Ignatius Von Loyola: Grunder Des Jesuitenordens (German Edition) [Aufl. ed.] 3412330051, 9783412330057

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Ignatius Von Loyola: Grunder Des Jesuitenordens (German Edition) [Aufl. ed.]
 3412330051, 9783412330057

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Helmut Feld Ignatius von Loyola

Helmut Feld

Ignatius von Loyola Gründer des Jesuitenordens

§ 2006 B Ö H L A U VERLAG K Ö L N WEIMAR WIEN

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. Umschlagabbildung und Frontispiz: Der heilige Ignatius legt der Gottesmutter die Konstitutionen der Gesellschaft Jesu zur Billigung vor (Altarbild von Joseph Fiertmair S.J., 1702-1738, in der Wallfahrtskirche im Weggental bei Rottenburg am Neckar. Foto: Erich Sommer) © 2006 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Ursulaplatz 1, D-50668 Köln Tel. (0221) 913 90-0, Fax (0221) 913 90-11 [email protected] Umschlaggestaltung: Kerstin Koller, Kall Satz: pagina GmbH, Tübingen Druck und Bindung: Druckhaus „Thomas Müntzer" GmbH, Bad Langensalza Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier. Printed in Germany ISBN 3-412-33005-1

Inhalt Vorwort I. Einführung: Pour quoy non? II. Kindheit und Jugend 1. Frühkindliche Prägungen? 2. „Eitelkeiten der Welt" und Bekehrung Familiäre Beziehungen und höfische Bildung Der „Bericht des Pilgers" Krankheit und geistliche Lektüre 3. Erste Vision und Niederschrift des ersten Buches Ein Bild Unserer Lieben Frau und die Sünden des Fleisches . . . Ein mit großer Sorgfalt vollgeschriebenes Buch

XI 1 5 5 7 7 9 12 14 14 15

III. Anfang der Pilgerschaft 1. Abschied von der Familie 2. Die Begegnung mit dem Mauren 3. Abschied vom Rittertum auf dem Montserrat 4. „Unsere Liebe Frau, die er besonders verehrte"

17 17 19 20 21

IV. Die geistliche Schule von Manresa 1. An der Grenze zum Selbstmord Erschütterung des seelischen Gleichgewichts Im Banne des Beichtzwangs Einige Bemerkungen zur Beicht im westlichen Christentum . . . 2. Gott als Schulmeister Tiefe Erkenntnisse und geistliche Tröstungen Die großen „intellektuellen" Visionen 3. Die Erleuchtung am Cardoner 4. Tödliche Krankheiten

24 24 24 26 29 32 32 33 35 36

V. Die Exerzitien 1. Methodische Grundzüge und allgemeines Ziel der geistlichen Übungen 2. Inhalt der geistlichen Übungen Die erste Woche: Sünde, Hölle, Teufel Die Höllenbetrachtung

40 40 43 43 46

VI

Inhalt Psychologie des Teufels 48 Die zweite Woche: Leben Christi und persönliche Lebensentscheidung 50 Inkarnation: Nazareth, Provinz Galiläa 51 Geburt Christi: Bethlehem 53 Entscheidung in einem spirituellen Krieg 55 Die dritte Woche: Das Leiden Christi 58 „Anima Christi" 59 Die vierte Woche: Auferstehung 61 Die Betrachtung zur Erlangung der Liebe 63 3. Partikuläre Ziele der geistlichen Übungen 66 Bekämpfung der Sünde 66 Verzicht auf die eigene Urteilskraft und Konformität mit der hierarchischen Kirche 68

VI. Wallfahrt nach Jerusalem 1. „Gott allein" 2. Von Barcelona nach Venedig 3. Eine Uberfahrt im Vertrauen auf Gott 4. Im Heiligen Land 5. Rückreise nach Spanien und Änderung des Lebensplans VII. Studienjahre 1. An den Hohen Schulen Spaniens Vorbereitender Unterricht in Barcelona Alcalä: Studium der Philosophie und Sorge für die Seelen . . . . Salamanca: In den Fängen der Inquisition 2. Paris Schwieriger Beginn des Studiums Das Schicksal der beiden ersten Gefährtengruppen Erneut vor der Inquisition Abschluß des Studiums und Fortschritt der Krankheit

74 74 76 79 81 85 87 87 87 90 96 103 103 105 108 110

VIII. Die Anfänge der Gesellschaft Jesu 114 1. Die Gefährten 114 2. Letzte Reise nach Spanien 118 Als Seelsorger in Azpeitia 118 In der Heimat der Gefährten 122 3. Auf dem Weg nach Rom 124 Von Genua nach Venedig 124 Eine Winterreise: Der Weg der neun Gefährten nach Venedig . 125 Wartezeit 127 4. Die Vision von La Storta 133

Inhalt IX. Ignatius in Rom 1. Seelsorge in der Hauptstadt der Christenheit Intermezzo in Monte Cassino Ein Heiliger der Tränen Hilfe für die Seelen und fromme Werke „Das gute und echte Jerusalem" Erneute Anfeindungen wegen der Rechtgläubigkeit 2. Institutionelle und spirituelle Stabilisierung Erste Messe in S. Maria Maggiore Die Gelübde von S. Paolo „Die Leichtigkeit, Gott zu begegnen" 3. Die Konstitutionen des Ordens Einige Vorbemerkungen Grundlagen und Gliederung des Ordens Gehorsam Armut Gottesdienst Moralische Qualität der Konstitutionen 4. Korrespondenz Kampf gegen die Häresien Politische Korrespondenz Missionierung der Oikumene Zeugnisse spirituellen Lebens und theologischen Denkens . . . . X. Zeitgenossen 1. Papst Paul III 2. Papst Marcellus II 3. Papst Paul IV 4. Philipp Neri 5. Martin Luther 6. Johannes Calvin

VII 136 136 137 137 139 140 141 144 144 146 150 151 151 153 156 158 160 161 162 162 169 172 175 179 179 180 183 187 192 197

XI. Höhe und Ende des Lebens 207 1. Ignatius und die Frauen 207 Der Fall Isabel Roser 208 Andere „Jesuitinnen" 213 Damen des Hochadels 219 2. Die Kollegien 223 Rom und Italien 223 Portugal und Spanien 228 Deutschland und die Niederlande 233 Frankreich 235 3. Äußere Erscheinung des Ignatius und Eindruck auf die Zeitgenossen 236 4. Ein einsamer Tod 238

VIII

Inhalt

XII. Aufstieg und Niedergang der Gesellschaft Jesu 1. Die Jesuiten und die Kunst des Barock Anfänge des barocken Kirchenbaus in Rom Kirchenbauten der Jesuiten nördlich der Alpen Der Beichtstuhl Malerei Musik und Theater 2. Weltmission Asien Afrika Lateinamerika 3. Die Jesuiten und die Theologie Das Religionsgespräch von Poissy Theologische Eigentümlichkeiten Sonderwege in der Moral 4. Große Jesuiten des „alten" Ordens Francisco de Javier Petrus Canisius Francisco Suärez Robert Bellarmin Matteo Ricci Athanasius Kircher Baltasar Graciän Friedrich Spee 5. Die „Frühvollendeten" Stanislaus Kostka Aloysius Gonzaga Johannes Berchmans 6. Geisteskämpfe des 17. und 18. Jahrhunderts Venedig Port-Royal Die Jesuiten in der Aufklärung 7. Die Aufhebung der Gesellschaft Jesu XIII. Der „neue" Orden 1. Neubeginn im 19. Jahrhundert 2. In den Stürmen des 20. Jahrhunderts In der Modernismus-Krise Widerstand gegen den Nationalsozialismus Symptome des Zerfalls 3. Bedeutende Jesuiten des „neuen" Ordens Hartmann Grisar Pierre Teilhard de Chardin Hans Urs von Balthasar

241 241 241 243 246 247 250 253 253 257 258 259 260 261 262 264 264 266 269 271 273 275 277 279 283 283 285 289 290 290 292 294 295 298 298 301 301 303 303 307 307 309 313

Inhalt Henri de Lubac Jean Danielou Bernard Lonergan Augustin Bea Stanislas Lyonnet Karl Rahner Gustav Gundlach Oswald von Nell-Breuning Wilhelm Klein XIV. Epilog Was bleibt?

IX 317 319 322 323 325 327 331 335 336 341 341

Anmerkungen

345

Zeittafel

431

Abkürzungen

434

Quellen und Literatur Quellen Handschriften Drucke Literatur Register Personennamen Ortsnamen Moderne Autoren

435 435 435 435 443 459 459 470 478

Vorwort Das vorliegende Buch enthält ein Profil der Gestalt des Ignatius von Loyola in ihrem historischen Umfeld sowie den Versuch, das Vergängliche und das Bleibende in seinem Lebenswerk zu skizzieren. Es ist entstanden aus einem Radio-Essay, der erstmals im Jahre 1999 (zum zweiten Mal im Herbst 2001) vom Südwestdeutschen Rundfunk ausgestrahlt wurde. Ich habe versucht, den essayistischen Charakter in das Buch zu übernehmen, einmal, um der schweren Lesbarkeit und Langeweile, die wissenschaftlichen Darstellungen nicht selten eigen ist, entgegenzuwirken; sodann, um den begründeten, aber gleichwohl subjektiven Mutmaßungen, die bei der Vermittlung des Verstehens eines schwierigen Charakters und einer komplexen Institution notwendig sind, eine für den verständigen Leser einleuchtende und nachvollziehbare Legitimation zu geben. Ich bin mir bewußt, daß genau damit sich für „streng wissenschaftlich" und „zünftig" haltenden Gelehrten eine breite Angriffsfläche geboten wird. Daß jedoch eine Darstellung der hier beschriebenen und im folgenden versuchten Art auf der Basis sorgfältiger Quellenanalysen, mit dem Instrumentarium eines soliden historischen und philologischen Handwerks, erfolgen muß, ist selbstverständlich. Erwägungen dogmatischer, ideologischer oder kirchenpolitischer Natur, die Werke hagiographischen Charakters für kritische und nachdenkliche Leser oft unerträglich machen, finden dagegen überhaupt keine Berücksichtigung. Das literarische Genus des Essays macht es auch möglich, unausgesprochen oder ausdrücklich, eigene Kenntnisse und Erfahrungen mit dem Geist des Ignatius und seines Ordens ins Spiel zu bringen. Da ich vier Jahre lang (1956-1960) an drei hervorragenden von Jesuiten geleiteten römischen Anstalten studiert habe, der Universität Gregoriana, dem Collegium Germanicum et Hungaricum und dem Päpstlichen Bibelinstitut, darf ich mich wohl mit einigem Recht als Jesuitenschüler bezeichnen. Aus meiner Dankbarkeit dem Orden gegenüber habe ich nie einen Hehl gemacht, was auch in der Widmung eines Bandes meiner spätmittelalterlichen Texteditionen dokumentiert ist (Patribus e Societate Iesu magistris optimis vivis atque defunctis). Zwei ihrer bedeutenden Gelehrten haben mich während meiner Studienzeit in wissenschaftlicher und persönlicher Hinsicht entscheidend geprägt: WILHELM KLEIN ( 1 8 8 9 - 1 9 9 6 ) u n d STANISLAS LYONNET ( 1 9 0 2 - 1 9 8 6 ) . M i t a n d e r e n

von ihnen habe ich Konflikte ausgetragen, die beizeiten meinen Blick für die Schattenseiten der Gesellschaft Jesu und der ignatianischen Spiritualität geschärft haben.

XII

Vorwort

Bis in die Gegenwart lassen sich viele Autoren von Werken über Ignatius von Loyola und seinen Orden entweder von Widerwillen und Haß oder von allzu großer Bewunderung und Ergebenheit leiten. Durch beide Extreme können Studium und Beurteilung einer Persönlichkeit mit unbestreitbar großer geschichtlicher Wirkung methodisch verdorben werden. Dagegen kann die Annäherung auf der Basis der nüchternen, soliden Methoden der Philologie und der Religionsgeschichte in diesem wie in anderen Fällen dem Autor und dem Leser durchaus zur Wahrheitsfindung dienlich sein. In einem Werk wie dem vorliegenden ist kein Platz für eine Bibliographie raisonnee der früheren Lebensbeschreibungen des heiligen Ignatius. Dennoch möchte ich erwähnen, welche von den älteren Biographien ich am meisten schätze. Das 1 8 9 5 erschienene Buch des protestantischen Historikers EBERHARD GOTHEIN ( 1 8 5 3 - 1 9 2 3 ) : „Ignatius von Loyola und die Gegenreformation" wird als erstes dem Anspruch einer historisch-kritischen Biographie gerecht. GOTHEIN ist um Objektivität bemüht und vermeidet jegliche unsachliche Polemik; dennoch bleibt er unverkennbar im Geist seines geschichtlichen Umfeldes, dem des Wilhelminischen Deutschland, befangen. Noch immer lesenswert, wenngleich mit zahlreichen zeitbedingten Fehlern behaftet, ist HEINRICH BOEHMERS ( 1 8 6 9 - 1 9 2 7 ) Ignatius-Biographie von 1 9 1 4 (Neuausgabe 1 9 4 1 ) . Unter den Lebensbeschreibungen, die Mitglieder der Gesellschaft Jesu ihrem Ordensgründer gewidmet haben, ragt diejenige des Franzosen P A U L D U D O N ( 1 9 3 4 ) hervor. Zweifellos größter Kenner der ignatianischen Quellen im 2 0 . Jahrhundert war der spanische Jesuit PEDRO DE LETURIA ( 1 8 9 1 - 1 9 5 5 ) . Von ihm erwarteten viele Forscher die „definitive" Biographie des Ignatius, deren Vollendung jedoch sein Tod ante diern zuvorkam. Einen unvollkommenen Ersatz dafür bieten die von seinem Kollegen und Schüler IGNACIO IPARRAGUIRRE in zwei Bänden herausgegebenen „Estudios Ignacianos" ( 1 9 5 7 ) . Für wertvolle Anregungen, Hinweise, Ermutigungen jeglicher Art habe ich zu danken: dem ehemaligen Generalsekretär der Gesellschaft Jesu und Rektor des Collegium Germanicum et Hungaricum P. JOHANNES GÜNTER GERHARTZ S.J. (Burg Lantershofen), P. W I L L I LAMBERT S.J. (München), Ministerpräsident a.D. ERWIN TEUFEL (Stuttgart), Oberstudiendirektor ERNSTREINHARD B E C K , Mitglied des Deutschen Bundestags (Berlin und Pfullingen), Dr. JÜRGEN KUHLMANN (Nürnberg), Frau Dr. IRMGARD H O R N E F und Dr. WINFRIED HORNEF (Mössingen), Diözesankonservator und Museumsdirektor WOLFGANG U R B A N (Rottenburg), WALTER SIMON (Tübingen), Dr. Dr. A D O L F H O L L (Wien), Prälat Dr. N I K O L A U S W Y R W O L L (Regensburg), Frau E V A PAULUS (Nalbach), Bibliothekar ERNST-WERNER STINNER (Köln), Pfarrer JOSEF BUTZA (Duisburg), Dr. K A R L STOIBER (Linz a.d. Donau), Frau Dipl. Psych. EVITA H. KOPTSCHALITSCH (Starzein), Professor Dr. FRIEDHELM KRÜGER (Münster), Professor Dr. HEINRICH THEISSING (Düsseldorf), Professor Dr. WILHELM O T T (Tübingen), U L R I C H KÜENZLEN (Mössingen), Frau Professor Dr. DANIELA M Ü L L E R (Utrecht), PETER FELD (Köln), Dr.

Vorwort

XIII

K A R L FELD (Istanbul) und nicht zuletzt meiner Frau RENATE, die um den atmosphärischen Hintergrund besorgt war, ohne den keine wissenschaftliche Arbeit gedeihen kann. Dem Direktor der Universitätsbibliothek Tübingen Professor Dr. ULRICH SCHAPKA bin ich dankbar für die erleichterte Benutzung der Magazinbestände, wodurch die Arbeit an einem Forschungsprojekt erheblich verkürzt wird. Ein besonderes Wort des Dankes gilt auch diesmal den stets freundlichen und hilfsbereiten Bibliothekaren des Alten Lesesaals, namentlich Frau ANNA-ELISABETH BRUCKHAUS, Frau HEIDRUN MIETER, Frau IRIS SEEL, Frau HEIKE MATTHEIS, HANS-HELWIN REISSENBERGER, ALFONS SCHRODE sowie allen anderen Mitarbeitern. Den Rahmen für die vorbereitenden Arbeiten bot das am Institut für Europäische Geschichte Mainz laufende Projekt: „Forschungen zur Religionsgeschichte des Spätmittelalters und der Reformationszeit", für dessen wissenschaftliche und organisatorische Betreuung ich Professor Dr. GERHARD M A Y und Professor Dr. ROLF DECOT herzlich danke. Nach ihrem Amtsantritt als Direktorin der Abteilung für abendländische Religionsgeschichte im Mai 2005 hat Frau Professor Dr. IRENE DINGEL dankenswerter Weise das Vorhaben unter ihre Obhut genommen. Der Satz des Bandes entstand bei pagina in Tübingen. Für eingehende Beratung und hervorragende Arbeit danke ich Frau HANNELORE OTT, VOLKER MEHNERT, REINHARD MICHAEL und THOMAS ZIEGLER. Leitung und Mitarbeitern des Verlagshauses Böhlau in Köln danke ich für Entgegenkommen und gute Zusammenarbeit; insbesondere hat sich JOHANNES VAN OOYEN, wie schon bei früheren Projekten, als in jeder Hinsicht sachkundiger Gesprächspartner bewährt. Ein herzliches Dankeswort gilt sodann den Sponsoren, deren finanzielle Unterstützung das Projekt ermöglichte: - S. Exz. Dr. GEBHARD FÜRST, Bischof von Rottenburg-Stuttgart, und Domkapitular Dr. K L A U S KRÄMER - S. Exz. Professor Dr. PAUL WEHRLE, Weihbischof von Freiburg - Vereinigung der Freunde der Universität Tübingen (Universitätsbund), auf Vermittlung des Rektors der Universität Tübingen, Professor Dr. EBERHARD SCHAICH, und von Geschäftsführer HERIBERT KNEER - Egon PAULUS Bauunternehmung, Nalbach - Sparkassenverband Baden-Württemberg, namentlich dessen Präsident HEINRICH HAASIS

- Gebr. Arweiler, Sand-, Kies- u. Hartsteinwerke, Dillingen/Saar Obwohl ich von der heute üblichen Jubiläums-Manie nicht viel halte, sei dennoch angemerkt, daß das Buch zwischen zwei Jubiläen entstanden ist: Im Oktober 2002 beging die nach der Gesellschaft Jesu selbst bedeutendste Stiftung des Ignatius, das Collegium Germanicum, ihr 450jähriges Jubiläum; am 31. Juli 2006 wird der 450. Todestag des heiligen Ignatius von Loyola gefeiert. Tübingen, 2. November 2005

Helmut Feld

I EINFÜHRUNG: Pour quoy non In der Kapelle des Stammschlosses der Familie Loyola im spanischen Baskenland ist bis heute ein aus Flandern stammendes Gemälde erhalten. Es stellt die Verkündigung mit Maria und dem Erzengel Gabriel dar. Die Worte, die die Personen wechseln, stehen auf dem Rundbogen über der Szene: „Ave gratia plena Dominus te cum": „Sei gegrüßt, Gnadenvolle, der Herr ist mit dir." „Ecce, ancilla, Domini, fiat mihi secundum verbum tuum": „Siehe, ich bin die Magd des Herrn, mir geschehe nach deinem Wort." Das Bild befindet sich seit 1498 in der besagten Kapelle. In diesem Jahr heiratete einer der älteren Brüder des Ignatius oder Inigo, wie er damals noch hieß, Don Martin Garcia de Loyola. Seine Frau Magdalena de Araoz brachte das Bild als Hochzeitsgeschenk der Königin Isabella von Kastilien nach Loyola. Es stammt aus dem Besitz der hochadeligen baskischen Familie Guevara, mit der Ignatius mütterlicherseits nahe verwandt war. Don Ladrön de Guevara, dessen Namen und Wappen unten auf dem Rahmen des Bildes angebracht sind, hat dort auch den Wappenspruch seiner Familie verewigen lassen. Er lautet: „Pour quoy non."' Inigo de Loyola, der spätere Gründer der „Gesellschaft Jesu", hat vor diesem Bild während der entscheidenden Phase, in der sich sein Leben total veränderte, oft gebetet. Man weiß, daß sich dem mittelalterlichen Menschen Bildeindrücke tief einprägten und für seine Weltvorstellung und Religiosität von entscheidender Bedeutung waren. Das gilt insbesondere für meditativ und visionär veranlagte Menschen - um nur an Franziskus von Assisi zu erinnern, für den Gebet und visionäres Erlebnis vor dem Kreuzbild (croce dipinta) von San Damiano im Sommer des Jahres 1206 die große Wende in seinem Leben brachten.2 Ignatius von Loyola gehört zu den großen Visionären der christlichen Religionsgeschichte, und er hat, vor allem durch die von ihm verfaßten „Geistlichen Übungen", die Exerzitien, die meditative Gebetsform bis in die Gegenwart entscheidend geprägt. In den ignatianischen Exerzitien kommt der Gestalt der Mutter Christi, „Unserer Herrin", wie Ignatius sagt, eine überragende Rolle im Geschehen der allgemeinen und der individuellen Erlösung zu, so wie es auf den mittelalterlichen Verkündigungsszenen dargestellt ist. Es ist deshalb keine abwegige Vermutung, wenn man annimmt, daß die auf dem frommen Meditationsbild in der Schloßkapelle von Loyola befindliche Devise sich tief in der Seele des Ignatius eingeprägt hat. Pour quoy non?

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Einführung

Die Frage ist doppeldeutig. Es kommt auf die Betonung an. Sagt man: „Warum nicht?", dann kommt darin eine gewisse Skepsis, eine Art von Distanznahme, oder auch Unsicherheit, Ratlosigkeit zum Ausdruck. Es ist dann eine echte Frage, auf die der Fragende eine Antwort erwartet. So fragt eine Mutter ihr Kind, das eine Anweisung nicht befolgen will: „'Warum nicht?" (deutlicher in der moselfränkischen Mundart: „For wat net?") Sagt man dagegen: „Warum nicht}" („For wat net?"), dann ist in der Frage ein Wagnis ausgesprochen: Warum eigentlich nicht? Wer so fragt, der hat für sich die Frage schon beantwortet. Er ist zur Tat entschlossen. Es ist die Haltung des selbstbewußten, tapferen baskischen Adeligen, die damit zum Ausdruck kommt. Das untergründige Bewußtsein, daß man zu einer Entscheidung kommen müsse und dem dann gefaßten Entschluß bedingungslos, allen Widerständen zum Trotz, zu folgen habe, war bestimmend für das Leben des Ignatius und den Geist des von ihm gegründeten Männerordens, der „Gesellschaft Jesu". Es muß an dieser Stelle noch von einem zweiten Bildwerk die Rede sein. Über dem Eingangsportal des Schlosses Loyola befindet sich bis heute das in Stein gehauene Wappen der Erbauer und ehemaligen Besitzer dieses Adelssitzes. Es zeigt in der Mitte einen an einer Kette hängenden Kessel, flankiert von zwei emporspringenden Wölfen.3 Von Ignatius ist über das Wappen seiner väterlichen Familie kein Wort überliefert. Hat er es in seiner Jugend nie betrachtet und über den Sinngehalt nachgedacht? Schwer vorstellbar. Der Kessel, uraltes Sakralgerät bei den Kelten, symbolisiert das Zentrum des Hauses und der Familie, die Küche, den Herd. Er wird entweder bewacht oder bedroht von den „Wölfen": im ersteren Falle sind es die wehrhaften, kriegerischen Männer des Hauses, im letzeren die von außen kommenden Feinde des häuslichen Friedens, die feindlichen Nachbarn, die Räuber, die Heiden. Mit dem unbehausten Dasein, das Ignatius nach seiner „Bekehrung" auf sich nahm, entfernte er sich aus dem schützenden Kreis seiner Familie, seinem biologischen und sozialen Zusammenhang, und begab sich, allein im Vertrauen auf Gott, gewissermaßen unter die Wölfe. Im Rückblick auf sein Leben hat Ignatius sich selbst als „Pilger" gesehen. Er ist in der Tat ein Pilger zwischen zwei geistigen Welten, der Kirche des Mittelalters (Christianitas) und der durch Reformation und Konzil von Trient geprägten Katholischen Kirche der Neuzeit. Die Haltung, die er bei der beharrlichen, hartnäckigen Verfolgung seiner Ziele einnahm, ist nicht eindeutig. Sie zeigt einerseits stark konservative, sogar restaurative, Züge: In entschiedener Ablehnung aller Anliegen der Reformatoren, sofern sie Fragen der Theologie und der Kirchenverfassung betrafen, hielt er an der hierokratischen, papalen Struktur der Kirche fest, ebenso an dem Studium der scholastischen Philosophie und Theologie als Voraussetzung für die Berufe des Seelsorgers und des kirchlichen Lehrers. Die Reformen, die christliche Humanisten wie Erasmus von Rotterdam im Sinne hatten, mehr aber noch die dem zugrunde liegende Geisteshaltung, waren ihm nicht geheuer.

Einführung

3

Trotzdem hat Ignatius später für die von Mitgliedern seines Ordens geleiteten Kollegien vor allem das auch von den Humanisten energisch propagierte Studium der drei alten Sprachen Hebräisch, Griechisch und Latein, aber auch das Studium aller „modernen" Wissenschaften verbindlich vorgeschrieben. Die spirituelle Praxis, die gelebte Frömmigkeit der Ordensleute hatte schon im Spätmittelalter stark individuelle Züge angenommen, wie man an den Schriften der großen Mystiker und Mystikerinnen des 14. und 15. Jahrhunderts, an den Werken des Pariser Theologen Jean Gerson (1363-1429) oder auch an der Verbreitung eines Buches wie der (auch von Ignatius sehr geschätzten) „Nachfolge Christi" sehen kann. Aber erst Ignatius wird, aufgrund seiner persönlichen religiösen Erfahrungen, die er dann in seinem Exerzitienbuch ausgewertet und für andere festgehalten hat, zum großen Meister einer auf der Innenschau, der Analyse seelischer Regungen und der Beobachtung des „Gottes in seinem Inneren" gegründeten Frömmigkeit. Die Neuerung, die hier vorgegangen ist, wird vielleicht am deutlichsten in der Abschaffung des gemeinschaftlichen Chorgebets für die Jesuiten. Das Chorgebet war der „Ort" der mittelalterlichen Spiritualität schlechthin, was allein schon am Umfang der dafür vorgesehenen Zeit deutlich wird. Bei den benediktinischen Orden von Cluny und Citeaux, aber auch noch bei den Bettelorden des 13. Jahrhunderts, den Franziskanern und Dominikanern, waren viele Tages- und Nachtstunden dem „göttlichen Offizium" gewidmet. Ignatius hat, wenn man diese kurz gefaßte Formel gelten lassen will, den Ort des „geistlichen Lebens" vom Chor in die Seele verlegt. Natürlich gab es zu allen Zeiten und vor allem im Mittelalter auch stark individuell geprägte Frömmigkeit - wie etwa die Beispiele Hildegards von Bingen, Bernhards von Clairvaux, Franziskus' von Assisi und vieler Mystiker zeigen. Aber mit der konsequenten Erziehung der Mitglieder der Gesellschaft Jesu und darüber hinaus so gut wie des gesamten katholischen Klerus durch die im Exerzitienbuch festgehaltenen Übungen und Prinzipien kommt in die praktische Ausübung (den Kultus) der christlichen Religion etwas völlig Neues. Die neue Form des Kultus (die durchaus auch Elemente des Beharrens auf dem Althergebrachten hat) bringt eine neue Kultur hervor: die des Barock. So wie Kultur und Kunst der Renaissance ohne die Spiritualität und religiöse Vorstellungswelt des heiligen Franziskus nicht denkbar sind (den man deshalb auch mit Recht als den „Vater der Renaissance" bezeichnet hat), so liegt die Keimzelle des römischen, europäischen und südamerikanischen Barock letztlich in den Visionen des Ignatius von Loyola. Im gemalten Universum der barocken Deckenfresken sind „Gründungslegenden" in ihrem kosmischen Zusammenhang dargestellt: wie die Entstehung und das Wirken des verherrlichten Ordens oder der Familie letztlich im Plan, in der Vorsehung Gottes gründen und aus der Glorie der heiligen Trinität ihre Legitimation beziehen. Die Vision des Ignatius von La Storta, in der er sieht, wie der himmlische Vater ihn an die Seite des kreuztragenden Erlösers stellt, zusam-

4

Einführung

men mit der Verheißung: „Ich werde euch in Rom gnädig sein", ist die Gründungslegende der Gesellschaft Jesu. Man darf in ihr so etwas wie die Initialzündung für das barocke Lebensgefühl und die barocke Religiosität sehen, die, ausgehend von der Hauptkirche des Ordens, Il Gesù in Rom, in Architektur, Plastik und Malerei des barocken Zeitalters ihre sichtbare Gestaltung gefunden haben.

II KINDHEIT UND

JUGEND

1. Frühkindliche Prägungen? Iñigo López de Loyola entstammte einer hochadeligen, kriegerischen und reichen Familie des Baskenlandes. Er wurde wahrscheinlich im Jahre 1491 auf dem bei der Stadt Azpeitia (in der zum Königreich Kastilien gehörenden Provinz Guipúzcoa) gelegenen väterlichen Schloß als jüngstes von insgesamt dreizehn ehelichen Kindern des Don Beltrán de Loyola geboren. „Inigo" ist die baskische Form des lateinischen „Enecus": so hieß der Heilige, auf dessen Namen der jüngste Sproß des Hauses Loyola getauft wurde (die spanische Schreib- und Ausspracheform ist: „Iñigo"). Beltrán hatte außerdem noch mindestens zwei außereheliche Kinder. Seine Frau hieß Marina Sánchez de Licona und stammte ebenfalls aus dem baskischen Hochadel. Sie starb kurz nach der Geburt Iñigos. Der Vater gab das Kind bei der Frau des örtlichen Schmieds, Maria Garin, in Pflege, und Iñigo verbrachte seine frühen Jahre zusammen mit den Kindern des Schmieds.1 In seiner vor einigen Jahren in deutscher Ubersetzung erschienenen Biographie des Ignatius hat der amerikanische Psychologe und Jesuit W I L L I A M W. M E I S S N E R die Kindheitserlebnisse zur Erklärung der charakterlichen Entwicklung und darüber hinaus der religiösen Weltvorstellung und Spiritualität seines Ordensstifters herangezogen.2 Gemessen an dem, was bisher in Kreisen des Jesuitenordens über Ignatius - leider auch an hagiographischem Schwachsinn! - geschrieben wurde und geschrieben werden durfte, stellt das Buch eine Sensation dar. Nach M E I S S N E R sind die teilweise traumatischen Kindheitserlebnisse Iñigos von entscheidender Bedeutung für dessen Persönlichkeitsstruktur. Dazu zählt vor allem der frühe Verlust der Mutter, aber auch das beherrschende Bild eines in kriegerischer und sexueller Hinsicht dominanten Vaters, zu dem noch sechs ältere Brüder vom gleichen Schlag kamen. Ideale der Adelsgesellschaft, von denen sie geprägt wurden, waren vornehmer, aristokratischer Stolz ebenso wie aggressive, kriegerische Mentalität und das Zurschaustellen sexueller Potenz und Energie. Iñigos älterer Bruder Martín Garcia war alles andere als ein treuer Ehemann, und sogar Pero López, der Pfarrer des benachbarten Städtchens Azpeitia war, hinterließ vier Kinder. Zu dem „Stolz der Loyolas", der Iñigo von frühester Jugend an gewissermaßen eingeimpft wurde, gehörte auch eine starke Religiosität, welche kriegerische Betätigung und im Zusammenhang damit das ungehemmmte Ausleben sexueller Lust keineswegs aus-, sondern einschloß.

6

II. Kindheit und Jugend

Nach M E I S S N E R sind diese beiden Elemente: das traumatische Erlebnis des frühen Verlusts der Mutter und die Verdrängung des aggressiv und phallischgenital geprägten Vaterbildes, die eigentlichen Schlüssel zur Erklärung von Persönlichkeit und Verhalten des Heiligen als reifen Mannes. Nicht zuletzt gehören dazu auch sein stark psychotisches Verhältnis zu Frauen und sein religiöses Weltverständnis, das er seinen Anhängerinnen und Anhängern und später seinem Orden einzuprägen suchte. Zweifellos ist es von großem Wert, wenn der Charakter eines Heiligen und Visionärs einmal mit den Methoden der historischen Psychologie analysiert wird. Aber die Mittel der Freud'schen Psychoanalyse reichen doch nicht aus, etwa das religiöse Erleben und namentlich das visionäre Phänomen restlos aufzuklären. M E I S S N E R ist sich dessen durchaus bewußt. Weniger deutlich ist die Distanz zu seiner eigenen Wissenschaft, die doch weitgehend hypothetischen Charakter hat und in vielen Fällen zu nicht mehr als intelligenten Vermutungen führen kann. Weiß man denn, ob der kleine Inigo tatsächlich die Kopulationen des Schmieds, bei dem er aufwuchs, mit seiner Frau mitbekam und sich das dann später in dem „phallischen" Charakter des Schlangengebildes äußerte, das er in seiner berühmten Vision sah?3 Ein anderer moderner Biograph des Ignatius ist der baskische Kirchenhistoriker I G N A C I O T E L L E C H E A . Sein Buch zeichnet sich durch eine profunde Kenntnis des historischen Umfeldes und eine große Einfühlungsgabe in Mentalität und Spiritualität seines Landsmannes aus.4 Obwohl T E L L E C H E A nicht die wissenschaftliche Psychologie zur Analyse des Charakters des Ignatius heranzieht, sondern sich auf diesem Felde mehr auf seine Intuition und seinen gesunden Menschenverstand verläßt, stellt er doch schon gleich zu Beginn seines Buches die Frage, ob eines der letzten Geheimnisse des bewegten Wanderlebens des Ignatius nicht vielleicht in der unbewußten Suche nach der Mutter bestehe. „Suchte er nicht vielleicht instinktiv und mit gleichsam biologischer Notwendigkeit die Wunde des Verlustes der Mutter zu heilen?"5 Ignatius war, wie schon erwähnt, einer der größten Visionäre der christlichen Religionsgeschichte. Seine zahlreichen Visionen, die er selbst in dem so genannten „Bericht des Pilgers", den er gegen Ende seines Lebens diktiert hat, eingehend beschreibt, können als Ausdruck eines komplexen psychotischen Krankheitsbildes und als Verarbeitung von Neurosen erklärt werden. Dennoch sind sie, wie schon die Visionen mittelalterlicher Heiliger - wie Hildegard von Bingen, Franziskus von Assisi oder Jeanne d'Arc - zugleich Formen religiösen Denkens, mit deren Hilfe die mannigfachen Vorstellungen von Gott und Welt, denen die Betreffenden begegnen, reflektiert und bewältigt werden. Sie können so auch - um dieses große und nicht mehr modische Wort zu gebrauchen - Wege zur religiösen Wahrheit sein.

„Eitelkeiten der Welt" und Bekehrung

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2. „Eitelkeiten der Welt" und Bekehrung Familiäre Beziehungen und höfische Bildung Kindheit und frühe Jugend des Iñigo de Loyola „ist ein mit Unsicherheiten und Vermutungen behaftetes Thema". Schon das Geburtsjahr ist nicht unumstritten.6 Ignatius selbst scheint nicht genau gewußt zu haben, wie alt er war, und hat wohl als sein wahrscheinliches Geburtsjahr 1493 angenommen.7 Seine Amme und Pflegemutter Maria Garin, die ihn überlebte, war sich jedoch sicher, daß er zwei Jahre früher, nämlich 1491, geboren war. Dieses Geburtsjahr hat auch Pedro de Ribadeneira, der erste „offizielle" Biograph des Heiligen, übernommen.8 Man wird der Erinnerung der Ersatzmutter trauen dürfen, die den Säugling annahm und unter ihren eigenen Kindern aufzog. Sie bewohnte mit ihrem Mann, dem Schmied Martin de Errasti, das heute noch bestehende Gehöft Equibar. Wie lange sich der kleine Iñigo der mütterlichen Fürsorge dieser ersten weiblichen Bezugsperson erfreuen durfte, ist nicht bekannt; ebenso wenig wissen wir über Einzelheiten der Beziehung. Ignatius hat sich daran entweder nicht erinnert oder sich mit Absicht darüber ausgeschwiegen. Maria scheint aber keine schlechte Mutter gewesen zu sein. TELLECHEA schreibt über sie: „Maria Garin geht wegen ihres weitherzigen leiblichen Beitrages in die Geschichte ein, doch spricht niemand von ihrem schützenden seelischen Einfluß. Auf jeden Fall verbergen sich im Gesicht, in den Armen, im Schoß der Maria Garin viele letzte Geheimnisse, die die Historiker in den Dokumenten vergeblich suchen werden."9 Iñigos ältester Bruder, Juan Pérez, der am Eroberungszug König Ferdinands des Katholischen nach Süditalien teilgenommen hatte, war 1496 vor Neapel gefallen.10 Darauf übernahm der zweite der Brüder, Martín García, das Erbe und bezog im Jahre 1498 mit seiner Frau Doña Magdalena de Araoz das väterliche Schloß im Tal des Flusses Urola." Möglicherweise ist damals der etwa siebenjährige Iñigo nach Hause zurückgekehrt. Seine Schwägerin wurde für ihn zur zweiten Ersatzmutter. Später in Rom hat Ignatius einem Mitbruder, P. Balduin ab Angelis, erzählt, „am Beginn seiner Bekehrung" habe ihn ein Bild der Jungfrau Maria in seinem Officium Marianum, das ähnliche Züge wie Magdalena de Araoz trug, durch „menschliche Zuneigung", die er beim Betrachten empfand, von seiner Andacht abgelenkt; als er das Bild mit einem leeren Blatt abdeckte, konnte er „zum gewohnten Andachtsfluß" zurückkehren.12 Von den älteren Loyola-Brüdern starb der dritte, Beltrán, im Krieg.13 Ochoa Pérez, der ebenfalls Krieger war, starb um 1510 in seinem väterlichen Haus.14 Hernando zog nach dem neu entdeckten Amerika; über sein weiteres Schicksal ist nichts bekannt.15 Pero López wurde Pfarrer von Azpeitia.16 Die Namen der Schwestern sind: Juaney^a (Ioanna), Magdalena, Petronila, Sancha.17 Außerdem sind zwei uneheliche Kinder des Vaters namentlich bekannt: Juan Beltrán und Maria Beltrán.18

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Der Vater Beltrán starb am 23. Oktober 1507. Vor seinem Tode hatte er seinen jüngsten Sohn in der Hofhaltung des obersten Finanzverwalters des Königreichs Kastilien (Contador Mayor de Castilla), Juan Velásquez de Cuellar, untergebracht. Der hochangesehene und sehr reiche Beamte, der eine glänzende politische und diplomatische Karriere im Dienst der kastilischen Krone hinter sich hatte, residierte in dem königlichen Palast von Arévalo. Seine Frau Maria de Velasco war mit den Loyola verwandt. Das Ehepaar, das selbst zwölf Kinder (sechs Söhne und sechs Töchter) hatte, ließ Iñigo die gleiche Erziehung angedeihen wie ihnen. Während der über zehn Jahre (1506-1516), die er am Hofe von Arévalo verbrachte, wurde er nicht nur in den ritterlichen Lebensstil Spaniens, die grandezza, eingeübt, er lernte auch Lesen und Schreiben - in einer sehr schönen, kunstvollen Schrift, die er später in seinen Lebenserinnerungen erwähnt - und wurde mit der „weltlichen" Literatur der damaligen Zeit vertraut. Die gesamte Atmosphäre dieses königlichen Hauses war durch einen unvorstellbaren Luxus geprägt. Iñigo erlebte mehrere kürzere und längere Aufenthalte des Königs Ferdinand (f23. Januar 1516) in Arévalo, ebenso von dessen zweiter Gemahlin Germaine de Foix. Der Infant Don Fernando, der spätere Kaiser Ferdinand I., wurde in dem Palast, zusammen mit Iñigo und den Brüdern Velásquez, erzogen. Das glanzvolle, sorgenlose Leben hatte ein jähes Ende, als der Enkel König Ferdinands, König Karl I. (der spätere Kaiser Karl V.) das Erbe seiner spanischen Länder antrat. Velásquez, der meinte, den durch den neuen Herrn getroffenen Entscheidungen Widerstand leisten zu müssen, zog sich dessen Ungnade zu und wurde durch den noch amtierenden Regenten, den Kardinal Cisneros, abgesetzt. Er überlebte seinen Sturz nur um wenige Monate und starb am 12. August 1517. Für die Versorgung Iñigos hatte er nichts mehr tun können. Das plötzliche Unglück, in das Iñigo geraten war, wurde noch vermehrt durch eine unangenehme Krankheit, eine übel riechende Entzündung der Nasenschleimhaut. Durch Behandlung mit kalten Wasser konnte er schließlich damit fertig werden. Und auch was sein Weiterkommen betraf, hatte er Glück im Unglück: seine ehemalige Herrin, Doña María de Velasco, schenkte ihm 500 Dukaten und empfahl ihn einem weiteren Verwandten der Loyola: dem Herzog von Nájera, Antonio Manrique de Lara, der im Jahre 1516 Vizekönig des umstrittenen Königreichs Navarra geworden war. Etwa ein Jahr vor Ende seiner Dienstzeit in Arévalo, im Frühjahr 1515, hatte Iñigo in seiner Heimat, zusammen mit seinem Bruder, dem nichtsnutzigen Priester Pero López, eine nächtliche Untat vollbracht, in deren Gefolge er sich ein gerichtliches Verfahren zuzog. Davon wird später noch die Rede sein.

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Der „Bericht des Pilgers" Im Dienste des Vizekönigs von Navarra stand Iñigo etwa drei Jahre lang, bis zu seiner schweren Verwundung in der Festung Pamplona. Uber den zentralen und entscheidenden Abschnitt seines Lebens, der damit eingeleitet wurde, die Jahre 1521-1538, hat Ignatius selbst berichtet. Gegen Ende seines Lebens, in den Jahren 1553-1555, diktierte er in Rom dem portugiesischen Jesuiten Luis Gon?alves da Cámara seine Erinnerungen. Diese „Autobiographie" des Ignatius, wie sie nicht ganz zutreffend genannt wird, ist ohne Zweifel die wertvollste Quelle für den äußeren Lebensablauf und die innere Entwicklung des Heiligen. Das Schicksal, das sie innerhalb des Ordens hatte, ist bemerkenswert; 19 es weist auffällige Gemeinsamkeiten mit dem Geschick der ältesten (und wertvollsten) franziskanischen Quellen auf: Im Jahre 1260 hatte der heilige Bonaventura, damals Generalminister des Minoritenordens, sich den Auftrag erteilen lassen, eine „offizielle" Biographie des Franziskus zu schreiben. Die 1263 fertiggestellte Legenda maior wurde durch das 1266 in Paris tagende Generalkapitel des Ordens zur einzig gültigen Lebensbeschreibung des Ordensstifters erklärt, die Vernichtung der älteren Legenden angeordnet.20 In vergleichbarer Weise wurde der Spanier Pedro de Ribadeneira (1526-1611) von der Ordensleitung der Jesuiten beauftragt, die offizielle Biographie des Ignatius zu verfassen. Im Juni 1567 erging an die Provinzialoberen der Gesellschaft die Aufforderung, alle für die Lebensgeschichte des Ordensgründers wichtigen Unterlagen nach Rom einzusenden. Anhand des damit vorliegenden Quellenmaterials, zu dem natürlich auch der von Ignatius diktierte Bericht gehörte, verfaßte Pater Ribadeneira dann in lateinischer Sprache seine Ignatius-Biographie. Sie erschien 1572 und wurde bald in die wichtigsten modernen Sprachen übersetzt. Sämtliche bis dahin über Ignatius umlaufenden Schriften ließ die Ordensleitung einziehen. „Die Folge dieser Maßnahme war tatsächlich, daß auch der 'Bericht des Pilgers' so gut wie verschwand und vergessen wurde." 21 Erst nach mehr als 150 Jahren veröffentlichten die Bollandisten in den Acta Sanctorum eine lateinische Version des Textes.22 Die erste kritische Edition des (spanischen und italienischen) Originaltextes erschien erst 1943 im ersten Band der Fontes Narrativi (FN) innerhalb der Monumenta Histórica Societatis Iesu (MHSI). 23 Der Grund für das Verschwindenlassen und Vergessen der wichtigsten Quellen zum Leben des Ordensgründers ist im Falle des Ignatius, wie in dem des Franziskus von Assisi, naheliegend: Was Ignatius selbst über seinen Weg erzählt, fügt sich nur schwer in das hagiographische Bild, das sich der Orden im Lauf der Zeit von der Figur seines Stifters gemacht und das er innerhalb der Kirche verbreitet hatte. Leider sind die Originalaufzeichnungen Cämaras nicht erhalten, und auch das ist ein trauriges Kapitel der Geschichtsklitterung und Retouchierung des Bildes von Ignatius, die Mitglieder seines Ordens nachträglich vorgenommen haben. Die Erinnerungen des Ignatius liegen heu-

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te unter dem sachlich zutreffenden Titel: „Der Bericht des Pilgers" in der schon erwähnten, gut lesbaren deutschen Ubersetzung des Jesuiten B U R K HART SCHNEIDER vor.24 Trotz der angedeutenen Vorbehalte, die der kritische Leser auch diesem Bericht gegenüber haben muß, sieht man in ihm doch mit Recht die „Perle der ignatianischen Quellen" (I. TELLECHEA). 2 5 Der Bericht, in dem Ignatius den zentralen Abschnitt seines Lebens als Pilgerreise beschreibt, beginnt mit der Schilderung einer Bekehrung, eines radikalen Wandels der bisherigen Grundvorstellungen und Lebensziele, wie ihn viele religiöse Stifterpersönlichkeiten erlebt haben. Der äußere Anlaß dafür war eine schwere Verletzung seines Beins durch eine Kanonenkugel, die Iñigo bei der Verteidigung der Festung Pamplona gegen die Franzosen im Mai 1521 erlitt. Er war damals dreißig Jahre alt. Ignatius von Loyola ist oft mit Luther verglichen worden. In den kirchengeschichtlichen Darstellungen werden er und sein Orden gern unter dem Kapitel „Gegenreformation" abgehandelt - gewissermaßen als die durch die protestantische Reformation ausgelöste katholische Reaktion. Diese geistesgeschichtliche Einordnung läßt leicht vergessen, daß Ignatius und Luther Zeitgenossen in einem sehr engen Sinn gewesen sind. Viele entscheidende Ereignisse ihres jeweiligen Lebens liegen fast parallel, und es gibt bedeutende Zeitgenossen, denen beide persönlich begegnet sind. Zu ihnen gehört der Kaiser Karl V. Nur vier Wochen vor der Belagerung von Pamplona, bei der Iñigo schwer verwundet wurde, fand (im April 1521) in Worms der Reichstag statt, auf dem Luther vor dem Kaiser und den Reichsständen todesmutig seinen Standpunkt vertrat. Iñigo de Loyola war dem (späteren) Kaiser mehrfach in den Jahren 1518 und 1519 bei Turnieren und anderen festlichen Ereignissen in Spanien begegnet. Die Dame von sehr hohem Stand, in die er sich damals verliebte, war wahrscheinlich die Infantin Catarina, die jüngste Schwester Karls V.26 Wie schon erwähnt, gehörte Iñigo in dieser Zeit zu dem Gefolge des Herzogs von Nájera und Vizekönigs von Navarra, Antonio Manrique de Lara, in dessen Dienst er 1517 eingetreten war. Das war für den Sohn aus einem stolzen, ehrgeizigen Adelshaus die erste Stufe einer verheißungsvollen Karriere als Kriegsmann und Diplomat. Ignatius hat seine Jugendjahre nur in einem einzigen Satz am Beginn seiner Erinnerungen als die Zeit charakterisiert, in welcher er „den Eitelkeiten der Welt ergeben" war:27 Und hauptsächlich fand er aus einem unbändigen und eitlen Verlangen, sich Ruhm zu gewinnen, sein Gefallen an Waffenübungen. Die Forscher haben aus dürftigen und verstreuten Quellen konkretere Einzelheiten über die Jugendjahre des Ignatius herauszubekommen versucht. Es existieren Akten eines Prozesses, in den Iñigo zusammen mit seinem Bruder Pero López im Jahre 1515 „wegen großer und bedeutender Vergehen" verwickelt war. Einem Strafverfahren der weltlichen (königlichen) Gerichtsbar-

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keit von Azpeitia konnten sich die beiden Übeltäter entziehen, da Pero Priester war, und auch Inigo war schon als Kind auf die geistliche Laufbahn durch Empfang der Tonsur vorbereitet worden. Aber auch das zuständige geistliche Gericht in Pamplona konnte offenbar nicht durchgreifen. 28 Aus den Gerichtsakten geht nicht hervor, welche Art von Vergehen den beiden vorgeworfen wurden. Es wird nur gesagt, daß es sich um ganz enorme Verbrechen handelt, die in der Nacht, mit Vorsatz, in hinterhältiger und feiger Weise begangen wurden. 29 Man vermutet, daß es sich um Frauenhändel und Waffengeschichten, vielleicht Totschlag, gehandelt hat. In seinem Vorwort zum „Bericht des Pilgers" schreibt Pater Gon^alves da Cämara, der Vater Ignatius habe ihm „sein Leben und seine Jugendstreiche offen und deutlich mit allen ihren Einzelheiten erzählt". Da in der gegenwärtigen Fassung des Berichts von den „Jugendstreichen" nichts mehr zu lesen ist, sind sie wohl einer späteren Zensur im Dienst vermeintlicher Erbaulichkeit zum Opfer gefallen. Daß es sich nicht um harmlose, spätpubertäre Dummheiten gehandelt haben kann, beweist ein merkwürdiges Dokument aus der Zeit seines Dienstes bei dem Vizekönig von Navarra. Im Dezember 1518 hielt sich der König Karl I. in Zaragoza auf, um die Vereidigung des Adels des Königreichs Aragon vorzunehmen. Auch Inigo war in Begleitung von Don Antonio Manrique de Lara dorthin gekommen. Am 20. Dezember 1518 wendet sich „Ynigo Lopez de Loyola" mit einem Gesuch an den König persönlich:30 Francisco de Oya, ein Dienstmann der Gräfin von Camina (Agnes de Monroy), bedrohe sein Leben (el qual dize que le ha de mactar); er habe mehrfache Versöhnungsversuche seinerseits ausgeschlagen. Inigo ersucht deshalb darum, zur Verteidigung seiner Person Waffen tragen zu dürfen (de traer armas para guarda y defensa de su persona). Erst ein knappes Jahr später (10. November 1519) bewilligt ihm der König mit einem in Valladolid ausgestellten Schreiben sein Anliegen für eine begrenzte Zeit, außerdem zwei Begleiter (Leibwachen) zu seinem Schutz.31 Um welche Waffen es sich handelt, wird nicht gesagt. Es werden vermutlich versteckt getragene Waffen, also Dolche, gemeint sein. Nicht abwegig dürfte die schon von TELLECHEA geäußerte Vermutung sein, „daß ein so dauerhafter und tiefsitzender Haß mit so tödlicher Absicht und so gnadenloser und hinterlistiger Verfolgung eine plausible Erklärung nur in irgendeiner amourösen Verwicklung haben kann, mit gravierenden Vorfällen und einer Frau im Mittelpunkt". 32 Könnte aber nicht auch ein Zusammenhang mit den früher erwähnten nächtlichen Untaten Inigos und seines Bruders bestehen? Mit seiner Ankündigung, „er müsse ihn umbringen", hat Francisco de Oya möglicherweise die (Blut-) Rache für ein ihm selbst oder seiner Familie zugefügtes „enormes" Unrecht angedroht, dessen Sühnung durch ordentliche Gerichte sich als unmöglich erwiesen hatte.

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Krankheit und geistliche Lektüre Nach der erwähnten schweren Verletzung, die Iñigo in Pamplona erlitten hatte, ergab sich die Besatzung der Zitadelle den Franzosen. Die Sieger behandelten den Verwundeten mit großer Freundlichkeit und ließen ihn nach einigen Tagen mit einer Sänfte in seine Heimat überführen. Im väterlichen Haus zu Loyola stellten die behandelnden Arzte alsbald fest, daß die Knochen des Beins falsch zusammengewachsen waren. Sie hielten es deshalb für notwendig, das Bein nochmals zu brechen und die Knochen ein zweites Mal zusammenzufügen. Uber die Prozedur bemerkt Ignatius selbst: Dabei - wie auch bei allen andern Eingriffen, die er zuvor schon durchgemacht hatte und später noch durchmachen sollte - kam kein Laut über seine Lippen, und er ließ sich den Schmerz nur dadurch anmerken, daß er seine Fäuste fest ineinander verkrampfte. Wie er andeutet, war dies nicht die letzte schwere Operation, die er zu durchleiden hatte: da auch der zweite Eingriff einigermaßen stümperhaft vorgenommen worden war, mußte ein unterhalb des Knies herausragender Knochen" abgesägt werden. Iñigo ertrug auch diese barbarische Tortur mit großer Geduld, obwohl sein Bruder Martin sich darüber entsetzte. Während der schweren Krankheit, in deren Verlauf Iñigo einmal sogar dem Tode nahe und von den Ärzten aufgegeben worden war, pflegte ihn seine Schwägerin Magdalena mit großer Fürsorge. Wahrscheinlich faßte er in dieser Zeit für sie eine „menschliche Zuneigung", denn als er später in einer Vision die Gottesmutter Maria erblickte, glaubte er bei ihr die Züge von Doña Magdalena zu erkennen.34 Als seine Genesung schon Fortschritte gemacht hatte, mußte er gleichwohl wegen der fortdauernden schweren Schmerzen an seinem Bein noch lange das Bett hüten. So hatte er ausreichend Zeit zu lesen. Er gesteht, daß er „schon immer auf die Lektüre von Büchern mit weltlichem Inhalt versessen war", so genannte Ritterromane.35 In der kleinen Bibliothek des Schlosses Loyola gab es aber so etwas nicht. Man gab ihm eine mittelalterliche Darstellung des Lebens Jesu aus der Feder des Kartäusers Ludolf von Sachsen und eine Sammlung von Heiligenleben in spanischer Sprache.36 Während er sich in die Lektüre dieser beiden Bücher vertiefte, wurde er zum ersten Mal in seinem Leben mit den religiösen Lebensidealen der Heiligen konfrontiert. In seinen Gedanken wurde ihm der Gegensatz zwischen seinen bisherigen rein „weltlichen" Zielen und den Taten der Heiligen bewußt - wobei ihm besonders zwei Stifter mittelalterlicher religiöser Bewegungen, Franziskus von Assisi und Dominikus, auffallen. Ignatius schildert, wie er in seinen Gedanken in ein Dilemma zwischen zwei Lebensvorstellungen, eine gewisse Ratlosigkeit geriet: er schwankte, ob er, wie bisher, „weltliche Großtaten" anstreben solle, oder „jene anderen Taten für Gott".

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Iñigo beschreibt dann, wie er an sich selbst die nachhaltige Wirkung dieser beiden Richtungen seiner Gedanken beobachtete: die weltlichen Überlegungen hinterließen, auch wenn er zunächst Gefallen daran fand, eine schlechte Stimmung (hallábase seco y descontento). Wenn er sich jedoch in Gedanken weiter mit den Bußübungen der Heiligen beschäftigte, dann empfand er nicht nur vorübergehenden Trost, sondern es stellte sich für längere Zeit Freude und Zufriedenheit ein (quedaba contento y alegre). Aus dieser Erfahrung der Verschiedenheit seelischer Stimmungen, die durch Gedanken hervorgerufen werden konnten, glaubte er nach weiterem Nachdenken, die Verschiedenheit der Geister zu erkennen, die dabei tätig waren, nämlich einmal der Geist des Teufels und das andere Mal der Geist Gottes. Dies war die erste Überlegung, die er über die Dinge Gottes anstellte. Und als er später die Exerzitien verfaßte, begann er von hier aus Klarheit über die Lehre von der Verschiedenheit der Geister zu gewinnen.

Es ist bemerkenswert, daß Ignatius selbst beschreibt, wie ein zentraler Gedanke seines Exerzitienbuches, die Lehre von der Unterscheidung der Geister, in seiner Grundgestalt bereits auf die Anfänge seiner „Bekehrung" zurückgeht. Von großer Bedeutung ist ferner, daß das Kriterium für die Unterscheidung der Geister durch die Beobachtung seelischer Regungen, Stimmungen gewonnen wird. Die aufmerksame Beobachtung und Steuerung der emotionalen Züge des Seelenlebens bleibt auch für die Exerzitien charakteristisch. Im Zusammenhang mit seiner Lektüre der Heiligenviten begann Iñigo nun auch, „ernster über sein vergangenes Leben nachzudenken, und er erkannte, wie notwendig es für ihn wäre, Buße dafür zu tun". Aus seinem Lesestoff gewann er die Erkenntnis, eine wie große Bedeutung die Stadt Jerusalem für die gläubigen Menschen des Mittelalters hatte, und er entschloß sich, sofort nach seiner Genesung eine Pilgerfahrt nach Jerusalem, unter möglichst vielen Entbehrungen und Bußübungen, zu unternehmen. Jerusalem: um diesen heiligen Ort sollten für die nächsten zwei Jahrzehnte seine Gedanken und Lebensplanungen kreisen. An dieser Stelle liegt die Frage nahe, warum Iñigo, nachdem er sich zu einem Pilgerdasein entschlossen hatte, nicht zuerst eine Wallfahrt nach Santiago de Compostella unternommen hat. Seine Familie, seine Vorfahren fühlten sich diesem heiligsten Ort Spaniens in besonderer Weise verbunden. So verfügte einer der Urgroßväter Iñigos, Lope Garcia de Lascano, in seinem am 15. Januar 1441 in Azpeitia ausgefertigten Testament, daß jemand nach Santiago gesandt werden solle, um für seine Seele zu beten.37 Die Urgroßmutter läßt aus Sorge um ihr Seelenheil zwei Leute nach Santiago, zwei weitere nach Guadalupe schicken.38 Warum schlug aber der Pilger Iñigo nicht zunächst den Weg nach Westen, nach Finis Terrae, dem Ort der Seelen, ein? Pourquoy non? Warum nicht? Uber die möglichen Gründe kann man nur Vermutungen

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anstellen, da sie letztlich in den Abgründen der Seele des Pilgers verborgen sind. Einer davon wird in der gewollten Abkehr von seiner Familie liegen. Von Bedeutung ist gewiß auch der hohe Platz, den die Jungfrau Maria mittlerweile in seiner religiösen Vorstellungswelt eingenommen hatte. Das erste Ziel seiner Pilgerschaft lag im Osten und war ein Marien-Heiligtum: Montserrat. Er wollte dort, bevor er weiterzog, seine ritterliche und sündige Vergangenheit zugleich ablegen und zu einem neuen Leben auferstehen.

3. Erste Vision und Niederschrift des ersten Buches Ein Bild Unserer Lieben Frau und die Sünden des Fleisches Nachdem für Inigo das äußere, konkrete Ziel seines künftigen Lebens klar geworden war, trat ein Ereignis ein, das man als den Beginn seines inneren, spirituellen Lebens bezeichnen könnte. Es war das Erlebnis seiner ersten bedeutsamen Vision, auf die noch viele weitere visionäre Erfahrungen folgen sollten. Diese andere, geistige Dimension bestimmte von nun an seine Existenz. Der Verlauf der inneren, religiösen Erfahrungen fügt sich zu einer eigenen, geistigen Biographie, die jedoch nicht neben dem äußeren Lebensablauf des Inigo de Loyola geschieht, sondern eng mit diesem verflochten ist, ja ihn sogar in allen Einzelheiten bestimmt. Der moderne Mensch, der nach der Aufklärung lebt und von ihrem Geist geprägt ist, kann sich nur schwer vorstellen, daß Erscheinungen, aus einer jenseitigen Welt auftauchende Gestalten und ihre Botschaften das Leben eines Menschen entscheidend beeinflussen könnten. Er kann sich eher vorstellen, daß unser Leben auf der Erde und unsere Entwicklung durch „Aliens", vernünftige Wesen aus anderen Sternenwelten, beobachtet und gesteuert wird so wie es die zahllosen Science-fiction-Serien des Fernsehens suggerieren. Die „Aliens", die vielen Menschen des Mittelalters erschienen, waren, wenn man so will, die Engel und Dämonen, Jesus und die Jungfrau Maria. Und Ignatius war, was seine Visionen betrifft, ein mittelalterlicher Mensch. Man ist heute geneigt anzunehmen, daß es sich bei derartigen Erscheinungen um Phantasiegebilde, Halluzinationen, subjektive Illusionen der betroffenen Personen gehandelt hat, ohne jeden „objektiven" Wahrheitsgehalt. In der Tat kann man mit dem wissenschaftlichen Instrumentarium, das die Psychologie bereitstellt, auch innere Vorgänge in der Biographie historischer Persönlichkeiten erklären, und man sollte sich nicht scheuen, die psychotischen und krankhaften Hintergründe religiösen Erlebens, so weit das möglich ist, offenzulegen. Hören wir nun aber den Bericht des Ignatius von seiner ersten Vision.39 Als er einmal während der Nacht wach dalag, sah er klar ein Bild Unserer Lieben Frau mit dem heiligen Jesuskind; bei diesem Anblick empfand er für geraume Zeit ganz außerordentlichen Trost. Und ein solcher Abscheu vor sei-

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nem ganzen vergangenen Leben und besonders vor den Sünden des Fleisches erfüllte ihn, daß er vermeinte, aus seiner Seele seien alle Vorstellungen verschwunden, die er früher in sie eingeprägt hatte. Von jener Stunde an bis zum August 1553, da diese Zeilen geschrieben werden, gab er daher niemals mehr, auch nicht im geringsten, seine Zustimmung bei sinnlichen Versuchungen. Wegen dieser Wirkung läßt sich sagen, daß jene Vision von Gott gekommen ist, obgleich er selbst es nicht mit Bestimmtheit zu behaupten wagte und nur das eben Gesagte zur Bestätigung wiederholte. Ignatius erwähnt zusätzlich, daß sein Bruder Martin und die übrigen Hausgenossen danach an seinem äußeren Verhalten bemerkten, daß sich bei ihm ein entscheidender Wandel vollzogen hatte: aus dem Kavalier und Frauenhelden mit Lebenszielen, die von den Vorstellungen des Rittertums und des Adels bestimmt waren, war ein frommer Pilger geworden, der sich alsbald, äußerlich und innerlich, im wörtlichen und im übertragenen Sinne, auf den Weg zu rein geistigen, religiösen Zielen machen sollte. Aus der Schilderung, die Ignatius von den Konsequenzen seiner ersten Vision für sein Leben gibt und an deren Ehrlichkeit zu zweifeln kein Grund besteht, wird deutlich, daß es sich um einen Vorgang massiver Verdrängung handelt. Die geistige, virtuelle Gestalt der Jungfrau und Gottesmutter Maria nimmt in seinen Vorstellungen den Platz der irdischen Frau, der Geliebten und der Mutter, ein. Das in die Seele eingeprägte Bild der heiligen Jungfrau läßt sexuelle Phantasien, „sinnliche Versuchungen" (consenso en cosas de carne) nicht mehr zu. Die Verdrängung durch einen einmaligen Willensakt ist aber offenbar doch nicht vollständig gelungen. Denn in der Folgezeit wird sich der Pilger mit selbstzerstörerischen Bußübungen und geradezu krankhaft-skrupulösen Beichtritualen mit den immer wieder aufsteigenden Bildern seiner sündigen Vergangenheit auseinandersetzen. 40

Ein mit großer Sorgfalt vollgeschriebenes Buch Inzwischen setzte Inigo seine Lektüre in den beiden Büchern des Lebens Christi und der Heiligen fort, und er fand immer größeren Gefallen daran. Es kam ihm der Gedanke, die nach seiner Meinung wichtigsten Stellen schriftlich festzuhalten. Er berichtet selbst darüber: 41 So machte er sich daran, mit großer Sorgfalt ein Buch vollzuschreiben, das ungefähr dreihundert ganz beschriebene Blätter im Quartformat enthielt - er konnte sich nämlich schon etwas im Hause herumbewegen und zwar schrieb er die Worte Christi mit roter Tinte und die Unserer Lieben Frau mit blauer. Das Papier war fein geglättet und mit Linien versehen. Und er schrieb mit schönen Buchstaben, da er ein sehr gewandter Schriftkünstler war. Seine Zeit verbrachte er so teils mit Schreiben, teils mit Beten.

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Dieser Passus, der merkwürdigerweise in den neueren Biographien des Ignatius kaum Beachtung findet, 42 ist für die Kenntnis des religiösen Bildungsgangs des Stifters der wohl bedeutendsten religiösen Gesellschaft der Neuzeit sehr erhellend: Ignatius spricht hier von seiner eigentlichen theologischen Ausbildung; er hat sich seine fundamentalen Kenntnisse der christlichen Religion und ihrer Tradition mittels in farbiger Schönschrift niedergeschriebener Exzerpte - wohl hauptsächlich aus dem monumentalen Werk des Ludolf von Sachsen - angeeignet. Es ist kaum anzunehmen, daß er sich dabei rein passiv verhielt, also einfach nur abgeschrieben hat. Vielmehr wird er das aufgeschrieben haben, was ihm bei der Lektüre besonders auffiel und was er für seine persönliche Entwicklung als bemerkenswert und nützlich ansah. Das Buch, das er auf diese Weise vollschrieb, umfaßte immerhin 600 Seiten im Quartformat. Wäre dieses Buch noch erhalten, so hätten wir ein Dokument für die geistige Entwicklung des Ignatius, das dem Exerzitienbuch ebenbürtig, zumindest aber eine wertvolle Ergänzung desselben wäre. Einige Jahre später hat Ignatius dann, mit großer Mühe und unter Uberwindung eines tiefen Widerwillens, auch das Studium der so genannten wissenschaftlichen Philosophie und Theologie auf sich genommen. Aber entscheidender, profunder und nachhaltiger war das, was er sich auf dem Krankenbett als theologischer Autodidakt angeeignet hatte. Eine weitere Bemerkung, ebenfalls erhellend und ebenfalls kaum beachtet, schließt sich in dem Pilgerbuch an: Und den größten Trost empfing er, wenn er den Himmel und die Sterne betrachtete, was er sehr häufig und jeweils lange Zeit hindurch tat. Denn dabei fühlte er in sich eine ganz große Begeisterung, unserem Herrn zu dienen. Oftmals dachte er an seinen Vorsatz und wünschte nur, bald ganz gesund zu sein, um sich auf den Weg machen zu können. In dem zentralen Dokument ignatianischer Frömmigkeit, dem Exerzitienbuch, und in den daraus abgeleiteten so genannten geistlichen Übungen, in welchen die Spiritualität des Ignatius tradiert werden soll, spielen Meditationen über den gestirnten Himmel und jegliche Art von Naturmystik kaum eine Rolle.43 Doch an dieser Stelle markiert Ignatius selbst, einmalig aber deutlich, eines der Fundamente seiner religiösen Uberzeugung: die Betrachtung des gestirnten Himmels erzeugte in ihm den Beweis für die Existenz des Schöpfers und Erhalters des Universums, mit radikalen Konsequenzen für seine eigene individuelle Existenz: Begeisterung für den Dienst Gottes. Die Betrachtung des gestirnten Himmels war so etwas wie das existentielle Philosophiestudium des Ignatius.

III ANFANG DER

PILGERSCHAFT

1. Abschied von der Familie Nachdem seine Genesung weitere Fortschritte gemacht hatte, fühlte sich Iñigo stark genug, die Pilgerreise nach Jerusalem anzutreten. Er hatte auch schon Überlegungen darüber angestellt, was er nach seiner Rückkehr von Jerusalem tun würde. Dabei trieb ihn der Gedanke um, wie er „den Haß, den er gegen das eigene Ich gefaßt hatte, ganz befriedigen" könnte. Dieser Selbsthaß, der sich während der folgenden Wochen der Reise und auch später noch in selbstzerstörerischen masochistischen Praktiken, Selbstgeißelungen und Fastenübungen, entlud, war vor allem bedingt durch den inneren Ekel, den er über seine sündige Vergangenheit, und das heißt vor allem: seine „fleischlichen", sexuellen Erlebnisse, empfand. Eine Zeitlang spielte er mit dem Gedanken, in den sehr strengen Kartäuserorden einzutreten und dort nur noch pflanzliche Nahrung zu sich zu nehmen. Er hatte dabei die Kartause von Sevilla ins Auge gefaßt, in die er unter Verschweigen seiner wahren Identität eintreten wollte, damit man ihn nicht wegen seiner adeligen Herkunft höher schätzte. Danach ließ er durch einen Diener des Hauses in Burgos Informationen über die Regel der Kartäuser einholen.1 Die Nachrichten, die er darüber erhielt, machten ihm großen Eindruck. Er verfolgte aber den Plan nicht weiter, weil er vorrangig mit den Gedanken an die Wallfahrt beschäftigt war. Auch hatte er sich strengere Bußübungen vorgenommen, als sie die Kartäuserregel vorschrieb. Seinen Bruder Martin, der nichts Gutes ahnte, ließ Iñigo im Unklaren über seine Absichten. Er teilte ihm mit, er habe vor, sich bei seinem Dienstherrn, dem Herzog von Nájera, zu melden, der sich damals in Navarrete aufhielt. Martin ahnte jedoch, daß das nicht die ganze Wahrheit war und daß Iñigo eine radikale Änderung seines Lebens vorhatte. Er gab sich die größte Mühe, den jüngeren Bruder von seinem Vorhaben abzubringen, wobei er ihn „von Zimmer zu Zimmer" durch das Haus führte - wohl um ihn an die traditionellen Ideale und Leistungen der Familie Loyola zu erinnern. Die Abkehr davon hieß für Martin, das Oberhaupt der Familie, nichts anderes, als sein Leben wegzuwerfen. Iñigo seinerseits ließ sich auf keine Diskussion mit dem Älteren ein.2 Aber seine Antwort war so gehalten, daß er, ohne jedoch die Wahrheit zu verletzen - denn in diesem Punkt war er schon damals sehr gewissenhaft - , seinen Bruder im Unklaren über seine Pläne ließ.

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III. Anfang der Pilgerschaft

Ignatius hat also nicht gelogen, aber die Wahrheit verschwiegen. Man wird ihm daraus keinen Vorwurf bezüglich seiner moralischen Integrität machen wollen. Aber der Gedanke an die spätere jesuitische Morallehre liegt doch nahe: in den kasuistischen Erörterungen des achten Gebotes spielt die reticentia veri eine ziemlich bedeutende Rolle. Mit dem Kamouflieren seiner wahren Absichten kann man zwar hart an der Lüge vorbeischlittern, aber die Unehrlichkeit der Absicht kann doch - zumal wenn es sich um Freunde oder Mitglieder der eigenen Familie handelt - , den unangenehmen Beigeschmack kaum vermeiden. Iñigo ritt auf einem Maultier zum Tor des elterlichen Schlosses hinaus.3 In seiner Begleitung befanden sich zwei Dienstleute. Auch einer seiner Brüder schloß sich an; er wollte ihn bis nach Oñate begleiten, wo eine ihrer Schwestern wohnte. Ignatius nennt keine Namen, doch bei dem Bruder kann es sich um niemand anderen als den Priester Pero López handeln. Die Schwester, die sie besuchen wollten, war Magdalena, die mit Juan López de Gallaiztegui verheiratet war. Unterwegs überredete Iñigo seinen Bruder, einen Umweg über das in der Nähe von Oñate gelegene Marien-Heiligtum von Aránzazu zu nehmen, um dort eine Nachtwache zu halten.4 Ignatius berichtet, er habe dort gebetet, um Kraft für seinen Weg zu schöpfen. Seinem späteren Gefährten Diego Laynez hat er erzählt, damals habe er unterwegs „vor Unserer Lieben Frau, die er besonders verehrte", das Gelübde der Keuschheit abgelegt. In der Forschung wird allgemein angenommen, daß dies in Aránzazu geschah. Die Nachtwache vor dem Madonnenbild hätte dann auch den Sinn gehabt, mittels einer Zeichenhandlung den verkommenen Priester Pero López zur Besinnung zu rufen. Möglicherweise hat Iñigo aber das Gelübde erst vor dem Gnadenbild von Navarrete abgelegt, von dem gleich die Rede sein wird. Laynez gegenüber hat Ignatius bemerkt, er habe das Gelübde abgelegt, „weil er Angst hatte, in den Dingen der Keuschheit mehr als in anderen besiegt zu werden".5 Mit der Besorgnis um die Bewahrung der Keuschheit hängt sicher auch die drastische Disziplinarmaßnahme zusammen, der er sein „Fleisch" unterzog:6 Seit dem Tag der Abreise aus seiner Heimat geißelte er sich regelmäßig jede Nacht.

Der Bruder Pero blieb in Oñate zurück. Iñigo hat ihn nicht wiedergesehen. Die nächste Station des Pilgers war Navarrete, wo sich Iñigos Dienstherr, der Herzog von Nájera, aufhielt. Der herzogliche Hof schuldete ihm noch einen Betrag für geleistete Dienste, den Iñigo bei dem Schatzmeister schriftlich anmahnte. Er erhielt jedoch die Antwort, es sei kein Geld vorhanden. BURKART SCHNEIDER bemerkt in seinem Kommentar, die in der herzoglichen Kasse herrschende Ebbe sei auf die großen Ausgaben zurückzuführen, die die Durchreise des neugewählten Papstes Hadrian VI. durch das herzogliche Gebiet im März 1522 verursachten.7 Bis zur Annahme seiner Wahl (8. März

Die Begegnung mit dem Mauren

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1522) hatte der Kardinal Adrian von Utrecht im Namen Karls I. die Regentschaft in Spanien geführt.8 Als der Herzog von dem abschlägigen Bescheid seines Schatzmeisters erfuhr, sagte er, „es möge an Geld für alles andere fehlen, doch für einen Loyola dürfe es daran nicht mangeln". Man kann sich vorstellen, daß der alte Ignatius diese Erinnerung an das, was er einmal als ein Loyola gewesen war, mit einem vielsagenden Lächeln zur Niederschrift bringen ließ. Der Herzog von Nájera wollte ihm auch, im Hinblick auf den exzellenten Ruf, den er sich erworben hatte, ein hohes Kommando übertragen. Doch Iñigo war ja bereits entschlossen, einen anderen Weg einzuschlagen. Mit dem Geld, das er für frühere Dienste kassiert hatte, bezahlte er seine Schulden und ließ ein Madonnenbild restaurieren und ausschmücken. (Möglicherweise war es dieses Bild, vor dem er das Keuschheitsgelöbnis ablegte). Darauf entließ er seine beiden Diener und machte sich allein auf seinem Maultier auf die Weiterreise nach dem großen spanischen Marien-Heiligtum auf dem Montserrat.

2. Die Begegnung mit dem Mauren Unterwegs hatte Iñigo eine seltsame Begegnung, über die er in aller Ausführlichkeit berichtet, um darzulegen, „wie unser Herr mit dieser Seele verfuhr", denn, so sagt er weiter, „er kannte das Gespür für Gottes Willen noch nicht", so daß er sich bei zu treffenden Entscheidungen noch schwer tat, zu einer Gewißheit zu kommen. Nach dem Vorbild der Heiligen, mit deren Leben er sich in Loyola befaßt hatte, war er entschlossen, schwere Bußübungen zu vollziehen, wobei weniger der Gedanke an die Genugtuung für seine Sünden maßgebend war als das Bestreben, Gott zu gefallen und ihm Freude zu machen.9 Nun also holte ihn ein Maure ein, der ebenfalls auf einem Maultier ritt. Es handelte sich dabei um einen Angehörigen der ehemals muslimischen Oberschicht, die nach der vollständigen Eroberung des Landes im Jahre 1492 zwangsweise zum Christentum bekehrt worden war. Viele der ehemaligen Muslime bewahrten sich lange eine innere Distanz zu der Religion, die man ihnen gewaltsam übergestülpt hatte. Der besagte Maure kam also mit Iñigo ins Gespräch, das sich alsbald um die Jungfrau Maria drehte. Der Maure erklärte, er könne sich durchaus vorstellen, daß eine Empfängnis ohne Zutun eines Mannes möglich wäre. Aber daß Maria auch nach der Geburt noch Jungfrau geblieben sei, das könne er nicht glauben. Es entspann sich darüber eine lebhafte Debatte, in welcher der Maure alle möglichen Vernunftgründe für seine Ansicht anführte, Iñigo seinerseits, wie er sagt, viele Gegenbeweise vorbrachte. Es gelang ihm aber nicht, den Mauren zu überzeugen, der dann eilends weiterritt.10 Iñigo machte sich seine Gedanken über das Gespräch, und er berichtet über die verschiedenen Gefühle, die ihn dabei erfüllten:11

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III. Anfang der Pilgerschaft Dabei überkam ihn eine innere Erregung, die seine Seele mit sich selber sehr unzufrieden sein ließ. Denn er glaubte, seine Pflicht nicht genügend getan zu haben, und zugleich regte sich in ihm ein großer Unwille gegen den Mauren, da es ihm schien, er habe schlecht gehandelt, daß er einen Mauren derartige Dinge über Unsere Liebe Frau aussprechen ließ. Er hielt es für seine Pflicht, für ihre Ehre einzutreten. So überkam ihn das Verlangen, dem Mauren nachzuspüren und ihm dafür einige Dolchstiche zu versetzen, daß er solche Worte gesagt habe. Durch geraume Zeit dauerte der Widerstreit der verschiedenen Meinungen in seiner Seele an, und zu guter Letzt blieb er immer noch unschlüssig, ohne zu wissen, was er eigentlich nun zu tun hätte.

Die Entscheidung, zu der Inigo sich selbst nicht durchringen kann, führt er durch eine Art Gottesurteil herbei: An einer Wegegabelung, wo der Maure von der Hauptstraße weg zu einem D o r f geritten ist, läßt er den Zügel locker, so daß das Maultier die Wahl zwischen den zwei Wegen hat. Da er nun seinen Plan durchführte, fügte es unser Herr, daß das Maultier auf der Heerstraße weiterging und nicht den Weg zum Dorf nahm, obwohl die Ansiedlung kaum mehr als dreißig oder vierzig Schritte abseits lag und der Weg, der zu ihr hinführte, ziemlich breit und bequem war.

3. Abschied vom Rittertum auf dem Montserrat In der Nähe des Montserrat angekommen (es war die kleine Stadt Igualada), besorgte sich Inigo die Ausrüstung eines Pilgers: er kaufte ein Stück grobes Sackleinen, aus dem er sich einen Talar machen ließ, einen Pilgerstab und eine Kürbisflasche. Vor dem Altar der Gottesmutter auf dem heiligen Berg hält er in seinen Waffen eine Nachtwache. 1 2 Da sein ganzer Sinn noch von jenen Geschichten des Amadis de Gaula und anderer Romane dieser Art erfüllt war, kamen ihm einige ähnliche Gedanken, daher beschloß er, eine ganze Nacht lang vor dem Altar Unserer Lieben Frau vom Montserrat in seinen Waffen Wache zu halten, ohne sich niederzusetzen oder hinzulegen, teils aufrecht stehend, teils kniend. Er hatte den Entschluß gefaßt, dort dann seine bisherigen Kleider abzulegen und das Wappenkleid Christi anzuziehen. Nach langen Gesprächen mit einem Beichtvater - es ist der aus Frankreich stammende Mönch D o n Juan Chanones - legte er eine Generalbeicht ab, die er schriftlich aufgezeichnet hatte. Sie zog sich über drei Tage hin. Schwert und Dolch bleiben als Votivgaben am Altar der Madonna, seine prächtigen, ritterlichen Kleider schenkt er einem Bettler. Das von Inigo eingehaltene Ritual erinnert an das Ritual des Ritterschlags: die für die Erhebung in den Ritterstand vorgesehenen Knappen (Novizen) verbrachten die Nacht vor der heiligen Handlung im Gebet. 13 Nicht umsonst

„ U n s e r e Liebe Frau, die er besonders verehrte"

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bemerkt er, daß ihm vor der Nachtwache die Gedanken an die AmadisGeschichten durch den Kopf gingen; ebendort ist eine Ritterweihe geschildert.14 Auch Iñigo selbst wird irgendwann einmal zum Ritter geschlagen worden sein. Wann und wo das war, wissen wir nicht. Er jedenfalls hat es nicht für erwähnenswert gehalten. Aber er nimmt nun, in Anlehnung daran, mit der Ablage der ritterlichen Insignien im Rahmen eines kultisch-religiösen Akts, so etwas wie eine Ent-Ritterung vor. Rein kulturgeschichtlich gesehen, stellt sich in der quasi-rituellen Ablegung seines gesellschaftlichen Status durch Iñigo de Loyola die spätmittelalterliche (Sinn-) Krise des Rittertums zeichenhaft dar. Diese Krise war unter anderem dadurch bedingt, daß wesentliche Elemente, die dem Rittertum seinen Sinngehalt gegeben hatten, nicht mehr vorhanden waren; dazu gehören die Kreuzzüge sowohl in Richtung Jerusalem, nach Outremer, als auch gegen die Muslime in Spanien. Schon bei Franziskus von Assisi deutet sich - in dem Verzicht auf seinen jugendlichen Lebenstraum, Ritter zu werden - der hier gemeinte kulturgeschichtliche Wandel an. In dichterischer Symbolik hat dann Miguel de Cervantes (1547-1616), der ein jüngerer Zeitgenosse des Ignatius war, das Scheitern des Rittertums in der Gestalt seines Don Quijote, des Ritters von der traurigen Gestalt, zugleich tragisch und komisch, humorvoll und melancholisch, dargestellt.15 Auch Iñigo war, als er eine weitere Nacht mit Kutte und dem Pilgerstab in der Hand vor dem Gnadenbild verbrachte, auf seine Weise zu einem „Ritter von der traurigen Gestalt" geworden. Im Morgengrauen machte er sich erneut auf den Weg. Es war der 25. März (Mariae Verkündigung) 1522.

4. „Unsere Liebe Frau, die er besonders verehrte" An vielen entscheidenden Stationen seines äußeren und seines inneren Lebensweges begegnet Ignatius „Unserer Herrin": im Bild, in Visionen, im Gebet. In der Kapelle seines väterlichen Hauses konnte er während seiner Genesung täglich das Gemälde der „Verkündigung" betrachten, das seine Schwägerin Magdalena mitgebracht hatte. Die nächtliche Vision eines Bildes der Madonna mit Jesuskind veranlaßt ihn, sich von „den Sünden des Fleisches" abzuwenden. In einer Nachtwache vor dem Gnadenbild von Aránzazu sammelt er Kraft für seinen Pilgerweg; vielleicht hat er dort auch das Gelöbnis der Keuschheit abgelegt. In Navarrete sorgt er für die Restaurierung eines verwahrlosten Madonnenbildes. Und vor dem Gnadenbild des Montserrat vollendet er seine Umkehr von einem weltlichen zu einem geistlichen Rittertum. Diese von uns bisher schon erwähnten und weitere wichtige Begegnungen mit dem Bild oder der virtuellen Gestalt der Madonna hat D A R Í O L O P E Z TEJADA in seinem Kommentar zu den Exerzitien zusammengestellt.16 Darunter werden einige der bedeutsamen Visionen genannt, die Iñigo in Manresa

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III. Anfang der Pilgerschaft

zur inneren Gewißheit führten: Die Vision der Trinität ereignete sich, während er das Marianische Offizium betete; wie er Jesus in seiner menschlichen Gestalt „sieht", so erblickt er auch „mit den inneren Augen" Unsere Liebe Frau. Viele Jahre später, auf dem Weg von Venedig nach Rom, bereitet er sich auf seine Primiz vor, „indem er die Madonna bittet, sie möge ihn ihrem Sohn zugesellen". Auf diese Bitte, durch die die Vision von La Storta vorbreitet wird, das für die geistige Entwicklung und Spiritualität des Ignatius und das Selbstverständnis seines Ordens höchst bedeutsame Ereignis, werden wir an gegebenem Ort zurückkommen; 17 ebenso auf die zentrale Rolle der Mutter Christi in den Betrachtungen und „Gesprächen" (Kolloquien) der Exerzitien.18 Es dürfte auch kaum ein Zufall sein, daß Ignatius seine erste Messe in der größten römischen Marienkirche, S. Maria Maggiore, vor der berühmten Krippen-Reliquie, gefeiert hat.19 Schließlich haben er und seine ersten Gefährten die Ordensgelübde vor einem Gnadenbild, einem byzantinischen Mosaik der Madonna in S. Paolo fuori le mura abgelegt.20 Dieses sind nur einige Stichworte zu der zentralen Bedeutung, die die Jungfrau Maria im Denken und in der Spiritualität des Ignatius einnimmt, ein Thema, das man leicht zu einem ganzen Buch erweitern könnte. Und was für Ignatius gilt, das hat sich natürlich auch auf seine Stiftung ausgewirkt: Maria steht in der Theologie und Frömmigkeit der Gesellschaft Jesu an hervorragender Stelle. Noch einer der letzten großen Lehrer des Ordens, Wilhelm Klein,21 stellte in die Mitte seines Denkens die überzeitliche, jedoch geschaffene Mittlergestalt der Jungfrau-Mutter. Es ist deshalb irreführend, wenn G O T T F R I E D M A R O N im Rahmen seiner ansonst exzellenten Darstellung der ignatianischen Theologie die Rolle Mariens für Ignatius selbst und seinen Orden zu minimieren sucht.22 Gemessen an dem Rang, den Maria in der spätmittelalterlichen Volksfrömmigkeit einnahm, war die Marienfrömmigkeit des Ignatius von Loyola keineswegs außergewöhnlich. Doch hat sein Verhältnis zur Jungfrau und Gottesmutter zweifellos auch eine psychologische Dimension. Wie W. W. M E I S S N E R nüchtern feststellt, „grenzen viele der von Ignatius erfahrenen Phänomene ans Pathologische". 23 Die Zufluchtnahme zur Jungfrau ist zugleich so etwas wie die Flucht vor der Frau, der „Hure", die ja auf allen Wegen des Pilgers und in allen Städten, in denen er über kürzere oder längere Zeit verweilte, nahezu omnipräsent war. Die Jungfrau wurde um die Bewahrung der Jungfräulichkeit angefleht, psychologisch ausgedrückt: sie war, neben drastischen körperlichen Repressionsmaßnahmen, das am besten geeignete spirituelle Mittel zur Unterdrückung des sexuellen Triebs. So wichtig, hilfreich und keineswegs nebensächlich die psychoanalytischen Erkenntnisse für die angemessene Beurteilung der Persönlichkeit des Ignatius (wie der anderer Heiliger!) sind, so gilt doch der Hinweis des Psychologen und Jesuiten MEISSNER, daß Ignatius' Erfahrungen „nicht einfach auf das Pathologische reduziert werden" können, was auch für diejenigen

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Erfahrungen gilt, „die pathologischen Phänomenen am meisten ähneln".24 Außer der pychologischen Dimension gibt es eine spirituelle, geistige Dimension: Die Jungfrau gehört zu den gewissen, sicheren Erscheinungen der geistigen Welt, von deren Existenz Ignatius (aufgrund seiner Erfahrungen) absolut überzeugt ist. Der Zugang zum ewigen Licht der göttlichen Trinität, den er zu besitzen glaubt, ist nicht möglich ohne die Mittlerschaft „Unserer Lieben Frau".

