele werfen den Behörden Korruption und Gleichgültigkeit vor. San Vicente glich einer Abfallhalde. Jetzt trommelt der Guerillero Mauricio Gareca, den sie „den Ingenieur" nennen, die Einwohner von San Vicente zusammen, um die Straßen zu teeren. Viele aus der Nachbarschaft kommen freiwillig und freuen sich über den lang ersehnten Asphalt. Wer nicht will, bleibt zu Hause, sagt Gareca. Doch auf dem Land wie in Betania gibt es weniger Kontrolle. Ich nehme mir vor, den Straßenbau im Dschungel anzusehen. Die Einwohner im Dorf blicken zunächst misstrauisch. Die Stimmung ist gereizt. Ich laufe über die breite Sandstraße zur flachen Häuserreihe am Rande des Fußballfeldes. Es dauert nicht lange, bis die Menschen Tacheles reden. „Wir leben zwischen zwei Feuern", sagt der Besitzer der einzigen Billardspelunke im Dorf. „Was können wir tun? Wir müssen uns arrangieren." Früher hatte Don Carlos jeden Abend geöffnet. Heute darf er nur noch am Wochenende Billardkugeln im Dreieck legen und humpelnd die Bauern mit Bier und Schnaps versorgen. „Die Leute haben Angst", sagt er leise. Aus einem stämmigen, alten Campesino, der gerade in „gemeinnütziger Arbeit" die Schule geputzt hat und noch außer Atem ist, platzt es heraus: „Wir sind unschuldig! Wir können uns nicht wehren!" Die anderen nicken stumm. Trotzdem sagen auch sie: Das Verbrechen ist verschwunden. Die Leute können ihre Türen offen stehen lassen, müssen keine Angst mehr um ihre Rinder haben, und Besoffene schlagen sich nur noch die Zähne ein und rammen sich keine Messer mehr in den Bauch. Einer stößt daneben - und versenkt die schwarze Acht im Loch links unten. Um zur Baustelle der Dschungel-Straße zu kommen, muss ich den Inspektor des Dorfes um Erlaubnis bitten, eine Art Unterbürgermeister für kleine Gemeinden. Ein pummeliger, lustiger Kerl sitzt in einem kahlen Büro an der anderen Ecke des Fußballfeldes. Er spricht 256

von „gemeinnütziger Arbeit", draußen im Wald. Die Rebellen nennt er muy buena gente, nette Leute. Ob ich die Baustelle besichtigen kann, müssten wir ausprobieren, sagt er. Wir quetschen uns auf sein kleines Moped und hoppeln auf Erdstraßen über steile Hügel immer tiefer in den Urwald. Mehr als einmal muss ich absteigen und schieben. Dann stoppt der Inspektor an einer Finca am Wegrand. Der Guerillaposten. Aus der Tür tritt ein kräftiger Rebell mit kantigem Gesicht und dunkler Hautfarbe. Seine Augen schießen wie schwarze Pfeile aus ihren Höhlen. Der Kämpfer trägt ein olivgrünes T-Shirt und ein schwarzes Barett. Misstrauisch begutachtet er mich. „Du willst zur Baustelle?" „Ja." „Wo kommst du her? Was machst du hier? Für wen schreibst du?" Erst als ich über die Leibesfülle des Inspektors witzele, die das Moped in die Knie zwingt, lockert sich die Atmosphäre etwas auf. Der Rebell ist 27, zwei Jahre jünger als ich. Das Alter bringt uns ein Stück näher. Julian Torre, wie er sich mit Kriegsnamen vorstellt, greift zum Funkgerät. Es ist made in Japan und mit einem roten Tuch umwickelt. Am anderen Ende krächzt die Stimme von Commandante Orlando. Mir schießt durch den Kopf, dass ich keine Erlaubnis von seiner Front habe, hier im Dschungel zu schnüffeln. Unruhig schaue ich um mich. In der Finca sitzt eine attraktive Guerillera mit einem Baby auf dem Arm. Torres Frau. Sie lächelt mir zu. Ich gehe zu ihr an den Tisch und begrüße sie mit Handschlag. Möglichst locker auftreten, denke ich, um die gespannte Lage zu entschärfen. Zwei Schlafsäcke und eine Hängematte erkenne ich im Raum nebenan. Torre läuft mit seinem Walkie-Talkie um die Hausecke, damit ich nicht alles mithören kann. Dann kommt er zurück. Schneidig ruft er: „Los geht's!" Ich steige zu ihm aufs Motorrad. Der Inspektor tuckert mit seinem Moped hinterher. Die weiße Honda-Maschine des Rebellen trägt noch das Nummernschild des früheren Besitzers. Fotografieren von hinten ist verboten. Noch eine Bedingung stellt Torre: Meine Artikel dürfen nicht in Kolumbien erscheinen. Ich beruhige ihn. Dass dpa auch einen spanischen Dienst hat und nach Lateinamerika sendet, muss er ja nicht wissen. Stundenlang kurven wir über Sandpisten durch den Urwald. Jetzt war ich der Guerilla komplett ausgeliefert. Doch Torre und ich werden langsam miteinander warm und erzählen in vorsichtigen Stücken von unserem Leben. Lastwagen mit geladenem Geröll kommen uns entgegen. Wir fahren an mehreren Baukolonnen vorbei. „Montag ist dia comunitario\ er257

klärt Torre. D a müssen alle Bauern „gemeinnützige Arbeit" leisten. D i e übrigen Tage wechseln sie sich ab, damit sie auch noch ihre Felder bestellen können. „Die Finceros arbeiten von sieben U h r früh bis vier Uhr nachmittags. W i r haben 1 4 0 Leute, davon 4 0 Frauen. V o n der Strecke fehlen nur noch 2 5 Kilometer. D a n n ist sie komplett", sagt Torre stolz. „Von San Vicente nach Betania wird man nur noch zwei Stunden brauchen. Bisher mussten die Bauern ihre Ernte mühsam mit dem Boot hierher schleppen und dann mit dem Pony zu ihren Fincas. Das ist ein Fortschritt für die ganze Gemeinschaft. Alle profitieren davon." An einer Baukolonne steigen wir ab. Torre lässt mich mit den Bauern alleine reden und entfernt sich. Einer ist voll des Lobes über die neue Straße: „Endlich können wir unsere Ware schneller auf den Markt in die Stadt bringen. Die Regierung hat überhaupt nichts getan." Er hechelt erschöpft. Schweiß rinnt am Saum seines Sombreros entlang. Sein staubiges H e m d klebt am Körper. „Was passiert, wenn jemand nicht zur Arbeit auftaucht?", frage ich und schiele auf Torre, der weit genug weg steht. Schweigen. „Dann gibt's Ärger", sagt schließlich ein Bauer achselzuckend und klammert sich fest an seinen Spaten. Gefehlt hat noch niemand. Keiner will mehr dazu sagen. Einige wechseln viel sagende Blicke. Dann stechen sie wieder in die rotbraune Erde. Ein paar Kilometer weiter treffen wir auf einen Baggerfahrer. Wieder entfernt sich Torre, damit ich ungestört mit ihm sprechen kann. D e r Mann kommt aus San Vicente und wurde vom dortigen Bürgermeisteramt hierher zum Steinbruch beordert. Er schaut finster: „Ich arbeite ohne Vertrag. Keine Ahnung, ob ich jemals das Geld bekomme, das sie mir versprochen haben. G o t t weiß, wie lange ich hier noch bleiben muss." In San Vicente ruht der normale J o b . Seine Familie wartet. M i t anderen Zwangsarbeitern zwängt er sich nachts in eine einsame Farm neben dem Steinbruch. Eine Bäuerin kocht für die heimatlosen Männer. Nach fünf Stunden kehren wir in die Finca zurück. Meine Kleidung ist mit rotem Sandstaub bedeckt. Sonnenbrand kneift auf der Stirn. Torre lädt mich noch zu einem Becher Reismilch ein. Bis tief in die Dämmerung sitzen wir am Tisch mit seiner Frau und diskutieren über Politik, die sozialen Probleme Kolumbiens im Vergleich zu Europa, das Leben in der Guerilla und über deren Weltanschauung. Torre gibt sogar seine Pistole aus der Hand und lässt den pummeligen Dorfinspektor damit herumfummeln.

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Schon mit zehn Jahren kam Torre zur F A R C . „Wegen der Armut", begründet er knapp. „Die Guerilla kämpft für die Armen. Ein Guerillero hat keine Angst - vor dem T o d am wenigsten", leiert er die gängige Propaganda herunter. Armut ist immer noch das beste Argument der Vulgärmarxisten aus dem Dschungel. Viele Kolumbianer sympathisieren mit dem grundsätzlichen Anliegen der Guerilla, aber nicht mit deren Methoden. In der Rebellentruppe wird man aber auch nicht reich, meint Torre. Jeder Kämpfer, egal welchen Rang er einnimmt, erhält 1 5 0 0 Pesos am Tag. Das sind etwa 7 5 Cents. Allerdings ist das auf den M o n a t gerechnet das Doppelte des offiziellen Mindestlohns. Was sonst noch für jeden einzelnen herausspringt an gestohlenen Autos, Erpressungsgeld oder Entführungsprämien, lässt sich schwer einschätzen. Zumindest genießen die Guerilleros eine Art freie Krankenversorgung, was für viele Bürger Kolumbiens zu dieser Zeit noch ein unerreichbarer Luxus ist. „Im Busch haben wir ein eigenes Krankenhaus und sogar einen Chirurg. W i r haben sehr gut ausgebildete Ärzte." Plötzlich brummen in der Luft die Motoren eines Flugzeugs. T o r r e horcht auf. „Das sind die Aufklärungsflugzeuge der Militärs", behauptet er. „Das ist der Beweis für ihre Propaganda: Sie haben versprochen, nicht über die Zone zu fliegen." Schwer zu sagen, ob die Geschichte stimmt, die Torre mir auftischt. Zumindest eines nehme ich ihm ab: Er gehört zu den zahlreichen Rebellen, die nie ein anderes Leben außer dem K a m p f im Busch kennen gelernt haben. Deshalb wird es verdammt schwer sein, sie in eine Zivilgesellschaft einzubinden. Torre spricht von einem Teufelskreis: „Es wird nie Frieden geben. D i e Gefahr der Rache ist zu groß." Seine Frau nickt stumm. Im Dunkeln hoppeln der Inspektor und ich auf dem M o p e d ins D o r f zurück. Übernachten kann ich in einem Gästehaus von Padre Hager neben der Kirche, das im Vergleich zu seiner Baracke geradezu luxuriös anmutet. Zumindest gibt es ein Waschbecken mit Seife und Moskitonetze. Spät abends spaziere ich noch einmal zur einzigen Straßenkreuzung, die gleichzeitig das Dorfeentrum ist. D o r t setze ich mich in die ebenfalls einzige Spelunke, die nachts noch öffnen darf. Ich bestelle eine Malta, das gute kolumbianische Malzbier. U m mich herum sitzen bald zwanzig, dreißig Dorfbewohner. Besonders gesprächig, aber sympathisch ist der Bauer Alvaro Gömez. Der Alkohol hat ihm bereits Feuchtigkeit in die Augen getrieben. Aber seine Gedanken fasst er immer noch klar.