IV DIE GEISTLICHE SCHULE VON MANRESA

1. An der Grenze zum Selbstmord Das Städtchen Manresa am Cardoner, in dem Inigo nur ein paar Tage zu bleiben vorhat, wird für ihn zum Ort der Schule Gottes. Er wohnte dort zunächst im Armenspital; später räumten ihm die Dominikaner eine kleine Zelle in ihrem Konvent ein. Seinen Lebensunterhalt bestritt er von da an ausschließlich durch Betteln. Daß man es auch mit Arbeit versuchen könnte, scheint er nie ernsthaft in Betracht gezogen zu haben. In diesem Punkt hat er die Gesinnung des spanischen Hochadels beibehalten, und, was besonders bemerkenswert ist, später an seinen Orden, die Gesellschaft Jesu, weitergegeben.1 Jesuiten arbeiten nicht körperlich, sie lassen für sich arbeiten. Der Oberschicht des Ordens, den Priestern und Professoren, und seinem Nachwuchs, den Studenten und Novizen, ist jede Form von Erwerbsarbeit nicht etwa ausdrücklich verboten, sie ist einfach nicht vorgesehen. Die zum Lebensunterhalt der ausschließlich mit geistigen Tätigkeiten, Studium und religiösen Übungen, beschäftigten Ordensmitglieder notwendigen Arbeiten werden von den Laienbrüdern des Ordens und weltlichen Dienern, so genannten Famigliari (famuli domestici), verrichtet. Erschütterung des seelischen

Gleichgewichts

Der Aufenthalt Inigos in Manresa ist durch profunde Krisen, die ihn bis hart an den Selbstmord heranführen, und durch zahlreiche visionäre Erlebnisse bestimmt.2 Von seiner Ankunft an hielt er ein strenges Fasten ein. Fleisch aß er überhaupt nicht mehr. Nur an den Sonntagen fastete er nicht und trank sogar ein wenig Wein, wenn man ihm welchen anbot. Die schöne, modische Frisur, die er bis dahin immer noch getragen hatte, begann er nun zu vernachlässigen, indem er seine Haare nicht mehr kämmte und sie einfach wachsen ließ, ebenso die Zehen- und Fingernägel. Er nahm also ein Aussehen ähnlich dem der mittelalterlichen Bizocchi an, der Franziskaner-Eremiten, die ohne Anbindung an eine religiöse Gemeinschaft und ohne auf ihre äußere Erscheinung den geringsten Wert zu legen, durch die Lande strolchten. Während er noch in dem Armenspital wohnte, hatte er tagsüber häufig eine merkwürdige Erscheinung (es ist dies das zweite visionäre Erlebnis, von dem Ignatius berichtet; das erste war die nächtliche Erscheinung des Madonnenbildes, die das Ende der sexuellen Versuchungen zur Folge hatte). Er glaubte, nahe bei sich in der Luft ein prachtvolles, schillerndes Gebilde zu

An der Grenze zum Selbstmord

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erkennen, das einer mit zahlreichen leuchtenden Punkten übersäten Schlange glich. Der Anblick der Erscheinung brachte ihm Freude und großen Trost; wenn sie wieder verschwand, geriet er in eine traurige Stimmung. Die sich oftmals wiederholende Erscheinung leitet eine Erschütterung des inneren Gleichgewichts bei Iñigo ein. Der moderne, „aufgeklärte" Leser ist leicht geneigt, bei einem solchen Bericht an die möglichen natürlichen oder auch krankhaften Ursachen der beschriebenen Erscheinung zu denken. Bei den rigorosen Fastenpraktiken und dem Schlafentzug, die sich Iñigo zumutete, war es alles andere als ein Wunder, wenn ihn bei fortgeschrittener Tageshitze aus einem flimmernden Gebilde tausend augenartige Punkte anblickten. Die naheliegendste Erklärung für diese und ähnliche Visionen ist: Flüssigkeitsmangel oder Unterzucker. Aber der hier in sich blickende und seine Seelenbewegungen analysierende ist ein Mensch am Ende des Mittelalters, der auch in seinen Krankheiten Elemente der Schule Gottes erkennt, die ihn zu einem (im Plan Gottes) bestimmten Ziel führen sollen. Und gerade für den modernen Leser, der sich in seinen äußeren Lebensgang und seine inneren Entwicklung vertieft, sind weniger die Verstrolchung und die exzessiven Bußübungen von Interesse (von denen er sich bald abwenden wird), als seine Schau in die Tiefen seiner Seele, in denen er das Wirken verschiedener „Geister" erkennt. Bis zum Auftreten des schlangenartigen Gebildes, berichtet Ignatius, habe er sich, trotz seiner Unerfahrenheit in den Fragen des geistlichen Lebens, in einem Zustand seelischer Ausgeglichenheit befunden. Jetzt kommt ihm ein Gedanke, in dem sich zum ersten Mal eine Sinnkrise zu Wort meldet.3 Vor seine Seele traten nämlich die Schwierigkeiten seines derzeitigen Lebens, und es war, als ob jemand in seinem Inneren zu ihm sagte: Wie wirst du ein derartiges Leben aushalten können während der siebzig Jahre, die du noch zu leben hast? Aber Iñigo erkennt bald, daß es die Stimme des Versuchers ist, die sich aus seinem Inneren meldet: er wehrte die Versuchung, die ihn am Eingang einer Kirche angefallen hatte, ab und gewann die innere Ruhe wieder.4 In die betreffende Kirche (vermutlich war es die des Dominikaner-Konvents) ging er täglich mehrmals, um das Hochamt, die Vesper und die Komplet zu hören, und die Klänge der geistlichen Musik erfüllten ihn mit Trost. Während der Messe las er die Leidensgeschichte, wahrscheinlich aus seinem Stundenbuch, das auch das Marianische Offizium enthielt. (Die Leidensgeschichte war in vielen spätmittelalterlichen Stundenbüchern abgedruckt). Mit dem inneren Gleichgewicht, das er nach der erwähnten Versuchung wiedergewonnen hatte, war es bald vorbei. Er beobachtete an sich einen plötzlichen Wechsel der Stimmungen: Oft empfand er Unlust an den liturgischen Feierlichkeiten, an denen er teilnahm, und verfiel in Traurigkeit, bald danach verschwand die depressive Stimmung ebenso schnell, wie sie ihn überkommen hatte. An diesem Phänomen, das Iñigo früher nie bei sich beobachtet hatte, erkannte er, daß er ein neuartiges Leben begonnen hatte.

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IV. Die geistliche Schule von Manresa

Iñigo bemerkt, er habe damals noch keine tiefere Kenntnis des geistlichen Lebens gehabt, aber seine „Entschlossenheit, im Dienste Gottes Fortschritte zu machen", war umso größer. Auch suchte er eifrig das Gespräch mit Gleichgesinnten. Bei einer solchen Gelegenheit traf er auf eine ältere Frau, eine Art Prophetin, die in Spanien sehr bekannt war. Sogar der König Ferdinand hatte einmal ihren Rat gesucht. Eines Tages sagte ihm diese Frau im Verlaufe des Gesprächs:5 Möchte es doch meinem Herrn Jesus Christus gefallen, daß er Euch eines Tages erscheine! Iñigo ist über diesen Wunsch zutiefst erschreckt, da er, wie er sagt, das Wort „erscheinen" ganz wörtlich nahm. Aber es war ja auch im wörtlichen Sinne gemeint. Der Schrecken bezog sich deshalb wohl eher auf die Bestimmtheit des Tones der von ihm respektierten „Prophetin", und die Begegnung mit ihr und der Satz, den sie sprach, haben sich ihm deshalb so tief eingeprägt, weil ihm ja tatsächlich Christus später erschienen ist. Leider hat er nicht veraten, wie die Frau hieß, und man hat es bis heute nicht herausgebracht, wer die Prophetin war. Aber es war zweifellos eine der priesterlichen Frauengestalten, die, von der amtierenden Hierokratie häufig mit Mißtrauen und Mißfallen beäugt, am Rande der Rechtgläubigkeit und des kanonistischen Systems beim Volke eine wirksame und fruchtbare religiöse Tätigkeit entfalteten, wie Hildegard von Bingen, Mechthild von Magdeburg, Katharina von Siena, Birgitta von Schweden. Man kann vermuten, daß der Einfluß der namentlich nicht genannten Seherin von Manresa tiefer ging, als es Ignatius hier zu Protokoll gegeben hat. An späterer Stelle seines Berichts, anläßlich der Abreise von Barcelona, kommt er noch einmal auf die Begegnung mit der Frau zurück: er bemerkt, daß sie allein von allen Menschen, mit denen er in Manresa und Barcelona geistliche Gespräche geführt hatte, „tiefer in das geistliche Leben eingedrungen war".6 Im Banne des

Beichtzwangs

Ignatius berichtet weiter, er habe in Manresa seine Gewohnheit beibehalten, jeden Sonntag zu beichten und zur Kommunion zu gehen. Ein derart häufiger Sakramentenempfang war in der mittelalterlichen Kirche nicht üblich. Erst im Zuge der Frömmigkeitsbewegungen des 15. Jahrhunderts kam die Empfehlung der häufigen Beicht auf. Ignatius wird seine Bußpraxis nach der Imitatio Christi ausgerichtet haben.7 Die Häufigkeit der Beicht hing aber vor allem mit Skrupeln zusammen, von denen er trotz der auf dem Montserrat abgelegten Generalbeichte nicht definitiv geheilt war. Er bildete sich fortwährend ein, er habe einige Dinge nicht gebeichtet, und auch wenn er dann das Bekenntnis nachholte, kam er nicht zur inneren Ruhe. Auch die im geistlichen Leben erfahrenen Männer, bei denen er Rat suchte, brachten ihn kei-

An der Grenze zum Selbstmord

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nen Schritt weiter. Schließlich beichtete er bei einem angesehenen Theologen, der Prediger an der Kathedralkirche war. Der empfahl ihm die schriftliche Aufzeichnung aller Sünden, an die er sich erinnern könne - also dasselbe, was Iñigo schon auf dem Montserrat getan hatte. Auch diese erneute Auflistung befreite ihn nicht von seinen Skrupeln. Sein Beichtvater - vermutlich einer der Dominikaner des Konvents, in dem er eine kleine Zelle bewohnte - kam auf die Idee, ihm die Erwähnung aller Ereignisse aus seiner Vergangenheit zu untersagen, „falls es sich nicht um eine ganz eindeutige Sünde handle". Da er jedoch alles aus der Vergangenheit für ganz eindeutig hielt, half ihm dieser Befehl nichts, und er bleib auch weiterhin von seinen Skrupeln geplagt. Der qualvolle Zustand zog sich über mehrere Monate hin. Auch seine Frömmigkeitsübungen, die er weiterhin mit großer Regelmäßikeit praktizierte, brachten keinerlei seelische Erleichterung. Es gehörte dazu, daß er täglich sieben Stunden auf den Knien im Gebet verbrachte und seinen Schlaf bereits um Mitternacht unterbrach. Heute würde man sagen, daß eine solche Lebensweise nicht gerade geeignet war, einen psychisch schwer angeschlagenen Menschen zu therapieren - im Gegenteil: sie mußte die seelische ebenso wie die körperliche Krankheit verstärken. Sollte es unter der Priesterschaft der Stadt keinen Meister des spirituellen Lebens gegeben haben, der diesen Zusammenhang durchschaute? Iñigos krankhafte Skrupulosität steigerte sich schließlich dermaßen, daß er in tiefe Verzweiflung geriet. Seine Gebete wurden zum lauten Schreien um Hilfe. Er sah keinen Ausweg mehr und kam an den Rand des Selbstmords. Das tiefe Loch, das sich neben ihm, im Boden seiner Zelle befand, schien ihm für kurze Zeit wie ein Ausweg aus allen seinen Schwierigkeiten. Doch es wurde ihm noch rechtzeitig bewußt, daß Selbstmord eine Sünde wäre, und er fuhr fort in seinen Gebetsschreien. In seiner Verzweiflung kam er auf die Idee, nach dem Vorbild eines Heiligen, an dessen Lebensgeschichte er sich erinnerte, in eine Art Hungerstreik zu treten: Er nahm sich vor, nichts mehr zu essen und nichts mehr zu trinken, bis daß Gott ihm helfen würde oder bis er sich unmittelbar am Rand des Grabes sähe. Nach acht Tagen gebietet ihm der Beichtvater, das Fasten aufzugeben, aber er kann Iñigo noch immer nicht endgültig von seinen Skrupeln heilen. Doch auf dem Tiefpunkt, als ihn „ein tiefes Gefühl des Abscheus vor dem Leben und zugleich ein starker Drang, es aufzugeben" ergriffen haben, glaubt er zu spüren, wie Gott ihn aus einem tiefen Schlaf aufweckt. Seine Skrupel bezüglich der Beicht verlassen ihn endgültig, und er erkennt, daß sie, ebenso wie der von ihm praktizierte maßlose Nahrungs- und Schlafentzug, nicht vom guten Geist sein können.

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IV. Die geistliche Schule von Manresa

Bei der Versuchung zum Suizid, von der Ignatius spricht, ist von einem großen Loch (un agujero grande) in der Zelle die Rede.8 Die modernen Biographen und „geistlichen" Autoren überspringen dieses Loch mehr oder weniger rasch. Bei W. W. M E I S S N E R ist es zu einem „großen Fenster" mutiert.9 Näher liegt indessen die Vermutung, daß die kleine Zelle (camarilla), in der die Dominikaner den Pilger untergebracht hatten, eine ehemalige Latrine war.10 Der Locus secretus in den Klöstern ist ein in vieler Hinsicht denkwürdiger, auch symbolgeladener Ort. In den Klosteranlagen des romanischen und gotischen Zeitalters liegt er über dem Bach oder dem die Küche durchfließenden Kanal. Besonders eindrucksvoll ist die erhaltene mittelalterliche Latrinenanlage der Cistercienser-Abtei Zwettl in Niederösterreich: ein Sturz von den haushoch gelegenen Abortsitzen in den tief darunter fließenden Bach Kamp hätte dort ohne weiteres einen tödlichen Ausgang gefunden.11 Bei der Beschreibung von Iñigos Zelle liegt natürlich auch der Gedanke an das so genannte „Turmerlebnis" Luthers nahe, das nach des Reformators eigenen Erinnerungen auf dem Abort des Klosters (secretus locus monachorum; cloaca) stattgefunden hatte.12 Die krankhafte Skrupulosität hat Ignatius in Manresa überwunden, nicht jedoch den Beichtzwang selbst; den hat er vielmehr beibehalten und, über die Exerzitien und die von seinem Orden propagierten Richtlinien zur Priestererziehung, weitergegeben.13 Bis in die Gegenwart wird in den katholischen Priesterseminaren und den von den Jesuiten geleiteten Kollegien die wöchentliche Beicht urgiert. Durch die häufige Beicht und die damit zusammenhängende penible tägliche Gewissenserforschung, das so genannte Partikular-Examen, wird die Skrupulosität, ein psychischer Zwangs zustand, wenn auch in gemäßigter Form, weiter kultiviert. M E I S S N E R klassifiziert die „zwanghaften Symptome", unter denen Iñigo in Manresa litt, in der FachSprache der Psychoanalyse als „die ich-dystonen Forderungen des Uberich", „die zerstörerischen und strafenden Angriffe des Uber-ich".14 Ob das viel zur Erhellung der psychischen Vorgänge beiträgt, kann man bezweifeln. Von den Skrupeln bezüglich des Inhalts und der Vollständigkeit der Beicht, um die es ja Ignatius geht, ist bei M E I S S N E R überhaupt nicht die Rede. Man kommt also an der Frage nicht vorbei, was die wahren Ursachen der exzessiven Skrupulosität Iñigos waren. Geht es um die Unvollständigkeit des Sündenbekenntnisses allgemein? Oder handelt es sich nur um Sünden einer ganz bestimmten Art? Als sicher kann gelten, daß Ignatius „schwere" Sünden im Auge hat, nicht die so genannten „läßlichen" Sünden. Vielleicht war er zur Zeit seiner wilden Jugend an Delikten wie Mord, Totschlag oder Vergewaltigung beteiligt gewesen. Wegen dieser und anderer gröberer Vergehen brauchte er aber sicher nicht über Monate hin sein Gedächtnis und Gewissen zu plagen. Zweifel bezüglich der Schwere und Vollständigkeit von Sünden waren eigentlich nur auf einem einzigen Gebiet möglich: dem des Sextum, wie es in der Moraltheologie heißt. Im Bereich des sechsten Gebotes tut sich ein weites Feld auf, das der Skrupulosität ihren Nährboden gibt: unkeusche

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An der Grenze zum Selbstmord

Gedanken und Vorstellungen, Grade der Einwilligung in den Sexualtrieb, unkeusche Berührungen, sexuelle Vorstellungen im Schlaf oder Halbschlaf, und dann die Erwägungen, ob es sich bei alldem um schwere Sünden handelt, denn in der Materie des sechsten Gebotes geht es prinzipiell um „schwere" Tatbestände. Der gesamte Bereich der pollutio nocturna, das heißt, der Onanie, war schon in der aszetischen und spirituellen Literatur des Spätmittelalters ein häufig erörtertes Thema. Es ist keine bloße Vermutung, wenn man annimmt, daß auch hinter der zwanghaften Skrupulosität des Ignatius das steht, was er selbst „die Sünde des Fleisches" nennt. Von der Sünde war er, mit Hilfe der Jungfrau Maria, freigekommen, aber nicht von seinem natürlichen Trieb. In der jesuitischen Literatur wird die Praxis der häufigen Beicht und Kommunion des Ordensstifters ausschließlich unter frömmigkeitsgeschichtlichem Aspekt betrachtet, also „positiv"; die problematische und pathologische Seite kommt dabei überhaupt nicht in den Blick. So schreibt J O S E P M . R A M B L A B L A N C H in seinem Kommentar zu der erwähnten Stelle im Pilgerbericht: „Die Praxis der häufigen Beicht und Kommunion war zu jener Zeit nicht üblich. Inigo reiht sich in diesen Weg sakramentaler Spiritualität ein und verwandelt sich in einen ihrer Förderer. Und natürlich, als Zeichen dafür, daß er den Weg Christi auf sich genommen hat, stößt er auf Schwierigkeiten und Unverständnis."15 H U G O R A H N E R , in seinem Buch über das geschichtliche Werden der Frömmigkeit des Ignatius, hat der Sache überhaupt keine Beachtung geschenkt.16 Es ist, gerade auch in diesem Zusammenhang, nützlich, einen Blick auf die Geschichte der Beicht zu werfen.17 Einige Bemerkungen

zur Beicht im westlichen

Christentum

Die Anfänge des persönlichen Sündenbekenntnisses gehen auf die Zeit der Urkirche zurück. Im Jakobus-Brief heißt es (5,16): „Bekennet also einander die Sünden und betet füreinander." Die Apostelgeschichte berichtet (19,18), daß viele der von Paulus bekehrten Christen in Ephesus ihre Sünden bekannten. Als regulär vorgeschrieben begegnet die Beicht zum ersten Mal im ägyptischen Mönchtum, von wo sie über Johannes Cassian (um 425) und Benedikt von Nursia (im 6. Jahrhundert) in den Westen gelangte.18 In der Regula Benedicti heißt es:19 Auf der fünften Stufe der Demut steht, wer alle schlechten Gedanken, die sich ihm ins Herz schleichen, und die heimlich begangenen Sünden seinem Abt nicht verbirgt, sondern ihm demütig bekennt. Das 46. Kapitel der gleichen Regel enthält detaillierte Bestimmungen über einzelne Vergehen, deren Bekenntnis und Strafe:20

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IV. Die geistliche Schule von Manresa Wer bei irgendeiner Arbeit einen Fehler begeht, sei es in der Küche, im Vorratsraum, bei einem Dienst, in der Bäckerei, im Garten, in Ausübung eines Handwerks, oder sonst irgendwo, oder wer irgendetwas zerbricht oder verliert oder sich wo und wie immer etwas zuschulden kommen läßt, und nicht unverzüglich selber kommt und von sich aus vor Abt und Gemeinschaft Genugtuung leistet und seinen Fehler bekennt, der verfalle einer schwereren Strafe, wenn der Fehler durch einen anderen bekannt wird. Handelt es sich aber um eine verborgene Sünde der Seele, eröffne er sich nur dem Abt - oder den geistlichen Alteren der es versteht eigene und fremde Wunden zu heilen, ohne sie aufzudecken und bekanntzumachen.

Im Frühmittelalter setzt sich allmählich die Pflicht zur Beicht auch für die Laien durch. In der fränkischen Kirche des 8. Jahrhunderts sollen sie dreimal im Jahr, zu den hohen Feiertagen (Weihnachten, Ostern, Pfingsten), ihre Sünden bekennen. Im kanonischen Recht und in der Theologie des Hochmittelalters ist die allgemeine Verbreitung der Beicht vorausgesetzt. Doch schon der berühmte Pariser Theologe Abaelard ("¡"1142) bringt seine großen Reserven gegenüber dem persönlichen Sündenbekenntnis zum Ausdruck: Da beim Bußsakrament allein die Reue entscheidend ist, braucht man seine Sünden nicht unbedingt zu beichten. Auch Petrus hat die Verleugnung Jesu nicht noch eigens gebeichtet. In vielen Fällen ist sogar von der Beicht abzuraten. So wie es viele Ärzte gibt, denen Kranke anzuvertrauen entweder gefährlich oder nutzlos ist, so sind viele Prälaten weder religiös noch diskret. Sie kümmern sich nicht um das Beichtgeheimnis. Da sie die kirchenrechtlichen Bestimmungen nicht kennen, fehlt ihnen jedes Maß beim Auferlegen der Buße.21 Auf das durch den Papst Innocenz III. einberufene Vierte Laterankonzil (1215) geht die allgemeine gesetzliche Bestimmung zurück, wenigstens einmal im Jahr seinem zuständigen Priester die Sünden zu beichten und wenigstens einmal im Jahr, zu Ostern, das Sakrament der Eucharistie zu empfangen. Die Nichtbeachtung dieses Doppelgebotes wird mit dem Verbot, Kirchen zu betreten und dem Versagen des kirchlichen Begräbnisses sanktioniert.22 Die genannten Bestimmungen des Vierten Laterankonzils stehen bis heute als „Gebote der Kirche" in den katholischen Katechismen. Wie oben bereits erwähnt, haben die geistlichen Lehrer des Spätmittelalters den häufigen Sakramentenempfang empfohlen. Mit dem Beginn der Reformation ändert sich das Verständnis des Sakraments grundlegend. In seinem Kampf gegen das überlieferte dogmatische System der mittelalterlichen Kirche setzt Martin Luther bei der Kritik der Sakramentenlehre ein. In der entscheidenden Erklärung seiner 7. Ablaßthese (1518) führt er aus, daß der Sünder, der sich zum Bußsakrament begibt, den Nachlaß der Schuld durch Eingießung der Gnade erlangt, bevor ihn der Priester losgesprochen hat. Was soll aber dann noch die Lossprechung des Priesters? Luther sagt: Er erklärt und zeigt die bereits stattgehabte Lossprechung durch Christus, um dem reuigen Sünder Trost zu vermitteln. Die Vergebung Gottes wirkt die Gnade, die Vergebung des Priesters gibt dem Pönitenten den inneren Frieden und

An der Grenze zum Selbstmord

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den Glauben an die Vergebung. 23 Es liegt hier im Grunde nichts anderes vor als die Anwendung von Luthers fundamentaler Erkenntnis von der Rechtfertigung des Sünders durch Gott allein. O b w o h l Luther damit den vermittelnden Charakter des Bußsakraments im traditionellen Sinn aufgegeben hatte, hat er doch zeitlebens an der Beicht festgehalten, und zwar nicht - wie er in einer Predigt am Sonntag Reminiscere (16. März) 1522 ausführt - weil sie der Papst geboten hat und haben will, sondern weil er erfahren hat, wieviel Trost und Stärke sie geben kann. 24 Auch im Großen Katechismus (1529) betont Luther, er habe allzeit gelehrt, die Beicht solle frei sein; doch ein Herz, „das seine Sünde fühlt und Trost begehrt", soll in der „heimlichen Beichte" eine Zuflucht und Gewißheit der Lossprechung finden. Unmittelbar an den Beichtzwang des Ignatius in Manresa erinnern die sich daran anschließenden Sätze Luthers: 25 Nun hat man bisher allein auf unser Werk getrieben und nicht weiter gedacht, denn daß wir ja reine gebeicht hätten, und das nötigste andere Stück [d.h., das Werk Gottes] nicht geachtet noch gepredigt, gerade als wäre es allein ein gut Werk, damit man Gott bezahlen sollte, und wo die Beichte nicht vollkommen und aufs allergenauest getan wäre, sollte die absolutio nicht gelten, noch die Sünd vergeben sein. Damit man die Leute so weit getrieben hat, daß jedermann hat verzweifeln müssen, so reine zu beichten (wie es denn nicht möglich war), und kein Gewissen hat mögen zu Ruhen stehen, noch sich auf die absolutio verlassen. Also haben sie uns die liebe Beichte nicht allein unnütz, sondern auch schwer und sauer gemacht, mit merklichem Schaden und Verderben der Seele. In seinem Sendschreiben an die Bürger von Frankfurt am Main von 1533 möchte Luther die „Beijcht" im Sinne eines umfassenden Rechenschaftsberichts über den inneren Glaubenszustand verstehen. Er distanziert sich auch hier von dem durch den Papst verordneten Gewissenszwang. 26 Johannes Calvin weist in seiner Institutio entschieden die Behauptung der „Scholastiker" und „Sophisten" zurück, daß das sakramentale Sündenbekenntnis göttlichen Rechts sei; lediglich die vertrauensvolle Mitteilung unserer Schwächen (infirmitates) an die Glaubensgenossen ist durch die entsprechenden Schriftstellen gedeckt. Eine gesetzlich vorgeschriebene Beicht gab es nicht vor Innocenz III. Sie ist ein Ausfluß der angemaßten päpstlichen Tyrannenherrschaft über die Gewissen. Dennoch sollte ein „freiwilliges Bekenntnis bei den Menschen" bestehen bleiben, „so oft das für Gottes Ehre oder unsere Demütigung nützlich ist". 27 Die in der Katholischen Kirche übliche confessio auricularis lehnt Calvin als krankhaft und in vielerlei Hinsicht für die Kirche schädlich ab.28 Auch in seinem Kommentar zur Apostelgeschichte von 1552 hat Calvin in scharfen, polemischen Worten die Ohrenbeicht und die Verpflichtung zum wenigstens einmal im Jahr abzulegenden Sündenbekenntnis abgelehnt (zu Act 19,18). Die Tatsache, daß in Ephesus

viele der Neubekehrten (nicht alle!) vor der Versammlung der Gläubigen ein Sündenbekenntnis ablegten, kann nach Calvin nicht als Begründung für das

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IV. Die geistliche Schule von Manresa

heimliche Geflüster in das Ohr des Priesters herhalten, das der Papst gebietet.29

2. Gott als Schulmeister Tiefe Erkenntnisse

und geistliche

Tröstungen

In den nun folgenden Monaten seines Aufenthalts in Manresa kommt Ignatius zu immer größerer innerer Gewißheit. Er schildert genau, wie er, parallel zu den äußeren Ereignissen seiner Pilgerschaft, zur Klarheit „in den Fragen des inneren, geistlichen Lebens" kommt. Er spricht von „tiefen Erkenntnissen" (grandes noticias) und „großen geistlichen Tröstungen" (grandes consolaciones espirituales), die ihm abends kamen, wenn er sich zur Ruhe legte. Diese Zusammenstellung von „intellektuellem" und „emotionalem" Wachstum ist wichtig und für Ignatius charakteristisch. Die subjektive Tröstung, die er empfindet, ist die Bestätigung der beständig wachsenden Klarheit in den geistlichen Dingen, die zugleich auch eine wachsende Klarheit bezüglich der Glaubensinhalte, also eine zunehmende theologische Erkenntnis, ist. Aber nun kommt das Uberraschende: Iñigo merkt, daß ihm die Zeit der abendlichen Erkenntnisse und Tröstungen an der ohnehin knapp bemessenen Schlafenszeit abgeht: Auf diese Weise verlor er ein gutes Stück der Zeit, die er für den Schlaf bestimmt hatte, und das war nicht gerade viel. Darüber dachte er einige Male nach, und schließlich kam er bei sich zu dem Ergebnis, er habe sich so und so viel Zeit vorgenommen, um mit Gott zu verkehren, und darüber hinaus noch die Zeit, die vom sonstigen Tagewerk übrigblieb. Deshalb kamen ihm Bedenken, ob jene Erkenntnisse überhaupt vom guten Geiste seien, und er zog die Folgerung daraus, daß es besser wäre, sich überhaupt nicht um sie zu kümmern und die festgesetzte Zeit zu schlafen. Und so tat er auch. Es ist eine überraschend nüchterne Erwägung, die in diesem Fall zur Unterscheidung der Geister führt. Von einer anderen asketischen Übertreibung wird Iñigo dagegen durch eine Vision geheilt (es ist die dritte, von der im Bericht des Pilgers die Rede ist): es erscheint ihm deutlich eine Fleischspeise (vielleicht eine Pastete), und er faßt den Entschluß, ab nun wieder Fleisch zu essen - obwohl sein Beichtvater zur Vorsicht rät; die Erscheinung könnte ja doch eine (teuflische) Versuchung gewesen sein. Aber nach gründlichem Nachdenken ist Iñigo sich ganz sicher, daß seine Entscheidung richtig war, zumal er ja keinerlei Verlangen nach dem Genuß des Fleisches verspürt hatte. Die Tage in Manresa brachte Ignatius, wie er berichtet, mit Gebet und Betrachtungen zu. Außerdem erwähnt er, daß er einigen Leuten, die ihn aufsuchten, in Fragen des geistlichen Lebens Hilfe leistete.30 Die Tatsache, daß er sich im Stande fühlt, anderen seelsorgerlichen Beistand zu leisten, aber

Gott als Schulmeister

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auch die innere Gewißheit aufgrund tiefer Erkenntnisse, die ihm gewährt werden, sind Zeichen eines neuen Selbstbewußtseins, das von da an in seiner Seele gewissermaßen den Ort des alten Ritterstolzes einnimmt. Der Grund dafür ist letztlich, daß er zunehmend in allen, auch den scheinbar unbedeutenden, Ereignissen die Fügung und Führung Gottes erkennt, der ihn wie ein Schullehrer erzieht: E n este tiempo le trataba D i o s de la misma manera que trata un maestro de escuela en un niño, enseñándole.

Mögliche Gründe für dieses Verhalten Gottes ihm gegenüber sieht Ignatius in seiner Unerfahrenheit und der mangelnden Ausbildung seines Verständnisses, oder in der Tatsache, daß er keinen anderen Lehrer hatte, oder auch in dem festen Willen, Gott zu dienen, den dieser selbst ihm gegeben hatte. Wie auch immer es sich damit verhalten mochte:31 Er hielt es für klar erwiesen - und das ist immer seine Ansicht geblieben daß Gott ihn auf diese Weise behandelte. U n d falls er daran zweifelte, müßte er meinen, er beleidige Gottes Majestät.

Die großen „intellektuellen"

Visionen

Ignatius führt im folgenden fünf Beispiele an, um die „Methode" zu illustrieren, in der Gott ihn unterrichtete. Es sind Visionen, in denen er einen tiefen gefühlsmäßigen und intellektuellen Zugang zu den zentralen Lehren des Christentums gewinnt. In der ersten dieser Visionen (es ist die insgesamt vierte, die der Pilgerbericht erwähnt) schaut er die göttliche Trinität in der Gestalt von drei Orgeltasten. Diese Erhebung seines Verstandes über dessen normale Fähigkeiten (se le empezó a elevar el entendimiento) überrascht ihn beim Beten der „Tagzeiten Unserer Lieben Frau", morgens auf den Treppenstufen des Dominikaner-Klosters. Diese nebenbei gegebene Information zeigt, daß Ignatius schon damals täglich das Officium Marianum betete - ob in lateinischer oder spanischer Textgestalt, wissen wir nicht.32 Das Beten dieser verkürzten Form der Tagzeiten (Hören) war den Jesuitenschülern vorgeschrieben, bevor sie (mit der Weihe zum Subdiakon) zum längeren Brevier verpflichtet wurden.33 Das „Kleine Offizium", wie es auch genannt wird, enthält zahlreiche Texte des Alten Testaments, vor allem des Hohen Lieds, die in allegorischem Verständnis auf die Jungfrau Maria gedeutet werden. Da der Text, im Gegensatz zu demjenigen des „großen" Breviers niemals variiert, prägt er sich binnen weniger Tage ein. Jeder Jesuitenschüler konnte also das Officium Marianum auswendig, und hatte damit auch die darin enthaltene marianische Theologie mehr oder weniger verinnerlicht. Beides darf auch für Ignatius angenommen werden.

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IV. Die geistliche Schule von Manresa

Die Beschreibung des Inhalts der Vision der Trinität ist von denkbar großer Dürftigkeit. Ignatius sagt eben nur, daß er drei Orgeltasten sah. Dennoch war die seelische Erschütterung, die er dabei erfuhr, gewaltig: er wurde zu Tränen und Seufzern gerührt, deren er nicht Herr werden konnte. Es war das erste Mal, daß ihn das Weinen in so gewaltiger Weise schüttelte. Eine eindeutig festzumachende Ursache dafür ist nicht erkennbar. Doch da das visionäre Bild die Gestalt von Orgeltasten hatte,34 darf man wohl vermuten, daß die Rührung, die Iñigo ergriff, etwas mit der Ahnung des „musikalischen Wesens" des Dreieinigen Gottes zu tun hatte. Das Weinen dauerte bis zum Mittagessen. Am Nachmittag sprach er dann fortwährend über die Trinität „unter vielerlei und immer neuen Vergleichen", wobei ihn große innere Freude erfüllte. Das Gefühl einer besonderen Andacht beim Beten zur Heiligsten Dreieinigkeit blieb ihm lebenslänglich erhalten.35 Im Lichte der tiefen Einsicht in das Wesen der göttlichen Trinität schienen ihm Bedenken, die er früher bezüglich seiner Gebetspraxis hatte - ob drei oder vier Gebete zum Dreieinigen Gott angemessen seien - bedeutungslos zu sein. Wir müssen hier noch einmal auf das Officium Marianum zurückkommen. Es ist kein Zufall, daß das Wesen der göttlichen Trinität sich Ignatius beim (meditativen) Beten dieses Textes erschloß. Zahlreiche Stellen der Psalmen, des Hohen Liedes, der Weisheit Solomons und anderer Bücher des Alten Testaments werden auf Maria bezogen: Sie ist die heilige Stadt Jerusalem, die schwarze, schöne Geliebte, die der König in sein Schlafgemach führt, die göttliche Weisheit. Außerdem ist das Marianische Offizium voll trinitarischer Texte: Alle Psalmen enden mit dem „Gloria Patri et Filio et Spiritui Sancto"; die am Beginn oder am Ende der einzelnen Hören stehenden Hymnen haben alle eine trinitarische Strophe.36 Der Hymnus der Matutin „Quem terra, pontus, sidera" setzt die Jungfrau Maria in engste Beziehung zur göttlichen Trinität: „Den Erde, Meer und Sterne / Verehren, preisen, beten an, / Des Weltalls dreifach mächtigen Beweger / umschließt Mariae unversehrter Leib"; „Jesus, Sohn der Jungfrau, Dir sei alle Ehre, / Samt dem Vater und dem Geist, / In alle Ewigkeit."37 Die Jungfrau Maria wird also hier bereits als Mittlerin eines (dann allerdings direkten!) Zugangs zum Zentrum Gottes gesehen, wie es später bei der Vision von La Storta der Fall ist.38 In einem weiteren visionären Erlebnis (es ist das insgesamt fünfte) gewinnt Ignatius die verstandesmäßige Einsicht (se le representó en el entendimiento) in den Vorgang der Erschaffung der Welt durch Gott. Auch diese Vision hat neben der intellektuellen eine emotionale Wirkung in seiner Seele: er wird von großer geistlicher Freude (con grande alegría espiritual) erfüllt. An Einzelheiten sowohl der Erscheinungen wie der Erkenntnisse kann er sich zum Zeitpunkt der Niederschrift des Berichts nicht mehr genau erinnern. In seinem Gedächtnis ist die Erinnerung an eine glänzende Licht-Erscheinung haften geblieben, aus der Strahlen hervorgingen. Anhand dieses Phänomens hatte sich ihm die Erschaffung des Lichts, das heißt, der Urbeginn der Schöpfung erschlossen.39

Die Erleuchtung am Cardoner

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In hellglänzenden Strahlen, die er „mit den Augen seiner Seele" (con los ojos interiores) bei der Elevation der konsekrierten Hostie erblickt, erschließt sich seinem Verstand, (él vio con el entendimiento) die Gegenwart (Realpräsenz) Christi im Sakrament des Altares. In zahlreichen Visionen erschaut er „mit den Augen seiner Seele" (con los ojos interiores) die „Menschheit Christi" und „Unsere Liebe Frau", das heißt: er gewinnt Klarheit über die Inkarnation und die zwei Naturen Christi. Über diese religiösen Erfahrungen sagt er zusammenfassend:40 Das, was er damals in Erscheinungen sah, bestärkte ihn sehr und gab ihm für immer eine solche Sicherheit im Glauben, daß er oftmals bei sich dachte: auch wenn es keine Heilige Schrift gäbe, die uns diese Glaubenswahrheit lehrt, wäre er entschlossen, für sie zu sterben, einzig auf Grund der Tatsache, daß er dies geschaut hatte. Letztes Fundament dieser Gewißheit ist die Uberzeugung, daß Gott selbst es war, der ihn in den Visionen in besserer und höherer Weise unterrichtet hatte, als es menschliche Lehrer und Bücher gekonnt hätten, einschließlich der Heiligen Schrift. Diego Laynez, der Nachfolger des Ignatius als General der Gesellschaft Jesu, und Juan de Polanco, der dem Heiligen seit dem Jahr 1547 als Sekretär diente, erinnern sich in annähernd gleichen Worten an dessen Ausspruch: für den unmöglichen Fall, daß die Schriften und die anderen Dokumente des Glaubens verlorengingen, würde ihm für den gesamten Bereich des ewigen Heils die Kenntnis der Dinge genügen, die Gott ihm in Manresa mitgeteilt und eingeprägt hatte.41 Iñigo sieht nun auch die exzessiven asketischen Übungen, denen er sich unterzogen hatte, als überflüssig an. Er beginnt wieder damit, seine äußere Erscheinung zu pflegen, indem er sich Nägel und Haare schneidet. Der Erfolg, den er in den Seelen der Menschen erreicht, mit denen er Umgang hat, ist eine weitere Bestätigung für ihn, daß er sich auf dem richtigen Weg befindet. Er hat Selbstbewußtsein und Selbstsicherheit des geistlichen Lehrers gefunden - bevor er ein philosophisches oder theologisches Examen abgelegt oder eine kirchliche Weihe empfangen hat.

3. Die Erleuchtung am Cardoner Die im vorigen berichteten Visionen werden weit übertroffen und in den Schatten gestellt durch ein weiteres Erlebnis, das Ignatius im Anschluß daran schildert. Es handelt sich um die Erleuchtung am Fluß Cardoner: Eines Tages wollte er die in der Nähe von Manresa gelegene Kirche des heiligen Paul des Eremiten aufsuchen. Auf dem Wege dahin setzte er sich und betrachtete eine Weile den tief unter ihm in einer Schlucht strömenden Fluß.42

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IV. Die geistliche Schule von Manresa Wie er nun so da saß, begannen die Augen seines Verstandes (los ojos del entendimiento) sich bei ihm zu öffnen. Nicht als ob er irgend eine Erscheinung gesehen hätte, vielmehr wurde ihm das Verständnis und die Erkenntnis vieler Dinge sowohl über das geistliche Leben als auch über die Wahrheiten des Glaubens und über das menschliche Wissen (cosas de la fe y de letras) geschenkt. Dies war von einer so großen Erleuchtung begleitet, daß ihm alles in neuem Licht erschien. Und das, was er damals erkannte, läßt sich nicht in Einzelheiten darstellen, obgleich es deren sehr viele waren. Nur daß er eine große Klarheit in seinem Verstand (en el entendimiento) erhielt. Wenn er im ganzen Verlauf seines Lebens nach mehr als zweiundsechzig Jahren alles zusammennimmt, was er von Gott an Hilfen erhalten und was er jemals gewußt hat, und wenn er all dies in eines faßt, so hält er dies alles doch nicht für so viel, wie er bei jenem einmaligen Erlebnis empfangen hat. Dieses Ereignis war so nachdrücklich, daß sein Geist gleichsam ganz erleuchtet (con el entendimiento ilustrado) blieb. Und es war ihm, als sei er ein anderer Mensch geworden und habe einen anderen Verstand erhalten (como se fuese otro hombre y tuviese otro intelecto), als er früher besaß.

Man muß beachten, wie oft und wie pointiert in diesem wie in den vorangehenden Texten das Wort entendimiento gebraucht ist. Gemeint ist die Einsicht, der Intellekt als „normale" Fähigkeit der Seele, also nicht eine „übernatürliche" Begabung. Gegenstand der Einsicht sind zwar überwiegend die Wahrheiten des Glaubens, aber auch Zusammenhänge rein menschlicher intellektueller Bildung (letras). Die Bemerkung, er habe das Gefühl gehabt, daß er ein anderer Mensch geworden sei, erinnert an eine Episode der Bekehrung des Franziskus von Assisi: als der Heilige aus einer Höhle hervortritt, in der ihn der Teufel bedroht hat, hat sein Begleiter den Eindruck, er sei „in einen anderen Menschen verwandelt" worden.43 Mit der Erleuchtung am Cardoner war die geistige Entwicklung des Ignatius so gut wie abgeschlossen. Später, als er von seiner Pilgerfahrt nach Jerusalem zurückgekehrt war, hat er nicht weniger als neun Jahre zunächst in Barcelona, dann an drei berühmten Universitäten studiert: Alcalá de Henares, Salamanca und schließlich Paris. Niemals erwähnt er, daß ihm durch sein Studium der Philosophie und der Theologie eine besondere intellektuelle Erkenntnis oder Erleuchtung gekommen sei.

4. Tödliche Krankheiten Für den andauernden Zustand der Erleuchtung nach der Erfahrung am Cardoner dankte Iñigo Gott auf den Knien vor einem Feldkreuz. Wiederum ist es eine scheinbar nebensächlich hingeworfene Bemerkung, die nicht nur von biographischer Bedeutung ist, sondern einen weiten religions- und kulturgeschichtlichen Horizont eröffnet. Darstellungen des Crucifixus, des Schmerzensmannes (Ecce homo, gegeißelter Heiland) und des vom Kreuz

Tödliche Krankheiten

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abgenommenen, auf dem Schoß seiner Mutter liegenden Heilands (Pietä) prägten die Landschaft des spätmittelalterlichen Europa und erinnerten Landarbeiter und Passanten an das (erlösende) Leiden Christi; so beschreibt es der ehemalige Kanzler von Uri, Valentin Compar, in einem Brief an den Reformator Huldrych Zwingli (1484-1531) zur Zeit des reformierten Bildersturms:44 Es gat ein Christenman über fäld. Er findt da das lyden Christi underwegen einmal, zwürend oder drümal oder mer in den bildstöcken am weg; so offt thüt er dem lyden Christi etwas eer an mit dem lyb, neiget sich, zücht sin hoptkleid ab. Die Verehrung des Leidens Christi an einem durch ein religiöses Denkmal markierten heiligen Ort und das damit verbundene Gedächtnis an die Erlösung der Welt ist eine genuin franziskanische Form der Frömmigkeit. Die ältesten Biographen des heiligen Franziskus überliefern das Gebet, das die ersten Brüder bei Kirchen und Wegkreuzen sprachen, und Franziskus selbst hat es in seinem „Testament" festgehalten:45 Wir beten dich an, Herr Jesus Christus, hier und bei allen deinen Kirchen, die auf der ganzen Welt sind, und wir preisen dich, denn duch dein heiliges Kreuz hast du die Welt erlöst. Die Ausgestaltung der religiösen Landschaft mit Wegkreuzen, Bildstöcken, Kreuzwegen, Kalvarienbergen und anderen plastischen Kunstwerken, die im Spätmittelalter unter dem Einfluß franziskanisch geprägter Volksfrömmigkeit begonnen hatte, fand dann im barocken Zeitalter, nicht zuletzt aufgrund des Wirkens der Jesuiten, eine üppigere und glorreichere Fortsetzung. Ignatius erzählt weiter, an dem erwähnten Kreuz sei ihm erneut das schlangenartige Gebilde erschienen, das er von früheren Visionen her kannte:46 Und ebendort erschien ihm wieder die Vision, die er schon oftmals gehabt hatte, und die er doch nie richtig erkennen konnte, das heißt, jenes Ding, von dem vorher schon die Rede war und das ihm sehr schön und mit vielen Augen besetzt erschien. Aber jetzt vor dem Kreuz sah er deutlich, daß jenes Etwas nicht die gleiche Farbenpracht wie früher trug. Und er empfing nun eine ungemein klare Erkenntnis darüber, daß jenes Etwas ein Bild des Teufels war, und dies war begleitet von einer festen Zustimmung des Willens. Und da späterhin sich die gleiche Erscheinung noch mehrmals durch lange Zeit hindurch wiederholte, verjagte er sie zum Zeichen seiner Geringschätzung mit dem Stock, den er gewöhnlich in seiner Hand trug. Inigos geistliche Kraft war inzwischen so gewachsen, daß er mit dem, den er später den „Feind der menschlichen Natur" nennen wird, auf die denkbar

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IV. Die geistliche Schule von Manresa

einfachste Weise fertig werden konnte. Aber es holten ihn nun die Krankheiten seines durch unvernüftige Lebensweise geschwächten Körpers ein. Infolge einer fiebrigen Erkrankung kam er dem Tod sehr nahe. In Erwartung seines baldigen Endes kam ihm der Gedanke, „er sei doch ein heiliger Mann". 47 Mit der bewußt herbeigeführten Erinnerung an seine Sünden versuchte er, dieser Einbildung Herr zu werden - vergeblich. Als es ihm besser ging, bat er einige Damen, die sich während der Krankheit um ihn gekümmert hatten, sie sollten ihm die Worte: „Du Sünder!" in die Ohren schreien und ihn an seine früheren Beleidigungen Gottes erinnern. Es war wahrscheinlich im Herbst 1522, als Inigo in Manresa mit dem tödlichen Fieber rang. Er erwähnt bei dieser Gelegenheit, daß er später noch zweimal in Lebensgefahr geriet. Bei der Überfahrt von Valencia nach Italien im Jahre 1535 kam das Schiff in Seenot.48 Er erforschte damals, im Angesicht des Todes, sein Gewissen, empfand jedoch keinerlei Furcht wegen seiner Sünden oder vor der Verdammung. Es erfaßte ihn lediglich Reue und Scham darüber, daß er die Gnadengaben Gottes nicht in richtiger Weise genutzt hatte. Als ihn dann im Jahre 1550 in Rom ein weiteres Mal eine tödliche Krankheit niederstreckte, empfand er im Gedanken an den bevorstehenden Tod Freude und geistlichen Trost - was ihn zu Tränen rührte und sich noch oft wiederholte. Noch im Winter des gleichen Jahres 1522 wird Inigo erneut von einer schweren Krankheit gepackt. Die um ihn besorgte Stadtverwaltung quartiert ihn in einem Privathaus ein, wo er mit großer Sorgfalt gepflegt wird. (Ein Sohn des Hauses begegnete Ignatius Jahre später in Rom; er war dort Diener bei Baltasar de Faria, der von 1543 bis 1551 portugiesischer Gesandter war). Vor allem kümmerten sich vornehme Damen der Stadt um ihn, die auch die Nachtwache an seinem Krankenlager übernahmen. Wahrscheinlich gehörte Inés (Agnès) Pascual, in deren Begleitung Inigo auf seinem Wege vom Montserrat nach Manresa gekommen war, zu ihnen. Ignatius berichtet, daß er sich von dieser Krankheit nie wieder vollständig erholte. Es blieben die „Magenschmerzen" zurück, die ihn bis zu seinem Tod plagten. Wie sich später herausstellen sollte, kamen aber die Schmerzen nicht vom Magen, sondern von Leber und Galle. Vermutlich war die Ursache eine nie richtig behandelte und ausgeheilte Hepatitis. Die erwähnten Damen konnten Inigo dazu überreden, zwar einfache, aber warme Kleider und Schuhe anzuziehen, die sie ihm besorgten. Er seinerseits revanchierte sich dafür, indem er sich um ihr Seelenheil kümmerte und mit ihnen über geistliche Dinge (cosas espirituales) sprach. Er erinnert sich:49 In jener Zeit gab es oftmals Tage, an denen er ein großes Verlangen danach trug, über geistliche Dinge zu sprechen und Menschen zu finden, die dafür aufgeschlossen wären.

Tödliche Krankheiten

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Iñigo verspürte also das Bedürfnis, was er in den vorausgegangenen Erleuchtungen erfahren hatte, auch anderen Menschen mitzuteilen. Seine ersten Schülerinnen waren die vornehmen Bürgerinnen, die ihn während seiner schweren Krankheiten pflegten und für sein Auskommen sorgten. Damals scheint er die ersten Aufzeichnungen gemacht zu haben, aus denen in der Folgezeit sein Exerzitienbuch entstand. Die religiöse Erfahrung des Ignatius beginnt mit der Introspektion, dem aufmerksamen Beobachten der Vorgänge in seiner Seele. Er spürt oder bildet sich ein, daß er es dort nicht allein mit seinem Ich, sondern vornehmlich mit Gott (und dem Teufel!) zu tun hat. Es wird ihm allmählich zur Gewißheit, daß Gott ihn „wie ein Schullehrer" lenkt. Nach den visionären Erlebnissen von Manresa springt das, was in der Seele Iñigos geschehen ist, auf andere über. Voraussetzung dafür ist die innere Bereitschaft der betreffenden Menschen, sich auf das religiöse Erleben einzulassen. Diese grundsätzliche Bereitschaft war durch das geistige Klima des damaligen Spanien gegeben: die Atmosphäre war religiös aufgeladen; man muß nur an die Alumbrados denken, jene religiösen Individualisten, die am äußersten Rande der Rechtgläubigkeit balancierten und von den amtlichen Organen der Hierokratie mit Mißtrauen beäugt wurden.50 (Iñigo wird später selbst die Aufmerksamkeit der Inquisition auf sich ziehen, weil er in den Verdacht gerät, ein „Erleuchteter" zu sein).51 Und auch das rasche Wachstum der Gesellschaft Jesu, nachdem deren Fundamente einmal gelegt waren, setzt die entsprechende gesellschaftliche Atmosphäre, eine latente Bereitschaft voraus, einer religiösen Lebenslehre zu folgen, wenn sie einmal formuliert ist und eindrucksvoll präsentiert wird.

V DIE EXERZITIEN Es ist wichtig zu beachten, daß das Exerzitienbuch in seinen wesentlichen Teilen in der „Atmosphäre" von Manresa entstand und die geistlichen Übungen dort auch zum ersten Mal in der Praxis erprobt wurden. Unübersehbar wird die Atmosphäre, in der Konzept und Methode der Exerzitien entstanden, durch zwei Elemente geprägt: Es ist ein physisch und psychisch schwer Kranker, der sie „erfindet"; es ist ein genialer Meister der Innenschau, ein überragender Denker, der hier auf dem Fundament seiner Visionen ein geistiges Gebäude errichtet, das in seiner (positiven und negativen) Wirkung weltgeschichtliche Dimensionen erreichen sollte.

1. Methodische Grundzüge und allgemeines Ziel der geistlichen Übungen Das Exerzitienbuch ist im Grunde nichts anderes als eine Anleitung zu geistlichen Übungen, durch welche die Schülerin oder der Schüler (Exerzitant) über den von Ignatius erprobten Weg zu einer Gewißheit über den Willen Gottes und daraus folgend zu einer Entscheidung bezüglich seines Lebens kommen soll. Es ist keine passive Mystik und Spiritualität, die abwartet, was Gott mit mir vorhat, sondern der Exerzitant soll sich mit Hilfe von Übungen zunächst um die Erkenntnis, dann um eine Anpassung an die Absichten Gottes bemühen. Daß Gott mit mir, dem Individuum, das sich zur Praktik der Exerzitien entschließt, etwas plant und vorhat, setzt Ignatius aufgrund seiner eigenen Erfahrungen, die er mit den Absichten Gottes gemacht zu haben glaubt, voraus. Inhaltlicher Leitfaden der Exerzitien ist das Leben Jesu, wie es in den Evangelien berichtet wird. Die meisten der einzelnen Betrachtungen gehen von einem Ereignis im Leben Jesu aus. Die Vorstellung des „leiblichen", materiellen Ortes, an dem sich das Ereignis zugetragen hat, ist die unabdingbare Voraussetzung für die Meditation. Die zweite Voraussetzung ist, daß man sich klar wird über das partikulare Ziel, das man mit dieser Meditation erreichen will, und Gott um dessen Gewährung bittet. Es ist bezeichnend für die Spiritualität des Ignatius, daß es sich dabei in der Regel um ein Gefühl handelt, also z.B. Freude bei der Betrachtung der Auferstehung Christi, Mitleid, Schmerz, Tränen bei seinem Leiden, Scham und Verwirrung bei der Betrachtung meiner Sünden und ihrer Folgen. In dem lebhaften Vorstellen der äußeren Umstände des Lebens Christi und dem emotionalen Hineinversetzen in sein Erlösungswerk (sedere ad pedes Christi et audire verbum eius)

Methodische Grundzüge und allgemeines Ziel der geistlichen Übungen

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hatte schon Ludolf von Sachsen, im Prolog seiner Vita Christi, das Wesen der Meditation, im Gegensatz zur bloßen Kenntnisnahme in der Lektüre der Schrift, gesehen.1 Es kann kaum ein Zweifel bestehen, daß Inigo den Prolog sehr aufmerksam gelesen und verinnerlicht hat. Nach den beiden „Praeambula" folgt die eigentliche Meditation, die meistens in drei, manchmal auch in mehr, Punkte gegliedert ist: es sind Stufen, in denen der Betrachter zu einer emotionalen und intellektuellen Involvierung seiner selbst in das meditierte Geschehen gelangen soll. Es ist das propter me, das nach Ignatius die eigentliche Frucht der Meditation ist: Inwiefern sind Geburt, Leiden, Tod Christi Ereignisse, die mich betreffen? Es kann sich dann noch ein Colloquium, ein Gespräch des Betrachters mit Gott, Christus und seiner Mutter anschließen. Das meditative Gespräch zwischen „Herr" (Gott) und „Knecht" (Ich) ist bereits in der Imitatio Christi, dem zweiten theologischen Lehr- und Lesebuch Inigos, vorgebildet. Überhaupt bewegt sich Ignatius hier durchaus im Rahmen der mittelalterlichen Christus-Meditationen. Schon der berühmte (heute aus dem Kultus entfernte) Hymnus der Toten-Messe Dies irae (Ende des 12. Jahrhunderts) stellt die unmittelbare Verbindung zwischen dem Weg Jesu und dem Ich des frommen Beters her:2 Bedenke, barmherziger Jesus, Daß ich der Grund deines Weges bin, Vernichte mich nicht an jenem Tag. Mich suchend hast du dich ermüdet hingesetzt, Hast mich erlöst durch deinen Kreuzestod. Solches Leid soll doch nicht vergeblich sein!

Nach ihrem äußeren „Gerüst" und einem Großteil ihres Inhalts scheinen die ignatianischen Exerzitien nichts anderes zu sein als die frommen Meditationen der mittelalterlichen Christen, die im Gefolge der franziskanischen Frömmigkeit im Spätmittelalter sehr verbreitet waren. Aber Ignatius hat seine geistlichen Übungen gespickt mit einer Fülle von detaillierten Anmerkungen, Anweisungen und Regeln, in denen sich sein Geist, das, was er eigentlich erreichen will, offenbart. Dazu gehört das „Prinzip und Fundament" der Exerzitien.3 In ihm sagt Ignatius, worum es eigentlich geht: die Rettung der Seele, und die ist ein mühsames Unterfangen. Der Mensch ist geschaffen, daß er Gott, unseren Herrn, lobe, ihm Ehrfurcht bezeuge und ihm diene, und dadurch seine Seele rette. Und alle übrigen Dinge auf der Erde sind geschaffen um des Menschen willen, damit sie ihm helfen bei der Erreichung des Ziels, um dessentwillen er geschaffen ist. Daraus folgt, daß der Mensch sie nur benutzen darf, insofern sie ihm helfen zu seinem Ziel zu gelangen, und sich in dem Maße von ihnen fernhalten muß, in dem sie ihn dabei behindern. Es ist deshalb notwendig, uns allen geschaffenen Dingen gegenüber gleichgültig zu machen (hazernos indiferentes), insoweit es unserer freien Entscheidung gestattet und nicht verwehrt ist, so daß wir, soweit es an uns liegt,

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V. Die Exerzitien Gesundheit nicht mehr als Krankheit, Reichtum nicht mehr als Armut, Ehre nicht mehr als Schande, ein langes Leben nicht mehr als ein kurzes wollen, und so weiter in allem; indem wir allein das wünschen und erwählen, was uns eher zu dem Ziel führt, um dessentwillen wir geschaffen sind.

Ignatius hat hier eines seiner wichtigsten religiösen Erziehungsziele festgehalten: die Indifferenz. Der Mensch gewinnt seine Bedeutung in der geistlichen Sphäre, vor Gott, wenn er den irdischen, geschaffenen Dingen gegenüber, auch seinem äußeren Lebensschicksal gegenüber, Gleichgültigkeit erworben hat. Was mit dieser Indifferenz eigentlich gemeint ist, wird vertieft in der „Betrachtung zur Erlangung der Liebe", die so etwas wie der Höhepunkt der auf vier Wochen angesetzten Exerzitien ist.4 In dieser Meditation gebe ich, der Exerzitant, Gott die mir von ihm geschenkten geistigen Fähigkeiten: Freiheit, Gedächtnis, Intellekt, Willen, zurück und erbitte für mich nur Gottes Liebe und Gnade, die allein genügen. In einem zweiten Schritt werde ich mir dann bewußt, daß Gott in der gesamten unbelebten und belebten Schöpfung, und folglich auch in mir, seinem Ebenbild, wohnt und mir Sein, Leben, Gefühl und Verstand gibt. Diese Beziehung zu mir, das propter me des Universums und der Tätigkeit Gottes in ihm, soll der Meditierende dann vertiefen. Die Radikalität des geistlichen Weges des Ignatius von Loyola und das, wodurch sich dieser Weg von allen früheren Anweisungen zum „geistlichen Leben" unterscheidet, besteht in dem Verzicht auf den eigenen Willen, in der konsequenten Abkehr von einem durch freie Entscheidungen oder auch äußere Zwänge bestimmten „weltlichen" Lebenslauf. Wer mittels der Exerzitien zu dieser fundamentalen Wahl und Entscheidung gefunden hat, kann sicher sein, nicht nur im Einklang mit dem Willen Gottes zu sein, sondern in Gottes Leben und Liebe gewissermaßen aufzugehen: nach Ignatius ist das seine wahre Selbstfindung und Selbstverwirklichung. Wer nicht - angenagt vom Geist aufklärerischer und moderner Skepsis bei der Forderung nach Aufgabe des eigenen Willens die innere Alarmglocke schrillen hört, wird in alldem nichts weiter als eine zwar radikale, aber im ganzen doch heilsame und ungefährliche Lebenslehre im Sinne mittelalterlicher pietas sehen. In mehr oder weniger abgemilderter, modernisierter, und das heißt: verharmloster und verwässerter, Form werden die Exerzitien heute in der Regel, auch von Mitgliedern des Jesuitenordens, gegeben. Meistens liegt ihnen gar nicht der vollständige Text des Exerzitienbuches zugrunde. Der kann natürlich an dieser Stelle auch nicht vorgestellt und erläutert werden; aber wir wollen doch die eingehende Lektüre und Analyse einiger zentraler Passagen versuchen. Nicht gelten lassen wir dabei das Argument, man könne die Exerzitien nur sachgemäß verstehen, wenn man sich ihnen unterziehe. Es geht hier nicht um religiöse Einübung, sondern um philologisches und religionsgeschichtliches Verständnis eines bedeutenden Werkes religiöser Literatur.5

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Inhalt der geistlichen Übungen

2. Inhalt der geistlichen Übungen Ignatius hat für die Exerzitien einen Zeitraum von ungefähr dreißig Tagen oder vier Wochen vorgesehen. Den vier Wochen liegen vier Themenkreise zugrunde, denen die Betrachtung gewidmet ist: 1. die Sünden, 2. das Leben Christi bis zum Einzug in Jerusalem am Palmsonntag, 3. das Leiden Christi, 4. die Auferstehung und Himmelfahrt, dazu die drei Arten zu beten. Für die einzelnen „Wochen" sind nicht notwendigerweise sieben oder acht Tage anzusetzen.6 Vielmehr kann die Woche jeweils ausgedehnt oder verkürzt werden, wie es Verständnis und geistliche Entwicklung des Exerzitanten erfordern. Die Dauer von insgesamt etwa dreißig Tagen sollte jedoch eingehalten werden. Die erste Woche: Sünde, Hölle,

Teufel

In der ersten Meditation der ersten Woche geht es um die Sünden. Nach dem üblichen vorbereitenden Gebet des Betrachters um die Gnade, daß alle seine Absichten und Tätigkeiten einzig auf Dienst und Lob Seiner Göttlichen Majestät ausgerichtet seien, folgen die zwei Praeambula. Normalerweise soll in dem ersten Praeambulum der Ort des Gegenstandes der Betrachtung vorgestellt und besichtigt werden. Im Falle der Sünde, die ja unsichtbar ist, kann ein Ort im eigentlichen Sinne nicht vorgestellt werden. Statt dessen muß ich mir vor Augen führen, wie die Seele in meinem vergänglichen Leib als ihrem Kerker eingeschlossen ist und das gesamte Gebilde aus Seele und Leib in diesem Tal unter den Tieren gleichsam im Exil lebt. Das zweite Praeambulum enthält in der Regel die Bitte um das, was ich in der betreffenden Meditation erreichen will: etwa Anteilnahme an Freude, Leiden, Schmerz Christi. Hier in der ersten Betrachtung erbitte ich Scham über mich selbst angesichts so vieler Menschen, die wegen einer einzigen Todsünde verdammt wurden; wegen meiner zahlreichen Sünden hätte ich es oftmals verdient, in Ewigkeit verdammt zu werden. Im ersten Punkt wird die allererste Sünde, die der Engel, dem Gedächtnis vorgestellt. Der Ur-Sündenfall soll dann mit dem Verstand erfaßt und mit dem Willen ein Gefühl der Scham und Niedergeschlagenheit bei mir erzeugt werden, wenn ich die eine Sünde der Engel mit meinen zahlreichen Sünden vergleiche. Der Sündenfall der Engel besteht in der Verweigerung von Ehrfurcht und Gehorsam dem Schöpfer und Herrn gegenüber. Der Fall aus der Gnade und Freiheit in die Bosheit führte zum Sturz in die Hölle. Im zweiten Punkt beschäftigen sich die genannten drei Seelenkräfte mit der Sünde Adams und Evas; zu erwägen ist vor allem, worin die Strafe für diese menschliche Ur-Sünde bestand, welches Verderben sie dem Menschengeschlecht mit dem Verlust der ursprünglichen Gerechtigkeit (iustitia originalis) brachte und wie viele Menschen zur Hölle fuhren.

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V. Die Exerzitien

Die dritte Stufe der Betrachtung ist der einzelnen Sünde eines (gedachten) Menschen gewidmet, der wegen einer einzigen Sünde zur Hölle gefahren ist; ebenso viele andere, die wegen geringerer Vergehen, als ich sie vollbracht habe, verdammt wurden. Dabei sollen dem Gedächtnis Schwere und Bosheit der Sünde gegen den Schöpfer und Herrn vorgestellt, sodann mit dem Verstand bedacht werden, wie der betreffende Mensch, aufgrund seiner Sünde gegen die unendliche Güte, mit Recht auf ewig verdämmt wurde. Mit dem Willen werden schließlich die dem Betrachtungsgegenstand angemessenen Gefühle geweckt. Es schließt sich ein Colloquium an mit dem gekreuzigten Erlöser, der gegenwärtig vorgestellt wird, über seine Menschwerdung und seinen Tod für meine Sünden, mit der dreifachen Frage an mich, „was ich meinerseits für Christus getan habe, was ich für Christus tue, was ich für Christus tun müßte".7 Ignatius betont, daß er mit dem Colloquium ein wirkliches Gespräch meint, wie es ein Freund mit dem anderen, ein Knecht mit dem Herrn führt. Die Meditation wird mit dem Gebet des Pater noster abgeschlossen. Es ist ein düsterer, deprimierender Hintergrund, der sich hier zu Beginn der Exerzitien auftut: die vielfachen Sündenfälle, die alle den Sturz in die Hölle verdienen, ein vielfach strafender Gott, dessen Gericht man kaum entgehen kann, eine extreme Selbsterniedrigung im Blick auf alle meine faulen Taten, die ich im Tal der Verbannung vollbracht habe, mit der Aussicht, mir das ewige Exil zuzuziehen. Der Exerzitant, wie ihn Ignatius vor sich hatte, muß in der ersten Woche durch eine imaginäre Hölle hindurch, die der Exerzitienmeister dem heutigen Schüler des geistlichen Lebens erspart - vielleicht deshalb, weil er selbst, wie die meisten „modernen" Theologen, an Hölle und Teufel nicht mehr glaubt. Die zweite geistliche Übung ist der Betrachtung der Sünden gewidmet. Nach dem üblichen Vorbereitungsgebet und dem ersten Praeambulum erbittet der Betrachter in dem zweiten Praeambulum einen großen, tiefgehenden Schmerz und Tränen über seine Sünden. Es folgen fünf Punkte der eigentlichen Meditation. Im ersten Punkt soll der „processus peccatorum" ins Gedächtnis gerufen werden; das heißt: es geht um eine Art individueller Sündengeschichte, in der alle Sünden meines Lebens rekapituliert werden, über die einzelnen Jahre und kleinere Zeitabschnitte hin. Als Erinnerungshilfen sollen der Ort, das Haus, wo ich gewohnt habe, die Gespräche, die ich geführt habe, die Stellung, die ich eingenommen habe, dienen. Man sieht: hier kommt sie wieder, die krankhafte Skrupulosität von Manresa, die ewig wiederkehrende Erinnerung an alle Sünden der Vergangenheit, die den Menschen lebenslänglich nicht losläßt. Das angestrebte Ziel ist, dem Exerzitanten die Riesengröße seiner Schuld einzuhämmern. Ignatius hat dieses Ziel in der zweiten der Zusatzbemerkungen (Additiones), die er an die erste Woche anschließt, in einem Doppelgleichnis formuliert:8

Inhalt der geistlichen Übungen

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Wenn ich erwache, dann darf ich nicht diesen oder jenen Gedanken Raum geben, sondern sogleich meine Aufmerksamkeit auf das lenken, was ich in der ersten Übung um Mitternacht betrachten werde, indem ich mich in die Scham über meine so zahlreichen Sünden einübe und mir die folgenden Beispiele vor Augen halte: wie ein Ritter, der vor seinem König und dessen gesamtem Hofstaat steht, beschämt und verwirrt, weil er ihn schwer beleidigt hat, von dem er doch zuvor viele Geschenke und Gunsterweise erhalten hatte. Ebenso soll ich mich in der zweiten Übung für einen großen Sünder halten, der mit Ketten gefesselt ist: daß ich nämlich gleichsam mit Ketten gebunden dahingehe, um vor dem höchsten ewigen Richter zu erscheinen; dabei stelle ich mir als Beispiel vor, wie Angeklagte in Gefängnissen festgehalten werden und mit Ketten gefesselt, des Todes würdig, vor ihrem zeitlichen Richter erscheinen. Unter diesen Gedanken kleide ich mich an, oder auch unter anderen, je nach dem zugrundeliegenden Gegenstand der Betrachtung. In dem zweiten Betrachtungspunkt sollen die Sünden gewichtet werden (ponderare peccata), die Scheußlichkeit und Bosheit jeder von mir begangenen Todsünde soll in sich erwogen werden, abgesehen davon, daß sie verboten ist. Der dritte Punkt gilt der Betrachtung meiner selbst, indem ich mich in dreifacher Hinsicht herabsetze, klein mache: Was bin ich für ein armseliger Wicht im Vergleich zu allen Menschen? Was sind die Menschen im Vergleich zu allen Engeln und Heiligen des Paradieses? Was ist die gesamte Schöpfung verglichen mit Gott? Was vermag ich also allein? Und dann betrachte ich meine ganze körperliche Hinfälligkeit und Abscheulichkeit. Ich komme zu dem Ergebnis, daß ich nichts anderes als eine Geschwulst und Eiterbeule (ulcus quoddam et apostema) bin, von der Sünden, Bosheiten und das schlimmste Gift ausströmen. Im vierten Punkt wird Gott selbst zum Gegenstand der Meditation. Seine Eigenschaften (Weisheit, Allmacht, Gerechtigkeit, Güte) werden mit ihren Gegensätzen in mir (Unwissen, Schwachheit, Verderbtheit, Bosheit) verglichen. Die beiden zuletzt genannten Betrachtungspunkte erinnern an eine genuin franziskanische Meditation. In den wohl im 14. Jahrhundert entstandenen

Betrachtungen

über die heiligen Stigmata, einem Anhang an die berühmten

Actus-Fioretti des heiligen Franziskus, wird berichtet, wie Franziskus vor seiner Stigmatisierung auf dem Berg La Verna (Mitte September 1224) Gott fragte: „Wer bist du, mein allermildester Gott? Was bin ich, verächtlicher Wurm und dein unnützer Knecht?" 9 In der unendlichen Herabsetzung des eigenen Ich gegenüber Gott liegt (paradoxer Weise!) zugleich die Erhebung zur Glorie Gottes. Denn die genannte paradoxe Koinzidenz trifft in Gott zu, dessen tiefste Erniedrigung am Kreuz zugleich seine Erhebung zur höchsten Herrlichkeit ist. Ignatius war, allerdings auf seine originelle Weise, von dieser franziskanischen Vorstellung geprägt, wie wir im folgenden noch deutlicher sehen werden. Im fünften Punkt der zweiten Übung wird dem Exerzitanten ein lautstarker Ausruf der Verwunderung „mit einer gewaltigen Gemütsbewegung"

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V. Die Exerzitien

(cum ingenti affectu) empfohlen. Diese Verwunderung gilt allen Geschöpfen Gottes: wie sie es fertig brachten, mich am Leben zu lassen; die Engel, Schwert der Gerechtigkeit Gottes, wie sie mich ertragen, mich beschützt und für mich gebetet haben; die Heiligen, wie sie für mich eingetreten sind und gebetet haben; die Himmelserscheinungen, die Elemente, Früchte, Tiere, schließlich „die Erde, wie sie sich nicht geöffnet hat, um mich zu verschlingen, indem sie neue Höllen schuf, um mich in Ewigkeit darin zu quälen". 10 Die dritte Übung der ersten Woche besteht in einer Wiederholung der ersten und der zweiten. Es schließen sich drei Colloquia an. Das erste richtet sich „an Unsere Herrin", damit sie mir zu einer dreifachen Gnade von Seiten ihres Sohnes verhilft: erstens, daß ich die innere Erkenntnis meiner Sünden und ihre Verachtung verspüre; zweitens, daß ich die Unordnung meiner Handlungen verspüre, Abscheu davor empfinde, mit dem Ziel, mich zu bessern und mich in Ordnung zu bringen; drittens soll ich um die Erkenntnis der Welt bitten, damit ich sie verabscheue und die weltlichen, nichtigen Dinge von mir entferne. Dieses Colloquium endet mit einem Ave Maria. Im zweiten Colloquium wird der Sohn Gottes um die Vermittlung der gleichen dreifachen Gnade beim Vater gebeten. Es schließt sich das Anima Christi an. Dieses meditative Gebet, das lange für ein Werk des Ignatius galt, wird hier zum ersten Mal erwähnt, später noch weitere drei Male.11 Wir werden in anderem Zusammenhang darauf zurückkommen. Das dritte Colloquium richtet sich an Gott Vater selbst mit den gleichen drei Bitten. Es schließt mit einem Pater noster.

Die

Höllenbetrachtung

Die vierte Übung ist eine Wiederholung der dritten. Die fünfte ist die berühmte Meditatio de Inferno, die Höllenbetrachtung. Als ich die ignatianischen Exerzitien in der Karwoche des Jahres 1955 zum ersten Mal machte, war davon überhaupt keine Rede. Bei meinen zweiten Exerzitien, im Herbst 1957, wurde darüber gelacht. Die verspätete, zweite Aufklärung des 20. Jahrhunderts hatte damals bereits weite Kreise des katholischen Klerus erreicht. Auch ansonsten fromme Priester waren innerlich überzeugt, daß Hölle und Teufel nichts weiter als nebensächliche Relikte mittelalterlichen Aberglaubens in einem im übrigen rational durchdachten philosophischtheologischen System (dem von den Jesuiten geprägten neoscholastischen!) wären. Natürlich ist das Gegenteil der Fall: Teufel und Hölle sind, ebenso wie der Ablaß, Haupt-Sachen der christlichen Religion, wie es Ignatius noch wußte und praktizierte. O b man heute daran glaubt oder wie man geistig damit umgeht, ist eine andere Frage - womit wir zur Höllenbetrachtung zurückkehren. Wie die vorangehenden hat auch die fünfte Übung zwei Praeambula und fünf Punkte. Nach dem vorbereitenden Gebet versetze ich mich in meiner Vorstellung (visu imaginationis) in die Hölle und betrachte ihre Länge, Brei-

Inhalt der geistlichen Übungen

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te, Tiefe. Im zweiten Praeambulum bitte ich um ein intensives Nachfühlen der Strafe der Verdammten, damit wenigstens die Furcht vor diesen Qualen, wenn schon nicht der Gedanke an Gottes ewige Liebe, mich vor der Sünde bewahre. Im ersten Punkt der Meditation selbst soll ich mir die ungeheueren Feuerbrände und die darin befindlichen Seelen plastisch vorstellen, so als ob sie sich in feurigen Körpern befänden. Sodann höre ich das Geheul der Verdammten und ihre Flüche gegen Christus und die Heiligen. Drittens nehme ich mit dem Geruchsinn den Qualm und Gestank der Hölle wahr. Viertens schmecke ich bittere Dinge, wie Tränen, Traurigkeit, den Wurm des schlechten Gewissens. Schließlich versuche ich, mit dem Tastsinn das Feuer zu berühren, in dessen Brand die Seelen leiden. Das abschließende Colloquium richtet sich an unseren Herrn Jesus Christus. In ihm werden die Ursachen für den Aufenthalt der Seelen in der Hölle erwogen: die einen glaubten nicht an die Ankunft Christi, die anderen glaubten zwar, handelten aber nicht nach seinen Geboten. Ich danke Christus, daß er mich nicht unter die verdammten Seelen fallen ließ, indem er mein Leben beendete, und daß er mich weiterhin in seinem Mitleid und seiner Barmherzigkeit erhält. Die Meditation schließt mit dem Pater noster. Man sieht: die Höllenbetrachtung dient nicht so sehr der Bewegung emotionaler Seelenkräfte, wie Gemüt und Willen, sie nimmt vielmehr die (fünf) körperlichen Sinne, allerdings über die Vorstellungskraft (Phantasie), in Anspruch. Das Ziel ist die Erregung von Widerwillen, Abscheu vor der Sünde und Angst vor der entsetzlichen, ewigen Strafe. Die Exerzitien enthalten für die erste Woche nur diese fünf Meditationen. Ignatius hat also wohl vorgesehen, daß sie über einige Tage hin (von Mitternacht bis zum Abendessen) wiederholt werden. Die psychischen Folgen für den, der sich diesem spirituellen Terror unterzieht, muß man nicht eigens ausmalen. Ignatius sattelt in den schon erwähnten Additiones (Zusätzen), in denen er unter anderem konkrete Regeln für das Verhalten während der ersten Woche gibt, gewissermaßen noch eins drauf, zum Beispiel: Die sechste: Nicht an angenehme und frohe Dinge denken wollen, wie an Herrlichkeit, Auferstehung usw., weil jegliche Betrachtung von Lust und Freude die Empfindung für Strafe, Schmerz und die Tränen über unsere Sünden behindert; vielmehr nehme ich mir vor, Schmerz und Pein zu empfinden, indem ich vor allem Tod und Gericht in mein Gedächtnis rufe. Die siebente: Mich jeglicher Helligkeit berauben zum Erreichen derselben Wirkung, indem ich die Fenster und Türen schließe in der Zeit, in der ich in dem Zimmer bin, außer wenn ich [das Offizium] rezitieren, lesen oder das Essen einnehmen will. Die achte: Nicht lachen, auch nichts sagen, was Lachen hervorrufen könnte.

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V. Die Exerzitien

Als zusätzliche Bußübungen empfiehlt Ignatius Fasten und Schlafentzug, und zwar in der Weise, daß nicht nur die überflüssige Nahrung reduziert und die überflüssige Zeit des Schlafens gekürzt wird, sondern darüber hinaus von dem zuträglichen Maß ein Entzug stattfindet, „je mehr und mehr, umso besser, sofern nur der Betreffende sich keinen erheblichen Schaden zuzieht und eine schwere Krankheit daraus folgt". Außerdem sollen „dem Fleisch" spürbare Schmerzen zugefügt werden, indem man Bußgürtel, Stricke oder eiserne Marterinstrumente auf der Haut trägt, sich geißelt oder verletzt oder sonstige Unannehmlichkeiten zufügt.12 Das alles ist nichts anderes als der bewußt herbeigeführte Vorgeschmack der Hölle - mit dem Ziel, der Hölle zu entgehen. Schon ein einziger dieser Masochismen kann zu schweren Beeinträchtigungen der Funktion des Gehirns führen; zum Beispiel der Schlafentzug. (Wenn die mittelalterlichen Cistercienser um zwei Uhr nachts mit dem Wechselgesang der Hören begannen, sahen sie, wie in der Mitte des Chores die Dämonen ihre Tänze veranstalteten.) Insgesamt sind die von Ignatius empfohlenen emotionalen und physischen Marterinstrumente dazu geeignet, nicht nur eine virtuelle oder vorgeahnte Hölle herbeizuführen, sondern schwere Störungen psychotischer Natur anzurichten. Psychologie des Teufels In der Höllenbetrachtung werden vor allem die Sinne und das körperliche Empfinden mobilisiert. Am Ende der Exerzitien gibt Ignatius Regeln, um „die verschiedenen Bewegungen" in der Seele (span.: las varias mociones; lat.: diversi spiritus) zu erkennen, damit man die guten aufnehmen, die bösen vertreiben kann. Verursacher der bösen Regungen ist „der Feind" (el enemigo) oder „der Feind der menschlichen Natur" (el enemigo de natura humana), das heißt: der Teufel. Der ignatianische Teufel entfaltet seine Tätigkeit innerhalb der menschlichen Seele, wo er erkannt werden muß. Um diese Erkenntnis zu erleichtern, beschreibt Ignatius das Verhalten des „Feindes" mit Hilfe von drei Gleichnissen; sie sind in der zwölften bis vierzehnten seiner Regeln enthalten.13 In den erhaltenen Schriften des Ignatius sind es die einzigen ausführlichen Gleichnisse - weshalb sie auch in literarischer Hinsicht von Bedeutung sind. Die zwölfte [Regel]. Der Feind verhält sich wie ein Weib (como muger), indem er schwach gegenüber Stärke und stark gegenüber Nachgiebigkeit ist. Denn wie es dem Weib eigen ist, im Streit mit einem Mann zu verlieren und die Flucht zu ergreifen, wenn der Mann ihm die Stirn bietet; im entgegengesetzten Fall aber, wenn der Mann beginnt, die Flucht zu ergreifen und den Mut verliert, Wut, Rachsucht und Wildheit des Weibes sich steigern, und das ohne jedes Maß, auf die gleiche Weise ist es dem Feind eigen, schwach zu werden und den Mut zu verlieren, indem er seine Versuchungen unterläßt, sobald die Person, die sich in den geistlichen Dingen übt, den Versuchungen des Feindes entschlossen wider-

Inhalt der geistlichen Übungen

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steht, indem sie das genaue Gegenteil tut. Wenn jedoch die Person, die sich einübt, anfängt Angst zu haben und den Mut zu verlieren, sobald sie Versuchungen zu erleiden hat, dann gibt es auf der ganzen Welt kein so wildes Biest wie den Feind der menschlichen Natur, wenn er seine üble Absicht mit einer solch ausgewachsenen Bosheit verfolgt. Wesen und Vorgehensweise des „Feindes der menschlichen Natur" werden hier mit Charakter und Taktik einer herrschsüchtigen Ehefrau bei der Verfolgung ihrer Ziele verglichen. Das Gleichnis ist formal exakt durchgeführt mit „wie ... so" (asi como ... de la misma manera). Die sprachliche Qualität des Textes kommt nur in dem spanischen Original voll zur Geltung. 14 Was den Inhalt betrifft, so geht es um die Gegenüberstellung von Wesenszügen. Allerdings soll dem Exerzitanten auch das Vorgehen des Teufels erläutert und verdeutlicht werden. Denn das Ziel ist ja, daß er sich dagegen zur Wehr setzen kann. Merkwürdig ist, wie hier eine (negative) Seelenkraft, die vom rechten Wege abführende Versuchung, zu einer geistigen Person hypostasiert wird. Der aus den Tiefen des Unterbewußtseins aufsteigende Dämon wird zu einem realen Gegenüber, mit dem das Ich seine Kämpfe austrägt und den es seinerseits zu überlisten sucht. Auch das zweite ausführliche Gleichnis dient der Entlarvung von Charakter und Taktik des Teufels. Diesmal wird er mit einem üblen Galan, einem Verführer in der Art des Don Juan verglichen.15 Die dreizehnte [Regel]. Desgleichen verhält er sich wie ein nichtswürdiger Liebhaber (como vano enamorado), der verborgen sein möchte und nicht entdeckt werden will. Denn wie so ein Taugenichts, der sich mit listigen Worten an die Tochter eines guten Vaters oder die Frau eines guten Gatten heranmacht, bestrebt ist, daß seine Worte und Überredungskünste geheim bleiben, und das Gegenteil ihm sehr mißfällt, wenn nämlich die Tochter dem Vater oder die Frau dem Gatten seine nichtswürdigen Worte und seine verdorbene Absicht enthüllt: dann begreift er leicht, daß er sein Vorhaben nicht mehr ausführen kann; ebenso will und wünscht der Feind der menschlichen Natur, wenn er der gerechten Seele seine arglistigen Absichten und Überredungskünste vorführt, daß sie im geheimen aufgenommen und gehalten werden. Wenn die Seele sie jedoch ihrem guten Beichtvater oder einer anderen geistlichen Person enthüllt, die seine Verführungskünste und Bosheiten kennt, so verdrießt ihn das sehr; denn er sieht ein, daß er mit seiner angefangenen Bosheit nichts ausrichten kann, da nämlich seine eindeutigen Verführungskünste nunmehr aufgedeckt sind. Nach dem herrschsüchtigen Weib und dem erfolglosen Galan erläutert Ignatius in einem dritten Gleichnis die Taktik des Satans am Vorgehen eines Kriegsherrn oder Condottiere, der sich anschickt, eine Festung zu erobern. 16 Die vierzehnte [Regel]. Desgleichen verhält er sich wie ein Kriegsherr (como un caudillo), wenn er das, was er haben will, besiegt und plündert. Denn wie ein Hauptmann oder Feldherr, wenn er sein Lager aufschlägt und die Verteidi-

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V. Die Exerzitien gungskraft oder den Zustand einer Festung in Augenschein nimmt, sie an der schwächsten Stelle angreift, auf die gleiche Weise dreht der Feind der menschlichen Natur seine Runden und nimmt von allen Seiten unsere theologischen, kardinalen und moralischen Tugenden in Augenschein, und wo er uns schwächer und anfälliger in Bezug auf unser ewiges Heil antrifft, dort schlägt er uns und versucht uns zu überwältigen.

Die zweite Woche: Leben Christi und persönliche

Lebensentscheidung

Die zweite Woche der geistlichen Übungen ist der Meditation zentraler Mysterien des Lebens Christi gewidmet. Das hauptsächliche Ziel ist, den Exerzitanten zu einer Wahl (electio), einer Entscheidung bezüglich seines eigenen Lebens zu führen, falls er eine solche Wahl nicht schon vorher getroffen hat. Am Beginn steht eine Art vorbereitender Betrachtung, mit der bereits das Ziel der electio anvisiert wird. Es ist eine gleichnisartige Vorstellung, die mitten in die Welt des mittelalterlichen Rittertums hineinführt. Davor aber soll sich der Exerzitant in den Praeambula mit seiner Vorstellungskraft (span. con la vista ymaginativa; lat. visu imaginationis) vor Augen führen, daß es um den Ruf Christi geht, der durch Synagogen, Städte und Dörfer (die Orte des Heiligen Landes!) zog, um zu predigen. Christus selbst wird dann um die Gnade gebeten, „daß ich seiner Berufung gegenüber nicht taub sei, sondern bereitwillig und sorgsam, um seinen heiligsten Willen zu befolgen". Ignatius sieht in dieser Meditation eine Leitbetrachtung, so etwas wie den roten Faden der ersten Woche, denn sie soll zweimal täglich, und zwar gleich in der Frühe nach dem Aufstehen und eine Stunde vor dem Mittag- oder dem Abendessen wiederholt werden.17 Im ersten Punkt stelle ich mir einen König vor, der von Gott selbst eingesetzt ist und dem alle Fürsten und die gesamte Christenheit gehorchen. Im zweiten Punkt hört der Betrachter eine Ansprache dieses Königs an seine Gefolgsleute, in der er ihnen den Plan der Unterwerfung des gesamten Gebiets der Ungläubigen mitteilt. Wer sich mit ihm auf diesen Feldzug begeben will, der muß mit dem einfachen Unterhalt zufrieden sein, den er unterwegs bietet. Wenn er am Sieg Anteil haben will, dann muß er sich mit seinem König auch den Plagen unterziehen. Es ist von großer Bedeutung für Spiritualität und Theologie des Ignatius, daß hier die Nachfolge Christi unter der bildhaften Vorstellung des Kreuzzugs dem Betrachter tief eingeprägt werden soll - worauf allein schon die häufige Wiederholung der Meditation schließen läßt. Ignatius will dem Exerzitanten einhämmern: Was Christus von dir erwartet, ist seine Nachfolge in der Teilnahme an einem (spirituellen) Kreuzzug. Im dritten Punkt ist dann zu erwägen, welche Antwort gute Untertanen einem so edlen und liebenswürdigen König schuldig sind. Wer sich dagegen seinem Anliegen verschließen würde, der verdiente jedermanns Tadel und müßte für einen falschen, degenerierten Ritter (span. perverso caballero, lat.