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Gómez beklagt sich über die wirtschaftliche Situation. „Unter der Guerilla ist es überhaupt nicht besser geworden. Ich habe neunzig Hektar Land. Auf einem Hektar steht Koka, auf dem Rest Mais, Yuka, Bananen. Koka war immer meine Lebensgrundlage. Doch der Preis ist ständig gefallen. Jetzt lohnt es sich nicht einmal mehr, das anzubauen. Seit Oktober habe ich nichts mehr verkauft. Und dann müssen wir auch noch für die Guerilla schuften." Die anderen darum herum, wenig nüchterner als Gómez, hören aufmerksam zu oder werfen Kommentare ein. „Ich würde gerne Koka durch andere Pflanzen ersetzen. Aber die Regierung gibt uns keinen Kredit. Stattdessen fliegt sie mit Sprühflugzeugen über unser Land und erwischt damit sowieso nur die großen Felder. Uns kriegt sie nicht." Dann wird der Fincero fast melancholisch: „Kolumbien ist ein so schönes und reiches Land. Wenn nur diese Gewalt nicht wäre! Uns könnte es so gut gehen. Wir Bauern könnten unsere Fincas zu Ferienhäusern machen. Dann brauchten wir keine Koka mehr anzubauen. Wir würden Prospekte drucken und Deutsche, Franzosen und Engländer zum Urlaub auf dem Bauernhof einladen." Die Gesprächigkeit und Offenheit der Gäste in der schummrigen Kneipe steckt mich an. Schließlich begehe ich einen gefährlichen Fehler. Gómez fragt mich, was ich so in San Vicente erlebt habe. Leichtsinnig berichte auch über die Dinge, welche die Guerilla nicht gerne hört - besonders vom verzweifelten Ranchero Lombana, der seit mehr als einem Jahr seinen verschleppten Sohn sucht. Ein Schicksal, das viele Dorfbewohner hier auch fürchten. Sie spitzen die Ohren. Gómez und ich verabreden uns noch für den nächsten Morgen. Er will mich mit seinen Ponys auf die Farm nehmen und mir zeigen, wie er Koka anbaut und zu Kokainbasis verarbeitet. Ahnungslos lege ich mich in Padre Hagers Gästepritsche zur Ruhe. Der nächste Tag beginnt mit kräftigen Sonnenstrahlen und dicker Luft. Wie geplant, treffe ich Gómez beim Satteln seiner Ponys an. „Wann geht's los?", frage ich ihn. „Später." „Wann?" „Weiß noch nicht genau." Er schaut mir dabei nicht in die Augen. Das tun Menschen, wenn sie Angst haben. Und das haben viele getan, in diesen Tagen. Ich gehe spazieren und komme wieder bei Gómez vorbei. „Wann gehen wir?" „Es gibt noch ein paar Probleme. Später." Ein paar Männer und Frauen sitzen auf den Bürgersteigen und beobachten mich stumm. Wieder vergeht eine halbe Stunde. „Na, bist du fertig?" „Nein." „Wo liegt das Problem?" Er schweigt und fummelt 260

an den Säcken, die er aufs Pony geschnürt hat. „Wo liegt das Problem?" „Wir können nicht gemeinsam gehen." „Warum nicht?" „Die Guerilla hat es verboten." Die Guerilla? Torre? W i r saßen doch gestern noch entspannt zusammen. Kann ich mir nicht vorstellen. Ich gehe ein paar Häuser weiter zum Inspektor. Gömez ist es sichtlich unangenehm. Auch der Inspektor ist auf einmal wie ausgewechselt. „Ich habe gehört, die Guerilla hat irgendetwas dagegen, dass ich mit dem Bauern zur Finca gehe." „Ja, geht nicht", sagt er knapp. „Was geht hier vor? Warum nicht?" „Geht halt nicht." „Können Sie mir einen Grund nennen?" „Den Grund kennt nur die Guerilla. Aber es wäre besser, wenn Sie von hier verschwinden." Ich kneife die Augen zusammen und schaue ihn lange an. Seine Augen sind auf die Papiere auf seinem Schreibtisch gerichtet, in denen er verlegen umher fuchtelt. „Dann spreche ich eben selbst mit der Guerilla", sage ich trotzig und gehe. Auf der Straßenkreuzung scheinen alle Bescheid zu wissen. In diesem Kaff gibt es keine Geheimnisse. Ich fühle mich beobachtet. Die Einwohner, die auf den Gehsteigen lungern, mustern mich. Ich frage, ob jemand irgendeinen von der Guerilla gesehen hat. Schulterzucken. Plötzlich knattert ein Motorrad heran. Es ist Torre auf seiner weißen Honda. Ich lächele, halte ihn an und frage, was das Ganze soll. Torre ist nicht wiederzuerkennen. Erst jetzt passen das kantige Gesicht und die finsteren Augen zu seiner Erscheinung. Die Atmosphäre ist eisig. „Warum darf ich nicht gehen?" Auch Torre schaut mich nicht an. Das bedeutet nichts Gutes. Ohne Kommentar dreht er den Gasgriff hoch und braust an mir vorbei. Jetzt habe auch ich endlich kapiert: Es ist höchste Zeit zu gehen! Doch das einzige Boot am Tag nach San Vicente hat schon vor einer Stunde abgelegt. Ich nehme das nächste das kommt, egal in welche Richtung. Das hat mir der Padre geraten. Ihn bringt ja wahrlich nicht viel aus der Ruhe. Ein Spitzel in der Kneipe muss meine kritischen Kommentare über die Guerilla in der Nacht aufgeschnappt und verraten haben. Jetzt ist nichts mehr zu retten. Nach der Bootsfahrt, die diesmal nicht schnell genug sein kann, nehme ich in einem anderen Urwaldnest einen klapprigen Jeep als Sammeltaxi. Uber einen großen Umweg durch riesige Flächen abgeholztes Weideland erreichen wir am Abend San Vicente. Noch eine Nacht verbringe ich im Hotel an der Hauptstraße neben den Bars und Bordellen. Am Morgen mache ich noch eine kurze Abschiedsrunde. Fast fühle 261

ich mich schon wie zu Hause. An jeder Ecke ein bekanntes und freundliches Gesicht. Maria und Lucia treffe ich zufällig auf dem Weg zum Park. Lucia ist immer noch beleidigt, dass ich sie nicht heiraten will. Doch sie wird das große Guerilla-Gefängnis so bald nicht verlassen. Traurig wird es im Journalisten-Restaurant. Die Kellnerin Johanna drängt mich, noch zu bleiben. Bald sei doch wieder SalsaAbend. „Ich kann nicht", sage ich nur. „Es ist Zeit zu gehen." Anders als die Menschen, die ich zurücklasse, trennen mich vom übrigen Kolumbien nur ein Checkpoint. *

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Am 20. Februar 2002 trat das ein, wovor sich die Einwohner von FARClandia so sehr gefürchtet hatten. Die Friedensgespräche zwischen der Regierung und den Rebellen scheiterten endgültig. Eine FARC-Offensive mit dutzenden Toten und eine Flugzeugentführung, während in Los Pozos die Unterhändler beider Seiten auf den Plastikstühlen unter dem Wellblechdach zusammensaßen, waren die Tropfen, die das Fass zum überlaufen brachten. Präsident Pastrana erklärte die Entspannungszone fiir null und nichtig. In einer Fernsehansprache sagte der Politiker, dessen gesamte Mission zusammengebrochen war: „Wir haben eine Zone eingerichtet, um zu verhandeln. Und sie haben sie verwandelt in einen Schlupfwinkel für Entführer, in ein Labor von illegalen Drogen, in ein Depot von Waffen, Dynamit und gestohlenen Autos!" An eine zweite Rebellenzone für das ELN, wie im Norden des Landes geplant, ist nicht mehr zu denken. Nur wenige Monate später gaben die Kolumbianer mit zerstobenen Illusionen und Wut im Bauch ihre Stimmzettel ab. Im August folgte Uribe ins Präsidentenamt. Zwar gewann er diese Wahlen noch mit indirekter Hilfe der Paramilitärs, doch bald sollte er mit seiner harten Hand gegenüber der Guerilla großen Respekt in der Bevölkerung ernten und zu einem der beliebtesten Präsidenten des Landes werden. 2006 wurde er haushoch wiedergewählt, nachdem er die Verfassung in einer umstrittenen Aktion zu seinen Gunsten hatte ändern lassen. Er verstärkte Armee und Polizei, rang den Paramilitärs Vertrauen und die Bereitschaft zur Entwaffnung ab. Viele Kolumbianer sagen, der gescheiterte Friedensversuch unter Pastrana habe der FARC endgültig die marxistische Maske vom Gesicht gerissen und ihre Kompromisslosigkeit und Brutalität offengelegt. 262

Während wichtige Verkehrsadern und Landstriche Kolumbiens unter Uribe sicherer wurden, ist die ehemalige Z o n e von Caguán zum blutigen Niemandsland verkommen. Die verfeindeten Gruppen auf beiden Seiten setzten nach dem Scheitern der Friedensgespräche die geschundenen Bauern und Viehhändler für ihre Zwecke unter Druck. Soldaten und Paramilitärs vermuteten in jedem Einwohner, wie befürchtet, einen Verräter. Nicht nur die Todesschwadronen, auch die Regierungstruppen gingen nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen mit brutaler Gewalt vor: Verhaftungen ohne Begründung, Folter und M o r d waren an der Tagesordnung. Die F A R C schüchterten ihrerseits die Bewohner ein und forderten sie zu zivilem Ungehorsam auf. D i e ruhige Zone, ja das „Paradies", von dem der Sportverkäufer sprach, ist Vergangenheit, die Kunstwelt zusammengebrochen. Der Bürgermeister von San Vicente mit der Alkoholfahne morgens um halb zehn sowie andere Gemeindevertreter auch mussten - falls sie es überlebt haben — flüchten. Ebenso der Maler Miranda und seine wehrlose Truppe der Zivilpolizei. Den Revolver in seiner Schublade konnte er sicher gut brauchen. Die Hoffnung auf Hilfe durch die Regierung musste er begraben. O b Maria nun eine F A R C - U n i f o r m trägt und mit Gummistiefeln durch Schützengräben robbt? Was wird wohl Lucia machen, ohne Mann? Und ihre Brüder? W o sucht Lombana jetzt nach seinem Sohn? O b die Paramilitärs den schrecklosen Padre Hager ebenso verschonen werden wie es die Guerilla tat? W i r d Johanna vom Journalisten-Café nebenan immer noch Salsa tanzen? Sie wollte sich um ein Stipendium für ein Studium bewerben. Die Menschen in San Vicente und ihre Schicksale sind vergessen. Keiner weiß genau, was mit ihnen geschehen ist. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International fasste ihren Bericht über die Zone im Oktober 2 0 0 2 ernüchternd zusammen: „Die Einwohner der ehemaligen Entspannungszone sind nicht nur von den kolumbianischen Behörden im Stich gelassen worden, die ihre Versprechen zur politischen und wirtschaftlichen Unterstützung nicht erfüllt haben [...], sondern auch von der internationalen Gemeinschaft, die der Z o n e während des Friedensprozesses so große Aufmerksamkeit gewidmet hatte."