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Inhalt der geistlichen Übungen

perversus eques) angesehen werden. Im zweiten Teil der Übung sollen dann die Betrachtungen über den weltlichen König auf Christus übertragen werden, für den die vorher angestellten Überlegungen umso mehr (span. quándo es cosa más digna de consideración; lat. quanto magis) gelten. Erstens: Christus ruft die gesamte Welt und jeden einzelnen in einen Kampf, in dem er die Welt und seine Feinde unterwerfen will, um schließlich in die Glorie seines Vaters zu gelangen. Wer ihm dahin folgen will, muß auch seine Mühen auf sich nehmen. Zweitens: alle Menschen, die Verstand und Urteilskraft haben, müssen sich für das Anliegen Christi zur Verfügung stellen. Drittens: wer sich darüber hinaus in besonderer Weise im Dienst des ewigen Königs und universalen Herrn bewähren will, der darf sich nicht nur zur mühevollen Arbeit anbieten, sondern er muß noch einiges mehr tun: nämlich gegen seine eigene Sinnlichkeit und gegen seine fleischliche und weltliche Liebe vorgehen. Dieses Angebot wird in einem Gebet an Gott selbst zusammengefaßt. Als geistliche Lesung für die erste Woche empfiehlt Ignatius die „Nachfolge Christi", die Evangelien und die Heiligenleben, also das, was ihm selbst an religiöser Lektüre bis zum Aufenthalt in Manresa bekannt war und wodurch er sein „geistliches Leben" gefördert sah. Inkarnation:

Nazareth, Provinz

Galiläa

Nach dieser Leit-Meditation folgen die Betrachtungen über das „Leben Christi", das aber nicht als Biographie im modernen Sinne, sondern als Vita in religiösem und theologischem Sinn zu verstehen ist. Gegenstand der ersten Betrachtung des ersten Tages ist die Inkarnation, das heißt, die Rettung der Menschheit durch die Menschwerdung des Sohnes Gottes. Drei Praeambula bereiten die eigentliche Meditation vor. Zunächst soll „die Geschichte des Betrachtungsgegenstands" (span. la historia de la cosa que tengo de contemplar; lat. historia eius rei quam contemplare debeo) vorgestellt werden, im konkreten Fall, wie sich die göttlichen Personen die gesamte Welt und die Menschheit ansahen, und wie sie sahen, daß alle zur Hölle hinabstiegen, da traf die heiligste Trinität in ihrer Ewigkeit den Beschluß, „daß die zweite Person Mensch würde, zur Rettung des Menschengeschlechts". Der Beginn der zeitlichen Umsetzung dieses ewigen Plans ist die Sendung des Engels Gabriel zu Unserer Herrin. Ignatius stellt hier meditativ, nicht spekulativ, die Verbindung von Ewigkeit und Zeit her: die Vermittlung der ewigen Gedanken Gottes erfolgt in der Verkündigungsszene, also durch die Jungfrau Maria. Aber auch in der zweiten Woche der Exerzitien bleibt die Hölle präsent, und mit ihr die mönchische Obsession von der massa damnata des gesamten Menschengeschlechts, die seit den Tagen des heiligen Augustinus wie ein düsterer Angsttraum das Leben der Christen überschattet.18 Nach dieser Vorstellung hat sich der erste Mensch mit einem rätselhaften, ungeheuerlichen Verbrechen von Gott abgewandt und wurde dafür samt seiner Nachkommenschaft mit der ewigen Ver-

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V. Die Exerzitien

dammnis bestraft. Diesem Schicksal können nur einige wenige, allein aufgrund der Barmherzigkeit Gottes, entgehen. Das westliche Mönchtum hat allerdings niemals eine rein passive Auffassung von dem Weg des Heils gehabt, sondern eine aktive und mühevolle Mitwirkung am Werk Gottes für notwendig gehalten. Bei Ignatius erfährt der eigene, menschliche Anteil am Heilswerk noch eine Steigerung, wie allein schon der Begriff der Exerzitien, sodann deren Methode und Inhalt zeigen. Im zweiten Praeambulum der ersten Betrachtung wird der Ort vorgestellt: Der Blick geht von der Weite der Welt, auf der viele verschiedene Völker wohnen, auf das kleine Haus und die Wohnung Unserer Lieben Frau in der Stadt Nazareth, Provinz Galiläa. Das dritte Praeambulum besteht in dem Gebet um das, was ich mit der Meditation erreichen will:19 Das ist hier, um die innere Erkenntnis des Herrn bitten, der für mich Mensch geworden ist, damit ich ihn mehr liebe und ihm nachfolge. Zum ersten Mal wird hier klar die Bedeutung eines Mysteriums der Vita Christi für den Betrachter, das pro me, ausgesprochen. Es ist für das Denken des Ignatius wichtig und charakteristisch, daß das gesamte Erlösungswerk Christi - Inkarnation, Passion, Auferstehung - als „Veranstaltung" für mich gesehen wird. Der Jesuitengeneral JOHANN PHILIPP R O O T H A A N ( 1 7 8 3 - 1 8 5 3 ) bemerkt in seinem Kommentar zu dieser Stelle zutreffend: „Man muß sorgsam beachten, welches die doppelte Gnade ist, die zu erbitten wir in diesem dritten Praeambulum gelehrt werden. Es ist nämlich die gleiche Bitte, die für alle Mysterien dieser zweiten Woche vorgeschrieben wird: nämlich daß wir in innerster Weise den Herrn Jesus erkennen mögen und ihn mehr lieben und nachahmen. Die innerste Erkenntnis Jesu Christi sowie seine Liebe und Nachfolge ist das eigentliche Ziel der ganzen ersten Woche, und das ist die Frucht, die in allen diesen Mysterien zu suchen ist." Die nun folgende eigentliche Meditation in drei Punkten ist nichts anderes als die ausführliche Rekapitulation der beiden ersten Praeambula. Im ersten Punkt sehe ich drei verschiedene Gruppen von Personen: zunächst die Vielzahl der verschiedenen Menschen auf der Erde: weiße, schwarze, solche, die im Frieden, andere, die im Krieg leben, weinende, lachende, gesunde, kranke, solche, die geboren werden, andere, die sterben; danach stelle ich mir die drei göttlichen Personen vor, die von ihrem Thron aus die gesamte Erde und alle Völker in ihrer Blindheit betrachten, „wie sie sterben und zur Hölle hinabsteigen"; schließlich stelle ich meinem geistigen Auge die Szene der Verkündigung mit Unserer Lieben Frau und dem Engel vor, das heißt: den Beginn der Erlösung; aus diesem Anblick suche ich eine Frucht, einen geistlichen Gewinn für mich zu erlangen. Im zweiten Punkt der Meditation wird der Hörsinn angesprochen: Ich höre die Gespräche der im vorigen genannten Personengruppen: die der Menschen, „wie sie sich unterhalten, wie sie schwören und fluchen"; sodann

Inhalt der geistlichen Übungen

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wie die göttlichen Personen den Erlösungsplan besprechen; schließlich den Dialog zwischen dem Engel und Unserer Herrin. Wie im ersten und im folgenden Punkt soll überlegt werden, wie ich für mich einen Gewinn aus der Betrachtung erzielen kann. Der dritte Punkt gilt der Meditation über die Tätigkeiten der erwähnten Personengruppen: die Menschen auf der Erde befehden sich, bringen sich gegenseitig um, fahren fahren zur Hölle (ir al infierno; et omnes ruant ad inferos), die göttlichen Personen führen das Werk der Erlösung aus; der Engel verkündet seinen Auftrag, während Unsere Herrin in Demut davon Kenntnis nimmt und der göttlichen Majestät Dank sagt. - Der Bericht des Lukasevangeliums weiß von dieser Danksagung nichts (vgl. Lk 1,34); es handelt sich also um eine Zutat aus dem Bereich der Phantasie, die Ignatius an dieser wie an anderen Stellen durchaus für erlaubt hält, ja es entspricht der Methodik seiner Exerzitien, die der sinnlichen Imagination eine zentrale Bedeutung zumißt. Das abschließende Colloquium soll sich in geziemenden Worten sowohl an die Personen der göttlichen Trinität als auch an das ewige Wort, das soeben Fleisch geworden ist, und seine Mutter wenden. Dabei bete ich, im Blick auf mein inneres Gefühl, um das, was für die Nachfolge Christi am zuträglichsten ist.20 Geburt

Christi:

Bethlehem

Die zweite Meditation der zweiten Woche hat die Geburt Christi zum Gegenstand. Im ersten Praeambulum wird wieder die äußere Geschichte vorgestellt:21 Und die wird hier sein, wie Unsere Liebe Frau, schon fast neun Monate schwanger, wie man sich in frommer Betrachtung vorstellen kann (como se puede meditar piamente), auf einer Eselin sitzend, und Josef und eine Magd mit einem Ochsen von Nazareth aufbrechen, um nach Bethlehem zu ziehen und dort die Steuer zu bezahlen, die der Kaiser in allen diesen Gebieten erhob.

Wie man sieht, beruht auch hier die von Ignatius wiedergegebene Geschichte nicht allein auf dem Text der Evangelien, sondern sie enthält legendarische Züge. Esel und Ochs kommen sowohl in der Legenda aurea des Jacobus a Voragine als auch in der Vita Christi des Ludolf von Sachsen vor: der Esel als Reittier für Maria; der Ochse, so vermuten beide, wurde von Josef mitgeführt, um ihn zu verkaufen und aus dem Erlös die Steuer und den Lebensunterhalt zu bestreiten.22 Im zweiten Praeambulum sollen mittels der Vorstellungskraft (con la vista ymaginativa) zwei Orte betrachtet werden: der Weg von Nazareth nach Bethlehem in seiner Länge und Beschwerlichkeit durch Täler und Schluchten; dann „der Ort oder die Höhle der Geburt" in ihren räumlichen Eigenschaf-

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V. Die Exerzitien

ten und ihrer Ausstattung. Das dritte Praeambulum ist mit dem entsprechenden der ersten Meditation identisch: „innere Erkenntnis des Herrn" und des Zieles der Inkarnation „für mich" (por my). Die Kenntnis von der „Höhle der Geburt" in Bethlehem wird Ignatius spätestens seit seiner Pilgerfahrt ins Heilige Land gehabt haben, denn das Lukas-Evangelium (2,7) spricht nur von einer Krippe. Wie bereits angedeutet, sind die Zutaten aus den Bereichen der Legende und der Phantasie integraler Bestandteil der ignatianischen Meditationstechnik. Diese Haltung gegenüber dem in der Heiligen Schrift tradierten Glaubensgut entspricht der Frömmigkeit der mittelalterlichen Christianitas. (Sie von dem Standpunkt der Reformation des 16. Jahrhunderts oder dem der historisch-kritischen Bibelwissenschaft des 20. Jahrhunderts aus zu kritisieren, wäre in jeder Hinsicht unsachgemäß). Anders als bei den meisten mittelalterlichen Mystikern kommt es Ignatius jedoch nicht nur auf eine Erhebung der Seele (Ekstase) in den transzendenten Bereich an, sondern ebenso auf ein „Herabholen" der heiligen Personen und Erscheinungen in den Bereich der körperlichen Sinne. Das kann man in aller Deutlichkeit bei der fünften Betrachtung erkennen, in der die fünf Sinne auf die erste (Inkarnation) und zweite (Geburt) Betrachtung angewendet werden sollen, mit anderen Worten: die in diesen Meditationen gewonnenen Erkenntnisse sollen sinnlich verkostet werden. Die (virtuellen) Personen werden noch einmal mit Hilfe der Vorstellungskraft dem Gesichtssinn vorgestellt; ihre tatsächlichen (d.h., schriftlich überlieferten) und möglichen Gespräche werden angehört. Besonders deutlich wird das erwähnte „Herabholen" in der Applikation des Geruchs- und des Geschmackssinnes an die Gottheit:23 Riechen und Schmecken mit dem Geruchs- und Geschmackssinn den unendlich angenehmen Duft und die Süßigkeit der Gottheit, der Seele, ihrer Tugenden und der anderen Dinge, entsprechend dem Wesen der Person, die wir betrachten; sodann auf mich selbst besinnen und einen Nutzen daraus ziehen. Der Tastsinn schließlich wird durch imaginäres Umarmen und Küssen der Orte, an denen die heiligen Personen gesessen oder ihre Spuren hinterlassen haben, aktiviert. Für die folgenden Tage gibt Ignatius Anweisung, wie mit der fortschreitenden Meditation der Stationen des Lebens Jesu ein positiver Einfluß auf den persönlichen Seelenzustand zu nehmen ist. Am Leitfaden des Lebens Jesu wird auch das Ziel der zweiten Woche, die zu ergreifende Wahl, vorbereitet. Am dritten Tag ist eine Betrachtung über die beiden „Stände", das heißt, die prinzipiellen Formen des christlichen Lebens, angesetzt.24 Der erste Stand ist der am Gehorsam gegenüber den Geboten ausgerichtete; für ihn hat Christus das Vorbild gegeben, als er seinen Eltern gehorsam war. Der zweite Stand ist derjenige der „evangelischen Vollkommenheit"; ihn hat Christus gemeint, als er im Tempel zu Jerusalem blieb und seinen Adoptivvater und

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seine natürliche Mutter verließ, „um frei zu sein für den Dienst seines ewigen Vaters" (Lk 2,43).25 In der Betrachtung des Lebens Christi sollen wir herauszubekommen suchen, in welchem dieser beiden Stände die göttliche Majestät unseren Dienst beanspruchen will. Die Standeswahl ist aber nur die Vorbereitung für eine viel wichtigere Entscheidung. Sie ist bedingt durch die Tatsache, daß sich, in der kosmischen oder transzendenten Dimension, zwei Gegensätze gegenüberstehen: die Absichten Christi und die „des Feindes der menschlichen Natur". Entscheidung in einem spirituellen Krieg Nach Auffassung des Ignatius ist die von dem Exerzitanten zu treffende Wahl nicht allein eine Entscheidung, die sein individuelles Leben betrifft, sondern sie hat Bedeutung für das Schicksal der Welt, das in dem Krieg zwischen Christus und Lucifer entschieden wird. Um dies dem geistlichen Schüler vorzuführen und einzuprägen, versetzt ihn Ignatius am vierten Tag der zweiten Woche auf ein imaginäres Schlachtfeld von apokalyptischen Dimensionen. In der „Meditation über zwei Banner" (meditación de dos banderas; meditatio de duobus vexillis) wird in der Tat das Szenario der endgültigen Entscheidungsschlacht zwischen Christus und Satan aufgebaut.26 Allerdings kommt es, im Unterschied zu den Schilderungen der Johannes-Apokalypse, bei Ignatius nur zu einer Aufstellung der beiden gegnerischen Heere, (noch) nicht zur Schlacht. Christus einerseits und Lucifer andererseits rufen die Menschen dazu auf, sich unter ihren Fahnen zu versammeln. Christus, der als summo capitán general, als oberster Befehlshaber, vorgestellt wird, versammelt sein Heer auf einem großen Feld in der Nähe von Jerusalem; der caudillo de los enemigos, der Heerführer der Feinde, stellt seine Truppen auf einem Feld bei Babylon auf: diese äußeren Umstände sind Gegenstand der beiden ersten Praeambula der Betrachtung. Im dritten Praeambulum bitte ich um das hier angestrebte Ziel: die Listen des bösen Feindes zu durchschauen und Hilfe zu erlangen, um mich vor ihnen zu hüten; weiterhin Erkenntnis des wahren Lebens (conoscimiento de la vida verdadera), das der oberste und wahre Befehlshaber (el summo e verdadero capitán) zeigt, und die Gnade, ihn nachzuahmen. Bemerkenswert ist bereits hier in den Vorübungen, aber auch in der nachfolgenden Meditation, die Atmosphäre, die Ignatius erzeugen will und in die der Betrachter hineingezogen wird: es weht sowohl der Schwefeldampf des (zukünftigen) apokalyptischen Endkampfes als auch der Geist der (vergangenen) Kreuzzüge. Die eigentliche Betrachtung hat diesmal zwei Teile mit je drei Punkten. Im ersten Teil bewegt sich der Geist des Betrachters von fantastischen Vorstellungen der Erscheinung und Aktivität des bösen caudillo (er sitzt als Schrekkensgestalt auf einem feurigen, qualmenden Thron und sendet unzählige Dämonen in die ganze Welt zu allen Menschen aus) zur Erkenntnis der Methode

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V. Die Exerzitien

seiner Verführung in drei Stufen: dem Erzeugen der Gier nach Reichtum, der Sucht nach weltlicher Ehre, dem Hochmut; diese drei Stufen bilden dann die Grundlagen und Ausgangspunkte für alle übrigen Laster. Dem gegenüber ist im zweiten Teil der Meditation der wahre Feldherr Christus vorzustellen, wie er in der Nähe von Jerusalem an einem zwar unscheinbaren, aber schönen und lieblichen Ort sitzt (en lugar humilde, hermoso y gracioso). Der Herr der Welt erwählt seine Apostel, Jünger und zahlreiche andere Menschen,, die er aussendet, um in der ganzen Welt seine heilige Lehre zu verkünden. Schließlich höre ich (in diesem dritten Punkt der Meditation) einer Rede Christi zu, die den Absichten Lucifers diametral entgegengesetzt ist: Christus ruft seine Diener und Freunde dazu auf, den Menschen beim Erreichen der drei Stufen der Vollkommenheit zu helfen, nämlich (1) der geistlichen Armut und, wenn sie dazu bestimmt und erwählt sind, der tatsächlichen Armut, (2) dem Wunsch nach Schmähung und Verachtung, aus dem (3) die Tugend der Demut entsteht, die der stärkste Gegensatz zum Hochmut ist. Von den drei an die Betrachtung sich anschließenden Colloquia wendet sich das erste an Unsere Herrin, die bei ihrem Sohn um Aufnahme des Exerzitanten unter sein Banner und um Ausharren unter demselben bitten soll, ferner um die geistliche oder tatsächliche Armut, schließlich um die Kraft zur Nachahmung Christi im Erleiden von Schmach und Unrecht. Das Gespräch endet mit einem Ave Maria. Das zweite Colloquium wendet sich in den gleichen Anliegen an Christus und wird mit dem Beten des Anima Christi abgeschlossen. Das dritte Colloquium ist an Gott Vater gerichtet, mit den gleichen Anliegen. Das abschließende Gebet ist ein Pater noster. In dieser Meditation, für die Ignatius zwei Wiederholungen vorsieht, klingt schon das Grundthema der dritten Woche an: die Nachfolge Christi besteht vor allem in dem geduldigen Ertragen von Schmähungen und Unrecht (en pasar opprobrios y iniurias, por más en ellas le ymitar),27 ist also wesentlich eine Nachfolge des leidenden (und sterbenden) Christus. Darauf verweist auch das Anima Christi, dessen Beten hier zum zweiten Mal in den Exerzitien empfohlen wird.28 In der gleichnisartigen Meditation über die drei Klassen oder Gruppen von Menschen (tres binarios de hombres), die Ignatius für den gleichen vierten Tag vorgesehen hat, geht es darum, wie man mit 10000 Dukaten umgeht, die man auf nicht ganz saubere Weise erworben hat.29 Ohne auf eine Interpretation dieser Betrachtung näher einzugehen, sollen nur zwei wesentliche Gesichtspunkte hervorgehoben werden: 1. es geht um mich selbst (será aquí ver a my mismo: 2. Praeambulum), das heißt: ich bin derjenige, der mit Gott ins Reine kommen und seine Seele retten muß; 2. es kommt letztlich nicht darauf an, ob man die 10000 Dukaten behält oder nicht; deshalb muß man jeglichen Affekt in dieser Hinsicht abtun (quitar el affecto); bei der anfallenden Entscheidung kommt es allein darauf an, was Gott den betreffenden Menschen (oder: mir!) in den Willen legt und was sie zum Dienst und zur Ehre Seiner Göttlichen Majestät für angemessen halten. Der Dienst Gottes,

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nicht mein eigenes Wunschdenken, hat also das einzige Kriterium zu sein bei der Entscheidung, was mit dem Geld geschehen soll. Die Meditation über die drei Menschenklassen ist sehr bedeutsam für die ignatianische Spiritualität, kommt doch in ihr eine Variante der Indifferenz zur Sprache: gleichmütiges Verhalten gegenüber irdischen Gütern und Ablegen jeglicher Gier nach Besitz. Das in der Betrachtung enthaltene Gleichnis ist aber auch wichtig für die Ethik des Ignatius. Wenn es um die individuelle Vollkommenheit und das Heil des einzelnen Menschen geht, betont er sonst ganz stark die Armut (wie man auch an der vorausgehenden Betrachtung sehen kann). Daß es hier um Gruppen geht, ist deshalb vielleicht nicht ganz zufällig. Könnte es auch sein Orden, die Gesellschaft Jesu, sein, der eine beträchtliche Summe nicht ganz „sauberen" Geldes in die Hände gefallen ist? Es ist nicht zu leugnen, daß Stellen wie diese ein gewisses Fundament für Vorwürfe hinsichtlich laxer oder zweideutiger Jesuiten-Moral oder des (von Jesuiten niemals ausdrücklich vertretenen) Grundsatzes: „Der Zweck heiligt die Mittel" bieten. Der Rest der zweiten Woche ist mit den Betrachtungen der in den Evangelien überlieferten Ereignisse des Lebens Jesu bis zum Palmsonntag ausgefüllt. Dabei bleibt es dem Exerzitanten überlassen, die „Woche" entweder auszudehnen oder abzukürzen.30 Alle diese Übungen sollen zu der am Ende dieser Woche zu treffenden Wahl hinführen. Um zu erläutern, worum es dabei geht, hat Ignatius noch mehrere Bemerkungen eingefügt. Dazu gehören die Ausführungen über die drei Arten der Demut. Es handelt sich dabei eigentlich um die drei möglichen Formen christlichen Lebens. Die erste ist absolut heilsnotwendig, denn sie besteht darin, nach dem Gesetz Gottes zu leben und jede Todsünde zu vermeiden, selbst wenn ich zur höchsten Machtstellung gelangen würde. Die Beschreibung der zweiten und vollkommeneren Art der Demut enthält wiederum den Gedanken der Indifferenz, ebenso aber auch die Forderung nach skrupulöser Vermeidung auch des kleinsten Vergehens:31 Wenn ich mich in solcher Verfassung befinde, daß ich nicht wünsche noch Neigung dazu habe, eher im Reichtum als in der Armut zu leben, eher Ehre als Schimpf zu begehren, mir eher ein langes Leben zu wünschen als ein kurzes, wenn dabei nur der Dienst unseres Herrgotts und das Heil meiner Seele in gleicher Weise erhalten bleiben; desgleichen, daß ich weder u m aller geschaffenen Dinge willen, noch deshalb, weil man mir sonst das Leben nähme, auch nur in Erwägung ziehe, eine läßliche Sünde zu begehen.

Die dritte Weise der Demut besteht in der radikalen Nachfolge des leidenden Christus:32 Wenn ich die beiden ersten [Weisen der D e m u t ] schon erworben habe und Dienst und Ehre der göttlichen Majestät gleich bleiben, ich dennoch, u m Chri-

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V. Die Exerzitien stus, unseren Herrn, nachzuahmen und mich ihm vollkommen anzugleichen, mit dem armen Christus eher Armut anstrebe und erwähle als Reichtum, Beschimpfungen mit dem mit Schmähungen überhäuften Christus eher als Ehren, und daß ich lieber um Christi willen, dem es ebenso erging, für dumm und verrückt gehalten werde als für weise und klug in dieser Welt.

Die Wahl wird noch durch weitere Vorbemerkungen, Regeln und Ratschläge vorbereitet. Besonders wichtig ist es, daß man immer den Zweck im Auge behält, weshalb wir geschaffen sind: Ehre Gottes und unser Heil. Alles übrige ist Mittel zum Erreichen dieses doppelten Ziels.33 Im übrigen ist zu unterscheiden zwischen endgültigen, unwiderruflichen Lebensentscheidungen und weniger bedeutenden, aber immer dem genannten Hauptziel dienenden Entscheidungen. Zu den ersteren gehört die (definitive) Wahl zwischen Ehe und geistlichem Stand. Es ist ferner wichtig, daß bei allen anstehenden Entscheidungen der Wille Gottes geschieht, der deshalb sorgfältig erforscht werden muß (discurriendo bien y fielmente con my entendimiento y eligiendo conforme su sanctíssima y beneplácita voluntad).34 Die letzte Anweisung, die Ignatius in diesem Zusammenhang erteilt, ist vielleicht die bemerkenswerteste. Sie gilt denjenigen, die über die wesentlichen Dinge ihrer Lebensgestaltung bereits eine Wahl getroffen haben, also in einem höheren kirchlichen Amt oder der Ehe definitiv gebunden sind und auch in geringeren Angelegenheiten keine Entscheidung treffen können oder wollen. Dieser Personenkreis soll sich um die Reform und Verbesserung seines gegenwärtigen Lebenszustands (para emendar y reformar la propria vita y estado) bemühen, im Blick auf das Ziel seiner Erschaffung und seines Lebens. Von daher kann zum Beispiel eine Entscheidung über die zukünftige Verwendung des Vermögens getroffen werden, wobei es vor allem darauf ankommt, sich von Eigenliebe und Suche nach dem eigenen Vorteil freizumachen. In dem Maße, wie das gelingt, geschieht auch der Fortschritt „in allen geistlichen Dingen" (en todas cosas spirituales).35 Die dritte Woche: Das Leiden

Christi

In der dritten Woche der Exerzitien geht es darum, das zu vertiefen, was schon in der zweiten Woche bei zahlreichen Gelegenheiten eingeübt wurde: das Eintauchen in das Leiden Christi mittels lebhafter Vorstellungen über Ort und nähere Umstände der Ereignisse, Verhalten und Gespräche der personen, sodann das intensive Miterleben und Miterleiden der Passion des Erlösers. In der ersten Meditation wird der Beginn des Leidensweges Jesu betrachtet. Der Anfang der Passion ist für Ignatius die Aussendung von zwei Jüngern von Bethanien nach Jerusalem, um die Vorbereitungen für das Abendmahl zu treffen. Er legt (im vierten Punkt der Betrachtung einen besonderen Nachdruck auf die Tatsache, daß Christus in seiner Menschheit (en la hu-

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manidad) leidet. Das gibt mir selbst, dem Betrachter, Anlaß, mit aller Kraft Schmerz und Trauer zu empfinden und zu weinen. 3 ' Ich erwäge in der Betrachtung, wie sich die Gottheit verbirgt; denn Christus könnte seine Feinde vernichten; statt dessen läßt er die Menschheit die grausamsten Qualen erdulden. Der zweite Tag ist der Betrachtung der Ereignisse vom Abendmahl bis zum Garten Gethsemani gewidmet. Im ersten Praeambulum der ersten Meditation führt sich der Exerzitant alle Einzelheiten des Verhaltens Christi vor Augen. Besonders eindrücklich ist das Gebet im Olgarten, bei dem der Herr „Schweiß wie Blutstropfen vergießt" (suda sudor como gotas de sangre).37 Das dritte Praeambulum markiert in aller Deutlichkeit das Ziel dieser Meditation und der gesamten dritten Woche: das intensive Mitleiden mit Christus, so als ob ich an seiner Stelle stünde:38 Das dritte [Praeambulum] ist die Bitte um das, was ich anstrebe. Das ist genau die Bitte um Anteilnahme an der Passion: Schmerz mit dem duldenden Christus, Niedergeschlagenheit mit dem niedergeschlagenen Christus, Tränen, innere Pein über die große Pein, die Christus für mich erlitt.

„Anima Christi" Um das Leiden Christi „für mich", das heißt: für mein endgültiges Seelenheil, geht es auch in dem Gebet Anima Christi, das Ignatius an vier Stellen der Exerzitien anführt,39 allerdings nicht hier in der dritten Woche - was aber sicher ein purer Zufall ist. Lange Zeit galt Ignatius selbst als der Verfasser des Gebetes. (Noch in dem Brevier und dem Missale der Zeit vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil ist der Text als „Aspirationes S. Ignatii ad sanctissimum Redemptorem" abgedruckt). Die rhythmischen und eingängigen Verse sind aber viel älter. Schon den Bollandisten war eine spätmittelalterliche Veröffentlichung, mit einem Ablaß des Papstes Bonifaz' IX. (1389-1404), bekannt.40 PEDRO DE LETURIA hat dann nachgewiesen, daß das Gebet in zahlreichen handschriftlichen und gedruckten Stundenbüchern enthalten war, allerdings mit einigen Textvarianten. Die wohl wichtigste von ihnen betrifft den heute geläufigen Vers 11: Et iube me venire ad te (Und heiße zu dir kommen mich). Die ältere Variante dazu lautet: Et pone me iuxta te (Und stelle dir zur Seite mich); auf kastilisch: Y ponme cerca de ti.4i Wie zuletzt BALTHASAR FISCHER dargelegt hat, kann kein Zweifel bestehen, daß Ignatius den Text in dieser Form gelesen und gebetet hat und daß ein Zusammenhang zu der in der Vision von La Storta (1537) gemachten Erfahrung des Heiligen besteht: „als der Vater mich zu dem Sohn stellte".'12 FISCHER übersetzt allerdings, wohl unter dem Einfluß der Paraphrase des Mystikers Angelus Silesius (1624-1677), den Vers falsch.43 Obwohl das Gebet die Merkmale franziskanischer Frömmigkeit trägt, ist doch schwer vorstellbar, daß der Verfasser um das Sitzen neben Jesus (in der himmlischen Herrlichkeit) bittet. Erst recht gilt

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V. Die Exerzitien

das für Ignatius, der nach seinen eigenen Worten darum gebetet hat, (mit Simon von Kyrene) neben den das Kreuz tragenden oder (mit Maria) neben den gekreuzigten Gottessohn gestellt, ihm in Leiden und Tod zugesellt zu werden.44 Bislang ältester bekannter Textzeuge des Anima Christi ist eine im Britischen Museum zu London aufbewahrte Handschrift aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts. Wie bereits erwähnt, ist die in dem Gebet zum Ausdruck kommende Betrachtungsweise des Leidens Christi und der individuellen Erlösung unverkennbar franziskanisch. In den ersten vier Versen wird der tote, in die einzelnen Teile seiner Person aufgelöste Christus angerufen. Da es vorrangig um die Rettung seiner Seele geht, wendet sich der fromme Beter zuerst an die Seele des Erlösers: (1) Anima Christi, sanctifica me: „Seele Christi, heilige mich." Der Seele Christi wird, nach ihrer Trennung vom Leib, die eigentlich heiligende Funktion zugeschrieben. Im Hintergrund dieser Auffassung steht die Verheißung des sterbenden Erlösers an den „guten" Räuber im Lukas-Evangelium (23,43): „Noch heute wirst du mit mir im Paradiese sein." Dieser Satz setzt bereits den Glauben an das individuelle Seelenheil voraus (der bei Lukas an die Stelle der Erwartung des Gottesreiches getreten ist). Nach altchristlicher Auffassung ist es die Seele des Erlösers, die bei ihrem „Abstieg in die Hölle" am Karsamstag die in der Unterwelt eingeschlossenen Seelen befreit. Ignatius hat für die Betrachtung von Kreuzabnahme und Begräbnis Jesu den sechsten Tag (den Samstag!) der dritten Woche vorgesehen. Der Abstieg Christi in die Unterwelt wird an dieser Stelle jedoch nicht erwähnt; statt dessen begleitet der Betrachter „Unsere Herrin" bis zu dem Haus, in das sie sich nach der Bestattung ihres Sohnes zurückzieht.45 Die Trennung von Leib und Seele des Erlösers bei dessen Tod am Kreuz und der Abstieg der Seele in die Hölle zur Errettung der „gerechten Seelen" ist Gegenstand des ersten Praeambulums der ersten Meditation der vierten Woche.46 (2) Corpus Christi, salva me: „Leib Christi, rette mich." Es ist ebenso der gekreuzigte, tote Leib wie der sakramentale Leib Christi gemeint. In dem mittelalterlichen, bis zu den so genannten Liturgiereformen im Gefolge des II. Vatikanischen Konzils gültigen Ordo Missae wurde dem Leib des Herrn in der bei dessen Darreichung und Verzehr gesprochenen Segensformel die Bewahrung der Seele zum ewigen Leben zugeschrieben.47 Sanguis Christi, inebria me: „Blut Christi, berausche mich." Die Verwendung des Verbums „berauschen" zeigt, daß auch hier vor allem an das sakramentale (kultische) Blut, den Wein, gedacht ist. Mit dem „Rausch" ist der ekstatische Zustand gemeint, in den der Betrachter entrückt wird. (4) Aqua lateris Christi, lava me: „Wasser der Seite Christi, wasche mich." In dem aus der Seite des toten Christus herausfließenden Wasser sah die Alte Kirche ein Symbol der Taufe. Das (für den Betrachter fortströmende) Wasser reinigt von Schuld. (5)Passio Christi, conforta me: „Leiden Christi, stärke mich." In der Passion Christi, die als tiefstes überhaupt denkbares Leiden

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verstanden wird, findet der Beter die Kraft zum Ertragen seines eigenen Leidens. (6-8) O bone Iesu exaudi me: Intra tua vulnera absconde me: Ne permittas me separari a te: „O guter Jesus, erhöre mich, Verbirg in deinen Wunden mich. Laß niemals von dir trennen mich." Hier kommt nun ein wesentliches Element franziskanischer Frömmigkeit zur Sprache. Der Betrachter gewinnt Anteil am Leiden Christi, indem er gewissermaßen in die Person des gekreuzigten Erlösers aufgenommen, in dessen Stigmata verborgen wird. Es handelt sich dabei nicht um eine geistige Stigmatisierung nach dem Vorbild der Alverna-Vision des Franziskus, aber doch um eine „untrennbare" Aufnahme in die Person des gekreuzigten Erlösers. Sie bietet Schutz vor der Hinterlist des bösen Feindes. (9) Ab hoste maligno defende me: „Vom bösen Feind bewahre mich." Der Angriff durch den Satan war für den mittelalterlichen Christen eine lebenslängliche Bedrohung, deren Gefährlichkeit am Ende des Lebens ihre höchste Steigerung erfuhr; deshalb: (10) In hora mortis meae voca me: „In meiner Todesstunde rufe mich." Ein geradezu ehrwürdiger Satz, wenn man bedenkt, daß viele Generationen frommer Christen ihn bei ihrem Tod auf den Lippen hatten. (11) Et pone me iuxta te: „Und stelle mich dann neben dich."48 Das Stehen neben dem Kreuz des leidenden und sterbenden Erlösers bedeutet das Miterleiden seines Todes und damit zugleich den Einzug mit ihm in seine Herrlichkeit, das heißt: die individuelle und ewige Erlösung, wie es in den beiden letzten Versen ausgesprochen ist: (12. 13) Ut cum sanctis tuis laudem te In saecula saeculorum. Amen: „Auf daß mit deinen Heiligen ich lobe dich Für alle Zeiten ewiglich. Amen." Die vierte

Woche:

Auferstehung

Am Beginn der ersten Betrachtung der vierten Woche rekapituliert Ignatius kurz das Ende des Leidens Christi mit Tod und Abstieg in die Unterwelt, um dann sogleich die Auferstehung Christi zu nennen. Fand bei dem Tod Christi die Trennung von Leib und Seele statt, so bedeutet die Auferstehung deren Wiedervereinigung. „In Leib und Seele" erschien der Auferstandene zuerst seiner Mutter,49 Daß der von den Toten auferstandene Erlöser vor allen anderen der Jungfrau Maria erscheint, ist für Ignatius von großer Wichtigkeit, obwohl es in keinem der vier Evangelien berichtet wird. In der Skizze einer Meditation „über die Auferstehung Christi unseres Herrn und über seine erste Erscheinung" unter den „Geheimnissen des Lebens Christi" schreibt

Zuerst erschien er seiner Mutter. Das steht zwar nicht in der Schrift, aber es gilt trotzdem als gesagt; denn sie sagt ja, er sei so vielen anderen erschienen. Die Schrift setzt nämlich voraus, daß wir Einsicht (entendimiento) haben, wie geschrieben steht: „Seid ihr noch immer ohne Einsicht?" [Mt 15,16],

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V. Die Exerzitien

Für Ignatius ist diese Erscheinung die erste von insgesamt dreizehn Selbstoffenbarungen des auferstandenen Christus. Die meisten von ihnen sind auch in den Evangelien überliefert. Andere, wie die zwölfte Erscheinung, in der sich Jesus dem Joseph von Arimathia zeigte, kennt Ignatius aus den Heiligenlegenden.51 oder der mittelalterlichen Tradition. Auch die Auffassung, daß Christus nach seiner Auferstehung zuerst seiner Mutter erschienen sei, hat er nicht selbst erfunden; sie war vielmehr in der Tradition geläufig. Schon im 13. Jahrhundert begegnet sie in dem weit verbreiteten Rationale divinorum officiorum des Wilhelm Durandus (ca. 1230-1296), einer Erklärung und Theologie der kirchlichen Riten. Der Verfasser weiß sehr wohl, daß nach den Evangelien der auferstandene Christus zuerst der Magdalena erschienen ist; dennoch ist dem die Glaubensauffassung vorzuziehen (verius tarnen creditur!), daß er seiner Mutter vor allen anderen erschien. Die Evangelisten haben darüber nichts gesagt, weil es ihre Aufgabe war, nur die glaubwürdigen Zeugen der Auferstehung anzuführen. Die Mutter Christi gehört nicht zu ihnen, da ja schon das Zeugnis der nicht mit Jesus verwandten Frauen nicht ernst genommen wurde (Lk 24,11).52 Die Auffassung, daß Christus nach seiner Auferstehung zuerst seiner Mutter erschienen sei, ist sodann in zwei Büchern enthalten, die zur frühesten geistlichen Lektüre des Ignatius gehörten: der Legenda aurea des Jacobus a Vorágine und der Vita Christi des Ludolf von Sachsen. Die Legenda aurea enthält in ihrem Osterkapitel zunächst die aus den Evangelien bekannte Darstellung, nach der Maria Magdalena den auferstandenen Christus als erste gesehen hatte. Dann aber wird als legitime Glaubensüberzeugung angeführt, daß die Jungfrau Maria vor allen anderen die erste war, der Christus erschien. Diese Auffassung werde von der Römischen Kirche gebilligt, indem sie den österlichen Stationsgottesdienst in Santa Maria Maggiore feiere. Für das Schweigen der Evangelisten führt der Verfasser den gleichen Grund an wie Durandus: die Mutter wäre für den Sohn keine geeignete Zeugin gewesen. Wenn die Evangelisten also das Ereignis nicht aufschreiben wollten, so haben sie es doch als feststehend übergangen (pro constanti reliquerunt), das heißt: es war für sie selbstverständlich, daß es stattgefunden hatte. Außerdem war es nur angemessen, daß die Mutter Christi sich als erste über die Auferstehung freuen sollte, denn es darf als sicher gelten, daß sie mehr als alle anderen über seinen Tod Schmerz und Trauer empfand.53 Noch deutlicher wird die besondere Rolle Mariens bei dem Tod und der Auferstehung ihres Sohne durch Ludolf von Sachsen hervorgehoben. In seinem Kapitel über den Karsamstag schreibt er, die Mutter Christi habe nach dem Tode ihres Sohnes die gewisseste Hoffnung auf seine Auferstehung niemals aufgegeben und in ihr allein habe der Glaube der Kirche am Karsamstag fortbestanden; deshalb sei auch der Samstag ihr Tag.54 Es folgt daraus die Angemessenheit, daß sie als erste durch die Begegnung mit dem Auferstandenen von ihrer Trauer befreit wurde. Die Begegnung selbst und das anschließende Gespräch Jesu mit seiner Mutter schildert Ludolf von Sachsen in

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den lebhaftesten Farben. (Jesus erzählt seiner Mutter, wie er sein Volk in der Unterwelt befreit hat und was er sonst noch in den vergangenen drei Tagen getan hat). Dadurch sollen Phantasie und Mitgefühl des Lesers und Beters angeregt werden, ganz so wie es dann auch Ignatius in seinen Exerzitien erreichen möchte. Für das Schweigen der Evangelisten über die erste Erscheinung führt Ludolf, unter Berufung auf die Heiligenlegende und mehrere Kirchenväter, die Gründe an, die wir bereits kennen.55 In den weiteren Praeambula der Osterbetrachtung der Exerzitien versetzt sich der Betrachter an die Orte des österlichen Geschehens: das heilige Grab und das Haus Unserer Lieben Frau. Er durchschreitet die Zimmer, stellt sich die Einrichtung vor Augen und bittet um intensive Teilhabe an Freude und Lebenslust des auferstandenen Herrn.56 In der Auferstehung zeigt sich die Gottheit, die während der Passion verborgen war, wieder auf wunderbare Weise in ihren Wirkungen, was im vierten Punkt der Ostermeditation betrachtet werden soll.57 Die Betrachtung

zur Erlangung

der

Liebe

Die Betrachtung zur Erlangung der Liebe ist, wie früher bereits erwähnt,58 spiritueller Höhepunkt und Ziel der Exerzitien. Um welche Liebe es geht, sagt Ignatius in zwei Vorbemerkungen: 1. Die Liebe äußert sich eher in Taten als in Worten; 2. die Liebe beruht auf gegenseitiger Mitteilung; der Liebende gibt dem Geliebten von dem, was er hat oder vermag, und umgekehrt; hat er Wissen, so teilt er es dem mit, der es nicht hat; desgleichen Ehren oder Reichtümer. In den beiden Praeambula wird dann deutlich, welche beiden Partner hier im konkreten Falle gemeint sind: nämlich Gott und ich. Wie stehe ich vor Gott da? Wohl nicht besonders gut, denn ich bin auf die Engel und Heiligen angewiesen, die für mich eintreten. Ich bitte um die innere Erkenntnis (cognoscimiento interno) aller von Gott empfangenen Wohltaten, wodurch ich zur Liebe und Dienstbereitschaft gegenüber Gott in allen Dingen geführt werde. Mit anderen Worten: Gott hat mir gegenüber seinen Part an tätiger Liebe bereits erfüllt; jetzt liegt es an mir, meine Liebe zu beweisen und anzubieten. Was hier summarisch zusammengefaßt ist, wird in den vier Punkten der Meditation gewissermaßen im einzelnen buchstabiert.59 Der erste Punkt besteht darin, mir die Wohltaten der Schöpfung und der Erlösung und besondere Gaben in Erinnerung zu rufen, indem ich mit großer innerer Bewegung erwäge, wieviel unser Herrgott für mich (por my) getan hat und wieviel er mir aus seinem Besitz geschenkt hat; sodann daß derselbe Herr sich mir schenken will, soweit er es nach seiner göttlichen Ordnung vermag. Und damit wende ich mich mir selbst zu (reflectir en mi mismo), indem ich mit größtmöglicher Vernunft und Gerechtigkeit betrachte, was ich meinerseits seiner göttlichen Majestät anbieten und geben soll, nämlich alles, was mir gehört,

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V. Die Exerzitien und dazu mich selbst, wie einer, der mit großer innerer Bewegung einem anderen etwas anbietet: Nehmt (span. Tomad; lat. Suscipe), Herr, und empfanget meine ganze Freiheit, mein Gedächtnis, meinen Verstand (entendimiento) und meinen ganzen Willen, meinen gesamten Besitz. Ihr habt es mir gegeben, Euch, Herr, gebe ich es zurück. Alles gehört Euch, verfügt darüber, wie immer es Euch gefällt. Gebt mir Eure Liebe und Gnade; das genügt mir. Der zweite [Punkt]: betrachten, wie Gott in den Geschöpfen wohnt: in den Elementen, indem er ihnen das Sein gibt; in den Pflanzen, indem er ihnen das Leben, in den Tieren, indem er ihnen Empfindung, in den Menschen, indem er ihnen Verstand gibt; und so in mir, indem er mir Sein, Leben, Empfindung gibt und mich zu seinem Tempel macht, geschaffen nach dem Gleichnis und Bilde seiner göttlichen Majestät. Danach wende ich mich mir selbst zu, auf die gleiche Weise, wie es im ersten Punkt gesagt wird, oder auf eine bessere Weise, wenn ich sie ausfindig machen kann. Das gilt ebenso für jeden der folgenden Punkte. Der dritte [Punkt]: betrachten, wie Gott arbeitet und sich abmüht für mich (trabaja y labora por my) in allen geschaffenen Dingen auf der Erde; das heißt, er verhält sich so wie einer, der arbeitet (id est, habet se ad modum laborantis); so, wenn er im Himmel, in den Elementen, Pflanzen, Früchten, Tieren usw. tätig ist, indem er ihnen das Sein gibt, sie erhält, ihnen Leben und Empfindung gibt usw. Dann mich mir selbst zuwenden. Der vierte [Punkt]: sehen, wie alle guten Gaben und Geschenke von oben herabkommen, so wie meine beschränkte Kraft von der höchsten und unendlichen Kraft von oben kommt, desgleichen Gerechtigkeit, Güte, Frömmigkeit, Mitleid usw., so wie die Strahlen der Sonne herabkommen, die Wasser aus der Quelle entspringen; zum Schluß mich mir selbst zuwenden, wie es schon gesagt wurde. Abschließen mit einem Gespräch und einem Pater noster.

Wir haben den Text dieser abschließenden Betrachtung in möglichst wortgetreuer Ubersetzung wiedergegeben, weil er eigentlich besser und genauer als alle Paraphrasen und Auslegungen die Intention des Ignatius wiedergibt. Das eigentlich Originelle und „Ignatianische" an ihm ist, daß Wesen und Tätigkeit Gottes im Kosmos in engster Beziehung zu mir, dem Betrachter und Beter, gesehen werden. In allen vier Punkten der Meditation kommt es entscheidend auf das reßectir en mi mismo, die Rückbesinnung auf mich selbst, an. Ziel dieser Besinnung ist es, herauszufinden, was ich meinerseits Gott anbieten kann für alles, was er für mich getan hat und noch beständig tut. Das führt bereits im ersten Punkt zur Formulierung des berühmten Gebetes „Suscipe", das früher - auch außerhalb der Exerzitien - als ignatianisches Gebet par excellence sehr verbreitet war und über das - auch von manchen Mitgliedern der Gesellschaft Jesu - viel frömmelnder und geistloser Schwulst in Umlauf gesetzt wurde. Der „harte Kern" des Gebetstextes ist, daß die geistigen Fähigkeiten: Freiheit, Gedächtnis, Verstand, Willen, an Gott, ihren Urheber und Geber, wieder zurückgeschenkt werden. Diese

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Sichtweise ist nicht ganz unbedenklich, wenn daraus folgt, daß nicht durch Gott in meinem Inneren, sondern von außen durch einen (selbsternannten) Stellvertreter Gottes (den Oberen, die Hierokratie) bestimmt wird, was als meine Freiheit, meine Erinnerung, mein Intellekt, mein Willen zu gelten hat. Es ist überhaupt nicht zu verkennen, daß sich hier ein gefährlicher „moderner" Totalitarismus anbahnt, den es in dieser Weise im mittelalterlichen Christentum nicht gab. Das in philosophie- und geistesgeschichtlicher Hinsicht „Neue" ist jedoch die Introspektion: durch die Reflexion auf sich selbst wird sich der Betrachter, das Ich, seiner Abhängigkeit von oben (span.: de arriba; lat.: desursum), das heißt: von der schaffenden, erlösenden, erhaltenden, belebenden Gottheit bewußt.60 Für Ignatius handelt es sich dabei um einen Vorgang der Erkenntnis (cognoscimiento) und des Verstehens (entendimiento). Aus Betrachten und Einsichtnehmen in das Wirken Gottes ergibt sich die fundamentale Norm für mein eigenes Verhalten und mein ganzes Leben. Besonders interessant ist, daß Gott - im dritten Punkt - als „Schwerarbeiter" vorgestellt wird, der sich um die Erhaltung des Universums abmüht - letztlich meinetwegen! Ignatius selbst hat den Gedanken dadurch markiert, daß er plötzlich aus dem Spanischen herausfällt und die lateinische Sprache verwendet: id est, habet se ad modum laborantis. Es wäre zu billig, in der Vorstellung von Gott als eines im und am Kosmos Arbeitenden nichts weiter als einen Anthropomorphismus zu sehen, der von der Mühsal menschlichen Daseins auf das Wesen Gottes schließt. Ich meine, daß hier eine „mystische" Annäherung an Gott stattfindet, die ganz anders ist als die der Mystiker und Mystikerinnen des Mittelalters, aber mit der Mystik des Apostels Paulus verwandte Züge aufweist. Die Bedeutung, die Ignatius dem Blick ins Innere, der geistlichen Erfahrung, beimaß, war einer der Punkte, an denen der spanische Dominikaner Melchior Cano (1509-1560) seine Kritik an den Exerzitien festmachte.61 Wenn dem Exerzitanten in Aussicht gestellt wird, daß er die Wirkung der Gnade und das Geschenk von Tröstungen in sich erfahren könne, so sieht Cano darin den Versuch, auf das Wirken Gottes Druck auszuüben. Die Betroffenen werden auch ermutigt, die erfahrenen (erfühlten) Gnaden in Worte zu fassen und sie anderen zum Zwecke der Erbauung mitzuteilen. Hierin zeigt sich eine Voraussetzung der Exerzitien überhaupt: die gleichen Methoden der Meditation und Spiritualität werden unterschiedslos allen Christen angeboten, ohne Rücksicht auf die verschiedenen Temperamente und Berufungen. Daran zeigt sich die Nähe zu den Irrtümern der alumbrados und dexados. Die Bedeutung, die von diesen Kreisen der individuellen Meditation und religiösen Erfahrung beigemessen wird, meint Cano, muß für die Verfassung der christlichen Gesellschaft desaströse Folgen zeitigen. Auch die Einübung der Indifferenz bei dem Exerzitenten als eine Voraussetzung, Gottes Willen zu erkennen, ist ein Irrtum, wie er für die alumbrados charakteristisch ist. Diese Methode widerspricht dem Beispiel Christi und ist Indiz

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V. Die Exerzitien

für eine falsche Frömmigkeit. Das Bestreben, Gottes Willen und Führung in allen Lebensentscheidungen (Wahlen) zu suchen, höhlt nach Canos Meinung den Respekt für Vernunft, Ausbildung (Lernen) und Autorität aus. Von daher kann er natürlich auch für die jesuitische Auffassung von Gehorsam keinerlei Verständnis aufbringen. Cano argumentiert auf der Basis der traditionellen (dominikanischen) Schultheologie und der durch sie definierten Rechtgläubigkeit. Von daher ist es verständlich, daß der von Ignatius geprägte Typus individueller Frömmigkeit und die Behauptung, daß darin wirkliche Erkenntnis stattfindet, Mißtrauen erwecken - was ja Ignatius selbst immer wieder bei den Begegnungen mit der Inquisition und Mitgliedern des Prediger-Ordens während seiner Pilgerschaft erfahren hat. Die Erkenntnis Gottes fand nach dominikanischer Auffassung ausschließlich auf den von Thomas von Aquin aufgezeigten fünf Wegen (viae) statt. In seiner aus dem Rahmen der Schulen herausfallenden (autodidaktischen) spirituellen Theologie hat Ignatius gewissermaßen den Gottesbeweis aus dem Denken allein im Sinne des Anselm von Canterbury und des Johannes Duns Scotus in seine alten Rechte wieder eingesetzt. Cano mag auch geahnt haben, daß hier etwas Neues kam, gegen das er sich, von seinen (erstarrten) scholastischen Voraussetzungen her, wehren mußte.

3. Partikuläre Ziele der geistlichen Übungen In der allerersten Vorbemerkung bezeichnet Ignatius die Exerzitien als Übungen für die Seele, so wie es körperliche Übungen gibt: spazieren, gehen, laufen. Wie der Körper gesund („fit") gehalten werden muß, so sollen aus der Seele die ungeordneten Regungen, Affekte entfernt werden, um den Willen Gottes erkennen und sein Leben danach gestalten zu können, mit dem Ziel, das ewige Heil der Seele zu erlangen.62 Der Exerzitant lernt nun in der ersten Woche vor allem, wie gefährdet seine Seele ist: ihr drohen Hölle und ewige Verdammnis. Außerdem lernt er zu erkennen, daß es in der Seele zwei Kräfte, „Geister" gibt, die einander widerstreiten und um das ewige Schicksal der Seele ringen. Eines der wichtigsten Einzelziele der Exerzitien ist deshalb die Bekämpfung der Sünde. Bekämpfung

der Sünde

Zur wirksamen Ausrottung der Sünden und Fehler hat Ignatius eine berühmte Methode entwickelt: das so genannte Partikularexamen.63 Es besteht darin, daß man sogleich morgens beim Aufstehen sich die Sünde vornimmt, die man bekämpfen will. Jeweils nach dem Mittag- und dem Abendessen findet dann eine Besinnung statt, wie oft man in den vergangenen Stunden in die betreffende Sünde gefallen ist. Das Ergebnis wird mittels Punkten in eine Liste, eine Art Wochenkalender, eingetragen: soviel Punkte, soviel Sündenfälle. An

Partikuläre Ziele der geistlichen Übungen

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der (sich vermindernden) Zahl der Punkte kann man dann die Fortschritte der Besserung innerhalb eines Tages, von Tag zu Tag, von Woche zu Woche ablesen. Während das Partikularexamen als Instrument der Besserung ein beständiger Begleiter des „geistlichen Lebens" ist, ist das Generalexamen ein einmaliger Vorgang innerhalb der Exerzitien. Das Examen conscientiae generale besteht in einer umfassenden, sich auf das ganze Leben erstreckenden Erforschung des Gewissens über alle begangenen Sünden. Es dient der Vorbereitung der Generalbeicht mit Empfang der Kommunion. Ein solches Bekenntnis aller Sünden ist nicht unbedingt notwendig, wenn man eine jährliche Beicht ablegt. Dennoch, sagt Ignatius, hat man bei dem Generalexamen einen größeren Nutzen und ein größeres Verdienst, weil man einen größeren Schmerz empfindet bei der Vorstellung aller Sünden und Schlechtigkeiten seines ganzen Lebens.64 Gewissermaßen als Hilfe zur Gewissenserforschung gibt Ignatius eine ausführliche Zusammenstellung und Analyse der verschiedenen Sündengattungen in Gedanken, Worten und Werken. In diesem Zusammenhang teilt er auch seine „Definition" der läßlichen Sünde (peccatum veniale) mit und nennt die Merkmale, durch die sie sich von der Todsünde (peccatum mortale) unterscheidet: wenn der Mensch dem Gedanken an die Todsünde gewissermaßen sein inneres Ohr leiht und ein wenig dabei verweilt oder wenn er dabei eine angenehme Empfindung verspürt oder wenn er aus Nachlässigkeit den aufkeimenden Gedanken nicht sogleich von sich weist.65 Wegen dieser Unterscheidung von schwerer und läßlicher Sünde bekam Iñigo später Schwierigkeiten mit dem kirchlichen Tribunal in Salamanca, entweder weil die Glaubensrichter seine Ausführungen als theologisch nicht ganz korrekt ansahen oder weil sie es überhaupt für unzulässig hielten, daß er sich zu dem Thema äußerte, bevor er ein theologisches Studium absolviert hatte. Es ist auch bemerkenswert, daß Ignatius von läßlichen Sünden allgemein nur im Bereich der Gedanken spricht; für den Bereich der Worte nennt er einen einzigen Fall: den des Publikmachens oder Ausplauderns eines unbekannten Vergehens eines anderen; bei den Taten scheint er keine läßliche Sünde zu kennen. Auch das muß den Inquisitoren aufgefallen sein. Als Zeitpunkt für das Ablegen der Generalbeicht wird das Ende der ersten Woche empfohlen wenn die Seele durch die intensiven Meditationen über Sünde, Hölle und Teufel weichgeklopft ist. Das Partikularexamen als wichtiges Element der Spiritualität fand weit über die Exerzitien und die Erziehung des Ordensnachwuchses der Jesuiten hinaus Verbreitung. Bis in die jüngste Gegenwart wurde es den Theologiestudenten (Alumnen) in den Priesterseminarien eingebleut. Daß man sich ernsthaft um Selbsterziehung und Besserung seines moralischen Zustandes mühen muß, wird im Ernst niemand bestreiten wollen. Die Konzentration auf die Sünde und die eigene Verwerflichkeit, die in Partikular- und Generalexamen stattfindet, hat jedoch pathogene Züge. Man hat den Eindruck, daß darin etwas von der krankhaften Skrupulosität und dem Beichtzwang des

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jungen Inigo am Anfang seines Pilgerweges hängengeblieben ist. Infolge der auf Ignatius zurückgehenden, in den Exerzitien eingeübten Praktiken gewinnt die Beicht durch die Jesuiten eine Bedeutung, die sie bis dahin in der Kirche niemals hatte. Sie wird eines der Hauptinstrumente der geistlichen und politischen Tätigkeit des Ordens, wofür die Reihen der Beichtstühle, mit denen die barocken Kirchen möbiliert sind, ein eindrucksvolles architektonisches Zeugnis ablegen.66 Partikularexamen und häufige Beicht sind jedoch sehr fragwürdige religiöse Institutionen. Sie beseitigen weder krankhaftes Intrigantentum noch emotionale Verkrüppelung, wie jeder weiß, der über längere Zeit mit Jesuiten-Kommunitäten zu tun hatte; mit anderen Worten: die eigentlichen „sozialen Sünden" werden durch sie überhaupt nicht erfaßt. Von der reformatorischen Auffassung her, daß für den Christen das gesamte Leben der Buße gewidmet sein müsse, hat schon Calvin in seiner Institutio von 1559 die Praxis der „Wiedertäufer", „ihrer Gefolgsleute, der Jesuiten" und „ähnlicher Drecksäcke", ihren Nachwuchs an bestimmten Tagen in die Buße einzuüben, als „Unsinn" kritisiert.67 Aus dem Wortlaut geht klar hervor, daß der Reformator die Methode der ignatianischen Exerzitien vor Augen hat. Verzicht auf die eigene Urteilskraft und Konformität Kirche

mit der hierarchischen

In der Betrachtung zur Erlangung der Liebe gibt der Exerzitant Gott seine wichtigsten geistigen Fähigkeiten, darunter seinen Intellekt und seinen Willen zurück, das heißt: er verzichtet darauf und stellt sie Gott zur Verfügung. Man könnte nun räsonnieren und fragen, was für einen Sinn es haben soll, auf Gaben, mit denen der Schöpfer den Menschen ausgestattet hat, zu verzichten. Was sollte denn Gott damit anfangen? Die Antwort des Ignatius steht in den achtzehn Regeln „für die rechte Gesinnung, die wir in der streitenden Kirche haben müssen". 68 Dem Exerzitanten, wird hier, am Schluß der geistlichen Übungen, vor Augen geführt, daß er nicht nur in spirituelle Kämpfe verwikkelt ist, sondern einer militanten Organisation angehört. Deren hauptsächliche Gegner, die Häretiker Luther und Calvin, werden zwar nicht namentlich genannt, aber für den, der zwischen den Zeilen lesen kann, doch mit hinreichender Deutlichkeit markiert. Die vorbehaltlose Einordnung in die hierarchische Kirche setzt den völligen Verzicht auf den Anspruch geistiger Selbständigkeit voraus, wie es in der ersten Regel formuliert ist: Nach Ablegen jeglichen eigenen Urteilsvermögens (depuesto todo juyzio) müssen wir ein bereitwilliges Herz haben, um in allem der wahren Braut Christi, unseres Herrn, zu gehorchen: das ist unsere heilige Mutter, die hierarchische Kirche.

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Die „bereitwillige Gesinnung" (änimo aparejado) gegenüber der sichtbaren, streitenden, hierarchischen Kirche zeigt sich nicht nur im vorbehaltlosen G e horsam, sondern im Loben (alabar) aller ihrer Gebote, Traditionen und Bräuche. Ignatius entwirft ein möglichst vollständiges Programm des alabar, wobei er sich erkennbare Mühe gibt, nur ja nichts zu vergessen: die jährliche Beicht und Kommunion, der jedoch der monatliche oder gar wöchentliche Sakramentenempfang vorzuziehen ist; das häufige Hören der Messe, die Gesänge, Psalmen, langen Gebete innerhalb und außerhalb der Kirche, die kanonischen Hören. Ebenso zu loben sind die Ordensgemeinschaften, Jungfräulichkeit und Enthaltsamkeit, dagegen soll die Ehe nicht so sehr gelobt werden. Der Grund für letzteres wird in der fünften Regel angegeben: die Ehe führt ebenso wie der Beruf des Kaufmanns eher von der evangelischen Vollkommenheit weg; dagegen sind die Ordensgelübde über lebenslange Keuschheit, Armut und Gehorsam Voraussetzungen für ein vollkommenes christliches Leben. In der sechsten Regel empfiehlt Ignatius das Loben der Reliquien und der Heiligenverehrung; ebenso sollen Stationsgottesdienste, Pilgerfahrten, Ablässe, Jubiläen (d.h., Jubeljahre, zu denen ebenfalls Ablässe gewährt werden), Kreuzwege (cruzadas), 69 in den Kirchen angezündete Kerzen gelobt werden. Die hier genannten religiösen Bräuche lassen vermuten, daß dieser Abschnitt nicht vor dem ersten Aufenthalt des Ignatius in R o m in das Exerzitienbuch eingefügt wurde. Bemerkenswert ist vor allem die Nennung der Ablässe. Nicht zuletzt aufgrund der zahlreichen von den Päpsten im Blick auf das Jubeljahr 1500 gewährten Ablässe wurde von den Theologen am Ende des 15. Jahrhunderts die Frage diskutiert, ob der Papst die Seelen aus dem Fegfeuer nur fürbittweise (per modum suffragii) oder deklaratorisch und wirksam befreien könne. 70 Unter Hinweis auf entsprechende Inschriften in römischen Stationskirchen behaupteten päpstliche Legaten und in ihrem Gefolge auch an den Universitäten lehrende Theologen, daß bestimmte Ablässe, die von den Päpsten zur Befreiung der Seelen aus dem Fegfeuer gewährt worden waren, eine unfehlbare und unmittelbare Wirkung hätten. Ignatius, dem sicher bekannt war, welche Rolle die Ablaßpraxis in der Kritik Luthers am Papsttum gespielt hatte, teilte diese sehr weit gehende Ansicht. Anläßlich des Todes seines älteren Bruders Martin Garcia, des Majoratsherrn von L o y ola, am 29. November 1538 schreibt er der Schwägerin Magdalena (Rom, 24. September 1539): 71 Nachdem ich erfahren hatte, daß sich der gnädige Wille unseres Herrgotts erfüllt hatte, indem er den Gefährten, den er Euch in diesem Leben für einige Zeit gegeben hatte, aus den gegenwärtigen Mühen wegnahm, tat ich sofort das Größte, was man für einen Menschen je tun kann: ich habe nämlich eine Messe für seine Seele gelesen an einem Altar, an dem bei jeder Zelebration eine Seele aus dem Fegfeuer befreit wird. Wir dürfen jetzt nicht klagen, da er fröhlich ist, und auch nicht traurig sein, da er sich freut. Vielmehr müssen wir für uns zusehen, daß wir zu dem gleichen Ziel gelangen.

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V. Die Exerzitien

Die gleiche Auffassung bezeugt ein zwei Jahre später (Rom, 24. Juli 1541) geschriebener Brief des Ignatius an eine Inkluse (eingemauerte Klausnerin) in Salamanca, die er während seines Studiums (1527) dort kennengelernt hatte.72 Der Brief begleitet die Sendung eines kostbaren Schatzes: Dieser Schatz besteht darin: Seine Heiligkeit hat unserer Gesellschaft viele und in Wahrheit ganz unschätzbare Gnaden auf gewisse Rosenkränze gewährt, und während er sie segnete, hat er seine Hand auf sie gelegt. Die diesen Rosenkränzen gewährten Gnaden sind folgende: wer eine von den Perlen, die auf diese Weise gesegnet sind, in einen Rosenkranz einfügt, und dann einen solchen Rosenkranz betet, der erhält dafür jedesmal alle Ablässe sämtlicher Stationskirchen Roms, als ob er die Stationswallfahrt persönlich gemacht und die Ablässe dabei gewonnen hätte. Und damit Sie sehen, wie geradezu unzählbar diese Stationsablässe sind, und sie im einzelnen durchgehen können, schicke ich Ihnen beiliegend ein Verzeichnis mit. Dazu kommt folgendes: wer immer einen solchen Rosenkranz dreiunddreißigmal betet im Gedenken an die dreiunddreißig Jahre, die unser Herr Jesus Christus auf Erden lebte, der befreit eine Seele aus dem Fegfeuer. Eine dieser so geweihten Perlen übersende ich nun Ihnen zu Ihrem Trost und geistlichen Fortschritt; außerdem drei andere, eine für Ihre gute Gefährtin, meine sehr liebe Schwester in Christo unserem Schöpfer und Herrn, der ich mich herzlichst in unserem Herrn zu empfehlen bitte; die zwei anderen für diejenigen Personen, die Ihnen besonders lieb und teuer sind, damit sie eifriger auf größeres Lob und größere Ehre unseres Herrn bedacht sind. Aus den beiden zitierten Texten geht klar hervor, daß Ignatius davon überzeugt war, ein vom Papst unter bestimmten Bedingungen gewährter Ablaß könne eine oder mehrere Seelen aus dem Fegfeuer erlösen. Die an einem so genannten „Altare privilegiatum" für seinen Bruder Martin gelesene Messe beförderte den sogleich in den „Jubel" der ewigen Seligkeit. Solche Altäre gibt es in den Kirchen der Stadt Rom sehr viele. Die zum Teil aus dem Mittelalter stammenden Inschriften, in denen den betreffenden Seelen nach dem Lesen einer oder mehrerer Messen kraft päpstlicher Autorität der direkte Einzug ins Paradies zugesichert wird, wurden allerdings in neuerer Zeit entfernt. Offenbar schämt sich die „moderne" Kirche des II. Vatikanischen Konzils über den mittelalterlichen Baiast des Ablasses, der doch einmal ein wesentlicher Bestandteil der Volksfrömmigkeit war. Uns aber scheint nicht so sehr die Tatsache bedeutsam, daß Ignatius und sein Orden dieses und andere Elemente der mittelalterlichen Volksreligion, unter offensichtlicher Nichtbeachtung der reformatorischen Kritik, in den modernen Katholizismus herübergerettet haben, als vielmehr der merkwürdige Umstand, daß mit der „einfachen" Möglichkeit der Zuwendung eines Ablasses die ganze Mühe der Exerzitien um das Heil der Seele gewissermaßen konterkariert wird. Wenn ein Sünder wie Don Martin Garcia durch die einfache Zelebration eines päpstlich privilegierten Meßopfers gerettet werden kann, welchen Sinn haben dann noch individuelle und kollektive (d. h., durch eine Kirchenreform geläuterte) Frömmigkeit?

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Man kann sich deshalb manchmal des Eindrucks nicht erwehren, daß in den Regeln für das kirchengemäße Verhalten ein latenter Zynismus (die Wahrhaftigkeit betreffend) am Werk ist. Deutlich wird das in der neunten Regel, in der ein rückhaltloses Eintreten für alle Vorschriften der Kirche und deren Verteidigung gegen ihre Kritiker verlangt wird. In der zehnten Regel heißt es dann: Wir müssen bereitwilliger sein, sowohl Bestimmungen und Empfehlungen als auch Gewohnheiten unserer Vorfahren (oder: Vorgesetzten) zu rechtfertigen und zu loben; denn wenn auch einige davon nicht so sind oder waren, wie sie sein sollten, so würde doch das Sprechen gegen sie, sei es in öffentlicher Predigt, sei es in Gesprächen vor den Ohren des gewöhnlichen Volkes, eher Unzufriedenheit und Anstoß erzeugen als Fortschritt; und so würde sich das Volk gegen seine Oberen, sowohl die weltlichen wie die geistlichen, empören. Einige der Regeln beziehen sich auf Studium und Verkündigung der kirchlichen Lehre. In der elften Regel spricht Ignatius von der „positiven" und der „scholastischen" Lehre. Mit ersterer sind die Kirchenväter (Hieronymus, Augustinus, Gregor d. Gr. u.a.) gemeint, mit letzterer die mittelalterlichen Schultheologen (Thomas von Aquin, Bonaventura, Petrus Lombardus u. a.). Die Werke der Kirchenväter sind mehr dazu geeignet, die seelischen Affekte zu bewegen und zur Liebe Gottes anzuregen. Die Scholastiker dagegen erweisen sich als nützlicher, wenn es „um Definition und Erklärung der zum ewigen Heil notwendigen Dinge für unsere Gegenwart" und um die wirksame Bekämpfung der Häresien geht.73 Der Grund: Weil die scholastischen Lehrer, die unserer Zeit näher stehen (como sean más modernos), nicht nur einen besseren Zugang zum richtigen Verständnis der Heiligen Schrift und der positiven und heiligen Lehrer [d. h., der Kirchenväter] haben, sondern auch erleuchtet und erhellt durch die Kraft Gottes sich der Konzilien, der Dekrete und Bestimmungen unserer heiligen Mutter Kirche bedienen. In der vierzehnten Regel warnt Ignatius davor, sich auf Diskussionen über die Prädestination einzulassen: Wenn es auch der vollen Wahrheit entspricht, daß niemand gerettet werden kann, ohne dazu vorherbestimmt zu sein und ohne Glauben und Gnade zu besitzen, so muß man sich doch beim Sprechen und Mitteilen aller dieser Dinge sehr in acht nehmen. Die Begründung für solche Vorsicht gibt die fünfzehnte Regel: dem gewöhnlichen Volk könnte Anlaß zum Irrtum und zur Vernachlässigung der guten Werke gegeben werden, wenn es zu der Annahme kommt, daß ohnehin bereits über Heil und Verdammnis entschieden ist. Gerade die Werke sind aber

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nach Ignatius' fester Überzeugung unabdingbar für den geistlichen Fortschritt und das Heil der Seelen.74 Während Ignatius hier zweifellos Häresien calvinistischer Prägung im Auge hat, geht es in der sechzehnten und siebzehnten Regel um den Kontakt mit dem Glaubens- und Gnadenverständnis Luthers. Auch hier befürchtet er, daß bei einer ausführlichen Darlegung des Glaubens vor dem Volk Anlaß zur Vernachlässigung der Werke gegeben würde - was dann auch zu einem falschen Glaubensverständnis führen würde. Wie viele katholische Kontroverstheologen seines Zeitalters hält Ignatius der lutherischen sola fides die fides formata cbaritate (la fe formada en charidad) entgegen; das heißt: den Glauben, der sich in der tätigen Liebe bewährt. Angesichts der Gefahren der Zeit (mayormente en nuestros tiempos tan periculosos) warnt Ignatius auch vor einer Betonung der Gnade Gottes auf Kosten des freien menschlichen Willens und der Wirksamkeit der guten Werke. Durch das Vermeiden oder Unterdrücken des ausführlichen Sprechens über Glaubenslehren, die in der Zeit der Reformation kontrovers diskutiert wurden, will Ignatius den Kontakt mit der Häresie sowohl bei den theologischen und spirituellen Lehrern als auch bei den Hörern und Schülern unterbinden. Darüber hinaus geht es um die vorbehaltlose Akzeptanz nicht nur der Lehren, sondern auch der religiösen Traditionen und kultischen Handlungen und Gegenstände der „real existierenden" hierarchischen Kirche. Wie es sich schon in der ersten, dann vor allem in der neunten und zehnten Regel gezeigt hat, bestimmen die kirchlichen Amtsträger - Papst, Bischöfe, Ordensobere - auch, was letztlich als Wahrheit zu gelten hat. Von mir wird folglich der totale Verzicht auf mein eigenes Urteilsvermögen und meine intellektuelle Kritikfähigkeit erwartet. Die Unterwerfung unter die Kirche ist nichts anderes als die Unterwerfung unter den Willen Gottes. Am deutlichsten ist das wohl in der berühmten dreizehnten Regel formuliert, deren Wortlaut man deshalb, durchaus im ignatianischen Sinne, „verkosten" muß: Damit wir in allem die Wahrheit erreichen, müssen wir immer festhalten, daß ich glaube, das Weiße, das ich sehe, sei schwarz, wenn die hierarchische Kirche es so definiert; indem ich glaube, daß zwischen Christus, unserem Herrn, dem Bräutigam, und der Kirche, seiner Braut, derselbe Geist ist, der uns leitet und regiert zum Heil unserer Seelen; weil nämlich durch denselben Geist und unsern Herrn, der die zehn Gebote gegeben hat, unsere heilige Mutter die Kirche regiert und geleitet wird.

Man sieht: die kirchliche Gesinnung, die nach Ignatius eines der Ergebnisse seiner geistlichen Übungen ist, schließt nicht nur die Aufgabe des eigenen Willens ein, sondern auch, wenn es denn „von oben" verlangt wird, auch die Umkehrung (Perversion) des Sehens und der Erkenntnis, die der „weltliche" Mensch für normal und richtig hält/5 Nicht nur deshalb halte ich die ignatianischen Exerzitien - ich habe sie viermal in meinem Leben gemacht - für gefährlich, sondern vor allem wegen der ihnen zugrundeliegenden Vorstel-

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lung von Christ-Sein und des Bildes von der christlichen Gesellschaft. Dieses Bild ist bedingt durch den historischen Kontext, in dem sie entstanden sind. Die Kirche, von der Ignatius spricht, ist nicht mehr die Societas Christiana des Mittelalters mit ihren Gegensätzen, Zweifeln, ihrem geistigen und religiösen Reichtum, sondern die Kirche des werdenden „konfessionellen" Zeitalters; es ist außerdem die spanische Kirche, die geprägt ist durch die Reconquista und die auf sie folgende Abgrenzung von Muslimen und Juden und die Verfolgung dieser nichtchristlichen Volksgruppen. In den Entscheidungen dieser eng gewordenen, gegen ein vermeintliches Meer von Irrlehren sich abschottenden Kirche sieht Ignatius letzlich eindeutige Offenbarungen des Willens Gottes. In den Konstitutionen, die Ignatius später in Rom als Ordensgeneral für die von ihm gegründete „Gesellschaft Jesu" verfaßt hat, wird der Gehorsam gegenüber den Oberen in noch viel radikalerer Weise als die entscheidende Tugend und Geisteshaltung herausgestellt. In dem Willen des Oberen offenbart sich für den Jesuiten eindeutig der Wille Gottes. Zur Illustration dieses absoluten, vorauseilenden Gehorsams gebraucht Ignatius die Bilder der Leiche und des Krückstocks in der Hand eines alten Mannes; beide sind gleich willenlos und illustrieren in zynischer Weise das Ideal jesuitischen Kadavergehorsams. In der Krise, die in den sechziger und siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts die Jesuiten wie alle älteren Orden beutelte, wurde unter anderem auch die Fragwürdigkeit und Brüchigkeit des ignatianischen Lebensideals offenkundig, das man mit mehr oder weniger großer Konsequenz dem gesamten Priesternachwuchs der Katholischen Kirche eingehämmert hatte. Aber auch in früheren Jahrhunderten ist die Zahl derjenigen, die an diesem Ideal seelisch zerbrochen oder in eine zynische Doppelexistenz geflüchtet sind, vermutlich größer als die der so genannten „frühvollendeten" Heiligen, die der Orden seinen Schülern als Vorbilder präsentierte: Stanislaus Kostka (1550-1568), Aloysius (Luigi) Gonzaga (1568-1591), Johannes Berchmans (1599-1621).

VI WALLFAHRT N A C H JERUSALEM Ausgangs- und Endpunkt der Pilgerreise Iñigos in das Heilige Land war Barcelona. Dort schiffte er sich im März des Jahres 1523 ein; ein Jahr später traf er wieder in der Hauptstadt Kataloniens ein.

1. „Gott allein" In den letzten Wochen seines Aufenthaltes in Manresa hatte sich Iñigo darum bemüht, einige Menschen zu finden, mit denen er sich über „geistliche Dinge" (cosas espirituales) unterhalten könnte.1 Während der mehr als zwanzig Tage, die er in Barcelona mit der Suche eines geeigneten Schiffes und dem Warten auf dessen Abfahrt zubrachte, setzte er diese Bemühungen fort. Um „geistliche Personen" zu finden, suchte er sogar die Einsiedeleien in der Umgebung der Stadt auf. Doch das Ergebnis war für ihn enttäuschend:2 Aber weder in Barcelona noch in Manresa konnte er in der ganzen Zeit, die er sich dort aufhielt, Personen finden, die ihn hätten fördern können, so wie er es sich wünschte. Allein die Frau in Manresa, die oben erwähnt wurde und die ihm gesagt hatte, sie bitte Gott, daß ihm Jesus Christus erscheinen möge, schien ihm tiefer in die geistlichen Dinge einzudringen. Und so verlor er vor seiner Abfahrt von Barcelona an ganz und gar das ängstliche Bemühen, geistliche Personen aufzusuchen. Einer geistlichen Förderung durch Menschen bedurfte Iñigo nicht mehr. Aber er wollte sich auch in materieller Hinsicht, was seinen Lebensunterhalt betraf, ganz allein Gott anvertrauen. Würde dieses Wagnis gelingen? Pourquoy non. Warum nicht? Es begann mit der Frage, ob er sich einer Reisegruppe anschließen oder sich allein auf den Weg machen solle. Es scheint, daß ihm in dieser Angelegenheit von einem bestimmten Personenkreis, über den er sich nicht näher ausläßt, ziemlich zugesetzt wurde. Er wollte aber die Reise ohne jede Begleitung machen, „weil es sein ganzes Anliegen war, sich allein an Gott als seine Zuflucht zu halten".3 Aber die unerbetenen Ratgeber ließen nicht lokker; sie erinnerten ihn daran, daß er ohne Begleiter bald schon an den sprachlichen Barrieren scheitern würde, da er weder Italienisch noch Latein konnte. Iñigo aber wollte keinerlei Begleitung akzeptieren, selbst dann nicht, wenn ihm die ehrenvollen Gesellschaft eines Mitglieds der hochadeligen (katalanischen) Familie Cardona angeboten würde. Selbst in einer möglichen Notlage wollte er nicht auf einen Gefährten angewiesen sein; er wollte vielmehr sein Vertrauen und seine Hoffnung auf Gott allein (en solo Dios) setzen.

„Gott allein"

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Iñigos grenzenloses Vertrauen, oder eher: seine totale Selbstauslieferung an Gott, ging so weit, daß er die Überfahrt nach Italien nicht nur ganz allein, sondern auch ohne jeden Mundvorrat unternehmen wollte. Eine solche „Herausforderung" Gottes hatten zuletzt Franziskus von Assisi und seine ersten Gefährten gewagt, die ebenfalls jede Vorsorge für den nächsten Tag ablehnten.4 Mit der Hartnäckigkeit seiner heiligen Unvernunft brachte Iñigo es sogar zuwege, daß der Kapitän des Schiffes bereit war, ihn umsonst mitzunehmen; er mußte jedoch seine Ration Zwieback mitbringen. Ohne sie war der Kapitän unter keinen Umständen bereit, ihn an Bord zu lassen. Damit sah Iñigo sich aber in einen für ihn unlösbaren Gewissenskonflikt gestürzt. Denn das Mitnehmen eines Mundvorrats verstieß ja gegen das bedingungslose Vertrauen auf Gott allein. Andererseits gab es durchaus gute Gründe (razones probables), die für einige Tage benötigte Wegzehrung auf das Schiff mitzunehmen. Iñigo legte diese Dilemma seinem Beichtvater vor und nannte ihm auch die Gründe, die in seinen Augen gegen das Mitnehmen eines Reiseproviants sprachen. Dabei kommt heraus, daß es Iñigo nicht darum ging, das Richtige zu tun, sondern das Vollkommenere und zur Ehre Gottes Geeignetere.5 Der Beichtvater entschied, „er solle ruhig das Notwendige zusammenbetteln und es mit sich nehmen". Während der Betteltour durch die Stadt kommt es zu einer merkwürdigen Begegnung, die sich tief in Iñigos Gedächtnis eingeprägt hat. Eine Dame, die er um Unterstützung bittet - sie bleibt, wie die früher erwähnte „Seherin" von Manresa,6 anonym - fragt ihn nach dem Ziel seiner Reise. Er hat jedoch Hemmungen, das wahre Ziel Jerusalem preiszugeben, aus Furcht vor Eitelkeit, wie er selbst sagt; aus diesem Grunde hält er auch seine Heimat und Herkunft geheim. Er verschweigt also - wie bei seinem Abschied von Loyola - die Wahrheit und gibt als sein Reiseziel Italien und Rom an. Die Reaktion der Dame ist mehr als bedenklich:7 Darauf gab sie, fast entsetzt, zur Antwort: „Nach Rom wollt Ihr gehen? Ja, die dorthin gehen, kommen, ich weiß nicht wie, zurück!" Womit sie sagen wollte, daß man in Rom kaum Fortschritte in geistlichen Dingen machen könne. Es ist bemerkenswert, daß es der alte Ignatius ist, der diese auf den ersten Blick nebensächliche Episode mit solcher Genauigkeit zu Papier bringen läßt. Nach jahrelangem Aufenthalt in der Hauptstadt des Papstes und der Christenheit läßt Ignatius die geistliche Situation Roms gewissermaßen in indirekter Beleuchtung erscheinen. H U G O R A H N E R hat vermutet, daß es sich bei der von Ignatius namentlich nicht genannten Dame um Isabel Roser gehandelt habe;8 ich halte das für nicht sehr wahrscheinlich. Iñigo selbst schweigt sich über seine erste Begegnung mit Isabel Roser (Rosell) aus; er erwähnt auch nicht, daß er damals in Barcelona drei Wochen im Haus von Inés (Agnès) Pascual gewohnt hat.9

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VI. Wallfahrt nach Jerusalem

2. Von Barcelona nach Venedig Nach einem Aufenthalt von etwas mehr als zwanzig Tagen in Barcelona bestieg Iñigo das Schiff nach Italien. Es war am 18. oder 19. März 1523.10 Ein paar Weißpfennige (blancas), die ihm von seinen Bettelgängen übrig geblieben waren, ließ er einfach auf einer Bank am Strand zurück. Nach einer sehr stürmischen Überfahrt von fünf Tagen lief das Schiff in den Hafen von Gaeta ein. Als sich Iñigo zu Fuß auf den Weg nach Rom machte, schlössen sich ihm von den Reisenden auf dem Schiff eine Frau mit ihrer Tochter und einem Jungen (wohl ihrem Diener) an. Das Mädchen war, aus naheliegenden Gründen, in Männerkleider gesteckt worden. Unterwegs kamen sie an eine Herberge, in der ein Haufen Soldaten Quartier bezogen hatte. (Da man sich auf dem Gebiet des Königreichs Neapel befand, werden es spanische Söldner gewesen sein). Sie hatten ein großes Feuer angezündet und luden die Pilger ein, daran Platz zu nehmen. Das Esen war reichlich, noch reichlicher der ausgeschenkte Wein, so daß Iñigo den Eindruck hatte, die Soldaten seien darauf aus, sie betrunken zu machen. Für die Nacht wurden Mutter und Tochter im Obergeschoß untergebracht, Iñigo und der Junge sollten im Stall schlafen. Mitten in der Nacht wurde Iñigo von einem durchdringenden Geschrei geweckt. Er sprang auf und fand im Hof Mutter und Tochter, die sich beschwerten, daß die Soldaten versuchten, sie zu vergewaltigen. Iñigo schrie darauf mit gewaltiger Stimme: „Muß man sich das gefallen lassen?" Für einen Augenblick war der Offizier in ihm wieder auferstanden, und der Auftritt verfehlte seine Wirkung nicht: die betrunkene, geile Soldateska war eingeschüchtert.11 Noch in der Nacht brach Iñigo mit Mutter und Tochter auf; der Junge hatte sich bereits aus dem Staub gemacht. Als die Pilger sich der Stadt Fondi näherten, mußten sie feststellen, daß die Tore wegen der im Lande ausgebrochenen Pest für Fremde verschlossen waren. Sie mußten deshalb die Nacht in einer feuchten Kirche außerhalb der Stadt verbringen. Als man sie auch am folgenden Tag nicht einließ, zogen sie zu einem in der Nähe gelegenen Kastell. Iñigo, von Seekrankheit und dem langen Fußmarsch zermürbt, war am Ende seiner Kräfte. Seine Begleiterinnen setzten die Reise ohne ihn fort. Es gelang ihm aber, noch am gleichen Tag die Herrin von Fondi, die Gräfin Beatrice Appiani, die mit Vespasiano Colonna verheiratet war, zu sprechen. Er konnte sie überzeugen, daß er nur an Erschöpfung, nicht an der Pest krank war, und erhielt die Erlaubnis, die Stadt zu betreten.12 Während der zwei Tage seines Aufenthalts in Fondi konnte sich Iñigo ein wenig Kleingeld zusammenbetteln und Kraft für die Weiterreise schöpfen. Er kam am Palmsonntag, dem 29. März 1523 in Rom an. Sogleich beantragte er bei dem Papst Hadrian VI. die Genehmigung, das Heilige Grab und die anderen heiligen Stätten „jenseits des Meeres" aufzusuchen. (Die Pilgerfahrt ins Heilige Land war den Christen von Seiten der Päpste mehrfach untersagt worden). Die Erlaubnis wurde ihm ohne weiteres

Von Barcelona nach Venedig

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erteilt. Die Handschrift des päpstlichen Indults für „Enecus de Loyola, Kleriker der Diözese Pamplona" ist in dem Vatikanischen Archiv erhalten; sie trägt das Datum: 31. März 1523.13 In seinem Pilgerbericht erwähnt Ignatius nur kurz, er habe vor seinem Aufbruch nach Venedig noch den Segen des Papstes Hadrian VI. erhalten. Es ist ganz unwahrscheinlich, daß ihm die päpstliche Erlaubnis zur Wallfahrt nach Jerusalem binnen zwei Tagen erteilt wurde, ohne daß dabei eine Empfehlung oder Beziehungen einflußreicher Personen an der römischen Kurie eine Rolle gespielt hätten. Die Unterstützung wird aus den gleichen Kreisen gekommen sein, die ihm die Wallfahrt auszureden suchten, weil er über keinerlei Geldmittel verfügte. Man kann vermuten, daß es sich u m spanische Landsleute, vielleicht sogar Bekannte von früher, handelte, die im August 1522 mit dem neu gewählten Papst nach R o m gekommen waren. Die Vorhaltungen dieser Bedenkenträger beeindruckten Iñigo nur wenig, da er in seiner Seele eine große Sicherheit fühlte (una grande certidumbre en su alma). Immerhin nahm er sechs oder sieben Dukaten von ihnen an. Auf dem Wege nach Venedig ging ihm dann auf, daß er das Geld aus Mangel an Vertrauen angenommen hatte, und er verteilte es an arme Leute, die ihm begegneten. Er hatte R o m eine gute Woche nach dem Osterfest verlassen, das im Jahre 1523 auf den 5. April fiel. Der Marsch von R o m nach Venedig war für Iñigo mit nicht geringen Schwierigkeiten verbunden. Er kam, wie er einmal nebenbei bemerkt, wegen seines verletzten Beins nur langsam vorwärts. Sodann waren wegen der im Land grassierenden Pest überall in den Städten Wachposten aufgestellt worden. U m ihnen zu entgehen, suchte Iñigo kein Pilgerhospiz auf, sondern schlief im Freien, unter Arkaden. Dabei passierte es ihm einmal, daß ein Mann, der ihn morgens beim Aufstehen erblickte, mit allen Zeichen des Entsetzens die Flucht ergriff; so krank und elend sah er damals aus. Die Route, die der Pilger einschlug, ist nicht bekannt. Möglich wäre, daß sie über Spoleto, Camerino, Loreto, Ancona, dann entlang der Adria-Küste über Fano, Pesaro, Rimini, Ravenna führte. 14 Denkbar ist aber auch, daß Iñigo von Spoleto an weiter nach N o r d e n ging und auf der Via Flaminia in Fano die Küste erreichte. Die erste Stadt, die er selbst nennt, ist Chioggia, südlich von Venedig. Bis dorthin war er mit einigen Reisegefährten gelangt, die sich ihm unterwegs angeschlossen hatten. Da bekannt war, daß Fremde nicht nach Venedig hereingelassen wurden, entschlossen sich die Gefährten, zunächst nach Padua zu gehen, u m sich dort ihre Gesundheit bescheinigen zu lassen. Hinter den Männern, die ein zügiges Marschtempo aufgelegt hatten, blieb der humpelnde Iñigo alsbald zurück. Bei Einbruch der Nacht sieht er sich allein auf weiter Flur, und bei seiner angeschlagenen Gesundheit muß ihn das Gefühl unendlicher Verlassenheit ergriffen haben. Er wurde davon jedoch nicht lange niedergedrückt, denn es erschien ihm Christus „in der gleichen Weise, wie er ihm auch sonst erschienen war", das heißt: in seiner Menschheit, wie sie sich oftmals in Manresa vor

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VI. Wallfahrt nach Jerusalem

„den Augen seiner Seele" gezeigt hatte.15 Die Vision gibt Iñigo Trost und erfüllt ihn mit neuer Kraft. Als er am Morgen vor Padua ankommt, lassen ihn die Wachposten ohne weiteres das Stadttor passieren. Seine Reisebegleiter hatten sich dagegen mit gefälschten Papieren den Zugang zur Stadt verschafft. Im Gegensatz zu ihnen bemühte sich Iñigo auch nicht um Ausstellung eines Gesundheitszeugnisses. Er bestieg ein Boot, das ihn auf dem Brenta-Kanal nach Venedig brachte. Dort erschien sofort die Polizei auf dem Boot, um alle Passagiere zu überprüfen. Von Iñigo nahm man jedoch überhaupt keine Notiz. Ignatius sagt es nicht ausdrücklich, aber es ist klar, daß er (schon damals und dann im Rückblick) die Beseitigung der Hindernisse in Padua und Venedig auf das wunderbare Wirken Christi zurückführt. Die zahlreichen Visionen bestärken ihn in der Überzeugung, daß es der Herr persönlich ist, der sich um ihn kümmert, und daß er folglich auf sonst niemanden und nichts angewiesen ist. Allmählich ergreift eine „große Gewißheit", von der er wenig später spricht, Platz in seiner Seele. Es ist nicht sicher, ob Iñigo auf seinem Gang von Rom nach Venedig über Orvieto und Loreto gekommen ist, beides bedeutende Wallfahrtsorte. An Assisi mit dem Grab des heiligen Franziskus ist er ganz nahe vorbeigegangen. Viel beliebter als die genannten Pilgerstätten, wenigstens bei den Italienern, ist die Basilika des „Santo" von Padua, des heiligen Antonius. Vielleicht hat ihr Iñigo ja einen Besuch abgestattet, aber er erwähnt es mit keinem Wort. Uber den Grund dafür wollen wir hier nicht spekulieren; aber merkwürdig ist es allemal. Der Pilger kam zu Beginn des Monats Mai 1523 in Venedig an. Bei dem milden Frühlingsklima brauchte er sich keine Unterkunft zu suchen; er schlief auf dem Markus-Platz, unter den Arkaden des Dogenpalastes und der anderen Gebäude rings um den Platz, in denen die Fäden der Macht zusammenliefen, mit der die „Republik des heiligen Markus" regiert wurde, den so genannten „Procuratie vecchie". Was er für seinen Lebensunterhalt benötigte, erbettelte er sich. Auf keinen Fall wollte er den kaiserlichen Gesandten (Alonso Sánchez) um Hilfe angehen, was für ihn als Spanier der einfachste Weg gewesen wäre, um seinem Ziel, Jerusalem, näher zu kommen. 16 Und er verwandte auch keine besondere Mühe darauf, eine Gelegenheit zur Überfahrt zu suchen. Und er hatte in seiner Seele eine große Gewißheit, daß Gott einen Weg für ihn finden würde, nach Jerusalem zu gelangen. Und diese Gewißheit bestärkte ihn so, daß keinerlei Vernunftgründe und Befürchtungen, die man ihm vorhielt, in ihm einen Zweifel erwecken konnten.