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Dreiländer-Dschungel: Ureinwohner im Fluss der Moderne Kolumbien/Brasilien/Peru,

Amazonas-Gebiet,

im April 2000

Knapp tausend Kilometer südöstlich von San Vicente berührt kolumbianisches Gebiet in einem dünnen Wurmfortsatz das Ufer des Amazonas. Umzingelt von wild wucherndem Urwald stoßen dort drei Staaten aufeinander: Kolumbien, Brasilien und Peru. Anders als im Busch von FARClandia existieren im Dreiländer-Dschungel staatliche Grenzen. Doch sie haben vor Ort kaum Bedeutung. Die menschlichen Trennlinien haben sich gegen die Landkarte der Natur im Alltag nicht richtig durchgesetzt. In dem Amazonasgebiet arbeitet die kolumbianische Stiftung GAIA mit den Ureinwohnern zusammen. Sie will die indigenas fit machen für ein Nebeneinander ihrer Traditionen und der modernen Einflüsse der blancos, der kolonialen „Weißen". Auf Einladung der Organisation fliege ich zunächst in das Dreiländereck, um von dort über Brasilien per Flugzeug und Boot wieder zurück auf kolumbianisches Gebiet zu einem Stützpunkt von GALA im unerschlossenen Dschungel zu gelangen. Die umständliche, abenteuerliche Reise über künstliche und natürliche Grenzen beginnt in Leticia. Die kolumbianische Stadt am Amazonasufer ist die Drehscheibe der Dreiländer-Insel inmitten eines scheinbar unendlichen Meeres saftigen Grüns. Dort werde ich Mitarbeiter der Stiftung treffen, um mich ihnen anzuschließen. Flache Holzhäuser mit rostigen Wellblechdächern flankieren quadratisch angelegte Sand- und Teerstraßen, die Nummern tragen. Der Ort wirkt trist, der Alltag behäbig. Am meisten Leben und Lärm bringen die zahlreichen Mopeds, mit denen die Jugendlichen aus Mangel an sinnvollerem Zeitvertreib über die Pisten jagen. Ich steige im Hotel Colonial ab in der Carrera 10, Ecke Calle 7, drei Blöcke vom Amazonasufer entfernt. Die kleine Lobby ist mit dunklen Holztäfelungen und klobigen Sesseln ausgestattet. Schwere Holzbetten füllen die gemütlichen Zimmer. In den Ecken summen alte Ventilatoren. Die Feuchtigkeit der Luft und der Schweiß aus den Poren scheinen die Haut von beiden Seiten zu ersticken. Die Äquatorsonne prallt auf Haupt und Häuser. Hier verdienen die Satelliten264

schüsseln wahrlich ihren Namen: Sie liegen flach auf den Dächern, ihr zentraler Arm ragt senkrecht in den Tropenhimmel. Das Hotel Colonial ist ein Symbol für das brutale Schicksal, das den indígenas in dieser Region widerfahren ist. Mit der spanischen Eroberung und der anschließenden Kolonialzeit begann ihr Niedergang. Schon im 16. Jahrhundert mussten sie, deren Vorfahren in dieser Erde begraben liegen, als Zwangsarbeiter fiir die geldgierigen Eindringlinge aus dem christlichen Europa schuften. Hinrichtungen, Peitschenhiebe und Verstümmelungen drohten den Ureinwohnern, die sich ihren Herren widersetzten oder den Frauen, die sich weigerten, mit den blancos Sex zu haben. Mehrere Indio-Aufstände blieben fruchtlos. Die Geschäftsleute und deren Handlanger waren stärker. Das Verhängnis der Eingeborenen war - und ist heute noch dass sie in einem Gebiet großer Natur- und Bodenschätze leben. Bald erfasste der Kautschuk-Boom die Amazonasregion. Die Industrialisierung in Europa hatte die Nachfrage nach Gummi für Autoreifen, Dichtungen und viele andere Zwecke geweckt. Der Run auf den Latexsaft hielt fast hundert Jahre an bis 1972. Alleine von 1890 bis 1930 kamen dabei in der Gegend der Flüsse Putumayo und Caquetá schätzungsweise 100 000 indígenas ums Leben. Das ist sehr viel in einem Gebiet, in dem weniger als ein Einwohner pro Quadratkilometer lebt. Zurzeit wohnen in den Wäldern Kolumbiens insgesamt noch 600 000 Ureinwohner; das sind knapp zwei Prozent der Gesamtbevölkerung, davon 60 000 im heutigen Schutzgebiet im Südosten des Landes von der Größe Großbritanniens (das knapp 60 Millionen Einwohner zählt). Nach dem Kautschuk folgten der Leder-Boom (1960 bis 1974) und schließlich der Koka-Boom seit den 80er Jahren. Auch indígenas können sich der neuen Welt nicht mehr verschließen und nehmen am Handel teil, allerdings auf ihre Weise. Einige bauen Koka an und tauschen es gegen Hängematten oder Benzin fiir ihre neuen Motorboote. Die Unabhängigkeit Neu-Granadas, wie Kolumbien damals hieß, hatte 1819 das Los der Indianer kaum verbessert. Mit Unterstützung des Vatikan und der neuen Regierung drangen nicht nur Händler, sondern auch katholische Missionare immer hartnäckiger durch das schützende Dickicht in die Dörfer vor. Inzwischen haben sich um die Ureinwohner herum mehrfach Grenzen verschoben, die ihnen fremd und ziemlich gleichgültig waren. Im Umriss des ehemaligen spanischen Vize-Königreichs bildete sich zunächst 1921 das so genannte 265

Groß-Kolumbien aus dem heutigen Kolumbien, Panama, Ecuador und Venezuela. Doch der Bund fiel 1830 wieder auseinander, und Panama als kolumbianische Provinz spaltete sich 1903 ab. Es entstanden Nationalstaaten nach europäischem Vorbild. Damit zog auch der Krieg der Staaten in den Dschungel ein. Zum ersten Mal drangen Soldaten ins Amazonasgebiet um Leticia vor, als Kolumbien und Peru 1932 miteinander im Streit lagen. Grenzkonflikte schwelten schon seit längerem, und Gebiete wechselten mehrfach hin und her. So wurde auch Leticia zunächst als peruanische Stadt mit dem Namen San Antonio gegründet. Mit den Soldaten kamen neue Siedlungen der blancos ins Herz der indigena-YLráe. Die Eingeborenen leben weiterhin auf allen Seiten der Grenzen. Wahren Respekt haben sie nur vor Flüssen. Ich verlasse das Colonial und spaziere hinunter zum Amazonas. Buden brechend voll mit Bananen, Orangen und Kokosnüssen säumen den Pfad zum Ufer. Müll und dunkle Erde begrenzen den größten Strom der Welt. Die unteren Häuser stehen auf Holzpfählen. Um den meterhohen Schwankungen des launischen Amazonas vorzubeugen, haben die Einwohner einen Wall aus Sandsäcken errichtet. Planken fuhren hinauf und wieder herab zu den dünnen langen Holzbooten mit Außenbordmotoren. Häuser vor dem Wall schwimmen auf Flößen, unter ihnen sind Lagerhallen und Spelunken. Dahinter wälzt sich schwerfällig der breite bräunliche Strom entlang. Wenige Meter flussabwärts erreichen die Wassermassen Brasilien. Am anderen Ufer gegenüber fließen sie an peruanischem Territorium entlang, an der Insel Santa Rosa. Für ein paar Pesos bringt mich ein Kahnfiihrer über die unsichtbare Grenze. Die Bewohner schippern regelmäßig hin und her, um in Leticia einzukaufen. Santa Rosa besteht nur aus ein paar Holzbuden und kleinen Lokalen mit schöner Aussicht auf das Flussbett sowie die schwimmenden Pfahlhäuser von Leticia. Aus den Lautsprechern plärrt der gleiche Latino-Pop von Rossy War wie auf der kolumbianischen Seite. Nur ein Detail verrät, dass die Bewohner der UrwaldInsel Teil einer anderen Nation sind: Sie hören andere Nachrichten. Ihr Blick ist nach Lima gerichtet, nicht nach Bogotá. Ihre Guerilla heißt nicht FARC, sondern Leuchtender Pfad (Sendero Luminoso). Doch diese Rebellen sind schon seit Beginn der 1990er Jahre geschlagen. Der wichtigste Unterschied zu Leticia: Santa Rosa darf — muss — 266

nächsten Monat wählen. An den Baumstämmen sind große Plakate von Alberto Fujimori genagelt. Der korrupte Autokrat möchte vom Volk eine dritte Amtszeit abgesegnet bekommen. Zwischen den Holzhütten mit Strohdächern trollen sich fast nur Frauen und Kinder. Ich frage in die Runde: „Gehen Sie denn zur Wahl?" „Ich glaube schon", meint die eine mit den schielenden Augen und der Zahnlücke. „Wen werden Sie wählen?" „El Chino." So nennen die Peruaner ihren Präsidenten, den Sohn eines japanischen Einwanderers. „Warum?" „Pffffff...Weiß nicht. Ich kenne sonst keinen anderen. Beim Chino wissen wir wenigstens, woran wir sind." Fujimori sollte es noch einmal schaffen. Die Wahlen waren nicht fair. Immer mehr Menschen wussten aber danach, woran sie mit ihm wirklich waren. Wachsende Proteste der Bevölkerung machten Fujimoris diktatorischem Stil bald ein Ende. Er verließ das Land fluchtartig nach Japan. Im April 2001 wurde Alejandro Toledo Präsident. Der Halbindio aus einfachen Verhältnissen hatte sich im Wahlkampf als Volkstribun der Armen feiern lassen. Doch die Turbulenzen in Lima scheinen hier in Santa Rosa unendlich weit weg. Inzwischen hat die untergehende Sonne den Himmel über dem Amazonas in leuchtendes Orange getaucht, das sich in Millionen kleiner Wellen spiegelt. Santa Rosa wirkt verlassen, die Fujimori-Plakate skurril. Die Barke legt ab. Plötzlich plätschert es neben dem Heck, etwa in der Mitte des Stroms. Nur ein Sekundenbruchteil lang war er zu sehen: Ein Exemplar des rötlichen Süßwasserdelphins, der hier im Amazonas zu Hause ist. Inzwischen gehört er zu den meist bedrohten Tierarten der Welt. In den Souvenirläden Leticias können Besucher Versionen aus geschnitztem rötlichem Holz erwerben. Bis spät abends haben die Verkäufer geöffnet. Das Geschäft geht fließend in den Feierabend über, wenn die Inhaber draußen auf den Stufen mit Freunden sitzen und plaudern. Einige Jugendliche lungern gelangweilt am kleinen Park gegenüber der Post. Woanders dringt Musik auf die Straßen, und Mädchen winden ihre Hüften mit offenen Bauchnabeln in den Salsatecas. An der Grenzstraße zu Brasilien erhöht sich sichtbar der Männeranteil an einigen Ecken. Dort haben sich Bordelle eingenistet. Die Hitze verkürzt die Nacht im Hotel Colonial trotz des Ventilators. Bei den ersten Sonnenstrahlen packe ich meinen Rucksack. Zwei Blöcke weiter treffe ich im Büro einer Umweltorganisation eine Handvoll Mitarbeiter der GAIA-Stiftung. Sie sind schwer bepackt mit Kis267

ten, Tonnen und Taschen. Aus Bogotá schleppen sie Schreibmappen, Stifte und allen möglichen Kleinkram zur Vorbereitung von Seminaren mit den Eingeborenen in den Dschungel. In zwei überladenen Taxis fahren wir auf alten Betonplatten zur Nachbarstadt Tabatinga, deren Ränder mit Leticia verschmelzen. VW Käfer aus brasilianischer Produktion tuckern an uns vorüber. Die offene Grenze erinnert an europäische Verhältnisse. Sie erkennt man nur daran, dass die Restaurants entlang der Straße auf einmal auf Portugiesisch beschriftet sind. Und noch etwas: An der unsichtbaren Trennlinie sitzen zwei Männer unter bunten Sonnenschirmen und verkaufen Gasolin — billigeres Benzin aus Brasilien in MartiniFlaschen. Gegenüber steht eine weiß gepinselte Holzbox, in die gerade mal ein Mann aufrecht hinein passt. Sie trägt die Aufschrift „Cambio, Exchange, Troco", und ist leer. Auch kein Grenzbeamter, kein Soldat ist zu sehen. Nur ein Stück weiter Richtung Flussufer siecht eine verschlafene kolumbianische Kaserne vor sich hin. Doch auch jenseits der Straße durchschneidet kein Zaun die Landschaft. Mopeds und Autos fahren von einem Stadtviertel ins andere, von Brasilien nach Kolumbien und zurück. Von Leticia aus nehmen Touristen oder frisch Verliebte auch gerne einen der alten Amazonasdampfer mit mehreren Decks und Hängematten an Bord zur romantischen Tour ins brasilianische Manaus. Die Insel im Dreiländer-Dschungel ist auch deshalb bemerkenswert, weil alle Teile vom jeweiligen Mutterland abgeschnitten sind. Keine Landstraße führt von den Zentren der Länder durch den Urwald nach Leticia, Tabatinga oder in das Hinterland von Santa Rosa. Alle Autos, die hier auf den Buschpisten kurven, müssen eingeflogen oder per Schiff transportiert werden. Die Einwohner sind sich als grenzenlose Nachbarn näher als ihren Nationsgenossen in Bogotá, Lima, Brasilia oder Rio de Janeiro. Dennoch sind die drei Erdzipfel in eine völlig andere politische Welt eingebunden. Die Kraft der Nation kämpft gegen die Kraft der Natur. Doch auch diese Grenzen sind nicht ganz frei von Problemen. Sie wachsen, wenn die Menschen mit Polizei, Beamten und Behörden der anderen Seite in Kontakt kommen. In Leticia geht das Gerücht von einem ganz besonderen Grenzsport: Die Brasilianer schikanieren die Kolumbianer, und die Kolumbianer die Peruaner. Manchmal würden Bürger jenseits der Grenze schlecht behandelt. Darunter leiden vor allem die indígenas, die in den Augen vieler blancos auch heu268

te noch auf der untersten Stufe der sozialen Leiter stehen. In den Wäldern des Dreiländerecks leben vor allem die Stämme der Ticuna, Cocama und Iagua. Heikle Themen, über die niemand gerne spricht, ist der Schmuggel von Waffen, Koka und Materialien zum illegalen Bergbau. Patrouillen zielen zudem auf Gauner ab, die unerlaubt wertvolle Baumbestände abholzen oder seltene Tiere rauben. Im kleinen Flughafenterminal von Tabatinga durchwühlen die Beamten meinen Rucksack bis ins letzte Fach und jede einzelne Kiste der GAIA-Mitarbeiter. „Kolumbianer sind eben immer verdächtig", witzelt ein Mitarbeiter der Stiftung. „Wir kommen doch aus dem Land der Drogen und der Guerilla." Auf einen Stempel in meinen Pass warte ich vergebens. Nach anderthalb Stunden Sicherheitscheck brummen endlich die Propeller und der Amazonas schrumpft nach und nach zu einer braunen Schlange im grünen Meer. Der winzige Schatten der Maschine zuckt auf den Baumwipfeln unter uns auf dem 350 Kilometer langen Weg nach Norden, an der brasilianischen Grenze entlang. Neben mir im Flugzeug sitzt eine junge Rechtsanwältin von GALA mit langen schwarzen Haaren und aufgeweckten braunen Augen. Sie lehrt den Ureinwohnern so etwas wie Staatsbürgerkunde. „Wir befähigen sie, ihre Rechte wahrzunehmen. Denn ihre eigene Logik ist total anders", erklärt Natalie Villamor. „Wir sind eine Brücke zwischen den indigenas und dem Staat. Langsam führen wir sie an Gesetze heran, die sie mit den Traditionen ihrer Vorfahren in Verbindung bringen müssen." Auch wenn ihnen politische Grenzen gleichgültig oder unbekannt sind, müssen die Eingeborenen nun selbst staatliche Strukturen schaffen. Denn die Verfassung von 1991 gewährt ihnen zum ersten Mal in der kolumbianischen Geschichte politische Selbstverwaltung und kulturelle Autonomie. Der Staat überweist sogar vierzig Dollar pro Jahr und Ureinwohner auf ein Treuhandkonto. Die Verfassung erlaubt zudem eigene indigena-Ycrbände, und die Regierung hat zwanzig Millionen Hektar Land als Schutzgebiet ausgewiesen. „Die Schaffung eines autonomen Territoriums hat enorme Auswirkungen auf das Leben der indigenas", sagt Natalie. „Zum Beispiel müssen sie jetzt Bürgermeister wählen, die das Geld der Regierung verwalten. Sie sind kaum darauf vorbereitet, ein eigenes Bildungs- und Gesundheitswesen zu schaffen." Die Verfassung war für Kolumbien ein Meilenstein. Davor war die Staatsphilosophie von einer Gesellschaft ausgegangen, in der sich das Blut aller irgendwie vermischen sollte (Prinzip der 269

mestizaje). Das Land bestand aus Mestizen, nicht aus verschiedenen Ethnien. Jetzt werden den indígenas mindestens zwei Abgeordnetensitze im Kongress garantiert. Bei der ersten Wahl nach der neuen Verfassung 1992 schafften sogar fünf Vertreter den Sprung in die nationale Politik. „Der Kontakt mit den Weißen, vor allem der Kautschuk-Boom, hat das soziale Gefiige der indígenas stark beschädigt. Früher waren die Häuptlinge da, um Streit zu schlichten. Heute haben sie stark an Autorität verloren", fährt Natalie fort. „Wenn jetzt ein Mann eine Frau schlägt, wenden sie sich oft an öffentliche Stellen oder an uns. Genauso passiert es, wenn zwei Stämme miteinander im Clinch liegen. Früher gab es den Rat der Denker, der Schamanen und so weiter. Jetzt suchen sie eher Leute, die gut Spanisch sprechen, die gut reden können und stark auftreten." Der 27-Jährigen gefällt die Arbeit im Dschungel, Monate lang abgeschnitten von Verwandten, Freunden und vom restlichen Land. „Die Probleme, die die indígenas haben, sind minimal im Vergleich zu denen, die andere Teile der kolumbianischen Bevölkerung haben. Hier hat es noch keine Massaker gegeben. Der Urwald ist wie eine geistige Zuflucht für mich. Er gibt mir Energie und Kraft. In Bogotá bin ich immer etwas deprimiert. Statt ins Ausland zu flüchten wie viele andere, wandere ich einfach regelmäßig in den Dschungel aus." Doch so weit entfernt, wie es über dem unendlichen Grün erscheint, ist der blutige Bürgerkrieg der blancos nicht mehr. Vor meiner Abfahrt hatte ich in Bogotá den Initiator von GAIA, Martin von Hildebrand, getroffen. Der deutschstämmige US-Amerikaner mit kolumbianischem Pass erhielt im Dezember 1999 für seine Arbeit mit GAIA und der Dachorganisation COAMA den alternativen Nobelpreis. Jetzt fürchtet er um seine Jahrzehnte lange Arbeit. „Vor drei Monaten sind die FARC zum ersten Mal in die i ndigena-S chutzzone eingedrungen. Die Ureinwohner haben dort nichts mehr zu sagen. Wo die Guerilla hinkommt, gilt ihr Gesetz", beklagte er sich. „Die FARC bauen ihre Amazonas-Front auf. Aus einem Fluss haben sie uns schon rausgeworfen." Bisher hätten allerdings weder das Militär noch die Guerilla die indígenas schlecht behandelt, sagte er vorsichtig — wissend, dass er selbst zwischen den Stühlen sitzt. „Aber die Spannung steigt ständig." Mit den Rebellen steht er jetzt zumindest in EMail-Kontakt. Der Ethnologe, der trotz seiner 57 Jahre sehr jung und sportlich 270