Eine Überfahrt im Vertrauen auf Gott

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3. Eine Überfahrt im Vertrauen auf Gott Eines Tages begegnete Iñigo einem reichen Spanier, der ihn über seine Absichten und sein Reiseziel befragte. Der spanische Landsmann, dessen Namen Ignatius nicht nennt und der bis heute unbekannt geblieben ist, lud den Pilger zum Essen in seinem Hause ein.17 Entsprechend einer seit dem Aufenthalt in Manresa angenommenen Gewohnheit sprach Iñigo während der Mahlzeit nur wenig, nahm aber danach die Gelegenheit wahr, das Gespräch auf Gott zu lenken. Durch sein bescheidenes Auftreten gewann er das Vertrauen der Familie des Spaniers in dem Maße, daß man ihn am liebsten im Hause behalten hätte. Doch Iñigo wollte ja so schnell wie möglich zu dem ersehnten Ziel seiner Reise, nach Jerusalem, gelangen. Der Hausherr verschaffte ihm eine Audienz bei dem erst vor wenigen Tagen (am 10. Mai 1523) gewählten Dogen Andrea Gritti (1455-1538). Auch auf den Dogen, der zu den bedeutendsten Staatsoberhäuptern gehört, die die „Republik des heiligen Markus" in ihrer Geschichte hatte,18 machte der Pilger offenbar einen sehr positiven Eindruck; auf seine Anweisung erhielt Iñigo einen Platz auf dem Schiff Negrona zugeteilt, das den Gouverneur Niccolö Dolfin und andere venezianische Regierungsbeamte nach Zypern bringen sollte. Aus dem Bericht des Ignatius wird deutlich, wie schwierig es gerade im Jahre 1523 war, nach Outremer zu gelangen. Die einzige Möglichkeit des Zugangs zum Heiligen Land lief über Venedig, das aufgrund von Staatsverträgen mit den Sultanen von Istanbul und Ägypten in jedem Jahr ein einziges Pilgerschiff ausrüsten durfte. Die Jerusalem-Pilger versammelten sich deshalb in großer Zahl zu Pfingsten in der Lagunenstadt, um für teueres Geld einen Schiffsplatz zu ergattern. Im Jahre 1523 waren jedoch die meisten Pilger enttäuscht wieder abgereist, nachdem es sich herumgesprochen hatte, daß der Sultan Süleyman II. der Prächtige (1494-1566) die bis dahin von den Johannitern gehaltene Insel Rhodos (am 12. Dezember 1522) erobert hatte. Es waren insgesamt nur noch 22 Pilger in Venedig zurückgeblieben, von denen sich dann 21 einschifften. Uber diese und andere Einzelheiten der Pilgerreise im Jahre 1523 sind wir durch die erhaltenen Chroniken von zwei der damaligen Reisegefährten unterrichtet: es waren Peter Füessli (Füssly), ein Glocken- und Waffengießer aus Zürich," und Philipps Hagen, ein Adeliger aus der Gegend von Straßburg.20 Beide Chroniken stimmen in den berichteten Einzelheiten weitgehend überein; der Name Iñigos wird in ihnen nicht erwähnt. Peter Füessli und sein Freund und Mitbürger Heini (Heinrich) Ziegler waren am 9. Mai 1523 von Zürich weggeritten und über Einsiedeln, den Arlberg- und den Reschenpaß am 22. Mai nach Venedig gelangt. Dort schloß sich ihnen ein weiterer Schweizer, Hans Hünegg aus Mellingen im Aargau, an. Die drei Schweizer, der Tiroler Konrad Bernhart, Bäckermeister in Rom, und vier Spanier schifften sich auf der Negrona ein. Von seinen Landsleuten erwähnt Ignatius einen

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mit Namen: den Komtur des Johanniter-Ordens Diego Manes.21 Die übrigen dreizehn Pilger - es waren elf Niederländer, ein lothringischer Adeliger und der Chronist Philipps Hagen - fuhren mit einem kleineren Schiff, dessen Kapitän Jacopo Alberto hieß. Er stach am 29. Juni (St. Peter und Paul) in See.22 Das Auslaufen der Negrona, die unter dem Kommando des Benedetto Ragazzoni stand, verzögerte sich bis zum 14. Juli. Kurz davor war Iñigo an einem schweren Fieber erkrankt. Er ging trotzdem, gegen den Rat des Hausarztes seiner venezianischen Gastgeber, an Bord, und das, obwohl er ein starkes Abführmittel genommen hatte. Ein heftiges Erbrechen verschaffte ihm jedoch Erleichterung und leitete seine vollständige Genesung ein. Bei der rüpelhaften Besatzung des Schiffes (es waren 32 Matrosen) machte sich Iñigo alsbald unbeliebt, als er ihre Zoten (suciedades) und die ganz ungeniert ausgeübten homosexuellen Praktiken (torpezas manifiestas) scharf tadelte. Seine spanischen Landsleute warnten ihn, er solle lieber den Mund halten; sie hatten gehört, wie die Matrosen beratschlagten, ihn auf einer Insel auszusetzen. Aber „Unser Herr" fügte es, daß sie bald nach dem Vorfall auf Zypern ankamen. Weder Füessli noch Hagen äußern sich über das Verhalten und den moralischen Zustand der venezianischen Schiffsbesatzungen. Füessli, der als Hauptmann mehrfach Schweizer Reisläufer befehligt hatte, wird dabei nichts Besonderes gefunden haben. Merkwürdig ist, daß er Iñigo, mit dem er fast drei Monate auf engstem Raum zusammenlebte, keiner Erwähnung für wert gehalten hat. Man kann daraus jedoch nicht - wie es hyperkritische Historiker in ähnlichen Fällen zu tun belieben - auf die Unglaubwürdigkeit des Ignatius oder die Unechtheit seines Berichts schließen. Die Negrona lief, genau einen Monat nach ihrer Abfahrt von Venedig, am 14. August, in den Hafen von Famagusta ein. Der ursprüngliche Plan der Reise sah vor, daß das Schiff nach Beirut weitersegeln sollte, von wo aus die Pilger dann auf dem Landweg durch Syrien nach Jerusalem weiterziehen sollten. Auf die Nachricht von der in Syrien herrschenden Pest verließen sie jedoch die Negrona und ritten zu dem Hafen von Salines (heute: Larnaka).23 Dort bestiegen sie das kleinere Pilgerschiff, das seit dem 1. August im Hafen lag. Ignatius behauptet, er habe an Bord des Schiffs nichts weiter mitgebracht „als das Vertrauen, das er auf Gott setzte, so wie er es schon bei dem anderen Schiff getan hatte". Es ist jedoch nicht sehr wahrscheinlich, daß er während der monatelangen Fahrt den übrigen Passagieren zur Last gefallen wäre, indem er sie um seinen Lebensunterhalt anbettelte. Man kann also vermuten, daß seine venezianischen Gastgeber in der Weise für ihn vorgesorgt hatten, daß sie das, was er zum Uberleben brauchte, entweder dem Kapitän oder den spanischen Landsleuten Iñigos anvertraut hatten. Der Pilger erwähnt das nicht, weil es seinem Lebensprinzip, dem absoluten Vertrauen auf Gott, widersprach. Das Pilgerschiff stach am 19. August mit Kurs auf Jaffa in See, wo man fünf Tage später (24. August 1523) ankam. Während dieses letzten Teils

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der Reise, wohl aber auch schon vorher, hatte Iñigo häufige Visionen, in denen er „Unseren Herrn" sah. Aus diesen Erscheinungen schöpfte er Kraft und Trost. Er erinnert sich, daß Christus einmal die Gestalt eines großen runden Gebildes (una cosa redonda y grande) aus Gold hatte. Ganz gleich, ob es eine Kugel oder eine Scheibe war und was immer man über die psychologische Bedeutung der Erscheinung eines strahlenden, runden Gebildes spekulieren kann: das Bild, hier aus den Tiefen seiner Seele aufstieg, gab dem Pilger die Gewißheit, daß sein äußerer und innerer Weg durch Christus, die „Sonne der Gerechtigkeit" (Mal 4,2) erleuchtet wurde.

4. Im Heiligen Land Während sich der Patron Jacopo Alberto zur Erledigung der Einreiseformalitäten nach Jerusalem begab, mußten die Pilger eine Woche lang im Hafen von Jaffa warten. Am 1. September konnten sie dann alle den Boden des Heiligen Landes betreten. Sie bestiegen die Esel, auf denen sie, unter dem Geleit der türkischen Eskorte, die mit dem Schiffspatron gekommen war, nach Jerusalem ritten. Im Gegensatz zu den beiden alemannischen Chronisten übergeht Ignatius die einzelnen Schwierigkeiten und Hindernisse, mit denen sich die Reisenden befassen mußten, mit Stillschweigen. Statt dessen schildert er ausführlich die große innere Ergriffenheit, die von allen Besitz ergriff, als sie auf dem Hügel angelangt waren, von dem aus man die Heilige Stadt überblicken konnte. Der Ort trug seit dem Ersten Kreuzzug (1099) den Namen Montjoie (Freudenberg).24 Ungefähr zwei Meilen vor Jerusalem sagte ein offensichtlich adeliger Spanier namens Diego Manes mit innerer Ergiffenheit zu den übrigen Pilgern: da sie nun in wenigen Minuten zu dem Punkt kämen, von dem aus sie die Heilige Stadt erblicken könnten, wäre es wohl angebracht, daß sich jeder innerlich vorbereite und daß man in Stillschweigen weiterziehe. Allen dünkte dieser Vorschlag gut, und ein jeder suchte sich nun zu sammeln. Kurz bevor sie zu dem Punkt kamen, von wo die Stadt zu sehen ist, saßen sie ab, da sie eine Gruppe von Mönchen mit einem Kreuz sahen, die sie erwarteten. Beim Anblick der Stadt empfand der Pilger eine große Tröstung. Und das war nach Aussage der anderen Pilger bei allen der Fall. Dazu kam eine innere Freude, die ihm nicht mehr rein natürlich erschien. Die gleiche Ergriffenheit verspürte er, so oft er die heiligen Stätten besuchte. Die „Mönche" (los frailes), die die Pilger auf der Anhöhe Montjoie erwarteten, waren Franziskaner, denen mit der Kustodie des Heiligen Grabes vom Papst auch die kirchliche Jurisdiktion über die Jerusalem-Pilger aus dem Westen übertragen war.25 Mit ihnen geriet Iñigo in Konflikt wegen der persönlichen Ziele seiner Reise.

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Wenn wir seinen oben zitierten Worten glauben dürfen, dann hatte sich für ihn die Wallfahrt allein schon aufgrund der ihm geschenkten inneren Erlebnisse gelohnt. Was waren aber die eigentlichen Beweggründe für die Pilgerfahrt nach Jerusalem? Iñigo selbst gibt an, daß er, im Unterschied zu den meisten Pilgern, von Anfang an vorhatte, „für immer in Jerusalem zu bleiben und nur noch jene heiligen Stätten zu besuchen". Der Besuch der heiligen Orte, welche die Füße des Erlösers berührt hatten, erfüllte ihn mit großer Freude und Ergriffenheit. Hier ist, wie in den Exerzitien, das materielle, geschichtliche Element und der emotionale Kontakt damit die erste Stufe der geistlichen Meditation. Aber anders als der Schüler der Exerzitien muß man sich nicht mit Hilfe der Phantasie und Imagination an den heiligen Ort versetzen: im Heiligen Land sind die heiligen Orte konkret erlebbar. Ignatius gibt noch einen zweiten Grund für seine Absicht, in Jerusalem zu bleiben, an: Außerdem hatte er sich vorgenommen, neben dieser Frömmigkeitsübung sich auch noch der Seelenhilfe zu widmen. Und zu diesem Zweck brachte er Empfehlungsschreiben für den Guardian mit. Die übergab er ihm und teilte ihm seine Absicht mit, wegen seiner Frömmigkeit dort zu bleiben. Er verschwieg jedoch den zweiten Teil: daß es darum ging, den Seelen zu helfen; das sagte er nämlich niemandem, während er den ersten Teil schon bei vielen Gelegenheiten offen bekanntgegeben hatte. Was er hier zurückhaltend „Seelenhilfe" (ayudar, aprovechar las ánimas) nennt, ist nichts anderes als das, was er auch schon in Spanien praktiziert hatte: geistliche Gespräche mit allen möglichen Menschen; wenn sich die Gelegenheit ergab, Einführung in die Exerzitien. Als Ziel schwebte ihm dabei nichts geringeres als die Bekehrung der Bewohner Palästinas vor, eine Art von geistlichem Kreuzzug an dem Ort, wo die militärischen Kreuzzüge im 13. Jahrhundert endgültig gescheitert waren. Der Beweis dafür, daß genau dies sein geheimer Plan war, ist die Hartnäckigkeit, mit der er daran festhielt. Als er über dreizehn Jahre später die ersten acht Gefährten in Venedig versammelte, um bei nächster Gelegenheit ein Schiff nach Palästina zu besteigen, war sein Ziel noch immer Jerusalem und die erste Aufgabe, die seine neue Gemeinschaft übernehmen sollte, die „Seelenhilfe" für die Bewohner des Heiligen Landes. Beide Versuche des Ignatius, dort Fuß zu fassen, scheiterten: beim ersten Aufenthalt gab ihm der Provinzial der Franziskaner von Jerusalem kraft päpstlicher Autorität die Anweisung, das Land nach Besuch der heiligen Stätten so schnell wie möglich wieder zu verlassen, und er gehorchte. Der zweite Anlauf endete wegen eines erneuten Türkenkrieges schon in Venedig. Aber auch als er schon längst als General der Gesellschaft Jesu amtierte und Rom bei ihm und seinem Orden den Platz von Jerusalem eingenommen hatte, zeigte er ein brennendes Interesse an der Kreuzzugsidee. Im Jahr 1550 unternahm Juan de Vega, Vizekönig von Sizilien, im Auftrag Kaiser Karls V. eine Expedition nach Nordafrika. Ignatius erwirkte von dem

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Papst Julius III. für die Krieger den Jubiläumsablaß des Heiligen Jahres 1550 mit dem „Nachlaß aller Sünden" (omnium peccatorum remissionem), den normalerweise nur die Rom-Pilger gewinnen konnten, und teilte das den Befehlshabern in einem auf den 9. Juli 1550 datierten Brief mit.26 Doch wir sind dem zeitlichen Ablauf der Ereignisse vorausgeeilt und kehren zum Bericht des Ignatius über seine Erlebnisse in Jerusalem zurück. Der Guardian des Franziskaner-Konvents auf dem Zionsberg, dem Iñigo die mitgebrachten Empfehlungsschreiben 27 vorlegte, sagte ihm, er sehe keine Möglichkeit, wie sein Anliegen verwirklicht werden könnte. Der Konvent befand sich nämlich in einer solchen Notlage, daß man kaum die anwesenden Brüder ernähren konnte; deshalb hatte man sich entschlossen, einige von ihnen gemeinsam mit den Pilgern zurückzuschicken. Iñigo entgegnete, er werde keinerlei Ansprüche an das Kloster stellen, außer daß er gelegentlich zum Beichten kommen wolle. Der Guardian meinte, darüber könne man reden, wollte aber doch die Ankunft des ihm vorgesetzten Provinzials abwarten, um ihm die Entscheidung zu überlassen. Ab Vorabend der Abreise der Pilger von Jerusalem - es war der 22. September 1523 - als Iñigo dabei war, Briefe an „geistliche Personen" in Barcelona zu schreiben, ließen ihn der Provinzial und der Guardian rufen. Nach anerkennenden Worten für seine guten Absichten teilte ihm der Provinzial mit, er müsse, aufgrund der schlimmen Erfahrungen, die man in der Vergangenheit mit Pilgern gemacht hatte - sie waren entweder ermordet oder gefangen genommen worden - , am nächsten Tag mit den anderen abreisen. Als Iñigo darauf entgegnete, er wolle um gar keinen Preis von seinem Vorhaben Abstand nehmen, eröffnete ihm der Provinzial, die Franziskaner hätten vom Apostolischen Stuhl die Vollmacht, ihn im Falle des Ungehorsams zu exkommunizieren. Er wollte ihm die entsprechenden päpstlichen Bullen vorlegen, doch Iñigo verzichtete darauf und erklärte, er glaube den Hochwürdigen Herren, und da sie nun einmal, im Besitz ihrer Amtsgewalt, zu diesem Urteil gekommen seien, werde er ihrer Entscheidung gehorchen.28 Nach der Rückkehr in sein Quartier erwachte in ihm der dringende Wunsch, vor der Abreise noch einmal den Olberg aufzusuchen, - „wenn es schon nicht der Wille Unseres Herrn war, daß er sich auf Dauer an den heiligen Stätten aufhielt". Er wollte noch einmal den Stein ansehen, auf dem Christus unmittelbar vor seiner Himmelfahrt gestanden hatte und auf dem noch die Abdrücke seiner Füße zu erkennen waren.29 Ohne einen der türkischen Wächter mitzunehmen, lief er allein zum Olberg. Dort erkaufte er sich von den Wachleuten, die ihm den Eintritt in die Kapelle verwehren wollten, mit einem Federmesser aus seinem Schreibzeug den Zugang. Das Gebet an dem heiligen Ort gab ihm nicht geringen Trost. Danach verspürte er den Wunsch, auch noch einmal nach Bethphage zu gehen.30 Als er dort angekommen war, konnte er sich nicht mehr erinnern, wo genau sich auf dem Ölberg der rechte und wo sich der linke Fußabdruck Christi befunden hatte. Er kehrte zurück, um sich zu vergewissern, und erkaufte sich diesmal den Zugang zu der Himmelfahrts-Kapelle mit seiner Schere.

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Als man im Kloster seine Abwesenheit bemerkte, schickte man einen von den syrischen Hausdienern, einen so genannten „Gürtelchristen" aus, um ihn zu suchen. Iñigo begegnete ihm beim Abstieg vom Olberg. Der grobe Kerl ließ ihn sein Mißfallen spüren, bedrohte ihn sogar mit seinem Stock. Dann packte er ihn am Arm und ließ ihn bis zum Kloster nicht mehr los. Als Iñigo so unter dem Geschimpfe des „Gürtelchristen" gewissermaßen als Gefangener in sein Quartier zurückgebracht wurde, empfand er erneut große Tröstung, denn er konnte sich in der Nachfolge Christi sehen, der ja auch als Gefangener vom Olberg abgeführt worden war. Und er hatte den Eindruck, daß Christus unmittelbar über ihm schwebte. Den Ort der Himmelfahrt Christi hat Ignatius insgesamt dreimal aufgesucht. Wenn man seinen Bericht darüber liest, - den Besuch aller anderen heiligen Stätten erwähnt er ganz nebenbei mit einer einzigen Bemerkung31 könnte man den Eindruck haben, daß hier ein naiver Frömmler seine abergläubischen Gefühle kultiviert. Das Gegenteil ist der Fall. Obwohl Ignatius noch keine einzige theologische Vorlesung gehört hat, besitzt er doch ein untrügliches Gespür für das, was in der Religion wichtig ist. Und die Tatsache, daß er ein theologischer Autodidakt ist, schließt nicht aus, daß er ein religiöser Denker ist. Der Stein auf dem Olberg ist die imaginäre Stelle, wo die „Historie" aufhört und der transzendente Bereich beginnt. Die biblischen Geschichten kann man sich mit Hilfe der Phantasie ins Gedächtnis rufen, der „Himmel" wird nur auf visionärem Wege erfahrbar. (Deshalb schwebt Christus auf dem Rückweg vom Olberg über Iñigo). Dies entspricht sowohl dem „geistlichen" Leben des Ignatius wie der inneren Struktur und Intention der Exerzitien. Daß die äußere „Historie" bis hin zur gegenwärtigen politischen Lage des Heiligen Landes für Ignatius alles andere als eine Nebensache ist, beweisen seine Pilgerreise, der lange anhaltende Wunsch, an den heiligen Orten zu leben und das lebenslängliche Interesse am „heiligen Krieg". Die Rückreise war nicht weniger abenteuerlich als die Hinreise. Die Gruppe der Pilger verließ am 23. September 1523, nach Einbruch der Nacht (gegen 22 Uhr), auf dem Rücken von Eseln reitend Jerusalem. Die Franziskaner hielten diese Vorsichtsmaßnahme für angebracht, da kurz zuvor eine Abteilung von 500 türkischen Kriegsleuten angekommen war. Sie hatten an den vorausgegangenen Tagen die Pilger schon mehrfach belästigt und versucht, sie auszurauben.32 Die Nacht vom 21. auf den 22. September hatten die Pilger noch in der Grabeskirche verbracht, und der Guardian des Franziskaner-Klosters hatte drei adelige Herren in feierlichem Zeremoniell zu Rittern vom Heiligen Grab geschlagen: Philipps Hagen von Straßburg (den Chronisten), den Lothringer Jörg von Cröngürt und den Flamen Erhart Ride von Risal.33 Den Teilnehmern an der nächtlichen Zeremonie blieb verborgen, daß einer von den Anwesenden ein Mitglied des spanischen Hochadels war: Iñigo López de Loyola. Der hätte sich ohne weiteres unter die Ritter des Heiligen Grabes aufnehmen lassen können. Aber er hat das Ereignis nicht einmal erwähnt.

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5. Rückreise nach Spanien und Änderung des Lebensplans Nach vielen Belästigungen durch die eigene Wachmannschaft und einem achttägigen Aufenthalt in Rama (24. September - 1. Oktober) konnten die Pilger schließlich am 3. Oktober von Jaffa aus in See stechen. Erst am 13. Oktober lief Jacopo Albertos Schiff in den Hafen von Salines auf Zypern ein. (Die Mannschaft war offenbar ebenso unfähig wie ihr Kapitän, und das Schiff war ein leckender Seelenverkäufer). Auf Zypern trennten sich die Wege der Pilger. Da das Staatsschiff Negrona, auf dem für Iñigo ein Platz reserviert war, bereits zehn Tage vorher ausgelaufen war, suchten die Pilger auf einem der drei noch im Hafen liegenden Schiffe privater Unternehmer unterzukommen. Das größte und schönste davon gehörte dem reichen Kaufmann Girolamo Contarini. Den baten einige von den Pilgern vergebens darum, Iñigo umsonst mitzunehmen, indem sie ihm sein untadeliges Leben vorstellten. Die höhnische Antwort des hochmütigen Venezianers hat sich Ignatius tief eingeprägt: Wenn er wirklich ein Heiliger sei, dann solle er die Reise doch so machen, wie sie einst der heilige Jakobus gemacht hatte, oder so etwas Ahnliches.

Die Antwort spielt auf die Legende von Santiago de Compostela an: nach ihr war der Leichnam des Apostels Jakobus des Älteren in Palästina einem Schiff ohne Steuermann anvertraut worden und auf wunderbare Weise an den späteren Wallfahrtsort gelangt.34 Iñigo wurde ohne Schwierigkeiten von dem Kapitän des kleinsten der Schiffe aufgenommen. Alle drei Schiffe stachen am 1. November 1523 in See. Noch am Abend des gleichen Tages kam ein heftiger Sturm auf, bei dem das Schiff Contarinis vor der Küste von Zypern unterging; die an Bord befindlichen Leute konnten sich aber retten. Nicht so viel Glück hatten Besatzung und Fahrgäste des dritten Schiffs, das einem Türken gehörte: es ging unter mit Mann und Maus. Auch das kleine Schiff, auf dem Iñigo Platz gefunden hatte, kam in Seenot und wurde an die Küste von Apulien getrieben.35 Ignatius erinnert sich, daß es schneite und bitter kalt war; in seinen dürftigen, zerlumpten Kleidern war er dem bösen Wetter schutzlos ausgeliefert. Am 13. Januar 1524 lief das Schiff in Venedig ein. Seit der Abfahrt von Zypern waren zweieinhalb Monate vergangen. In Venedig begab sich Iñigo zu einem von den beiden Männern, bei denen er vor der Abreise nach Jerusalem Unterkunft gefunden hatte. Es war entweder der von ihm früher schon erwähnte reiche spanische Landsmann36 oder der venezianische Senator Marcantonio Trevisan (Doge von 1553 bis 1554).37 Von einem dieser wohlhabenden Gastgeber jedenfalls erhielt der Pilger ein Zehrgeld von 15 oder 16 Juliern (der Julier hatte den Wert eines Zehnteldukaten) und ein Stück Wollstoff, das er als Leibbinde tragen konnte, um seinen

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VI. Wallfahrt nach Jerusalem

empfindlichen Magen vor der Kälte zu schützen. Noch in Venedig stellte er eine wichtige Überlegung bezüglich seiner zukünftigen Lebensgestaltung an.38 Als der genannte Pilger begriff, es sei Gottes Wille, daß er nicht auf Dauer in Jerusalem bliebe, überlegte er beständig bei sich selbst, was er tun solle. Und am Ende neigte er sich der Entscheidung zu, eine Zeitlang zu studieren, um den Seelen helfen zu können, und er entschloß sich, nach Barcelona zu gehen. Danach brach er von Venedig nach Genua auf. Auf dem Wege durch Oberitalien, das Schauplatz des Krieges zwischen Kaiser Karl V. und König Franz I. von Frankreich war, hatte der Pilger noch manche Gefahren zu bestehen. Schon in Ferrara war er sein ganzes Geld an zudringliche Bettler losgeworden. Einmal wurde er von spanischen Wachposten, die ihn für einen Spion hielten, festgenommen. Als die Soldaten ihn zu ihrem Hauptmann schleppten, vergegenwärtigte er sich in seiner Vorstellung, wie Christus von seinen Bewachern fortgeschleppt worden war. Er hatte also ähnliche Empfindungen wie einige Monate davor in Jerusalem, als ihn der Hausdiener der Franziskaner unter Gewaltanwendung vom Olberg ins Kloster zurückgeführt hatte. Diesmal hatte er allerdings kein visionäres Erlebnis. Dem ihn verhörenden Hauptmann gegenüber machte Inigo - wohl nicht ganz unabsichtlich - den Eindruck eines Verrückten. Der Hauptmann ließ ihm seine Sachen aushändigen und ihn hinauswerfen. Ein zufällig vorbeikommender Spanier nahm ihn mit sich nach Hause, beköstigte ihn und beherbergte ihn für die Nacht, so daß er am nächsten Morgen gestärkt seinen Weg fortsetzen konnte. Am Nachmittag wurde er erneut festgenommen, diesmal von französischen Posten. Aber er hatte Glück, weil der Hauptmann sich als ein baskischer Landsmann zu erkennen gab. Er wies seine Soldaten an, den Pilger freundlich zu behandeln und ihn mit Essen zu versorgen. In Genua angekommen, traf Inigo einen weiteren baskischen Landsmann, Rodrigo Portuondo. Er hatte den Oberbefehl über die spanischen Galeeren. Inigo kannte ihn aus der Zeit seines höfischen Dienstes. Portuondo besorgte ihm einen Platz auf einem Schiff, das nach Barcelona fuhr. Auch diese verhältnismäßig kurze Seereise war keineswegs gefahrlos, da der damals in französischen Diensten stehende Admiral Andrea Doria Jagd auf die spanischen Schiffe machte. Wie Ignatius selbst später sagt, kam er „in der Fastenzeit 1524" in Barcelona an.39 Es wird Anfang März gewesen sein.

VII STUDIENJAHRE

1. An den Hohen Schulen Spaniens Vorbereitender Unterricht in Barcelona Gleich nach seiner Ankunft in Barcelona begann Iñigo nach Mitteln und Wegen zu suchen, wie er seinen in Venedig gefaßten Plan, „eine Zeitlang zu studieren, um den Seelen helfen zu können", verwirklichen könnte. Er besprach die Angelegenheit mit Isabel Roser (Guisabel Roscer), die er schon von seinem ersten Aufenthalt in Barcelona her kannte. Man darf annehmen, daß es bei diesem Gespräch um die Finanzierung seines Studiums und seines Lebensunterhalts ging. Er wollte sich also wohl nicht mehr allein auf das Betteln verlassen. Des weiteren sprach Iñigo mit einem gewissen Magister Ardévol. Jerónimo Ardévol war Lehrer der Grammatik, das heißt: der Grundlagen der lateinischen Sprache, an den „Hohen Schulen" (Escuelas mayores) von Barcelona.1 Er machte Iñigo das Angebot, ihm privaten Unterricht zu erteilen. Aber der wollte doch nicht ganz auf die Beschäftigung mit geistlichen Dingen verzichten, erst recht nicht darauf, „den Seelen zu helfen".2 Er erinnerte sich an einen Mönch des Cistercienser-Priorats San Pablo y Valldaura bei Manresa;3 er meinte, wenn er den als Lehrmeister gewänne, könnte er neben dem Grammatik-Studium noch Zeit für seine spirituellen und pastoralen Interessen finden. Er nahm deshalb Ardévols Angebot an, entschuldigte sich aber zugleich in höflicher Form, da er zunächst den Cistercienser in Manresa aufsuchen wollte. Doch in der Stadt am Cardoner erfuhr er, daß der Mönch bereits gestorben war. So kehrte er nach Barcelona zurück und nahm den Latein-Unterricht bei Jerónimo Ardévol auf.4 Die beiden wohlhabenden Damen, die schon früher für seinen Lebensunterhalt gesorgt hatten, gewährten ihm auch jetzt großzügig Unterstützung: im Hause von Inés Pascual fand er Unterkunft, Isabel Roser versorgte ihn mit dem nötigen Taschengeld.5 Ob Ignatius bereits in Barcelona im Zuge seiner Latein-Studien mit Erasmus von Rotterdam über dessen Werk „Echiridion militis christiani" bekannt wurde, ist in der Forschung umstritten; in den Quellen finden sich darüber gegensätzliche Aussagen. Pedro de Ribadeneira und Juan de Polanco berichten in ihren Lebensbeschreibungen übereinstimmend, Ignatius habe in Barcelona auf den Rat einiger Bekannter und seines damaligen Beichtvaters das „Enchiridion" gelesen, das hinsichtlich seines religiösen Gehalts und der Qualität seines Stils geschätzt wurde; im Verlauf der Lektüre habe er aber

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VII. Studienjahre

gespürt, wie der Geist und die Glut der Frömmigkeit bei ihm abgenommen hätten; darauf habe er das Buch beiseite gelegt; er habe dagegen eine so große Abneigung bekommen, daß er später die Lektüre aller Werke des Erasmus in der Gesellschaft verboten habe; dabei habe er sehr wohl gewußt, daß Erasmus auch Werke verfaßt hatte, in denen nichts Schlechtes enthalten war; aber er habe gerade deswegen befürchtet, daß seine Jünger, wenn sie einmal das Gute schätzen gelernt hätten, auch bezüglich des schlecht Geschriebenen zu dem Autor Vertrauen faßten; im Gegensatz zu dem „Enchiridion" des Erasmus habe Ignatius die „Nachfolge Christi", als deren Verfasser Johannes Gerson oder Thomas von Kempen galt, sehr geschätzt und sie anderen zur Lektüre empfohlen.6 Im Widerspruch dazu scheint zu stehen, wenn P. Ribadeneira an anderer Stelle berichtet, Ignatius habe das „Enchiridion" während seines Studiums in Alcalá gelesen; die Lektüre der Werke des Erasmus habe er für den Orden verboten, bevor dies der Papst (im Index von 1557) für die ganze Kirche getan habe.7 C A N D I D O D E D A L M A S E S hat m. E. in einem einzigen Satz eine überzeugende Lösung des (scheinbaren) Widerspruchs vorgetragen: „Es steht nichts der Annahme entgegen, daß dem Ignatius sowohl in Barcelona als auch in Alcalá die Lektüre der Werke Werke des Erasmus empfohlen wurde, in Barcelona als Vorbild für die lateinische Sprache, in Alcalá als Traktat über das geistliche Leben."8 D A L M A S E S hat auch zahlreiche Belege aus den Quellen zusammengestellt, die keinen Zweifel daran lassen, daß Ignatius die Lektüre der Werke des Erasmus tatsächlich verboten hat.9 Aber bereits als er zum ersten Mal mit Spiritualität und Theologie des niederländischen Humanisten in Berührung kam, muß er erkannt haben, daß sein eigener geistlicher Weg ein ganz anderer war. Weder die intellektuell geprägte Theologie noch die Philologie hatten für ihn eine entscheidende Bedeutung. Das zeigte sich schon bei dem Bemühen um die Grundlagen der lateinischen Sprache; der immerhin schon dreiunddreißigj ährige Schüler wurde dabei unvermutet mit einer Art mentaler Barriere konfrontiert: sobald er mit dem Auswendiglernen der grammatischen Regeln begann, stellten sich neue geistliche Einsichten und neue Stimmungen (nuevas inteligencias de cosas espirituales y nuevos gustos) ein, deren er sich nicht erwehren konnnte. Wenn Iñigo darüber nachdachte, mußte er erkennen, daß ihm nicht einmal beim Gebet so lebhafte Einsichten kamen. So kam er zu der Auffassung, daß es sich hier um eine Versuchung handelte (que aquello era tentación). Als das bei ihm zur Gewißheit geworden war, bat er seinen Lehrer, ihn zur Kirche Santa María del Mar zu begleiten,10 wo er ihm eine kurze Mitteilung machen wollte. In der Kirche angekommen, legte er dem Lehrer seine Schwierigkeiten offen. Dann gab er ihm das Versprechen, in den kommenden zwei Jahren niemals den Unterricht zu versäumen, wenn er in Barcelona nur Brot und Wasser zu seinem Lebensunterhalt finde. Danach verließen ihn die genannten Versuchungen - endgültig. Für den Kenner der Psyche und der Spiritualität des Ignatius ist klar, was hier vorgegangen ist: Zunächst kommt Iñigo zu einer „Unterscheidung der

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Geister". Nachdem er erkannt hat, daß es sich um Versuchungen (natürlich des bösen Geistes!) handelt, praktiziert er in einer Kirche ein eigenartiges Ritual, in dem Elemente des Gelübdes und des Exorzismus zu erkennen sind. Daß er eine Marien-Kirche dafür aussucht, ist keineswegs Zufall oder Nebensache. Nicht wenige definitive Entscheidungen im Leben des Ignatius fallen in Heiligtümern der Jungfrau Maria. Ignatius erinnert sich noch, daß es ihm während seines zweijährigen Aufenthalts in Barcelona gesundheitlich nicht schlecht ging. Er hatte nicht mehr unter den (vermeintlichen) Magenschmerzen zu leiden, deretwegen er sich an das Tragen von Schuhen gewöhnt hatte. Es überkam ihn der Wunsch, die früheren Bußübungen wieder aufzunehmen. Er schnitt Löcher in die Schuhsohlen, die er allmählich vergrößerte. Bei Einbruch der Winterkälte war nur noch das Oberleder übrig geblieben, so daß er nun seine Füße, wie es seiner Sehnsucht entsprach, mittels des Frostes und der Unebenheiten des Weges kasteien konnte, ohne daß es jemandem auffiel. Ignatius läßt an dieser Stelle seiner Erinnerungen nichts davon verlauten, daß er neben seinen Sprachstudien noch mit anderen Dingen beschäftigt war. Wie man sich denken kann, konnte er nicht von seinem Eifer für die „Rettung der Seelen" lassen. Er meinte, sich um die Reform der Frauenklöster kümmern zu müssen, in denen die Disziplin einen Tiefstand an Verkommenheit erreicht hatte. Man weiß, daß sich Iñigo um drei von den insgesamt acht Frauenkonventen kümmerte, die sich damals in Barcelona befanden. Dazu gehörte das Dominikanerinnen-Kloster Unserer Lieben Frau von den Engeln. Die Klausur wurde dort überhaupt nicht mehr beachtet, und Besucher verschiedenster Art gingen ein und aus, unter ihnen, wie man sich denken kann, auch die Liebhaber der Nonnen. Als die eines Tages vor der verschlossenen Klosterpforte standen, versuchten sie es zunächst mit Drohungen gegenüber Iñigo, in dem sie nicht zu Unrecht den Verursacher für die ungewohnte Verschlossenheit der Klosterdamen sahen. Als sich Iñigo unbeeindruckt zeigte, lauerten sie ihm auf und verpaßten ihm mit Knüppeln eine Tracht Prügel, so daß er im Gelände liegenblieb. Auch sein Beichtvater Juan Pujalt, der ihn bei seinen Aktionen unterstützte, bekam sein Teil ab. Die Kenntnis von diesem Ereignis stammt aus dem Bericht des Juan Pascual, in dessen Haus man den schwer angeschlagenen Iñigo gebracht hatte. Er brauchte 53 Tage, um seine Verletzungen (im Haus von Agnès Pascual) auszukurieren." Mit den Hieronymitinnen des Klosters St. Matthias am PadróPlatz hatte Iñigo schon während seines ersten Aufenthalts in Barcelona Bekanntschaft gemacht. Von langjähriger Dauer waren seine Beziehungen zu den Nonnen von Sankt Klara. Die ehemaligen Klarissen hatten, nach langen Auseinandersetzungen um die Reform ihres Klosters, erst 1513 die Benedikts-Regel angenommen.12 Noch als Ordensgeneral in Rom führte Ignatius einen Briefwechsel mit einer von ihnen, Teresa Rejadella, die sich mit einer gleichgesinnten Gruppe von Klosterfrauen den Satzungen der Gesellschaft Jesu unterstellen wollte.13

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Nach ungefähr zwei Jahren vorbereitender Studien hielt sein Lehrer Ardévol Iñigo für fähig, das ordentliche Stduium der Artes, d.h., der philosophischen Disziplinen, an der Universität von Alcalá aufzunehmen. Gleichwohl unterzog er sich noch einem Examen durch einen Doktor der Theologie, um sich dann allein auf den Weg nach Alcalá zu machen, obwohl er schon einige Gefährten hatte." Der Satz, in dem Ignatius die Erinnerung an die letzten Tage in Barcelona festgehalten hat, ist in doppelter Hinsicht merkwürdig: 1. Warum unterzog er sich einer Prüfung in Theologie, die er doch noch gar nicht studiert hatte? Mißtraute er seiner eigenen Rechtgläubigkeit und ahnte die Schwierigkeiten, die ihm in dieser Hinsicht in Alcalá und Salamanca bevorstanden? 2. Warum betont er, daß er sich allein auf den Weg nach Alcalá machte, obwohl sich ihm, nach Erinnerung des Schreibers, P. Gon^alves da Cámara, damals bereits einige Gefährten angeschlossen hatten?15 Ich halte es für wahrscheinlich, daß sich Iñigo damals in der Tat seiner Rechtgläubigkeit vergewissern wollte, zumal er später in Alcalá (einem gefährlichen Pflaster, wie sich zeigen sollte) nicht nur die Exerzitien gab, sondern auch Katechismus-Unterricht erteilte, also die Einführung in die grundlegenden Kenntnisse des Glaubens. Die ersten Gefährten wird er an dieser Stelle wohl deshalb nicht nennen, weil sie an seiner Entscheidung nicht beteiligt und bereits vor ihm nach Alcalá gezogen waren. Juan de Polanco hat ihre vollständigen Namen überliefert: es sind Calixto de Sa, Lope de Cáceres und Juan de Arteaga.16

Alcalá: Studium der Philosophie und Sorge für die Seelen Iñigo kam Ende März 1526 in Alcalá an; er studierte dort, wie er selbst sagt, etwa eineinhalb Jahre. Die Universität von Alcalá de Henares (lat. Complutum), etwa 15 km östlich von Madrid, war im Jahre 1508 durch den Kardinal Francisco Ximénes de Cisneros (1436-1517) gegründet worden.17 Sie wurde zu einer Pflegestätte des christlichen Humanismus. In den Jahren 1514—1517 war dort die Complutenser Polyglotte, eine mehrsprachige Bibelausgabe (mit parallel abgedrucktem lateinischen, griechischen und hebräischen Text) entstanden. Mit Wissenschaft und Geist des Humanismus scheint Iñigo, wenn überhaupt, nur indirekt in Kontakt gekommen zu sein. Über seine Studien erwähnt er, er habe Vorlesungen über Logik nach Domingo Soto,18 die Naturphilosophie nach Albertus Magnus19 und die Sentenzen des Petrus Lombardus20 gehört. Die beiden zuerst genannten Studiengebiete gehören eindeutig dem Bereich der Philosophie an. Merkwürdig, aber keineswegs ungewöhnlich ist, daß Iñigo gleich zu Beginn auch theologische Vorlesungen gehört hat. Man hat nicht den Eindruck, daß es das Studium war, das den größten Teil der Zeit und der Energie Iñigos in Anspruch nahm. Im Mittelpunkt seines Interesses standen vielmehr auch in Alcalá die mit dem „geistlichen Leben" und der „Sorge für die Seelen" zusammenhängenden Betätigungen.

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Schon zu Beginn seines Aufenthalts in der Universitätsstadt hatten ihn ein Kleriker und einige andere Leute wegen seines Betteins angepöbelt, „wie man sich üblicher Weise denen gegenüber verhält, die betteln, obwohl sie noch ganz gesund sind".21 Warum mußte Iñigo gleich zu Beginn seines Studiums schon wieder betteln? Hatten ihn Isabel Roser und die anderen Gönnerinnen in Barcelona so dürftig mit Mitteln zu seinem Lebensunterhalt ausgestattet? Nach allem, was wir über die Lebensgewohnheiten Iñigos wissen, wird es so gewesen sein, daß er alles ihm zur Verfügung gestellte Geld nach kurzer Zeit wieder verteilt hatte. Vor weiteren Nachstellungen durch die öffentlichen Herumsteher bewahrte ihn der Rektor des von einem gewissen Don Luis de Antezana wenige Jahre zuvor gegründeten Spitals, indem er ihm ein Zimmer und alles für seinen Unterhalt Notwendige zur Verfügung stellte.22 In der Folgezeit kam Iñigo mit sehr vielen Menschen in Berührung. Manchen, die eine Förderung ihres religiösen Lebens von ihm erwarteten, gab er die Exerzitien. Vor allem sein Katechismus-Unterricht fand großen Zulauf. Es wandten sich allerdings auch offenbar psychisch gestörte Personen an ihn. Als Beispiel wird eine Frau genannt, die sich geißeln wollte, es aber nicht fertigbrachte, weil ihr auf rätselhafte Weise die Hand festgehalten wurde, „und andere ähnlich geartete Fälle".23 Derartige Phänomene wurden damals nicht, wie man es heute täte, als krankhafte Äußerungen angesehen; man war vielmehr geneigt, die Erklärung für sie in dämonischen Kräften zu suchen. Darauf scheint auch die eilig notierte Bemerkung des Schreibers (P. Gon^alves) hinzudeuten:24 Ich darf auch jene Angstzustände nicht vergessen, die er selber einmal in einer Nacht durchzumachen hatte. Jedenfalls fing die Gerüchte-Küche an zu brodeln, denn Iñigo war inzwischen, wegen der großen Zahl seiner Schüler, in der Stadt kein Unbekannter mehr. Die Gerüchte über seine religiösen Aktivitäten drangen schließlich zu den Ohren der Inquisitionsbehörde in Toledo, dem Sitz des Erzbischofs und Großinquisitors. Iñigo wurde über die ihm drohende Gefahr durch einen einflußreichen Mann vorgewarnt, der inzwischen zu seinen Förderern zählte und seine drei Gefährten in seinem Haus aufgenommen hatte. Es handelte sich um Miguel de Eguia, den Besitzer einer Druckerei. Im Hause des Drukkers wohnte auch dessen Bruder, der Priester Don Diego de Eguia. Die beiden aus Navarra stammenden Brüder unterstützten Iñigo nach Kräften mit ihrem Wohlwollen und ihrem Vermögen.25 Miguel hatte davon erfahren, daß Iñigo bei der Inquisition in den Verdacht der Häresie geraten war; man bezeichne ihn und seine Gefährten als „Wollkitter (oder „Grauröcke": los ensayalados) und „Erleuchtete" (alumbrados).26 Bezog sich ersteres auf das äußere Erscheinungsbild der Gefährten, so war mit dem Ausdruck „Alumbrados" der Geruch eines geheimen individualistischen und hierokratiefeindlichen Sektierertums verbunden. Wenn Miguel es für nötig hielt, Iñigo vor

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der drohenden Folter zu warnen, so zeigt das den Ernst der Situation und war gewiß keine Panikmache. Kurz darauf erschienen zwei Inquisitoren in Alcalá. Ihre Namen werden im Pilgerbericht nicht genannt. Wir kennen sie aber aus anderer Quelle: es handelte sich um Miguel Carrasco und Alonso Mejía. Sie stellten lediglich bei dritten Personen Nachforschungen über den Lebenswandel der Verdächtigten an, ohne diese selbst zu hören - „obgleich sie doch zu eben diesem Zweck gekommen waren", wie Ignatius mit unverkennbar kritischem Unterton bemerkt.27 Man hat allerdings den Eindruck, daß die Inquisitoren die Beschäftigung mit Iñigo und seinen Gefährten nicht für eine sehr gewichtige Sache hielten; denn sie überließen die Fortführung des Verfahrens dem Generalvikar des Erzbischofs für Alcalá, Juan Rodríguez de Figueroa. Der teilte den Beschuldigten am 21. November 1526 im Namen des Erzbischofs, Don Alonso de Fonseca, das Ergebnis der Untersuchung mit: Man habe weder Irrtümer in ihrer Lehre noch etwas Verkehrtes in ihrem Lebenswandel entdeckt;28 sie könnten sich deshalb so verhalten, wie sie es bisher getan hätten. Allerdings hielt es Figueroa nicht für geraten, daß sie einheitliche Kleider trügen, da sie keine Ordensleute waren. Er gab ihnen deshalb die Anweisung, ihre grauen Kutten umzufärben: Iñigo und Artiaga sollten Schwarz, Calixto und Cáceres Rotbraun tragen; ein junger Franzose, Jean de Raynalde, genannt Juanico, der sich ihnen mittlerweile angeschlossen hatte, konnte bleiben, wie er war. Ignatius bemerkt zu Figueroa, daß er „jetzt" (agora), das heißt: zum Zeitpunkt der Niederschrift des Pilgerberichts (Herbst 1555), zum Gefolge des Kaisers gehöre. Karl V. hatte den hochbegabten Diplomaten an seinen Hof gezogen und mit verantwortungsvollen Aufgaben betraut.29 Daß es Figueroa war, der im Jahre 1526 in Alcalá mit seiner Angelegenheit befaßt wurde, war für Iñigo, obwohl die Sache keineswegs ausgestanden war, ein Glücksfall. Ein solcher sollte sich wiederholen, als Ignatius ihm 1538 in Rom zum zweiten Mal begegnete. Auch diesmal stand seine Rechtgläubigkeit und die seiner Gefährten in Frage. Figueroa machte jedoch, zusammen mit anderen, seinen Einfluß bei dem Papst Paul III. geltend und setzte sich für die neugegründete Gesellschaft nach Kräften ein. Wenn wir eben gesagt haben, die Begegnung mit dem Erzbischöflichen Generalvikar Figueroa in Alcalá sei für Iñigo ein Glücksfall gewesen, so bezieht sich das vor allem auf den Umstand, daß der Pilger hier auf einen Vertreter der kirchlichen Gerichtsbarkeit gestoßen war, der den Konflikt im geistigen Bereich beließ, wenn auch auf dem dunklen Hintergrund einer möglichen Verurteilung. Denn die Schwierigkeiten, die Iñigo mit den kirchlichen Behörden hatte, waren noch keineswegs ausgestanden. Man hat allerdings den Eindruck, daß dem Generalvikar Figueroa, ebenso wie vorher schon den Inquisitoren, die Angelegenheit eher peinlich war. Obwohl sich Ignatius mit keinem Wort darüber ausläßt, ist es doch schwer vorstellbar, daß der Inquisitionsbehörde von Toledo die Herkunft und Identität des Pilgers

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unbekannt geblieben wäre. Figueroa muß also gewußt haben, daß er es mit dem Angehörigen eines hochadeligen Hauses zu tun hatte. Es kam hinzu, daß Iñigo, bei allem bereitwilligen Gehorsam, mit dem er den Anweisungen des kirchlichen Amtsträgers Folge leistete, doch aus seiner kritischen Einstellung dem Verfahren gegenüber keinen Hehl machte. Er äußerte Zweifel an dem Sinn von Untersuchungen, die auf bloßen Verdächtigungen beruhten. Seine Ausführungen münden in den folgenden bemerkenswerten Dialog:30 „Wir möchten nun klar wissen, ob man bei uns irgendeine Irrlehre entdeckt hat." „Nein", antwortete Figueroa; „denn wenn man eine fände, würde man Euch verbrennen." „Auch Euch selbst würde man verbrennen", erwiderte der Pilger, „wenn man eine Häresie bei Euch entdeckte." Es herrschte nun vier Monate lang Ruhe. Aber es ist anzunehmen, daß Iñigo weiterhin unter Beobachtung stand; ein System wie die Heilige Inquisition lebt von ihren Zuträgern. Den konkreten Anlaß, die Untersuchung erneut aufzunehmen, bot dem Generalvikar diesmal eine vornehme Dame, die, um nicht erkannt zu werden, Iñigo in der Morgendämmerung verschleiert aufsuchte.31 Im Spital angekommen, legte sie ihren Schleier ab und begab sich zu Iñigo auf dessen Zimmer. Weder Iñigo selbst noch seine Gefährten wurden in dieser Angelegenheit befragt. Erst nach weiteren vier Monaten, als er schon nicht mehr in dem Armenspital wohnte, kam ein Gerichtsdiener (alguacil), um ihn zu verhaften und ins Gefängnis zu begleiten. Sein Aufenthalt dort sollte genau sechs Wochen dauern. Da er, wie er später sagt, am 1. Juni 1527 nach Verkündigung des Urteils aus dem Gefängnis entlassen wurde, muß der Tag seiner Verhaftung der 18. oder 19. April, d.h., in jenem Jahr der Gründonnerstag oder Karfreitag gewesen sein.32 Der Pilger wurde in milder Haft gehalten und konnte häufige Besuche empfangen; er erteilte Unterricht in der Glaubenslehre und gab die Exerzitien. Obwohl einflußreiche Leute ihm ihre Hilfe anboten, lehnte er es strikt ab, sich einen Verteidiger zu nehmen. Eine angesehene Dame, Doña Teresa de Cárdenas, wollte ihn aus dem Gefängnis wegbringen lassen. Aber Iñigo lehnte alle gut gemeinten Offerten ab, weil er den Fortgang seiner Sache allein dem überlassen wollte, aus Liebe zu dem er ins Gefängnis gegangen war. Man sieht: an der Uberzeugung, daß Gott der Lenker seines individuellen Schicksals war, hatte sich seit der „Schule" von Manresa nichts geändert. Figueroa erschien erst nach siebzehn Tagen im Gefängnis um Iñigo mit ausgesprochen lästigen und kleinlichen Fragen zu traktieren.33 Vielleicht entsprach das einer Taktik, die in Wirklichkeit dem Schutz des Pilgers (gegenüber der Inquisition) diente: solange man sich bei Kleinigkeiten aufhielt, kam niemand auf die Idee, ihm gravierende Verfehlungen zur Last zu legen. So fragte der Generalvikar ihn, „ob er den Sabbat einhielte". Man hatte also den

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Pilger verdächtigt, jüdische religiöse Praktiken auszuüben. (Möglicherweise hatte der Verdacht seinen Grund in der Verehrung Iñigos für die Jungfrau Maria, deren heiliger Wochentag der Samstag ist).34 Der Generalvikar fragte Iñigo dann, ob er etwas mit der Pilgerreise zweier adeliger Damen zu tun habe, die sich zu Fuß nach Jaén auf den Weg gemacht hatten, um das dort verehrte „Schweißtuch der Veronika" aufzusuchen. Iñigo konnte ihm glaubhaft versichern, daß das Gegenteil des Verdachts zutraf, worauf sich Figueroa sehr erleichtert zeigte. Bei den erwähnten Damen handelte es sich um María del Vado und ihre Tochter Luisa Velasquez; beide waren Witwen und hatten sich der Gefolgschaft Iñigos angeschlossen. Sie neigten beide zu schwärmerischen Formen der Frömmigkeit, besonders die Tochter, die dazu noch von auffallender Schönheit war. Die Tatsache, daß die Damen ohne männliche Begleitung abgereist waren, hatte in dem Universitäts-Dorf Alcalá für großes Aufsehen gesorgt.35 Einer der Professoren, Pedro Ciruelo, der sich die Rolle eines Beschützers der Damen angeeignet hatte, hatte Iñigo im Verdacht, daß er die Beiden zu der riskanten Pilgerfahrt angestiftet hatte. Deshalb hatte er ihn angezeigt. Iñigo hatte aber den reiselustigen Damen stets dazu geraten, ihre karitativen und frommen Aktivitäten auf Alcalá zu beschränken. Iñigos Gefährte Calixto hielt sich um diese Zeit in Segovia auf. Als er von der Verhaftung des Freundes erfuhr, machte er sich sogleich auf den Weg nach Alcalá, obwohl er noch an den Folgen einer schweren Krankheit zu leiden hatte. Er verbrachte einige Tage bei Iñigo im Kerker, bis der ihn mit Hilfe eines befreundeten Arztes davon überzeugte, daß das Gefängnis für seine Gesundheit nicht gerade zuträglich war. Inzwischen waren auch die beiden Damen von ihrer Pilgerreise zurückgekehrt und hatten Iñigos Aussagen bestätigt. Bald darauf erschien der Notar im Gefängnis, um ihm das Urteil vorzulesen. Es war der 1. Juni 1527. Seit Iñigos Inhaftierung waren 42 Tage vergangen. Äußerlich liest sich diese Bemerkung klaglos und feststellend. Aber die zwischen den Zeilen geäußerte Kritik an dem sinnlosen, langwierigen Verfahren ist nicht zu übersehen. Das gilt auch für die folgenden kurzen Berichte über den Inhalt des Urteils und den Besuch beim Erzbischof von Toledo. In dem Urteil des erzbischöflichen Gerichts wurde Iñigo freigesprochen. Allerdings wurden ihm und seinen Gefährten zwei Auflagen gemacht: sie sollten die gleiche Kleidung wie die übrigen Studenten tragen und sie sollten über Angelegenheiten des Glaubens innerhalb der nächsten vier Jahre nicht mehr sprechen dürfen, „bis sie mehr studiert hätten, weil sie nämlich in den Wissenschaften unkundig wären". 36 Iñigo räumt ein, daß er selbst, der Pilger, noch am meisten wußte, daß aber seine (theologischen) Kenntnisse nicht sehr fundiert waren. Sooft er über Glaubensdinge befragt wurde, war dies das erste, worauf er die gelehrten Examinatoren hinwies. Im Gegensatz zu den Richtern und Gelehrten, mit denen er zu tun hatte, war er jedoch nicht überzeugt davon, daß tiefere Kenntnisse in der (scholastischen, Wissenschaft-

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liehen) Theologie eine Voraussetzung waren für die Seelenhilfe, wie er sie verstand und praktizierte. In dem knappen, zurückhaltenden Kommentar, den er zu dem Urteil des kirchlichen Gerichts gibt, kommt das deutlich zum Ausdruck: 37 Bei diesem Urteil war er ein wenig im Zweifel, was er tun solle, denn es schien ihm, daß sie ihm die Tür dazu verschlössen, den Seelen zu helfen; dabei gaben sie ihm keinen anderen Grund an als den, daß er nicht studiert hatte. Und schließlich faßte er den Entschluß, zu dem Erzbischof von Toledo, Fonseca, zu gehen und die Angelegenheit in seine Hände zu legen. Iñigo hält also das Urteil für gänzlich unangemessen und entschließt sich, dagegen bei dem obersten Richter der Erzdiözese persönlich Berufung einzulegen. 38 D e r Erzbischof Alonso de Fonseca y Acebedo hielt sich damals in Valladolid auf. Die knappen Worte, mit denen Ignatius im Rückblick die Begegnung mit dem berühmten Humanisten und Freund des Erasmus von Rotterdam schildert, 39 sind, wie das unmittelbar Vorausgehende, sehr aufschlußreich. Er reiste von Alcalá ab und traf den Erzbischof in Valladolid. Und er erzählte ihm die Sache genau, wie sie sich zugetragen hatte. Dann sagte er ihm, er werde, obwohl er nicht mehr unter seiner Jurisdiktion stehe und auch nicht verpflichtet sei, das Urteil zu befolgen, sich dennoch an das halten, was er anordne (wobei er ihn mit „Ihr" anredete, wie er es auch bei allen anderen zu tun pflegte). Der Erzbischof nahm ihn sehr wohlwollend auf, und als er hörte, er habe die Absicht, sich nach Salamanca zu begeben, sagte er, er habe in Salamanca Freunde und ein Kolleg, was er ihm alles zur Verfügung stellte. Darauf entließ er ihn und überreichte ihm vier Escudos. Für sein eigentliches Anliegen: einen Freispruch ohne bindende Auflagen, konnte Iñigo also nichts erreichen - was auch nicht anders zu erwarten war. Denn der Erzbischof hätte wohl kaum seine eigenen untergeodneten Richter bloßgestellt. Bei aller Freundlichkeit dem Pilger gegenüber, der ihm wohl nicht unsympathisch war, tat er doch letztlich nichts anderes als sein Generalvikar: er verwies Iñigo auf das ungeliebte Studium, für dessen erfolgreiche Durchführung er ihm alle ihm zur Verfügung stehende Hilfe anbot, einschließlich eines Platzes in dem von ihm gegründeten Kolleg für arme Studenten (Colegio Mayor de Santiago o del Arzobispo). Von Valladolid ging Iñigo nach Salamanca, wo er Anfang Juli 1527 ankam. Die vier Gefährten waren bereits vor ihm in der Universitätsstadt eingetroffen. Alle trugen sie die vorschriftsmäßigen Studentenkleider, die der Generalvikar Figueroa ihnen geschenkt hatte.

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Inquisition

Wenn dem Pilger in Alcalá nur wenig Zeit zum Studieren geblieben war, so kam er in Salamanca überhaupt nicht mehr dazu. Er erzählt selbst, daß eine fromme Dame auf ihn aufmerksam wurde, als er nach seiner Ankunft in einer Kirche seine Gebete verrichtete. Sie erkundigte sich nach seinem Namen und brachte ihn dann zu der Unterkunft der vier Gefährten. Iñigo dachte also überhaupt nicht daran, das Anbgebot des Erzbischofs Fonseca (das ihm ein ungestörtes Studium ermöglicht hätte) anzunehmen. Damit war auch für Salamanca die Entscheidung gegen das Studium gefallen. Hinzu kam der naive, aber fatale Entschluß, sich ausgerechnet einen Dominikaner des Klosters San Esteban zu seinem Beichtvater zu wählen. Es waren kaum zwei Wochen seit seiner Ankunft in Salamanca vergangen, als der Beichtvater ihm eröffnete: „Die Patres des Hauses möchten Euch sprechen." „In Gottes Namen", antwortete der Pilger.40 Es folgte darauf die Einladung zum Essen in dem Kloster am nächstfolgenden Sonntag mit der Ankündigung, daß die ehrwürdigen Väter von ihm „viele Dinge" (muchas cosas) erfahren wollten - was den Pilger mit Sicherheit nichts Gutes ahnen ließ. Aber er hatte auch keine Angst. Zusammen mit Calixto begab er sich zum sonntäglichen Mittagessen der Dominikaner. In Abwesenheit des Priors Fr. Diego de San Pedro leitete der Subprior, Fr. Nicolás de Santo Tomás, den Konvent.41 Der Subprior, der Beichtvater Iñigos und ein weiterer Bruder des Ordens geleiteten die beiden Gäste nach dem Essen in eine Kapelle. Dort eröffnete der Subprior mit großer Leutseligkeit (con buena afabilidad) das Gespräch: die Patres hätten sehr gute Auskünfte über Leben und Gewohnheiten der Pilger bekommen, vor allem, daß sie nach Art der Apostel predigend durch das Land zögen. Aber gerade darüber wollten sie mehr im Detail (más particularmente) erfahren. Mit dem apostolischen Wanderleben hatte der Dominikaner gleich zu Beginn ein Element ins Gespräch gebracht, das seit dem Hohen Mittelalter den fatalen Geruch der Häresie an sich trug. Es waren die apostolischen Wanderprediger der Katharer und Waldenser gewesen, mit denen die Orden der Prediger und der Minoriten praktisch seit ihrer Gründung im Auftrag der Päpste als inquisitores haeretice pravitatis zu kämpfen hatten. Besonders im Prediger-Orden hatte das Studium als unabdingbare Voraussetzung für die Bekämpfung der Ketzer eine zentrale Bedeutung. Die erste Frage, die der Subprior an die beiden Gäste richtet, ist denn auch die nach ihrem Studium. Wie schon in Alcalá gibt Iñigo die Auskunft, er selbst habe von ihnen noch am meisten studiert; sein Wissen sei jedoch gering und nur wenig fundiert. Die Fortsetzung des Dialogs offenbart dessen zunehmende Gefährlichkeit,42 und es zeigt sich jetzt nicht nur, daß die anfängliche Freundlichkeit des Klostervorstehers heuchlerisch war, sondern auch, daß

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der Beichtvater es mit der ihm vorgeschriebenen Diskretion wohl nicht so genau genommen hatte. „Was ist es denn nun, was Ihr predigt?" „Wir", antwortete der Pilger, „predigen überhaupt nicht. Wir reden nur mit einigen Leuten im Vertrauen über Gott betreffende Dinge (cosas de Dios), wie etwa nach dem Essen mit einigen Personen, die uns rufen." „Aber", fragte der Bruder weiter, „über welche Gott betreffenden Dinge redet Ihr denn? Genau das möchten wir wissen." „Wir sprechen", antwortete der Pilger, „mal über eine Tugend, mal über eine andere, und zwar in lobender Weise; dann über ein Laster, dann wieder über ein anderes, in tadelnder Weise." „Ihr habt keinerlei wissenschaftliche Bildung", sagte der Bruder, „und sprecht von Tugenden und Lastern. Aber darüber kann man nur auf eine der beiden folgenden Weisen sprechen: entweder aufgrund der Wissenschaften oder aufgrund des Heiligen Geistes. Die wissenschaftliche Grundlage fehlt in Eurem Falle, also redet Ihr aus dem Heiligen Geiste. Und das, was da vom Heiligen Geist ist, das wollen wir wissen." Was die Herren Dominikaner da alles so ganz genau wissen wollten, machte dann den Pilger doch ein wenig stutzig, das heißt: er merkte, auf was für ein Glatteis er geführt werden sollte. U n d die Art und Weise dieses (arglistigen) Argumentierens mißfiel ihm.43 Nach kurzem Überlegen erklärte er den Brüdern, er habe nicht vor, weiter über diese Dinge zu reden. Aber der Dominikaner insistierte: „Gerade jetzt, wo es so viele Irrtümer des Erasmus und anderer gibt, die die Welt in die Irre geführt haben, wollt Ihr nicht erklären, was Ihr sagt?" Auch dieser jetzt unverhohlen ausgesprochene Verdacht der Ketzerei konnte Iñigo nicht zu weiteren Erklärungen veranlassen. 44 Er sagte vielmehr dem Subprior, er werde nur noch Ausführungen machen, wenn er dazu durch die rechtmäßige Obrigkeit verpflichtet würde. Selbst die Drohung des Dominikaners, man werde schon geeignete Mittel finden, ihn zum Sprechen zu bringen, machte keinen Eindruck auf den Pilger. Schon während des Gesprächs hatte der Subprior Anstoß an der seltsamen Aufmachung von Calixto genommen; der Gefährte Iñigos hatte den Studententalar, mit dem er von Alcalá gekommen war, einem armen Kleriker geschenkt. Er trug nun einen kurzen Rock, dazu Schaftstiefel und einen riesigen Hut; in der Hand hielt er einen Stock. D a er ohnehin von auffallend großer Gestalt war, muß er ungefähr so wie ein Rübezahl gewirkt haben. Iñigo versuchte, bei den Brüdern Verständnis für die lächerliche Kleidung seines Freundes zu finden, aber der Subprior zischte nur giftig: „Die Liebe fängt bei sich selbst an." 45 Darauf gab der Subprior Iñigo und Calixto die Anweisung, sie sollten in der Kapelle bleiben. Alle Türen wurden verschlossen, und die Dominikaner

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nahmen Verhandlungen mit dem kirchlichen Gericht auf - wohl in der Absicht, ihre Gäste unverzüglich verhaften zu lassen. Aber die zuständigen Richter hatten es offenbar nicht eilig. In den folgenden drei Tagen konnten sich die beiden Gefährten innerhalb des Klosters frei bewegen; sie nahmen ihre Mahlzeiten zusammen mit den Brüdern im Refektorium ein; man hatte ihnen auch eine Zelle angewiesen, in der sie regen Besuch von Seiten der Mitglieder des Konvents bekamen. Eine Folge der intensiven Gespräche war, daß Iñigo einen großen Teil (muchos!) der Dominikaner für sich gewinnen konnte, was zur Entstehung von zwei Parteien innerhalb des Konvents führte. Nach drei Tagen erschien ein Gerichtsschreiber, um die Beiden in das Gefängnis zu überführen. Man sperrte sie nicht zu den gewöhnlichen Übeltätern im Untergeschoß, sondern brachte sie in ein Gelaß im Obergeschoß, das über längere Zeit nicht mehr bewohnt gewesen war und in dem sich der Unrat häufte. Dort wurden sie, jeder mit einem Fuß, an eine Kette gefesselt, die in der Mitte an einem Pfosten befestigt war. Sooft einen von ihnen ein menschliches Bedürfnis ankam, mußte ihn der andere begleiten. Die Lage der Gefangenen verbesserte sich allerdings sehr bald; schon am nächsten Tag hatte sich in der Stadt die Nachricht von ihrer Verhaftung herumgesprochen. Darauf wurden sie von ihren Anhängern mit allem Notwendigen versorgt. Sie konnten häufig Besuch empfangen, „und der Pilger fuhr mit seinen Übungen fort, über Gott zu sprechen".46 Mit den Voruntersuchungen in Iñigos Fall war der Baccalaureus Martin Frías beauftragt. Er war Generalvikar des Bischofs von Salamanca, Don Francisco de Bobadilla, den er in dessen Eigenschaft als zuständiger kirchlicher Richter vertrat. Daß Ignatius den akademischen Grad, nicht aber die kirchliche Amtsbezeichnung von Frías erwähnt, ist sicher nicht ganz ohne Absicht geschehen. „Baccalaureus" oder „Baccalarius" ist der niedrigste theologische Grad; er befähigte zwar seinen Träger, Vorlesungen über die Sentenzen des Petrus Lombardus (Baccalaureus sententiarius) oder die Heilige Schrift (Baccalaureus biblicus) zu halten; das hieß aber nicht, daß er schon besonders tief in die Sache der Theologie eingedrungen war. Genau das möchte Ignatius hier vermutlich mittels einer „verdeckten Mitteilung" zum Ausdruck bringen. Iñigo händigte dem Untersuchungsrichter das Manuskript seiner Exerzitien aus (es wird hier zum ersten Mal erwähnt), damit sie auf ihre Orthodoxie hin überprüft werden konnten. Auf die Frage nach weiteren Gefährten gab Iñigo deren Namen und Aufenthaltsort an. Darauf ließ Frías auch Cáceres und Artiaga verhaften und in das Gefängnis bringen, aber in das untere Gelaß für die gewöhnlichen Häftlinge. Juanico dagegen blieb unbehelligt; er trat kurze Zeit darauf in den Minoriten-Orden ein.47 Wie schon in Alcalá lehnte Iñigo es ab, einen Anwalt oder rechtskundigen Vertreter mit seiner Verteidigung zu betrauen. Das kirchliche Tribunal, vor dem Iñigo einige Tage später erscheinen mußte, bestand aus vier Richtern. Ignatius erinnert sich an die Namen der drei Doktoren Sanctisidoro, Paravinhas und Frías. Zwei davon haben die

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Forscher als Professoren des Kirchenrechts an der Universität Salamanca identifiziert: Fernando Rodríguez de San Isidoro und Francisco de Frías. Bei dem dritten handelt es sich vielleicht um einen gewissen Alonso de Parra.48 Hinzu kam als viertes und, wie sich zeigen sollte, diensteifrigstes Mitglied des Tribunals der Baccalaureus Frías. Alle Richter hatten mittlerweile den Text der Exerzitien gelesen. Sie befragten aber den Beschuldigten nicht nur darüber, sondern auch über Spezialgebiete der Theologie, wie die Trinitäts- und Sakramentenlehre, und nach seinem Verständnis der betreffenden Dogmen. Die übliche einleitende Beteuerung („Y él hizo su prefación primero"), daß er keine tieferen Kenntnisse theologischer Probleme besitze, nützte Iñigo diesmal garnichts: die Richter bestanden auf ausführlicher Beantwortung ihrer Fragen. Sie konnten jedoch an der Interpretation, die der Pilger von zentralen theologischen Lehrinhalten gab, keinen Grund zur Beanstandung finden. Der Baccalaureus Frías, der sich im Verlauf des gesamten Verhörs stets beflissener als die anderen Richter gezeigt hatte, stellte schließlich noch eine Frage aus dem Kirchenrecht, natürlich in der Absicht, den Verdächtigen hereinzulegen. Was Ignatius - damals, als er verhört wurde, und Jahrzehnte später, als er den Bericht darüber diktierte - von der theologischen Qualifikation des kirchlichen Gerichtshofs und insbesondere von dessen wohl dümmstem Mitglied, dem Baccalaureus Frías, hielt, geht aus der feinen, aber scharf treffenden Ironie seiner Erzählung hervor (der Passus ist auch in sprachlicher Hinsicht ein Meisterstück):49 Und auf all das war er gezwungen, eine Antwort zu geben. Dabei beteuerte er jeweils zuerst, er wisse nicht, was die Fachgelehrten zu den betreffenden Themen meinten. Schließlich hieß man ihn, das erste Gebot zu erklären, so wie er es gewöhnlich mache. Er fing nun damit an und hielt sich so lange dabei auf und sagte so vielerlei über das erste Gebot, daß sie keine Lust mehr hatten, ihn noch mehr zu fragen. Zuvor noch, als man über die Exerzitien sprach, insistierten sie heftig auf einem einzigen Punkt, der dort zu Beginn steht: nämlich wann eine Gedanke eine läßliche Sünde und wann er eine Todsünde sei. Der Grund dafür war, weil er, ohne wissenschaftlich vorgebildet zu sein, darüber eine bestimmte Entscheidung traf.

Mit der umständlichen, wortreichen Erklärung des ersten Gebots des Dekalogs („Du sollst keine anderen Götter haben neben mir") ließ Iñigo die Richter regelrecht auflaufen, so daß ihnen die Lust an weiteren Fragen verging. Bei der vorausgehenden Befragung über die Exerzitien hatten sich Frías und seine Kollegen sachlich bloßgestellt. Im Unterschied zu den Dominikanern, die den Finger zielsicher auf die wirkliche Schwachstelle der geistlichen Übungen (vom Standort der kirchlichen Orthodoxie aus gesehen!) gelegt hatten, nämlich die Grundlage der von Iñigo angewandten theologischen und moralischen Kriterien (Kenntnis aufgrund wissenschaftlicher Ausbildung oder Eingebung durch den Heiligen Geist?), machten sich die Richter des Inquisitionstribunals an dem Unterschied von läßlicher und schwerer Sünde

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fest.50 Vom gesamten Inhalt und Ziel der Exerzitien her betrachtet, handelt es sich dabei eigentlich um eine eher marginale Frage. Und Iñigo selbst hat das wohl nicht anders gesehen. Aber er ertrug es nicht, daß seine „Sorge für die Seelen" irgendwelchen Beschränkungen unterworfen werden sollte. Außerdem mißfiel ihm das stümperhafte Verfahren der kirchlichen Richter. In der abschließenden Antwort, die er ihnen erteilt, läßt er sie seine (auch theologische!) Überlegenheit spüren; sie klingt schon fast hochmütig: Ihr habt hier zu entscheiden, ob meine Ansicht richtig ist oder nicht. Und wenn sie falsch ist, dann verurteilt sie doch! Ignatius erwähnt noch zwei Ereignisse während seiner insgesamt zweiundzwanzig Tage dauernden Haft im kirchlichen Gefängnis von Salamanca. Das erste ist der Besuch von Don Francisco de Mendoza, „den man heute" (d. h., 1555) „Kardinal von Burgos nennt".51 Der damals erst achtzehnjährige hochbegabte Student bekleidete bereits das Amt eines Erzdiakons von Toledo. Nach dem Studium der Artes in Alcalá hatte er sich in Salamanca dem JuraStudium zugewandt. Er war einer von den durch den erasmianischen Humanismus geprägten Kirchenfürsten, die den Lebensweg des Ignatius von Loyola kreuzten, ohne ihn in merkbarer Weise zu beeinflussen. Mendoza ließ den Gefangenen seine Sympathie und Anteilnahme erkennen, indem er sich nach seinem leiblichen und seelischen Wohlbefinden erkundigte. Iñigo war aber an dieser Art „humanen" Mitgefühls wenig gelegen, und er gab dem jungen Kleriker die Antwort, die er am gleichen Tage schon einer mitleidigen Dame gegeben hatte:52 Damit beweist Ihr nur, daß Ihr selbst kein Verlangen danach habt, von der Liebe Gottes ganz gefangen zu sein. Dünkt Euch denn das Gefängnis das größere Unglück zu sein? Ich sage Euch aber: Es gibt in Salamanca nicht so viele Fußeisen und Fesseln, daß ich nicht noch mehr davon aus Liebe zu Gott an mir tragen möchte. Das zweite von Ignatius berichtete Ereignis ist der kollektive Ausbruch der im unteren Geschoß des Gefängnisses eingesperrten Gefangenen. Allein die beiden Gefährten Cáceres und Artiaga ergriffen nicht die Gelegenheit zur Flucht, und man fand sie am folgenden Morgen bei offenen Gefängnistüren und ohne Bewacher. Die Nachricht davon verbreitete sich in der Stadt sehr rasch und trug den Gefährten bei der von ihrem Verhalten erbauten Bevölkerung nicht geringe Sympathien ein. Iñigo und die anderen wurden darauf in ein komfortables Haus in der Nähe umquartiert. Schließlich lud man sie vor das Inquisitionstribunal, um die Urteilsverkündung anzuhören. In dem Urteil wurde festgestellt, daß sich keinerlei Irrtum in ihrer Lehre finde; sie könnten also weitermachen wie bisher, nämlich Unterricht erteilen und über religiöse Themen sprechen. In diesem Punkt zeigte sich das Gericht

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von Salamanca also großzügiger als das von Alcalá, das den Gefährten das Sprechen über Angelegenheiten des Glaubens innerhalb der nächsten vier Jahre generell untersagt hatte. Das neue Urteil enthielt nur eine einzige Einschränkung: „daß sie erst nach Ablauf von vier Jahren, in denen sie weiterstudiert hätten, entscheiden dürften: dies oder jenes ist eine Todsünde oder eine läßliche Sünde". Nach Verlesung des Urteils bemühten sich die Richter, insbesondere der Doktor Frías, mit großer Liebenswürdigkeit, den Beschuldigten zur vorbehaltlosen Annahme zu bewegen. Genau das verweigerte Iñigo jedoch, indem er erklärte, er werde sich an den Spruch halten, so lange er sich innerhalb des Jurisdiktionsbereichs der Diözese Salamanca befinde. Obwohl er die vollständige Unterwerfung unter den Spruch des Inquisitionstribubnals vermied, wurden er und seine Gefährten unverzüglich freigelassen. Iñigo stellte nun - unter Einbeziehung Gottes - Überlegungen bezüglich seiner Zukunft an. In Salamanca wollte er nicht länger bleiben, obwohl ihn angesehene Leute der Stadt dringend darum baten. Denn durch das Verbot, festzulegen, was Todsünde und was läßliche Sünde sei, schien ihm die Tür zu wirksamer Seelsorge versperrt zu sein. Wäre tatsächlich seine spirituelle Aktivität in einem wesentlichen Punkt behindert gewesen, wenn er und seine Gefährten über das strittige Thema den Mund gehalten und von Sünde nur ganz generell gesprochen hätten? Doch wohl nicht. Aber wie bereits angedeutet, erkannte Iñigo in der Tatsache, daß sich ein kirchliches Gericht an einem Punkt seiner geistlichen Übungen und damit seines pastoralen Wirkens festgebissen hatte, so etwas wie einen exemplarischen Vorgang. Es konnte ihm immer wieder passieren, daß er wegen seines theologischen und kanonistischen Laientums von offizieller kirchlicher Seite Angriffen ausgesetzt sein würde, gegen die er letztlich wehrlos war. Und so faßte er den Entschluß, an der unbestrittenen Hochburg theologischer Weisheit, der Pariser Universität, ein gründliches und anerkanntes Studium zu absolvieren." Iñigo wußte natürlich, daß mit dem Entschluß zu einem ordentlichen Studium der Theologie auch die Entscheidung gefallen war, die Tätigkeit des aprovechar las ánimas nicht mehr gleichsam wild auszuüben, sondern dafür einen von der offiziellen Kirche vorgebenen Rahmen zu suchen. Wie früher schon einmal, zu Beginn seines Pilgerwegs, zog er in Erwägung, in einen der bestehenden Orden einzutreten, aber diesmal nicht in einen strengen, sondern in einen möglichst heruntergekommenen und wenig reformierten. Er glaubte, von Gott die Kraft zu erhalten, mit bevorstehenden Leiden und Unrecht fertig zu werden. Er entschied sich aber dann doch, mit seinen derzeitigen Gefährten nach dem Studium in Paris etwas Neues anzufangen und zu ihnen noch einige Gleichgesinnte hinzuzugewinnen. Es ist zu bemerken, daß hier zum ersten Mal, noch ohne feste Umrisse, der Plan zur Gründung einer Gemeinschaft von Gleichgesinnten mit dem Ziel der „Sorge für die Seelen" begegnet. Mit seinen drei Gefährten vereinbarte er, daß sie ihm nach Paris folgen sollten, sobald er dort die Möglichkeit ihres Studiums erkundet hätte. Von Salamanca aus machte er sich zunächst auf den Weg nach Barce-

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lona.54 Seine schweren Bücher hatte er auf den Rücken eines Eselchens gepackt. Der Umweg über Barcelona diente vor allem dem Zweck, mit Hilfe der dortigen Freundinnen Inés Pascual, Isabel Roser und der anderen Gönnerinnen die Finanzierung des Studiums sicherzustellen. Die Bekannten in Barcelona rieten Iñigo dringend von der Reise nach Paris ab wegen der Kriegswirren in Frankreich und dem Haß und den Gewalttätigkeiten, denen die Spanier dort ausgesetzt waren. „Aber auch nicht einen Augenblick hatte er deswegen irgendwelche Angst."55 Wie sein Zeitgenosse, der deutsche Kirchenvater Martin Luther, gehört Ignatius von Loyola zu den Menschen, die vor Bedrohungen und Gefahren, die von außen kommen, überhaupt keine Angst haben, dafür aber umso mehr den Ängsten ausgesetzt sind, die aus den Tiefen der eigenen Seele kommen. Es war Ende Dezember 1527, also mitten im Winter, als Iñigo sich auf den Weg nach Paris machte, „allein und zu Fuß".56 Den modernen Leser würde interessieren: Verbrachte er das Weihnachtsfest noch mit den Freunden in Barcelona? Was erlebte er auf dem langen Marsch durch die Pyrenäen und das Massif Central? Wo übernachtete er und wie ernährte er sich? (Vielleicht hatte er eine Liste von Hospitälern und Klöstern bei sich, die Pilger und fahrende Studenten aufnahmen). Von alldem findet sich im Bericht des Pilgers und in dem Brief, den er nach seiner Ankunft in Paris an Inés Pascual schrieb, nicht einmal eine Andeutung. Uber die Wegstrecke wird Iñigo sicher Erkundigungen eingezogen haben, und man darf annehmen, daß er sich für die kürzeste entschied. Diese führte von Barcelona über Vieh, Ripoll, den Col d'Ares nach Perpignan (ca. 160 km); von Perpignan über Narbonne, Béziers (115 km) nach Saint-Flour (210 km); dann über Clermont, Nevers nach Paris (475 km); insgesamt also 960 km. Nimmt man eine durchschnittliche Tagesleistung von 30 km an, dann hätte Iñigo 32 Tage, also einen guten Monat, gebraucht.57 Möglich wäre auch, daß er von Barcelona über den Col de Puymorens (190 km) nach Toulouse (160 km) gegangen wäre. Von Toulouse aus bieten sich zwei Strecken an: entweder über Albi, Saint-Flour (270 km), Clermont (105 km), Nevers (150 km), Paris (220 km); oder über Cahors, Limoges (300 km), Vierzon, Orléans (260 km), Paris (120 km). Die zuerst genannte Wegstrecke ist die längere (etwa 1095 km = 36 Tagesmärsche); die zweite ist zwei Tagesmärsche kürzer (etwa 1030 km = 34 Tagesmärsche). In jedem Falle war der Pilger gut einen Monat unterwegs. In dem schon erwähnten Brief teilte er Inés Pascual das Datum seiner Ankunft in Paris mit: es war der 2. Februar 1528.58

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2. Paris Schwieriger Beginn des Studiums In Paris fand Iñigo Unterkunft in einem Haus, in dem sich spanische Studenten eingemietet hatten. Zum Studium ging er an das berühmte, wegen seiner Strenge aber auch berüchtigte Collège Montaigu, wo drei Jahrzehnte zuvor (1495) Erasmus von Rotterdam, später (1523/24-1527/28) Johannes Calvin sich den humanistischen und philosophischen Studien gewidmet hatten.59 Da er sich der Mangelhaftigkeit seiner Grundkenntnisse wohl bewußt war, entschloß er sich, mit seiner Ausbildung wieder ganz von vorn zu beginnen, und er scheute sich nicht, als mittlerweile Siebenunddreißigjähriger neben den kleinen Lateinschülern des Kollegs Platz zu nehmen, um sich nach der in Paris gültigen Studienordnung erneut mit der lateinischen Sprache vertraut zu machen. Die wohltätigen Frauen von Barcelona hatten ihm einen Scheck über 25 Escudos mitgegeben, den er bei einem Kaufmann einlöste. Das Geld vertraute er zur Aufbewahrung einem seiner spanischen Kommilitonen an, der es binnen kurzer Zeit veruntreute. Iñigo stand plötzlich wieder ohne finanzielle Mittel da und war auf das Betteln angewiesen. Auch seine Unterkunft mußte er verlassen, da er die Miete nicht mehr bezahlen konnte. Er übernachtete von nun an in dem Pilgerhospiz Saint-Jacques, das auf der rechten Seite der Seine, an der heutigen Rue Saint-Denis, lag. Der Fußweg von dort bis zu dem Collège Montaigu am linken Seine-Ufer betrug über eine halbe Stunde. Überdies konnte man das Hospiz frühestens bei Tagesanbruch verlassen und mußte sich mit dem abendlichen Angelus-Läuten dort wieder einfinden. So war es nicht zu vermeiden, daß Iñigo einen Teil der Lehrveranstaltungen versäumte. Viel Zeit ging auch für das Betteln verloren. Um seine Notlage zu erleichtern, bemühte er sich um eine Stelle als Diener bei einem der Professoren. Interessant sind seine Ausführungen über den inneren Widerstand, den er zu überwinden hatte bei der Vorstellung, daß er dann auf Befehl eines anderen würde arbeiten müssen. Er fand Trost bei dem Gedanken, daß ja eigentlich Christus sein Lehrer und Meister wäre, und in seiner Phantasie gab er den als seine zukünftigen Herren in Frage kommenden Gelehrten die Namen des heiligen Petrus und der übrigen Apostel. In den Erinnerungen des Ignatius ist dieser Passus eines der „SchlüsselLöcher", die einen tiefen Einblick in Charakter und Seelenzustand des Heiligen geben. Der spätere „Ideologe" des Gehorsams hatte selbst die allergrößten Schwierigkeiten, sich irgend jemandem unterzuordnen. Und die ererbte und anerzogene Adelsgesinnung war ein wirksames Hemmnis dagegen, jemals körperliche, knechtische Arbeit auf sich zu nehmen. Deshalb wird es ihn nicht allzu sehr bekümmert haben, daß er keinen Herrn finden konnte, obwohl sich auch einflußreiche Leute unter seinen neuen Bekannten, darun-

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ter der Baccalaureus Juan Castro und ein namentlich nicht genannter Kartäuser-Mönch, für ihn einsetzten.60 Einen weiteren Einblick in die psychische und körperliche Verfassung Iñigos gewährt die Bemerkung, er habe damals wieder damit begonnen, schwerere Bußübungen zu praktizieren; er meinte, sich das erlauben zu können, da er seit ungefähr fünf Jahren keine Magenschmerzen mehr gespürt hatte.61 Obwohl er sich über die betreffenden Bußpraktiken im einzelnen nicht ausläßt, wird man doch vor allem an (unvernünftiges) Fasten und Selbstgeißelungen zu denken haben, mit denen er schon in früheren Jahren intensiv an der Zerstörung seiner Gesundheit gearbeitet hatte. Was die Bestreitung seines Lebensunterhalts betraf, fand sich überraschend eine Lösung, die ihn für die restlichen Jahre seines Pariser Studiums aller diesbezüglichen Sorgen enthob: Ein spanischer Mönch gab ihm den Rat, jedes Jahr während der Sommerferien eine Bettelreise nach Flandern zu unternehmen. Flandern war damals das wirtschaftliche Zentrum des habsburgischen Herrschaftsbereichs und vor allem in den Städten Antwerpen und Brügge hatten sich zahlreiche wohlhabende spanische Kaufleute niedergelassen. Iñigo befolgte den Rat, nachdem er die Sache auch Gott empfohlen hatte. In der Fastenzeit des Jahres 1529 ging er zum ersten Mal nach Flandern, 1530 und 1531 unternahm er die Reise in den Sommerferien (August/September). Bei der letzten Reise überquerte er den Ärmelkanal und kam bis nach London. Von den Reisen brachte er mehr Geld mit, als er für den eigenen Unterhalt brauchte. Spätere Betteltouren nach Flandern konnte er sich sogar ersparen, da seine neuen spanischen Gönner ihm die notwendigen Mittel überwiesen.62 Ignatius hat es in seinen Erinnerungen keiner Erwähnung für wert erachtet, daß er bei seiner ersten Flandern-Reise dem berühmten Humanisten Juan Luis Vives (1492-1540) begegnete; unsere Kenntnis der Episode verdanken wir den Aufzeichnungen seines Sekretärs P. Juan de Polanco. Der mit Erasmus befreundete Gelehrte lud Iñigo zum Abendessen ein. Da Fastenzeit war, wurde Fisch aufgetragen. Der Gastgeber konnte eine abfällige Bemerkung über das kirchliche Abstinenzgebot nicht unterdrücken: auch ein Fischgericht konnte als Delikatesse zubereitet sein und konnte dann wohl kaum noch als Fastenspeise gelten. Der Student aus Paris reagierte darauf mit einer Schroffheit, die schon bis hart an die Grenzen der Höflichkeit ging, weil er in dem Spott des Humanisten einen Angriff auf die Bußpraxis der Kirche sah. Er hielt seinem Gastgeber vor, daß die Mehrheit des Kirchenvolks, die sich exquisite Speisen nicht leisten könne, sehr wohl in dem Abstinenzgebot eine Gelegeheit zur Abtötung und Buße finde. Aus der Antwort wird die tiefe Abneigung deutlich, die Ignatius (zeitlebens) gegenüber kritischen, durch den Humanismus geprägten Geistern hatte. Wie P. Polanco in seiner Lebensbeschreibung erwähnt, war eine Folge der Begegnung mit Vives, daß Ignatius später die Lektüre der Werke des spanischen Humanisten, ebenso wie die der Werke des Erasmus, für die Gesellschaft Jesu untersagte.63

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Was Vives betrifft, so ist vielleicht an dieser Stelle ein Blick auf seine Biographie von Nutzen, die das tapfere Eintreten des Ignatius für die Gebote der Kirche in nicht ganz so glänzendem Licht erscheinen läßt: der große Gelehrte wurde in Valencia als Sohn jüdischer Eltern geboren, deren Vorfahren im 14. Jahrhundert (zwangs-)konvertiert waren.64 Sein Vater wurde 1524 wegen Rückfalls in jüdische Praktiken durch die Inquisition mittels der Garrote zu Tode gebracht; 1529 (!) wurden die Gebeine seiner zwanzig Jahre zuvor gestorbenen Mutter exhumiert und verbrannt. Das Schicksal der beiden ersten

Gefährtengruppen

Nach seiner ersten Flandern-Reise war Iñigo finanziell so weit abgesichert, daß er sich endlich intensiv dem Studium hätte widmen können. Aber was berichtet er über sich selbst? Daß er begann, „intensiver als früher sich mit religiösen Gesprächen (conversaciones espirituales) abzugeben".65 Zu seinen geistlichen Schülern gehörten im Sommer 1529 drei Männer, die sich unter der Pariser Gelehrtenschaft schon ein ziemliches Ansehen erworben hatten: Pedro de Peralta aus Toledo, der gerade mit seiner Lehrtätigkeit an der Artisten-Fakultät begonnen hatte; vielleicht unter dem Einfluß Iñigos machte er sich später auf eine Pilgerfahrt nach Jerusalem; die Reise nahm jedoch in Rom ein unerwartetes Ende; ein Offizier der spanischen Besatzungstruppen, mit dem er verwandt war, schleppte ihn zum Papst, der ihm die Rückkehr in seine Heimat befahl; Peralta wurde danach Domherr an der Kathedrale von Toledo; er blieb Ignatius und der Gesellschaft Jesu zeitlebens verbunden; der zweite war der schon erwähnte Juan Castro, der später in den KartäuserOrden eintrat; der dritte war ein baskischer Landsmann Iñigos, Amador de Elduayen; er stammte aus der Provinz Vizcaya und war Kleriker der Diözese Pamplona; seit 1526 an der Pariser Universität immatrikuliert, gehörte er dem Kolleg Sainte-Barbe an, mit dessen Rektor Diego de Gouvea Iñigo noch eine schwere Auseinandersetzung bevorstand; über Elduayens weiteres Lebensschicksal ist nichts bekannt. Diesen drei Gelehrten gab Iñigo seine geistlichen Übungen, und das hatte bei ihnen einen radikalen Wandel ihrer Lebensweise zur Folge: sie verschenkten ihren gesamten Besitz einschließlich der Bücher an arme Leute, zogen sich in das Spital Saint-Jacques zurück und begannen damit, ihren Lebensunterhalt auf den Straßen von Paris zu erbetteln. (Iñigo selbst war inzwischen in das Collège Montaigu umgezogen). Die drei Gelehrten hatten also die in der zweiten Woche der Exerzitien zu treffende Wahl radikal ernst genommen.66 Wenn wir dem Bericht des Ignatius glauben dürfen, dann hatte dieser Schritt einen Skandal zur Folge, der die gesamte Universität erschütterte; denn zwei seiner neuen geistlichen Schüler waren hoch angesehene Mitglieder des Lehrkörpers. Ihre spanischen Kommilitonen, von denen einige sich wahrscheinlich um ihr Studium betrogen sahen, versuchten sie zur Rückkehr in die akademische Lehrtätigkeit zu überreden, und als das keinen Erfolg

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hatte, ließen sie es nicht bei Worten bewenden: eine Schar bewaffneter spanischer Studenten holte sie eines Tages mit Gewalt aus dem Hospiz SaintJacques heraus. Zur Universität zurückgebracht, mußten sie sich vertraglich verpflichten, ihre Kurse zu Ende zu führen und erst danach ihre individuellen Lebenspläne weiter zu verfolgen. Die Affäre trug Iñigo vor allem unter den Spaniern Feinde ein, aber auch das Mißfallen des Rektors des Kollegs Sainte-Barbe, des Portugiesen Diego de Gouvea.67 Der nahm Iñigo besonders übel, daß er ihm seinen Alumnus Amador de Elduayen abspenstig gemacht hatte. Gouvea sah in Iñigo einen Verführer von Studenten, der aus Amador einen Narren gemacht habe; sollte sich Iñigo einmal nach Sainte-Barbe verirren, dann werde er ihn auspeitschen lassen. Inzwischen hatte sich der früher erwähnte, namentlich nicht bekannte Spanier, der Iñigos Barschaft veruntreut hatte, auf die Heimreise gemacht, die ihn über Rouen führte. Von dort aus schrieb er an Iñigo, er sei erkrankt. Der Pilger spürte in sich das Verlangen, den hilflos gewordenen Landsmann aufzusuchen, um ihm zu helfen. Dabei zog er auch in Erwägung, ob dessen verzweifelte Lage nicht die Voraussetzung dafür böte, ihn für das Hinausgehen aus der Welt und den Dienst Gottes zu gewinnen. Um dieses Ziel zu erreichen, kommt ihm die Idee, Gott dafür eine Gegenleistung anzubieten.68 Und um dieses Ziel erreichen zu können, überkam ihn das Verlangen, die 28 Meilen [ca. 140 km], die es von Paris nach Rouen sind, zu Fuß, ohne Schuhe und ohne Speise und Trank zurückzulegen. Wie er diesen Plan im Gebet überdachte, fühlte er eine große Verzagtheit in sich (si trovava molto pauroso). Die Mutlosigkeit, die ihn überkam, hatte ihren Ursprung in dem Gedanken, er könnte Gott mit der geplanten Bußleistung versuchen. Das große Angstgefühl (quella paura grande) verließ ihn jedoch nach einem Gebet in der Kirche der Dominikaner (Jakobiner). Am Morgen des folgenden Tages, als er sich auf den Weg machen wollte, befiel ihn schon beim Ankleiden erneut eine fast lähmende Angst.69 Trotzdem verließ er die Stadt in aller Frühe, noch immer von seinen inneren Ängsten geplagt. Er durchwanderte die Ortschaft Argenteuil, ohne die dort aufbewahrte Reliquie des Heiligen Rocks aufzusuchen (er war wohl nicht von deren Echtheit überzeugt), und gelangte auf eine Anhöhe. Dort schlug seine Stimmung um: es erfaßte ihn ein Gefühl großer Tröstung und innerer Kraft. Seiner Freude darüber gab er mit lautem Jubel und Sprechen mit Gott Ausdruck. An diesem ersten Tag legte er 14 Meilen (70 km), also die Hälfte der Wegstrecke, zurück. Zusammen mit einem Bettler fand er für die Nacht Unterkunft in einem Spital. Die zweite Nacht verbrachte er in einem Strohschuppen. Am dritten Tag kam er in Rouen an, barfuß, ohne etwas gegessen oder getrunken (!) zu haben - vermutlich seit dem Vorabend seines Abmarsches von Paris. Er fand den kranken Studiengenossen und sprach ihm Mut

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zu. Danach brachte er ihn auf ein Schiff, das ihn nach Spanien zurückbringen sollte. Wahrscheinlich hat er ihm auch die Kosten der Fahrt bezahlt. Er gab ihm Briefe mit an die ersten Gefährten, Calixto, Cáceres und Artiaga, die in Salamanca zurückgeblieben waren. Sein Vorhaben, den windigen Burschen zu bekehren, war offenbar nicht von Erfolg gekrönt, denn er verliert darüber kein Wort mehr. Iñigo sagt auch überhaupt nichts über die Stadt Rouen. Das mag Zufall sein oder ganz einfach Unkenntnis. Denn heute denkt jeder, der einige Kenntnis der christlichen Religionsgeschichte hat, bei Rouen sofort daran, daß in dieser Stadt im Jahre 1431 Jeanne d'Arc den Märtyrertod erlitt, verurteilt von einem kirchlichen Tribunal, das hauptsächlich aus Professoren der Pariser Universität bestand.70 Es bleiben Bedenken, ob es auf reinem Zufall beruht, daß Ignatius von diesem und anderen Verbrechen der Inquisition keine Kenntnis genommen hat. Im Anschluß an die Erwähnung der Briefe an seine ehemaligen Gefährten in Salamanca teilt Ignatius deren weitere Lebensschicksale in wenigen Sätzen mit; zunächst dasjenige von Calixto de Sa, der ihm am nächsten gestanden hatte. Da es in Paris für Studenten sehr schwierig war, ein Auskommen zu finden, hatte er sich brieflich an Doña Leonor de Mascarenhas gewandt; sie sollte sich beim König von Portugal um ein Stipendium für den Gefährten bemühen.71 Doña Leonor stellte Calixto das gewünschte Empfehlungsschreiben aus und schenkte ihm außerdem noch ein Maultier und Geld für die Reise. Calixto begab sich dann auch an den portugiesischen Hof, reiste allerdings nicht weiter nach Paris, sondern kehrte nach Spanien zurück. Danach reiste er in Begleitung einer frommen Dame in die westindischen (mittelamerikanischen) Kolonien.72 Da das Verhältnis zu der Frau als skandalös angesehen wurde, machten die Behörden ihm die Auflage, sich von ihr zu trennen und sich der Bekehrung der Eingeborenen zu widmen. Aber Calixto zog es vor, nach Spanien zurückzukehren. Später reiste er ein zweites Mal nach Nueva España. Von dieser Fahrt kehrte er als reicher Mann zurück; er hatte wohl irgendwelche einträglichen Geschäfte getätigt. Er lebte danach in Salamanca, wo er alle, die ihn früher gekannt hatten, durch seine Lebensweise in Erstaunen versetzte. Auch Lope de Cáceres erschien niemals zum Weiterstudium in Paris; er kehrte in seine Heimatstadt Segovia zurück und sorgte ebenfalls für die Verwunderung seiner Mitbürger, „so daß man meinen konnte, er habe seine früheren Vorsätze vollständig vergessen".73 Die „umgekehrte Bekehrung", die sich bei diesen beiden ersten Gefährten des Ignatius einstellte, ist ein Vorgang, der sich in der Geschichte der von ihm gestifteten Bewegung immer wieder, bis in die Gegenwart, beobachten läßt: daß nämlich Menschen, die durch die Schule der Exerzitien gegangen sind und entsprechend der dort gegebenen Anweisung ihre definitive Wahl getroffen haben, diesen tiefen Einschnitt in ihre seelische Verfassung und biographische Entwicklung einfach bei Seite tun oder vergessen und eines Tages still von der Fahne gehen.