wirkt, formulierte sein Lebensziel: „Wir versuchen, einen dritten Weg zu finden: die indigene Kultur mit der westlichen Welt in Einklang zu bringen. Jede Kultur verändert sich. Das ist nicht aufzuhalten. Aber wichtig ist, dass die Ureinwohner autonom bleiben. Morgen könnte die weiße Welt untergehen, und die indígenas würden genauso weiter leben wie zuvor. Sie brauchen die Weißen nicht." Noch nicht. Um sich behaupten zu können, müssten die Urweinwohner vorsichtig in wirtschaftlichen Kontakt mit den blancos kommen, meinte er. Sie müssen Geld verdienen. Deshalb lernen die Eingeborenen von den GAIA-Mitarbeitern nicht nur Staatsbürgerkunde, sondern auch, wie man Tischlampen aus Papier des Marima-Baums bastelt, Körbe flechtet oder Palmenöl produziert. Die Waren landen auf den Tischen von Dritte-Welt-Läden in Boston oder New York. Vom Gewinn kaufen sich die indígenas Benzin, neue Motoren, Nylonklamotten oder Hängematten. „Die Eingeborenen sind keine Heiligen", warnte von Hildebrand. „Sie sind Menschen, wie wir auch. Sie können sich auch zu Egoisten wandeln. Doch bisher haben sie es geschafft, ihre Kultur zu bewahren, die den Weißen überlegen ist. Es gibt eben Kulturen, die Materialismus, Individualismus und Egoismus gezähmt haben." Natalie hält mir plötzlich ihren Finger vor die Nase und richtet ihn aufs Bullauge der engen Flugkabine. „Schau, dort ist der Berg, zu dem wir nachher fahren müssen." Draußen, am fernen grünen Horizont, lässt sich ein vulkanförmiger Hügel erkennen, die einzige Erhebung weit und breit. Nur ein Weg führt dort hin: Der Fluss Caquetá. Die Maschine setzt auf einer kleinen Betonpiste in einer Waldlichtung auf. W i r sind in Villa Betancur, einer brasilianischen Militärbasis. Neben den Kasernen haben sich ein paar versprengte Siedler niedergelassen. Noch einmal nehmen Soldaten alle Taschen, Tonnen und Kisten auseinander. Am Flussufer schwimmt eine lang gezogene Hütte mit Wellblechdach, der letzte „Supermarkt." An der Reling hocken eine Handvoll Jugendliche und Männer in nass geschwitzten T-Shirts. Ihre Augen glänzen. Sie lallen. Eine Pulle Schnaps steht halb leer auf dem schmalen Holztisch. Was sollte man hier auch anderes tun? W i r decken uns ein mit Toilettenpapier, Trinkwasser und Keksen. Das Klo des Ladens ist eine Kabine mit einem quadratischen Loch in den Holzplanken. Darunter glänzt das Wasser des Caquetá. Schwer beladen legt unser Kanu ab. Der Außenborder durchschneidet brummend die Stille. Vor uns liegt ein beeindruckendes Panora277

ma: Weiße Quellwolken türmen sich verspielt über den buschigen Baumwipfeln auf, die den breiten Strom flankieren. Die grellen Sonnenstrahlen, die zwischen den Wolkenritzen hervor schießen, glitzern in den Fluten. Vögel und Kleintiere schreien aus dem Wald oder hacken an den Stämmen. Vereinzelt tauchen am Ufer kleine Holzhäuser auf mit Dächern aus getrockneten Blättern. Sie sind jedoch eckig, und daher keine traditionellen íWí^wtí-Behausungen mehr. Nach mehr als zwei Stunden Bootsfahrt auf kolumbianischer Seite erreichen wir das koloniale Nest La Pedrera, mit einer unbefestigten Landebahn und ein paar Dutzend Holzhäusern. Wenige Kilometer weiter flussaufwärts hat die GAIA-Stiftung ihren Stützpunkt errichtet. Die Holzhütte, von blühenden Gewächsen und einer großen Rasenfläche umgeben, gleicht in ihrer Bauweise einer Finca und damit den Quartieren der blancos. Hundert Meter weiter im Landesinnern jedoch steht eine runde Hütte mit senkrechten Brettern am Rand und einem hohen, nach oben spitz zulaufenden Dach aus Blättern einer Palme, welche die Eingeborenen Pui nennen. Das Dach wird in der Mitte von einem dicken Stamm getragen. Hier wohnen die indígenas in ihrer eigenen Privatsphäre, wenn sie zu Seminaren aus noch viel abgelegeneren Flussarmen angereist kommen. Häufig sind sie mehrere Tage unterwegs. In der Finca kocht eine örtliche Indianerfrau fxir uns blancos. Der Speiseplan variiert zwischen verschiedenen Fischsorten und körnigem Fischmehl. Die Dusche besteht aus einem Holzverschlag, aus dem sich Wasser aus einer darüber stehenden Regentonne ergießt. Die Toilette ist ein Donnerbalken mit Holzkabine. Erst in zehn Tagen wird ein Flugzeug auf der Staubpiste von La Pedrera für die Rückreise erwartet. Mein kleines Kurzwellenradio hat nachts einen so klaren Empfang, dass ich sogar Nachrichten der Deutschen Welle und der B B C hören kann. Kein Elektrosmog kommt in die Quere. Alle paar Tage krächzt zur verabredeten Zeit das Funkgerät in einer kleinen Kammer neben dem langen Esstisch. Dann tauschen die Leute vor Ort mit Martin von Hildebrand in der Zentrale in Bogotá die neuesten Informationen aus. Das ist unsere einzige Verbindung zur Außenwelt. Doch die fehlt uns auch gar nicht. Wir schlafen in Hängematten in verschiedenen Räumen der Finca, genießen traumhafte Sonnenuntergänge am Ufer des Caquetá, einen kristallklaren Sternenhimmel und Wanderungen auf den Vulkanhügel oder ins umliegende Dickicht. Eines Tages hören wir plötzlich ein starkes Rascheln und das Stapfen

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schwerer Schuhe auf dem Weg zur indígena-Hütte. Natalie und ich schleichen uns vorsichtig an den Pfad heran. Sie zuckt zusammen. Denn die Männer, die wir durch die Blätter sehen, tragen Maschinenpistolen, Uniformen - und Gummistiefel. „Die Guerilla...", flüstert Natalie ängstlich. Nach kurzem Zögern trete ich aus dem Busch und strecke dem Commandante meine Hand entgegen. Er begrüßt mich freundlich. Es stellt sich heraus, dass dies ein Spähtrupp des Militärs ist. Wegen des matschigen Urwaldbodens haben sie sich für Gummi- statt Schnürstiefel entschieden. „Wir laufen flussaufwärts, um die Lage zu erkunden", sagt der Truppenführer. „Wir haben gehört, dass dort in den letzten Wochen die Rebellen aufgetaucht sind." Die FARC rücken immer näher. Der Jurist Juan Carlos Preciado, der auch zum GAIA-Team in La Pedrera gehört, bestätigt: „Die Situation im Amazonas hat sich stark verändert, seitdem die FARC hier eingedrungen sind. Die Guerilla hat Wege nach Brasilien ausgebaut, um Waffen zu besorgen und um ihr Territorium zu stabilisieren. Aus Araracuara [mehr als ein Tagesmarsch flussaufwärts] hat sich das Militär schon zurückgezogen." Die Ureinwohner leiden darunter, dass sie die Rebellen in ihrer marxistischen Ideologie als Proletariat einstufen. „Die Guerilla denkt, dass die Ureinwohner arm sind. Dabei sind sie alles andere als arm, auch wenn sie kein Geld haben. Die Guerilla denkt auch, das Problem der indígenas sei, dass sie Hütten mit Strohdächern haben und keine Holzhäuser mit Dächern aus Blech." In vielen índigena-Gcmúnáen gebe es inzwischen Alkoholprobleme und Gewalt. „Die indígenas verlieren die Fähigkeit, sich selbst zu regieren. In dieses Vakuum stoßen die FARC vor und reißen die Macht an sich." Die Ortskenntnisse der Eingeborenen sind für die Kämpfer unbezahlbar. Doch so neu sei das Problem auch wieder nicht, meint der 35Jährige, der selbst mit einer Indianerin verheiratet ist und am MiritiFluss arbeitet. „Eigentlich sind die Regierung, die Guerilla und die katholische Kirche gleich. Sie alle hören den indígenas nicht zu. Sie streben nur nach Einfluss und Macht." Die Missionare waren die ersten Repräsentanten des Staates im Urwald und schafften es, die Eingeborenen einzulullen. „Viele indígenas gehen zu den Messen. Sie glauben, in den Kirchen wohnt ein anderer Gott, der Gott des Handels. Sie glauben, dass sie sich auch mit diesem neuen Gott gut stellen müssen." Der gregorianische Kalender, den sie nun in den staatlichen Schulen lernen, sei eine Perversion ihrer Kultur. „Die indígenas haben 273

einen anderen Kalender. Sie schauen auf den Regen, auf das Verhalten der Fische, auf die Reife der Früchte. Danach bestimmen sie die Zeit." Neben mir am langen Esstisch im Wohnzimmer der Finca sitzt ebenfalls die Linguistin Meral Rodríguez. Sie war selbst dabei, als die Guerilla die GALA-Leute um ein Haar entführte. Zusammen mit von Hildebrand und drei weiteren Frauen schipperte sie mit dem Kanu weit flussaufwärts in Boca de Pira. Das war bereits im Mai 1998. „Plötzlich rasten fünf Guerilleros und zwei Zivile in einem Motorboot auf uns zu. Sie behaupteten, sie hätten viele Klagen erhalten, dass unsere Arbeit gegen die Interessen der indígenas gerichtet sei. W i r würden den Fortschritt behindern, sagten sie. Wir wollten weder Teerstraßen noch Blechdächer." Drei Tage wurden sie fest gehalten, unsicher ob sie jemals wieder den Dschungel würden verlassen können. „Sie haben unser Essen, das Boot und den Motor beschlagnahmt. Wir waren frustriert. Bis heute bin ich nicht mehr dorthin zurückgekehrt." Die Guerilla machte zur Bedingung ihrer Freilassung, dass in Zukunft niemand mehr weiter flussaufwärts fahren dürfe, und schon gar keine Ausländer. Ab hier sei nun FARC-Zone. Rodríguez versucht seit Jahren, die Mundart der indígenas wiederzubeleben. In Kolumbien gebe es noch achtzig verschiedene Indio-Sprachen und dreißig im Gebiet, in dem GALA arbeitet. Wenn sie aussterben, geht auch ein großes Stück Kultur verloren. „Zahlreiche Namen von Pflanzen, Tieren und von Phänomenen, die im Urwald passieren, sind in ihrer eigenen Sprache konserviert. Im Spanischen gibt es dafür oft gar keine Worte", erklärt sie. „Die indígenas wollen jetzt ihre Sprache schreiben lernen. Denn die Schriftkultur gibt ihnen Macht im Umgang mit dem Staat und dem öffentlichen Leben. Unsere Idee ist, beides zu verbinden: Die orale Geschichtstradition zu erhalten und mit der Schrift eine Beziehung zur westlichen Welt aufzubauen." Die Geschichten, die die Indio-Großväter nachts ihren Enkeln in den Hütten erzählten, gehen langsam verloren. Einige Ureinwohner haben sie daher schon auf Audio- oder Videocassetten festgehalten. Andere haben schreiben gelernt und bringen die Erzählungen zu Papier. Heute ist ein besonderer Tag. Die Ureinwohner in der Nachbarhütte haben uns zu einer Party eingeladen. Bei Sonnenuntergang stapfen wir den kleinen Pfad entlang, wo uns zwei Tage zuvor die Militärpatrouille überrascht hatte. Die Hütte der indígenas betreten wir als 274