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Der dritte Mann aus der ersten Gefährtenschaft, Juan de Artiaga, brachte es bis zum Bischof in den spanischen Kolonien. Nach seiner Ernennung zum Bischof von Chiapas in Mexiko schrieb er an Ignatius, der zu der Zeit schon als Generaloberer seines Ordens in Rom weilte, er wolle das Bistum einem Mitglied der Gesellschaft Jesu übertragen. Als Ignatius das Angebot ablehnte, ließ sich Artiaga selbst die Bischofsweihe erteilen und begab sich nach Mexiko. Während einer Krankheit verwechselte er - nach Darstellung des Ignatius - eine Flasche mit dem ihm vom Arzt verordneten Wasser mit einer gleichfalls am Bett stehenden Flasche, die ein starkes Gift enthielt, und kam so zu Tode. Die Sache ist einigermaßen rätselhaft. Denn - vorausgesetzt, es handelt sich nicht um ein bloßes Gerücht - wie kam das Gift an das Bett des Kranken? Artiagas Nachfolger auf dem Bischofsstuhl von Chiapas wurde der berühmte Dominikaner Bartolomé de las Casas, der sich bei Kaiser Karl V. für die Rechte der Indios in den von den Spaniern eroberten Ländern einsetzte. Erneut vor der Inquisition Nach seiner Rückkehr von Rouen sah sich Iñigo mit einer äußerst unangenehmen Situation konfrontiert. Das Gerede, das sich um die „Bekehrung" der Pariser Gelehrten und deren Rückführung gerankt hatte, war nicht nur nicht verstummt, sondern hatte die Ohren des obersten Wachhundes der Orthodoxie in Frankreich erreicht. Das war „Unser Meister" (Magister noster) Matthieu Ory, Prior des Pariser Dominikaner-Konvents, den der Papst Clemens VII. kurz davor zum Generalinquisitor ernannt hatte. Als Denunziant war, wie P. Ribadeneira überliefert, Dr. Pedro Ortiz (ca. 1501-1548), Professor an der Sorbonne, tätig geworden.74 Der Generalinquisitor also hatte Iñigo während dessen Abwesenheit vorgeladen. Ohne eine erneute Aufforderung abzuwarten, begab sich der Beschuldigte zu Ory und ersuchte ihn, die Sache rasch zu erledigen; er habe vor, am nächstfolgenden Remigius-Tag (1. Oktober 1529) mit dem PhiliosophieStudium zu beginnen, und er wolle sich möglichst ungestört seinen Studien widmen.75 Doch der Inquisitor ließ ihn nicht mehr vorladen. Er sagte ihm bloß, es sei wahr, daß man ihm über sein Tun berichtet habe, und dergleichen mehr.

Im Klartext: Der Inquisitor beschränkte sich darauf, belangloses Zeug zu reden. Zweifellos hatte sich Iñigo, wie vorher bei den Verfahren vor den spanischen Inquisitions-Tribunalen, eine sorgfältige Untersuchung der gegen ihn erhobenen Vorwürfe und einen eindeutigen Freispruch gewünscht. Der Glaubenswächter ließ ihn aber - mit Absicht - im Unklaren darüber, was er von seinen Aktivitäten hielt. Andererseits ist es einigermaßen rätselhaft, weshalb die Inquisition, die sich vielen anderen Beschuldigten gegenüber in die-

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ser Zeit keineswegs zögerlich verhielt, im Falle des Ignatius von Loyola nicht entschlossener zupackte. Bewahrte ihn letztlich doch seine hochadelige Herkunft, die den Richtern sicher bekannt war, vor der Folter und Schlimmerem? Wie bereits gesagt, fand Iñigos Besuch bei dem Generalinquisitor vor Beginn seines philosophischen Studiums, Ende September 1529, statt. Während der folgenden Jahre seines Philosophie- und Theologiestudiums machte man ihm wegen seiner Glaubensüberzeugung keinerlei Schwierigkeiten. Erst fünfeinhalb Jahre später, Ende März, als er sich nach Abschluß seines Studiums zur Reise nach Spanien anschickte, bekam er erneut Arger mit der französischen Glaubensbehörde. „Unser Meister" O r y war mittlerweile in seinem Amt als Generalinquisitor durch einen anderen Dominikaner abgelöst worden: Valentin Liévin. (Wir greifen damit dem Ablauf der Ereignisse vor). Als er seine Sachen schon gepackt hatte, erfuhr Ignatius, daß bei dem Inquisitionstribunal eine Anzeige gegen ihn eingegangen war. 76 Seit dem Herbst 1533 war die Atmosphäre in Paris für alle der Häresie Verdächtigen sehr gefährlich geworden. Am 1. November dieses Jahres hatte der Rektor der Universität, Nicolas Cop, seine berühmte Rede gehalten, in der lutherisches Gedankengut, wie die Rechtfertigung sola fide, enthalten war. Der darauf einsetzenden Verfolgung konnten sich viele evangelisch Gesinnte, unter ihnen Calvin, nur durch schleunige Flucht entziehen. 77 Die Maßnahmen gegen die Ketzer wurden ein Jahr später, im Gefolge der so genannten „Plakat-Affäre", noch verschärft. A m 18. Oktober 1534 waren an zahlreichen Häusern in Paris Plakate angebracht worden, auf denen die traditionelle katholische Meßopferlehre angegriffen wurde. Der König Franz I. persönlich nahm sich nun der Unterdrückung des wachsenden Protestantismus an, die mit äußerster Grausamkeit erfolgte. 78 Ignatius setzte, genau wie bei der ersten Denunziation, auf ein direktes Gespräch mit dem Inquisitor; er teilte ihm mit, er stehe kurz vor der Abreise nach Spanien, und bat ihn, das Urteil zu verkünden. Der Inquisitor bestätigte ihm, daß eine Anklage gegen ihn vorliege; er habe darin allerdings nichts von Bedeutung (cosa d'importanza) gefunden. Danach äußerte er den Wunsch, Einblick in die Niederschrift der Exerzitien zu nehmen. Nachdem er sie gelesen hatte, lobte er sie sehr und bat Ignatius um die Überlassung einer Kopie. Ignatius kam diesem Wunsch bereitwillig nach, meinte aber dann doch, auf einem formellen Urteilsspruch der Inquisition bestehen zu müssen (ein solcher hätte ihn für die Zkunft entlasten und ihm weiteren Ärger mit Glaubensbehörden ersparen können). Der Inquisitor war jedoch nicht bereit, ihm den Freispruch vom Verdacht der Häresie schriftlich zu bestätigen - ein durchaus zweideutiges Verhalten. 79 Darauf kehrte Ignatius zu ihm zurück, diesmal in Begleitung eines öffentlichen Notars und von Zeugen, und ließ über den Vorgang ein Protokoll anfertigen. Auf dem Hintergrund der oben erwähnten Ereignisse in Paris zeugt dieses Verhalten dem obersten Glaubenswächter gegenüber nicht nur von Furchtlosigkeit, sondern fast schon von

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Verwegenheit. Und schon gar nicht ist es ein Zeugnis ergebener Gehorsamshaltung gegenüber der kirchlichen Obrigkeit, wie sie die Gesellschaft Jesu in späteren Zeiten von ihren Mitgliedern und anderen verlangt hat - womit wir zum geschichtlichen Ablauf der Ereignisse zurückkehren. Abschluß des Studiums und Fortschritt der Krankheit Wie er sich vorgenommen hatte, begann Iñigo am 1. Oktober 1529 mit dem Studium der Artes, d. h., der philosophischen Fächer. Er war in das Collège Sainte-Barbe (heute Rue Valette, Nr. 4) eingetreten, wo er sich ein Zimmer mit drei in den Studien schon weiter fortgeschrittenen Kommilitonen teilte. Einer davon war Juan Peña aus der Diözese Sigüenza; seit 1525 Magister Artium, hatte er 1526 begonnen, philosophische Lehrveranstaltungen zu halten. Iñigo belegte bei ihm seinen ersten Kurs. Was seine geistlichen Interessen betraf, so hatte er sich vorgenommen, sich fürs erste nicht um die Gewinnung Gleichgesinnter zu bemühen, sondern diejenigen zu halten, die sich den Dienst Gottes vorgenommen hatten. Aber die beiden früheren Gefährtenschaften, die von Alcalá und die erste von Paris, hatten sich aufgelöst. Doch schon bald fand er neue Gesprächspartner in seinen Zimmergenossen, Pierre Favre (Petrus Faber) aus Savoyen und Francisco de Javier (Franciscus Xaverius) aus Navarra, „die er später mittels der Exerzitien für den Dienst Gottes gewann".80 Ein Dialog anderer Art wurde mit seinem Lehrer und Zimmergenossen Juan Peña erforderlich. Wie bei Beginn seines Lateinunterrichts in Barcelona konnte sich Iñigo nicht auf den zu lernenden Stoff konzentrieren.81 Und jedesmal, wenn er die Vorlesung hörte, konnte er nicht aufmerksam bleiben wegen der vielen geistlichen Dinge (con le molte cose spirituali), die sich bei ihm einstellten. Und als er sah, daß er auf diese Weise nicht viel Fortschritte machte in den Wissenschaften, begab er sich zu seinem Lehrer und versprach ihm, er werde es niemals versäumen, den gesamten Kurs zu hören, so lange er noch Brot und Wasser finden könne, um sich am Leben zu halten.

Wie im Falle des Jerónimo Ardévol in Barcelona, dem er das gleiche dramatische Versprechen gegeben hatte, hatte er von da an Ruhe vor den frommen Anmutungen und konnte sich ungestört auf das Philosophie-Studium konzentrieren.82 Iñigos Studium wurde auch von außen nicht mehr beeinträchtigt, worüber sich seine Bekannten wunderten. Einmal brachte ein spanischer Professor, Dr. Jerónimo Frago gegenüber Iñigo sein Erstaunen darüber zum Ausdruck, daß er keinen Arger mehr habe.83 Der Pilger antwortete ihm, der Grund dafür sei, daß er mit niemandem über „die Angelegenheiten Gottes" rede; das werde sich jedoch ändern, sobald der Kurs zu Ende sei. Noch während des Gespräches kam ein Mönch angerannt, der den Doktor Frago

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bat, ihm ein neues Quartier zu besorgen, da in dem Haus, in dem er wohnte, die Pest ausgebrochen sei; es gebe bereits viele Tote. Iñigo und Frago begaben sich in Begleitung einer sachkundigen Frau zu dem betreffenden Haus. Die Frau sah sich die Situation an und bestätigte, daß es sich um die Pest handelte. Trotzdem betrat auch Iñigo das Haus und fand dort einen Kranken vor; er sprach ihm Trost und Mut zu, wobei er die Pestbeule mit der Hand berührte. Als er das Haus verließ, verspürte er an der Hand einen Schmerz, und es stieg der Verdacht in ihm auf, er habe sich bei dem Kranken infiziert. Darauf steckte er die Hand in den Mund und drehte sie noch tüchtig um, indem er bei sich sagte: „Wenn du schon die Pest an der Hand hast, dann sollst du sie auch am Mund haben." Darauf verschwanden augenblicklich die eingebildete Krankheit und der Schmerz an der Hand.84 Als der Pilger in das Kolleg Sainte-Barbe zurückkehrte, mußte er feststellen, daß die Kunde von seiner verwegenen Tat ihm schon vorausgeeilt war. Die Kommilitonen verweigerten ihm den Eintritt, und er mußte für einige Tage anderswo eine Bleibe suchen. Die Feststellung Dr. Fragos, daß sein spanischer Landsmann keine Schwierigkeiten mehr habe, war voreilig gewesen, denn Iñigo war ein unverbesserlicher Seelsorger, und er hatte seine diesbezüglichen Aktivitäten, wie von ihm selbst angekündigt, nur für eine kurze Zwischenzeit ruhen lassen. Bald nach dem Gespräch mit Frago muß sich der bemerkenswerte Vorfall ereignet haben, den Ribadeneira, 85 Polanco,86 und von den Pariser Gefährten Salmerón und Laynez 87 berichten, den aber Ignatius selbst mit keinem Wort erwähnt. Es war Pflicht für die Studierenden der Artisten-Fakultät, bei der an jedem Sonntagmorgen stattfindenden Disputation anwesend zu sein. Iñigo, der offenbar von diesem wissenschaftlichen Ritual wenig hielt, überredete einige von seinen Mitstudenten, mit ihm statt dessen zur Kirche der Kartäuser zu gehen, um dort zu beichten und die Kommunion zu empfangen. Der Magister Peña konnte diesen eklatanten Verstoß gegen die Studienordnung, durch den er ja selbst bloßgestellt wurde, nicht ohne weiteres hinnehmen. Er ermahnte seinen widerborstigen Schüler mehrmals und, als das nichts fruchtete, beschwerte er sich bei dem Rektor de Gouvea. De Gouvea, der Iñigo schon einmal die Prügelstrafe angedroht hatte,88 entschloß sich sogleich, den Delinquenten mittels der „Aula", „Salle", „Sala" genannten Strafe zur Ordnung zu rufen. Die barbarische Sanktion bestand darin, daß vor den im Saal des Kollegs versammelten Studenten vier Professoren oder Magister mit Ruten auf den nackten Rücken des straffällig Gewordenen eindroschen. Es gelang Iñigo, der entehrenden Prozedur zu entgehen: er suchte den Rektor auf, erklärte ihm, er sei zwar gerne bereit, mit Christus zu leiden, gebe aber zu bedenken, daß aus dem Vollzug der Strafe ein Ärgernis für die jüngeren Studenten entstehen könne, die er zur Frömmigkeit habe erziehen wollen. De Gouvea habe sich überzeugen lassen und habe Iñigo vor der versammelten Mannschaft seines Kollegs auf den Knien um Verzeihung gebeten. Wenn die Geschichte, und vor allem ihr erbaulicher Schluß, sich so zugetragen hat,

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bleibt doch die Frage stehen, warum sie Ignatius nicht in seine Erinnerungen aufgenommen hat. Uber Inhalt und Umfang seiner Pariser philosophischen Studien berichtet Ignatius überhaupt nichts. Er erzählt nur eine ganz nebensächliche Begebenheit, ein Randereignis seines Curriculums, das sich bei Gelegenheit der Verleihung des Baccalauréats zutrug. Iñigo erwarb diesen untersten akademischen Grad Anfang 1532. Der Kandidat mußte sich dabei dem Ritus des so genannten „Steinaufhebens" unterziehen. Es war dafür die Ausgabe eines Escudo fällig (vielleicht für einen Umtrunk). Arme Studenten konnten sich das nicht leisten, und so stellten sich bei Iñigo Zweifel ein, ob es eine gute Sache sei, wenn er den Stein nähme. Er entschloß sich, die Entscheidung darüber seinem derzeitigen Magister zu überlassen. Auf dessen Zuraten unterzog er sich der akademischen Prozedur. Er konnte aber damit nicht der Kritik einiger spanischer Mitstudenten entgehen, die das Maul wetzten. An den Erwerb des Baccalaureus-Grades schlössen sich die vorbereitenden Studien zum Lizentiat an. Der Grad eines Lizentiaten der Philosophie, der das Recht, Vorlesungen zu halten (venia legendi) einschloß, wurde Iñigo am 13. März 1533 verliehen.89 Der lateinische N a m e „Ignatius", mit dem er seinen baskischen Vornamen „Inigo" während seines Studiums gelegentlich ersetzt hatte, wurde nun von ihm selbst und seinen Bekannten immer häufiger verwandt, bis er sich schließlich ganz durchsetzte. 90 An das Lizentiat hätte Ignatius an sich den Erwerb des Magister-Grades anschließen können. Daß er ihn bis zum Beginn des Jahres 1535 verschob, wird finanzielle Gründe haben. 91 Inzwischen studierte er Theologie. Im Abschlußzeugnis der Pariser Theologischen Fakultät (Datum: 14. Oktober 1536) wird ihm bestätigt, daß er sich ein und ein halbes Jahr dem Studium der Theologie gewidmet habe. 92 Das will besagen, daß er sich nach dem Urteil der Fakultät in hinläglichem Maße mit der heiligen Wissenschaft befaßt habe. Die Angabe „eineinhalb Jahre" dürfte jedoch in etwa für die tatsächliche Zeit des Theologiestudiums zutreffen. O b irgendein Gegenstand aus dem Bereich der Sacra Doctrina sein besonderes Interesse gefunden hat, wissen wir nicht, da er hierüber ebenso wenig erzählt wie über sein Studium der Artes. Es ist anzunehmen, daß der Vorlesungen über die Heilige Schrift und die Sentenzen gehört hat. Aber mit deren Gegenstand hatte er sich ja längst, als theologischer Autodidakt auf spirituellem Wege, vertraut gemacht, so daß er für die Gefährten, die sich ihm in den letzten Pariser Studienjahren - und diesmal definitiv - und danach anschlössen, ein überlegener geistlicher und theologischer Lehrer werden konnte. Das Pensum des „offiziellen" Studiums der Philosophie und der Theologie, die sich auch und gerade in ihrer Hochburg, der Pariser Universität, in einem dekadenten und jämmerlichen Zustand befanden, hatte sich Ignatius mühsam, ohne Begeisterung und keineswegs aus innerer Uberzeugung angeeignet.

Paris

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Einige Gelehrte aus der Gesellschaft Jesu haben sich bemüht, die wissenschaftliche Qualifikation ihres Ordensstifters schönzureden; so CANDIDO DE DALMASES, der unter Berufung auf das Urteil einiger Zeitgenossen die Gründlichkeit des Studiums und den theologischen Sachverstand des Ignatius hervorhebt.93 Der hauptsächliche Grund dafür dürfte sein, daß Ignatius selbst später als Ordensgeneral auf einem ausführlichen und vollständigen Studium der seit dem Mittelalter überkommenen philosophischen und theologischen Disziplinen insistiert hat, und in der Ratio studiorum, in der die Ausbildung für den Nachwuchs des Ordens und für die Alumnen an den von den Jesuiten geleiteten Kollegien und Hochschulen über Jahrhunderte geregelt war, wurde eben dieses Studium vorgeschrieben. Ignatius dagegen hat sich dem „ordentlichen" Studium der Theologie nur ansatzweise ausgesetzt. Selbst wenn er - was durchaus wahrscheinlich ist - Vorlesungen im DominikanerKonvent Saint-Jacques und im benachbarten Kloster der Cordeliers gehört hat, so reichte doch die kurze Zeit nicht aus für ein professionelles Theologiestudium, das in der Regel fünf oder sechs, bis zum Doktorat sogar zwölf Jahre in Anspruch nahm. Mit den Originalschriften der Kirchenväter hat er sich überhaupt nicht befaßt.'4 Die Souveränität in theologischen Fragen, die Zeitgenossen an dem Heiligen bewunderten, beruhte, genau wie bei Franziskus von Assisi und anderen theologischen Autodidakten, auf dem eigenständigen, kongenialen Zugang zu den Inhalten des Glaubens, nicht auf schulmäßig erworbenem Wissen. Ausführlicher als über sein Studium gibt Ignatius über seinen Gesundheitszustand in den Pariser Jahren Auskunft. Etwa im dritten Jahr seines Studiums machte sich erneut ein Krankheissymptom bemerkbar, das er als sein „Magenleiden" (malo dello stomaco) bezeichnet.95 In Paris, und zwar schon um diese Zeit, befiel ihn ein schweres Magenleiden, so daß er alle zwei Wochen einen Schmerzanfall hatte, der jeweils eine gute Stunde lang dauerte und hohes Fieber verursachte. Einmal dauerte ein solcher Schmerzanfall sechzehn oder siebzehn Stunden lang an. Später, als er den philosophischen Kurs abgeschlossen und schon einige Jahre Theologie studiert und seine Gefährten gesammelt hatte, machte die Krankheit immer weitere Fortschritte, ohne daß man ein wirksames Mittel dagegen finden konnte, so viele man auch an ihm ausprobierte.

Die schmerzhafte Krankheit, die Ignatius seit seinem Aufenthalt in Manresa plagte, hatte ihren Sitz nicht im Magen, sondern in Galle und Leber, und sie war wohl hauptsächlich auf die - nach heutiger Kenntnis - absolut unvernünftige Ernährung und maßlose Askese zurückzuführen. Aber es dürften auch psychische Ursachen eine Rolle gespielt haben. Die Arzte in Paris jedenfalls, denen Ignatius seine Behandlung anvertraute, scheinen das gewußt oder geahnt zu haben, als sie dem Patienten als einziges erfolgversprechendes Heilmittel einen „Aufenthalt in der Heimat" verordneten. Auch von seinen Gefährten wurde er gedrängt, die Reise nach Spanien anzutreten.

VIII DIE A N F Ä N G E DER G E S E L L S C H A F T J E S U

1. Die Gefährten Die Auskünfte, die Ignatius über das Zustandekommen seiner dritten Gruppe von Gefährten, die zur Keimzelle seines Ordens werden sollte, gibt, sind äußerst spärlich. Namentlich erwähnt er nur zwei von ihnen: Petrus Faber und Francisco Javier, sowie den Umstand, daß er sie mit Hilfe der Exerzitien für den Dienst Gottes gewonnen hatte.1 Er erwähnt dann, daß „die Gefährten" (Ii compagni) ihm dringend rieten, zur Stabilisierung seiner Gesundheit die Reise nach Spanien zu unternehmen, und fährt fort:2 Zu dieser Zeit hatten sie sich schon alle entschlossen zu dem, was sie zu tun hatten, nämlich: nach Venedig und nach Jerusalem zu gehen und ihr Leben zum Nutzen der Seelen zu verbringen; und wenn man ihnen nicht die Erlaubnis erteilte, in Jerusalem zu bleiben, dann wollten sie nach Rom zurückkehren und sich dem Stellvertreter Christi vorstellen, damit er sie dort verwende, wo sie nach seinem Urteil am besten zur Ehre Gottes und zum Nutzen der Seelen wirken könnten. Sie hatten sich außerdem vorgenommen, ein Jahr lang auf die Einschiffung in Venedig zu warten; und wenn es in dem betreffenden Jahr keine Möglichkeit zur Einschiffung in die Levante gäbe, dann sollten sie von dem Jerusalem-Gelübde befreit sein und zum Papst gehen, und so weiter. Man glaubt in diesem Text die Substanz des Gelöbnisses zu erkennen, das Ignatius und seine ersten sechs Gefährten am 15. August (Mariae Himmelfahrt) 1534 in der Marien-Kapelle auf dem Montmartre ablegten. Ignatius hat sich zu dem Vorgang nicht weiter geäußert. Doch sind die Berichte seiner Gefährten Simón Rodrigues, Petrus Faber, Diego Laynez und Nicolás Bobadilla erhalten.3 Das auch als Märtyrer-Kapelle bezeichnete, heute nicht mehr erhaltene Kirchlein stand am Ort des legendären Martyriums des heiligen Dionysius.4 Das Gelöbnis wurde abgelegt während einer von Faber (er war der einzige der kleinen Gemeinschaft, der schon die Priesterweihe empfangen hatte) zelebrierten Messe, unmittelbar vor der Kommunion. Von den Anwesenden war Ignatius mit 43 Jahren der Älteste, Faber und Javier zählten 28, Bobadilla 25, Rodrigues 24, Laynez 22 Jahre; Alfonso Salmerón war mit 19 Jahren der Jüngste. Faber hatte im bitterkalten Januar und Februar 1534 bei Ignatius die Exerzitien gemacht, wobei er sich durch ein rigoroses Fasten an Essen und Trinken (!) für die restliche Zeit seines Lebens den Appetit verdarb. Nur mit einem Hemd bekleidet, setzte er sich zur Buße in einem unbeheizten Zimmer

Die Gefährten

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der Kälte aus und trieb so, was Hunger und Durst an sexuellen Regungen noch übrig gelassen hatten, aus seinem Leib hinaus. Das ging sogar Ignatius zu weit, und er befahl seinem Exerzitanten, Feuer zu machen und etwas zu essen.5 Faber wurde am 30. Mai 1534 durch den Bischof von Paris, Jean de Beilay, zum Priester geweiht. Francisco Javier (Xavier; Franciscus Xaverius) ist als der erste große Asien-Missionar der Gesellschaft Jesu in die Geschichte eingegangen. Der Jesuit GEORG SCHURHAMMER hat über ihn eine monumentale Biographie verfaßt,6 die wir bereits mehrfach zitiert haben. Das bewundernswerte, mit großer Akribie und profunder Quellenkenntnis gearbeitete Werk ist eine zuverlässige Fundgrube für die gesamte Frühgeschichte der Gesellschaft Jesu und deren historisches Umfeld; es ist gleichwohl nicht ganz frei von moralisierendem und frömmelndem Schwulst. Francisco entstammte wie Ignatius einer baskischen Adelsfamilie. Er wurde am 7. April 1506 als Sohn des Doktors der Rechte (Bologna 1470) Juan de Jassu und der Maria de Azpilcueta auf dem Schloß Xavier an der Ostgrenze von Navarra geboren. Seit Herbst 1525 studierte er in Paris, wo er in dem Kolleg Sainte-Barbe wohnte. Nach bestandenem Latein-Examen begann er am 1. Oktober 1526 sein philosophisches Studium; am 15. März 1530 erwarb er das Lizentiat. Noch im gleichen Monat wurde ihm der Grad eines Magister artium zuerkannt.7 Er fand bald danach eine Stelle als Magister regens an dem Collège Dormans-Beauvais, das ganz in der Nähe des Collège Sainte-Barbe lag. In dem mit dem Kolleg abgeschlossenen Vertrag verpflichtete er sich, den dreieinhalb] ährigen Kurs in aristotelischer Philosophie zu geben. Im Gegensatz zu Faber verhielt sich Francisco Javier Ignatius gegenüber zunächst sehr reserviert. Die Nachrichten über den Widerstand, den er ihm entgegensetzte, sind allerdings nur indirekt, in relativ späten Quellen, überliefert.8 Javier war als Kleriker der Diözese Pamplona nach Paris gekommen, und er hatte als Sproß einer Adelsfamilie und durch die Beziehungen einflußreicher Verwandter Aussicht auf eine kirchliche Karriere. Überdies hatte er Sympathien für die Pariser Humanisten, die allerdings bei den konservativ gesinnten Theologen der Sorbonne und der Kollegien im Verdacht der lutherischen Häresie standen. Ignatius konnte Javier allmählich für sich gewinnen, indem er ihm in finanziellen Nöten aushalf und ihm neue Schüler zuführte.' Auch warnte er ihn eindringlich vor dem Umgang mit Leuten von häretischer Gesinnung.10 Die definitive „Bekehrung" Javiers fand vermutlich Anfang des Jahres 1533 statt; eine genaue Datierung ist nicht überliefert." Im Verlauf des gleichen Jahres erfuhr die kleine Gemeinschaft eine Erweiterung durch zwei spanische Studenten: Laynez und Salmerón. Angezogen vom Ruf des Ignatius, über den sie in Alcalá vieles und Unterschiedliches gehört hatten, waren die beiden Freunde nach Paris gezogen, wo sie gegen Ende 1532 ankamen. Ignatius brachte sie im Kolleg Sainte-Barbe unter. Diego Laynez wurde 1512 in Almazán am Duero, 35 km südlich von Soria (Alt-Kastilien), geboren. Sein Vater Juan Laynez entsummte einer jüdischen

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V i l i . Die Anfänge der Gesellschaft Jesu

Familie, die drei Generationen zuvor zum Christentum konvertiert war. Sein Wohlstand ermöglichte ihm, den Sohn zum Studium nach Alcalá zu schicken, wo Diego am 26. Oktober 1532 den Magistergrad erwarb. Der immer freundliche, scharfsinnige Mann war von kleiner Statur. Zusammen mit Salmerón nahm er in den Jahren 1546,1551 und 1562 in päpstlichem Auftrag am Konzil von Trient teil. 1552 wurde er Provinzial der italienischen Ordensprovinz. Nach dem Tode des Ignatius (1556) leitete er die Gesellschaft zunächst als Generalvikar, ab 1558 als ihr zweiter Generaloberer. Er starb 1565. Alfonso Salmerón stammte aus Toledo, wo er am 6. September 1515 als Sohn von Alfonso Salmerón und Marina Díaz zur Welt kam. Die wenig begüterten Eltern konnten gleichwohl den Sohn auf die Universität von Alcalá schicken, wo er mit großem Erfolg Latein und Griechisch studierte. Seine theologischen Kenntnisse, die ihm auf dem Trienter Konzil zustattenkamen, erwarb er in Paris. 1558-1576 bekleidete er das Amt des Provinzials der neapolitanischen Ordensprovinz. In Neapel starb er 1583.12 Zunächst durch materielle Unterstützung, dann durch die Exerzitien, die er ihm im Jahre 1534 erteilte gewann Ignatius einen weiteren Spanier für seine Sache: Nicolás Alonso y Pérez; er stammte aus Bobadilla del Camino in der Diözese Palencia (Alt-Kastilien), wo er um 1509 geboren wurde.13 Nach dem Namen seines Geburtsortes wurde er später „P. Bobadilla" genannt. Die Eltern, Francisco Alonso und Catalina Pérez, waren mit zeitlichen Gütern nicht gesegnet. Trotzdem ermöglichten sie dem begabten Sohn ein Studium; er besuchte zunächst die Latein-Schule seines Heimatortes, danach studierte er in Valladolid Logik und Rhetorik. Mit dreizehn Jahren ging er nach Alcalá, wo er eine Freistelle erhalten hatte. Sein Vater war zu der Zeit schon gestorben. In Alcalá erwarb Bobadilla das Baccalauréat in Philosophie (20. Juni 1529), studierte aber auch bereits Theologie (nach dem „Collectorium" des Tübinger Theologen Gabriel Biel). Nach Valladolid zurückgekehrt, erhielt er eine Stelle als Professor der Logik, konnte aber gleichzeitig seine theologischen Studien fortsetzen. Im Herbst 1533 zog er, angezogen vom Ruf der königlichen Professoren, die allesamt Humanisten waren, nach Paris. Er hatte sich vorgenommen, die drei Sprachen Latein, Griechisch und Hebräisch zu studieren. Ignatius vermittelte ihm eine Stelle als Magister regens der Philosophie an dem Collège Calvi. Die Warnungen des Ignatius vor den von humanistischen und lutherischen Häresien infizierten Professoren der Sorbonne nahm Bobadilla ernst: anstatt seine (für gefährlich erachteten) Sprachen-Studien fortzusetzen, ging er von da an in die Klöster der Jakobiner (Dominikaner) und der Cordeliers (Franziskaner), um für weitere drei Jahre (1533-1536) scholastische und positive Theologie zu studieren. Bobadilla wirkte später als Seelsorger in Deutschland, im Veltlin, in Dalmatien und in Italien; er starb 1590 in Loreto. Als dritten unter seinen sechs ersten Gefährten, nach Faber und Javier, hatte Ignatius den Portugiesen Simon (Simäo) Rodrigues gewonnen. Er hatte ihn im Collège Sainte-Barbe kennengelernt, wo Rodrigues seit 1527 als Sti-

Die Gefährten

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pendiat des Königs von Portugal wohnte.14 Er war 1510 in Vouzella in der Diözese Viseu (Nordportugal) geboren. Seine Eltern, Gil Gonsalves de Azevedo Cabral und Doña Helena de Azevedo, gehörten dem portugiesischen Hochadel an. In den Jahren 1540-1552 baute Rodrigues im Auftrage des Ignatius als Superior und Provinzial die portugiesische Ordensprovinz auf, geriet allerdings mit dem Ordensgeneral in Konflikte, die eine schwere Krise zur Folge hatten. Von Ignatius zurückbeordert, weilte er 1553-1564 in Italien. Danach wirkte er in mehreren Häusern der Gesellschaft in Spanien; 1573 kehrte er nach Portugal zurück, wo er 1579 starb. Große Mühe gab sich Ignatius um einen sehr eigenwilligen Gelehrten unter seinen Pariser Bekannten: Jerónimo Nadal. Er stammte von der Insel Mallorca, wo er am 11. August 1507 geboren wurde. In Paris unterrichtete er im Rahmen der Artisten-Fakultät Mathematik; daneben studierte er Theologie. Obwohl er in beständigem Gespräch mit Ignatius und seinen Gefährten stand, hatte er Bedenken, sich der Gruppe definitiv anzuschließen. Seine Zweifel betrafen vor allem die Rechtgläubigkeit seiner Gesprächspartner. Einmal bearbeitete Ignatius ihn einen ganzen Tag lang in einer Kapelle. Doch der Mallorquiner blieb resistent und erwehrte sich schließlich der aufdringlichen Bekehrungsversuche, indem er Ignatius ein Neues Testament entgegenhielt, mit den Worten: „Diesem Buch will ich folgen. Worauf Ihr hinauswollt, weiß ich nicht. Laß mich in Zukunft mit diesen Dingen in Ruhe und mach dir um mich keine Sorgen!" 15 Nadal kehrte nach Spanien zurück, wo er eine Pfründe übernahm. 1545 trat er in Rom der Gesellschaft Jesu bei und wurde einer der eifrigsten Gefolgsleute des Ordensstifters. In seinem Auftrag gründete er 1548 in Messina das erste Kolleg der Gesellschaft. Nadal starb am 3. April 1580 in Rom. Hauptsächlich infolge der Werbetätigkeit Fabers schlössen sich in den Jahren 1535-1536 weitere drei Pariser Studenten der Gefährtenschaft an: Claude Le Jay, ein savoyardischer Landsmann Fabers, Paschase Broét, ein Bauernsohn aus der Picardie, und Jean Codure, ein Provenzale aus dem Bistum Embrun. 16 Aus den Darstellungen, die die Ordenshistoriker der Jesuiten von den Pariser Anfängen der Gesellschaft geben, kann man den Eindruck gewinnen, daß die „Bekehrung" der ersten Gefährten mit einer gewissen Selbstverständlichkeit aus ihrer Begegnung mit Ignatius folgte und daß es vor allem die Ausstrahlung des Heiligen gewesen ist, die sie veranlaßte, ihr bisheriges Lebensziel aufzugeben. Das ist gewiß nicht falsch, doch ist damit, zumindest was die drei Spanier Laynez, Salmerón und Bobadilla betrifft, nicht alles erklärt. Alle drei kamen sie von Alcalá, der Hochburg des spanischen Humanismus. Ganz gewiß hatten sie einige der Schriften des Erasmus gelesen, und sie hatten vor, in Paris ihre Kenntnisse der antiken Sprachen zu vertiefen. Trotzdem gelang es Ignatius, in ihnen das Mißtrauen für das „Neue", der Häresie Verdächtige zu wecken und sie auf das (von den meisten Humanisten verachtete und als veraltet angesehene) Studium der scholastischen Theologie

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VIII. Die Anfänge der Gesellschaft Jesu

zu lenken. Es muß in der Tat eine mächtige spirituelle Leitfigur sein, die so etwas (gegen den Zeitgeist!) fertigbringt. Aber waren die mittelalterliche Theologie und der Inhalt seiner Exerzitien die einzige Alternative, die Ignatius gegen den neuen Geist, der mit Humanismus und lutherischer Reformation heraufgezogen war, aufzubieten hatte? Um diese Frage zu beantworten, wenden wir uns noch einmal der Stelle im Bericht des Pilgers zu, wo vom Ziel der jungen Gemeinschaft und, indirekt, von dem Inhalt des Gelöbnisses auf dem Montmartre die Rede ist. Das entscheidende Wort ist: Jerusalem. Dort wollten sie ihr Leben zum Nutzen der Seelen verbringen. Mit den „Seelen" ist gewiß nicht nur die Handvoll Christen gemeint, die in Jerusalem noch übriggeblieben waren. Vielmehr verfolgte Ignatius, wie schon bei seiner Pilgerfahrt ein Jahrzehnt zuvor, das Ziel der Bekehrung der Muslime. Ein geistiger Kreuzzug also war es, für den er offenbar Begeisterung zu erwecken verstand.17 Und die Kreuzzugsidee, die im Mittelalter die Massen begeistert und fanatisiert hatte, konnte vor allem bei den Spaniern, die zeitlich noch nicht sehr weit von der Reconquista entfernt waren, einen latent vorhandenen Funken entzünden. Das Ideal des geistlichen Rittertums und die Vorstellung von der Teilnahme an einem spirituellen Kreuzzug im Heer Christi hatten die Schüler des Ignatius in der zweiten Woche der Exerzitien eingeübt und verinnerlicht.18

2. Letzte Reise nach Spanien Als Seelsorger in Azpeitia Für die Reise, die Ignatius zur Wiederherstellung seiner Gesundheit nach Spanien unternehmen sollte, hatten ihm die Gefährten ein kleines Pferd (un piccolo cavallo) gekauft. Auf ihm ritt er gegen Ende März 1535 ohne Begleitung in Richtung Bayonne. Je weiter er ritt, desto mehr besserte sich sein Gesundheitszustand, und der Hauptgrund seiner Reise in die Heimat war somit eigentlich hinfällig geworden. Aber Ignatius hatte noch andere Beweggründe, wie der Leser des Pilgerberichts alsbald erfahren wird. Er wollte ohne Aufsehen in Azpeitia ankommen; deshalb verließ er an der Grenze der Provinz Guipúzcoa die (über San Sebastián führende) Küstenstraße und ritt über wenig begangene Gebirgspfade, um so (wohl über Tolosa) möglichst unbemerkt an sein Ziel zu gelangen. Aber er war bereits in Bayonne erkannt worden, und die Nachricht davon war mit Windeseile zu seinem Bruder Martín Garcia gelangt. Der Weg durch das Gebirge, den Ignatius eingeschlagen hatte, war berüchtigt wegen der Raubüberfälle, die dort auf Reisende (vor allem wohl Santiago-Pilger) verübt wurden. Als ihm zwei Bewaffnete entgegenkamen, glaubte Ignatius deshalb, es handele sich um Wegelagerer. Seine Befürchtung verstärkte sich, als die Beiden, die zunächst an ihm vorbeigeritten waren,

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umkehrten und ihn einholten. Obwohl ihm nicht ganz behaglich zumute war," begann er ein Gespräch mit ihnen. Dabei stellte es sich heraus, daß die Berittenen Gefolgsleute seines Bruders waren. Martin hatte sie ausgeschickt, um Ignatius nach Loyola zu geleiten. Sie ritten nun voraus, um seine Ankunft zu melden. Kurz bevor er das väterliche Schloß erreichte, erwarteten sie ihn wieder und bestanden darauf, ihn zu seinem Bruder zu führen. Ignatius lehnte das aber strikt ab und begab sich zu dem am Stadtrand von Azpeitia gelegenen Magdalenen-Hospital. 20 In dieser ärmlichen Herberge für Pilger und Kranke nahm er für die Dauer seines Aufenhalts in der Heimat sein Quartier. Damit und mit dem Bettelgang, den er noch am Tag seiner Ankunft durch die Stadt unternahm, wollte er die Distanz von seinem „alten" Leben und seiner Familie öffentlich demonstrieren. Es war aber auch eine Demonstration für die Bettel-Armut, die (im genuin franziskanischen Sinne!) identisch mit der Nachfolge Christi war. Außerdem hatte er sich vorgenommen, jetzt auch an diesem Ort seiner Herkunft den Seelen zu helfen. Mit den zahlreichen Besuchern, die sich alsbald in seiner Unterkunft einstellten, sprach er „über die Dinge Gottes" (delle cose di Dio), „und mit seiner Gnade hatte er ziemlichen Erfolg".21 Er hatte sich vorgenommen, den Kindern des Städtchens täglich die Christenlehre zu erteilen. Mit diesem Plan stieß er aber auf den heftigen Widerstand seines Bruders. (Wo käme man hin, wenn sich der Adel auch noch mit der religiösen Erziehung des Pöbel-Nachwuchses beschäftigte!) Martin meinte, es werde ja doch niemand kommen. Darauf entgegnete er ihm, es genüge ihm einer. Indessen waren es, nachdem er einmal damit angefangen hatte, viele, die regelmäßig kamen, um ihn zu hören, und darunter sogar sein Bruder.

Außer dem vor allem für Kinder bestimmten Unterricht in den elementaren Glaubenslehren erwähnt Ignatius noch eine andere seelsorgerliche Tätigkeit, deren er sich mit großem Erfolg annahm: An den Sonn- und Feiertagen predigte er; die Menschen strömten nicht nur aus der Stadt, sondern auch aus der weiteren Umgebung heran, um ihm zuzuhören. 22 Die Predigten fanden zunächst in der Kapelle des Hospitals statt; als die Zahl der Hörer zunahm, predigte er im Freien. Mindestens einmal hat er auch in der Pfarrkirche von Azpeitia gepredigt. Sein Bruder Pero Lopez konnte ihn daran nicht mehr hindern; der ehemalige Inhaber der Pfarrei war bereits 1529 gestorben; er hatte im Konkubinat gelebt und vier Kinder hinterlassen.23 Ob nun innerhalb einer Kirche oder nicht: es ist bemerkenswert, daß Ignatius, der weder einen kirchlichen Auftrag, noch eine Weihe, noch einen theologischen Grad, ja nicht einmal ein ordentliches Theologiestudium hatte, sich die Vollmacht zu predigen einfach zueignete. Ignatius beschränkte seine Aktivitäten in Azpeitia nicht auf die Seelsorge im engeren Sinne. Er bemühte sich darum, moralische und gesellschaftliche Mißstände abzustellen, wofür er die Hilfe des zuständigen Gouverneurs oder

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Richters - also der weltlichen Macht - in Anspruch nahm. So setzte er ein Verbot des Kartenspiels durch. Besonders ärgerte ihn, daß die Konkubinen der Priester und anderer Männer, die in illegitimen, gleichwohl aber festen Beziehungen lebten, ihre Haare, wie die verheirateten Frauen, mit einer Haube bedeckten und keinerlei Scham empfanden, sich öffentlich zu ihren Partnern zu bekennen. Ignatius zog daraus keine Rückschlüsse auf die Fragwürdigkeit der kirchlichen Ehegesetzgebung und des Zwangszölibats (wie es nicht wenige seiner Zeitgenossen taten), sondern er stellt fest, daß aus dem genannten Brauch „viel Böses entsteht".24 Deshalb überredete er den Gouverneur zum Erlaß einer Bestimmung, daß alle Frauen, die ihre Köpfe für jemanden bedeckten, ohne dessen Ehefrau zu sein, ihrer gerechten Strafe zugeführt würden, das heißt, sie sollten wohl ausgepeitscht werden.25 „Und auf diese Weise wurde der Anfang gemacht, diesen Mißstand zu beseitigen." Des weiteren konnte Ignatius die städtischen Behörden zum Erlaß einer Armenordnung bewegen. Wenn die Armen eine Unterstützung aus den Mitteln der Gemeinde erhielten, wurde das Betteln überflüssig. Daß er selbst bis dahin und noch lange danach ausschließlich vom Betteln lebte, scheint ihn dagegen nicht gestört zu haben. IGNACIO TELLECHEA hat auf diesen merkwürdigen Umstand aufmerksam gemacht: „Aber es bleibt paradox, daß der hartnäckigste Bettler Europas sich hier daran macht, die Bettelei zu unterdrücken." 26 Außerdem wurde auf Veranlassung des Ignatius das dreimalige Angelus-Läuten eingeführt, wie es damals in Rom schon üblich war, „für diejenigen, die sich im Stande der Todsünde befinden". 27 Es ging also Ignatius bei dem Angelus-Läuten weniger um die Erinnerung an die Inkarnation Christi als um die Aufrüttelung der Sünder und die Ermahnung der Christen, für sie zu beten. Einen moralischen Mißstand innerhalb seiner Familie und seines väterlichen Hauses, dem er zu Leibe rückte, erwähnt Ignatius nicht in seinen Erinnerungen. Wir erinnern uns, daß er es seit seiner Ankunft im Urola-Tal stets abgelehnt hatte, im Schloß Loyola zu übernachten. Genau darum bat ihn aber seine Schwägerin Magdalena zu wiederholten Malen mit großer Eindringlichkeit. Schließlich rückte sie unter flehentlichen Bitten und Beschwörungen mit dem geheimnisvollen Grund ihres Ansinnens heraus: ein Mann aus der Familie empfing des Nachts eine Frau, die durch einen geheimen Eingang das Schloß betrat. Ignatius suchte nun nicht das Gespräch mit seinem Verwandten, sondern fing die Hure bei ihrem nächtlichen Besuch ab und brachte sie auf sein Zimmer, wo er bis zum Morgen auf sie aufpaßte. Als er einige Jahre später einem spanischen Mitbruder, P. Pedro de Tablares, in einer schwachen Stunde den Vorfall erzählte, bemerkte der, so etwas hätte er nicht gewagt. Ignatius erwiderte, er sei sicher gewesen, es wagen zu können. Danach beendete er abrupt das Gespräch mit den Worten: „Gott möge Euch verzeihen, daß Ihr mich dazu gebracht habt, etwas zu sagen, was ich nicht wollte." 28 Alle hier berührten Umstände, insbesondere die verzweifelte Intervention seiner Schwägerin, deuten darauf hin, daß es sich bei dem nament-

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lieh nicht genannten „Verwandten" und heimlichen Ehebrecher um niemand anderen gehandelt haben kann als um den Gatten Magdalenas und Hausherrn von Schloß Loyola, Martin Garcia. Von den neueren Biographen erwähnt W I L L I A M MEISSNER, obwohl er einen eigenen Abschnitt: „Familienskandale" in sein Werk eingerückt hat, den Vorfall überhaupt nicht; CÄNDIDO DE D A L MASES spricht, ebenso wie Ignatius selbst, nur von einem „Verwandten" und vermeidet es, den Schluß zu ziehen, daß es sich um den Bruder gehandelt hat; allein IGNACIO TELLECHEA behandelt die heikle Sache mit der gebotenen Offenheit.29 Daß Ignatius selbst, weder in seinem Pilgerbericht noch in späteren Gesprächen daran interessiert war, die „Schande" seiner Familie aufzudecken, ist verständlich. Er erwähnt ja auch mit keinem Wort, daß Martin Garcia nicht nur seinen legitimen Sohn Perez, sondern auch seinen unehelichen Sproß Gil reichlich mit kirchlichen Pfründen ausgestattet hatte. Mit alldem war Ignatius befaßt, als er sich um die Beilegung des Konflikts zwischen der Pfarrei und dem benachbarten Nonnen-Konvent der Unbefleckten Empfängnis bemühte. Bei dieser Gelegenheit kam auch heraus, daß sein anderer Bruder, der verstorbene Pfarrer Pero Lopez, einen kirchlichen „Versorgungsfall" in Gestalt einer illegitimen Familie hinterlassen hatte. Es mag verständlich sein, daß Ignatius keine näheren Details über Vorgänge mitteilen wollte, die seine Familie in ein moralisch fragwürdiges Licht setzen konnten. Der Kontext der oben angeführten Berichte läßt allerdings Zweifel an der Fähigkeit des Heiligen zu menschlichem Mitgefühl aufkommen. Vor allem die Tatsache, daß man über das Schicksal der illegitimen Sprossen des Hauses Loyola überhaupt nichts erfährt, kann einen nachdenklich stimmen. Ignatius hält es nicht einmal für wert, die Namen der Konkubine seines Bruders Pero Lopez und von deren Kindern zu erwähnen. Das Verhalten seiner Familie gegenüber war wohl damals schon an den strengen Maßstäben der Moral und der Kirchenreform orientiert, für deren Durchsetzung später dann auch sein Orden kämpfte (und sich dabei unter anderem den Ruf der Familienfeindlichkeit einhandelte). Während der letzten Wochen seines Aufenthalts in der Heimat war Ignatius erneut schwer erkrankt; vermutlich rebellierte seine Galle gegen die minderwertige Nahrung, die er zu sich nahm. Aber es waren wohl auch psychische Ursachen mit im Spiel: das Leiden, das seine Familie ihm verursachte, machte die erhoffte heilsame Wirkung der heimatlichen Luft zunichte. Als es ihm wieder besser ging, entschloß er sich zum Aufbruch. Es war gegen Ende Juli 1535; sein Aufenthalt in Azpeitia hatte etwa drei Monate gedauert. Er wollte sich wieder zu Fuß, ohne Reittier, auf die Reise machen. Ebenso lehnte er das Reisegeld, das ihm sein Bruder anbot, ab, worüber der sich maßlos aufregte: es ging hier um die Ehre der Familie Loyola! Ignatius gab schließlich insoweit nach, als er sich bereit fand, bis zur Grenze der Provinz zu reiten und dabei das Geleit seines Bruders und anderer Verwandter zu akzeptieren. Am vereinbarten Ort angekommen, stieg er vom Pferd, um seine Reise in Richtung Pamplona fortzusetzen, „allein und zu Fuß". Erneut wies

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VIII. Die Anfänge der Gesellschaft Jesu

er das ihm angebotene Geld zurück; er wollte sich auch weiterhin nur mit Betteln durchschlagen. In der Heimat der Gefährten

Als er sich von Paris aus in seine spanische Heimat aufmachte, hatte sich Ignatius vorgenommen, die Verwandten seiner Gefährten aufzusuchen. In seinen Erinnerungen sind fast alle Einzelheiten dieses zweiten Teils seiner Spanien-Reise ausgespart. Er erwähnt nur, daß ihn sein Weg über Pamplona, Almazán, Sigüenza und Toledo nach Valencia führte und daß er die beträchtlichen Geschenke, die man ihm aufdrängen wollte, zurückwies. Das traf wahrscheinlich schon für den ersten seiner Gastgeber zu; es war Juan de Azpilcueta, der Bruder des Francisco Javier. Er war Offizier und lebte in Obanos in der Nähe von Pamplona in sehr wohlhabenden Verhältnissen. In dem Krieg um das Königreich Navarra, in dem Iñigo 1521 seine schwere Verwundung erlitten hatte, hatte er auf Seiten der Franzosen gekämpft. Jetzt überbrachte ihm der einstige Kriegsgegner einen Brief seines Bruders, worin er ihm Auskunft über sein Verhältnis zu Iñigo gab.30 Unter anderem wegen seiner Freundschaft zu Ignatius hatten „einige schlechte und verkommene Menschen" Francisco bei seinem Bruder verleumdet. Francisco versucht, die über ihn kolportierten Lügen zu widerlegen, wobei er die großen ihm von Ignatius erwiesenen Wohltaten hervorhebt. Dabei erwähnt er die finanziellen Unterstützungen, die er von Seiten seines Landsmanns erhalten hatte, und vor allem, daß er ihn aus der schlechten Gesellschaft häretisch gesinnter Leute, in die er in Paris geraten war, herausgerissen hatte. Er bittet den Bruder, seine große Armut zu lindern; das Geld solle er Iñigo übergeben; der wiederum sollte es dem Vater von Diego Laynez überbringen. Juan Laynez verfügte über die Möglichkeit, das Geld sicher nach Paris gelangen zu lassen. Nun betont Ignatius, wie bereits erwähnt, in dem Pilgerbericht ausdrücklich, daß er in den Heimatorten seiner Gefährten nichts annehmen wollte.31 Gilt das auch für das Geld, das ihm für seine Gefährten angeboten wurde? Im Gegensatz zu ihm hatten zumindest Javier und Laynez (auch nach ihrer „Bekehrung") keinerlei Hemmungen, die finanziellen Hilfen ihrer Familien anzunehmen. Sie folgten also in dieser Hinsicht nicht dem Vorbild ihres geistlichen Vaters. In Almazán lebten die Eltern von Diego Laynez. Aus dem erwähnten Brief Javiers an seinen Bruder wird deutlich, daß Ignatius ihnen einen Brief ihres Sohnes überbrachte und daß Laynez von seinem Vater „auf einem sehr sicheren Wege" gut versorgt wurde. Handelt es sich dabei vielleicht um Verbindungen, die über jüdische Bankiers oder Geschäftsfreunde liefen? Was Ignatius in Sigüenza zu tun hatte, wird nirgends gesagt. Vielleicht suchte er die Verwandten seines ehemaligen Pariser Magisters Juan Peña auf. Toledo war die Heimatstadt von Alfonso Salmerón. Außer dessen Familie besuchte Ignatius auch seinen Freund Pedro de Peralta aus der ersten Pariser Gefähr-

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tengruppe. Er machte sich Hoffnungen, ihn für die im Entstehen begriffene Gesellschaft gewinnen zu können.32 Doch Peralta, der mittlerweile Prediger an der Kathedrale geworden war, zeigte kein Interesse mehr an den Idealen des Pilgers. Der Weg nach Toledo hatte Ignatius über Madrid geführt. Dort lebte sein alter Freund Arteaga; er war inzwischen Erzieher im Hause eines hohen Regierungsbeamten, des Comendador mayor von Kastilien, Don Juan de Zúñiga, geworden und unterrichtete dessen Sohn Luis de Requeséns. Auch hier erlebte Ignatius eine Enttäuschung: bei Arteaga war das Armuts- und Pilgerideal erloschen. Über Doña Leonor Mascarenhas, die Erzieherin des Thronfolgers Felipe, die ihn sehr verehrte, erlangte Ignatius Zugang zu dem damals achtjährigen Infanten. Noch fünfzig Jahre später erinnerte sich der König Philipp II. an diese Begegnung, als man ihm das von Alonso Sánchez Coello gemalte Porträt des Heiligen zeigte.33 In Valencia suchte Ignatius, wie er berichtet, Juan Castro auf. Er war in die Kartause Valí de Cristo in Altura bei Segorbe eingetreten. Vermutlich fand die Begegnung dort, nicht in der Stadt Valencia statt. Ignatius sagt nur, daß er mit Castro sprach („In Valenza parlo con Castro"). Über den Inhalt der Gespräche Vermutungen anzustellen und sie in erbaulicher Absicht auszumalen, blieb den modernen Biographen aus der Gesellschaft Jesu vorbehalten. Ignatius hatte vor, sich in Valencia einzuschiffen, um von dort nach Genua zu gelangen. Seine Bekannten rieten ihm aber dringend von der Schiffsreise ab, da der berüchtigte Pirat Chair-ed-Din Barbarossa damals mit seinen Galeeren das westliche Mittelmeer unsicher machte.34 Die Befürchtungen verfehlten ihren Eindruck auf Ignatius nicht, konnten ihn aber von seinem Entschluß nicht abbringen. Das große Schiff, auf dem er einen Platz fand, legte gegen Ende Oktober 1535 in Valencia ab. Etwa zwei Wochen später, Mitte November, lief es in den Hafen von Genua ein. Unterwegs waren Besatzung und Passagiere nur knapp dem Tode entronnen, aber nicht weil Piraten sie bedroht hatten, sondern weil das Steuerruder des Schiffes in einem gewaltigen Sturm gebrochen war.35 Einige der neueren Biographen des Ignatius haben angenommen, er habe einen Zwischenaufenthalt in Barcelona dazu genutzt, seine dortigen Förderinnen und Freunde aufzusuchen. 36 Aber er hätte einen solchen Besuch doch wohl kaum mit Schweigen übergangen.

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VIII. Die Anfänge der Gesellschaft Jesu

3. Auf dem Weg nach Rom Von Genua nach Venedig In Genua begann die letzte große Pilgerreise des Ignatius, die ihn nicht, wie er damals noch beabsichtigte, nach Jerusalem, sondern nach Rom führte. Für ihn selbst und für die von ihm gegründete Gemeinschaft sollte das tiefgreifende Folgen haben. Der Pilger schlug zunächst den Weg nach Bologna ein, wobei er den Apennin durchqueren mußte. DALMASES nimmt an, daß er sich an die Route des Postverkehrs hielt; trifft das zu, dann gelangte er zunächst über Chiavari, Sestri Levante nach Varese Ligure, von dort ging er über den Paß von Centocroci nach Borgo Val di Taro; dann folgte er dem Flußlauf des Taro und erreichte über Fornovo di Taro in der Nähe von Parma die Via Emilia (170 km), die ihn direkt nach Bologna (90 km) führte.37 Vermutlich im Taro-Tal kam er von der Straße ab und verirrte sich auf einen Eselspfad, der jäh im Unbegangenen endete. In großer Höhe über dem unten rauschenden Fluß konnte er sich nur noch auf allen Vieren vorwärtsbewegen und hatte große Angst, abzustürzen. Schließlich entkam er aber doch der Gefahr, die, nach seiner eigenen Aussage, „die größte körperliche Mühe und Anstrengung war, die er jemals zu bestehen hatte".38 Wohl deshalb hatte sich das Abenteuer seinem Gedächtnis eingeprägt, und er hatte es einer ausführlichen Schilderung für wert befunden. Kurz bevor er die Innenstadt von Bologna betrat, traf ihn ein weiteres Ungemach: er fiel von einer Holzbrücke in einen Kanal. Tropfnaß und schlammbedeckt erregte er die Heiterkeit der Passanten und Herumsteher. Schlimmer war, daß seine Bettelgänge in der Stadt absolut erfolglos blieben. Ignatius erwähnt nicht, daß er in dem Colegio Mayor de San Clemente Unterkunft fand.39 Dieses Kolleg ging auf eine Stiftung des Kardinals Gil Albornoz zurück, der es in seiner Zeit als Päpstlicher Legat in Italien (1364) für spanische Studenten gegründet hatte. Ignatius hatte zunächst vor, in Bologna sein Theologiestudium fortzusetzen.40 Vielleicht hatte er deshalb die Pariser theologische Fakultät um ein Zeugnis über seine bisherigen Studien gebeten.41 Aber er wurde wieder einmal krank und machte sich schließlich auf den Weg nach Venedig (etwa 150 km), „immer auf die gleiche Weise", das heißt: „allein und zu Fuß". Man nimmt an, daß es um die Mitte des Januar 1536 war, als der Pilger zum zweiten Mal am Ausgangshafen für die Fahrt ins Heilige Land ankam. Alsbald widmete er sich „höheren und wichtigeren Aufgaben" als es die theologischen Studien waren, wie er an eine Wohltäterin in Paris schreibt.42 Er nahm seine seelsorgerliche Tätigkeit wieder auf: er gab die Exerzitien und und führte „geistliche Gespräche" (conversationi spirituali). Seine prominentesten Exerzitanten nennt er namentlich: Pietro Contarini und Gaspar de' Dotti (de Doctis). Pietro Contarini, Mitglied einer berühmten venetianischen

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Auf dem Weg nach Rom

Patrizierfamilie, war damals Prokurator des Ospedale degli Incurabili; 1557 wurde er Bischof von Paphos auf Zypern; nach seinem Verzicht auf die Diözese (1562) starb er 1563 in Padova.43 Gaspar de' Dotti amtierte als Vikar des Päpstlichen Nuntius in Venedig, Gerolamo Veraiii. 1551 wurde er Gouverneur von Loreto, wo er 1556 die einfachen Gelübde der Gesellschaft Jesu ablegte, ohne auf sein Amt zu verzichten.44 Als weitere Exerzitanten nennt Ignatius einen (nicht weiter bekannten) Spanier namens Rozas45 und den Baccalaureus Diego de Hoces. Hoces, der den Pilger häufig zu geistlichen Gesprächen aufsuchte, unterhielt auch Beziehungen zu dem Bischof von Chieti, der damals (seit 1527) in Venedig lebte. Es handelt sich bei diesem Bischof um niemand anderen als Gian Pietro Carafa, den Gründer des Theatiner-Ordens. Am 22. Dezember 1536 wurde er zum Kardinal kreiert. Nachdem er als Paul IV. den Apostolischen Stuhl bestiegen hatte, sollte er später Ignatius in Rom noch einige Sorgen bereiten. Jetzt jedenfalls zögerte der Baccalaureus Hoces, sich die Exerzitien geben zu lassen. Als er sich dann doch dazu entschlossen hatte, gestand er dem Pilger nach einigen Tagen, er habe Angst gehabt, daß er mit Irrlehren infiziert werden könnte, da ihn eben davor jemand gewarnt habe. Man darf vermuten, daß dieser „Jemand" der schon genannte Bischof Carafa war. Hoces, der zu den Exerzitien einige theologische Werke mitgebracht hatte, um sich gegebenenfalls gegen die Irrlehren des Ignatius wehren zu können, entschloß sich am Ende, „dem Leben des Pilgers zu folgen".46 Hoces, der aus Malaga stammte, schloß sich der Gemeinschaft an. Er starb schon 1538 in Padova, wo er zusammen mit Jean Codure gepredigt hatte.47 Es ist kaum zufällig, daß Ignatius nach der Episode mit Hoces auf eine „andere Verfolgung" (altra persecutione) zu sprechen kommt, die er in Venedig zu bestehen hatte. Es verbreitete sich nämlich das Gerücht, sein plastisches Abbild (statua) sei in Spanien und in Paris verbrannt worden.48 Es entwickelte sich daraus ein Prozeß vor dem Tribunal des Päpstlichen Nuntius, der am 13. Oktober 1537 mit einem Urteil des Vikars Gaspar de' Dotti zu Gunsten des Ignatius endete.49 Schon vorher hatte der Generalinquisitor für das Königreich Frankreich, der Dominikaner Thomas Laurency, Ignatius, wohl auf dessen Bitte, ihm selbst und seinen Gefährten die Rechtgläubigkeit und Untadelhaftigkeit des Lebenswandels und den Exerzitien die Ubereinstimmung mit der katholischen Lehre attestiert.50 Eine Winterreise: Der Weg der neun Gefährten

nach

Venedig

Ziemlich genau ein Jahr nach der Ankunft des Pilgers in Venedig trafen die mittlerweile neun Pariser Gefährten in der Lagunenstadt ein: am 8. Januar 1537. Man könnte ihren winterlichen Fußmarsch durch Westfrankreich, Lothringen und die nördliche Schweiz „abenteuerlich" nennen, aber mehr oder weniger traf das für alle längeren Reisen in der damaligen Zeit zu. Um nicht zu sehr aufzufallen, hatten sich die Magistri bei ihrer Abreise von Paris in

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VIII. Die Anfänge der Gesellschaft Jesu

zwei Gruppen geteilt; die zweite Gruppe brach in der Frühe des 15. November 1536 auf und gelangte nach Meaux, wo die ein paar Tage früher angekommenen Gefährten auf sie warteten.51 Unterwegs gaben sie sich als Wallfahrer zu dem Heiligtum Saint-Nicolas-du-Port bei Nancy aus. Bei SainteMenehould erreichten sie die Grenze des Königreichs Frankreich. Die erste lothringische Stadt auf ihrer Route war Clermont-en-Argonne. Durch das von marodierendem Kriegsvolk und Flüchtlingen erfüllte Land gelangten sie über Verdun, Metz, Nancy nach Saint-Nicolas-du-Port an der Meurthe mit seiner berühmten Wallfahrtskirche (erbaut 1495-1553). Jeanne d'Arc hatte das Heiligtum gegen Ende des Jahres 1428 von Vaucouleurs aus besucht.52 Die Reise der neun Pilger ging weiter über Lunéville, Blamont, Saarburg (Sarrebourg), Zabern (Saverne) nach Straßburg. Von den protestantischen Behörden der Reichsstadt vorgeladen und nach dem Zweck ihrer Reise befragt, gaben sie sich als Loreto-Pilger aus. In drei Tagesmärschen gelangten die Gefährten von Straßburg nach Basel, wo sie in einer (heute nicht mehr bekannten) Herberge Unterkunft fanden. Ein halbes Jahr zuvor (11. Juli 1536) war Erasmus gestorben und war im Chor des mittlerweile zur Seilerwerkstatt profanierten Münsters bestattet worden. Im Kreuzgang des Münsters hatte schon 1531 Johannes Oekolampad, der Reformator Basels und erste protestantische Antistes seine letzte Ruhe gefunden. Es lebten und lehrten aber damals in Basel noch eine Reihe bedeutender protestantischer Theologen, wie Sebastian Münster, Simon Grynaeus, Oswald Myconius, Andreas Bodenstein von Karlstadt. Einige von ihnen bekamen Lust, an den altgläubigen Pariser Magistri ihre Geistesschärfe und die Stärke der reformatorischen Argumente zu erproben - ohne Erfolg, wie man sich denken kann. Noch vierzig Jahre später erinnert sich Simon Rodrigues an den „großen, verderbenbringenden Häretiker" Karlstadt.53 Nach drei Tagen Aufenthalt in Basel traten die neun Gefährten die Weiterreise in Richtung Konstanz an, das sie über Rheinfelden, Brugg, Winterthur, Frauenfeld, Weinfelden auf tiefverschneiten Wegen erreichten (160 km). Das Land, das sie durchzogen, war überwiegend von Häretikern bewohnt, weshalb die Reise für die altgläubigen Pariser Magistri nicht ganz ungefährlich war. Einmal, wahrscheinlich in Weinfelden, ließen sie sich auf eine Disputation über den rechten Glauben mit einem ehemaligen Priester ein, der jetzt verheiratet war und eine Schar Kinder hatte; er amtierte als Pfarrer des Ortes.54 Die Insistenz der Magistri auf ihren Argumenten brachte ihn in Wut, und er drohte ihnen, er werde sie am nächsten Tag einsperren lassen. Doch ein katholisch gesinnter Mann brachte sie am nächsten Morgen zurück auf die Heerstraße, auf der sie nach zwei Stunden die ebenfalls (seit 1528) protestantisch gewordene Reichsstadt Konstanz erreichten. Der Weg, den die Gefährten durch die nördliche Schweiz nahmen, führte sie also nicht über Zürich, auch nicht an das Ufer des Zürichsees. Dort hätte eine Begegnung von der Art stattfinden können, wie sie der Schweizer Dichter Conrad Ferdinand Meyer (1825-1898) zwischen Ulrich von Hutten und

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Ignatius von Loyola in seinem Zyklus „Huttens letzte Tage" schildert. Die vier Gedichte unter der Überschrift: „Huttens Gast" sind ein Dokument blinden Hasses gegen die Jesuiten und ihren Gründer, wie er in protestantischen und liberalen Kreisen des 19. Jahrhunderts Mode war. Nachdem die irrationale, falsche (marianische!) Frömmigkeit möglichst drastisch und abstoßend dargestellt wurde, endet das letzte Gedicht „Fiebernacht" mit den ritterlich-frommen Erwägungen Huttens:55 Absonderliche Laute: „Loyola" Blutstropfen röten diese Silben da. Das ist ein Name, der die Wahrheit höhnt, Wie Flammen lodert, wie die Folter stöhnt! Der Höllensendling wird die Welt durchziehn! Was stieß ich nieder nicht im Beten ihn? Pfui, Hutten, Meucheltat! Das Fieber plagt Und rüttelt dich. Gottlob, der Morgen tagt ... Vielleicht wars eine Ausgeburt der Nacht? Und doch! Hätt ich den Spanier umgebracht!

Aber Ignatius ist ebenso wenig wie seine Gefährten zu nächtlicher Stunde in Huttens letztes Asyl auf der Ufenau (bis heute ein märchenhaft-träumerischer Ort!) gelangt, hat auch niemals Schweizer Boden betreten, weder bei seiner ersten noch bei seiner zweiten (unvollendeten) Pilgerfahrt nach Jerusalem. Das nächste größere Etappenziel der Gefährten war Trient. Wahrscheinlich zogen sie von Konstanz aus weiter über Lindau, Feldkirch, den Arlbergpaß nach Landeck. Ob sie von dort aus den Alpenhauptkamm über Innsbruck und den Brenner oder über den Reschenpaß überquerten, ist unbekannt. Beide Routen treffen in Bozen wieder zusammen. Von Bozen zogen sie weiter nach Trient; von dort aus nahmen sie die direkte, über das Gebirge und durch das Val Sugana (das obere Brenta-Tal) führende Straße nach Bassano. Bassano liegt zwei Tagesmärsche von Venedig entfernt in der Ebene. In der LagunenStadt an der Adria trafen sie, wie bereits gesagt, am 8. Januar 1537 ein. Ignatius hatte dort fast ein ganzes Jahr auf sie gewartet. Dennoch war er von ihrer Ankunft überrascht, denn der verabredete Abreisetermin von Paris war der 25. Januar 1537 gewesen. Demnach hätten sie erst im Laufe des März in Venedig ankommen sollen. Wegen der Kriegsereignisse hatten sich die Magistri jedoch entschlossen, Paris schon zwei Monate früher als verabredet zu verlassen. Wartezeit Ignatius erwähnt in seinen Erinnerungen nur, daß sich die Gefährten nach ihrer Ankunft in Venedig auf die verschiedenen Hospitäler der Stadt verteilt hätten, um dort Dienste zu verrichten (a servire).5' Wie Polanco berichtet, gingen je fünf Gefährten in die Hospitäler von San Giovanni e Paolo und die

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Incurabili.57 Das Ospedale degli Incurabili am Giudecca-Kanal war 1522 für die „Unheilbaren", das heißt, die an der damals so genannten „Franzosenkrankheit", der Syphilis, Erkrankten gegründet worden. Es nahm bald auch Waisen, Büßerinnen und andere Hilfsbedürftige auf. Von einigen der Gefährten des Ignatius werden „heroische" Akte im Dienst der Kranken berichtet. Einer der Syphilitiker bat Francisco Javier, ihm den Rücken zu kratzen; während er dem Kranken seinen Wunsch erfüllte, überkam ihn der Ekel und die Angst, sich anzustecken. Er überwand diese Versuchung, indem er seine Finger ableckte und den Eiter herunterschluckte.58 Simon Rodrigues, der die Kranken im Hospital von San Giovanni e Paolo pflegte, teilte einmal sein Bett mit einem „Aussätzigen", der ihn mit seinem Hautausschlag ansteckte. Der Schorf verschwand aber nach kurzer Zeit wieder.59 Ignatius selbst wohnte seit einiger Zeit bei dem Prior der Trinita, einer Niederlassung des Deutschen Ordens, Andrea Lippomani.60 Lippomani besaß eine gute Bibliothek, in der vor allem die Werke der Kirchenväter vertreten waren. Ob sich allerdings Ignatius ihrer bedient hat, um seine theologischen Kenntnisse zu vertiefen, ist fraglich.61 Um die Mitte März 1537 machten sich die Gefährten auf den Weg nach Rom, um den Segen des Papstes für die Pilgerfahrt nach Jerusalem zu erbitten. Mit ihnen zogen zwei weitere Spanier, die ihnen schon in Paris nahegestanden hatten: der Magister Antonio Arias und Miguel Landivar, der Javier eine Zeitlang als Famulus gedient hatte. Beide machten sich in Rom wort- und spurlos aus dem Staube. Über die Gründe darf man spekulieren.62 Ignatius ging nicht mit nach Rom, und zwar, wie er sagt, wegen des Doktor Ortiz und des neuen Theatiner-Kardinals, die beide mittlerweile ihren Aufenthalt in Rom genommen hatten. Ortiz hatte sich in Paris als Gegner des Pilgers gezeigt.63 Bei dem nunmehr als Kardinal an die Römische Kurie berufenen Gian Pietro Carafa hatte Ignatius sich in Venedig unbeliebt gemacht, wahrscheinlich weil er im Gespräch mit ihm die Lebensweise der Mitglieder des Theatiner-Ordens kritisiert hatte; er hatte darüber auch eine Denkschrift verfaßt, die er aber wahrscheinlich nie an Carafa absandte.64 Möglicherweise gab es noch andere Ursachen, die sein Verhältnis zu dem Kardinal und späteren Papst lebenslänglich beeinträchtigten.65 Nach einer strapazenreichen Reise, die sie teils zu Schiff über die Adria, teils zu Fuß durch das Delta des Po (über Ravenna) und (von Ancona aus) über den Apennin zurücklegten,66 trafen die zehn Gefährten am Palmsonntag (25. März 1537) in Rom ein. Die Spanier fanden Unterkunft in dem Hospiz der spanischen Nationalkirche San Giacomo degli Spagnuoli zwischen der römischen Universität Sapienza und der Piazza Navona (die Kirche trägt seit 1879 den Namen Nostra Signora del S. Cuore). Der Papst Paul III. empfing die Pariser Magistri huldvoll und wohlgelaunt am 3. April 1537 (Osterdienstag) zu einer theologischen Disputation, die während seines Mittagessens in der Engelsburg stattfand.67 Zu der Disputation waren auch prominente in Rom anwesende Theologen geladen. Die Veranstaltung war ausgerechnet von Dr. Pedro Ortiz eingefädelt worden, auf dessen Gegnerschaft sich Ignatius

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und seine Freunde eingestellt hatten. Wie Laynez sich erinnert, wurden sie von Ortiz mit großer Liebenswürdigkeit empfangen, und sie konnten bei ihm Verständnis für ihre Anliegen finden.68 Ortiz hielt sich seit Januar 1531 als kaiserlicher Gesandter an der Päpstlichen Kurie auf, wo er auch die Königin Katharina von England (bis zu ihrem Tode am 7. Januar 1536) in ihrer Scheidungssache vertreten hatte. Er hatte sich beim Papst persönlich hohes Ansehen erworben. Die Romreise der Gefährten war, an ihren Zielen gemessen, ein voller Erfolg, wie Ignatius selbst es voller Freude an einen alten Freund, den Magister Johán Verdolay in Barcelona, schildert.69 Nicht zuletzt war das auf den positiven Eindruck zurückzuführen, den der Papst selbst von den Pariser Magistri gewonnen hatte.70 Seine Heiligkeit erhob sich in höchst gnädiger Stimmung von dem Mahl und breitete mit großpriesterlicher Geste seine Arme aus, als wollte er sie alle umarmen. Auf Lateinisch sagte er dann:71 Ich empfinde ein großes Vergnügen, eine große innere Freude, daß ich diese literarische Bildung mit solcher Bescheidenheit vereint sehe. Wenn ihr etwas nötig habt, dann will ich es, soweit es an mir liegt, euch gerne gewähren. Die Magistri erklärten, sie wollten nichts weiter als den päpstlichen Segen und die Erlaubnis, nach Jerusalem zu gehen. Der Papst erwiderte, er gewähre ihnen beides gerne; er meine allerdings, sie würden nicht nach Jerusalem kommen.72 Paul III. befand sich damals, obwohl er schon 69 Jahre alt war, auf dem Höhepunkt seiner Lebenskraft und seiner politischen und kirchlichen Aktivität. Seine äußere Erscheinung hat Tizian auf dem heute in Neapel befindlichen Porträt festgehalten.73 Unter anderem war der Papst mit der Vorbereitung des Trienter Konzils und der Kirchenreform beschäftigt. Ähnlich wie im 13. Jahrhundert Innocenz III. in Franziskus von Assisi und seinen Jüngern geeignete Hilfskräfte des Apostolischen Stuhls erkannt hatte, so wird auch Paul III. mit dem ihm eigenen Scharfblick die Fähigkeiten und die E r setzbarkeit dieser neuen Gemeinschaft für die von ihm ins Auge gefaßten Reformen vorausgesehen oder wenigstens geahnt haben. Die von Seiner Heiligkeit gewährten Gnaden und Privilegien wurden in zwei Dokumenten des Kardinal-Großpönitentiars Antonio Pucci festgeschrieben. Beide Urkunden sind erhalten und tragen das Datum des 27. April 1537. In der ersten wird den Studenten (scholaribus) Nicolaus de Bobadilla, Didacus Laynes, Franciscus Xabier, Alphonsus Salmerón, Johannes Coduri, Simon Roderici, Michael Landivar und Ignatius de Loyola aufgrund päpstlicher Autorität und ausdrücklicher mündlich gegebener Anweisung die Vollmacht erteilt, alle Weihen von einem beliebigen Bischof ihrer Wahl zu empfangen, auch außerhalb der kanonisch festgesetzten Zeiten. Salmerón, der noch nicht ganz 22 Jahre alt war, wurde von dem defectus aetatis dispensiert.74 Das zweite Dokument ist in Form einer Supplik Peter Fabers an den Papst abgefaßt. Darin trägt er Seiner Heiligkeit für sich selbst und zwölf Gefährten75

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die Bitte vor, das Grab des Herrn in Jerusalem und die übrigen Wallfahrtsstätten von Outremer besuchen zu dürfen, dort zu bleiben, zurückzukehren, wenn es ihnen beliebe und dort Reliquien zu erwerben.76 Außerdem ließ ihnen der Papst aus seiner Privatschatulle 60 Dukaten überreichen. Kardinäle und andere Prälaten der Kurie folgten dem Beispiel, so daß die Gefährten Bargeld und Anweisungen (Schecks) von insgesamt 260 Dukaten Reisegeld mit nach Venedig brachten. Als feststand, daß die Fahrt ins Heilige Land nicht zustande kommen würde, erstatteten sie den Spendern das Geld zurück. Die Gefährten waren gegen Ende Mai wieder in Venedig; welchen Weg sie nahmen, ist nicht bekannt. Mit den übrigen in Venedig eingetroffenen Pilgern nahmen sie am Fronleichnamstag (31. Mai) an der Prozession teil. Danach wurden sie dem damals zweiundachtzigjährigen Dogen Andrea Gritti vorgestellt. Ignatius hatte ihn bereits 1523, bei seinem ersten Aufenthalt in Venedig, kennengelernt.77 Normalerweise hätten sie sich jetzt alle für die Pilgerfahrt nach Outremer einschiffen können. Aber Bewegungen sowohl der türkischen als auch der kaiserlichen Flotte unter Andrea Doria hatten Gerüchte über einen bevorstehenden Krieg in Umlauf gesetzt; deshalb lief in diesem Jahr kein Pilgerschiff aus.78 Ignatius erwähnt in seinen Erinnerungen nur kurz, daß diejenigen, die noch nicht geweiht waren, mit Erlaubnis des päpstlichen Legaten für das Gebiet der Republik Venedig, des späteren Kardinals Veraiii, die Priesterweihe empfingen.79 Merkwürdigerweise verschweigt er den Namen des Bischofs, der sie ordinierte. Es war Vincenzo Negusanti, Bischof der Diözese Arbe, einer kleinen Insel vor der Küste Dalmatiens (heute: Rab), der seinen Wohnsitz in Venedig hatte; in seiner Hauskapelle empfingen Ignatius, Bobadilla, Codure, Javier, Laynez, Rodrigues und Salmerón am 10. Juni (Sonntag) 1537 die Niederen Weihen, am 15. Juni die Subdiakonatsweihe, zwei Tage später die Diakonatsweihe und am 24. Juni (Sonntag) wurden sie - mit Ausnahme von Salmerón, dessen Ordination im Oktober nachgeholt wurde, - zu Priestern geweiht. Wie es in dem erhaltenen Weihezeugnis des Ignatius heißt, wurden sie „auf den Titel der hinreichenden wissenschaftlichen Ausbildung und der freiwilligen Armut" ordiniert. Die Dispens dazu hatte der Päpstliche Legat, Girolamo Veraiii, erteilt. In seine Hände hatten die Weihekandidaten vorher ein feierliches, lebenslänglich bindendes Armutsgelübde abgelegt.80 In einer weiteren, auf den 5. Juli 1537 datierten und von ihm persönlich unterzeichneten Urkunde erteilt der Legat Ignatius weitreichende seelsorgerliche Vollmachten, nämlich in allen Kirchen, ausgenommen solchen von Klosterfrauen, die Messe und die übrigen göttlichen Offizien zu zelebrieren, die Sakramente zu übermitteln, zu predigen, die Heilige Schrift öffentlich und privat zu lesen und zu interpretieren, die Beicht von Gläubigen beiderlei Geschlechts zu hören, sie zu absolvieren, auch in schwerwiegenden Fällen, deren Absolution den Patriarchen, Erzbischöfen und Bischöfen vorbehalten war.81 Den Priestern Bobadilla, Laynez, Faber, Broét, Codure, Le Jay wurden die gleichen Vollmachten erteilt.82

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Allmählich schwand bei den Gefährten die Hoffnung, noch während des laufenden Jahres eine Gelegenheit zur Uberfahrt in die Levante zu finden. Dennoch wollten sie sich bereithalten. Sie beschlossen aber, nicht mehr in Venedig zu bleiben, sondern sich auf verschiedene Städte des Veneto zu verteilen. Javier und Salmerón gingen nach Monselice, Codure und Hoces nach Treviso, Le Jay und Rodrigues nach Bassano, Bobadilla und Broét nach Verona.83 Ignatius begab sich zusammen mit Faber und Laynez nach Vicenza. Sie fanden Unterschlupf in einem verlassenen Klostergebäude außerhalb der Stadt, das sich in einem ruinösen Zustand befand, San Pietro in Vivarolo.84 Zwei von ihnen gingen regelmäßig zum Betteln in die Stadt, mit geringem Erfolg, einer versuchte, in dem Gemäuer eine Mahlzeit zusammenzukochen; sie bestand meistens aus Brotsuppe. Daß eingeweichtes Altbrot, das möglicherweise noch verschimmelt war, nicht eben eine gesunde Speise für einen empfindlichen Magen war, kann man sich vorstellen. Ihr Nachtlager fanden die drei Büßer auf einer Schütte von Stroh, das sie auf den Feldern gesammelt hatten. Auch das war mit Sicherheit alles andere als zuträglich für ihre Knochen. Immerhin war es noch Sommer: sie waren am 25. Juli von Venedig aufgebrochen. Ignatius berichtet, sie hätten auf diese Weise vierzig Tage zugebracht, wobei sie sich ausschließlich auf das Gebet konzentrierten. Nachdem die vierzig Tage vorbei waren (es ist die klassische biblische und kirchliche Bußzeit!) kam Jean Codure zu ihnen. Die nunmehr vier Gefährten beschlossen, auf den Plätzen der Stadt Vicenza mit dem Predigen zu beginnen. Durch Schwenken ihrer Mützen und lautes Rufen suchten sie die Aufmerksamkeit der Passanten auf sich zu ziehen, was ihnen auch gelang. Die Predigten fanden großen Anklang in der Stadt, und es gelang den Predigern, zahlreiche ihrer Zuhörer zu einem religiösen Lebenswandel zu bekehren. Über sein spirituelles Leben in Vicenza berichtet Ignatius im Rückblick: 85 Während dieser Zeit in Vicenza hatte er viele geistliche Visionen und viele gewissermaßen ganz alltägliche Tröstungen (molte quasi ordinarie consolationi), ganz im Gegensatz zu seinem Aufenthalt in Paris. Das gilt vor allem für die Zeit, als er sich in Venedig auf sein Priesterdasein vorbereitete und als er sich auf das Messelesen vorbereitete. Während aller dieser Reisen hatte er große übernatürliche Heimsuchungen, von der Art, wie er sie während seines Aufenthalts in Manresa zu haben gewohnt war. Hinsichtlich seines Informationsgehalts und seiner Aussagekraft gehört dieser Passus zu den dichtesten innerhalb der Erinnerungen und Selbstzeugnisse des Heiligen. Die „Tröstungen", von denen er spricht, liegen zwar auch im Bereich des Gefühls, aber sie haben darüber hinaus einen ausgesprochen intellektuellen Charakter: Ignatius entdeckt in sich etwas, was ihn seiner Abhängigkeit von Gott gewiß werden läßt. Zur Tröstung wird dieses Bewußtsein, weil er sich gewissermaßen aus dem alltäglichen, gewöhnlichen, irdischen Leben herausgehoben und in den Plan Gottes gestellt sieht. Um nichts anderes geht es letztlich auch in der Vision von La Storta, von der im fol-

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genden noch die Rede sein wird. Erhellend ist in diesem Zusammenhang eine Bemerkung des Heiligen, die Pedro de Ribadeneira überliefert hat:86 Er sagte einmal in meiner Gegenwart und in Anwesenheit zahlreicher Zuhörer, er könnte seiner Ansicht nach nicht ohne Tröstung leben, das heißt, wenn er nicht etwas in sich entdeckte, was nicht sein Eigen sei und auch nicht sein könne, sondern ganz von Gott abhänge. Erhellend, aber in anderer Hinsicht, ist auch eine knappe Bemerkung innerhalb des oben zitierten Berichts über die geistlichen Erfahrungen in Venedig und Vicenza: Ignatius sagt, daß seine Visionen und Tröstungen „ganz im Gegensatz zu der Zeit in Paris" standen. Sehr zurückhaltend, nur indirekt, aber doch messerscharf fällt damit ein Urteil über den religiösen und spirituellen Wert seiner scholastischen Studien an der Pariser Universität. In engem Zusammenhang damit steht, wenn er anschließend die bei Gelegenheit seiner Priesterweihe durchlebten inneren Erfahrungen mit den Erleuchtungen aus dem transzendenten Bereich („übernatürliche Heimsuchungen") vergleicht, die er in Manresa hatte. Und das, was er in Manresa von Gott selbst gelernt hatte, war ihm mehr wert als das, was alle Lehrer der Welt ihm beibringen könnten.87 Zu den vorher erwähnten Reisen, auf denen ihm aus dem jenseitigen Bereich Tröstungen und Gewißheiten übermittelt wurden, gehörte auch der Gang, den er, zusammen mit Faber, von Vicenza aus nach Bassano unternahm (es sind etwa 35 km), um dem todkranken Simon Rodrigues beizustehen. Den Namen des Portugiesen, der ihm inzwischen großen Arger gemacht hatte, nennt er nicht, wohl aber erwähnt er, daß er so rasch rannte, daß Faber kaum mit ihm Schritt halten konnte, obwohl er selbst an Fieber litt. Unterwegs erhielt er von Gott die Gewißheit, daß Rodrigues nicht an seiner Krankheit sterben werde. Er teilte das auch Faber mit. In Bassano gelang es ihm, dem Kranken Trost zuzusprechen; kurze Zeit darauf stellte sich dann auch die Genesung ein. Außer dem Gang nach Bassano, der noch im August stattfand, begab sich Ignatius Anfang Oktober nach Venedig (worüber er selbst nichts berichtet). Aber er muß dort gewesen sein, um das Urteil in dem gegen ihn laufenden kirchlichen Verfahren wegen seiner Rechtgläubigkeit entgegenzunehmen, das auf den 13. Oktober 1537 datiert ist.88 Danach trafen sich alle zehn Gefährten in Vicenza, wo sie den Beschluß faßten, nach Rom zu gehen. Gegen Ende Oktober machten sich aber nur Ignatius, Faber und Laynez auf den Weg nach Rom, während die übrigen Gefährten sich für den Winter auf die Städte Bologna, Ferrara, Padua und Siena verteilten; sie kamen erst nach Ostern des folgenden Jahres 1538 in Rom an.