Besucher von der östlichen Eingangstür. Auf der anderen Seite des Rundbaus gehen nur die Einwohner selbst ein und aus. W i r ducken uns unter der niedrigen Pforte hindurch und betreten, höflich grüßend, den geräumigen Innenraum. Es ist finster. Nur langsam öffnen sich unsere Pupillen. Wir tasten uns voran. Außer ein paar niedrigen Hockern, Bänken und einem Herd ist der Erdboden leer. Rundherum an der Außenwand sind Hängematten an die Stützpfähle geknüpft. Unsere Gastgeber haben es sich darin schon gemütlich gemacht. Auf dem Boden stehen Gummistiefel und Schuhe. Uber den Köpfen baumeln Handtücher an der Leine. Die indígenas bieten uns Hocker und Hängematten an. Die ganze Aufmerksamkeit richtet sich auf die Mitte der Hütte, ins Zentrum der Energie. Dort bohrt sich der große Pfahl, der die Dachspitze trägt, in die Erde. Mit dem Rücken an den Pfeiler gelehnt sitzt der Hausherr, das Zentrum der Gemeinschaft. Neben im verleiht ihm eine erleuchtete Kerze die gebührende Aura. Er entscheidet, wer sich zu ihm in die Mitte setzen darf. W i r dürfen. Auf kleinen Hockern formen wir einen Halbkreis um ihn und plaudern. Der Häuptling wird so Mitte vierzig sein. Seine Nase ist breit, seine Wangenknochen sind ausgeprägt, seine braunen Augen liegen tief in ihren Höhlen. Der Mann hat ein väterlich warmes Gemüt und ist in ausgelassener Stimmung. Über seiner sonnengegerbten Haut trägt er ein weißes Hemd mit vielen offenen Knöpfen, darunter eine helle Jogginghose und blaukarierte Badelatschen. Er bietet uns Mambe an. Eine weiße Plastikdose mit dem grünen Kokapulver macht die Runde. Jeder nimmt sich einen Löffel voll, schiebt es mit der Zunge in die Wange, lässt es mit Spucke vollsaugen und schluckt nur den Saft. Ahnlich wie beim jemenitischen Qat schwülen die Wangen allmählich an. Mambe hat mit Kokain nichts gemein, sondern ist ein traditionelles Rohprodukt aus Kokablättern. Es hat ähnliche Wirkungen wie Qat, lässt die Körpertemperatur steigen, regt an, entspannt und macht konzentriert. Auch in den Hängematten an der Außenwand der runden Hütte kursieren die Plastikdosen. Fünf indígenas mit langen Gehstöcken haben sich in einer Reihe aufgestellt. Sie kündigen den Ananas-Tanz an zum Dank für eine gute Ernte. Wir ziehen uns wieder an die Außenwände der Hütte zurück, weg vom Zentrum der Energie. Natalie und ich teilen uns quer eine Hängematte und löffeln Mambe. Die Männer mit ihren Stöcken lau275

fen langsam auf und ab, hüpfen und singen sich mit einer monotonen Melodie in Trance. Neben uns sitzen zwei junge Ureinwohner, die in einem Projekt Tischlampen basteln und damit ein paar Pesos verdienen. Sie tragen Turnschuhe und T-Shirts. „Für uns ist Geld nur Mittel zum Zweck. Wir geben es gleich wieder aus. Wir sparen nicht. Das Papier-Projekt ist nicht dazu da, große Geschäfte zu machen, sondern um das Notwendigste zu kaufen wie Benzin, Seife, Zucker oder Kleider. Dass wir angeblich auf vielen Rohstoffen sitzen, juckt uns nicht", sagt Guillermo vom Stamm der Tanimuca. „Wir arbeiten in zwei Welten. Nur diejenigen, die spanisch sprechen, haben mit den Weißen Kontakt. Die anderen leben in den hinteren Wäldern wie zuvor auch." Sein Freund Francisco ergänzt: „Wenn wir diese Arbeit nicht machen und uns nicht ein paar neue Dinge leisten, würden immer mehr junge Ureinwohner in die Städte ziehen." Neben Guillermo liegt ein knallgelber Walkman. Je länger wir erzählen, desto stärker drängt sich das Thema auf, das die indígenas am meisten bedrückt. „Das größte Problem ist die Guerilla", sagt Guillermo offen. „Wir haben Angst. Alle von uns haben Angst vor den Waffen." Dann betont er: „Eigentlich sind alle Weißen heute Freunde, nicht so wie früher." Francisco ergänzt: „Das stimmt, alle Weißen sind Freunde, nur nicht Paramilitärs, Guerilleros und US-Soldaten." In der Region Vaupéz gebe es bereits indígenas, die der FARC beitreten. Aber hier noch nicht. „Die Guerilla will uns ihre Ideen aufdrücken. Sie hören uns nie zu", beklagt sich Guillermo. „Sie und andere Weiße kommen ins Gebiet, ohne unsere Autonomie zu respektieren." Neben Mambe gehen auch Becher mit Punsch herum. Ochento-yOcho heißt er. Der Name verrät den keimabtötenden Alkoholgehalt des Gebräus. Als Abstinenzler nippe ich jedes Mal, wenn der Becher mich wieder erreicht, aus Höflichkeit. Bei den beiden Spezialitäten bleibt es jedoch nicht. In regelmäßigen Abständen kommt ein junger Mann vorbei und bietet uns Tabak an, den sie Müno nennen und den man sich in die Nase pusten lässt. Zwei oder drei Mal willige ich ein, bis ich fürchten muss, völlig in die Sphäre der Schamanen abzudriften. Der Mann setzt mir ein langes Röhrchen ins Nasenloch. „Du musst unbedingt den Gaumen schließen, damit dir das Zeug nicht ins Hirn bläst. Sonst kann es dich umbringen", warnt er mich noch, kurz bevor er seine gespitzten Lippen ans andere Ende des Röhrchens presst und einen kräftigen Luftstoß ablässt. Der trockene Tabak

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schießt in meine Nasenhöhlen und bis hinauf in die Stirn. Schlagartig fühlen sich meine Arme federleicht an, die Hängematte wird zum Luftkissen und die Rundhütte zum Raumschiff. Dann pendeln sich die Sinne langsam wieder ein, der Geist wird scharf und der Körper zur schwerelosen Hülle. Die Müdigkeit ist wie weggeblasen. „Mal angenommen, ihr würdet viel mehr Geld verdienen als jetzt, was würdet ihr euch dann kaufen?", frage ich Guillermo und Francisco. Guillermo beginnt zu philosophieren: „Unsere Großväter haben sich nie von ihrem Dorf weg bewegt. Doch jetzt haben wir Motorboote, fahren weite Strecken und müssen uns gegen die Weißen besser koordinieren. Wir bewegen uns viel mehr. So kommt es auch vor, dass zum Beispiel meine Schwester jemanden aus einem weit entfernten Dorf geheiratet hat, oder dass es in einer Gemeinde flussaufwärts ein Notfall gibt. Dann haben wir ein Problem — ein Kommunikationsproblem." Er schiebt sich einen dicken Löffel Mambe in den M u n d , überlegt kurz und sagt. „Was wir uns am meisten wünschen sind Funktelefone." Die Antwort hat mich fast aus der Hängematte geworfen. Im Zeitalter der Globalisierung scheinen sich die Bedürfnisse und Wünsche von Menschen unterschiedlichster Herkunft und Lebensform tatsächlich anzunähern und das in Atem beraubender Geschwindigkeit. Undurchlässige Grenzen und abgeschottete Räume gibt es auf der Erde kaum noch. Nicht einmal im abgelegenen Amazonasgebiet. Der Wunsch, miteinander in Kontakt zu stehen und Grenzen zu überwinden, ist allen Menschen gleich. Schon der antike griechische Philosoph Aristoteles nannte den Menschen ein zoon politicón und schrieb ihm damit universell eine gesellige, kontaktfreudige Natur zu. W e n n die Wege länger werden und die Bedürfnisse steigen, muss die Kommunikation eben größere Distanzen überbrücken. Der Wunsch der indígenas nach Handys und das gleichzeitige Beharren auf ihrer traditionellen Lebensform - oder auf eine Rückbesinnung auf die Kultur ihrer Vorväter mit Hilfe von GAIA - ist ein Beispiel für die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen im Prozess der viel zitierten Globalisierung: Entwicklungen vollziehen sich parallel und gegenläufig zugleich. Statt Laptop und Lederhosen, wie die Bayern die Gleichzeitigkeit von Tradition und Moderne zusammenreimen, hat Guillermo für die indígenas im Amazonas-Gebiet eine neue Globalisierungsformel entworfen, die Grenzenlosigkeit und Verwurzelung verbindet: Handy und Hängematte. 277

Index 11. September 2001 13, 125, 126, 219, 227 Abdali-Stamm 105 Abdic, Fikret 130 Abdul Malik ibn Marwan 62 Abraham 60-63 Abyan 125 Aden 91, 93, 105, 107, .. 111, 113-118, 121, 122, 125 Adria 176 Advani, Lal Krishnan 204 Afghanistan 15, 125, 126, 151, .. 207, 216, 218, 220, 222, 225 Afula 81 Ägäis 185, 189 Agra 213 Ägypten 46,50,71, 82, 84, 100, 116 Al-Ahmar, Abdullah 123 Al-Aqsa-Brigaden 29 Al-Aqsa-Intifada 67 Al-Aqsa-Moschee 59, 62 Albanien 188, 194, 195 Al-Darasi (Anuschtekin) 82 Alemannen 64 Alewiten 50 Alexander der Große 15, 191 Algerien 123 Al-Hakim, Kalif 82 Ali, Choudry Rahmat 200 Al-Jazeera 34, 124 Allenby, Edmund 44 Al-Mokha 117 Al-Qaida 125 Al-Quds (Jerusalem) 22, 27, 59 Al-Saqqaf, Abdulaziz 124, 126, 127 Amazonas 8, 17, 18, 264, 266-270, 273 Amman 41-44, 48, 52, 57, 85 Amnesty International 263 Amritsar... 15, 197, 198, 202, 203, 206, 210, 213, 217 Amselfeld (Kosovo Polje) 174, 187

278

139 176, 177 164 73, 202 45 22, 43, 54, 55, 58, 59, 70-72 Arabische Republik Jemen 105 Arafat, Yassir 53, 55, 57, 63, 65,67,72 Argentinien 242, 247 Aristoteles 185, 193, 277 Armee Aden-Abyans 125 Aschkelon 64 Asir 104 Asociación Nacional de Instituciones Financieras (Anif) 246 Aspar 229 Assad, Baschar 51 Assad, Hafez 50 Assyrer 75 Äthiopien 96, 102, 255 Attari 203, 204, 217 A U C (Vereinte Bürgerwehren Kolumbiens, Paramilitärs)... 250 Aurangzeb 213 Australien 14, 159, 162 Awaren 189 Ayaion, Danni 63 Aynat 121 Ayodhya 204 Ayun 221, 229 Bab Al-Mandeb (Tor der Tränen) 115 Balfour-Dekla ration 70 Balkan 128-129, 174, 176, 185, 188, 191, 194-195 Bangladesch 152 Bani-Sadr, Abol-Hassan 94 Banja Luka 131 Barak, Ehud 21, 54, 59, 63, 66-68, 72 Beirut 42,48,51 Beit Jala 24, 25, 36, 38, 40 Belgien 195 Ancona Andric, Ivo Annan, Kofi Apartheid Aqaba Araber