Die Vision von La Storta

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4. Die Vision von La Storta Die Vision von La Storta kann in ihrer Bedeutung kaum überschätzt werden, und zwar 1. für die geistliche Entwicklung des Ignatius selber: sie ist so etwas wie deren Höhepunkt; 2. für das (theologische) Selbstverständnis der jungen Gemeinschaft: jetzt wurde sie eigentlich zur „Gesellschaft Jesu" in einem prägnanten Sinne; 3. für die europäische Kultur- und Religionsgeschichte: als (bildliche, symbolische) Verankerung der Idee des Ignatius im Plan Gottes ist sie die Keimzelle des Kunst- und Lebensbewußtseins des barocken Zeitalters und darüber hinaus der weltgeschichtlichen Bedeutung des Jesuiten-Ordens. Daß es bei ihm selbst um etwas ganz Besonderes ging, hat Ignatius gewußt oder wenigstens geahnt, wenn er sagt, daß er auf dieser Reise (von Vicenza nach Rom) „ganz besonders von Gott heimgesucht" wurde. 89 Er vergleicht das Erlebnis also mit den kurz davor berichteten transzendenten Erfahrungen. Dann gibt er den Grund für die lange Verschiebung seiner ersten Messfeier an:90 Er hatte sich vorgenommen, von der Priesterweihe an noch ein Jahr zu warten, ohne Messe zu lesen, sich vorzubereiten und die Madonna zu bitten, sie möchte ihn ihrem Sohn zugesellen. Neuere Historiker haben vermutet, daß Ignatius die Zelebration seiner ersten Messe verschob, weil er darauf hoffte, seine Primiz in Jerusalem, am Heiligen Grab, feiern zu können.91 Für diese Vermutung spricht, daß er dann später in Rom tatsächlich die Nähe einer Christus-Reliquie für die Feier gesucht hat. Allerdings gibt er in der oben zitierten Stelle seiner Erinnerungen einen anderen Grund an: er wollte mit seiner ersten Messfeier warten, bis er dem Sohn Gottes zugesellt wäre. Den aktiven Part bei diesem in der transzendenten Sphäre zu vollziehenden Akt erwartete er von der Gottesmutter, an die er deshalb seine Gebete richtete. Diesen Part übernahm aber dann Gott Vater selbst, und Ignatius verspürte das Geschehen deutlich in seiner Seele. Auch war der transzendente Vorgang räumlich und zeitlich fixierbar: es geschah in einer Kirche, kurz vor der Ankunft in Rom. Das Letztere ist aber für Ignatius nicht so wichtig; deshalb werden Ort und Zeit nicht genauer markiert. Entscheidend ist für ihn, daß er damals tatsächlich durch Gott selbst neben seinen Sohn gestellt, ihm zugesellt wurde. Demnach ist der Bericht des P. Gon?alves, der sich erkennbar um Genauigkeit bemüht, aufmerksam zu lesen: Als er eines Tages einige Meilen vor der Ankunft in Rom in einer Kirche weilte und dort betete, hat er eine solche Umwandlung in seiner Seele verspürt und so deutlich gesehen, wie Gott Vater ihn Christus, seinem Sohn, zugesellte, daß er daran überhaupt nicht mehr zu zweifeln wagen konnte: Gott Vater habe ihn seinem Sohn zugesellt. Ich, der Schreiber dieses Berichts, sagte zu dem Pilger,

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VIII. Die Anfänge der Gesellschaft Jesu

als er mir dies erzählte, daß Laynez diese Begebenheit noch mit einigen weiteren Einzelheiten berichtet habe, soweit ich erfahren hätte. Er antwortete mir, daß alles, was Laynez darüber gesagt habe, der Wahrheit entspreche; denn er selbst erinnere sich nicht mehr so genau im einzelnen. Jedoch wisse er ganz bestimmt, daß er damals, als er diese Begebenheit erzählt habe, nur die reine Wahrheit gesagt habe. Die gleiche Bemerkung machte er mir gegenüber auch in anderen Zusammenhängen. P. Gon^alves erwähnt hier, daß Diego Laynez noch weitere Einzelheiten des Ereignisses berichtet habe. Von Laynez ist der Text einer Exhorte (Ansprache) erhalten, die er drei Jahre nach dem Tode des Ordensgründers, am 2. Juli 1559 im großen Saal des Profeßhauses bei S. Maria della Strada gehalten hat. Er spricht dort über den Grund des Namens „Gesellschaft Jesu" und bringt ihn in Zusammenhang mit der erwähnten Vision nördlich von Rom:92 Der erste Grund, diesen Namen [Gesellschaft Jesu] anzunehmen, war unser Vater, wie ich im folgenden erklären werde. Als wir nach Rom kamen über die Straße von Siena, da sagte mir unser Vater - er hatte damals viele geistliche Gefühle, vor allem bei der heiligen Eucharistie, die er täglich empfing und die ihm entweder vom Magister Pietro Fabro oder von mir gereicht wurde, denn wir lasen jeden Tag die Messe, er dagegen nicht - er sagte mir also, ihm scheine, daß Gott Vater ihm die folgenden Worte ins Herz eindrücke: „Ich werde euch in Rom gnädig sein." Unser Vater aber wußte nicht, was sie bedeuten sollten, und sagte: „Ich weiß nicht, was aus uns werden soll; vielleicht werden wir ja in Rom gekreuzigt." Ein andermal sagte er dann, es scheine ihm, als sähe er Christus mit dem Kreuz auf den Schultern und daneben den ewigen Vater, der zu ihm sagte: „Ich will, daß du den da als deinen Diener annimmst." Und so nahm ihn Jesus und sagte: „Ich will, daß du uns dienst." Und deshalb wollte er, da er große Verehrung für diesen allerheiligsten Namen angenommen hatte, der Gemeinschaft den Namen „Die Gesellschaft Jesu" geben. Es besteht gar kein Zweifel, daß hier von der Gründung der Gesellschaft Jesu in einem höheren, geistlichen Sinn die Rede ist. Von besonderer Bedeutung dabei ist, daß Laynez, der Nachfolger des Ignatius im Amt des Generaloberen, es so sieht. Und es gibt keinen Grund anzunehmen, daß der Gründer selbst darüber eine andere Meinung gehabt hätte. Das Gelöbnis der ersten Gefährten auf dem Montmartre zu Paris, das Gehorsamsversprechen in die Hände des Päpstlichen Nuntius in Venedig und schließlich die Gelübde in der römischen Basilika S. Paolo fuori le Mura (am 22. April 1541) sind in kirchenrechtlicher und spiritueller Hinsicht wichtige Stationen auf dem Weg zur Konstituierung der Gesellschaft Jesu, die man gewiß nicht unterschätzen darf. Aber das theologische und - im Verständnis des Ignatius und seiner Freunde - übernatürliche Fundament wurde in der Vision von La Storta gelegt. Laynez ergänzt in seiner Exhorte die Erklärung und Verteidigung des Namens der Gesellschaft, indem er ihr ein zusätzliches Fundament in der Bibel zu geben sucht:93

Die Vision von La Storta

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Es ist auch keine Anmaßung, weil die Namensgebung aus Andacht und mit Billigung des Apostolischen Stuhls geschah. Und Sankt Paulus nennt alle Christen „Gesellschaft Jesu"; also können auch wir uns so nennen. Sankt Paulus im ersten Brief an die Korinther [1,9]: „Gott ist getreu; durch ihn seid ihr gerufen in die Gesellschaft seines Sohnes, unseres Herrn Jesus Christus." Und Sankt Johannes in seinem ersten Brief [1,3]: „Was wir gesehen und gehört haben, verkünden wir euch, damit ihr Gesellschaft mit uns habt und unsere Gesellschaft sei mit dem Vater und dem Sohn" und dem Heiligen Geist. Das Bewußtsein, daß die Stiftung des Ignatius im Ewigen, im Plan Gottes, im Inneren der Trinität verankert ist, wird hier klar ausgesprochen. Um der (philologischen und historischen) Genauigkeit willen muß betont werden, daß Gott Vater den Ignatius neben den kreuztragenden Christus (Cristo con la croce in spalla) stellt, gewissermaßen wie einen zweiten Simon von Kyrene (Mk 15,21), nicht neben den Gekreuzigten.94 Er wird damit auch nicht unter den Schutz Christi gestellt, sondern erlangt als Gefährte des leidenden Gottessohnes Anteil an dessen erlösender Tätigkeit. Das geschieht zwar nicht in dem Maße wie bei Franziskus von Assisi, der (in seinem eigenen Bewußtsein und dem seiner Gefährten) mit dem Erlöser zu einer einzigen Person verschmilzt, aber das Bestreben, die zeitliche Dimension zu durchbrechen, ist doch sehr deutlich. Und es ist auch kein Zufall, daß sich Ignatius vor der Vision an die Madonna (in ihrer Eigenschaft als Mit-Erlöserin) gewandt hatte, mit der Bitte, sie möchte ihn ihrem Sohn zugesellen. Wunsch und Erwartung des Bittstellers werden dann dadurch gleichsam übertroffen, daß es der ewige Vater selbst ist, der die Bitte erfüllt. Was den Ort des Geschehens, die kleine Kirche von La Storta an der Via Cassia, etwa vierzehn Kilometer nördlich von der Porta del Popolo, der damaligen Stadtgrenze von Rom, betrifft, so fehlen ältere Zeugnisse dafür, daß sich die Vision dort zugetragen hat. Ignatius und Laynez nennen keinen Namen, und auch Ribadeneira spricht nur von einem „einsamen und verlassenen Tempel" in der Nähe von Rom.95 Die Lokalisierung der Vision in der Kapelle von La Storta ist erst im 17. Jahrhundert nachweisbar; es ist aber durchaus möglich, daß eine ältere Tradition vorhanden war. Das Kirchlein steht heute im Schatten der Kathedrale der Diözese Porto und Santa Rufina, eines stillosen, häßlichen Bauwerks; sie wurde während des Pontifikats Pius* XII. für den damaligen suburbikarischen Bischof, den Kardinal Eugène Tisserant (1884-1972) errichtet. An der Fassade der Kapelle kann der Besucher die Inschrift lesen, die der Jesuiten-General Tirso Gonzalez de Santalla (*1624; 1687-1705) im Jahre 1700 dort anbringen ließ; sie erinnert daran, daß Gott Vater dem heiligen Ignatius, der auf dem Wege nach Rom war, um die Gesellschaft Jesu zu gründen, im Jahre 1537 erschien und ihn und seine Gefährten seinem das Kreuz tragenden Sohn empfahl.96

IX IGNATIUS IN ROM Die Gewißheit, an der Seite des leidenden Gottessohnes zu stehen, bedeutete für Ignatius eine für alle Zukunft unerschütterliche Tröstung hinsichtlich der Bestimmung seiner Person und seines Werks in der Dimension der Ewigkeit. Doch hatte die Zusage Gottes: „Ich werde euch in Rom gnädig sein" durchaus auch etwas Zweideutiges, Orakelhaftes. Gottes Gnade konnte sich, wie bei Christus, auch im Leiden und der Widrigkeit der äußeren Umstände zeigen. Ignatius hatte deshalb seine Befürchtungen, und seine Stimmung scheint, als er die Hauptstadt der Christenheit betrat, eher bedrückt gewesen zu sein.1 Als sie dann nach Rom kamen, sagte er zu den Gefährten, er sehe die Fenster verschlossen; damit wollte er sagen, daß sie hier viel Widerspruch erfahren sollten. Es wird auch die Erinnerung an die skeptische Bemerkung jener Dame in ihm aufgestiegen sein, die er zu Beginn des Jahres 1523 in Barcelona um Unterstützung für seine erste Reise nach Rom gebeten hatte:2 Nach Rom wollt Ihr gehen? Ja, wer dorthin geht, kommt ich weiß nicht wie zurück! - und an das mehr als bedenkliche Gesicht, das sie dabei gemacht hatte. Hinsichtlich dessen, was ihn und seine Gefährten in Rom erwartete, machte sich Ignatius also keine Illusionen. Bezeichnend für sein Verhältnis zu den Frauen ist, daß er im Gespräch mit ihnen eine der größten Gefahren für die junge Gesellschaft erblickte, ausgenommen die „Damen von vornehmem Stand". Die zahlreichen in Rom ihren Geschäften nachgehenden Huren und andere leichtfertige Frauen konnten die Keuschheit der jungen Priester gefährden oder sie zumindest in unangenehme Klatschgeschichten verwickeln, wie es dann tatsächlich bei Francisco Javier und Jean Codure der Fall war.

1. Seelsorge in der Hauptstadt der Christenheit Ihre erste Unterkunft in Rom fanden Ignatius, Faber und Laynez, später dann auch die anderen Gefährten, in einem am Hang des Pincio, unterhalb der Kirche Santissima Trinità dei Monti gelegenen Weinberghaus. (Der Platz ist in der heutigen Via San Sebastianello, Nr. 11). Das Haus und der es

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umgebende Weinberg gehörten einem vornehmen römischen Bürger namens Messer Quirino Garzonio, der Advokat an der päpstlichen Kurie war. Garzonio, dem in Rom mehrere Häuser und Grundstücke gehörten, überließ den Patres das Landhaus, ohne von ihnen Mietzahlungen zu verlangen.3 Intermezzo

in Monte Cassino

Die erste seelsorgerliche Tätigkeit, die Ignatius erwähnt, sind die Exerzitien. Sein erster Exerzitant war sein einstiger Pariser Gegner und jetziger Freund und energischer Förderer Dr. Pedro Ortiz. Mit ihm zog sich Ignatius in der Fastenzeit 1538 für vierzig Tage in das Kloster Monte Cassino zurück. Ortiz war schwer bekümmert und belastet durch das Schicksal seines Bruders, Fray Francisco, eines berühmten Predigers aus dem Franziskaner-Orden, der ein Anhänger der in der Nähe von Valladolid lebenden Alumbrada Francisca Hernández war und sie in einem Inquisitionsprozeß verteidigt hatte; dabei war er selbst in die Schußlinie der Glaubenswächter geraten und mußte mehrere Jahre in Klosterhaft verbringen.4 Ortiz schätzte den theologischen Gehalt der Exerzitien höher als alles, was er an den Universitäten von Paris und Salamanca gelernt und gelehrt hatte. Von einem Eintritt in die Gesellschaft Jesu hielt ihn angeblich nur seine Körperfülle ab;5 offenbar schreckte er letztlich doch davor zurück, seine Gewohnheit, gut zu essen, gegen die Fastenpraktiken, die er bei den Patres kennengelernt hatte, einzutauschen. Dafür brachte Ignatius von Monte Cassino einen jungen Spanier mit, der sich alsbald der Gesellschaft anschloß: Francisco de Strada (Estrada); er hatte als Famigliare im Haushalt des Kardinals Gian Pietro Carafa gedient und war von diesem aber entlassen worden. Strada wurde später im Orden ein bedeutender Prediger und bekleidete wichtige Funktionen.6 Ein Heiliger der Tränen In Monte Cassino hatte Ignatius nach eigener Aussage eine Vision, in der er den Baccalaureus Hoces erblickte, wie er seinen Einzug in die himmlische Glorie hielt.7 Hoces war um die Mitte des März im Armenspital von Padua gestorben; er ist der erste Tote, den die Gesellschaft Jesu zu beklagen hatte.8 Ignatius erinnert sich, daß er bei dieser Vision „viele Tränen vergoß und große geistliche Tröstung empfing" (grandi lagrime et gran consolatione spirituale). Ignatius von Loyola gehört zu den Heiligen, denen, wie man früher sagte, die „Gabe der Tränen" zur Verfügung stand, und das in reichlichem Maße. Pedro de Ribadeneira erinnert sich, daß er „andächtige Versenkung und Tränenfluß" jederzeit bei Hand zu haben schien.9 An anderer Stelle seiner Erinnerungen an Ignatius schreibt Ribadeneira, der reichliche Tränenfluß habe dem seligen Vater zwar besonderen Trost gebracht, andererseits aber seinen Körper sehr geschwächt. Man befürchtete sogar, er werde vollständig erblinden. Die Arzte rieten ihm deshalb, er solle seine Tränen mäßigen, was

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IX. Ignatius in Rom

ihm auch gelang: er lernte es, seine Tränen so zu zügeln, daß er ganz nach Belieben weinen konnte. Er habe damit, so Ribadeneira weiter, schließlich die Unabhängigkeit der göttlichen Tröstung von den Tränen erreicht.10 In seinem Geistlichen Tagebuch, in dem er seine spirituelle Entwicklung vom 2. Februar 1544 bis zum 27. Februar 1545 festgehalten hat, sind die überaus zahlreichen Tränen-Anfälle, die ihn besonders bei der Feier der Messe überkamen, dokumentiert." In der Geschichte der christlichen Mystik und der spirituellen Theologie haben die Tränen eine große Bedeutung, was in der heutigen, sich aufgeklärt und rational gebenden Theologie gern beiseitegelassen oder verdrängt wird.12 Wir wollen an dieser Stelle nur an zwei der größten Heiligen des Mittelalters erinnern: Hildegard von Bingen und Franziskus von Assisi. In ihrer Heilkunde, dem Buch Causae et Curae, erörtert Hildegard die Tränen, entsprechend dem naturkundlichen Wissensstande ihrer Zeit, nach physiologischen und medizinischen Gesichtspunkten.13 In ihrem Alterswerk Liber divinorum operrnn schreibt Hildegard über die „Tränen echter Reue", durch welche die Sünden abgewaschen werden; als Beispiel eines Menschen, der Tränen der Reue vergossen hat, führt sie Maria Magdalena an.14 Tränen der Trauer oder des Mitleids werden von ihr nicht eigens thematisiert. Auch stellt sie sich an keiner Stelle ihres umfangreichen Werkes selbst als Weinende dar. Das ist bei Franziskus von Assisi anders. Einige der ältesten und zuverlässigsten Quellen berichten, daß er einmal aus Mitleid mit dem leidenden Christus laut klagend und weinend durch die Gegend zog.15 Der Biograph Thomas von Celano erwähnt in seiner zweiten Lebensbeschreibung, daß der Heilige über die Armut der Jungfrau Maria und ihres Sohnes im Stall von Bethlehem Tränen des Mitleids vergoß.16 Die Tränen des Franziskus haben ihren Grund letztlich in der lebendigen Anteilnahme an dem erlösenden Wirken Christi (und seiner Mutter): er versetzt sich emotional so in das Geschehen hinein, als ob er selbst präsent wäre. Und genau das ist auch bei Ignatius der Fall. Hinzu kommt bei ihm aber noch die Rührung, das überwältigende Gefühl, daß er („Ich, Ignatius von Loyola") von Gott in dieser Weise angesprochen und erwählt wird. Der „normale" Mensch („unsereiner") ist (zu Tränen) gerührt etwa über den Tod des Vaters17 oder die liebevolle Zuneigung der Enkelin. Bei dem „geistlichen" Menschen (dem Zölibatär), der sich aus den familiären Beziehungen herausbegeben hat, bleibt nur Gott als Bezugspunkt der Rührung und anderer Emotionen. HUGO RAHNER versteht die Tränen bei Ignatius hauptsächlich als Reaktion auf die ihm von oben zukommenden Tröstungen,18 womit er sicherlich Recht hat. Aber die existentielle Situation der Rührung, die „Verflüssigung" der Seele, die in den Tränen ihren Ausdruck findet, kommt bei den Mystikern oft dadurch zustande, daß ihnen die virtuelle Welt ihrer Andacht gewissermaßen zur sichtbaren und faßbaren Realität wird. Nimmt aber das Weinen, wie im Falle des Ignatius, exzessive und pathologische Formen an, dann besteht der Verdacht, daß ein kindliches Trauma, ein

Seelsorge in der Hauptstadt der Christenheit

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Mangel an (mütterlicher) Zuwendung, im späten Mannesalter seine Kompensation sucht.

Hilfe für die Seelen und fromme

Werke

Nach seiner Rückkehr von Monte Cassino beschäftigte sich Ignatius damit, „den Seelen zu helfen". Er erteilte weiteren Personen die Exerzitien, deren Namen er allerdings nicht nennt. Aus anderen Quellen weiß man, daß es sich bei den ersten Exerzitanten in Rom um drei angesehene und einflußreiche Persönlichkeiten handelt: den Sieneser Gesandten Lattanzio Tolomei (Lactantius Ptolomeus); er war der Vetter des Kardinals Girolamo Ghinucci, der nach anfänglichen Bedenken für die Bestätigung des neuen Ordens durch den Papst eintrat; den Arzt Dr. Inigo Lopez, der den römischen Jesuiten in der Folgezeit als Hausarzt diente;" der dritte Exerzitant war der Kardinal Gasparo Contarini (1483-1542); er entstammte dem Zweig „Madonna dell'Orto" der berühmten venezianischen Familie. Contarini gehörte zu den entschiedensten Befürwortern der Kirchenreform an der päpstlichen Kurie und wurde ein überzeugter Förderer des Ignatius und seines Werkes. P. Polanco erwähnt, daß er sich eine Abschrift der Exerzitien anfertigte.20 Von den „frommen Werken", die damals auf seine Initiative in Rom entstanden, erwähnt Ignatius das Haus für die Katechumenen, das Marthahaus und das Waisenhaus. Unter „Katechumenen" verstand man Konvertiten aus nichtchristlichen Religionen, hauptsächlich aus dem Judentum, die in dem dafür bestimmten Haus auf die Taufe vorbereitet werden sollten. Für die Finanzierung des Marthahauses warb Ignatius vor allem bei vornehmen römischen Damen, wie Vittoria Colonna und Margherita de Austria (Margareta von Österreich), der mit dem Papstenkel Ottavio Farnese verheirateten Tochter Kaiser Karls V. In dem Haus fanden Prostituierte Aufnahme, die die Absicht hatten, ihren bisherigen Beruf aufzugeben und ins bürgerliche Leben zurückzufinden; waren sie verheiratet, so versuchte man, sie in das normale eheliche Leben zurückzuführen. 21 Träger der Einrichtung war eine Bruderschaft, die Compagnia de IIa Grazia; sie wurde am 16. Februar 1543 von Paul III. mit der Bulle „Divina summaque" bestätigt.22 Von (keineswegs zu verachtenden) Teilerfolgen abgesehen, sind solche Versuche, das Dirnenwesen in den italienischen Städten, und vor allem in Rom, zu bekämpfen, bis in die jüngste Vergangenheit hinein vergeblich gewesen. Ein (nach geläufigen sozialen Kriterien) erfolgreicheres Unternehmen war das wenige Jahre später (1546) gegründete Waisenhaus. Es gab allerdings schon früher ähnliche Einrichtungen in italienischen Städten, um nur das zu Beginn des 15. Jahrhunderts gegründete Ospedale degli Innocenti in Florenz zu nennen, in dem so genannte „Findelkinder" aufgezogen wurden. Die Gesellschaft Jesu gründete und förderte später auch an anderen Orten „fromme Werke", für die die römischen Gründungen des Ignatius als Vorbilder dienten.

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IX. Ignatius in Rom

„Das gute und echte

Jerusalem"

Es ist bemerkenswert, daß schon die ersten Patres, die nach Rom gekommen waren, auch in wissenschaftliche Aufgaben eingespannt wurden: der Papst ernannte Faber und Laynez zu Professoren an der ziemlich heruntergekommenen römischen Universität Sapienza. Eine Bezahlung erhielten sie dafür allerdings nicht.23 Faber legte in seinen Vorlesungen ein biblisches Buch aus; welches es war, ist nicht bekannt. Laynez las über die Canonis Misse Expositio des Tübinger Theologen Gabriel Biel.24 Er scheint seine Hörer anfangs ziemlich gelangweilt zu haben und war auch selbst mit seiner Lehrtätigkeit nicht zufrieden.25 Mit der Zeit gewannen seine Vorlesungen jedoch an Qualität. Paul III., der sich bei seinen Mahlzeiten gern durch geistvolle Gespräche unterhalten ließ, lud vier von den Patres des öfteren zu theologischen Disputationen ein. Neben den Professoren Faber und Laynez waren es wahrscheinlich Salmerón und Bobadilla. Von dem letzteren stammt der kurze Bericht über diese Tisch-Disputationen und den denkwürdigen Ausspruch Seiner Heiligkeit bei einer solchen Gelegenheit:26 Und eines Tages, während der Disputation, sagte Seine Heiligkeit: „Warum verlangt ihr so sehr danach, nach Jerusalem zu ziehen? Italien ist das gute und echte Jerusalem, wenn ihr danach verlangt, in der Kirche Gottes Frucht zu bringen."

Dem Papst, der über alles, was in seiner Hauptstadt vorging, sehr gut unterrichtet war, muß zu Ohren gekommen sein, daß Ignatius und seine Gefährten den Plan der Reise nach Jerusalem noch nicht aufgegeben hatten. Die Uberlieferung Bobadillas wird ergänzt durch die Ausführungen Juan de Polancos:27 Und so wurden sie in diesem Jahr 1537 und in dem folgenden 1538 allmählich so bekannt, und es verbreitete sich ein so guter Ruf über die Umsicht, mit der sie bei den ihnen anvertrauten frommen Werken vorgingen, daß der Papst Paul III. (der ja auch einige von ihnen beim Disputieren vor sich gesehen hatte und über ihren Erfolg informiert war) es nicht zuließ, daß sie ins Heilige Land reisten, vielmehr sollten sie bleiben, um Gott und der Kirche an Ort und Stelle zu dienen. Und so hörte die Verpflichtung, der sie unterworfen waren, und die Absicht, nach Jerusalem zu gehen, auf; denn sie sahen als Interpreten des Willens unseres Herrn Christus denjenigen seines Stellvertreters auf Erden an.

Der Ausspruch Pauls III. zeigt, daß dieser große Papst innerlich von dem Kreuzzugsgedanken längst Abschied genommen hatte, obwohl er sich politisch noch immer für das Zustandekommen eines gemeinsamen Feldzugs der christlichen Fürsten nach Jerusalem einsetzte. Diese politischen Fäden sind aber wohl im Gesamtzusammenhang des Netzes zu sehen, das er zum Zwek-

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ke der dynastischen Etablierung seiner Familie zu spinnen suchte. Auf dem Höhepunkt des Kreuzzugswahnes der abendländischen Christenheit, im 13. Jahrhundert, hatte Franziskus von Assisi versucht, der christlichen Religion einen neuen Pol zu geben, indem der (den Kriegsruf) „Jerusalem" durch (den Friedensruf) „Bethlehem" ersetzte und bei der spektakulären Weihnachtsfeier des Jahres 1223 mitten in Italien ein „neues Bethlehem" konstituierte: Greccio im Rieti-Tal.28 Aber die blutigen Auseinandersetzungen um „die heilige Stadt" Jerusalem dauern bis in unsere Gegenwart an und nehmen einen großen Teil der täglichen Nachrichten ein. Yassir Arafat ( f l l . November 2004), politischer und religiöser Führer der Palästinenser, hatte den Wunsch, in El Kuds, der „Heiligen", seine letzte Ruhestätte zu finden. Viele seiner Reden endeten mit dem Kampfruf: „El Kuds, el Kuds, el Kuds, Kuds, Kuds, Kuds ..."

Erneute Anfeindungen wegen der

Rechtgläubigkeit

Im letzten Teil des Pilgerberichts, dem man die Eile, in der er niedergeschrieben wurde, noch ansieht, erwähnt Ignatius zwei Angriffe auf seinen persönlichen Ruf und seiner und seiner Gefährten Rechtgläubigkeit, die ihm im ersten Jahr seines Rom-Aufenthalts zu schaffen machten. Zunächst habe ein gewisser Michele damit begonnen, ihn zu verleumden. Es war niemand anderer als der uns schon bekannte Miguel Landivar, der sich in Venedig der Gesellschaft angeschlossen und sie bald danach in Rom wieder verlassen hatte.29 Um den Rufschädigungen entgegenzutreten, ließ Ignatius Landivar vor den Gouverneur von Rom laden.30 Er konnte als entlastendes Beweisstück einen Brief vorlegen, den ihm Landivar am 12. September 1537 in Venedig geschrieben und nach Vicenza gesandt hatte. In diesem Brief entschuldigte sich Landivar wegen seiner Desertion aus der Gesellschaft und schob die Verantwortung dafür seinem damaligen Freund Arias zu, über dessen schlechte Charaktereigenschaften er sich ausführlich verbreitet. Unter anderem weiß er von päderastischen Praktiken zu berichten, die Arias' Wirtin in Padua durch das Schlüsselloch beobachtet habe. Die Vorlage des Briefes und das darauf folgende Verhör Landivars hatten zur Folge, daß der Verleumder aus der Stadt Rom ausgewiesen wurde.31 Landivar war kein Einzeltäter, vielmehr ein Glied in einer Kette von erbitterten Gegnern, die sich gegen Ignatius und seine Gefährten (man bezeichnete sie damals in Rom als „Preti riformati") zusammengefunden hatten.32 Anlaß der gesamten Affäre waren die Fastenpredigten, die ein berühmter Augustinereremit aus Pavia, Fra Agostino Mainardi di Piemonte, in der römischen Hauptkirche seines Ordens, S. Agostino in der Nähe der Piazza Navona, unter großem Zulauf der Bevölkerung hielt. Faber und Laynez hatten einige seiner Predigten besucht und entdeckt, daß der Augustiner die Lehren seines deutschen Ordensbruders Martin Luther über Prädestination, Gnade, Willensfreiheit, Rechtfertigung aus dem Glauben allein (sola fide)

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IX. Ignatius in Rom

verkündete, die von den Theologen der Pariser Universität verurteilt worden waren. Sie suchten ihn daraufhin auf, hielten ihm seine Irrtümer vor und ersuchten ihn, seine Ausführungen entweder zurückzunehmen oder sie in katholischem Sinne zu erläutern.33 Danach nahmen sie auch öffentlich auf den Kanzeln mehrerer römischer Kirchen gegen die von dem Augustiner vertretenen Lehren Stellung. Fra Agostino zeigte aber wenig Neigung, sich von den beiden Pariser Magistri belehren und betreffs seiner Rechtgläubigkeit zensieren zu lassen, zumal er sich der Protektion einflußreicher spanischer Prälaten an der päpstlichen Kurie erfreute.34 Es waren die von Ignatius genannten Francisco de Mudarra und Barrera, zu denen sich noch Don Pedro de Castilla gesellte. Auch die Magistri waren mit ihnen bekannt und warnten sie vor den von ihnen protegierten Häretikern. Sie erreichten aber mit ihrer Intervention das genaue Gegenteil ihrer Absichten: Die spanischen Kurialen, vor allem der mit allen römischen Intrigen vertraute und schwer reiche Mudarra, wurden zu erbitterten Gegnern des Ignatius und seiner Freunde. Sie drehten den Spieß um und sorgten dafür, daß an der Kurie und in der Stadt das Gerücht verbreitet wurde, die Preti riformati seien verkappte Lutheraner, die durch die Exerzitien ihre Häresien verbreitet hätten und wegen ihres unsittlichen Lebenswandels in Spanien, Paris, Venedig und anderen italienischen Städten die Verfolgung durch die Behörden auf sich gezogen hätten.35 (Die Vorgänge beleuchten schlaglichtartig, wie weit die reformatorischen Ideen vorgedrungen waren: sie hatten bereits das Herz der Katholischen Kirche, Rom und die päpstliche Kurie, erreicht). Infolge der Verleumdungen gerieten Ignatius und seine Gefährten in nicht geringe Schwierigkeiten. Um nicht in den Verdacht der Häresie zu geraten, zogen sich Freunde und Gönner von ihnen zurück. Das Volk mied ihre Predigten. Sogar Lorenzo Garcia, ein alter Freund aus Paris, der sich vor kurzem in Rom der Gesellschaft angeschlossen hatte, ergriff Hals über Kopf die Flucht.36 Der Kardinal Giovanni Domenico de Cupis, Dekan des Heiligen Kollegiums, forderte Quirino Garzonio, den Besitzer des von den Patres bewohnten Weinberghauses am Pincio, auf, seine Mieter hinauszuwerfen. Ignatius erkannte, daß er und sein Werk sich in höchster Gefahr befanden. Nachdem er sich mit den Gefährten beraten hatte, entschloß er sich, seine Unbescholtenheit gerichtlich feststellen zu lassen. Er wandte sich zunächst an den Gouverneur Conversini, dessen Ermittlungen u. a. zur Ausweisung Landivars führten. Danach suchte er den Kardinal de Cupis persönlich auf. In einem zweistündigen Gespräch gelang es ihm, den Großpriester von seiner und seiner Gefährten Aufrichtigkeit und Rechtgläubigkeit zu überzeugen; der Kardinal bat ihn um Verzeihung und wandelte sich vom Gegner zum Gönner der Gesellschaft. Am 3. Mai 1538 erteilte der päpstliche Legat für die Stadt Rom, Kardinal Vincenzo Carafa, den elf Priestern der Gesellschaft (Garcia ist noch mitaufgeführt) die unwiderrufliche Vollmacht zur Predigt und Sakramentenspendung.37 Gestützt auf diese Autorität setzten die Patres ihre Predigttätigkeit in

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verschiedenen Kirchen der Stadt fort. Anfang Juni konnten sie in ein am Ponte Sisto, im Stadtzentrum, gelegenes Haus umziehen, was für ihr Wirken eine bedeutende Erleichterung brachte. Ignatius predigte auf Spanisch in der Nationalkirche der Katalanier und Aragonier, S. Maria di Monserrato (in der Via di Monserrato, nicht weit vom Palazzo Farnese). Zu seinen Zuhörern gehörten viele angesehene Landsleute, unter ihnen auch Theologen wie Dr. Pedro Ortiz. 38 Die gegen die Patres ausgestreuten Verleumdungen ließen allerdings nicht nach, im Gegenteil: sie fanden auch außerhalb Roms bereitwillige Ohren. Sogar bis nach Spanien gelangte das Gerücht, in Rom hielte man die Pariser Magistri für Häretiker. 59 Ignatius sah sich deshalb genötigt, die Sache erneut vor Gericht zu bringen. Nach großen Mühen gelang es ihm, seine Hauptgegner Mudarra und Barrera vor das (weltliche) Tribunal des Gouverneurs Benedetto Conversini und das (geistliche) Tribunal des Kardinallegaten Vincenzo Carafa vorladen zu lassen. Die hohen Prälaten zogen sich dadurch aus der Affäre, daß sie für die vorher von ihnen verleumdeten Magistri eine Art Ehrenerklärung abgaben: sie selbst hätten an deren Predigten und Vorlesungen, aber auch an ihrem Lebenswandel nichts Beanstandenswertes gefunden. Sowohl der Legat als auch der Gouverneur hielten die Sache damit für erledigt und legten Ignatius nahe, es dabei bewenden zu lassen.40 Auch hohe römische Prälaten, die der Gesellschaft wohlgesonnen waren, Dr. Ortiz und die Gefährten selber rieten ihm, den Prozeß nicht fortzusetzen. Ignatius jedoch erwies sich als beratungsresistent: er bestand darauf, daß ihrer aller Unbescholtenheit durch ein formal einwandfreies, schriftliches Gerichtsurteil festgestellt würde. D a er das jedoch, trotz mehrfachen Insistierens, bei beiden Tribunalen nicht erreichen konnte, entschloß er sich, die Rückkehr des Papstes nach R o m abzuwarten. Paul III. kehrte am 24. Juli 1538 von Nizza zurück, wo er sich mit Kaiser Karl V. und König Franz I. von Frankreich getroffen hatte. Behörden und Volk von Rom empfingen den Papst mit großem Pomp an der Milvischen Brücke und an der Porta del Popolo und geleiteten ihn in die Stadt. Mehrere Tage lang wurde der diplomatische Erfolg von Nizza gefeiert. (Paul III. hatte den Kaiser und den französischen König zum Abschluß eines zehnjährigen Waffenstillstands bewogen, und man hoffte, daß die christlichen Fürsten nunmehr vereint auf die Türken einschlagen würden). 41 Ignatius versuchte, die günstige Stimmung des Papstes zu nutzen und ließ ihm durch einen befreundeten Prälaten sein Anliegen vortragen. 42 Paul III. hatte bereits eigene Untersuchungen über Leben und Lehre der Pariser Magistri veranlaßt und war überzeugt, daß die Verleumdungen ihrer Gegner jeder Grundlage entbehrten. Aber er unternahm vorerst nichts. Ignatius gab nicht auf. Er folgte dem Papst, der sich Ende August nach Frascati zurückgezogen hatte, in seine Sommerresidenz. Er wurde unverzüglich empfangen und hatte nun die Gelegenheit, dem obersten kirchlichen Richter eine Stunde lang in lateinischer Sprache seinen Fall vorzutragen. 43 Dabei verschwieg er auch nicht seine früheren unangenehmen Begegnungen

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IX. Ignatius in Rom

mit kirchlichen Gerichten. Die Ausführungen müssen den Papst sehr beeindruckt haben, denn er wies den Gouverneur von Rom an, das Verfahren sofort wieder aufzunehmen. Anfang November 1538 fanden in Rom die Feierlichkeiten aus Anlaß der Vermählung der Tochter des Kaisers Karl V., Margareta von Osterreich (Margherita de Austria), mit dem Enkel des Papstes, Ottavio Farnese, statt.44 Ohne aus heutiger Sicht den moralisierenden Zeigefinger zu erheben, wüßte man doch gerne, wie diese Festivitäten und die dahinter stehenden politischen Implikationen, die ja den offiziell vertretenen „geistlichen" Ansprüchen und Idealen der Römischen Kirche: der Nachfolge Christi, der Keuschheit, dem Zölibat, Hohn sprachen, auf die Seele des Ignatius gewirkt haben. In seiner Treue und Ergebenheit gegenüber Kirche und Papst beirrt haben sie ihn sicher nicht eine Minute lang. Und er war um diese Zeit vor allem um die Wiederherstellung des Ansehens seiner Rechtgläubigkeit besorgt. Es traf sich gut, daß in Rom mehrere Persönlichkeiten anwesend waren, die in früheren Jahren von Amts wegen mit der Rechtgläubigkeit des Ignatius befaßt gewesen waren, so Juan Rodriguez de Figueroa, Generalvikar des Erzbischofs von Toledo, der Pariser Dominikaner Matthieu Ory, Gasparo de' Dotti, Generalvikar des päpstlichen Legaten in Venedig. Sie alle gaben auf Befragen ein positives Urteil über die Beschuldigten ab. Sehr zu Gunsten der Pariser Magistri äußerte sich auch der angesehene Dominikaner Ambrosius Catharinus Politi aus Siena (ca. 1484-1553). 45 Das definitive Urteil des Gouverneurs Conversini erging am 18. November 1538. Darin wurde festgestellt, daß die gegen Ignatius und seine Gefährten ausgestreuten Gerüchte jeglicher Wahrheit entbehrten.46 Ihr guter Ruf, was Lebenswandel und Lehre betraf, war damit durch ein unanfechtbares Gerichtsurteil wiederhergestellt. Natürlich konnten für die Zukunft nicht alle Verdächtigungen und Feindseligkeiten unterbunden werden. Aber Ignatius hatte zunächst einmal einen Erfolg, in moralischer und auch in machtpolitischer Hinsicht, errungen.

2. Institutionelle und spirituelle Stabilisierung Erste Messe in S. Maria Maggiore Seit der Priesterweihe, die der Bischof Vincenzo Negusanti Ignatius und fünf seiner Gefährten am 24. Juni 1537 in Venedig erteilt hatte,47 waren eineinhalb Jahre verflossen. Während dieser Zeit hatte Ignatius von seiner priesterlichen Vollmacht, das Meßopfer darzubringen, keinen Gebrauch gemacht. Erwägungen, daß durch ein solches Verhalten der Kirche, den Armen Seelen oder Gott ein Schaden oder Nachteil entstehen könnte, wie sie in der schwachbrüstigen und frömmlerischen katholischen Theologie des 19. und 20. Jahrhunderts gelegentlich angestellt wurden,48 waren ihm ebenso fremd wie Fran-

Institutionelle und spirituelle Stabilisierung

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ziskus von Assisi auf der Höhe des Mittelalters. Auch das damals gültige kanonische Recht schrieb den Priestern nicht vor, daß sie von ihrer Amtsgewalt aktuellen Gebrauch machen müßten, wie es heute der Fall ist.49 Als Ort seiner ersten Messe wählte Ignatius mit Bedacht Roms größtes Marienheiligtum, die Basilika Santa Maria Maggiore, und in ihr den Altar, bei dem (seit dem Frühmittelalter) die Reliquie der Krippe von Bethlehem aufbewahrt wurde. Es ist klar, daß er, ganz im Sinne der Exerzitien, in Verbindung mit einem Ort, einem materiellen Memoriale (der Krippe), der Menschwerdung des Erlösers gedenken wollte. Dem entspricht auch die Wahl des Zeitpunkts: er las die Messe an Weihnachten. An seinen Bruder Martín Garcia und dessen Familie schreibt er am 2. Februar 1539:50 Am verflossenen Weihnachtstag las ich in der großen Kirche Unserer Lieben Frau, in der Kapelle, wo die Krippe steht, in die das Jesus-Kind gelegt worden war, mit seiner Hilfe und Gnade meine erste Messe. Die Kapelle der Krippe befand sich damals noch nicht an ihrem heutigen Platz, der Krypta der Cappella Sistina auf der rechten Seite der Basilika. Sixtus V. (1585-1590) ließ die später nach ihm benannte Kapelle 1586 durch den Architekten Domenico Fontana als Mausoleum für sich und seinen (zweiten) Vorgänger Pius V. (1566-1572) errichten. Heute werden die Reste der Krippe von Bethlehem in der Weihnachtszeit in einem gläsernen Reliquiar in der Confessio unterhalb des Hochaltars von S. Maria Maggiore ausgestellt. Es ist bemerkenswert, daß Ignatius seine erste Messe nicht in der Basilika S. Croce in Gerusalemme feierte, wo zahlreiche an das Leiden Christi erinnernde Reliquien aufbewahrt werden. Er wollte also für diesmal seine Meditation auf die Geburt oder Inkarnation Christi konzentrieren. Über die weiteren Begleitumstände dieser Primiz, z.B. wer daran teilgenommen hat, weiß man nichts. Als sicher kann gelten, daß sie ohne alle äußere Feierlichkeit vonstatten ging. Das Weihnachtsfest, an dem Ignatius seine erste Messe feierte, fiel in den überaus strengen Winter von 1538/39. Kälte und Hunger hatten die ohnehin zahlreiche Bettlerschaft von Rom um viele Notleidende vermehrt, die aus der umliegenden Campagna in die Stadt eingefallen waren. Wegen der Unfähigkeit der Behörden war die Versorgung mit Nahrungsmitteln zusammengebrochen, und alsbald setzte ein Massensterben ein. Der päpstliche Hof zeigte sich wenig bekümmert um das in der Hauptstadt der Christenheit herrschende Elend und feierte Mitte Februar 1539 unter Verschwendung von Unsummen den römischen Karneval. In dieser Situation nahmen sich die Patres aktiv der Hungernden an. Wie P. Polanco und P. Rodrigues berichten, konnten sie täglich mehrere Hundert Kranke und Hungernde mit den von ihnen erbettelten Hilfsgütern versorgen.51

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IX. Ignatius in Rom

Die Gelübde von S. Paolo Anfang Oktober 1538 hatten die Magistri ihr drittes römisches Domizil bezogen; es war ein Haus in der Nähe des Kapitols und des Palazzo di San Marco (heute: Palazzo Venezia), der damals noch dem Papst als Residenz diente. Der Besitzer des Anwesens, der römische Patrizier Antonio Frangipani, überließ es ihnen umsonst, da sich über längere Zeit hin kein Mieter gefunden hatte; man erzählte sich nämlich, das Gebäude sei von Dämonen bewohnt. Die neuen Bewohner wurden denn auch durch nächtlichen Lärm, zuweilen auch durch rätselhafte Klopfgeräusche am hellen Tag belästigt, und sie glaubten, der Teufel wolle sie aus dem Haus vertreiben. Angst hatten sie keine. Mit der Zeit ließ der Unfug nach, ohne daß man einen Exorzismus vorgenommen hätte.52 Hauptsächlich während der Zeit, in der die Patres in dem FrangipaniHaus wohnten, schlössen sich ihnen weitere fähige und begeisterte Männer an. Ignatius zögerte allerdings noch, sie förmlich in die Gesellschaft aufzunehmen, da seine Gegner ihm gerade erst vorgeworfen hatten, er wolle ohne Erlaubnis des Apostolischen Stuhls einen neuen Orden gründen.53 Unter den neuen Gefährten ist vor allem Antonio de Araoz (1515-1573) zu nennen; er war der Neffe der Schwägerin des Ignatius, Dona Magdalena de Araoz. 1516 in Vergara in der Provinz Guipuzcoa geboren, hatte er in Salamanca und Paris studiert. 1538 kam er, wie P. Polanco schreibt, „mit weltlichen Absichten" nach Rom.54 Hier bekam er die Auseinandersetzung um die Rechtgläubigkeit des Ignatius mit, und vor allem die Tatsache, daß die Magistri von spanischen Landsleuten beschuldigt wurden, Alumbrados zu sein, gab ihm sehr zu denken. Offenbar hatte er von solchen Verdächtigungen schon gehört, bevor er die Reise nach Rom antrat. Jedenfalls versuchte er, mit dem Eifer und der Naivität seiner 23 Lebensjahre, Ignatius von seinem Irrglauben zu bekehren und ihn von seiner Lebensweise abzubringen. Ein langes Gespräch blieb jedoch erfolglos, worauf Araoz seinem Verwandten aus dem Wege ging. Erst nachdem die förmliche Rehabilitation des Ignatius und seiner Gefährten durch das Urteil des Gouverneurs von Rom (18. November 1538) stattgefunden hatte, ließ er sich wieder blicken. Ignatius überredete ihn dazu, die Exerzitien zu machen (Dezember 1538). Anfang 1539 schloß sich Araoz der Gesellschaft an. Eine der ersten Übungen der Buße und Selbstüberwindung, die ihm sein neuer Meister auferlegte, war, bei den Verkaufsständen an dem Ponte S. Angelo, also dort, wo die meisten Fremden und Pilger vorbeikamen, in seinen vornehmen Kleidern zu predigen; mit anderen Worten: er sollte sich im Uberschreien des Lärms der Verkäufer und der Gaffer lächerlich machen. Des weiteren wurde er, ebenfalls in seiner spanischen Adelstracht, mit einem Sack zum Betteln durch die Stadt geschickt. Zu Hause durfte er dann das Tafelgeschirr abwaschen, und zwar draußen auf der Straße, damit er blamiert war. Angeblich war Araoz

Institutionelle und spirituelle Stabilisierung

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von dergleichen Abtötungs-Übungen begeistert.55 Man muß diese Begeisterung keineswegs teilen oder bewundern, wie es heute noch manche Historiker des Jesuiten-Ordens tun, sondern kann in Vorgängen wie diesem auch die Züge eines religiösen Sadismus und Fanatismus erkennen. Ende 1538 kamen die Brüder Diego und Esteban de Eguia nach Rom. Diego war ein alter Bekannter des Ignatius aus der Zeit seines Studiums in Alcalá, wo er eine Zeitlang im Haus von Diegos Bruder, des Buchdruckers Miguel de Eguia, gewohnt hatte.56 Wegen der Schwäche seiner Augen erlangte er beim Papst die Dispens vom Beten des Breviers. Bei gleicher Gelegenheit entband Paul III. auch Ignatius wegen seiner körperlichen Schwäche, vor allem seines Magenleidens, vom täglichen Rezitieren des kirchlichen Stundengebets; am 2. Januar 1539 stellte der päpstliche Almosenier, Francesco Vannuzio, den Betroffenen hierüber eine Urkunde aus.57 Weitere Neuzugänge zu der Gesellschaft waren der Portugiese Bartolomeo Ferräo und Antonio de Strada, der dem Beispiel seines schon erwähnten Bruders Francisco folgte. Zu Beginn des Jahres 1539 kam dann Diego de Cáceres, der mittlerweile in Paris sein Studium abgeschlossen hatte, zu den Gefährten. In der Fasten- und Osterzeit (März/April) 1539 kamen die Gefährten zu intensiven Beratungen über die Zukunft ihrer Gemeinschaft zusammen. Zur Debatte stand zunächst, ob sie sich zu einer straffer organisierten Gesellschaft zusammenschließen sollten, die auch bei räumlicher Trennung der Mitglieder voneinander Bestand hätte, oder ob sie den Anweisungen des Papstes als Individuen, ohne feste körperschaftliche Organisation, zur Verfügung stehen sollten. Der Beschluß fiel im Sinne der ersteren Alternative.58 Der zweite Gegenstand der Beratungen war die Frage eines absoluten Gehorsamsgelübdes gegenüber dem Papst, nachdem sie bereits in Venedig gegenüber dem Legaten Seiner Heiligkeit Armut und ewige Keuschheit gelobt hatten. Die Bedenken, die gegen das Gehorsamsgelübde vorgebracht wurden, waren erheblich, und die Beratungen zogen sich über viele Tage, bis nach Ostern, hin.59 Nachdem man sich auf die Notwendigkeit des Gehorsams für die innere Struktur des Ordens geeinigt, und sich damit implizit auch für einen obersten Leiter, neben dem Papst, entschieden hatte, konnte man mit einer feierlichen Zeremonie den ersten Teil der Beratungen abschließen. Den Rahmen dafür gab eine von Faber am 15. April zelebrierte Messe (wo sie stattfand, ist nicht überliefert). Vor der Kommunion fragte der Zelebrant die Teilnehmer, ob sie eine Gesellschaft bilden und, im Falle der Billigung durch den Papst, sich dieser Gesellschaft anschließen wollten. Alle antworteten mit ja und empfingen zur (eides-ähnlichen) Bekräftigung ihrer Absicht den Leib des Herrn. Nach der Messe unterzeichneten sie ein Dokument, in dem die Zustimmung zur Gründung einer Gesellschaft mit Gehorsamsgelübde und die Absicht, in sie einzutreten, festgehalten ist. Es trägt die Unterschriften von Cáceres, Codure, Laynez, Salmerón, Bobadilla, Broét, Faber, Javier, Ignatius, Rodrigues, Le Jay; 60 es haben also nur die Pariser Magistri unterzeichnet, da die in Rom neu hinzugekommenen Patres noch nicht formell in die Gesellschaft aufgenommen waren.

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IX. Ignatius in Rom

Im Mai und Juni fanden weitere Beratungen statt, aus denen sich die Urform der Konstitutionen des neuen Ordens herauskristallisierte. Sie umfaßte fünf Punkte: 1. Gelübde der Keuschheit; 2. vorbehaltloser Gehorsam gegenüber dem Papst als Statthalter Christi; 3. Gehorsam gegenüber dem Oberen (Praepositus) des Ordens in allen Fragen der Seelsorge und der Organisation; 4. evangelische Armut des Ordens insgesamt, d.h., Gebrauch der Güter unter Verzicht auf den Besitz derselben; ausgenommen sind die Studienanstalten, die zum Unterhalt der Studenten Güter und Einkünfte haben dürfen; 5. Verpflichtung zum Gebet des Offiziums, jedoch nicht gemeinsam im Chor; Verbot von Orgel und sonstiger Musik bei der Messe und den anderen Gottesdiensten. In einer Art Epilog wird die Vermeidung von zwei Fehlern (anderer religiöser Gemeinschaften) eingeschärft: 1. Den Mitgliedern des Ordens dürfen von den Vorgesetzten keinerlei Bußübungen und körperliche Strafen auferlegt werden; 2. die Aufnahme in die Gesellschaft darf erst nach langer Vorbereitungszeit und sorgfältiger Prüfung erfolgen.61 Dieses Schriftstück übergab Ignatius Anfang Juli 1529 dem Kardinal Gasparo Contarini mit der Bitte, es an den Papst weiterzuleiten. Paul III. seinerseits ließ den Text durch seinen Hoftheologen (Magister Sacri Palatii), den Dominikaner Tommaso Badia (1493-1547) überprüfen.62 Die Prüfung kam zu dem Ergebnis, daß es sich (bei der beabsichtigten Ordensgründung) um ein frommes und heiliges Vorhaben handele. Auf Empfehlung Contarinis approbierte der Papst am 3. Semptember 1539 in Tivoli mündlich den Entwurf der Konstitutionen.63 Es fehlte aber noch die schriftliche Approbation, deren Formulierung in den Zuständigkeitsbereich des Kardinals Girolamo Ghinucci fiel. Und der erwies sich als großer Bedenkenträger. Zunächst erkannte er, daß er als Sekretär für die päpstlichen Breven (kürzer gefaßte Urkunden) gar nicht zuständig war, da eine so wichtige Sache wie die Zulassung eines neuen Ordens in Form einer Bulle zu erfolgen hatte. Trotzdem ließ er auch seine sachlichen Bedenken wissen: das Verbot der Musik bei den Gottesdiensten mißfiel ihm, ebenso das Verbot der Auflage von Fasten und anderen Bußwerken durch die Oberen; dann hielt er auch das Gelübde des unbedingten Gehorsams gegenüber dem Papst für überflüssig, da alle Christen, insbesondere aber die Kleriker, ohnehin schon diese Verpflichtung hätten. Am Ende widersetzte sich Ghinucci der Ausfertigung der schriftlichen Bestätigung, und es kam darüber zum Streit mit seinem Kardinalskollegen Contarini. Paul III. sah eine Lösung des Konflikts darin, daß er einen weiteren Mann seines Vertrauens, den Kardinal Bartolomeo Guidiccioni (1469-1549) mit der Prüfung der Angelegenheit beauftragte. Der alte Kardinal, ein beinharter Kanonist, erwies sich dem Anliegen des Ignatius gegenüber als noch widerständiger; er hielt neue religiöse Gemeinschaften für absolut überflüssig. Ignatius und seine Gefährten behandelte er, als er schließlich geruhte, sie zu empfangen, mit blankem Hohn. Weder die Fürsprache des Herzogs Ercole von Ferrara über seinen Bruder, den Kardinal Ippolito d'Este, noch das Gelöbnis von 3000 Messen durch Ignatius brachten die Sache voran. Schließlich signalisier-

Institutionelle und spirituelle Stabilisierung

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te Guidiccioni aber doch seine Zustimmung unter der Bedingung, daß die Zahl der zur Profeß Zugelassenen auf sechzig beschränkt würde. Am 27. September 1540 erließ Paul III. im Palazzo S. Marco die Bulle „Regimini militantis Ecclesiae", in der die Gründung der Gesellschaft Jesu definitiv bestätigt wurde.64 Seit der mündlichen Approbation durch den Papst in Tivoli war ein Jahr vergangen. In der Fastenzeit 1541 hatte Ignatius erneut Beratungen über die Konstitutionen der Gesellschaft vorgesehen. Von den ersten Gefährten nahmen daran nur Laynez, Broét und Le Jay teil; die anderen waren bereits zur Übernahme von Aufgaben in verschiedene Länder aufgebrochen. Hauptpunkte der gemeinsamen Überlegungen waren die praktische Verwirklichung des Armutsgelübdes, das Amt des Generaloberen (seine Dauer wurde auf Lebenszeit festgesetzt), der Katechismus-Unterricht, die Errichtung von Kollegien für den Nachwuchs der Gesellschaft. Zur Wahl des Generaloberen fanden sich am 5. April sechs Patres ein. Die Abwesenden hatten zum Teil ihre Stimmzettel hinterlassen, zum Teil nach Rom eingesandt. Nach drei Tagen des Gebets fand am 8. April die Auszählung statt. Die Wahl war einstimmig auf Ignatius gefallen. Er selbst hatte auf seinem Stimmzettel keinen Namen angegeben, sondern sich für den Kandidaten mit den meisten Stimmen ausgesprochen. Die Wahl nahm er zunächst nicht an. Erst nach einer neuen Abstimmung am Mittwoch der Karwoche (13. April) beugte er sich, nach tagelangen Konsultationen und einer dreitägigen Beicht bei Fra Teodosio da Lodi im Kloster der Franziskaner von S. Pietro in Montorio, am Osterdienstag (19. April) dem Votum der Gefährten. Sein Verhalten ist auf den ersten Blick nicht ganz verständlich; denn er muß ja gesehen haben, was auf ihn zukam. Aber angesichts der großen ihm bevorstehenden Verantwortung muß ihn das Gefühl seiner Unwürdigkeit überfallen haben, und er nahm zu einem seit Jahren nicht mehr gekannten Beicht-Anfall seine Zuflucht. Darüber, was ihm in den drei Tagen alles eingefallen ist, kann man als moderner Mensch nur Vermutungen anstellen. Hat er seine ganzen Jugendsünden aus dem Gedächtnis wieder hervorgekramt und bei seinem geduldigen Beichtvater (zum wievielten Male?) die Absolution davon erhalten? In der gleichen Sitzung beschlossen die Gefährten für den kommenden Freitag (22. April 1541) eine Sieben-Kirchen-Wallfahrt. Sie sollte in S. Paolo fuori le Mura beginnen, wo die Magistri, entsprechend der päpstlichen Bestätigungsbulle, ihre Profeß ablegen wollten. Der feierliche Akt fand statt in einer von Ignatius gelesenen Messe, vor der Kommunion. Als erster verlas der neue Obere die Formel des Gelübdes und empfing darauf das Sakrament; danach vollzogen die fünf Gefährten Le Jay, Broét, Laynez, Codure, Salmerón den gleichen Ritus. Ort des Geschehens war ein Altar an dem rechten Pfeiler des Triumphbogens der Kaiserin Galla Placidia (5. Jahrhundert). Über dem Altar befand sich damals noch ein Mosaik byzantinischen Stils mit einer Darstellung der Madonna aus der Zeit des Papstes Honorius III. (1216-1227). Es befindet sich heute in der Cappella del Crocifisso der Basilika.65

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IX. Ignatius in Rom

In der Basilika S. Paolo wurde am gleichen Tag über den Vorgang eine Urkunde angefertigt, in die auch die Namen der abwesenden Gefährten Faber, Bobadilla, Javier und Rodrigues Aufnahme fanden.66 Danach wurde die Wallfahrt zu den übrigen Hauptkirchen fortgesetzt. Bei S. Giovanni in Laterano nahmen sie das Abendessen ein, das Pedro de Ribadeneira für sie zubereitet hatte.67 Ein gutes Jahr später, am 15. Mai 1542, übernahm Ignatius als Oberer der Gesellschaft Jesu den Besitz der Pfarrkirche Santa Maria della Strada.68 Das Haus daneben wurde Sitz der Ordensleitung und Wohnort des Ignatius für den Rest seines Lebens. Nach seinem Tode mußte die Kirche Platz machen für den Prachtbau der neuen Hauptkirche des Ordens, Ii Gesü, die auch die Grabeskirche des Stifters ist. „Die Leichtigkeit,

Gott zu

begegnen"

Am Abend des 20. Oktober 1555 ließ Ignatius P. Gon5alves de Cämara zu sich rufen. Am Ende seines Dikats des Pilgerberichts angelangt, wollte er dem Schreiber gegenüber eine Art feierlicher Erklärung über die Zuverlässigkeit seiner Erinnerungen abgeben. Der persönliche Eindruck, den er an diesem Abend auf P. Gon?aIves machte, schien gesammelter, konzentrierter als sonst zu sein.69 Schon das läßt darauf schließen, daß er sein Leben im Blick auf eine weitere Leserschaft aufzeichnen ließ. Wie um seine Aufrichtigkeit zu untermauern, fügt er dann noch eine Analyse seines spirituellen Zustands an: Seit er in den Dienst Gottes getreten sei, habe er unseren Herrn in vielfacher Weise beleidigt, jedoch nie seine Einwilligung zu einer schweren Sünde gegeben; vielmehr sei er in seiner Andacht (devotione) beständig gewachsen. Er erläutert, was mit „Wachsen in der Andacht" gemeint ist: Das heißt: in der Leichtigkeit, Gott zu begegnen (id est, in facilitä di trovare Iddio), und das sei jetzt mehr der Fall als jemals in seinem ganzen Leben. Und jedes Mal und zu jeder Stunde, wenn er Gott finden wolle, finde er ihn. Und er habe auch jetzt noch viele Visionen, vor allem solche, wie sie oben erwähnt wurden, in denen er Christus als Sonne erblickte. Und das passierte ihm oft, wenn er sich daran machte, über wichtige Dinge zu sprechen. Und so habe er den Eindruck gehabt, daß diese Visionen sich als Bestätigung eingestellt hätten. Die Visionen häuften sich insbesondere bei der Messe und bei der Niederschrift der Konstitutionen. Um Sicherheit zu gewinnen, machte er sich täglich Notizen über seine inneren Erfahrungen; er bezeichnet diese Erfahrungen mit dem Ausdruck: „was sich in seiner Seele ereignete" (quello che passava per l'anima sua), woraus deutlich wird, daß es sich um Ergebnisse der Introspektion handelt. P. Gongalves berichtet, Ignatius habe ihm einen dicken Stoß beschriebener Blätter gezeigt und ihm einiges daraus vorgelesen. Es ging dabei hauptsächlich um Visionen, in denen er die Bestätigung (confirmatione) einzelner Bestimmungen der Konstitutionen erhielt; die Ratifizierung wurde

Die Konstitutionen des Ordens

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jeweils von Gott Vater oder den drei Personen der Trinität gemeinsam vollzogen. Zuweilen trat auch die heilige Jungfrau als Mittlerin (la Madonna che intervedeva) in Erscheinung oder sie erteilte ihrerseits die Bestätigung. Das Besondere oder, wenn man so will, „Ignatianische" des Vorgangs besteht darin, daß die Lebensform des neuen Ordens nicht als in direkter Weise von Gott geoffenbart vorgestellt wird; sie entsteht vielmehr als Ergebnis von Überlegungen und Meditationen in der Seele des Gesetzgebers und wird anschließend der transzendenten Macht zur Bestätigung, Ratifizierung vorgelegt. Das ereignet sich mit „Leichtigkeit", weil kein mühsamer Aufstieg der Seele zu den himmlischen Höhen stattfinden muß, auch Gott nicht vom Himmel herabgeholt wird, sondern im Inneren des Heiligen bereits präsent ist.

3. Die Konstitutionen des Ordens Einige

Vorbermerkungen

Gegen Ende des Pilgerberichts steht eine Notiz über die Entstehung der Constitutiones Societatis Iesu:70 Das Verfahren, das er einhielt, als er die Konstitutionen niederschrieb, bestand darin, jeden Tag die Messe zu lesen und den Punkt, den er behandelte, Gott vorzulegen und darüber zu beten; und immer sprach er das Gebet und die Messe unter Tränen. P. Gon§alves da Camara, der genügend Intelligenz und Einfühlungsvermögen besaß, merkte, daß er hier auf die Wurzel, die letzte Erklärung der Genese der Konstitutionen gestoßen war. Es ist verständlich, daß er gerade darüber gern mehr erfahren hätte. Der letzte von ihm niedergeschriebene Satz des Pilgerberichts lautet:71 Ich hätte gern alle diese Zettel der Konstitutionen gesehen und bat ihn, er möge mir sie für kurze Zeit überlassen. Er wollte nicht. Wie das am Anfang der spirituellen „Karriere" des Heiligen mit verschiedenfarbigen Tinten niedergeschriebene Buch ein wertvolles Dokument seiner inneren Entwicklung wäre, wenn es nicht unwiederbringlich verloren wäre, so hätten wir gewiß auch in diesen täglichen Niederschriften der Gesetzgebung des Ordens, die er Gott gleichsam zur „Ratifizierung" vorlegte, eine überaus wertvolle Quelle, weniger für das Zustandekommen der Konstitutionen als für das Verständnis des Heiligen von dem Offenbarungscharakter seines Gesetzgebungswerkes in allen einzelnen Paragraphen und Passagen. Aber er wollte sie damals nicht herausrücken, und wo sie dann geblieben

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IX. Ignatius in Rom

sind, weiß niemand. Was den Verlust der carte delle Constitutioni tutte allerdings einigermaßen verschmerzen läßt, ist die Tatsache, daß Ignatius im Pilgerbericht, den Exerzitien und zahlreichen seiner Briefe den aktiven Charakter seiner Offenbarungen klar erkennen läßt. Ob es sich um Visionen im eigentlichen Sinne oder in der frommen Meditation gewonnene Erkenntnisse handelt: sie stellen sich immer auch als Ergebnisse eigenen Bemühens, einer aktiven Introspektion in die eigene Seele ein. Soll man es, als Historiker, bei dieser Feststellung belassen oder kann man sich auf den Standpunkt des Psychologen begeben und sagen, daß es sich bei dem genannten Versuch des Ignatius, seine Gesetzgebung im göttlichen Willen zu verankern, um einen Prozeß subjektiver Einbildung handelt? Der diesem entgegengesetzte Standpunkt wäre der, die Konstitutionen der Gesellschaft Jesu, ähnlich wie die Heilige Schrift, als authentische Offenbarung Gottes an den Ordensgründer anzuerkennen. Bis vor wenigen Jahrzehnten war dies die im Jesuiten-Orden herrschende Auffassung, und die meisten seiner Mitglieder haben sie auf Befragen - ob aus ehrlicher Überzeugung oder zynischer Heuchelei - vertreten. Nicht um einen vermittelnden Standpunkt einzunehmen, sondern um falsche Alternativen auszuschließen, wollen wir einige Beobachtungen, die auch schon im früher Gesagten anklangen, festhalten: 1. Aufgrund seiner besonderen Lebensumstände, zu denen vielfältige Krankheiten und Leiden gehörten, erhob sich Ignatius in ein Verhältnis zur transzendenten Welt, das ihm, wie den biblischen Propheten, einen leichten Zugang zu Gott ermöglichte; 2. der direkte Zugang zu Gott vermittelte ihm außergewöhnliche Erkenntnisse, insbesondere die des Willens Gottes; 3. er gelangte zu einem immer größeren Selbstbewußtsein und Zutrauen, die auf „übernatürliche" Weise gewonnenen Erkenntnisse anderen mitzuteilen und für sie verpflichtend zu machen (auch darin liegt eine Gemeinsamkeit mit den Propheten); 4. wie allein schon sein seelsorgerlicher Erfolg und die rasch wachsende Zahl der Mitglieder der Gesellschaft Jesu beweisen, lag er damit im „Trend" seiner Zeit („Vox temporis vox Dei" lautet ein früher verbreitetes Sprichwort); 5. wie die Sprüche des Orakels von Delphi sind die göttlichen Offenbarungen, wenn sie in der Zeit und der menschlichen Sprache angekommen sind, der Zweideutigkeit, dem Mißverständnis und der Lüge unterworfen. „Der Herr zu Delphi redet nicht in klaren Worten, verhüllt aber auch nicht, sondern deutet an."72 Damit ist klar, daß von dem eindeutig transzendenten oder göttlichen Charakter der Konstitutionen nicht die Rede sein kann. Im Gegenteil: sie sind durch und durch menschlich, ihrer Zeit verhaftet, zum Teil mit fataler Wirkung für die Zukunft der Katholischen Kirche und der menschlichen Gesellschaft. Man wird hier keine eingehende Würdigung oder gar eine fortschreitende kritische Textinterpretation des imponierenden Gesetzgebungswerkes erwarten.73 Ich will nur die Aufmerksamkeit des Lesers auf einige Passagen lenken, die mir (aus dem Blickwinkel der Religionsgeschichte) besonders relevant zu sein scheinen.

Die Konstitutionen des Ordens Grundlagen

und Gliederung

des

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Ordens

Die Konstitutionen in ihrer definitiven Form beginnen mit einer Feststellung von Namen und Zweck des Ordens, einem skizzenartigen Uberblick über die Gelübde als Lebensform der Gesellschaft und ihr spezielles Verständnis (im Unterschied zu dem anderer religiöser Gemeinschaften); dann folgt eine Beschreibung der vier Personenkreise (Klassen) innerhalb des Ordens.74 Gleich zu Beginn wird - in einer paradoxen Gegenüberstellung von Demut und Stolz - festgestellt, daß „diese ganz geringe Gemeinschaft" (haec minima Congregatio), von ihrer Gründung an durch den Apostolischen Stuhl den Namen „Gesellschaft Jesu" erhalten hat. Damit ist zugleich, als wichtigste Grundlage des Ordens, dessen enge Bindung an das Papsttum konstituiert. In einem einzigen Satz wird das doppelte Ziel der Gesellschaft formuliert: Sorge für das Heil der eigenen Seelen und Wirken für das Heil der Mitmenschen: Der Zweck dieser Gesellschaft besteht darin, nicht nur für das Heil und die Vollkommenheit der eigenen Seelen mit Gottes Gnade frei zu sein, sondern mit derselben nachdrücklich zum Heil und zur Vollkommenheit der Nächsten zu wirken. Um dieses Doppelziel besser zu erreichen, gelten in der Gesellschaft die drei Gelübde des Gehorsams, der Armut und der Keuschheit. (Es ist bemerkenswert, daß der Gehorsam an erster Stelle genannt wird). Die Armut wird in radikalstem Sinne verstanden, so wie sie zuletzt Franziskus von Assisi formuliert hatte: nicht nur als Verpflichtung für das einzelne Ordensmitglied, sondern in communi für den gesamten Orden und seine Gliederungen.75 Die für die Gesellschaft typische Armutsauffassung wird in einem eigenen Kapitel der Konstitutionen noch ausführlicher beschrieben, worauf wir weiter unten zurückkommen werden. Aber hier wird schon gleich zu Beginn eingeschärft, daß die Erzielung von Einkünften, die anderen Priestern selbstverständlich und erlaubt ist (quamvis aliis sit licitum), den Mitgliedern der Gesellschaft Jesu strikt untersagt ist, nämlich Einnahmen für Messen, Predigten, Lesungen, Sakramentenspendung und andere kultische Dienste. Selbst der Annahme von Almosen als Kompensation für die genannten religiösen Handlungen wird ein Riegel vorgeschoben. Die Jesuiten haben von niemand anderem ein Entgelt zu erwarten als von Gott, „wegen dessen Dienst allein sie alles machen müssen". Wie schon in der ersten Fassung der Konstitutionen festgeschrieben, dürfen allein die Kollegien und Novizenhäuser (Domus Probationis) Besitz haben und Einkünfte erzielen, um den Unterhalt der Studenten sicherzustellen. Die betreffenden Mittel dürfen aber zu keinem anderen Zweck verwendet werden, auch dürfen sie nicht für die Häuser der Prof essen oder Koadjutoren des Ordens abgezweigt werden.

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IX. Ignatius in Rom

Als wesentliche Grundlage der Ordensverfassung wird dann das dem Papst gegenüber abzulegende Gehorsamsgelübde genannt. Es unterscheidet die Gesellschaft Jesu von allen anderen religiösen Gemeinschaften der Katholischen Kirche.76 Weiterhin legt die durch ihre Ordensgelübde konstituierte Gesellschaft, außer den genannten drei Gelübden, dem Obersten Bischof in seiner Eigenschaft als gegenwärtig oder zukünftig zu seiner Zeit amtierendem Stellvertreter unseres Herrn Jesus Christus gegenüber ein ausdrückliches Gelübde ab: nämlich sich ohne Ausrede, ohne ein Zehrgeld zu erbitten, auf den Weg zu machen, wohin immer Seine Heiligkeit sie zu gehen heißt, unter Gläubige oder Ungläubige, zu Aufgaben, die den göttlichen Kult und das Wohl der christlichen Religion betreffen. Man muß diesen Text, einen der wichtigsten und folgenreichsten für die Geschichte der christlichen Religion in der Neuzeit, mit großer Aufmerksamkeit lesen. Vorausgesetzt, daß sich Mitglieder in ausreichender Zahl und mit der entsprechenden Eignung einstellen würden (beide Voraussetzungen traten binnen sehr kurzer Zeit ein!), stand dem Apostolischen Stuhl für seine religiösen und politischen Ziele mit der neuen Gesellschaft ein Instrument zur Verfügung, das mit den Bettelorden im Mittelalter vergleichbar ist, in seiner Effizienz aber diese bei weitem übertraf. Nach fast drei Jahrhunderten voller religiöser Ermüdungserscheinungen in der westlichen Christenheit 77 hatte wieder einer den Mut, von einer religiösen Gemeinschaft eine apostolische Lebensform ohne Kompromisse zu verlangen. Die Schattenseiten (von geschichtlicher Tragik zu reden, wäre wohl zu hoch gestochen) deuten sich aber bereits im Text des Gesetzes an: 1. Ignatius und seine ersten Gefährten hatten wirklich nur den Dienst Gottes und das Wohl der christlichen Religion im Auge. Weil es aber ein dem Papst als Stellvertreter Christi gelobter Gehorsam war, konnte die oberste Kirchenleitung die Jesuiten jederzeit auch zu sehr weltlichen, politischen Zwecken einsetzen, wie es die kommende Geschichte zur Genüge zeigen sollte. 2. Als dieses Gesetz niedergeschrieben wurde, ging man von einer überschaubaren Anzahl von Mitgliedern der Gesellschaft aus, die so gut ausgebildet waren, daß sie für die verschiedensten Aufgaben einsetzbar waren. In den folgenden Jahrhunderten gab es immer wieder Patres, die das Ziel des universal gebildeten Gelehrten oder hervorragenden Seelsorgers und Missionars anstrebten und erreichten. Aber bei einem Orden, der schließlich der zahlenmäßig größte der Katholischen Kirche war, konnte es nicht ausbleiben, daß der Mythos von der universellen Fähigkeit und Verwendbarkeit des Jesuiten seltsame Blüten trieb, nämlich immer dann, wenn Kleingeister und Dummköpfe an diesem Ruf zu partizipieren suchten. In einem wortkargen Satz über die „äußere Lebensform" (ratio vivendi in exterioribus) ist eine weitere fast revolutionäre Neuerung im Ordenswesen festgehalten: Wie bei den älteren Orden wird die gemeinsame Lebensform

Die Konstitutionen des Ordens

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vorgeschrieben, das heißt, das Zusammenleben von mehreren Personen in kloster-ähnlichen Häusern. Die Disziplin in der Gemeinschaft darf aber weder durch die üblichen Bußpraktiken noch durch von den Oberen verordnete Züchtigungen aufrecht erhalten werden; nur was einer sich an äußerer Askese selbst zumutet, darf er mit Genehmigung seiner Oberen praktizieren. Ein Abschnitt im dritten Teil der Konstitutionen geht noch weiter: es wird dort auf die möglicherweise schädliche Wirkung der körperlichen Züchtigung aufmerksam gemacht:78 Die Züchtigung des Körpers darf nicht maßlos sein, auch nicht ohne Augenmaß bei den Nachtwachen, Enthaltungen und den anderen äußeren Bußübungen und Arbeiten; denn derartige Verhaltensweisen haben in der Regel schädliche Wirkungen und verhindern höhere Güter. Deshalb soll jeder seinem Beichtvater mitteilen, was er auf diesem Gebiet tut; wenn der zu dem Urteil kommt, daß das Maß überschritten wird, oder wenn er Bedenken hinsichtlich der Übertreibung hat, dann soll er den Betreffenden an den Oberen verweisen. Das alles geschieht aber deswegen, daß beim Vorgehen größere Klarheit herrscht und in unseren Seelen und Körpern unserem Herrgott die größere Ehre dargebracht wird. Es ist bemerkenswert, daß Ignatius, der ja ungefähr sämtliche Formen strengster Bußübungen durchlebt und durchlitten hatte, sich bei der Kodifizierung asketischer Praktiken für seinen Orden äußerster Zurückhaltung befleißigt. Zur Aufrechterhaltung der Ordnung genügt ganz einfach der Gehorsam. Und so ist es bis heute geblieben. Wie jeder, der in einer von Jesuiten geleiteten Gemeinschaft gelebt hat, bezeugen kann, herrscht dort eine für alle - Brüder, Studenten, Patres, Obere, Gäste, Bischöfe, Kardinäle - verbindliche, von der Vernunft bestimmte Einfachheit, ohne demonstrativ zur Schau gestellte Ärmlichkeit oder Askese, aber auch ohne Bevorzugung von Oberen und Gästen durch bessere Speisen oder bessere Pflege, wie es in anderen kirchlichen Häusern durchaus üblich war. Trotz weitgehender Gleichheit in der äußeren Lebensform werden in den Konstitutionen vier unterschiedliche Klassen von Ordensmitgliedern festgeschrieben: 1. Die erste Klasse sind diejenigen, die die Ordensprofeß mit allen vier Gelübden abgelegt haben; sie müssen eine ausreichende wissenschaftliche Bildung haben (sufficienter in litteris eruditos) und über einen längeren Zeitraum hin bezüglich ihres sittlichen Lebens geprüft worden sein, außerdem müssen sie ordinierte Priester sein; diese auch als Professen bezeichneten Patres sind die Elite des Ordens; eigentlich bilden nur sie die Gesellschaft Jesu im Vollsinn des Wortes (Societas Professa); 2. die Koadjutoren haben den Status von Helfern der Gesellschaft in geistlichen und zeitlichen Angelegenheiten, sie legen nur die drei üblichen einfachen Gelübde des Gehorsams, der Armut und der Keuschheit ab, nicht aber das besondere Gehorsamsgelübde gegenüber dem Papst (von dem sie aber natürlich indirekt mitbetroffen sind); sie sollen mit ihrem Los zufrieden sein, da es vor Gott auf die größere Liebe ankommt, mit der einer seine höheren und niederen Dienste verrichtet; 3. die

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IX. Ignatius in Rom

dritte Klasse ist die der Scholastiker, das heißt, der Studenten, die sich auf den Eintritt in die Gesellschaft, sei es als Professen, sei es als Koadjutoren vorbereiten und nach hinreichender wissenschaftlicher und spiritueller Examinierung in sie aufgenommen werden; 4. die vierte Klasse der Gesellschaft bilden diejenigen, die zunächst aufgenommen werden, ohne daß über ihre zukünftige Stellung und Bestimmung im Orden schon eine Entscheidung getroffen würde. Als Probezeit (Noviziat) für alle Kandidaten werden zwei Jahre festgesetzt. Nach dem Studium folgt ein weiteres Jahr Wartezeit, die durch die verantwortlichen Oberen auch verlängert werden kann. An dieser Stelle nicht eigens genannt oder erfaßt sind diejenigen, deren (unentgeltlicher oder mehr oder weniger schlecht bezahlter) Arbeitskraft der Orden mit seinen Einrichtungen seine wirtschaftliche Lebensfähigkeit verdankt. Das sind zunächst die Laien-Brüder, die, solange es sie in ausreichender Zahl gab, in den Häusern und Kollegien die verantwortlichen Aufgaben der Infrastruktur übernahmen: so gut wie alle handwerklichen Dienste (Schneider, Schreiner, Gärtner, Uhrmacher), Verwaltung und Ökonomie, Betreuung des gottesdienstlichen Bereichs (Mesner, Sakristan), Krankenpflege, Küche. Im weiteren Verlauf der Konstitutionen werden sie als Coadiutores temporales, die keine Weihen empfangen haben, mit wissenschaftlicher Bildung oder ohne sie, von den Coadiutores spirituales unterschieden, die Priester sind und in den Wissenschaften eine hinreichende Ausbildung erfahren haben. Von ihrer Tätigkeit heißt es nur ganz allgemein, daß sie sich in allen niederen und demütigeren Diensten üben sollen, die ihnen aufgetragen werden; auf diese Weise sollen sie der Gesellschaft helfen, damit diese für die Seelsorge frei ist. Eine Beschäftigung der Brüder mit „höheren" Aufgaben wird jedoch nicht ausgeschlossen, wenn sie dafür die Begabung besitzen.79 Die Laien-Brüder werden (oder: wurden) unterstützt durch die so genannten Famuli domestici (Famigliari), ausschließlich männliche Hausdiener, die für Putzen, Reparaturen, Küchendienste, Servieren und andere „niedere" Dienstleistungen zuständig waren. Bis in die fünfziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts war ihnen die Eheschließung verboten. Die wirtschaftliche Basis des Ordens bildeten weitgehend Landgüter (Tenuten), die indirekt mit ihrem Ertrag oder direkt durch Naturalien die Versorgung der Einrichtungen des Ordens sicherstellten. Sie wurden von Pächtern oder Halbpächtern (Mezzadri) mit ihren großen Familien betrieben. Die von Jesuiten geleiteten Häuser und Studienanstalten waren über Jahrhunderte ausschließlich für Männer zugänglich. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg nahm man vereinzelt auch die Dienste von Ordensfrauen in Anspruch.

Gehorsam Unter den Tugenden und praktischen Verhaltensweisen, die in den Konstitutionen vorgeschrieben sind, nimmt der Gehorsam den ersten Rang ein. Von ihm ist an vielen Stellen des Gesetzgebungswerkes die Rede, dagegen wird die

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Keuschheit nur ein einziges Mal, fast beiläufig, im Kontext mit dem Gehorsam, erwähnt.80 Und weil das, was zum Keuschheitsgelübde gehört, keiner Auslegung bedarf, da feststeht, wie vollkommen sie zu beobachten ist, nämlich indem man danach trachtet, die Reinheit der Engel nachzuahmen in der Reinheit unseres Körpers und Geistes. Der Gehorsam wird in seiner perfektesten Form verlangt, denn der jeweilige Obere, dem gegenüber er faktisch zu leisten ist, nimmt die Stelle Christi ein und hat deshalb auf die gleiche Ehrfurcht und Liebe Anspruch wie dieser.81 Der Gehorsam muß ein vorauseilender sein, indem man bereits innerlich auf den eigenen Willen und die eigene Urteilskraft verzichtet hat, so daß man sich dem Willen und Gefühl des Oberen in perfekter Weise anpassen kann; denn letztlich findet im Willen und Urteil des Oberen nur die ewige Güte und Weisheit Gottes ihren Ausdruck. Am ausführlichsten ist im sechsten Teil der Konstitutionen vom Gehorsam die Rede.82 Hier finden sich auch die schärfsten und radikalsten Formulierungen: Den Professen und den Koadjutoren wird ans Herz gelegt, daß sie nicht nur in den verpflichtenden und ausdrücklich vorgeschriebenen Dingen zu gehorchen haben, sondern sogar auf das Anzeichen einer Willensäußerung des Oberen (signum voluntatis Superioris) achten müssen. Dahinter steht wieder die Begründung: dem Menschen wird deshalb Gehorsam geleistet, weil Gott selbst durch ihn seinen Willen kundtut.83 In der Stimme vor allem des Papstes, dann aber auch aller Oberer der Gesellschaft ist die von Christus ausgehende Stimme zu hören. Den vernommenen Befehl haben alle unverzüglich (promptissimi) auszuführen; wenn er sie beim Schreiben erreicht, ist der angefangene Brief auf der Stelle unvollendet zurückzulassen. Dieses ist das erste eindrucksvolle Beispiel, mit dem die praktische Ausführung des Gehorsams illustriert wird; es folgen bald noch drastischere Bilder. Der Gehorsam, heißt es im weiteren Verlauf des Textes, muß nicht nur in seiner Ausführung, sondern bereits im Willen und im Intellekt vollkommen sein, das heißt: er darf keine innerlichen Vorbehalte und Ausflüchte haben. Es wird also Ehrlichkeit für etwas verlangt, was einer (zumindest für unser heutiges Empfinden) ehrlicherweise nicht leisten kann. Aber wir (Moderne) sollten vorerst unsere Bedenken und Einwände zurückhalten! Wir (die Mitglieder der Gesellschaft Jesu) sollen mit großer Schnelligkeit, mit geistlicher Freude und Beharrlichkeit alles, was uns aufgetragen wird, ausführen; wir sollen uns die Uberzeugung einreden, daß das alles gerecht ist (omnia iusta esse nobis persuadendo); weiterhin sollen wir jegliche eigene Meinung und jegliches eigene Urteil, das dem blinden Gehorsam entgegensteht, ablegen. Da mittels des Willens der Oberen die Leitung durch die göttliche Vorsehung erfolgt, müssen sich die Mitglieder des Ordens ihnen gegenüber so verhalten, als ob sie ein Leichnam wären oder ein Stock in der Hand eines alten Man-

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nes.u Kadaver und Stock haben gemeinsam, daß sie keine eigenen Bewegungen ausführen können. Es ist an dieser Form des Kadaver-Gehorsams nichts beschönigend umzudeuten. Nicht erst die Aufklärung und die Erfahrungen, die in der Neuzeit mit totalitären Regimes gemacht wurden, begründen die Skepsis gegenüber einer ideologisch motivierten Selbstaufgabe freier Individuen. Auch in den maßgebenden Gründungs-Urkunden des Christentums, den Schriften des Neuen Testaments und der Alten Kirche, würde man eine Rechtfertigung dafür, daß sich in der Stimme des Papstes oder eines anderen kirchlichen Vorgesetzten eindeutig der Wille Gottes äußert, vergeblich suchen.85 Die Sache wird auch nicht dadurch besser, daß eigentlich der heilige Franziskus von Assisi der Erfinder des Kadaver-Gehorsams ist.86 Die Fragwürdigkeit des jesuitischen Gehorsams-Ideals zeigt sich aber vor allem in dessen (religionsgeschichtlicher) Wirkung: da die hierzu verlangte Ehrlichkeit schlechterdings nicht möglich ist, sind die Folgen bei den Betroffenen entweder zynische Verlogenheit oder kritikloser, frömmlerischer Verzicht auf jegliche Form vernünftiger Selbstbestimmung, gelegentlich auch als sacrificium intellectus bezeichnet. Mit der Forderung des Kadaver-Gehorsams für die Mitglieder ist ein Keim der Selbstauflösung und Selbstzerstörung des Ordens bereits in dessen Stiftungs-Urkunde enthalten. Daß die zerstörenden und auflösenden Elemente in der Gründungs- und Hoch-Zeit der Gesellschaft noch nicht ans Tageslicht traten, liegt einmal daran, daß sich damals hoch qualifizierte Persönlichkeiten in großer Zahl für die neue Bewegung begeisterten, sodann an der im ganzen humanen und zurückhaltenden Handhabung der Gehorsamsforderung. De facto wurde und wird im Falle des jesuitischen, wie auch in dem des franziskanischen, Kadaver-Gehorsams die Suppe nicht so heiß gegessen, wie sie gekocht wurde, das heißt, die verantwortlichen Oberen nehmen in der Regel Rücksicht auf die persönliche Eigenart der Untergebenen, und diese werden gemäß ihren Fähigkeiten und Wünschen eingesetzt. Armut Im dritten Teil der Konstitutionen wird den Mitgliedern der Gesellschaft empfohlen, die Armut wie eine Mutter zu lieben und sich, mit dem nötigen Augenmaß, von Zeit zu Zeit ihren Auswirkungen und Folgen auszusetzen.87 Für Ignatius und seine Gefährten der ersten Generation des Ordens mangelte es noch nicht an Gelegenheiten, die unangenehmen Folgen der Armut am eigenen Leib zu erfahren. Auch die Missionare späterer Zeiten konnten sicher häufig in Situationen geraten, in denen sie allein auf „Mutter Armut", das heißt: die Fürsorge Gottes, angewiesen waren. Aber nachdem einmal die Etablierung des Ordens in Häusern und Kollegien stattgefunden hatte, ob er nun formal deren Eigentümer war oder nicht, konnte ein Zustand der Armut wohl nur noch in fiktiver oder künstlicher Weise herbeigeführt werden.

Die Konstitutionen des Ordens

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Im sechsten Teil der Konstitutionen wird die Armut als „feste Mauer des Ordens" (murus Religionis firmus) bezeichnet, die man lieben und in ihrer Reinheit bewahren müsse, soweit es mit Hilfe der göttlichen Gnade möglich sei. Da „der Feind der menschlichen Natur" (so heißt der Teufel schon in den Exerzitien) seine Kräfte auf die Eroberung dieser Bastion konzentriert, wird es für alle Zukunft untersagt, die von den Ordensgründern bezüglich der Armut erlassenen Bestimmungen durch Erklärungen und Neuerungen zu verwässern. Allenfalls könnte die Armut, wenn es die Umstände erfordern sollten, strikter gehandhabt werden.88 Ähnlich wie es der heilige Franziskus in seinem „Testament" getan hatte,89 versucht also Ignatius, einer Aufweichung der von den Gründervätern intendierten radikalen Armut mittels Auslegungen vorsorglich einen Riegel vorzuschieben. Er spricht in diesem Zusammenhang vom „ursprünglichen Geist" der Ordensgründer, womit deren ureigenste Absicht gemeint ist, der Gesellschaft die Armut für alle Zeiten zu bewahren. Die Verpflichtung zur Armut gilt nicht nur für das einzelne Mitglied, sondern für den Orden in seiner Gesamtheit: die Kirchen und Ordenshäuser der Gesellschaft Jesu dürfen keinerlei Einkünfte haben, nicht einmal solche, die für den Betrieb der Sakristei (d.h., die Beschaffung von Materialien für den kultischen und sakralen Gebrauch, wie Kerzen, Weihrauch, Öl) oder die Erhaltung der Gebäude bestimmt sind. Die Gesellschaft darf sich nicht mit der Verwaltung von Besitztümern befassen, sie soll vielmehr ihr Vertrauen allein auf Gott setzen, der, auch ohne daß der Orden über Einkünfte verfügt, für seine größere Ehre Sorge tragen wird.90 Sowohl die Professen als auch die Koadjutoren sollen in den Ordenshäusern ausschließlich von Almosen leben; wenn sie jedoch in den vom Orden geleiteten Kollegien und Universitäten Ämter bekleiden, wie das des Rektors oder Professors, dann können sie wie die übrigen von den der betreffenden Institution zur Verfügung stehenden Einkünften leben. Für alle Mitglieder der Gesellschaft Jesu gilt generell daß sie umsonst (gratis) weitergeben sollen, was sie ihrerseits umsonst empfangen haben.91 Die Konstitutionen enthalten noch zahlreiche weitere Bestimmungen im Detail, durch die das im Orden verbindliche Armutsideal mit konkreten Inhalten gefüllt wird. Weder sie noch die theologische und ideologische Fundierung der Armut konnten indes verhindern, daß sie sowohl in den Einrichtungen der Gesellschaft Jesu als auch bei einzelnen Individuen in vielfältiger Weise durchlöchert wurde, nicht anders als es bei dem hoch angesetzten Ideal der „engelhaften Keuschheit" im Lauf der Ordensgeschichte der Fall war. Wie die zu ihrer Zeit schärfsten Gegner der Jesuiten, die Reformatoren, erkannten, sind beide Tugenden in ihrer Radikalität Ideale, die der menschlichen Natur entgegenstehen.

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IX. Ignatius in Rom Gottesdienst

Die Konstitutionen untersagen den Mitgliedern des Ordens ausdrücklich das gemeinsame Chorgebet sowie Messe und andere kultische Dienste in feierlicher (gesungener) Form. Begründet wird dies mit der Vordringlichkeit der seelsorgerlichen Aufgaben des Ordens; im Klartext: durch die schier endlosen liturgischen Dienste, wie sie anderswo üblich sind, ginge den Patres zu viel Zeit für Dinge verloren, die sie für wichtiger halten.92 Weil die Aufgaben, die zur Hilfe der Seelen übernommen werden, von großer Wichtigkeit sind und zur Eigentümlichkeit unseres Instituts gehören und überdies sehr häufig anfallen, weil außerdem unsere Wohnung an diesem oder jenem Ort ungewiß ist, dürfen unsere Leute nicht den Chor dazu benutzen, um die kanonischen Hören oder die Messen und andere Offizien zu singen; denn denen, die ihre Andacht dazu veranlaßt, sie zu hören, stehen Möglichkeiten in reichem Maße zur Verfügung, wo sie ihre Bedürfnisse befriedigen können. Für unsere Leute aber gehört es sich, daß sie sich mit Dingen beschäftigen, die unserer Berufung zur Ehre Gottes eher entsprechen. Die nicht zum Kerntext der Konstitutionen gehörenden Ausführungsbestimmungen erlauben in einigen Ordenshäusern und Kollegien das Singen der Vesper, wenn um die betreffende Zeit Predigten oder Vorträge angesetzt sind. Durch die entfaltete größere Feierlichkeit soll das Volk zur Beicht und zur Predigt angezogen werden. Bemerkenswert ist, daß auch die Hochämter (Missae maiores) nur als Stillmessen (submissa voce) zelebriert werden dürfen; als liturgisches Hilfspersonal werden zwei oder ein Altardiener im Chorrock erlaubt.93 Die Abschaffung des Chorgebets, ja dessen ausdrückliches Verbot für einen Orden, und das Einverständnis des Apostolischen Stuhls hierzu ist in der Katholischen Kirche einmalig und hat den Charakter einer revolutionären Neuerung.94 Wenngleich es sich um eine unter dem Eindruck des Erfolgs der reformatorischen Professoren und Prädikanten getroffene notwendige und zeitgemäße Maßregel handelt, so ist doch auch in diesem Falle die andere Seite der Medaille nicht zu übersehen: Die ohne Feierlichkeit heruntergelesene Stillmesse hat ihren kultischen, Gemeinschaft stiftenden Charakter weitgehend verloren. Sie gerinnt entweder zu einer Veranstaltung mit rein meditativem Charakter oder degeneriert zu einem elf- bis zwanzigminütigen geistlosen Herunterleiern der heiligen Texte. (In der Zeit vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil spulten in den so genannten „Mess-Fabriken" der Klöster und Kollegien an Dutzenden von Altären ebenso viele Priester gleichzeitig ihre Messen ab).

Die Konstitutionen des Ordens

Moralische Qualität der

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Konstitutionen

Im sechsten Teil der Konstitutionen steht ein Kapitel, das wichtige Aussagen über Wert und Verbindlichkeit der in ihnen enthaltenen Gesetze enthält.95 Im spanischen Text trägt das Kapitel die Uberschrift: „De lo que toca a obedientia": „Was den Gehorsam betrifft." Es geht also in seinem Zusammenhang um eine nähere Umschreibung und Präzisierung des für die Ordensmitglieder verbindlichen Gehorsams. Es wird nochmals wiederholt, daß der Gehorsam letztlich „für Gott, unseren Schöpfer und Herrn" geleistet wird; daß er sich auf alle Dinge erstreckt, die nicht eindeutig als Sünde zu erkennen sind; daß er dem Willen des Oberen zu folgen hat, auch ohne ausdrücklichen Befehl desselben. Der den Gehorsam fordernden Stimme (la voz de la obedientia) gegenüber, ob sie nun vom Papst oder von einem der Oberen des Ordens ausgeht, ist Bereitschaft gefordert, „so als ob sie direkt von Christus ausginge, weil wir den Gehorsam an seiner Stelle und wegen der Liebe und Ehrfurcht ihm gegenüber leisten, indem wir irgendeinen angefangenen Brief als abgeschlossen liegen lassen und unseren ganzen Vorsatz und alle unsere Möglichkeiten in den Herrn aller Menschen legen".96 Hat man auf diese Weise die eigene Meinung und das eigene Urteil abgelegt, dann kann man „in blindem Gehorsam" (con obedientia ciega) die Anweisungen der Vorgesetzten ausführen. Da hier ein absoluter, rückhaltloser, blinder Gehorsam beschrieben wird, ist es sehr merkwürdig, daß wenige Zeilen danach, am Ende des gleichen Kapitels, eine Einschränkung vorgenommen wird, die dazu in einem gewissen Widerspruch zu stehen scheint. Wenn sich tatsächlich in den Anweisungen der Ordensoberen der Wille Gottes offenbart, dann ist folgerichtig der Ungehorsam ihnen gegenüber als Sünde zu werten. Genau diesen Anspruch schließt Ignatius aber für die Konstitutionen des Ordens (die ja den ausdrücklichen Willen des Generaloberen und der Ordensleitung enthalten) aus.97 Obwohl die Gesellschaft dringend wünscht, daß alle ihre Konstitutionen, Erklärungen und ihre Lebensregel im ganzen entsprechend unserem Institut eingehalten werden, ohne davon in irgendeiner Sache abzuweichen, so wünscht sie doch, daß alle ihre Mitglieder gewiß seien, oder doch unterstützt werden, daß sie nicht in die Schlinge irgendeiner Sünde geraten, die kraft dieser Konstitutionen oder Anordnungen entstehen könnte; deshalb schien es uns im Herrn, daß ausgenommen das ausdrückliche Gelübde, mit dem die Gesellschaft dem zu seiner Zeit lebenden Papst verpflichtet ist, und den drei anderen wesentlichen Gelübden der Armut, der Keuschheit und des Gehorsams - keinerlei Konstitutionen, Erklärungen oder irgendeine Lebensregel eine Verbindlichkeit haben sollen, aus der eine Todsünde oder läßliche Sünde folgen könnte, außer wenn der Obere sie anordnete im Namen Christi unseres Herrn oder kraft des Gehorsams. Und an Stelle der Furcht vor dem Verstoß soll die Liebe und der Wunsch nach ganzer Vollkommenheit und größerer Ehre und Lobpreisung Christi unseres Gottes und Herrn treten.

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Mit anderen Worten: es ist der ausdrückliche Wunsch des Ordensgründers, daß die Gesetzgebung des Ordens nicht die Qualität oder Verbindlichkeit von Geboten hat, deren Nichteinhaltung in Sünden und Gewissensnöte verstricken könnte. In der Geschichte des Ordens bis in die neueste Zeit ist dieser Gesichtspunkt kaum beachtet worden oder praktisch ganz der Vergessenheit anheimgegeben worden; was aber auch wiederum so verwunderlich nicht ist, da dem (blinden) Gehorsam in Theorie und Praxis eine überragende moralische Qualität zuerkannt wird.

4. Korrespondenz Ein großer Teil der Wirksamkeit des Ignatius in Rom hat seinen Niederschlag in seiner Korrespondenz gefunden. Ignatius ist einer der größten Briefeschreiber der Christenheit, sowohl was den Umfang wie was die religiöse und politische Bedeutung seiner Korrespondez betrifft. Der erhaltene Briefbestand umfaßt 6984 Nummern in zwölf Bänden (darunter natürlich auch Spuria und weniger zuverlässig überlieferte Stücke sowie Briefe, die von Leuten aus der Umgebung des Ignatius stammen).98 Die gewaltige dahinter stekkende Arbeit wäre nicht zu bewältigen gewesen ohne die Hilfe von Juan Alonso de Polanco, der dem Ordensgeneral ab dem Jahre 1547 als Sekretär zur Seite stand. Polanco stammte aus Burgos, wo er 1517 geboren wurde. 1541 trat er in Rom in die Gesellschaft Jesu ein; danach wurde er zum Theologie-Studium nach Padua geschickt. Nach Rom zurückgekehrt, unterstützte er Ignatius auch bei der Abfassung der Konstitutionen, an denen der Ordensgründer bis kurz vor seinem Tode schrieb. Polanco hat außerdem eine ausführliche (und im ganzen sehr zuverlässige) Biographie des Ignatius verfaßt." Wie IGNACIO IPARRAGUIRRE in der Einleitung seiner Auswahl der Briefe bemerkt, sind dieselben so etwas wie ein Kommentar zu den Exerzitien und den Konstitutionen. Er stellt des weiteren fest, daß es nicht möglich ist, die Briefe des heiligen Ignatius nach ihrem Inhalt in Kategorien einzuteilen, da sich bei ihm religiöse, politische, geistliche, persönliche Anliegen und Gesichtspunkte mischen können. Beide Feststellungen P. IPARRAGUIRRES sind gewiß zutreffend. Dennoch soll im folgenden der Versuch unternommen werden, dem Leser eine Auswahl aus dem riesigen Corpus nach inhaltlichen Gesichtspunkten vorzustellen. Kampf gegen

die

Häresien

Wer, unter dem Einfluß einer verbreiteten Vorstellung von den Jesuiten als den hauptsächlichen Kämpfern des gegenreformatorischen Lagers, sich in der Korrespondenz des Ignatius auf die Suche nach Zeugnissen seines Kampfes gegen die Häretiker begibt, der wird eine Enttäuschung erleben. Ähnlich ergeht es dem, der die Schmähungen zur Kenntnis genommen hat, mit denen

Korrespondenz

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die Reformatoren ihre katholischen Gegner überzogen, und den Unflat, mit dem die letzteren den Ketzern ihre Polemik heimzahlten. Die Namen von Luther und Calvin sucht man in den Registern der Korrespondenz des Ignatius vergebens.100 Dabei haben sie, parallel zu seinem Wirken in Rom, in Wittenberg, Genf und an anderen Orten ihre Kirchen auf- und ausgebaut, worüber er zweifellos gut informiert war. Der Grund, weshalb er die direkte Konfrontation mit den Protestanten vermieden und seinen Ordensbrüdern dringend davon abgeraten hat, liegt darin, daß er die Ausbreitung der Häresie letztlich als eine Folge der im katholischen Klerus herrschenden (moralischen und theologischen) Korruption angesehen hat.101 Die Reform hatte deshalb, nach seiner Ansicht - die er übrigens mit maßgebenden Persönlichkeiten der Römischen Kurie wie den Kardinälen Contarini, Cervini und Morone teilte im Inneren des kirchlichen Apparates einzusetzen. In dieser Hinsicht erhellend sind die Instruktionen, die er seinen drei am Trienter Konzil teilnehmenden Mitbrüdern zukommen ließ.102 Claude Le Jay weilte in Trient als Prokurator des Bischofs von Augsburg, des Kardinals Otto Truchsess von Waldburg; Diego Laynez und Alfonso Salmerón waren dort am 18. Mai 1546 als von Paul III. persönlich abgeordnete Konzilstheologen angekommen. Präsidenten des Konzils während dessen erster Tagungsperiode waren die Kardinäle Giovanni Maria del Monte (später Papst Julius III.: 1550-1555), Marcello Cervini (später Papst Marcellus II.: April 1555) und Reginald Pole; alle drei waren den Patres gegenüber sehr freundlich gesinnt. Ohne Zweifel waren die Jesuiten als Theologen auf das Konzil entsandt worden, das heißt, ihre Aufgabe bestand in der Erörterung und Klärung theologischer Sachprobleme. Ignatius scheint das etwas anders gesehen zu haben. (Wäre es nicht so, dann wäre eine Anweisung seinerseits überflüssig gewesen, denn die drei Gefährten verfügten über größeren theologischen Sachverstand als ihr Ordensoberer). Schon im ersten Satz seiner Instruktion wird unmißverständlich die Zielvorgabe für den Aufenthalt in Trient markiert: „zum Heil und geistlichen Fortschritt der Seelen" (para la salud y prouecho spiritual de las ánimas). Es folgen dann mehrere Anweisungen, die zur Zurückhaltung bei den theologischen Disputationen raten; zum Beispiel: Seien Sie zögerlich im Sprechen, bedächtig und liebenswürdig, vor allem beim Definieren der Sachen, die auf dem Konzil behandelt werden oder behandelt werden können.

Also keine übereilten Festlegungen; aber: Wenn die Sachen, die zur Debatte stehen, so gerecht sind, daß man nicht mit Schweigen darüber hinweggehen kann oder darf, dann teilen Sie darüber Ihre Ansicht mit der größtmöglichen Ruhe und Bescheidenheit mit, und schließen Sie mit dem Vorbehalt des besseren Urteils (salvo meliori iuditio).

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In dem Abschnitt, der überschrieben ist: „Um den Seelen zu helfen", gibt Ignatius den Gefährten nicht nur eine Umschreibung ihrer hauptsächlichen Aufgaben beim Konzil, sondern er gibt darüber hinaus der Kirchenversammlung eine Bestimmung in seinem Sinne: Zur größeren Ehre unseres Herrgotts ist die Hauptsache, die wir auf dieser Tagung von Trient anstreben sollten, indem wir vereint für eine gute Sache einstehen: predigen, Beicht hören und lesen, Knaben unterweisen, Beispiel geben, Arme in den Hospitälern besuchen und die Nächsten ermahnen, so wie es ein jeder mit diesem oder jenem Talent herausfinden kann, um die betreffenden Personen, so gut wir können, zu Andacht und Gebet zu bewegen, damit sie alle unseren Herrgott inständig bitten, seine göttliche Majestät möge ihren göttlichen Geist allen eingießen, die die Dinge behandeln, die zu den Aufgaben einer so hohen Versammlung gehören, damit der Heilige Geist mit größerer Fülle der Gaben und Gnaden auf dieses Konzil herabsteige. Man sieht: Ignatius hat kein Bedenken, seine Ordensbrüder von den theologischen Kontroversen des Konzils wegzuführen und sie zu Aufgaben anzuhalten, die er für wichtiger hält. Dazu gehört die Predigt (in der Stadt, außerhalb des Konzils!), in der kontroverstheologische Erörterungen zu vermeiden sind; eines ihrer Hauptziele ist vielmehr, die Menschen zum Blick in ihre Seelen (Introspektion) zu veranlassen, der seinerseits zur Erkenntnis und Liebe Gottes führt. Wenn Sie predigen, dann gehen Sie auf keinerlei Fragen ein, in denen sich die Protestanten von den Katholiken unterscheiden, sondern ermahnen Sie ganz einfach zu den guten Sitten und frommen Gebräuchen der Kirche, bewegen Sie die Seelen zur vollständigen Erkenntnis ihrer selbst und zur größeren Erkenntnis und Liebe ihres Schöpfers und Herrn; sprechen Sie ausführlich über das Konzil, und beginnen Sie jede Predigt mit einem Gebet für das, wovon anschließend die Rede ist. Drei Jahre später, am 24. September 1549, sandte Ignatius eine Instruktion an die Patres Claude Le Jay, Petrus Canisius103 und Alfonso Salmerön. Sie waren auf Bitten des Herzogs Wilhelm IV. von Bayern nach Ingolstadt entsandt worden, um die dortige Universität zu reformieren und ein Kolleg des Ordens zu gründen. Von den allgemeinen Verhaltensregeln sollen hier nur drei (Nr. 2, 5 und 6) angeführt werden: Der an sich beste und folglich für die anderen beispielhafte Lebenswandel besteht darin, daß jeglicher Anschein des Bösen, geschweige denn böse Dinge selbst, vermieden wird, und daß sie Bescheidenheit, Liebe und alle Tugenden zeigen. Durch Beispiele solcher Art, deren es sehr bedarf, wird Deutschland sehr geholfen werden, und durch sie werden, auch wenn sie selbst schweigen, die Angelegenheiten der Gesellschaft gefördert werden, und Gott wird für sie kämpfen.

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Man soll erkennen, wie sie nicht ihren Vorteil suchen, sondern denjenigen Jesu Christi, nämlich seine Ehre und das Heil der Seelen. Deshalb nehmen sie weder für Messen, noch für den Dienst am Wort oder an den Sakramenten ein Stipendium an, und sie dürfen keinerlei Einkünfte haben. Sie sollen sich liebenswert machen, indem sie durch Demut und Liebe allen alles werden. Sie sollen sich auch den Sitten dieses Volkes, soweit es der religiöse Charakter der Gesellschaft zuläßt, anpassen. Sie sollen nach Möglichkeit niemanden in Traurigkeit von sich weggehen lassen (außer wenn es seinem Heil dienlich ist); sie sollen jedoch in der Weise zu gefallen suchen, daß sie auf ihr Gewissen achten und allzu große Vertraulichkeit ihnen keine Verachtung einträgt. Auf die allgemeinen Grundsätze des Verhaltens folgen siebzehn spezielle Anweisungen: „Mittel, die am ehesten geeignet erscheinen, das vorgenannte Ziel, nämlich die Erbauung jenes Volkes im Glauben, der Lehre und dem christlichen Leben zu erreichen." Wir zitieren nur die drei ersten im Wortlaut, weil aus ihnen seine (skeptische) Auffassung von der theologischen Wissenschaft und das, was er als notwendig für die Reform der Kirche in Deutschland angesehen hat, klar hervorgeht: Das erste ist, daß sie in den öffentlichen Vorlesungen, für die sie hauptsächlich vom Herzog angefordert und vom Papst entsandt wurden, sich gut verhalten, indem sie eine solide Lehre vortragen, ohne viele scholastische Begriffe (welche Abneigung zu erzeugen pflegen), vor allem solche, die schwer zu verstehen sind; indem sie häufige, aber nicht weitschweifige, Vorlesungen in einem gepflegten Stil vortragen. Was die Disputationen und die übrigen scholastischen Übungen betrifft, so wird ihnen ihre Klugheit sagen, inwieweit sie sich ihrer bedienen. Das zweite: damit sie möglichst viele Hörer anziehen und diesen auf die beste Weise geholfen wird, sollen sie außer dem, was den Intellekt fördert, etwas Religiöses (aliquid pium) beimischen, um das Gefühl (affectum) anzuregen, damit die Hörer nicht nur gelehrter, sondern auch besser von den Vorlesungen nach Hause zurückkehren. Das dritte: außer diesen scholastischen Vorlesungen scheint es nützlich, wenn an den Feiertagen Vorträge oder Schriftlesungen stattfinden, die sich mehr darum bemühen sollen, das Gefühl in Bewegung zu setzen und die Sitten zu formen als um den Intellekt zu bilden; das könnte geschehen sowohl auf Lateinisch im Unterricht als auch auf Deutsch von Magister Canisius in einer Kirche, in der zahlreiches Volk zusammenströmt. Wenn aus den bisher zitierten Dokumenten der Eindruck entstanden ist, daß Ignatius bei der Bekämpfung der Häresien eher auf indirekte Mittel setzte, nämlich die Stärkung des eigenen katholischen Lagers im Glauben und in den moralischen Tugenden, ebenso daß er die Abtrünnigen mit Sanftmut und Liebenswürdigkeit wiedergewinnen wollte, so ergibt sich aus dem Brief, den er zwei Jahre vor seinem Tode, am 13. August 1554 an Petrus Canisius nach Wien schrieb, ein ganz anderes Bild.104 Der Brief, der den Charakter einer

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Denkschrift (Aide-mémoire) hat, besteht aus Ratschlägen zur Bekämpfung der Häresien, die der Adressat in geeigneter Form an den König Ferdinand I. herantragen soll. Die vorgeschlagenen Maßnahmen sind an Radikalität und Schärfe, wohl auch an Inhumanität, so leicht nicht zu überbieten, wenngleich man in der Mitte des 16. Jahrhunderts nicht gerade den Geist der Toleranz erwarten darf. Nicht ganz abwegig dürfte es dagegen sein, in den scharfen Formulierungen auch die Intransigenz eines alten und kranken Mannes zu sehen, der da mitten aus der unterträglichen Hitze des römischen Ferragosto einen Brandpfeil nach Norden schickt. Im übrigen ist der Brief auch ein Dokument von eminent politischem Charakter. Der Inhalt des Briefes ist, wie Ignatius betont, mit „einigen von den gewichtigen Theologen unserer Gesellschaft" abgestimmt,105 die „von besonderer Liebe zu Deutschland" erfüllt sind. Dieses Deutschland, für das der König die politische Verantwortung trägt, leidet an einer ansteckenden Krankheit, der Seelenpest (pestis animarum), die durch die Häresien verursacht wird.106 Wie man also bei einem schlechten Gesundheitszustand der Leiber zunächst all das, was die Krankheit bewirkt, beseitigen muß, sodann das, was die Kräfte und das Wohlbefinden stärkt, herbeiführen muß, so muß man auch bei dieser Seelenpest, die sich in den königlichen Provinzen durch die verschiedenartigen Häresien ausbreitet, zunächst zusehen, wie ihre Ursachen ausgemerzt werden können; danach, wie die Kraft der katholischen und gesunden Lehre in diesen Gebieten wiederhergestellt werden kann. Und ich möchte nur in aller Kürze die bloßen Konklusionen aufstellen; denn was unsere Gründe bei den einzelnen Feststellungen sind, kann jeder Einsichtige leicht erkennen. Die erste Voraussetzung für eine wirksame Bekämpfung der Häresien in Deutschland wäre nach Ignatius, daß sich der König nicht nur wie bisher als „katholisch" bezeichnen, sondern sich als erbitterten Feind der Irrlehren bekennen würde; sodann müßte er allen Häresien den offenen, nicht bloß geheimen Krieg erklären. Daraus ergäbe sich dann eine wichtige Folgerung: Der König dürfte unter seinen Beratern keinen Häretiker mehr dulden; des weiteren müßten die von der Häresie Infizierten aus den Regierungsgremien des Reiches, der Provinzen und der Städte entfernt werden; sie dürften auch zur Erlangung irgendwelcher Grade und Würden nicht mehr zugelassen werden. Um zu zeigen, daß man es mit den Angelegenheiten der Religion ernst meint, empfiehlt Ignatius, einige Exempel zu statuieren, entweder durch Hinrichtung oder Beschlagnahme ihres Besitzes und Ausweisung aus dem Land.107 Nach der Expurgierung der politischen Gremien von den Irrlehrern wird dem Herrscher die Durchleuchtung (von Reform kann man ja wohl schlecht reden) des gesamten höheren und niederen Unterrichtswesens ans Herz gelegt. Von der Universität Wien und allen übrigen Hochschulen sind die der Häresie verdächtigen Professoren und Verwaltungsbeamten zu entfernen; die

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akademischen Grade sollen ihnen aberkannt werden. Entsprechendes gilt für die Rektoren, Vorgesetzten und Lektoren der privaten Kollegien, die die Jugendlichen mit ihren Gedanken infizieren könnten. Auch für häretische Studenten, Lehrer und Erzieher soll es keinen Platz mehr im Herrschaftsgebiet des Königs geben, es sei denn, sie ziehen es vor, Katholiken zu sein, und bekennen sich auch öffentlich als solche. Die als nächstes vorgeschlagenen Maßnahmen betreffen die Handhabung der Bücherzensur: Die häretischen Bücher, die bei Buchhändlern und Privatleuten aufgespürt werden, sollen entweder verbrannt oder aus den königlichen Provinzen abtransportiert werden. Auch von Häretikern verfaßte Bücher, die keinen für die Glaubenslehre relevanten Stoff enthalten, wie die Grammatik, Rhetorik, Dialektik Melanchthons (es ist eine der seltenen Stellen, an denen ein Häretiker mit Namen genannt wird!), dürfen nicht geduldet werden, da die namentliche Erwähnung von Irrlehrern vermieden werden soll; sie schleichen sich nämlich gerade durch ihre (sprachlichen) Lehrbücher bei der Jugend ein. Gegen Verleger und Buchhändler, die Bücher drucken oder verkaufen, in denen Namen von Häretikern erwähnt sind oder auch nur Kommentare derselben zitiert werden, soll mit schweren Strafen vorgegangen werden. Danach befaßt sich Ignatius mit dem niederen Klerus: Kaplänen, Beichtvätern, Predigern; in ihnen sieht er die eigentlich Verantwortlichen für das Eindringen der Irrlehren nach Deutschland. Es sollen keine Kapläne und Beichtväter geduldet werden, die der Häresie verdächtig sind; werden sie aber der Häresie überführt, dann sollen ihnen sofort alle kirchlichen Einkünfte entzogen werden. Es ist nämlich besser, wenn die Herde ohne Hirten ist, als wenn sie einen Wolf zum Hirten hat.108 Die, was ihren Glauben betrifft, „katholischen" Seelsorger, die jedoch durch ihre große Unkenntnis und ihr schlechtes Beispiel das Volk verderben, sollen auf das schärfste bestraft und von den Bischöfen ihrer Einkünfte beraubt werden; ganz gewiß aber sind sie von der Seelsorge fernzuhalten. Ihr schlechter Lebenswandel und ihre Unkenntnis hat nämlich die Pest der Häresien nach Deutschland gebracht.

Wenn Ignatius von dem schlechten Lebenswandel des Klerus spricht, dann hat er sicherlich die Nichtbeachtung des priesterlichen Zölibats im Auge. Aus vielen zeitgenössischen Quellen geht hervor, daß ein Großteil des katholischen Klerus im Konkubinat lebte. Eine Möglichkeit der „Bekehrung" für solche Priester sieht die Denkschrift nicht vor. (Die Reformatoren strebten die Beseitigung der „Priester-Hurerei" an, indem die eheähnlichen Verbindungen von Priestern durch eine normale Eheschließung legalisiert wurden). Anders soll mit denen verfahren werden, die von der Kanzel Irrlehren verkünden: zwar werden auch für sie schwere Strafmaßnahmen vorgeschlagen, es soll ihnen jedoch eine Frist von einem Monat gesetzt werden, innerhalb deren sie umkehren und die Absolution in beiden Foren (dem der öffentli-

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chen Rechtsprechung und dem der Beicht) erlangen können. Danach sollen sie als rechtlos und aller Ehren für unfähig gelten.109 Und wenn es gut scheinen sollte, sie mit Verbannung oder Kerker oder gelegentlich auch mit dem Tode zu bestrafen, dann wäre das vielleicht am ehesten geraten. Aber von der Todestrafe und der Einführung der Inquisition will ich nicht sprechen, weil das über das Fassungsvermögen Deutschlands, bei der jetzt dort herrschenden Befindlichkeit, hinauszugehen scheint. Der nicht ausgesprochene Vergleich bezieht sich natürlich auf Länder wie Spanien, Portugal und Frankreich, deren Fassungskraft die Inquisition und die Todesstrafe für Ketzer zugemutet werden konnten. Eine Geldstrafe sieht Ignatius noch für diejenigen vor, die die Ketzer als „Evangelische" bezeichnen, damit sich der Teufel nicht darüber freuen kann, daß ausgerechnet die Feinde des Evangeliums und des Kreuzes Christi sich einen Namen aneignen, der im krassen Widerspruch zu ihren Taten steht. Im zweiten Teil des Memorandums wird eine Reihe von Maßnahmen aufgezählt, die der Einpflanzung „der soliden katholischen Wahrheitslehre" dienen sollen. Es gehört dazu zum Beispiel die Einführung der Bücherzensur ebenso wie die eines klar verständlichen Katechismus. Da ein großer Mangel an geeigneten Sellsorgern besteht, wird dem König dringend empfohlen, solche aus anderen Ländern, auch mit Aussicht auf hohe Entlohnung, heranzuziehen und in den eigenen Ländern möglichst viele Seminarien und Kollegien zur Ausbildung von Seelsorgern zu gründen. Die „neuen Kollegien" sollen sich am Vorbild des römischen Collegium Germanicum orientieren. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang ein Satz, aus dem (wieder einmal!) die Reserve des Ignatius gegenüber der scholastischen Theologie zu erkennen ist:110 Von Nutzen wird auch ein Handbuch (summa) der scholastischen Theologie sein, das so beschaffen sein soll, daß von ihm die Gelehrten unserer Zeit, oder die sich für Gelehrte halten, nicht abgeschreckt werden. Ein sehr hintergründiger Satz: in ihm wird einerseits die humanistische Kritik an der scholastischen Theologie anerkannt, andererseits aber auch die Eitelkeit der Humanisten mit einem Seitenhieb bedacht. Wie bereits bemerkt, wäre es unhistorisch, am Beginn des konfessionellen Zeitalters bei einem von dessen Protagonisten so etwas wie religiöse Toleranz zu erwarten. Es kann auch kein vernünftiger Zweifel an der Echtheit des Dokuments bestehen. Gleichwohl überrascht es doch einigermaßen, daß nicht mehr in erster Linie auf die geistige Auseinandersetzung und die Uberzeugungskraft der eigenen Sache vertraut, sondern an die politische Macht appelliert wird (wie es, mutatis mutandis, bei Luther und Calvin ebenso geschieht). Durch den heraufkommenden Konfessionalismus wurde das religi-

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ose Klima verschärft, das unter dem Einfluß des Humanismus und der durch ihn begünstigten Gesinnung und Mentalität duldsamer und liberaler gewesen war. Das Memorandum des Ignatius ist selbst ein Beweis dafür, daß man im politischen und administrativen Bereich die religiösen Differenzen nicht mehr für sehr wichtig hielt. Daß der kompromißlose katholische Standpunkt, wie ihn, unter dem Einfluß der Jesuiten, noch der Kardinal Otto von Waldburg auf dem Augsburger Reichstag (5. Februar - 25. September 1555) vertrat, nicht mehr durchsetzbar war, zeigen die Artikel des so genannten Religionsfriedens von Augsburg: Ferdinand I. verzichtete darauf, auf der Geltung des einen wahren katholischen Glaubens für das Reich zu bestehen.111 Später, auf der dritten Tagungsperiode des Konzils von Trient, setzte sich Ferdinand in seinem so genannten „Reformlibell" vom 6. Juni 1562 für die Zulassung der Priesterehe und des Laienkelchs ein; den gleichen Standpunkt ließ der Bayernherzog Albrecht V. durch seinen Orator Augustin Baumgartner vertreten.112 Die beiden mächtigsten katholischen Fürsten Deutschlands folgten also nicht in allem den Vorstellungen ihrer Ratgeber aus dem Jesuiten-Orden. Längerfristig setzten sich allerdings die radikaleren Reformvorstellungen des Ignatius in den katholisch gebliebenen Staaten Deutschlands und Europas durch.

Politische

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Obwohl Ignatius mit dem auf dem Montserrat zelebrierten Verzicht auf das Rittertum eigentlich die „Welt" verlassen hatte, hielt er zu vielen Damen und Herren seines Standes und Mitgliedern seiner Familie, aber auch zu politischen Großherren seiner Zeit alte Verbindungen aufrecht oder suchte neue zu knüpfen. Briefe rein politischen Charakters wird man allerdings bei ihm vergeblich suchen. Es geht ihm vielmehr immer vorrangig um religiöse Anliegen: das Heil der Seelen, die Ausbreitung des Ordens und Bewahrung seiner Eigenständigkeit, die Kirchen- und Klosterreform, die Stabilisierung der Christenheit und den Kampf gegen ihre Feinde. Seine Intentionen haben allerdings, bei aller bescheidenen Zurücknahme seiner Person, durchaus weltpolitischen Charakter. Und im Verlauf der römischen Jahre scheint das Bewußtsein seiner Bedeutung für die Kirche bei ihm zugenommen zu haben. Die konfessionelle Entwicklung in Deutschland war ein bevorzugter Gegenstand seiner Sorge. Dem entsprechen seine Bemühungen bei den katholischen deutschen Fürsten. Neben dem König Ferdinand I. suchte er in seinen letzten Lebensjahren vor allem den Bayernherzog Albrecht V. für seine Pläne zu gewinnen. Es ging dabei vor allem um die Festsetzung des Ordens an der Universität Ingolstadt und die Errichtung eines Kollegs nach dem Vorbild des römischen Collegium Germanicum. Diese Bemühungen werden durch einen Brief illustriert, den Ignatius am 4. Juli 1554 an Albrecht schrieb und dem er die Konstitutionen des Germanicum beifügte.113

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Mit Interesse und Sorge hat Ignatius auch die kirchlichen Verhältnisse in seinem Heimatland Spanien beobachtet. In zahlreichen Briefen suchte er direkten und, über die Mitglieder seines Ordens, indirekten Einfluß auf die politischen Machthaber auszuüben. Für die ihm seit seinem Aufenthalt in Barcelona am Herzen liegende Reform der katalanischen Frauenklöster bemühte er sogar den mächtigsten Fürsten Spaniens, den Prinzen Philipp persönlich. In einem um die Mitte des Jahres 1548 geschriebenen Brief versichert er den Thronfolger seiner Fürsprache bei der Allerheiligsten Trinität und bittet ihn, das Anliegen der Klosterreform nicht aus dem Auge zu verlieren.114 Schon am 28. Februar hatte er Philipp ein päpstliches Breve zukommen lassen, wohl in der Absicht, ihm den Rücken zu stärken und ihn von der großen Bedeutung des Anliegens zu überzeugen.115 Daß er sich in dieser Angelegenheit an die oberste politische Autorität Spaniens wendet, zeigt, daß der Widerstand gegen ein heiligmäßiges Leben der Klosterfrauen erheblich und von einflußreichen Kreisen getragen gewesen sein muß. Auch beweist es seine Hartnäckigkeit: er war nicht gewillt, die Niederlage, die er bei seinen früheren Bekehrungsversuchen der zuchtlosen Nonnen erlitten hatte, wegzustecken. Für sein diplomatisches Geschick spricht die Tatsache, daß er zugleich an den Sekretär Philipps, Gonsalvo Perez, einen persönlich gehaltenen Brief schreibt. Vier Jahre später hatte sich in der Angelegenheit noch immer nichts getan. Aber Ignatius ließ nicht locker. Am 3. Juni 1552 schreibt er erneut (in einigermaßen gewundenem Stil) an den spanischen Thronfolger:116 Es schien mir indes, nicht ganz in Vergessenheit geraten zu lassen, als die allgemeinen Kriegswirren es zuließen, wie ich auch in unserem Herrn hoffe, daß sie es zulassen werden, daß Eure Hoheit sich würdigt, daran zu denken, jenes so chrisdiche und heilige Werk der Reform der Klöster von Katalonien weiter verfolgen zu lassen. Und zu gegebener Zeit werde ich, in der Uberzeugung, darin unserem Herrgott und Eurer Hoheit einen guten Dienst zu erweisen, nicht aufhören, daran zu erinnern. Auch wenn man (aus der Geschichte) weiß, daß klösterlichen Mißständen kaum beizukommen ist, und es auch in dem von den Jesuiten geprägten Zeitalter des Barock Frauenklöster gab, in denen bordellähnliche Zustände herrschten, wird man der heiligen Hartnäckigkeit des Ordensgründers die Bewunderung nicht versagen. Sein ganzes diplomatisches Geschick mußte der Ordensgeneral aktivieren, als es darum ging, die Erhebung von Francisco de Borja zum Kardinal zu verhindern. Nach dem Tode seiner Gemahlin am 27. März 1546 hatte der Herzog von Gandia den Entschluß gefaßt, in die Gesellschaft Jesu einzutreten. Ignatius nahm den einflußreichen spanischen Granden aus der berühmten Familie (er war der Urenkel des Papstes Alexander VI. Borja) mit großer Freude als Bruder auf.117 Zweifellos um seinen Einfluß an der päpstlichen Kurie zu stärken, bemühte sich Karl V. im Jahre 1552 bei dem Papst

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Julius III., für Borja den Kardinalspurpur zu bekommen. In Verhandlungen mit den einflußreichen römischen Kardinälen, schließlich in einem längeren Gespräch mit dem Papst selbst konnte es Ignatius durchsetzen, daß der Status Borjas als einfacher Ordensmann „viel besser für den göttlichen Dienst" sei als der eines Kardinals.118 Dem Betroffenen selbst teilt er am 5. Juni 1552 in einem persönlich gehaltenen Brief mit, daß die in Rom anwesenden Priester der Gesellschaft während dreier Tage ihre Messen gelesen und die Laien ebenso lange ihre Gebete dafür dargebracht hätten, daß die gesamte Angelegenheit „zur größeren Ehre Gottes" (ä mayor gloria divina) ausginge. Am Ende der drei Tage sei er dann selbst zu einer Entscheidung gekommen, von der er überzeugt war, daß sie dem Willen Gottes vollkommen entsprach.119 Man darf vermuten, daß bei der Entscheidungsfindung auch nüchterne politische Erwägungen eine Rolle spielten: Als Kurienkardinal wäre Francisco de Borja dem Druck sowohl von päpstlicher wie von kaiserlicher Seite ausgesetzt gewesen, und über ihn wäre auch eine Einflußnahme auf den Orden möglich geworden, die nicht den Vorstellungen des Ignatius von dessen Aufgaben entsprochen hätte. Die kriegerischen Auseinandersetzungen Kaiser Karls V. mit den Türken beobachtete Ignatius mit großer Aufmerksamkeit. Es war bereits die Rede von dem Brief, mit dem er am 9. Juli 1550 den in Nordafrika kämpfenden christlichen Truppen den päpstlichen Jubiläumsablaß übermittelte.120 Fast schon skurrile Züge trägt der Versuch der Einmischung in den Türkenkrieg, den er zwei Jahre später unternahm. In seinem Auftrag übermittelte P. Polanco an P. Jeronimo Nadal, der sich damals im Messina aufhielt, einen detaillierten Plan zur Aufstellung einer großen Mittelmeer-Flotte (muy grande armada). Mit ihrer Hilfe sollten die permanenten Angriffe türkischer Korsaren auf die Küsten der christlichen Länder wirksam bekämpft werden. P. Nadal sollte den Plan, wohl über Juan de Vega, den Vizekönig von Sizilien, an den Kaiser herantragen.121 Ignatius führt zunächst neun Gründe an für die Notwendigkeit einer großen Flotte, von der Gefährdung des christlichen Glaubens durch die Ungläubigen bis zur Erhöhung der Ehre und des Ansehens der kaiserlichen Majestät bei Gläubigen und Ungläubigen. Mit Hilfe einer so großen Flotte könnten nicht nur die Küsten Spaniens und Italiens wirksam verteidigt, sondern auch verlorengegangene christliche Gebiete in Afrika, Griechenland und den Inseln des östlichen Mittelmeers zurückerobert werden. Man sieht: dem Projekt haften utopische Züge an. Auch für die Finanzierung der Flotte unterbreitet Ignatius einen ins einzelne gehenden Vorschlag; ihm schwebt vor, daß zunächst die reichen Orden (Hieronymiten, Benediktiner, Kartäuser u. a.) zur Kasse gebeten werden sollen, dann die Bischöfe, schließlich die Fürsten (der König von Portugal, der Herzog von Florenz) und die reichen Hafenstädte; lauter Institutionen also, die dafür bekannt waren, daß sie ihre Geldsäckel fest zuhielten. Der politisch unrealistische Plan läßt aber erkennen, wie sehr sein Autor der KreuzzugsIdee verhaftet war.

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IX. Ignatius in Rom

Missionierung der

Oikumene

Aus der Korrespondenz des Ordens generáis geht hervor, wie sich die Gesellschaft Jesu allmählich der Weltmission zuwandte. Schon im 13. Jahrhundert hatten die Franziskaner die Möglichkeiten der Missionierung in den asiatischen Herrschaftsgebieten der mongolischen Groß-Kahne erkundet. Durch die Entdeckungen der Spanier und der Portugiesen um die Wende des 15. Jahrhunderts hatte sich der Horizont der Oikumene erweitert. Da der Papst Paul III. den ersten Gefährten Rom und Italien als Gebiete für ihre Seelsorge zugewiesen hatte, reagierten sie auf weitergehende Ansinnen, die an sie herangetragen wurden, zunächst nur sehr zögerlich. Aus einem Brief, den Petrus Faber am 23. November 1538 im Namen aller in Rom anwesenden Patres an Diego de Gouvea, den Rektor des Kollegs Sainte-Barbe, schrieb, geht hervor, daß der ihnen allen aus ihrer Pariser Zeit wohlbekannte Professor und Diplomat sie im Namen des portugiesischen Königs Johann (Joäo) III. (1521-1557) gebeten hatte, einige aus ihrer Mitte nach Indien zu entsenden.122 Die Antwort lautet dahin gehend, daß die Gesellschaft dem Papst als dem „Herrn der gesamten Ernte Christi" verpflichtet sei; bereits der Kaiser habe um Missionare für die spanischen Gebiete in (West-)Indien nachsuchen lassen; ihre Antwort sei, im Blick auf ihre Verpflichtungen in Rom, negativ gewesen. Dennoch erklären sie ihre grundsätzliche Bereitschaft, weit reichende missionarische Aufgaben zu übernehmen, wenn es denn dem Willen Christi entsprechen sollte.123 Am 4. August 1539 schrieb der König Johann III. an seinen Gesandten in Rom, Dom Pedro Mascarenhas, einen Brief, in dem er ihm auftrug, über Leben, Ausbildung und Eignung der Pariser Magistri für die Mission in den portugiesischen Kolonialgebieten Erkundungen einzuziehen.124 Der König war bereits durch Diego de Gouvea über die Patres informiert worden und zu der Auffassung gelangt, daß sie geeignete Missionare für die eroberten Gebiete in Indien seien. Mascarenhas bemühte sich in den folgenden Monaten, neben zahlreichen anderen diplomatischen Geschäften an der päpstlichen Kurie, um die Zustimmung Pauls III. für die Entsendung von einigen der Magistri. Der Papst hielt die Patres für geeignet, die neu bekehrten Völker im Glauben zu unterrichten; er wollte aber die Entscheidung darüber, ob sie die lange, gefahrvolle Reise auf sich nehmen sollten, den Betroffenen selbst überlassen. Mascarenhas bat darauf Ignatius, dem König sechs der Gefährten als Missionare für Indien zur Verfügung zu stellen. Da die meisten von ihnen bereits wichtige Aufgaben übernommen hatten, konnten nur zwei Patres freigestellt werden, die der Papst als seine Legaten für Indien bestimmte. Die Wahl fiel zunächst auf Rodrigues und Bobadilla; da aber der letztere schwer erkrankt war, erteilte Ignatius an seiner Stelle Francisco Javier den Auftrag, nach Indien zu reisen (14. März 1540). Francisco, der bis dahin Ignatius als Sekretär gedient hatte, gab am folgenden Tag drei schriftliche Erklärungen ab;

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die erste enthielt seine Zustimmung zu den (noch nicht abgeschlossenen) Konstitutionen der Gesellschaft Jesu; die zweite war sein Votum für die bevorstehende Wahl des Oberen der Gesellschaft; die dritte enthielt seine Ordensgelübde, die mit der Konstituierung der Gesellschaft Gültigkeit haben sollten.125 Francisco Javier reiste im Gefolge des Gesandten Mascarenhas auf dem Landweg nach Portugal. Da der Weg sie über Loyola führen sollte, schickte Ignatius ihm nach Bologna ein Empfehlungsschreiben nach, das für seinen Neffen Beiträn, den neuen Hausherrn des väterlichen Schlosses, bestimmt war.126 Dom Pedro und seine Begleiter erreichten Loyola gegen Anfang Juni 1540; am Ende desselben Monats zogen sie in Lissabon ein. Von dort sandte Francisco an Ignatius einen kurzen Bericht über den Verlauf der dreimonatigen anstrengenden Reise.127 Er konnte erst am 7. April 1541 mit der damals auslaufenden portugiesischen Flotte die Fahrt nach Indien antreten. Simon Rodrigues blieb auf Wunsch des Königs in Lissabon zurück.128 Francisco kam am 6. Mai 1542 im Hafen von Goa an; mit diesem Datum wird der Beginn der missionarischen Tätigkeit des Jesuiten-Ordens in Asien markiert.129 Eines der bevorzugten Interessengebiete der portugiesischen Politik war damals das Königreich Äthiopien. Da es seit Jahrzehnten von den Türken bedrängt wurde, hoffte man, in dem Herrscher, der in Europa als „Priester Johannes" (portugiesisch: Preste Joham) bezeichnet wurde, einen Bundesgenossen gegen den Großtürken gewinnen zu können. Es bestand auch die Hoffnung, die äthiopischen Christen unter die Obödienz des Apostolischen Stuhls zu führen. König Johann III. wandte sich im August 1546 in dieser Angelegenheit an Ignatius persönlich.130 Die Antwort des Ordensgenerals ist freundlich, aber hinhaltend; er möchte zu „größerer Klarheit in dieser Angelegenheit" kommen.131 Aus der weiteren Korrespondenz geht hervor, daß der derzeitige Negus Galaw Dewos (in Europa „Claudius" genannt), der Nachfolger des 1540 verstorbenen Lebna Danguil (alias „David"), bereit sei, sich dem Apostolischen Stuhl zu unterwerfen und um die Entsendung eines Patriarchen für die Äthiopische Kirche gebeten habe. Der portugiesische Gesandte in Rom, Balthasar de Faria, schlug dem Papst vor, Petrus Faber zum Patriarchen zu ernennen.132 Faber war jedoch am 1. August 1546 in Rom gestorben.133 Inzwischen war Ignatius in der äthiopischen Angelegenheit zu einer klaren Meinung gekommen. Er teilte sie dem portugiesischen König in einer handschriftlichen Notiz mit, die dem oben erwähnten Brief beigelegt wurde; sie lautet:134 Ich bin in unserem Herrn zu der Meinung gelangt, die folgenden Zeilen eigenhändig zu schreiben: Wenn die anderen Gefährten mit der gleichen Befähigung oder Berufung, zu der uns seine göttliche Majestät (so weit wir das beurteilen können) gerufen hat, mich nicht daran hindern - ich kann mich ja nicht allen widersetzlich zeigen, doch glaube ich, daß sie es nicht tun werden - , dann biete ich mich an, wenn kein anderer von unseren Gefährten diese Aufgabe in Athio-

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pien übernehmen will, sie liebend gern zu übernehmen, wenn sie mir aufgetragen wird.

Weder der König von Portugal noch der Papst zeigten aber in den darauf folgenden Jahren ein Interesse daran, die Pläne für Äthiopien weiter zu verfolgen. Sieben Jahre später kam Ignatius darauf zurück. Am 28. Juni 1553 schreibt er an Francisco Javier - die Nachricht von dessen Tod Anfang Dezember 1552 war noch nicht nach Europa gelangt - , um ihn nach Portugal zurückzurufen. Francisco sollte dort im Auftrag des Königs verschiedene wichtige Missionsaufgaben übernehmen; Ignatius denkt an eine Koordination der Vorhaben in den portugiesischen Kolonialgebieten in Brasilien, (West-)Indien und Afrika (Guinea, Kongo); außerdem sollte er bei Johann III. das Interesse für Äthiopien wiedererwecken.135 In der ersten Jahreshälfte 1555 nahm das äthiopische Projekt konkrete Gestalt an. Obwohl Ignatius prinzipiell die kirchlicher Würden durch Mitglieder seines Ordens ablehnte, hatte er nichts dagegen, wenn sie zu Bischöfen für Missionsgebiete geweiht wurden. Nach längeren Verhandlungen mit dem König Johann III. wurde P. Joäo Nuñes Barreto zum Patriarchen für Äthiopien erwählt. In den Patres Andrés de Oviedo und Melchior Carneiro wurden ihm zwei Weihbischöfe (mit dem Recht der Nachfolge) zugesellt; außerdem sollten zwölf weitere Mitglieder der Gesellschaft als Missionare nach Äthiopien reisen. Nuñes und Oviedo erhielten am 5. Mai 1555 in Lissabon die Bischofsweihe. Schon im Februar des gleichen Jahres hatte Ignatius dem neu erwählten Patriarchen eine ausführliche Instruktion zukommen lassen.136 Es geht darin vor allem um die „Rückführung der Königreiche des Priesters Johannes zur Einheit mit der Kirche und der katholischen Religion". Im einzelnen enthält das Memorandum zahlreiche Anweisungen, wie die Sakramente, der Kultus, die Lehre der römischen Praxis angeglichen werden können, aber auch Richtlinien für Verhalten und Moral, zum Beispiel, daß die Bischöfe sich als Hirten benehmen und sich vor pompösem Gehabe ebenso hüten sollen wie vor der Habgier. Zur Empfehlung der in das Herrschaftsgebiet des Negus entsandten Missionare schrieb Ignatius am 23. Februar 1555 „an den König Claudius von Abessinien" einen langen Brief. In ihm belehrt er ihn über den Primat des Bischofs von Rom, durch den allein die Einheit der Kirche garantiert werde. Er erinnert den Herrscher daran, daß sein Vater David unter Eingebung des Heiligen Geistes den Apostolischen Stuhl anerkannt und dem Papst Gehorsam zugesagt habe.137 Trotz dem persönlichen Engagement und den großen Mühen, die Ignatius über viele Jahre hin in das äthiopische Projekt investierte, war es zum Scheitern verurteilt. Der auf den Rat von Pedro de Mascarenhas (er war inzwischen Vizekönig von Indien geworden)138 als Vorbote von Goa aus an den Negus Galaw Dewos entsandte P. Gonzalo Rodrigues wurde zwar von dem König empfangen, mußte aber unverrichteter Dinge wieder abreisen, als der

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Zweck seiner Mission bekannt wurde. Der Negus dachte offenbar nicht daran, sich dem Papst zu unterwerfen und für die Kirche Äthiopiens Anweisungen aus Rom zu akzeptieren. Der designierte Patriarch Nuñes kam niemals nach Afrika; er starb 1562 in Goa. Sein Weihbischof P. Oviedo gelangte zwar 1557 nach Äthiopien, konnte aber in vielen Jahren so gut wie keinen Erfolg erringen. Der Hauptgrund für das Scheitern des äthiopischen Unternehmens liegt auf der Hand: Ignatius hatte keinerlei tiefere Kenntnis von den religiösen Verhältnissen in dem afrikanischen Land, der Eigenart seines in Jahrhunderten gewachsenen Christentums, der Mentalität des Herrschers und des Volkes. Er sah in ihnen nichts anderes als Häretiker, bei denen die römisch-päpstliche Gestalt des Christentums und seine eigene Vorstellung von dessen Wahrheit durchzusetzen waren. Zeugnisse spirituellen Lebens und theologischen Denkens Ein seelsorgerliches Schreiben im prägnanten Sinne, das auch einiges über den theologischen Horizont seines Verfassers durchblicken läßt, ist der Trostbrief, den der Heilige an seine Schwägerin Magdalena anläßlich des Todes seines Bruders Martín Garcia schrieb.139 Er ermahnt sie, nicht traurig zu sein, angesichts der Gewißheit, daß ihr Mann bereits in der himmlischen Glorie ist. Diese Gewißheit leitet er aus der Tatsache her, daß er für seinen Bruder eine Messe an einem privilegierten Altar gelesen hat; jede Zelebration an einem solchen Altar bewirkt die Befreiung einer Seele aus dem Fegfeuer. Man sieht, daß Ignatius die Ablaßlehre in ihrer krassesten Form, die in der spätmittelalterlichen Theologie durchaus umstritten war, mit großer Naivität verinnerlicht hat. Was die päpstlich approbierten Formen des Kultus betrifft, kennt Ignatius keine innere Distanz oder kritische Reflexion. Aus der Zeit seines Studiums in Paris ist ein längerer Brief an seinen Bruder Martín Garcia erhalten (Ende Juni 1532). Ignatius hatte zu ihm ein eher kühles Verhältnis. (Martin hatte sich seinen Plänen, die Welt zu verlassen, von Anfang an widersetzt und noch bei seinem letzten Aufenhalt in Azpeitia versuchte er, ihn umzustimmen). Äußerer Anlaß des Briefes war die Absicht von Martins jüngstem Sohn Millán, ein Studium aufzunehmen, wohl in der Absicht, die geistliche Laufbahn einzuschlagen.140 Ignatius rät dazu, der junge Mann solle sich mehr der Theologie als dem kanonischen Recht widmen, weil dieses Studium für den Erwerb dauerhafter Reichtümer nützlicher sei und auch für den Vater eine Erleichterung in seinem Alter bringen werde (y para daros más descanso en vuestra senectud). Natürlich ist an die geistliche Unterstützung gedacht, die der Sohn dem Vater im Alter geben kann. Ignatius empfiehlt dem Bruder die Pariser Universität als besten Studienort in der Christenheit (er rät also implizit von einem Studium an einer der spanischen Universitäten ab); er verspricht ihm, sich des Neffen anzunehmen, damit er sich auf das Studium konzentriert und sich von schlechter Gesellschaft fernhält.

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Bemerkenswert und aufschlußreich ist der zweite Teil des Briefes. Martin hatte sich offenbar darüber beklagt, daß ihm Ignatius lange nicht geschrieben hatte. Der holt nun zu einer ausführlichen Rechtfertigung aus, wobei er seine Lage mit der des Apostels Paulus nach dessen Bekehrung vergleicht. Ähnlich wie Paulus plagte ihn „ein Pfahl in seinem Fleisch, ein Satansengel" (2 Cor 11,7); er entdeckte in seinen Gliedern „das andere Gesetz, das dem Gesetz des Geistes widerstreitet" (Rom 7,23); „das Fleisch begehrt wider den Geist, der Geist wider das Fleisch" (Gal 5,17); in seiner Seele fand er einen Zustand des Aufruhrs vor, der ihn zu dem Ausspruch veranlaßte: „Das Gute, das ich will, tue ich nicht; das Böse, das ich nicht will, tue ich; was ich tue, verstehe ich nicht" (nach Rom 7,15). Später gelangte er dann zu einem Seelenzustand, der sich in dem Satz widerpiegelt: „Ich bin gewiß, daß weder Tod noch Leben noch Engel, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, noch ein anderes Geschöpf mich trennen können von der Liebe unseres Herrn Jesus Christus" (nach Rom 8,38f.). Er führt also seine spirituelle Entwicklung als Hauptgrund dafür an, daß er an seinen Bruder und die übrigen Mitglieder seiner Familie über längere Zeit nicht geschrieben hat. Auffällig ist, daß er seine Darlegung in eine Kette von Zitaten aus den Paulus-Briefen kleidet und damit seinen geistlichen Weg zu dem des Apostels in Parallele setzt.141 Er zitiert übrigens aus dem Gedächtnis, das heißt, nicht wörtlich, aber in lateinischer Sprache! Wollte er damit seiner Darlegung zusätzliches Gewicht und zusätzliche Glaubwürdigkeit verleihen? Er gibt noch zwei weitere Gründe für sein jahrelanges Schweigen an: 1. seine Studien und die vielen Gespräche „in der Mehrzahl nicht weltlichen Charakters", die er zu führen hatte; 2. er nahm an, daß Briefe von seiner Seite nichts zum Dienst und zur Ehre Gottes beitragen und auch seinen Verwandten keinerlei Hilfe bringen könnten. Schließlich versichert er seinen Bruder und alle Verwandten und Freunde seiner aufrichtigen Liebe und Zuneigung „zum Dienst und zur Ehre Gottes", nicht um irgendwelchen weltlichen Vorteil daraus zu ziehen. Im Stil der „verdeckten Mitteilung" schreibt er weiter, er habe volles Verständnis dafür, wenn einer sich um die Mehrung seines Besitzes, Standes und Rufes bemühe, doch müsse der Betreffende sich an die Mahnung des Paulus (1 Cor 7,29-31) erinnern - es ist die berühmte „Als-ob-nicht"-Stelle, die er wieder aus dem Gedächtnis und auf Lateinisch zitiert:142 Wir müssen die Dinge gebrauchen, als ob wir sie nicht gebrauchten, sie besitzen, als besäßen wir sie nicht, eine Frau haben, als hätte man sie nicht; denn die Gestalt dieser Welt ist von sehr kurzer Dauer. In den hier vorgestellten Passagen des Briefes, den der Philosophie-Student Inigo aus Paris an seinen Bruder schrieb, ist vielleicht das ausführlichste Stück (angewandter) biblischer Theologie im engeren Sinne aus seiner Feder erhalten.

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In vielen seiner Briefe hat Ignatius einzelnen Personen genaue Anweisungen und Ratschläge zur Vervollkommnung ihres spirituellen Lebens im Sinne seiner Exerzitien gegeben. Der Lenkung des eigenen Willens und der Uberwindung von Versuchungen, hinter denen letztlich immer der „Feind" schlechthin, der Satan, steht, kommt dabei große Bedeutung zu. Der für die Kenntnis der von Ignatius praktizierten individuellen Seelsorge besonders aufschlußreiche Brief an den Herzog von Gandia, Francisco Borja, vom 20. September 1548H3 enthält sowohl allgemeine geistliche Verhaltensregeln „Sorgen Sie immer dafür, daß die eigene Seele ruhig, friedlich und bereit ist, wenn unser Herr in ihr tätig werden will" - als auch spezielle Anweisungen für die Lebensweise - „Was Fasten und Abstinenz betrifft: ... Achten Sie darauf, Ihren Magen zusammen mit den anderen natürlichen Kräften zu stärken und nicht zu schwächen" Denn den Körper müssen wir in dem Maße fördern und lieben, daß er der Seele gehorchen und ihr helfen kann, und die Seele ihrerseits sich mit dieser Hilfe und diesem Gehorsam mehr auf den Dienst und das Lob unseres Herrn und Schöpfers einstellen kann. Obwohl er dem Herzog noch weitere ins einzelne gehende geistliche Ratschläge erteilt, verweist er ihn aber dann abschließend doch auf die Leitung durch den Heiligen Geist, in die er Vertrauen hat. Ignatius hat auch, als sich sein Leben dem Ende zuneigte, auf die individuelle Form der Seelsorge nicht verzichtet. Ein junges Mitglied der Gesellschaft, P. Emerio de Bonis, der in Padua die erste Schulklasse unterrichtete, hatte unter schweren Versuchungen des „Feindes" zu leiden: er fühlte sich von seinen Schülern körperlich angezogen (pädophile Neigungen treten nicht erst in geistlichen Anstalten des 20. und 21. Jahrhunderts auf!). Der Ordensgeneral läßt dem dermaßen Angefochtenen (am 23. Mai 1556) durch P. Polanco raten, er solle in den Personen seiner Schüler nicht Schönheit oder Anmut betrachten, sondern sie als Abbild der Allerheiligsten Dreifaltigkeit, als Glieder Christi sehen; außerdem solle er Vertraulichkeiten meiden, nur in der Öffentlichkeit mit ihnen zusammenkommen, niemals an einem privaten oder geheimen Ort; die auswärtigen Schüler dürfen sich nicht im Haus (des Kollegs) aufhalten. Von diesen Verhaltensregeln verspricht sich Ignatius „Wachstum im Dienst Gottes und auf dem Wege der Vollkommenheit".144 Daß sie den P. Emerio von seinen homosexuellen Neigungen geheilt haben, darf man bezweifeln. Ignatius selbst und die ersten Pariser Gefährten hatten ihre Sexualität mit zum Teil rigorosen Bußpraktiken in den Griff bekommen (oder unterdrückt). Bereits in der zweiten Generation des Ordens, der inzwischen zahlenmäßig gewaltig angewachsen ist, zeigt sich, daß die Unterdrückung natürlicher Regungen nicht auf Dauer funktioniert. Der Brief an P. Emerio zeigt überdies, daß schon in den ersten Jahrzehnten nach der Gründung der Gesellschaft

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Menschen mit homosexuellen Neigungen in ihr Zuflucht suchten, was bei einem Orden, der sich in großem Umfang pädagogischen Aufgaben widmet, absolut nichts Besonderes ist. In Neapel lebte ein vornehmer Mann, Geronimo Vignes, der die Gesellschaft Jesu in außerordentlicher Weise förderte und Ignatius persönlich sehr verbunden war. Zwei seiner Brüder, Michele und Fabrizio, waren Mitglieder des Ordens. Neben den mehr geschäftlichen Dingen, die es mit Vignes zu verhandeln gibt (er kümmerte sich u.a. um die Gründung eines Kollegs in Neapel), zeigt sich der Ordensgeneral um sein Seelenheil besorgt. In einem Brief vom 17. November 1555 warnt er ihn vor allzu vielen Sorgen und seelischen Ängsten und verweist ihn auf die Vorsehung Gottes, der in seiner Güte da eingreift, wo unsere Unvollkommenheit und Schwachheit versagt.145 An die göttliche Vorsehung erinnert er den Adressaten auch in einem wenige Tage später (24. November) geschriebenen Brief, aus dem hervorgeht, daß Vignes von finanziellen Schulden bedrückt wird.146 Er hatte die Ordensgelübde bereits abgelegt, doch Ignatius hielt es für besser, daß er vorerst zu Hause blieb und sich um seine betagten Eltern kümmerte. Von diesen Umständen ist in einem Brief vom 18. Januar 1556 die Rede, den P. Polanco im Auftrag des Generals schrieb147 (wir sind damit bereits im Todesjahr des Ignatius). Am 17. Mai des gleichen Jahres gratuliert er Vignes zu dessen wiederhergestellter Gesundheit und ermahnt ihn erneut, die anstehenden Arbeiten mit Mäßigung und Gelassenheit anzugehen.148 Aus der Korrespondenz insgesamt wird deutlich, daß Ignatius in der Fülle seiner organisatorischen und politischen Geschäfte bis kurz vor seinem Tode von der Sorge für die Seelen erfüllt war. Es konnte hier nur, stichgräbenartig, einiges Charakteristische aus dem riesigen Briefcorpus hervorgeholt und dem Leser vorgestellt werden.

X ZEITGENOSSEN

1. Papst Paul III. Es war der Papst Paul III. (Alessandro Farnese) persönlich, der Ignatius und seinen Gefährten die „verschlossenen Fenster" in Rom öffnete. 1 Der Sproß aus einem mächtigen römischen Adelshaus hatte den Apostolischen Stuhl für die verhältnismäßig lange Zeit von siebzehn Jahren, von 1534 bis 1549, inne. Sein komplizierter Charakter entzieht sich eindeutiger Beurteilung. Seine Bedeutung für die Kirchenreform, die vor allem in der Einberufung des Konzils von Trient, und sein Mäzenatentum für die Kunst, das in der Berufung Michelangelos als leitendem Baumeister für St. Peter und Maler der Fresken in den Kapellen des Vatikan sichtbar wird, reihen ihn unter die weltgeschichtlichen Persönlichkeiten ersten Ranges ein. Der Pontifikat Pauls III. markiert die Grenze zweier Epochen. Er selbst war noch ganz vom Geist der Renaissance geprägt. Geboren im Februar 1468, wurde er 1493 von Alexander VI. Borgia (1492-1502) zum Kardinal erhoben. Die Zeitgenossen vermuteten, daß er diesen Aufstieg der Tatsache verdankte, daß seine schöne Schwester Giulia Farnese (1474—1524) die Geliebte des Papstes war. 2 Der jugendlichen „Sittenlosigkeit" (ein Begriff, mit dem man vorsichtig sein sollte, da er mit Vorliebe von späteren, selbsternannten Kirchenreformern verwandt wird) des Kardinals entstammten seine Kinder Pier Luigi und Costanza, die ihrerseits für Nachwuchs sorgten. Obwohl er seine Enkel reichlich mit kirchlicher Macht und zeitlichen Gütern ausstattete, erlebte er an ihnen nicht nur reine Freude. Die historische Beurteilung der Persönlichkeit Pauls III. hängt unter anderem davon ab, ob man ihn vorwiegend an politischen oder an kirchlichreligiösen Kriterien mißt. (Man kann die entsprechenden Darstellungen in den kirchen- und universalgeschichtlichen Werken nachlesen).3 Selbstverständlich müssen beide Gesichtspunkte berücksichtigt werden, wobei die zeitliche Distanz den modernen Betrachter zur Zurückhaltung mahnen sollte. Mir scheint der Charakter Pauls III. am besten in Tizians berühmtem Porträt erfaßt zu sein. Der englische Kunsthistoriker KENNETH CLARK schreibt dazu: „Auf den ersten Blick scheint er ein schlauer alter Fuchs zu sein, aber wenn Sie sein von Tizian gemaltes Porträt in Neapel betrachten - eines der größten Porträts, die jemals gemalt wurden - , ist es ein weises altes Haupt, und je länger Sie hinschauen, umso eindrucksvoller wird es. Und er traf die beiden Entscheidungen, die für die erfolgreiche Bekämpfung der Reformation wichtig waren: er bestätigte den Jesuitenorden und er berief das Konzil von Trient

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X. Zeitgenossen

ein."4 C L A R K weist auch darauf hin, daß auf seine Veranlassung Michelangelo das Jüngste Gericht in der Cappella Sistina fertigstellte und schließlich in seinem Auftrag „die geheimnisvollen, ehrfurchtgebietenden Fresken in in der Cappella Paolina" malte,5 auf denen er sich zweimal in einem idealen Selbstporträt verewigt hat. Diese letzten, bis heute noch nicht hinreichend beachteten und gedeuteten Fresken, die Bekehrung des Paulus auf der linken und die Kreuzigung des Petrus auf der rechten Seitenwand der päpstlichen Kapelle, vollendete Michelangelo in den Jahren 1542-1550 - man würde gern sagen: unter den Augen des Ignatius, aber der wird davon kaum Kenntnis genommen haben. Dagegen wird sich der Papst das Werk seines Schützlings sehr genau angesehen haben. Und es spricht für seine Größe, daß er in seiner Privatkapelle den zornigen Blick seines Vorgängers, des gekreuzigten Apostels Petrus, auf Augenhöhe ertragen hat.

2. Papst Marcellus II. Mit Marcellus II. war ein Mann an die Spitze der Römischen Kirche gelangt, der sich die Ideen der Kirchenreform aus tiefster Uberzeugung zu eigen gemacht hatte. Seine Pläne zu verwirklichen, war ihm nicht vergönnt, da er den Apostolischen Stuhl nur für weniger als einen kurzen Augenbklick der Weltgeschichte innehatte: sein dreiwöchiger Pontifikat (9. April bis 1. Mai 1555) ist einer der kürzesten der Kirchengeschichte.6 Marcello Cervini entstammte einer Familie aus Montepulciano bei Siena. Sein Vater Ricciardo diente den Päpsten Innocenz VIII., Alexander VI., Leo X. und Clemens VII. als Beamter in verschiedenen Funktionen und als wissenschaftlicher Berater bei der Korrektur des Kalenders. Marcello wurde am 6. Mai 1501 in Montefano bei Macerata in der Mark Ancona geboren, wo sein Vater damals als VizeSchatzmeister amtierte. Seine Mutter war Cassandra Benci, mit der der Vater in erster Ehe verheiratet war. Ricciardo war ein vielseitig gebildeter Gelehrter; Marcello erhielt durch ihn auf dem Landgut Castiglione d'Orcia bei Montepulciano seinen ersten Unterricht in Grammatik, Rhetorik, Arithmetik, Astronomie und Geometrie. Während seines anschließenden Studiums in Siena widmete sich Marcello der Dialektik, Mathematik, Astronomie und Architektur. Sein Interesse galt aber auch der antiken und humanistischen Literatur und der Altertumskunde. Ab 1525 setzte er seine Studien in Rom fort, wo er zahlreiche Gelehrte und Literaten kennenlernte. Im Auftrage Clemens' VII. unterstützte er seinen Vater bei dessen Arbeiten an der Verbesserung des Kalenders. Er hatte sich damals bereits zu einem universal gebildeten Gelehrten und Bücherfreund entwickelt. Er war der Meinung, der geistige Verkehr mit den Toten (d.h., den Büchern) sei die nützlichste und sicherste Beschäftigung. Wegen der in Rom ausgebrochenen Pest mußte Marcello im Mai 1526 nach Montepulciano zurückkehren, wo er seinem Vater in der Landwirt-

Papst Marcellus II.

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Schaft und bei der Verwaltung der Familiengüter beistand. Daneben beschäftigte er sich mit Übersetzungsarbeiten; so übertrug er Ciceros Werk De amicitia ins Italienische. 1531 nach Rom zurückgekehrt, fand er freundliche Aufnahme bei dem Kardinal Alessandro Farnese, der ein Studienfreund seines Vaters war. Nach dem Tode des Vaters (2. April 1534) fiel Marcello die Rolle des Familienoberhaupts zu. Von seiner zweiten Frau Leonora Egidi Cacciaconti hatte Ricciardo noch zwei Söhne und fünf Töchter bekommen; (eine von ihnen, Cintia, wurde die Mutter des bedeutenden Jesuiten-Theologen und Kardinals Robert Bellarmin). Es ist bekannt, daß Menschen, die mit der Erziehung zahlreicher Geschwister beschäftigt waren, später nicht selten auf Ehe und eigenen Nachwuchs verzichten. Nachdem er die familiären Verhältnisse geordnet hatte, begab sich Marcello Cervini erneut nach Rom. Dort hatte inzwischen (Oktober 1534) sein Gönner Alessandro Farnese als Paul III. den Apostolischen Stuhl bestiegen. Der Papst nahm ihn in den Kreis seiner Famiiiaren auf und übertrug ihm die Erziehung seines Enkels, des jungen Alessandro Farnese (er war der älteste Sohn des Papstsohnes Pierluigi). Als dem Kardinal-Nepoten 1538 die Leitung der Staatsgeschäfte übertragen wurde (er war eben einmal achtzehn Jahre alt!),7 erlangte Cervini als dessen Sekretär eine der einflußreichsten Stellen an der Römischen Kurie. Zugleich war er der engste Vertraute des Papstes, neben dessen Privatgemächern ihm eine Wohung zugewiesen wurde. Cervinis kirchliche Karriere begann im Jahre 1539, als er das Bistum Nicastro erhielt. Am 10. Dezember des gleichen Jahres erhob ihn Paul III. zum Kardinal mit der Titelkirche S. Croce in Gerusalemme. Im folgenden Jahr 1540 wurde er Bischof von Reggio Emilia. Er begleitete Alessandro Farnese bei dessen Legationen zu König Franz I. von Frankreich und Kaiser Karl V. Bemerkenswert ist sein abschließender Bericht über die desolate Lage der katholischen Kirche in Deutschland und deren Ursachen, in dem er vor allem den Verfall des deutschen Episkopats eindrucksvoll schildert.8 1544 wurde Cervini zum Bischof von Gubbio ernannt. In diesem, wie in den beiden anderen Bistümern, die er nacheinander innehatte, war er um die Durchsetzung von Reformen bemüht. Er weigerte sich jedoch beharrlich, die Bischofsweihe zu empfangen. Im Herbst 1541 hatte er den Papst bei dessen Zusammentreffen mit Karl V. in Lucca begleitet. 1543 war es dann, hauptsächlich wegen der skrupellos betriebenen Familienpolitik der Farnese, zum Bruch mit dem Kardinal-Nepoten gekommen. Gleichwohl ernannte Paul III. am 22. Februar 1545 Cervini zu einem der drei Legaten beim Konzil von Trient (neben Giovanni Maria del Monte, dem späteren Papst Julius III. und dem Engländer Reginald Pole); als solcher war er um die disziplinäre und theologische Erneuerung der durch die Reformation stark angeschlagenen Katholischen Kirche bemüht. Schon damals machten sich bei ihm Anzeichen eines schweren Nierenleidens bemerkbar. Die überaus strenge aszetische Lebensweise, die er seinem schwachen Körper zumutete, war seiner Gesundheit alles andere als förderlich.

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Wie bereits angedeutet, war Cervini ein großer Bücherfreund. Die Vatikanische Bibliothek hielt er für den größten Schatz des Apostolischen Stuhls; als ihn Paul III. 1548 mit deren Neuordnung betraute, hatte er den ihm gemäßen Arbeitsplatz gefunden. Er widmete sich der Katalogisierung der lateinischen und griechischen Handschriften und vermehrte den Bestand der Biblioteca Vaticana an Büchern und Handschriften, zum Teil aus seinen eigenen Mitteln, beträchtlich. Außerdem legte er eine Sammlung antiker Münzen und Inschriften an. Inzwischen hatte Julius III. (1550-1555) ihn zum Bibliothekar auf Lebenszeit ernannt. In dem Konklave, das nach dem Tode Paulus III. (10. November 1549) tagte, hatte der Einspruch Kaiser Karls V. Cervini aus der Zahl der Kandidaten für die Nachfolge ausgeschlossen. Zu dem neuen Papst Julius III., der ihn persönlich hochschätzte, ging er zunehmend auf Distanz, da die Kurie die Kirchenreform nicht entschieden genug vorantrieb. Nach dem Tode Julius' III. war jedoch die Stunde der Reformer gekommen: nach viertägigen Diskussionen um die Nachfolge wurde Cervini am Abend des 9. April 1555 durch Akklamation zum Papst gewählt. Die Wahl wurde am folgenden Morgen mit Stimmzetteln wiederholt. Wie vor ihm Hadrian VI. (1522/23) nahm der Neugewählte keinen eigenen Papstnamen an, sondern behielt seinen Taufnamen Marcellus bei. Noch am gleichen Tag erteilte ihm der KardinalDekan Gian Pietro Carafa (der ihm schon am 23. Mai als Paul IV. auf dem Apostolischen Stuhl nachfolgen sollte) die Bischofsweihe. Im Rahmen der Gründonnerstags-Liturgie wurde er am 11. April ohne größere Feierlichkeit mit der Tiara gekrönt. Ignatius begrüßte die Wahl Marcellus' II. mit großer Freude. In einem Brief, den er am 29. April 1555 an den Vizekönig Juan de Vega schrieb, gibt er der Überzeugung Ausdruck, daß die Hand Gottes dabei im Spiel war, um durch den neuen Papst „die Angelegenheiten der Christenheit in einen besseren Stand zu bringen"; er wünscht sich, daß die göttliche Majestät, die ihn erwählt hat, ihn zu ihrer Ehre für viele Jahre erhalten möge.9 Wie es die Anhänger der Kirchenreform erwartet hatten, ging der neue Papst sofort gegen den Luxus und die Mißstände am päpstlichen Hof vor. Schon als Kardinal und Mitglied der Inquisition hatte er große Härte gegen die Häretiker gezeigt. Nunmehr ordnete er unbarmherzige und diskriminierende Maßnahmen gegen die Außenseiter und Randexistenzen der kirchlichen Gesellschaft Roms an: Juden, Homosexuelle („Sodomiten") und öffentliche Huren. Die Reformkreise erwarteten von dem „heiligen Papst" eine umfassende Erneuerung des kirchlichen und gesellschaftlichen Lebens, und Marcellus II. schien entschlossen, die dazu notwendigen Maßnahmen unverzüglich in Angriff zu nehmen. Ein fiebriger Husten (nach heutigen Begriffen vermutlich eine Lungenentzündung), der seinen durch frühere Krankheiten und unvernünftige Askese geschwächten Körper ergriff, setzte jedoch seinem Pontifikat nach nur drei Wochen ein jähes Ende. Giovanni Pierluigi da Palestrina, der schon unter seinem Vorgänger Julius III. Sänger in der päpstli-

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chen Kapelle war, setzte ihm wenige Jahre später mit der berühmten Missa Papae Marcelli ein würdiges Denkmal. Marcellus II., dessen Liebe zur Wissenschaft und hohe moralische Integrität von den Zeitgenossen gelobt wird, neigte, ähnlich wie sein jüngerer Zeitgenosse Carlo Borromeo (1538-1584), zu einer mönchisch-düsteren Lebensauffassung, die auch harter und fanatischer Züge nicht entbehrt. Die Gesellschaft Jesu verlor in ihm einen großen Freund und Förderer. In einem Brief, den P. Polanco einige Wochen nach dem Tode des Papstes, am 17. Juni 1555, im Auftrag des Ignatius an P. Manuel Lopez schrieb, heißt es über Marcellus II.:10 Dieser Papst, der sich von seiner Wahl an mit Beispiel, Worten und Taten mit nichts anderem beschäftigte als die Kirche zu reformieren; und der Gesellschaft war er so zugetan, daß er gleich beim ersten Mal, als unser Vater ihm den Fuß küßte, ihn darum bat, daß zwei ihrer Mitglieder bei ihm im Palast Wohnung nähmen, damit er sich mit ihnen besprechen und beraten könnte.