Belgrad 129, 134, 136, 159, ... 162, 166, 171, 180, 187, 188 Ben Gurion, David 48, 71, 74 Berlin 19, 23, 135, 139, 141 Berliner Mauer 9, 14, 135 Berschewa 18, 59 Betania 254-256, 258 Bethlehem 11, 24-27, 29-32, 36,38,39 Betselem (israel. Menschenrechts72—74 organisation) Bhutto, Benazir 219, 227 Bibel 60, 61, 64, 65, 70, 100, 101, 255 Bihac 130 Bildung baut Bosnien-Herzegowina (Stiftung) 181 Bilqis (Königin von Sab'a).... 100-102 Bir Ali 113, 114 Birir 221,225,229,231 Bischara, Asmi 54 Bismarck, Otto von 79, 109 BJP (Indische Volkspartei) 204, 216 Blumenthal, Hans 245 Boca de Pira 274 Bogotá.... 233, 234, 237, 241, 244, ... 245, 252, 266, 268, 270, 272 Bollywood 215 Bombay (Mumbai) 100, 105 Bosnien-Herzegowina 14, 25, 129, 136, 137, 139, 148, 150, 154, 155, 173, 189 Bosnjaken 133, 151, 172 Boston 271 Brasilien 17, 130, 264, 266, 267,268,273 Brun 222, 225, 227-229 Brüssel 28, 134 Buddhisten 69, 224 Buenos Aires 247 Bulgarien 187, 188, 190 Bumburet 221, 222, 225, 226,231 Bundesrepublik Deutschland.... 79, 204 Caguán 233, 236

C a m p David 63, 66, 67, 70, 72 Camus, Albert 155 Caqueti-Fluss und Provinz .... 236, 265, 271, 272 Chader, Hossam 55 China 159, 219 Chitral 220,221, 228, 229, 230, 231 Christen 24, 31, 32, 59, 60, 69,70,78,224 Clinton, Bill 59, 63, 66, 72, 136,207 CNN 63 Dänemark 64 Darmstadt 159 Dawat Koran 225 Dayton 130, 150, 155, 157 DDR 49,54,79, 106, 136 Delhi/Neu-Delhi ...198, 204, 206, 207, 209, 216, 217 Demokratische Volksrepublik Jemen 105 Deutsche Presse-Agentur (dpa)... 7, ...18, 24, 26, 42, 152, 247, 257 Dir 78, 140, 231 Divjak, Jovan... 179, 180, 181, 182 Don Quichote 240 Drosh 231 Drusen 12, 50, 78-87 Dschinghis Khan 10, 186, 220 Dusan, Stefan 188 Dutt, V.P 211 Edon 61 Eilat 45 El Doncello 239 El Salvador 233 E L N (Nationales Befreiungsheer) 236, 262 Elsass 9,68 Energo Invest 161 Eritrea 102 Escobar, Pablo 234 Europäische Gemeinschaft (EG) 130 Europäische Union (EU) ... 14, 15, 152, 156, 193, 194 F A R C (Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens) 16, 236,

279

239-247, 249-251, 253, 255, 256, 259, 262, .. 263, 266, 270, 273, 274, 276 Finkelstein, Israel 64 Foca 176 Frankreich 9, 49, 75, 130, 138,

158, 181, 188

Friedrich-Ebert-Stiftung 245 Fujimori, Alberto 267 FYROM (Former Yugoslavian Republic of Macedonia) ....185,

186, 190

GAIA-Stiftung

264, 267, 269,

270-274, 277

Gaitán, Jorge Eliécer 238 Gandhi, Indira 198 Gandhi, Mohandas Karamchand (Mahatma) ....203 Gaza 65 Gazastreifen 25, 28, 31, 53,

71,72,76 Geburtskirche 24, 27, 38 Genf 81 Genscher, Hans-Dietrich 204 Germanen 64 Gesellschaft für Bedrohte Völker 170 Gilo 25,38 Gligorov, Kiro 190 Globalisierung 8, 17, 277 Golanhöhen 12, 18, 50, 71,

75-78, 84, 88

Golfkrieg 1991 Gómez, Ignacio

126 235, 236, 243,

259-261

Gorazde 141, 166 Goren, Schlomo 65 Gostivar 192 Gothen 189 GPC (Allgemeiner Volkskongress, im Jemen) 122 Griechenland 15, 184-188, 190 Großbritannien 49, 64, 75, 115 Guru Nanak 201 Habsburger Reich 188 Haifa 64, 83 Hama 50 Hamsa ibn Ali 82

280

HarHuma 38 Haram Al-Sharif (Tempelberg) 27, 59 Haryana 197 Hasan, Mushirul 203 Haschemiten 44, 49, 50 HDZ (Kroatische Demokratische Union) 154,156 Hebräisch 68, 77, 84, 87 Hebron 24, 25, 36 Herodes, König 61 Herzegowina 131, 144, 154 Herzl, Theodor 70 Hildebrand, Martin von

270-272, 274

Hindi Hindukusch Hindus

151, 215 8, 15, 16, 189,

218, 219

69, 151, 199, 200,

203, 217, 224

Hitler, Adolf 109, 204 Holocaust 44, 70 Hussein ibn Talal, König 44 Hussein, Saddam 117 ICRC (Internationales Kommittee des Roten Kreuzes) 80 Indien 10, 15, 113, 115, 130,

151, 197, 199, 200, ...202-206, 208, 210-219, 222

Indonesien 112, 113 Inter Press Services 142 Intifada 22, 42, 47, 52, 55,

59,67,75,76,78, Irak Iran Irbid Isaak Islam

Islamabad

81

41, 50 80, 94 57 60 16, 50, 53, 62, 93, 94,

101, 126, 151, 174, 201, 214, 215, 219, 224, 232 204, 207, 215,

219, 227

Islamischer Jihad 29 Israel 12, 18, 21-23, 25, 28,

..32, 39, 41, 42, 45, 47, 49-51, ..53-56, 58, 60-64, 70-73, 75, 77,78, 80-89, 125, 157

Israeliten

46, 64

Istanbul 52, 186 Italien 145, 158, 159, 181, 195 Ivanov, Gorgi 195 Izetbegovic, Alija 130, 139, 145, ... 151, 172, 176, 180, 182, 190 Jachia, Adel 63 Jaffa 64 Jakorina 162 Jallianwala Bagh 202 Japan 27, 79, 226, 257, 267 Jemen 8, 13, 91-107, 111, 113, 114, 117, 119, 122-127 Jericho 42, 64, 68 Jerusalem (Al-Quds) 22,27, 59 Jesus 62 Jiblah 125 Jinnah, Mohammed Ali.. 199, 200, 213, 214, 217, 219 Johannes Paul II., Papst 78 J o m Kippur Krieg 1973 50,76 Jordanien.... 12, 41, 45, 47-50, 56, 61,63,71,78, 82, 84 Josua 46 Juda 61 Judäa 65 Judäer 60 Juden 11, 57-74, 83, 109, 137, 149 Jugoslawien 129, 152, 184, 187, 188 Jungen Europäischen Föderalisten 130, 149, 195 QEF) Kabul 15, 218, 219, 227 Kalam 214, 215 Kalash 16, 218, 220-231 Kalifornien 149 Kanada 79 Kapitalismus 104 Karachi 203, 225 Karadzic, Radovan 131, 136, 138, 142, 150, 155, 161, 162, 173, 176, 177 Kargil 207,217 Karremans, Ton 174 Kaschmir 207, 215, 217 Katar 124 Kelten 64, 160, 189 Khan, Ayub 199, 223-229

Khyber-Pass 219 Kinneret 75 86 Kiriat Shemona Kissinger, Henry 76 Kladanj 171 Klagemauer 60, 63, 66, 68, 69 Kleinasien 186 Kok, Wim 167 Köln 27 Kolumbien 16, 17, 233-236, 238, 242-247, 255, 257, 260, 262, 264, 265, 268, 269, 274 Kommunismus.. 13, 91, 104, 108, 112, 114, 195 Königin von Sab'a (Bilqis)/00, 120 Konstantinopolis (Istanbul) 186 Koran 48,63,65, 94, 97, 100,

101,

111,

120

159, 162, 174, 187, 192, 193 Krajina 130, 172, 187 Krakal 228 Kroaten 25, 129, 133, 136, 137, 140, 143, 145, 149, 151, 154, 155, 159, 182, 187, 189, 196 Kroatien 129, 130, 154, 181 Kupusovic, Tarik 145 Kyrillus 191, 192, 194 La Florencia 236, 237, 241, 248-250 La Pedrera 272, 273 Lahore 15,18, 197, 206, 207, 210, 212-215, 217, 220 Lawrence, T.E. (Lawrence of 44 Arabia) Lazar, Prinz 174 Lehmann, Gunnar 18, 59, 60, 62-66 Leticia 264, 266, 268 Leuchtender Pfad (Sendero Luminoso) 266 Libanon 75, 78, 80, 82, 84, 86 Lima 266, 267, 268 Liverpool 115 London 69, 100, 101, 122 Los Pozos 240-242, 247, 255 Kosovo

281

Luther, Martin 57, 127 Luxemburg 181 Macedonian Times 191 Majdal Shams 80, 81, 83, 84, 87,88 Mandic, Nesip 172 Marcus, Amy Dockser 60, 64 Marib 96, 99, 100, 102, 113 Martínez, Juan Gómez 243 Marulanda, Manuel (Tirofijo) 240, 241 Marx, Karl 91, 98, 122 Maryland 63 Masoud, Ahmed Schah 218 Massada 61 Mazedonien 15, 184-189, 192, 193, 196 Medellin 233, 243 Medina 59 Megiddo 44 Mekka 29, 59, 62, 97, 213 Methodius 191, 192, 194 Milosevic, Slobodan 129, 130, 162, 171, 174, 187 Mittelmeer 193 Mladic, Ratko 150,164, 169, 171, 174, 177, 180 Moghulen 212, 220 Montenegro 159, 184 Morillon, Philippe 167 Moses 46, 224 Mostar 131, 136, 149, 154 Mountbattan, Lord 199, 203, 213, 214 Mujaheddin 151, 219 Multan 216 Musharraf, Pervez 204, 207 Muslime 11, 16, 25, 31, 32, 50,59, 60, 62, 65, 67, 69, 70,71, 78, 94, 126, 128, 129, 131, 140, 143, 145, . 149, 151, 154, 155, 160, 161, 164-169, 172, 174, 175, 177, 179, 187, 188, 192, 200, 203, 204, 213, 214, 217,218, 224-226, 228, 230, 231 Mutter Teresa 127

282

Nablus 21, 22, 55 Najran 104 Nasser, Hana 32 Nasser, Jamal Abdel 50 Nationalsozialisten 70 NATO 156, 164, 170, 174, 182,187,193, 194 Nebukadnezar, König 60 Nehru, Jawaharlal 198, 200, 213, 217 Nepal 79,201 Netanjahu, Benjamin 21, 72 Neu-Granada 265 New York 115, 168, 184, 218, 271 Nezarim 72 Nis 159 North-West Frontier Province 218, 221, 227 Norwegen 130 Ohrid 192-195 Olympische Spiele 138 Oman 122 Omar, Kalif 62, 253 Operation Blauer Stern 198 Operation Schutzschild 22, 24, 37, 42, 48 Opis 184 Oric, Naser 166 Orthodoxe 160 Osama bin Laden 13, 125, 217,219 Oslo 72 Österreich 61, 79, 89, 147, 181,228 Owen, Lord 25 Pakistan.... 15, 152, 197, 199-201, ...203-214, 216-219, 226, 227 Palästina 29, 34, 50, 66, 70 Palästinenser 12, 22, 24-33, 36,38,39,44, 50, 53, 55-58, 63-67, 71-73 Pale 130, 134, 138, 157, 159, 160-163 Palmyra 52 Panama 266 Paris 133,143,145

236, 241, 245, 246, 262 Patriotische U n i o n (in Kolumbien) 243 Peace N o w 56, 57, 73 Peeva, Angelica 195 Pejanovic, M i r k o 136, 137, 155-157 Perser 61, 75, 218 Peru 17, 264, 266 Peshawar 215, 218-220, 222, 225-227, 231 Philister 65 P L O (Palästinensische Befreiungsorganisation) 50 Polen 9, 49, 79 Portugiesisch 268 Punjab 197, 199, 203, 204, 212, 225, 226 Pyramiden 100 Qabr Hud 120 Qana 100, 113 Qat 96-98, 102, 103, 106, 107, HO, 116, 119, 275 Quneitra 78, 79, 81 Rabin, Itzchak 56, 57, 65, 72 R a d i o Caracól 247, 252 Ramadani, Ismet 195 Ramallah 21, 22, 37, 63, 65 Ramtha 48 Republika Srpska .... 130, 131, 136, Pastrana, Andrés

150, 155, 157, 161, 165, 171, 183 Reyes, Raúl 244, 245, 246 Riad 117 Rischon Lezion 56 Rom 28, 48, 158 Römer 10, 75, 97, 166, 189 R S S (Kulturorganisation der BJP) 204, 216 R u b Al-Khali W ü s t e 91, 113 Rumbur 221,225,231 Russland 246 Ruzin, N a n o 194 Sabäer 99, 100, 102, 103 Said, Edward 55 Saleh, Ali Abdullah 108, 122-124, 126

Salim al-Beed, Ali S a l o m o (Suleiman), König

108 60,

62, 100-102

Samaría 65 San Vicente del C a g u á n 236 Sanskrit 210, 215 Santa Rosa 266-268 Sarajevo 14, 18, 128, 130-187 Saudi Arabien 92, 95, 99, 104, 105, 111, 117, 154, 225 Scharon, Ariel 31, 47, 55,

67,72,74 Scheich Hussein Brücke 45 Scheidemann, Philipp 135 Schiiten 82, 93 Schweden 195 S D A (Partei der Demokratischen Aktion) 139, 156, 172 Sechstagekrieg 1 9 6 7 47, 71, 76 See Genezareth 45, 75, 76 Serben 14, 25, 129-131, 133, 136, 140, 143, 149,

151, 155-161, 163-177, 180, 182, 187-189, 196 Serbien 136, 159, 176, 177, 184, 187, 188, 193 Serbo-Kroatisch 140, 151 Seyun 109-112, 120 S F O R (Stablilisation F o r c e ) . . . 150, 153, 158, 175 Sharia (islam. Rechtskodex). 82, 216 Shibam 106-108, 120 Sikh 199, 202, 205, 206, 208 Sinai 71,74 Skopje 184-189, 191, 192, 195 Slawen 188, 189 Slowakei 7 9 , 129, 131 Sowjetunion 50, 105 Sozialismus 106, 107, 112, 114, 115, 144 Spanien 139, 181 Srebrenica. 14, 155, 164-177, 180 Sri Lanka 197, 208, 211 Stalin 240 Stalinismus 129, 136 Stoltenberg, Thorvald 25 Straßburg 149 Studio 99 137-140, 143

283

171 70, 73, 202 129, 151, 174, 184, 196 Suleiman (Salomo) 101 Sunniten 93 Swat-Tal 214, 215 Sykes-Picot-Abkommen 49 Syrien, Arabische Republik 12, 41, 48-52, 55, 71, 75, 77, 78, 80, 82, 83, 85-87, 116 Tabatinga 268, 269 Taj Mahal 213 Taliban 15, 218, 219, 227 Tarim I I I , 112, 120, 121 Tel Aviv 11, 12,33, 34, 41, 42,48, 51-56, 64, 68, 72,73,75,84 Tempelberg (Haram Al-Sharif) 11,27,44,47,49, 59, 60,63,65, 67-70 Tetovo 192 Thessaloniki 184, 185, 187, 189, 190, 192, 193 Tiberias 76 Tihama 93 Tito, Josip Bros 129, 134, 139, .. 147, 154, 162, 188, 190, 196 Titus, Kaiser 61 Tokio 47 Toledo, Alejandro 267 Transjordanien 70 Tschechoslowakei 49 Tschetniks 140 Tudjman, Franjo 129, 130, 187 Türken 44, 75, 87, 105, 174, 186, 189 Tuzla 168-171, 175, 176 U C K (Rebellen-Organisation der Kosovo-Albaner) 193 Uganda 70 U N D O F (United Nations Disengagement Observer Force) 79 Stupari Südafrika Südslawen

284

U N E S C O (WeltkulturOrganisation)

95, 108, 120,131 U N H C R (UN-Flüchtlingshilfswerk) 136, 165, 167, 170, 175 U N O (Vereinte Nationen) 14, 58, 85, 128, 132, 140, 143, 165 U N P R O F O R (United Nations Protection Force) 130, 134, 137,141, 142, 150, 164, 167, 174, 176 Urdu 152,215,227 USA 14,49, 58, 70, 86, 105, 126, 162, 181, 207, 219, 233, 235, 236, 245, 246 Ustasa 140 Vatikan 45, 265 Venedig 92, 155 Venezuela 266 Vergina 190 Villa Betancur 271 V M R O (Innere Mazedonische Revolutionäre Organisation) 190 Wagah 212, 217 Washington 28, 56, 134, 218, 245, 246 Weizsäcker, Richard von 107 Westjordanland (Westbank) 11, 25, 31, 44, 49, 53, 54, 58, 63-65, 68, 71-73, 76 Wien 18, 96, 141, 152, 182 Wiesenthal, Simon 182 Yemen Times 123, 124, 126 YSP (Jemenitische Sozialistische Partei) 122, 125 Zagreb 128, 129, 139, 154, 168,187 Zaiditen 93, 105 Zionismus 67 Zwei-Nationen-Theorie 200 Zypern 28, 30, 70

Reihe Studien: Zentrum Moderner Orient Geisteswissenschaftliche Zentren Berlin e.V.

Band 24 - René Wildangel

Zwischen Achse und Mandatsmacht Palästina und der Nationalsozialismus ISBN 978-3-87997-640-9 * 2007 * 432 Seiten

Der Großmufti von Jerusalem Amin al-Husaini stand regelmäßig im Zentrum der historischen Wahrnehmung. Erstmals fragt die vorliegende Studie aber differenzierter nach zeitgenössischen arabischen Perspektiven in Palästina und schließt dabei auch Kritik und Vorbehalte gegen NS-Deutschland und den italienischen Faschismus ein. Dokumente aus deutschen, britischen und israelischen Archiven sowie umfangreiche arabischsprachige Originalquellen belegen die erstaunliche Bandbreite der arabischen Begegnung mit dem Nationalsozialismus. Band 23 - Patrick Krajewski

Kautschuk, Quarantäne, Krieg Dhauhandel in Ostafrika ISBN 3-87997-636-8 * 2006 * 362 Seiten

Die Untersuchung einer neben der Kolonialökonomie existierenden afrikanischen Wirtschaft wirft ein neues Licht auf die ökonomischen Transformationsprozesse in der Frühphase der europäischen Kolonialherrschaft und verdeutlicht die Peripherisierung einzelner Regionen. Band 22 - Sonja Hegasy / Elke Kaschl (ed.)

Changing Values among Youth Examples from the Arab World and Germany ISBN 978-3-87997-637-6 * 2007 * 310 Seiten

zweisprachige Ausgabe: Englisch-Arabisch Despite growing awareness of its vital significance since September 11th, not a single comprehensive youth study exists for an Arab country. Current research is often scattered, partly inaccessible, and to a great extent concentrates on specialized topics. It is crucial, not merely for Arab societies, to know more about the attitude of almost two-thirds of the Arab population to social and political issues. This volume takes examples from Morocco, Egypt, Palestine, Iraq, Syria and Germany to demonstrate the potential and the limitations of youth research in the Arab world and beyond.

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Reihe Islamkundliche Untersuchungen

Band 280 - Hakan Özkan

Narrativität im Kitäb al-Farag ba'da s-sidda des Abu 'Ali al-Muhassin at-Tanühl ISBN 978-3-87997-344-6 * Sep. 07 * 363 Seiten

Ein neuer Ansatz zur narratologisch-strukturalistischen Behandlung von adab-Literatur jenseits der rein inhaltlichen Auswertung, sowie eine modale Analyse nach Genette. Band 279 - Marcin Marcinkowski

Die Entwicklung des Osmanischen Reiches zwischen 1839 und 1908 ISBN 978-3-87997-342-2 * 2007 * 97 Seiten

Reformbestrebungen und Modernisierungsversuche im Spiegel der deutschsprachigen Literatur. Band 278 - Soraya Adambakan

Qurrat al-'Ayn Eine Studie der religiösen und gesellschaftlichen Folgen ihres Wirkens ISBN 978-3-87997-341-5 * Okt. 0 7 * 336 Seiten

Qurrat al-'Ayn war die Führerin der messianischen Babi-Bewegung, die als die wichtigste religiöse Strömung in der neuzeitlichen Geschichte des schiitischen Islam gilt. 1844-1850 löste diese revolutionäre Bewegung landesweit große Unruhen aus und nahm schließlich ein tragisches Ende. Muslimische Historiker und Erzähler warfen ihr Ketzerei vor, Historiker wiederum verliehen ihr den Status einer Heiligen. Ihr Name wurde mit denen anderer heiliger Figuren wie der Jungfrau Maria und der Tochter des Propheten, Fatima, gleichgesetzt. Man bezeichnete sie sogar als persische Jeanne d'Arc. Band 277 - Til Trausch

Abbildung und Anpassung: Das Türkenbild in safawidischen Chroniken des 16. Jahrhunderts ISBN 978-3-87997-343-9 * Nov. 0 7 * 173 Seiten

Drei zeitgenössische safawidische Chronisten, pendelnd zwischen Legitimationsversuchen, Literatur und Historiographie, werden zur Beantwortung der Frage zum Türkenbild untersucht: Kritik und Darstellung der osmanischen Sultane, der Armee und des Kampfes gegen die Franken werden räumlich und zeitlich gesichert und mit der Beschreibung der Usbeken kontrastiert.

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