3. Papst Paul IV. Die zeitgenössischen und postmortalen Urteile über Paul IV. Carafa liegen zwischen den beiden Extremen eines „heiligen Papstes" und eines „unwürdigen Inhabers des Apostolischen Stuhls"." Beide Beurteilungen finden ein Fundament sowohl in seinen Aktivitäten als Kirchenreformer als auch in den von ihm verfolgten politischen Zielen. Da diese zwei Bereiche ineinander verflochten sind, entzieht sich die Persönlichkeit dieses Papstes einer eindeutigen Qualifizierung. Gian Pietro Carafa wurde am 28. Juni 1476 als Sproß eines alten neapolitanischen Adelsgeschlechts geboren. Schon im kindlichen Alter ließ er Anzeichen einer außergewöhnlichen Frömmigkeit erkennen. Sein Vater widersetzte sich allerdings der Absicht, in den Dominikaner-Orden einzutreten. An Weihnachten 1490 floh er zusammen mit seiner acht Jahre älteren Schwester Maria aus dem väterlichen Haus; er suchte Zuflucht bei den Dominikanern, sie bei den Dominikanerinnen. Sein Vater holte ihn aus dem Kloster zurück, erlaubte ihm aber das Theologiestudium. Danach begab er sich nach Rom unter die Obhut seines Onkels, des Kardinals Oliviero Carafa. Er hatte nun Gelegenheit, die korrupten kirchlichen und gesellschaftlichen Zustände in der Stadt Rom und am päpstlichen Hof gründlich kennenzulernen. Seine kirchliche Karriere begann mit der Ernennung zum Apostolischen Protonotar durch Julius II. im Jahre 1503.12 Im Jahr darauf wurde ihm das Bistum Chieti in den Abruzzen übertragen. 1506 schickte ihn der Papst als Nuntius nach Neapel; es gelang ihm jedoch nicht, die hauptsächlichen politischen Ziele seiner Mission zu verwirklichen: die Stellung Julius' II. als Lehnsherrn des Königreichs und dessen finanzielle Forderungen gegenüber dem spanischen König Ferdinand dem Katholischen durchzusetzen. Ab 1507

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widmete sich Carafa in seinem Bistum Chieti der kirchlichen Reformtätigkeit. 1513 war er wieder in Rom. Gegen Ende des Jahres entsandte ihn Leo X . als Legat zu Heinrich VIII. von England. In England lernte er Erasmus von Rotterdam näher kennen, der von seinen großen Kenntnissen in den alten Sprachen und in der Theologie begeistert war. 1 3 1515 begann sein mehrjähriger Aufenthalt als Nuntius in Spanien. Zu König Ferdinand hatte er ein guten Verhältnis; nach dessen Tod kam es jedoch zu Mißstimmigkeiten mit dem Nachfolger Karl (V.). Obwohl der neue König ihn durch Verleihung des Erzbistums Bridisi zu versöhnen suchte, scheint die tiefe Abneigung Carafas gegen das Haus Habsburg und dessen Politik auf die in Spanien verbrachten Jahre zurückzugehen. 1520 kehrte er nach R o m zurück, wo er von Leo X . unter anderem mit der Angelegenheit Luthers (Causa Lutheri) befaßt wurde. In der Stadt Rom widmete er sich auch intensiv seelsorgerlichen und karitativen Tätigkeiten, vor allem innerhalb einer Bruderschaft, die „Oratorium der göttlichen Liebe" genannt wurde; er schloß Freundschaft mit deren spiritus rector Gaetano da Tiene (1480-1547). In das Königreich Neapel zurückgekehrt, setzte er die religiöse Reform in seinen Bistümern Brindisi und Chieti fort. 1523 berief ihn der neue Papst Hadrian VI., den er seit seiner Legation in Spanien kannte, nach Rom zurück, um ihm Aufgaben für die Gesamtkirche zu übertragen. Als nach dem kurzen Pontifikat Hadrians der Reformeifer der Römischen Kurie unter dem zweiten Medici-Papst Clemens VII. ins Stocken geriet, wandte sich Carafa erneut der Seelsorge in der Stadt R o m zu. Da das locker organisierte „Oratorium der göttlichen Liebe" sich für die anstehenden Reformaufgaben als unzureichend erwies, gründete er zusammen mit Gaetano da Tiene einen Orden von Seelsorgspriestern, die sich zu apostolischer Armut im striktesten Sinne verpflichteten und sich dem Heiligen Stuhl unterstellten. Am 24. Juni 1524 erhielt der neue Orden durch ein päpstliches Breve seine Bestätigung. Nach dem Bistum Chieti (lat. Theate) wurde er als Theatiner-Orden bezeichnet. Carafa selbst verzichtete auf seine beiden Bistümer. Nach dem Sacco di Roma (1527), bei dem er persönliche Mißhandlungen durch die kaiserliche Soldateska zu erdulden hatte, wirkte er hauptsächlich in Venedig. Sein Augenmerk galt vor allem den Mißständen im Episkopat, dem niederen Klerus und den Orden. Im Oktober 1532 verfaßte er hierüber eine Denkschrift. Daneben betätigte er sich als eifriger Ketzerverfolger. Ignatius lernte Carafa im Jahre 1536 kennen. Die Beziehung der beiden Männer, die charakterlich verschieden waren, aber in ihren Reformabsichten annähernd die gleichen Ziele verfolgten, stand von Anfang an unter keinem guten Stern. 14 Auch der Theatiner-Orden wies in seiner Struktur (absolute Armut!) und seinen Zielen (intensive seelsorgerliche Betreuung des „gewöhnlichen" Volkes) ähnliche Züge auf wie die im Entstehen begriffene Gesellschaft Jesu; beide waren also konkurrierende Unternehmungen. Wahrscheinlich hat Ignatius Carafa damals in Venedig offen gesagt, was ihm an dessen Gründung mißfiel. Die Befürchtungen, die er bezüglich der Gegnerschaft des mittler-

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weile zum Kardinal erhobenen Neapolitaners hatte, erwiesen sich zunächst als unbegründet; das Wohlwollen Pauls III. schützte ihn und die Gesellschaft. Ignatius hatte allerdings nicht vergessen, wie tief die Abneigung saß, die er sich bei dem unberechenbaren, jähzornigen Mann zugezogen hatte. Als der im Alter von 79 Jahren am 23. Mai 1555 zum Nachfolger des „Zwischenpapstes" Marcellus II. gewählte wurde,15 sollen dem Generaloberen der Gesellschaft Jesu, wenn wir der von P. Gon^alves da Cämara niedergeschriebenen Überlieferung trauen dürfen, „alle Knochen im Leib gezittert" haben.16 Aber auch diesmal trafen die Befürchtungen hinsichtlich der Haltung des neuen Papstes gegenüber der Gesellschaft Jesu nicht zu. Wie aus einem Rundschreiben der Ordensleitung an die Rektoren der Kollegien hervorgeht, äußerte sich Paul IV. dem Kardinal Giovanni Morone gegenüber mit großer Sympathie über die Gesellschaft und sprach auch über Ignatius mit Liebe und Hochachtung.17 Morone hatte sich ebenso wie der in Rom weilende Bischof von Augsburg, Kardinal Otto Truchseß von Waldburg, für die Gesellschaft eingesetzt. Noch am gleichen Tag empfing der Papst den Generaloberen; als Zeichen seiner besonderen Wertschätzung hieß er ihn seinen Kopf zu bedekken; er spazierte mit ihm auf und ab und unterhielt sich auf das angeregteste mit ihm, wobei er ihm versicherte, sie seien alte Freunde. Bei den Anwesenden löste das ungewöhnliche Verhalten des Papstes große Verwunderung aus.18 Von den übrigen in Rom anwesenden Patres schätzte Paul IV. am meisten Bobadilla, den er nach seiner Wahl als ersten empfangen hatte, Laynez und Salmerón. Zu Laynez scheint er das größte Vertrauen gehabt zu haben; er wollte ihn beständig in seiner Nähe wissen und empfing ihn oft zu vertraulichen Gesprächen. Als er Luigi Lippomani, den Bischof von Verona, als Nuntius nach Polen schickte, stellte er ihm Salmerón als theologischen Berater zur Seite.19 Das Verhalten Pauls IV. war jedoch völlig unberechenbar. Und mit dem Fortschreiten des Pontifikats gewannen die paranoiden Züge seines Charakters die Oberhand. Sein Tagesablauf war chaotisch, und bei der Zulassung zu Audienzen verfuhr er völlig willkürlich. Offizielle und andere Besucher hatten es schwer, seine Monologe zu unterbrechen und ihren Anliegen Gehör zu verschaffen. Schon während seiner Nuntiatur in Spanien (1515-1520) hatte sich gezeigt, daß er von seiner priesterlichen Würde eine maßlos überzogene Vorstellung hatte: einmal hatte er sich geweigert, mit dem Beginn der Messe in der königlichen Kapelle auf die Ankunft des Königs (Karls V.) zu warten, da er in den priesterlichen Gewändern die Person Christi repräsentiere.20 Als Carafa Papst geworden war, wuchs sich diese Einbildung zu einem dem Cäsaren-Wahn ähnlichen psychotischen Krankheitsbild aus: gegen Ende des Jahres 1556 schrieb der Kardinal Morone an seinen Freund Reginald Pole in England, der Papst sei von seiner Würde als Stellvertreter Christi so überzeugt, daß er die geringste Beeinträchtigung seiner Ehre für eine Beleidigung Gottes halte.21 Seine Politik war von blindem, irrationalem Haß gegenüber den habsburgischen Ländern, besonders Spanien, bestimmt.22 Bestärkt wurde

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er in seiner Haltung durch seinen skrupellosen, verbrecherischen Neffen Carlo Carafa, den er am 7. Juni 1555 zum Kardinal erhob und dem er bald danach (15. Juli) die Leitung der Staatsgeschäfte anvertraute. Einige Jahre lang vertraute er dem Nepoten blind, bis er, über dessen Machenschaften aufgeklärt, ihn zusammen mit seinem Bruder Giovanni, dem Herzog von Paliano, von seinem Hof und der Stadt Rom verjagte (Januar 1559).23 Die Angst Pauls IV. vor Häresien nahm krankhafte Züge an. In der Häresie sah er „die Pest der Seele", die mit allen Mitteln auszurotten war. Das wirksamste Mittel, über das der Papst zur Bekämpfung der Ketzer verfügte, war die römische Inquisitionsbehörde. Das so genannte „Heilige Offizium" (Sant' Offizio) war von Paul III. reorganisiert worden, wandte aber unter ihm und seinem Nachfolger Julius III. die ihm zur Verfügung stehenden Strafen (Gefängnis, Hinrichtung, Einziehung der Güter der Verurteilten) nur sehr zurückhaltend an. Unter Paul IV. änderte sich das radikal.24 Er sorgte nicht nur dafür, daß die Strafen gegen die der Häresie Verdächtigen drastisch verschärft wurden, sondern er dehnte die Zuständigkeit der Inquisition auch auf Bereiche aus, die mit den Glaubenslehren überhaupt nichts zu tun hatten. Ihr Personal wurde verstärkt. Der Strafvollzug artete in puren Terrorismus aus; für Homosexualität und Polygamie wurde die Todesstrafe eingeführt. Zahllose Hinrichtungen fanden auf der Piazza Navona und dem Campo di Fiori statt. Die Zahl der eingezogenen und verbrannten Bücher nahm gigantische Ausmaße an. Seinen Höhepunkt erreichte der Verfolgungswahnsinn mit der Verhaftung des Kardinals Morone, der für 26 Monate in der Engelsburg eingekerkert wurde. Für den größeren Ketzer, eine Art Häresiarchen, hielt Paul IV. jedoch den Kardinal Reginald Pole. Auch gegen ihn wurde ein Verfahren in Gang gesetzt, aber er war für die Inquisition nicht greifbar, da er in England war und durch die Königin Maria protegiert wurde. Pole starb am 18. November 1558, ohne seine Rehabilitation erlangt zu haben. Morone wurde erst nach dem Tode des Papstes aus dem Gefängnis entlassen; seine Gesundheit war durch die lange Haft schwer angegriffen. Pius IV. erklärte am 13. März 1560 das Inquisitionsverfahren, das unter seinem Vorgänger gegen den untadeligen Mann geführt worden war, für nichtig und rehabilitierte ihn vollständig.25 Den verbrecherischen Nepoten seines Vorgängers dagegen, dem Kardinal Carlo Carafa und dem Herzog Giovanni, ließ er den Prozeß machen und sie am 5. März 1561 hinrichten. Nach dem Tode des Ordensgründers war auch in der Haltung Pauls IV. gegenüber der Gesellschaft Jesu eine Änderung eingetreten. Bis zum Zusammentreten der Generalkongregation, die den Nachfolger des Ignatius zu wählen und die Konstitutionen zu verabschieden hatte, vergingen fast zwei Jahre. Der Papst wollte, entgegen dem erklärten Willen des Stifters, die Amtszeit des Generals auf drei Jahre begrenzt wissen und den Orden zum Chorgebet verpflichten. Als die Patres Laynez und Salmerón, unter Berufung auf die entsprechenden Bullen Pauls III. und Julius' III., beim Papst dagegen Einspruch erheben wollten, kam es (am 6. September 1558) zu einer nahezu

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gespenstischen Szene: Paul IV. bekam einen Tobsuchtsanfall; mit irrem Gesichtsausdruck verdächtigte er den Orden der Häresie und behauptete, Ignatius habe ein tyrannisches Regiment geführt.26 Wie in vielen anderen Fällen hob Pius IV. auch das Dekret seines Vorgängers über die Änderungen an den Konstitutionen der Gesellschaft Jesu auf, da er der Meinung war, daß dessen Anordnungen nach dem Tod ihre Geltung verloren hätten. Paul IV. war am 18. August 1559 gestorben. In Rom kam es nach seinem Tode zu schweren Tumulten. Die Wut des Volkes, das er jahrelang durch sein despotisches Regiment in Angst und Schrecken versetzt hatte, tobte sich an seiner Marmorstatue auf dem Kapitol und an den Akten der Inquisition aus. Drei Tage vor seinem Tod hatte er den Jesuitengeneral Diego Laynez zu sich rufen lassen und ihm gegenüber den Krieg gegen Spanien, den er unter dem Einfluß seiner Nepoten angezettelt hatte, in Tönen bitterster Reue beklagt. PASTOR hat, trotz im ganzen negativer Beurteilung Pauls IV., versucht, auch positive Züge an seiner Persönlichkeit und seinem Pontifikat herauszustellen.27 Er vermeidet es auch, deutlich von der offenkundigen Verrücktheit des Papstes zu sprechen, sondern führt das südländische Temperament des „echten Neapolitaners" als Erklärung für dessen oft irrationalen Einfälle an, die er mit den „Ausbrüchen des Vesuvs" vergleicht.28

4. Philipp Neri Anläßlich der 400. Wiederkehr des Todestages des „Apostels von Rom" und „Reformators der Ewigen Stadt", Filippo Neri, am 26. Mai 1995, fanden in Rom zwei internationale Kongresse 2 ' und an eine Ausstellung an der hauptsächlichen Stätte seines Wirkens, der Biblioteca Vallicelliana, statt.30 Sie beweisen zumindest das fortdauernde Interesse der Wissenschaft und der Katholischen Kirche an diesem wohl seltsamsten Heiligen des 16. Jahrhunderts. O b die Attribute, die ihm das Verdienst um Reform und Missionierung der Stadt Rom zuschreiben und die der Papst Johannes Paul II. erneut in seinem Gruß wort zu dem Jubiläum verwandt hat,31 nicht zu hoch gegriffen sind, mag dahingestellt sein. Der Zugang zu diesem „heiligen Narren", 32 der zu seiner Zeit in einer Stadt wirkte, die auf den heutigen Betrachter manchmal den Eindruck eines großen Irrenhauses macht, ist für jemanden, der nicht bereit ist, aufgrund seiner religiösen Sozialisation vieles Irrationale einfach zu „schlucken", sehr schwer. Bei den römischen Mitbürgern Filippos war das ganz anders: er stand bei ihnen nicht nur in hohem Ansehen, sondern genoß schon zu Lebzeiten den Ruf eines Heiligen. Nach seinem Tod verlangten das Volk und die maßgeblichen Autoritäten der Stadt seine Kanonisation. Der Papst Clemens VIII. Aldobrandini (1592-1605) ließ das Verfahren eröffnen; es begann am 2. August 1595, kaum zwei Monate nach Filippos Tod, mit den ersten Zeugenvernehmungen. Die Beatifikation erfolgte am 25. Mai 1615 durch Paul V.

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Borghese (1605-1621). Fünf Jahre später, am 12. März 1622, sprach Gregor XV. Ludovisi (1621-1623) ihn heilig, zusammen mit Ignatius von Loyola, Francisco Javier, Teresa von Avila und dem Bauern Isidoro. Das Römische Volk jubelte über die Kanonisation von Padre Filippo und feierte sie tagelang; denn es sah in ihm einen aus seiner Mitte. Viele hatten ihn noch persönlich gekannt. Die unvermeidliche Bosheit und Spottlust des römischen Volksmunds verschaffte sich ihren Ausdruck in dem Bonmot, es seien vier Spanier und ein Heiliger kanonisisert worden." Noch GOETHE scheint während seines Aufenthalts in Italien einen Abglanz von der Beliebtheit des Heiligen verspürt zu haben, für den er auch persönliche Sympathie empfand; in Neapel notiert er unter „Sonnabend, den 26. Mai 1787":34 Genau betrachtet, möchte man doch wohl gutheißen, daß es so viele Heilige gibt; nun kann jeder Gläubige den seinigen auslesen und mit vollem Vertrauen sich gerade an den wenden, der ihm eigentlich zusagt. Heute war der Tag des meinigen, den ich denn ihm zu Ehren nach seiner Weise und Lehre andächtigmunter beging. Philippus Neri steht in hohem Ansehen und zugleich heiterm Andenken; man wird erbaut und erfreut, wenn man von ihm und seiner hohen Gottesfurcht vernimmt, zugleich aber hört man auch von seiner guten Laune sehr viel erzählen ... Doch bedeutender muß es auffallen, daß gerade dies zu Luthers Zeit geschah, und daß mitten in Rom ein tüchtiger, gottesfürchtiger, energischer, tätiger Mann gleichfalls den Gedanken hatte, das Geistliche, ja das Heilige mit dem Weltlichen zu verbinden, das Himmlische in das Säkulum einzuführen und dadurch ebenfalls eine Reformation vorzubereiten. Denn hier liegt doch ganz allein der Schlüssel, der die Gefängnisse des Papsttums öffnen und der freien Welt ihren Gott wiedergeben soll. Seiner Herkunft nach war Filippo kein Römer. Er stammte aus Florenz, wo er am 21. Juli 1515 als Sohn des Notars Francesco Neri und seiner Frau Lucrezia di Mosciano zur Welt kam. Uber seine Kindheit ist wenig bekannt, und den legendären Unsinn, der darüber nach seinem Tode in Hagiographien und Devotions-Täfelchen verbreitet wurde,35 wollen wir hier nicht kolportieren. Sicher ist, daß er häufig die Kirche San Marco und den berühmten Konvent der Florentiner Dominikaner aufsuchte; von ihnen erhielt er die ersten religiösen Unterweisungen, wofür er ihnen zeitlebens dankbar war. Vermutlich hat er dort auch zum ersten Mal von Girolamo Savonarola erfahren, dessen Schriften er später studierte. Im Alter von etwa zwölf Jahren schickte ihn sein Vater nach San Germano (seit 1871: Cassino) im Königreich Neapel zu einem Vetter, bei dem er die Fähigkeiten eines Kaufmanns erlernen sollte. Besuche in der nahegelegenen Abtei Montecassino und dem Heiligtum Santissima Trinità della Cava bei Gaeta führten zu einer Art Bekehrungserlebnis:36 er entschloß sich, „die Welt" zu verlassen und in Zukunft ein rein geistliches Leben zu führen. Gegen den Widerstand seines Onkels, der ihn für nicht mehr ganz just hielt, machte sich der Neunzehnjährige allein und arm auf den Weg nach

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Rom, wo er im Jahre 1534 ankam. In der Ewigen Stadt führte er ein Leben der Buße und Einsamkeit. Er besuchte häufig die Kirchen, besonders die sieben Hauptkirchen,37 die Gedenkstätten der Märtyrer und die Katakomben von San Sebastiano an der Via Appia.38 Seinen Unterhalt verdiente er sich zeitweise mit dem Unterricht, den er den zwei Kindern eines florentinischen Adeligen, Galeotto Caccia, erteilte; ansonsten schlug er sich mit Betteln durch. Es wird berichtet, daß er häufige Kämpfe mit dem Satan zu bestehen hatte, bei denen er hauptsächlich um die Bewahrung seiner Keuschheit ging. Eines Tages erkannte er, daß es nicht ratsam sei, seine geistige Begabung brachliegen zu lassen. Er entschloß sich zum Studium an der römischen Universität Sapienza, das er im Jahre 1536 begann. Während des PhilosophieStudiums beshäftigte er sich mit Piaton und Aristoteles; seine Vorliebe galt Piaton. In der Theologie studierte er dann neben der Heiligen Schrift vor allem die Summa des Thomas von Aquin, die er auswendig lernte. Nach dem Studium verkaufte er in einer Anwandlung von Frust und schlechtem Gewissen seine Bücher und verteilte den Erlös unter die Armen. Später nahm er dann doch die Studien wieder auf; er las Aristoteles, Homer, Vergil sowie die Predigten seines berühmten Landsmannes, des Dominikaners Girolamo Savonarola (1452-1498). Die Bibliothek, die er sich damals anschaffte, ist bei der Chiesa Nuova (S. Maria in Vallicella) erhalten geblieben.39 Seine eigene literarische Hinterlassenschaft ist, im Vergleich zu der des Ignatius und anderer Zeitgenossen, äußerst bescheiden; es sind 28 Briefe und drei sprachlich sehr schöne Sonette von ihm erhalten; außerdem sind Detti memorabili (Sprüche, Maximen, Apophthegmata) überliefert, die von ihm stammen sollen.40 Am bekanntesten ist wohl der Spruch, den auch GOETHE als Ausdruck großer Weisheit und Heiligkeit zitiert: Er sagte auch, daß vier Dinge notwendig sind, um zur Vollkommenheit des geistlichen Lebens zu gelangen und um die Gabe der Demut vollkommen zu erwerben: spemere mundum, spernere nullum, spernere se ipsum, spemere se sperni (die Welt verachten, niemanden verachten, sich selbst verachten, verachten, wenn man verachtet wird). Gegen Ende der dreißiger Jahre des 16. Jahrhunderts teilte Filippo seine Zeit zwischen Abgeschiedenheit und Meditation einerseits und seelsorgerlichem Wirken andererseits, wobei er sich vor allem um die Jugendlichen kümmerte; er besuchte auch häufig die verschiedenen Hospitäler der Stadt und widmete sich der Krankenpflege.41 Damals machte er auch die Bekanntschaft des Ignatius und seiner Gefährten. Er hörte Predigten von Laynez und Salmerón, trat zu Francisco Javier in nähere Beziehung. O b er jemals die Absicht hatte, der Gesellschaft Jesu beizutreten, ist ungewiß. Ignatius hätte ihn wohl gerne gewonnen, war aber dann doch enttäuscht von ihm. Er soll ihn mit einer Glokke verglichen haben, die andere in die Kirche rufe, selbst aber draußen bleibe.42 Letztlich hatten diese beiden Heiligen, die im seelsorgerlichen Wirken

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für das Volk von Rom konkurrierten, doch zu verschiedene Charaktere, als daß sie sich über Methode und Ziele ihrer Arbeit hätten einigen können. Im Jahre 1548 gründete Filippo zusammen mit seinem damaligen Beichtvater und geistlichen Berater, Persiano Rosa aus Genazzano, die „Bruderschaft von der Allerheiligsten Dreifaltigkeit". Am 28. Mai 1551 wurde er zum Priester geweiht; nach Aussage eines Zeugen im Kanonisationsprozeß empfing er die Weihe auf Anweisung Rosas, denn er hielt sich selbst nicht für geeignet und würdig.43 Von da an nahm er seine Wohnung bei der Kirche San Girolamo della Caritä (in der Via di Monserrato, nahe der Piazza Farnese), wo er 32 Jahre, bis 1583, verbrachte. In dem Haus existierte bereits eine Gemeinschaft von Priestern; nachdem sich Filippo dort niedergelassen hatte, fanden sich zahlreiche Besucher und Anhänger ein, von denen sich ihm mehrere definitiv anschlössen.44 Aus der geistlichen Gefolgschaft Filippos entstand im Jahre 1552 das Oratorium, dem sich Männer aus allen gesellschaftlichen Schichten und fast allen Regionen Italiens anschlössen. Die prominentesten unter ihnen waren der aus hochadeliger Familie stammende Francesco Maria Tarugi und Cesare Baronio, bedeutender Kirchenhistoriker und Nachfolger Filippos als Oberer der Kongregation des Oratoriums; beide wurden später zu Kardinälen erhoben. Das Oratorium war nach dem Willen seines Stifters eine geistliche Schule, in der eine sehr breit angelegte christliche Bildung vermittelt wurde, mit dem Ziel ihrer praktischen Anwendung in Seelsorge und karitativer Tätigkeit unter den Armen und Kranken. Als Vorbild sollte das Leben der Jerusalemer Urkirche dienen. Die täglichen Veranstaltungen des Oratoriums bestanden im wesentlichen aus Lesungen, Vorträgen, Diskussionen, zu denen dann auch musikalische Darbietungen kamen (Singen von Laude, vokale und instrumentale Konzerte), jedoch nicht als Selbstzweck, sondern mit dem Ziel religiöser Erbauung und Erziehung.45 Bei schönem Wetter fanden auch abendliche Konzerte im Freien statt: in Kreuzgängen, Gärten, Weinbergen; sie zogen zahlreiche Besucher an. Aus den konzertanten Aufführungen des Oratoriums hat sich im 17. Jahrhundert das „Oratorium" als eigene musikalische Gattung entwickelt. Eine große Bedeutung maß Filippo Neri der Kirchengeschichte zu, und er gab Cesare Baronio den Auftrag, sie intensiv zu studieren, damit er imstande war, vor den Hörern des Oratoriums fundierte Vorlesungen darüber zu halten. Baronio ist berühmt geworden als Verfasser des monumentalen Werkes der Annales ecclesiastici, deren erster Band 1587 erschien; Filippo darf auch als Initiator dieses wissenschaftlichen Riesenprojekts gelten.46 Im Jahre 1557 erwog Filippo mit seinen ersten Gefährten den Plan, als Missionare in die „Gebiete Indiens" zu gehen. In den Jahren davor waren Briefe Francisco Javiers (den Filippo noch persönlich kennengelernt hatte), und anderer in Südasien tätiger Jesuiten nach Rom gelangt und waren im Oratorium vorgelesen worden. Durch sie wurde in Filippo und etwa zwanzig seiner Anhänger das Interesse für die Bekehrung der Ungläubigen geweckt.

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Filippo wollte die Entscheidung aber nicht allein treffen; er holte sich Rat bei einem florentinischen Landsmann, Agostino Ghettini, der Cistercienser der Abtei Tre Fontane war. Der Mönch sagte ihm aufgrund einer Offenbarung, Indien sei Rom." Man erinnert sich an den wohlmeinenden Rat, den Paul III. den Gefährten des Ignatius gegeben hatte.48 1564 nötigte der Papst Pius IV. Filippo, die Seelsorge an der florentinischen Nationalkirche S. Giovanni de' Fiorentini zu übernehmen. Unter den ersten Gefährten, die dorthin entsandt wurden, war Cesare Baronio, der am 27. Mai 1564 die Priesterweihe empfing. Um diese Zeit machte Filippo auch die Bekanntschaft des Kardinals Carlo Borromeo, zu dem er in der Folgezeit enge Beziehungen pflegte. Die seelsorgerliche Betreuung der Jugendlichen war ihm weiterhin ein großes Anliegen. Mit geistvollen Veranstaltungen suchte er in ihnen Spaß und Freude an der Religion zu wecken. Er erfreute sich einer großen Beliebtheit; bis ins hohe Alter begleitete ihn bei seinen Ausgängen und Kirchenbesuchen eine Schar von zehn bis zwanzig Kindern und Jugendlichen. Bei einem ernsten Reformer wie dem Kardinal Morone fand er damit keinen Gefallen und zog sich dessen Tadel zu.49 Jährlicher Höhepunkt der Veranstaltungen für seine jugendlichen und anderen Anhänger war die Sieben-Kirchen-Wallfahrt am Fetten Donnerstag (Giovedì grasso), die er als eine Art geistlichen Karneval inszenierte. Die Wallfahrt nahm ihren Ausgang von Sankt Peter; zweite Station war S. Paolo fuori le mura; von dort ging es weiter nach S. Sebastiano. In der auf dem Monte Celio, in der Nähe der Kirche Santo Stefano Rotondo, gelegenen Villa Mattei (Villa Celimontana) wurde Rast gemacht. An die refezione schlössen sich Lieder, Hörner- und Flötenspiel sowie eine scherzhafte „Kinderpredigt" an. Am Nachmittag suchten die Pilger dann die Basiliken S. Giovanni in Laterano, S. Croce in Gerusalemme, S. Lorenzo fuori le Mura und S. Maria Maggiore auf. Die erste dieser „Fastnachts-Wallfahrten", die bei frommen Zeitgenossen auf große Mißbilligung stießen, fand im Karneval von 1559 statt.50 Mit der Gründungsbulle Gregors XIII. vom 15. Juli 1575 wurde die Kongregation des Oratoriums bei der Kirche S. Maria in Vallicella formell errichtet. Der Papst selbst bot der Kongregation das alte Kirchlein an, an dessen Stelle sogleich mit dem Bau einer neuen Kirche (Chiesa Nuova) begonnen wurde, die sich an dem Vorbild der bereits stehenden Jesuiten-Kirche II Gesù orientierte. Erster Architekt war der bis dahin kaum bekannte Matteo Bartolini aus Città di Castello (um 1530-1589). Zusammen mit dem daneben liegenden, in den Jahren 1637-1662 von Francesco Borromini (1599-1667) errichteten Neubau des Oratoriums ist sie einer der hervorragendsten Prachtbauten des barocken Rom. Ausführliche Konstitutionen für die Kongregation wurden, mit Billigung Filippos, erst im Jahre 1583 niedergeschrieben.51 Die Mitglieder verstehen sich als Säkular-Kleriker. Als hauptsächliche Richtlinien der Lebensführung werden genannt: Tadellosigkeit und Heiligkeit, Sorge für eine würdige Ausübung des Kultes und Pflege der Kirchen, intensives Studium, „da es heißt, das Unwissen sei die Mutter aller Übel". 52 Ein hoher Rang

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wird der Disziplin zugeschrieben, während die Armut nicht eigens hervorgehoben wird; lediglich der gemeinsame Besitz aller Güter wird festgelegt. Gehorsam ist notwendig als Ordnungsprinzip der Gemeinschaft; von „Kadavergehorsam" ist keine Rede, und schon gar nicht nehmen die Oberen die Stelle Gottes ein. Uberhaupt nimmt die Gesetzgebung bei den Oratorianern nicht den Rang ein wie die Konstitutionen bei der Gesellschaft Jesu; es handelt sich eher um moralische Leitlinien als um Gesetze im juristischen Sinne. Und auch auf sie hätte Filippo, wäre es nach ihm allein gegangen, vermutlich verzichtet, weil er mehr von der Wirkung lebendiger Vorbilder hielt. Filippo Neri starb am frühen Morgen des 26. Mai 1595 im Kreis seiner in Rom anwesenden Mitbrüder; Baronio sprach die Sterbegebete. Tags darauf wurde er im Presbyterium der Chiesa Nuova bestattet. Aus dem zuweilen närrischen und nicht normalen Benehmen dieses seltsamen Heiligen, das schon das Mißfallen mancher seriöser und frommer Kleriker Roms erregte, darf man nicht schließen, er sei naiv, dumm oder gar verrückt gewesen. Wie beim heiligen Franziskus war seine „Verrücktheit" Teil einer Inszenierung, mit der er sich die Sympathie vieler Menschen erwarb und sie, inmitten einer von Korruption und Verbrechen geprägten städtischen und klerikalen Gesellschaft, für das Ideal einer besseren Kirche und Religion zu gewinnen suchte.53 In seinem bald nach seinem Tode eröffneten Kanonisationsprozeß wurden allerhand wunderbare Dinge zu Protokoll gegeben. So soll er, wie es auch von anderen Heiligen berichtet wird, sich beim meditativen Gebet in die Luft erhoben haben; der ihm sehr nahe stehende Francesco Maria Tarugi erzählte, er habe mit eigenen Augen gesehen, wie der Heilige, als er auf seinem Bett lag und betete, plötzlich in der Luft schwebte.54 Man muß solchen Unsinn, auch wenn er im kirchenrechtlichen Kontext, mit der Autorität vorgeblicher Augenzeugen ausgestattet, kolportiert wird, natürlich nicht glauben. Kulturgeschichtlich gesehen ist Philipp Neri - wie der von ihm total verschiedene Ignatius von Loyola - einer der bedeutendsten Vorboten und Initiatoren des römischen Barock.

5. Martin Luther Die Zugänge, die die Forschung in den letzten Jahrzehnten zum Leben und zur Theologie Luthers sowohl in Gesamtdarstellungen wie in Einzeluntersuchungen eröffnet hat, lassen weitere Ausführungen zu beidem an dieser Stelle überflüssig erscheinen.55 Wir wollen uns deshalb auf wenige, nach unserer Meinung wichtige, Punkte des Vergleichs zwischen Ignatius von Loyola und Luther beschränken. Daß für beide die Reformation der Kirche ein zentrales Anliegen war, steht außer Frage. Richtlinie dafür war der Wille Gottes, wie er im Wort Gottes, der Bibel, ausgesprochen und wie er in der Urkirche, dem Leben Jesu und der Apostel, verwirklicht worden war. Der Zugang zu den Gründungs-

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Urkunden des Urchristentums war jedoch bei Luther und Ignatius völlig verschieden. Als Professor und Lehrer der Heiligen Schrift war Luther geprägt einerseits von der scholastischen Theologie des Spätmittelalters, die er über viele Jahre hin studiert hatte, andererseits durch den Humanismus, dessen Protagonisten sich für den direkten Zugang zur Bibel, in sprachlicher und theologischer Hinsicht, einsetzten. Das Bild, das Ignatius von dem Urchristentum (und der christlichen Religion überhaupt) hatte, war bestimmt durch einen Fundus an „Katechismus-Wissen" über die Grundwahrheiten des christlichen Glaubens und die eingehende Lektüre von Werken, die eher dem Bereich der Volksreligion zuzurechnen sind als dem der Theologie. Die Erweiterung und Vertiefung seiner Erkenntnisse gewann er dann, vor allem in Manresa, aber auch später, durch Visionen. Der Weg zu den Wahrheiten der Heiligen Schrift, auf den Ignatius seine Schüler mittels der Exerzitien bringen wollte, ist ein meditativer Weg (über Bilder und Vorstellungen). Gleichwohl geht es um Erkenntnis, während von Glauben kaum die Rede ist. Sodann geht es hauptsächlich um „unsern Herrn", „unsere Herrin", die übrigen Personen der Evangelien; das Alte Testament spielt kaum eine Rolle. Auch für Luther ist der Weg zum tieferen Verständnis der Bibel durchaus meditativer Natur; aber es ist ein Weg des Glaubens an die im Wort Gottes enthaltene Verheißung, ein Weg des Glaubens allein. Während in der mittelalterlichen Kirche das mönchische Leben als das Ideal christlicher Existenz schlechthin galt, sieht Luther darin nichts anderes als eine durch Werkgerechtigkeit pervertierte Daseinsform. Was die Mönche eigentlich wollen, wird in einem normalen (familiären, nicht zölibatären!) Leben erreicht, das durch den Glauben und das Vertrauen auf Gott bestimmt ist. Dabei sieht Luther in Abraham das große, von Gott vorgestellte Exempel. Es geht ihm immer auch um eine (polemische) Abgrenzung von dem „papistischen" Verständnis des Glaubens und des christlichen Lebens, die bei ihm mit zunehmendem Alter eher radikaler und schärfer wird. Abraham ist der wahre Mönch, der auf den Ruf Gottes hin Vaterland, Verwandtschaft, väterlichen Besitz, Haus und alles verlassen hat. Im Vergleich zu ihm sind die Mönchsväter Augustinus, Franziskus, Dominikus nichts.56 Die Mönche bilden sich ein, sie verließen alles; aber in den Klöstern finden sie mehr, als sie im elterlichen Hause zurückgelassen haben. In Sara fand Abraham eine würdige Gefährtin im Mönchtum. Die Bewirtung der Gäste, die von ihr (Gen 18) berichtet wird, ist ein heiligeres Werk , als es alle Eremiten jemals vollbracht haben.57 Zu einem hohen Lobpreis Saras als wahrer Äbtissin kommt Luther in seiner Auslegung des Berichts über die Verhandlungen Abrahams mit den Hethitern über den Kauf der Grabeshöhle in Hebron (Gen 23,5f.). Dabei versäumt er es nicht, auf den krassen Gegensatz hinzuweisen, in dem „unsere" Äbtissinnen im Vergleich zu Sara stehen.58 Moses ist bei der Beschreibung dieses Vertrages sehr wortreich. Das bewirkt aber der Heilige Geist, vor allem zur Ehre dieser hochedlen, ehrwürdigen Frau

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Sara, die die Mutter aller Patriarchen, Propheten, der hervorragendsten Führer und Könige ist; ihresgleichen findet sich in keinem Geschichtsbuch. Deshalb wird auch kein Begräbnis in den Heiligen Schriften so großartig beschrieben wie dasjenige Saras. Christus wollte nämlich, daß seine Ahne in allen Ehren bestattet würde, wie es ihre Tugenden verdienten: sie leitete nämlich ihre Familie in Zucht und Frömmigkeit; sie war eine viel tüchtigere Äbtissin, als es die unseren sind, in den äußeren, wirtschaftlichen Angelegenheiten; mit ihr kann man die Äbtissinnen der Nonnen nicht nur nicht vergleichen, sondern man muß sie vollständig im Dunkeln verstecken. Denn was sind sie im Vergleich zu Sara, der Mutter hochberühmter Fürsten und Könige, die während ihres Lebens ihren Hausstand so lobenswert verwaltete? Die Werke der Äbtissinnen aber, was sind sie anderes als ein abscheulicher Götzendienst, ganz gleich, was sie tun? Während Ignatius sowohl in den Exerzitien59 als auch in den Konstitutionen der Gesellschaft Jesu an der traditionellen mittelalterlichen Einteilung der Christenheit in die beiden Stände der Gebote und der evangelischen Vollkommenheit festhält und auch die Ordensgelübde stabilisiert und vor allem im Falle des Gehorsamsgelübdes noch erheblich radikalisiert,60 hat Luther in seiner Lehre von den drei Ständen den Unterschied in der ethischen Qualität von Ordensleuten (Mönchen, Nonnen) und Laien aufgehoben. 61 Die von Gott eingesetzten „heiligen orden und rechte stiffte" sind: „das priester ampt, der Ehestand, die weltliche Oberkeit". Die Angehörigen dieser drei Stände haben unterschiedslos die gleichen Voraussetzungen, heilige Werke zu vollbringen aufgrund des Glaubens; selig werden sie alle allein durch Christus. In den „Schmalkaldischen Artikeln" von 1538, die als Luthers eigentliches geistliches Vermächtnis anzusehen sind, möchte er die Klostergelübde ganz abgeschafft wissen, denn sie stehen gegen den ersten der Hauptartikel, „die das Amt und Werk Jesu Christi oder unsere Erlösung" betreffen: daß nämlich der Glaube allein gerecht mache. Die Klostergelübde wurden von Menschen eingeführt, die sich (nach Mt 24,5) den Rang Christi angemaßt und viele verführt haben. 62 Auch der „leidige Celibat" ist eine menschliche, antichristliche Erfindung, von der schon Sankt Paulus (1 Tim 4,1-3) sagt, „es sei eine teuflische Lehre". 63 Luther hat die Beicht des einzelnen Christen nicht abgelehnt, vor allem weil er in der Absolution einen Trost und eine Stärkung des Gewissens sah.64 Von einer skrupulösen Gewissenserforschung (nach Art des ignatianischen Partikularexamens) 65 hält er allerdings gar nichts. In dem Abschnitt „Von der Beicht" der „Schmalkaldischen Artikel" heißt es deshalb lapidar:66 Die erzelung aber der sunden sol frey seyn eim jedem, was er erzelen oder nicht erzelen wil. Es genügt, sich vor Gott als armer, sündiger Mensch zu bekennen, der durch das „andere Gesetz" in seinen Gliedern in der Gefangenschaft der Sünde steht (nach Rom 7,23). In der „Kurzen Vermahnung zu der Beicht" am Ende

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seines Großen Katechismus67 weist Luther auf die schwere Belastung durch den Beichtzwang und die penible Gewissenserforschung im bislang geltenden Kirchenrecht und der seelsorgerlichen Praxis hin: Denn kein schwerer ding bisher gewesen ist, wie wir alle versucht haben, denn das man yderman zu beichten gezwungen bey der höhisten todsunde, dazu dasselbige so hoch beschweret hat und die gewissen gemartert mit so mancherley sunden zu erzelen, das niemand hat können rein gnug beichten. Das in seiner Kürze und Prägnanz überzeugende Abendgebet, das Luther in seinem Kleinen Katechismus von 1531 empfiehlt, enthält wesentliche Elemente des kirchlichen Nachtgebets, der Komplet, aber keine Gewissenserforschung:68 Des Abends, wenn du zu bette gehest, so soltu dich segenen mit dem heiligen Creutze und sagen: Des walt Gott Vater, Son, Heiliger geist. Amen. Darauff kniend odder stehend den Glauben und Vater unser, Wiltu so magstu dis gebetlin dazu sprechen: Ich dancke dir, mein himlischer Vater, durch Jhesum Christ, deinen lieben Son, das du mich diesen tag gnediglich behut hast, Und bitte dich, Du wollest mir vergeben alle meine sunde, wo ich unrecht gethan habe, und mich diese nacht gnediglich behüten, Denn ich befehel mich, mein leib und seele und alles jnn deine hende, Dein heiliger Engel sey mit mir, das der böse feind keine macht an mir finde, Amen. Und als denn flugs und frölich geschlaffen. Wie HANS WOLTER überzeugend dargelegt hat, hatte Ignatius keine direkte Kenntnis „häretischer" Schriften, weder derjenigen Luthers noch derjenigen anderer Reformatoren." Während seines Studiums, wahrscheinlich schon in Alcalá, mit Sicherheit aber in Paris, hatte er durch seine Professoren, Mitstudenten und Gefährten vieles über die humanistischen und reformatorischen Strömungen erfahren, was ihn insgesamt mit tiefer Abneigung erfüllte. Es hatte sich damals schon, hauptsächlich in Folge der Visionen von Manresa, seine geistige Vorstellungswelt so weit gefestigt, daß er genügend Selbstbewußtsein hatte, sich die eingehende Lektüre und das Studium eines Schrifttums zu ersparen, für das er nichts als Verachtung empfand. Umgekehrt hätte Luther, wären ihm der spirituelle Werdegang und die Exerzitien des Ignatius bekannt gewesen, von seinen eigenen theologischen Voraussetzungen her (sola scriptura!) in dem Inhalt von dessen Visionen nichts anderes als mönchische Phantasterei und Teufelswerk gesehen.70 Es ist deshalb unhistorisch und methodisch verfehlt, wenn man im Zuge des heute herrschenden ökumenischen Pazifismus die prinzipielle sachliche Identität beider Standpunkte aufzuzeigen und die gravierenden Unterschiede zu verkleistern sucht.71 Dem echten Anliegen eines ökumenischen Gesprächs wird damit kein Dienst er-

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wiesen. Daß Luther und Ignatius gemeinsame Voraussetzungen in der geistigen Welt des Spätmittelalters - der scholastischen Theologie und der Volksreligion - haben, steht außer Frage. Beide waren sie überzeugt, daß sich in der christlichen Gesellschaft ihrer Zeit etwas ändern müsse. Sie sahen die Scholastik, was Inhalt und Methode betrifft, als unzureichend an; beide waren sie von der Notwendigkeit einer Reform des kirchlichen Unterrichtsund Hochschulwesens überzeugt und leiteten in ihrem Wirkungsbereich die entsprechenden Maßnahmen ein, und zwar mit Hilfe der Fürsten in den jeweiligen Territorien. Ironischer Weise setzten sich mit der Zeit die Postulate der von beiden nicht geliebten Humanisten, was Quellenstudium und Sprachenkenntnisse betrifft, durch. Die Frage, ob und inwieweit Luther durch die mittelalterliche Mystik beeinflußt wurde, wird seit einigen Jahrzehnten in der Forschung diskutiert.72 Wenngleich der Reformator gelegentlich große Sympathie für Werke spätmittelalterlicher Mystik, wie diejenigen Johannes Taulers, Jean Gersons und die anonyme Schrift „Deutsche Theologie" geäußert und Anregungen daraus empfangen hat,73 kann doch als sicher angenommen werden, daß er sowohl von dem Weg der mystischen Erhebung in die transzendente Sphäre als auch von visionären Offenbarungen, die inhaltlich über das in der Bibel enthaltene Glaubensgut hinausgingen, überhaupt nichts gehalten hat. Bei Ignatius wiederum geht es nicht primär um die Rechtfertigung des Sünders durch Gott, vielmehr um die Rettung der Seele, an welcher der Mensch beteiligt ist. Zwischen dem, was Luther in den „Schmalkaldischen Artikeln" als unverzichtbare Errungenschaft seines theologischen Bemühens festgehalten hat und der Spiritualität und Theologie des Ignatius in ihrer historischen Gestalt gibt es deshalb keine Vermittlung;74 sie ist die Verkörperung (und erfolgreiche Wiederbelebung) des Papismus, den er zu bekämpfen und zu überwinden suchte. Luther selbst und seine vom Sola-fide-Prinzip überzeugten Anhänger müßten in Theorie und Praxis der ignatianischen Spiritualität nichts anderes als eine besonders raffinierte Form des von ihnen abgelehnten Synergismus sehen. Ignatius hat in seiner Spiritualität und dem dahinter stehenden theologischen Gedankengebäude, sodann mit seinem Lebenswerk, der Gesellschaft Jesu, die perfekte Konformität mit den Anliegen der „hierarchischen Kirche", das heißt: der Kirche des römischen Papstes in ihrer überkommenen Gestalt, gesucht. Für Luther dagegen stellte das theologische System, das er studiert und jahrelang als Professor weitergegeben hatte, nichts anderes dar als ein Meer von Irrtümern, in denen alle Welt befangen war, wie er sich im Rückblick auf seinen reformatorischen Durchbruch erinnert. Dieser Durchbruch war in seiner letzten Konsequenz gelungen, als er erkannt hatte, „daß der Papst notwendig aus dem Teufel sei".75 Für eine geschichtliche Betrachtung kann es (entgegen der Meinung H A N S U R S VON BALTHASARS und anderer) nicht darum gehen, auf die zukünftige Übereinkunft zweier grundverschiedener Glaubensweisen zu hoffen. Die

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Zeit der einen mittelalterlichen Christenheit ist (was man bedauern darf) vorbei, und ein Teil der heutigen Christen hält, mit sehr guten historischen und theologischen Gründen, an dem Papst als Oberhaupt der Kirche fest, ein anderer Teil kommt, auf ebenso gute Gründe gestützt, ohne ihn aus.

6. Johannes Calvin Während des Dritten Internationalen Kolloquiums über die Bibelexegese des 16. Jahrhunderts im Spätsommer 1988 in Genf kam ich im Gespräch mit GOTTFRIED W. LOCHER (1911-1996) auf das Projekt eines Vergleichs von Ignatius und Calvin zu sprechen. Der bedeutende Schweizer Reformationshistoriker und Zwingli-Forscher 76 meinte, die Durchführung eines solchen Vergleichs könne das gesamte Lebenswerk eines Gelehrten ausfüllen. Von einem Forscher zu erwarten, daß er seine ganze Arbeitskraft über viele Jahre hin auf eine einzige Spezialfrage konzentriert, geht vielleicht ein wenig zu weit. Richtig ist aber zweifellos, daß es sich in diesem Fall, dem Vergleich zwischen Ignatius und Calvin, um ein für die Geschichte der Reformation und ihrer Folgen zentrales Problem handelt, in dessen Verständnis der Schlüssel zur Lösung vieler anderer religions- und kulturgeschichtlicher Fragen gegeben wäre. Als Calvins Hauptwerk gilt die Institutio Cbristianae Religionis, deren erste Fassung er 1536 herausbrachte. 1539, während seines Aufenthaltes in Straßburg, erschien eine zweite, stark erweiterte und verbesserte Fassung des Buches, das nach Auffassung seines Verfassers nichts anderes als eine Einführung in das Verständnis der Heiligen Schrift und damit zugleich in den christlichen Glauben und das Leben nach den Evangelien, eine Art Katechismus also, sein sollte. Während der folgenden zwei Jahrzehnte arbeitete Calvin an der Institutio beständig weiter; die definitive Ausgabe, die schließlich 1559/ 1560 in lateinischer und französischer Sprache vorlag, ist eine ausführliche Dogmatik des christlichen Glaubens in vier Büchern.77 Jede einzelne theologische, rechtliche und pastorale Frage wird auf der Basis der Heiligen Schrift, unter schärfster polemischer Abgrenzung von Theologie und Praxis der Papstkirche, behandelt. In der gesamten Religion der „Papisten" kann Calvin nichts anderes als einen Abfall von der ursprünglichen christlichen Religion, eine Perversion des Evangeliums erkennen. In den Jahrhunderten des Mittelalters sieht er, wie vor ihm schon manche Humanisten und die Reformatoren Huldrych Zwingli und Martin Bucer, eine Epoche der Dekadenz der Kirche, in der Aberglauben und Götzendienst herrschten. Der Anfang von Calvins Testament, das er kurz vor seinem Tod (27. Mai 1564) diktierte, lautet:78 Vor allem anderen danke ich Gott zuerst, daß er sich meiner erbarmte, den er erschuf und in diese Welt setzte, und mich nicht nur aus der tiefen Finsternis des

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Götzendienstes, in die ich versunken war, herausriß, um mich in das Licht seines Evangeliums zu führen und mich der Lehre des Heils teilhaftig zu machen, deren ich ganz unwürdig war; und er hat mit der gleichen Barmherzigkeit und Güte nicht nur meine vielen Fehler und Sünden mit großer Güte ertragen, für die ich verdiente, von ihm zurückgestoßen und vertilgt zu werden, sondern er hat mir so viel Güte und Langmut erwiesen, daß er sich dazu herabließ, sich meiner Arbeit bei der Verkündigung und Verbreitung der Wahrheit seines Evangeliums zu bedienen. Calvin übte in Genf das Amt eines Pastors, das heißt, eines Predigers und Seelsorgers, aus. Die meisten seiner Predigten sind erhalten.79 Außerdem wirkte er als theologischer Lehrer. (Eine theologische Hochschule, die so genannte Académie, wurde erst 1559 formell errichtet). Die Kommentare zu fast allen biblischen Büchern sind aus seinen Vorlesungen entstanden.80 In der Zeit seines Wirkens in Genf übte Calvin in allen europäischen Staaten einen beträchtlichen religiösen und politischen Einfluß aus, der mit den Jahren stärker wurde. Zeugnis dafür ist seine umfangreiche Korrespondenz, worin er mit Ignatius vergleichbar ist.81 Ignatius und Calvin hatten sich ihre Theologie, oder besser: ihr Gesamtverständnis des christlichen Glaubens, eigenständig und eklektizistisch angeeignet; sie als theologische Autodidakten zu bezeichnen, wäre allerdings nicht ganz korrekt. Beide hatten sie ein vollständiges Philosophiestudium absolviert, und zwar in Paris. Das Studium der scholastischen Philosophie, gleich welcher Richtung, brachte notwendig auch eine Begegnung mit den hauptsächlichen theologischen Fragenkomplexen mit sich. Die Pariser Professoren behielt Calvin nicht in guter Erinnerung; er hat sie später gelegentlich als „Esel" (asini Sorbonici) bezeichnet.82 In den Jahren 1528-1531 studierte er in Orléans und Bourges die Rechtswissenschaften. In dieser Zeit begann er auch mit dem Studium des Griechischen. Um die Mitte des Jahres 1531 nach Paris zurückgekehrt, vertiefte er am dortigen Collège Royal seine Kenntnisse in der antiken Literatur. Später erlernte er auch (vor allem in Basel) das Hebräische. Im Hinblick auf seine literarische Bildung, wenn auch nicht seine Gesinnung, kann Calvin als Humanist bezeichnet werden.83 Ignatius hatte, als er in vorgerücktem Alter mit dem Studium begann, genug damit zu tun, sich das Lateinische anzueignen. Daß er sich jemals mit der griechischen und hebräischen Sprache befaßt hätte, ist nicht bekannt. Als Ordensoberer legte er aber später großen Wert darauf, daß der Nachwuchs der Gesellschaft Jesu und die Studenten der von den Jesuiten geleiteten Kollegien eine gediegene humanistische Bildung erhielten. Er selbst hat auf eine akademische Tätigkeit verzichtet; er wirkte in seinen späteren Jahren, so lange sein Gesundheitszustand es erlaubte, als Seelsorger und Prediger. Calvin dagegen übte während der gesamten Zeit seines Wirkens in Genf die Amter des Predigers und des akademischen Lehrers nebeneinander aus (was ein beständiges intensives Bibelstudium voraussetzte), obgleich auch er ein schwerkranker Mensch war.

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Was Calvins Theologie betrifft, so kann hier nicht der Ort einer angemessenen Darstellung und Würdigung sein.84 Es sollen nur einige Gesichtspunkte erörtert werden, die für einen Vergleich mit Ignatius von Interesse sind. In seinem Kampf gegen das überlieferte dogmatische System setzt Luther bekanntlich bei der Kritik der Sakramentenlehre (Büß- und Ablaßwesen) ein. Calvins Kritik dagegen richtet sich in erster Linie gegen den Kultus der mittelalterlichen Kirche, vor allem die Messe. Er steht hier unter dem Einfluß der Polemik der Humanisten gegen den Kult, namentlich der des Erasmus von Rotterdam. Nach deren Auffassung war in der christlichen Religion nur ein rein geistiger Kultus zulässig. Das zentrale Axiom war der Satz des Johannes-Evangeliums (4,24): „Gott ist Geist, und diejenigen, die ihn anbeten, müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten." Ein Kultus mit Zeremonien und äußerem Pomp war nach Calvins Auffassung nur in der „alten" Kirche gestattet, d.h., der jüdischen Kirche des Alten Testaments. Die jüdische Kultgemeinschaft ist für ihn, in stärkerem Maße als für Luther und seine Gefolgsleute, Kirche im Vollsinne des Wortes. Ihre Patriarchen und Propheten sind echte Heilige. Bis heute ist dies erkennbar an der Vorliebe für alttestamentliche Vornamen in den reformierten Kirchen Hollands, Nordamerikas und Südafrikas. Der Gottesdienst der reformierten Kirchen ist von allem „überflüssigen Pomp" befreit: es herrscht absolutes Bilderverbot, einschließlich der Darstellung des Crucifixus, wofür man sich auf das zweite Gebot des Dekalogs beruft. Ursprünglich waren auch Orgeln und Glocken verboten; auch sie wurden, zusammen mit den Altären, bei den ikonoklastischen Exzessen in der Schweiz, in Süddeutschland, Frankreich, den Niederlanden, demoliert.85 Die Kirchen und Kathedralen hießen fortan „Tempel", denn es gibt nach reformierter Auffassung keine besonderen heiligen Orte, ebenso wenig wie heilige Zeiten. Die ersten Reformierten von Genf feierten auch Weihnachten nicht, weil es kein „biblisches" Fest ist.84 Schon in den Regeln, die er am Ende der Exerzitien einschärft, wird deutlich, daß Ignatius in der kultischen Praxis der „streitenden Kirche" seiner Zeit keinesfalls Merkmale der Dekadenz von den apostolischen Idealen erkannt hat, sondern sie als Ausdruck des Willens der „wahren Braut Jesu Christi" respektiert wissen wollte.87 Kulturgeschichtlich bedeutsam ist, daß Ignatius und sein Orden mit dieser Haltung die kultischen Formen des Mittelalters in ein neues Zeitalter, das des Barock, hinübergerettet haben, in dem sie in prachvolleren und triumphaleren Inszenierungen wiedererstanden. Im Gegensatz dazu scheint zu stehen, daß Ignatius für den Orden selbst in kultischer Hinsicht die extreme Bescheidenheit und Reduktion zum Gesetz erhoben hat.88 Wie vor ihm Luther und die anderen Reformatoren sieht Calvin in der Heiligen Schrift die einzige Quelle für den Glauben, weil sie allein den Willen Gottes zum Ausdruck bringt. Die kirchlichen Lehr- und Gesetzestraditionen sind dagegen Menschenwerk, das die Reinheit des Wortes Gottes verfälscht. Die Geschichte der Kirche ist deshalb die Geschichte einer fortschreitenden

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Dekadenz von der Höhe und Reinheit des Apostolischen Zeitalters bis in die Tiefen spätmittelalterlichen Irr- und Aberglaubens, die ihren Ausdruck findet in den unzähligen Altären und Bildwerken - in den Augen der Reformatoren Götzen, die „abgetan", das heißt, demoliert und verbrannt werden müssen. Nüchtern betrachtet (nicht nur aus heutiger Sicht!) ist das Sola-ScripturaPrinzip eine Fiktion. Denn alle Reformatoren, von Luther bis Calvin, waren der Meinung, die altkirchlichen Dogmen der Trinität und der Zwei-NaturenLehre seien bereits klar und eindeutig in den Schriften des Neuen Testaments bezeugt. Deshalb hat Calvin zum Beispiel in Michel Servet, der im JohannesEvangelium die traditionelle Christologie partout nicht finden konnte, eine Art von Wiedergeburt des altkirchlichen Ketzers Arius gesehen und ihn verfolgt.89 In der Sicht der heutigen Bibelwissenschaft - und dabei besteht kein Unterschied zwischen protestantischen und katholischen Exegeten - ist die Bibel keine Sammlung von eindeutigen Gottesoffenbarungen; vielmehr stammen die in ihr enthaltenen Texte von verschiedenen Autoren und sind unter bestimmten geschichtlichen Bedingungen entstanden. Sie können deshalb mit Hilfe philologischer und historischer Methoden interpretiert werden. (Daß auch die moderne historisch-kritische Methode ihre Grenzen und Schwächen hat, soll hier nicht weiter erörtert werden). Ähnlich ist es mit dem reformatorischen Prinzip der Klarheit und Eindeutigkeit der Schrift (Ciaritas Scripturae). Nach ihm sprechen die alttestamentlichen Propheten und Psalmen eindeutig von Christus. Die Juden, die das - wider besseres Wissen! - aus Obstinatheit oder Bosheit nicht erkennen wollen, werden deshalb teilweise noch heftiger bekämpft und verfolgt, als es in der mittelalterlichen Gesellschaft der Fall gewesen war. In Ubereinstimmung mit dem Prinzip der Ciaritas Scripturae hielt Calvin die Schrift im ganzen für einfach und verständlich. Auch enthält die Bibel die vollständige und ausreichende Offenbarung der Wahrheit, die Gott den Menschen mitteilen wollte. Daraus folgt, daß das Wort Gottes die einzige theologische Erkenntnisquelle ist. Was der menschliche Geist sich daneben ausdenkt, führt auf Abwege. Es ist hier der denkbar schärfste Gegensatz zu der die gesamte Exegese der Kirchenväter und des Mittelalters beherrschenden Hermeneutik des Origenes ausgesprochen, nach der keineswegs alles für den Glauben Notwendige und Wissenswerte in der Heiligen Schrift steht und die biblischen Bücher auch viel Ungereimtes, Widersprüchliches und Unmoralisches enthalten. Für beide Fälle - den der Unvollständigkeit und den der vordergründigen Vernunftwidrigkeit der Heiligen Schrift - gilt das Gebot Gottes: „Zündet euch selbst das Licht der Erkenntnis an."90 Als erstes von allen biblischen Büchern hat Calvin den Römerbrief des Apostels Paulus ausgelegt. Der Römerbrief-Kommentar erschien zum ersten Mal im März 1540, kurz nach der zweiten Fassung der Institutio von 1539. Calvin erkannte dem Römerbrief gewissermaßen die hermeneutische Leitfunktion für das Verständnis der gesamten Heiligen Schrift zu. In seiner Einleitung (Argumentum) schreibt er, daß diesem Brief neben anderen her-

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vorragenden Eigenschaften auch eine unschätzbare zukomme: Wenn man nämlich seinen wahren Sinn erfaßt hat, so hat man eine offene Tür zu allen verborgenen Schätzen der Schrift.91 Der Zugang zur biblischen Theologie eröffnet sich für Calvin also von Paulus her; wie Luther ist er im Grunde ein „paulinischer Theologe".92 Im Verlauf seiner intensiven Beschäftigung mit der Bibel, die sich aus seinen beiden hauptsächlichen „beruflichen" Aufgaben, der des akademischen Lehrers und der des Predigers, ergab, konnte es allerdings nicht ausbleiben, daß Calvin sich mit dem Problem „scheinbarer Widersprüche" - species repugnantiae, wie er selbst sagt - konfrontiert sah, und zwar keineswegs nur in Randbereichen, sondern bei zentralen Fragen biblischer Theologie. Schon in seinem Kommentar zum Zweiten Korintherbrief von 1548 war er bei der Auslegung des Verses 5,19: „Gott war in Christus und hat die Welt mit sich versöhnt, indem er ihnen ihre Übertretungen nicht anrechnete" darauf gestoßen, daß die (paulinische) Imputationslehre in Widerspruch geraten kann zu der Vorstellung der allumfassenden Liebe Gottes, welche die Sünder bereits vor ihrer Rechtfertigung durch Christus einschließt.93 Schon damals hatte er auf die Stellen Eph 1,4: „Er hat uns in ihm schon vor der Erschaffung der Welt erwählt" und Joh 3,16: „Denn so sehr hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen eigeborenen Sohn hingegeben hat" hingewiesen. In seinem großen Kommentar zum Johannes-Evangelium von 1553 (1555. 1560. 1563) geht er ausführlich auf die Frage ein. Dabei weist er zusätzlich noch auf Rom 5,10 hin: Gott hat uns schon geliebt, als wir noch aufgrund der Sünde seine Feinde waren. Demnach ist es allein die Barmherzigkeit, die uns mit Gott versöhnt und uns zugleich das Leben wiedergibt.94 Diese Ausdrucksweise (modus loquendi) scheint nun aber im Widerspruch zu vielen anderen Zeugnissen der Schrift zu stehen, nach denen der Grund für Gottes Liebe zu uns in Christus zu suchen ist, ohne den und außerhalb dessen wir Gott verhaßt sind. Calvin löst diesen Widerspruch auf, indem er das Verhältnis von Liebe Gottes und Versöhnung durch Christus folgendermaßen beschreibt: Die verborgene Liebe, mit der uns der himmlische Vater bei sich selbst umfangen hat, hat vor allen anderen Ursachen den Vorrang, weil sie aus seinem ewigen Vorsatz fließt. Die Gnade aber, die er uns bezeugt haben will und durch die wir zum Vertrauen auf das Heil aufgerichtet werden, beginnt von der durch Christus erlangten Versöhnung.

Hier wie an anderen Stellen ist es der übergeordnete Gesichtspunkt der Scripturae doctrina, von dem aus Calvin die vordergründigen Widersprüche im Text der Schrift aufzulösen sucht. Mit dem eben besprochenen Problem hängt das wohl bekannteste Theologumenon Calvins zusammen: die Lehre von der ewigen Erwählung (Vorherbestimmung, Prädestination) Gottes.95 Die Frage nach dem Verhältnis von Gottes Vorherbestimmung und menschlicher Willensfreiheit ist so alt wie die

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christliche Theologie. Theologen wie der altkirchliche Ketzer Origenes und in seinem Gefolge die griechischen Kirchenväter geben der menschlichen Freiheit und dem Mitwirken des Menschen an seinem Heil einen sehr hohen Stellenwert. Mittelalterliche Theologen, deren Denken unter dem Einfluß der Gnadenlehre des heiligen Augustinus steht, und sämtliche Reformatoren betonen die überragende Bedeutung des göttlichen Willens (Deus omnia, homo nihil).96 Calvin hat bezüglich der Prädestination Gottes einen extremen Standpunkt vertreten. Er ist, wenn man so will, der radikalste „Augustinist". Das hängt auch zusammen mit seinem Menschenbild. Er betont sehr oft die allgemeine Verworfenheit der Menschen. Die Menschen sind blind und Sklaven des Satans, solange sie nicht durch das Licht des Glaubens erleuchtet werden. Satan und sein Wirken sind in Calvins Schriftauslegung und Predigt nahezu omnipräsent. Die Menschen, die nicht von Gottes Geist geleitet werden, sind gewissermaßen unter dem geheimen Antrieb ihrer Natur (quasi arcano naturae instinctu) dem Einfluß des Bösen ausgesetzt. Calvin sieht deshalb in der antiken Philosophie und der gesamten Kultur der Antike und des Humanismus „nichts als Blödsinn". Die Stadt Athen, die im Altertum als Sitz der Weisheit und Ursprungsort aller Künste galt, ist für ihn das Weltzentrum des Aberglaubens und der Idololatrie, das „der Satan vor allen anderen Städten um den Verstand" gebracht hatte (zu Act 17,16).97 Das Begriffspaar „Erwählung - Verwerfung" (electio, reprobatio) oder konkret: „die Erwählten - die Verworfenen" (electi, reprobi) ist für Calvins Theologie und Schriftauslegung zentral. So wird die Interpetation der Verkündigung Christi, der durch Christus geschehenden Berufung Gottes an die Menschen, von der Erwählungsvorstellung her interpretiert. Eine Berufung zum Glauben und eine Entscheidung für denselben beim „Sehen" des Sohnes, wie sie im Johannes-Evangelium vorausgesetzt werden (Joh 6,40), ist für Calvin nicht vorstellbar. Vielmehr hat Gott durch Vorherbestimmung von Ewigkeit her (aeterna praedestinatione) festgelegt, wer auf das Evangelium hört und damit zu den Gläubigen zählt. Sein ewiger Erlaß (aeternum suum decretum) ist an sich geheimnisvoll und verborgen. Aber Gott legt ihn/«r uns offen in seiner Berufung. Die (durch das Evangelium geschehende) Berufung hat also nicht das Ziel, die Menschen zum Glauben zu führen, sondern den von Gott Erwählten ihre Bestimmung zum ewigen Heil zu offenbaren. Calvin warnt jedoch eindringlich davor, aus den gegenwärtigen Lebensumständen der Menschen auf ihren Stand in den Augen Gottes zu schließen (zu Act 23,8).98 Wer deshalb aus dem gegenwärtigen glücklichen oder widrigen Lebensgeschick der Menschen auf Gottes Urteil Rückschlüsse zieht, der muß notwendiger Weise am Ende vom Glauben in eine epikureische Verachtung Gottes fallen. Es ist doch ein tierischer Stumpfsinn, im flüchtigen und vergänglichen Leben auszuruhen und keine über die Erde hinausgehende Erkenntnis zu suchen. Umso mehr muß man vor dem erwähnten Irrtum fliehen, nicht anders als vor einem

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widerlichen Scheusal. Denn wenn die Frömmigkeit auch Verheißungen für das irdische Leben hat, so sind wir doch überaus elend, wenn unsere Hoffnung sich auf die Welt verläßt. Und so müssen Gottes Kinder mit der Übung anfangen, daß sie ihre Augen zum Himmel erheben und beständig die Herrlichkeit der endgültigen Auferstehung meditieren. Man sieht, daß allenfalls ein primitiver Vulgär-Calvinismus späterer Generationen vom irdischen Erfolg auf die ewige Erwählung schließen konnte. Auf Calvin selbst kann sich eine solche Haltung nicht berufen. Der weist vielmehr, unter Berufung auf den 73. Psalm, ausdrücklich darauf hin, daß die Gottlosen oft in Freuden leben, die wahren Gottesverehrer dagegen große Bedrängnis erleiden. Auch die Erfahrung lehrt, daß Gute und Böse unterschiedslos von Mißgeschick oder günstigen Lebensumständen betroffen sind. Was hier über Erwählung und Berufung des einzelnen Menschen gesagt ist, gilt nach Calvin auch für die Berufung der Völker zur Kirche, wie sich an der nächtlichen Offenbarung an Paulus bezüglich der Einwohner von Korinth zeigen läßt: „Denn ich habe ein zahlreiches Volk in dieser Stadt" (Act 18,10)." Gott nennt also hier sein Volk, das doch mit Recht damals noch als fern von Gott stehend angesehen werden konnte. Weil es aber im Buche des Lebens aufgeschrieben war und alsbald in die Familie aufgenommen werden sollte, wird es im eigentlichen Sinne mit diesem ehrenhaften Titel ausgezeichnet. Denn wir wissen, daß viele Schafe eine Zeitlang außerhalb der Herde umherschweifen, so wie sich andererseits viele Wölfe unter die Schafe mischen. Diejenigen also, die Gott kurze Zeit später für sich zu erwerben entschlossen war, die anerkennt er schon jetzt, im Blick auf ihren zukünftigen Glauben, als sein Volk. Aber erinnern wir uns daran, daß diejenigen in den Leib Christi eingegliedert sind, die durch Gottes ewige Adoption dazu gehören, wie geschrieben steht: „Dein waren sie, und du hast sie mir gegeben" Qoh 17,6]. Wir haben hier eine der tiefgründigsten Ausführungen Calvins zur Prädestination Gottes und darüber hinaus zum Verhältnis von Zeit und Ewigkeit. Es ist bekannt, daß der Reformator Spekulationen zu diesem Thema mit großer Skepsis betrachtet hat, weil sie seiner Meinung nach über den von der Schrift gesetzten Rahmen hinausgingen.100 Umso bemerkenswerter sind seine oben zitierten Ausführungen, die zeigen, daß er sehr wohl erkannt hat, daß die Ewigkeit Gottes die Zeit transzendiert und an der Erörterung dieses Problems kein Weg vorbeiführt. Das Bild vom Uber vitae für Gottes ewigen Ratschluß und die vor aller Zeit erfolgte Adoption der Kinder Gottes, das Calvin verwendet, begegnet des öfteren im Alten und im Neuen Testament (Sir 24,32; Phil 4,3; Apoc 3,5; 20,12; vgl. Dan 12,1; Lc 10,20), aber auch im Kontext franziskanisch geprägter Mystik. Die gleiche Problematik bewegt Calvin auch in seiner Auslegung der Predigt des Paulus zu Antiochien in Pisidien (zu Act 13,33).101 Er erörtert dort

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das Verhältnis der vom ewigen Vater vor der Zeit gezeugten Weisheit zu deren Offenbarung gegenüber den Menschen in der Zeit: „Denn was verborgen im Herzen Gottes war, das wurde nun den Menschen offengelegt." In der ewigen Zeugung hat Gott Christus ganz bestimmte Merkmale eingeprägt, durch die er bei seinem Eintritt in die Welt als sein Bild (expressa eins imago) und sein Sohn anerkannt wurde. Bemerkenswert ist die Verwendung des Begriffes cor Dei im Zusammenhang mit der ewigen Vorherbestimmung. Der Begriff begegnet in dieser Weise nicht in der Bibel, wohl aber in den Offenbarungen der Cistercienserinnen von Helfta - Mechthild von Hackeborn und Gertrud die Große -; 102 womit nicht gesagt sein soll, daß Calvin eine direkte Kenntnis dieser Mystikerinnen des 13. Jahrhunderts gehabt hätte. Aber in seinem Denken zeigen sich zahlreiche und ganz unverkennbare Spuren mittelalterlicher Mystik und Frömmigkeit, und manches davon erinnert an Ignatius von Loyola. Wie wir bereits gesehen haben, geht es Calvin um eine „über die Erde hinausgehende Erkenntnis". An zahlreichen Stellen seiner Werke findet sich die Mahnung, die Herzen, die Intentionen „nach oben" (sursum) zu richten. Zweifellos ist hier eine Reminiszenz an die Worte in der Präfation der katholischen Messe Sursum corda - und vielleicht auch an die mystische Erhebung in den jenseitigen, himmlischen Bereich - im Spiel.103 Das Wort „sursum" verwendet Calvin in drei Zusammenhängen: seiner Beschreibung des Glaubens, seiner Abendmahlslehre und seiner Lehre vom religiösen Leben und dem Wirken des Heiligen Geistes in der Seele des Gläubigen. Um das letztere geht es in Calvins Auslegung der Vision des Stephanus (Act 7,55). Im Gegensatz zu Stephanus, so führt er aus, zeigt sich uns Christus nicht, da wir zu sehr den Niederungen der Erde verhaftet sind. Für dieses Laster gibt es aber kein anderes Heilmittel, „als daß der Geist Gottes uns, die wir von Natur aus zur Erde geneigt sind, nach oben richtet". 104 In der Kirche des apostolischen Zeitalters war die visionäre Stärkung von Seiten des Herrn ein wesentlicher Teil der religiösen Erfahrung, besonders in Situationen, in denen die Heiligen um des Glaubens willen ihr Leben riskierten. Wie steht es damit heute? Dazu antwortet Calvin: Lukas meint damit, wie ich bereits ausgeführt habe, Christus sei dem Stephanus erschienen, sobald er seine Augen zum Himmel erhob. Aber vorher betont er, Stephanus sei mit anderen als irdischen Augen ausgestattet gewesen, um mit deren Sehvermögen bis zur Herrlichkeit Gottes emporzufliegen. Daraus müssen wir die allgemeine Tröstung ableiten, daß Gott uns keinen geringeren Beistand gewähren werde, wenn sich, unter Zurücklassung der Welt, alle unsere Sinne auf ihn richten. Nicht daß er uns mittels einer äußeren Vision erschiene, wie dem Stephanus, sondern daß er sich uns innerlich so offenbart, daß wir seine Gegenwart wirklich verspüren. Und diese Art zu sehen muß uns genügen, da Gott mittels seiner Kraft und Gnade nicht nur seine Nähe aufzeigt, sondern darüber hinaus beweist, daß er in uns wohnt.

Johannes Calvin

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Calvin will damit sagen, daß bei den heutigen Christen die innere religiöse Erfahrung an die Stelle der äußeren Visionen getreten ist, die die Heiligen der Urkirche erlebten, und daß sie ihnen gleichwertig ist.105 Im Zusammenhang der Interpretation der „Betrachtung zur Erlangung der Liebe" der ignatianischen Exerzitien war oben die Rede von der Introspektion, dem aufmerksamen Blick ins eigene Innere, der für die Spiritualität des Loyola charakteristisch ist.106 Auch Calvin kennt eine solche Introspektion, die zur Gewißheit über die Gegenwart Gottes im Innersten führt. Während aber Ignatius die Erkenntnis seiner Abhängigkeit mit dem Wort „von oben" (desursum, de arriba) beschreibt, führt bei dem Genfer Reformator die Richtung der inneren Erkenntnis „nach oben" (sursum, en haut). In seinem Kommentar zur Apostelgeschichte findet sich eine bissige Bemerkung über „die in der Welt befangenen Heuchler", „die Gott vom Himmel herabziehen wollen."' 07 Er zielt damit aber nicht auf Ignatius, sondern auf die „papistische" Lehre von der Realpräsenz Christi im Abendmahl. Es erinnert - nicht nur im Wortlaut! - an Ignatius und die Gesellschaft Jesu, wenn Calvin in der Auslegung von Act 1,3 schreibt, Christus hebe uns durch die Verkündigung des Evangeliums zur Meditation des zukünftigen Lebens empor; Ziel der fortschreitenden Vervollkommnung des geistlichen Lebens sei „die gesellschaftliche Teilhabe an der Herrlichkeit Gottes" (divinae gloriae societas).108 Der Weg dorthin führt allerdings über die societas mit dem leidenden Christus. Im Blick auf Is 53,7f. und Phil 2,7-10 schreibt Calvin (zu Act 8,33):109 Jetzt müssen wir darüber nachdenken, welche Gemeinschaft (Gemeinsamkeit: societas) wir mit Christus haben, damit es niemandem beschwerlich und lästig ist, auf dem gleichen Weg fortzuschreiten.

Für die Gläubigen ist es ein ganz hervorragender Trost, wenn sie hören, daß sie in ihrem leidvollen Zeugnis für das Evangelium den Sohn Gottes als „Gefährten des Kreuzes" (socium crucis) haben.110 Man erinnert sich hier sogleich an die Vision des Ignatius in La Storta; es geht dort im Grunde um den gleichen spirituellen Prozeß. Ignatius allerdings berichtet von einer besonderen religiösen (mystischen) Erfahrung, während Calvin von dem geistlichen Leben des normalen Christen spricht, das durch die Meditation der in der Heiligen Schrift vermittelten Leidens- und Kreuzesbotschaft zur Vollkommenheit geführt werden soll. In seinem Kommentar zum Zweiten Korintherbrief von 1548 (1551. 1556) führt Calvin aus, die Gemeinschaft mit dem Leiden und Tod Christi eröffne dem Gläubigen die Pforte zur Auferstehung und zum ewigen Leben:111 Denn Christus hat uns ja zu dem Zweck sich zugesellt (sibi consociavit!), daß wir Anteil gewännen an seinem Leben, wenn wir es in dieser Welt aushalten, mit ihm zu sterben.

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X. Zeitgenossen

Wenn die Korinther also die Niedrigkeit und die Leiden des Apostels verachten und darin sogar einen Anlaß sehen, ihn zu beschimpfen, dann beleidigen sie Christus selbst. Sie zeigen damit, daß sie vom Wesen des christlichen Daseins überhaupt nichts begriffen haben: sie machen sich ein „Christentum ohne Kreuz" (Christianismum absque cruce) zurecht.112 Die auf die christliche Existenz bezogene Theologie des Kreuzes, die Calvin hier in Ansätzen vorträgt,113 schließt sich eng an die Gedanken des Apostels Paulus an, doch ist die Nähe zur religiösen Lebenshaltung und Spiritualität des Ignatius nicht zu übersehen, die ihrerseits franziskanische Merkmale aufweist. In die Nähe mittelalterlicher Kreuzesmystik rückt Calvins Kreuzestheologie, wenn er im Anschluß an Paulus die Gläubigen (mit sonst bei ihm ungewohnter Emphase) zur Nachfolge Christi im Leiden aufruft; so zu Phil 1,28: 1H O, wenn doch tief in unseren Herzen die Uberzeugung verankert wäre: die Verfolgungen seien unter Gottes Wohltaten zu zählen! Was für ein Fortschritt wäre das in der Lehre der Frömmigkeit! Was ist denn sicherer, als daß es der höchste Gnadenerweis Gottes ist, wenn wir für seinen Namen Verunglimpfung oder Kerker oder Beschwernisse oder Qualen oder am Ende den Tod erleiden? Dann nämlich zeichnet er uns mit seinen Ehrenzeichen aus. Aber man wird wohl mehr Leute finden, die eher geneigt sind, Gott aufzufordern, mit solchen Geschenken aufzuhören, als daß sie mit dankbarem Herzen das dargebotene Kreuz umarmten. Deshalb: Wehe unserer Gefühllosigkeit! Zum folgenden Vers Phil 1,29 („Weil es euch für Christus gegeben ist, nicht nur an ihn zu glauben, sondern auch für ihn zu leiden") fährt er dann in nüchternerem Ton fort: Mit Bedacht bringt er [Paulus] in einer untrennbaren Verbindung Glauben und Kreuz in eine wechselseitige Beziehung, damit die Philipper wissen, sie seien unter der Bedingung zum Glauben an Christus berufen, daß sie für seinen Namen Verfolgungen auf sich nehmen müssen; als ob er sagen wollte, ihre Adoption könne ebenso wenig vom Kreuz getrennt werden, wie Christus selbst von ihnen weggenommen werden könnte. In der Galaterbrief-Vorlesung von 1548 (zu 3,1: „Denen Christus vor die Augen gemalt ist, unter euch gekreuzigt") mahnt Calvin die zukünftigen Diener des Evangeliums, nicht nur sprechen und deklamieren zu lernen, sondern auch in die Gewissen einzudringen, damit für die Hörer „der gekreuzigte Christus sinnlich fühlbar werde und sein Blut tropfe. Wo die Kirche solche Maler hat, da braucht sie keine hölzernen und steinernen, das heißt, toten, Bilder mehr; sie verlangt überhaupt nicht mehr nach Gemälden." 115

XI H Ö H E U N D ENDE DES LEBENS

1. Ignatius und die Frauen Die erschöpfende Behandlung des Verhältnisses, das Ignatius von Loyola zu der Frau und zu den Frauen hatte, würde eine Art historischer Psychoanalyse voraussetzen, wie sie M E I S S N E R in seinem mehrfach erwähnten Buch versucht hat. Daß Erlebnisse seiner Kindheit und seiner frühen Jugend sein Frauenbild und seinen späteren Umgang mit Frauen entscheidend geprägt haben, ist unbestreitbar und geht aus den Quellen klar hervor. Zu diesen Erlebnissen gehören der frühe Verlust der Mutter, die Betreuung durch Ersatzmütter wie die Amme Maria Garin und die Schwägerin Magdalena de Araoz ebenso wie die Liebesabenteuer mit willigen Damen und Huren und die intensiv kultivierte Sehnsucht nach einer unerreichbaren Herzensdame aus spanischem Hochadel wie der Infantin Catarina. In seinem Buch: Ignatius von Loyola. Briefwechsel mit Frauen (1956) hat H U G O R A H N E R die (vollständige!) erhaltene Korrespondenz des Ordensstifters mit Frauen seiner Zeit zusammengestellt und mit sachkundigen Einführungen in den historischen und religiösen Hintergrund der jeweiligen Dokumente versehen. Das Werk ist hinsichtlich der verschiedenen Aspekte umfassend und sehr sorgfältig gearbeitet, so daß weitere Äußerungen zu dem Thema eigentlich überflüssig scheinen könnten. Was jedoch den heutigen Leser stört, ist die nahezu blinde Bewunderung und Devotion, die der Verfasser seinem Ordensvater allenthalben zollt. Ignatius wird immer in das beste Licht gerückt. Dabei ist sein Verhältnis zu den Frauen keineswegs unproblematisch, und bei nüchterner Betrachtung zeigen sich im Gebaren und Charakter des großen Heiligen, neben seinen seelsorgerlichen Verdiensten und Fähigkeiten, auch evidente Schwachstellen. Wenn P. R A H N E R dem Heiligen generell unterstellt, daß er „die Seele der Frau scharf durchschaut",1 so ist, - vorausgesetzt, die Feststellung sei zutreffend -, doch zu fragen, was die ihn in dem Verhältnis zu den Frauen, mit denen er korrespondierte, leitende Grundeinstellung war. War er etwa von den Gefühlen unvoreingenommener Freundlichkeit, Herzlichkeit, Zuneigung geleitet? Die Frage zu stellen, heißt sie zu verneinen. Nicht, daß ihm solche menschlichen Gefühlsregungen fremd gewesen wären; aber seine Intention war nicht primär auf das Einfühlen in die Seelenzustände seines jeweiligen weiblichen Gegenübers gerichtet, sondern auf die Rettung der (unsterblichen) Seele. R A H N E R selbst hat einem Kapitel seines Buches die Uberschrift gegeben: „Der unerbittliche Tröster". Ignatius war ein unerbittlicher Seelsorger, der mit den seelischen Befindlich-

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keiten „geistlicher Töchter" sehr hart, zuweilen rücksichtslos umspringen konnte. Das trifft vor allem zu für diejenigen Frauen, die sich, mit seinem Willen und seiner Zustimmung, auf seine Spiritualität und Führung so weit eingelassen hatten, daß sie seiner Lebensregel in einem weiblichen Zweig der Gesellschaft Jesu, als Jesuitinnen also, nachfolgen wollten, wie die unglückliche Isabel Roser. Der Fall Isabel Roser Inigo hatte die reiche, vornehme Dame Isabel Roser (Rosell, Rosés) kennengelernt, als er im Frühjahr 1523 in Barcelona auf ein Schiff wartete, das ihn nach Italien bringen sollte. Ihr Haus, das sie mit ihrem erblindeten Gatten Juan bewohnte, lag gegenüber der Kirche San Yusto y Pastor, wo der Pilger seine Andachten verrichtete. Sie rettete ihm damals das Leben durch den Rat, nicht das kleine Schiff zu nehmen, auf dem er bereits einen Platz reserviert hatte, sondern an Bord eines größerens Schiffes zu gehen; das kleine Schiff ging nach der Ausfahrt aus dem Hafen mit allen Passagieren unter. 2 Später, als Inigo in Paris studierte, unterstützte sie ihn und seine Gefährten tatkräftig mit finanziellen Mitteln, die sie auch bei Freundinnen und Bekannten zusammenbettelte. Am 10. November 1532 schreibt Ignatius an Isabel einen langen Trostund Dankesbrief als Antwort auf mehrere Klagebriefe, in denen sie ihm unter anderem über ihre Krankheiten, aber auch über vielfältige Verleumdungen, unter denen sie zu leiden hatte, berichtet hatte. 3 Bezüglich der üblen Nachreden enthält der Brief folgenden frommen Trost: Möge es der Mutter Gottes gefallen, daß noch größere Schmähungen über sie kommen, damit Sie mehr und mehr Verdienste erwerben - vorausgesetzt, daß Sie im Hinblick auf die noch größeren und ganz ungerechten Anfeindungen, die Christus unser Herr unseretwegen erduldete, ganz geduldig und standhaft sind und daß es ohne Sünde des Nächsten ginge. In Sätzen wie diesem liegt die Erklärung für die Anhänglichkeit vieler Verehrer und Gefolgsleute des Heiligen, vor allem von Frauen und Jugendlichen: zu einem Seelenführer oder Guru gehört es, daß er auch den moralischen Knüppel schwingen und, an Stelle des erwarteten Seelentrostes, drastische Forderungen stellen kann. Uber seine Dankespflicht gegenüber seinen Wohltäterinnen schreibt Ignatius: Wenn meine Schwäche nicht ausreicht, in diesem Punkt alles zu erfüllen, was meine Pflicht ist, so bleibt mir als einzige Zuflucht nur übrig, alle Verdienste aufzuzählen, die ich vor dem Antlitz Seiner göttlichen Majestät sammle (wenn ich sie natürlich auch nur gewinnen kann mit Hilfe seiner Gnade) und dann zu bitten, der gleiche Herr und Gott möge sie übergehen lassen auf die Menschen,

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bei denen ich in Dankesschuld bin, auf jeden einzelnen in dem Ausmaß, als er mir geholfen hat im Dienst an Gott. Das gilt aber in erster Linie für Sie, denn Ihnen verdanke ich mehr als allen anderen Menschen, die ich hienieden kenne. Und so wie ich dies dankbar anerkenne, so hoffe ich auch zu Gott unserem Herrn, daß er mir helfe, in dieser Anerkennung immer weiter voranzuschreiten. Glauben Sie mir also, daß ich jetzt und von nun an immer Ihre Liebe und vernünftige Gesinnung mir gegenüber mit genau der gleichen Freude und dem gleichen geistlichen Trostgefühl aufnehmen werde wie alles Geld, daß sie mir etwa zukommen lassen.

An materieller und geistiger Unterstützung hat Dona Isabel es auch in den folgenden Jahren nicht fehlen lassen. Ignatius dagegen ließ nur selten etwas von sich vernehmen. Als Hauptgrund dafür führt er in seinem nächsten erhaltenen Brief die Verfolgungen an, deren er sich nach seiner Ankunft in Rom zu erwehren hatte. Es ist der bereits früher erwähnte Brief, den er wenige Tage vor seiner Primiz, am 19. Dezember 1538, an Isabel schrieb; er ist besonders wertvoll wegen des ausführlichen und authentischen Berichts über die Schwierigkeiten in Rom bis zu deren definitiver Überwindung dank des Wohlwollens des Papstes Paul III. 4 „Die Worte der Dankbarkeit in diesem Brief schlingen die Kette der Verpflichtung, die Inigo gegen Isabel fühlt, noch e n g e r " ( H . RAHNER). Denn wenn ich vergäße, wieviel ich den Herrn schulde für alles, was ich durch Ihre Hände, durch Ihre so aufrichtige und treue Liebe empfangen habe, dann würde, glaube ich, Seine göttliche Majestät sich auch meiner nicht erinnern, wo doch Sie aus Liebe und Ehrfurcht gegen Gott allezeit so viel für mich aufgewendet haben ... Denn ich sage es Ihnen mit vollkommener Sicherheit: wenn ich Ihrer vergäße, dann müßte ich ebenso glauben, daß mein Schöpfer und Herr mich vergißt ...

Im gleichen Atemzug versichert er ihr, er werde ihr über die Weiterentwicklung der Gesellschaft des öfteren Bescheid geben und sie an allen Werken, die Gott durch ihn auf den Weg bringen werde, teilhaben lassen. Wenn es eine „Tragödie" der Dona Isabel und des Ignatius (H. RAHNER) gegeben hat, dann ist vor allem hier deren Grund gelegt worden. Aus Sätzen wie den eben zitierten mußte Isabel nicht nur auf die Dankbarkeit des Ignatius, sondern auf eine tiefe innere Ubereinstimmung von dessen Absichten mit den ihren schließen. Nachdem ihr Mann Juan am 8. November 1541 gestorben war, erwog sie eine Zeitlang, in eines der Frauenklöster von Barcelona einzutreten. Bei den Hieronymitinnen hätte sie aber eine Reform durchsetzen müssen, wozu sie keine Lust hatte; auch in dem Sankt-Klara-Kloster, in den ihre Freundin Sor Teresa Rejadella lebte, waren die rechtlichen und disziplinären Verhältnisse verworren.5 Anfang des Jahres 1542 faßte Isabel den Entschluß, nach Regelung ihrer Vermögens- und Erbschaftsangelegenheiten nach Rom zu reisen und sich dem Gehorsam des Ignatius zu unterstellen. Ihre Pläne wurden unterstützt durch P. Antonio de Araoz, der damals in Barcelona im Kreis der vornehmen Ver-

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ehrerinnen seines Ordensgenerals als Seelsorger wirkte und die Gründung eines weiblichen Zweigs der Gesellschaft Jesu nicht ungern gesehen hätte. Ignatius selbst war von den Absichten seiner geistlichen Tochter überhaupt nicht begeistert. Am 19. Juni 1542 schrieb er ihr sehr reserviert: sie möge prüfen, ob es der gute oder der böse Geist sei, der hinter ihren Plänen stehe.6 Doña Isabel las daraus so etwas wie eine Zustimmung des Ignatius, denn sie hatte das Gefühl, daß sie vom guten Geist geleitet war, der sie mit innerer Kraft und Ruhe, Freude und Hoffnung erfüllte. Von Seiten des geistlichen Vaters mußte sie allerdings schon in Barcelona eine herbe Enttäuschung erleben: Der Ordensgeneral beorderte, aus welchen Gründen immer, die Patres Araoz und Diego de Eguia, die sich bei der städtischen Bevölkerung aufgrund ihrer seelsorgerlichen Tätigkeit einer großen Beliebtheit erfreuten, nach Rom. Isabel protestierte dagegen in mehreren Briefen an Ignatius, allerdings vergeblich.7 Auch der Versuch, die mächtige Vizekönigin Eleonor de Borja (die Gemahlin des Herzogs und späteren Jesuitengenerals Francisco de Borja) einzuschalten, führte zu keinem Ergebnis. Im April des kommenden Jahres 1543 machte sich Doña Isabel in Begleitung ihrer Dienerin Francisca Cruyllas und ihrer Freundin Isabel de Josa auf die Reise nach Rom. Als die Frauen vor der Pforte von Santa Maria della Strada standen, zeigte sich Ignatius höchst überrascht. Der Empfang war, wie sich Isabel in späteren Jahren erinnert hat, sehr frostig, um nicht zu sagen: unhöflich.8 Er ließ die Frauen zunächst in einer Privatwohnung unterbringen und stellte den schon bejahrten Laienbruder Stefano de Eguia, den Bruder Diegos, zu ihrem Dienst frei. Bald danach fand er eine Aufgabe für sie: die Betreuung der im Martha-Haus untergebrachten Frauen, mit der bereits die hochadeligen römischen Damen Margherita de Austria und Vittoria Colonna befaßt waren. Isabel nahm sich ihrer neuen Aufgabe mit Tatkraft und Entschlossenheit an. Sie zog in das Hospital, wo sich ihr eine fromme Dame, Donna Lucrezia de Bradine, anschloß. Offenbar fühlte sie sich aber durch ihre Arbeit nicht ausgelastet. Ihr eigentliches Ziel war ja die Ablegung der Ordensgelübde in die Hand ihres verehrten Meisters und die Aufnahme in die Gesellschaft Jesu. Ignatius aber verfolgte Doña Isabel gegenüber eine hinhaltende Taktik und schob die Entscheidung immer wieder hinaus. Nach zwei Jahren war aber die Geduld der resoluten Frau zu Ende. Sie wandte sich mit einer Bittschrift an den Papst Paul III. persönlich.9 Nach Darstellung ihrer Situation und ihres Verhältnisses zu Ignatius spricht sie ihre Bitte aus: Demütig bitte ich nun Euer Heiligkeit, mir die Aufnahme in den besagten Orden von Jesus zu gewähren und dem Magister Ignatius befehlen zu wollen, daß er meine feierlichen Gelübde entgegennehmen, während seines ganzen Lebens sich um mein Seelenheil gleichwie um das seiner eigenen Söhne kümmere und mich der Verdienste und Gnaden erweise teilhaftig mache, die Euer Heiligkeit dem Orden zuwandte.

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Isabels Supplik war von Erfolg gekrölnt. Der Papst entsprach, offenbar ohne vorherige Rückfrage bei Ignatius, ihrer Bitte. Das legt den Verdacht nahe, daß dem schriftlichen Gesuch Isabels von einflußreicher Seite mündlich der entsprechende Nachdruck verliehen wurde. Vielleicht war Margherita de Austria, die Frau des Papstenkels Ottavio Farnese, bei seiner Heiligkeit vorstellig geworden. Nachdem Doña Isabel am 24. Dezember 1545 ihr verbliebenes Vermögen dem Doktor Miguel de Torres, Kleriker der Diözese Saragossa, übertragen hatte,10 legte sie am ersten Weihnachtstag zusammen mit Francisca Cruyllas und Lucrezia de Bradine in der Kirche S. Maria della Strada ihre feierlichen Ordengelübde in die Hände des Ignatius als Ordensoberen ab." Der Schachzug, den Ignatius noch am gleichen Tag (!) dagegen unternahm, war ein doppeltes Spiel und lag ganz bestimmt nicht auf der Linie des Gehorsams gegenüber Seiner Heiligkeit; er zwang Miguel de Torres, auf die Schenkung der Doña Isabel zu verzichten.12 War Isabel in ihren Besitzstand wieder eingesetzt, so verstieß sie gegen das Armutsgelübde; aber Ignatius „als ihr Prälat und Oberer" dispensierte sie sogleich davon. Er muß also schon damals überlegt haben, wie er die ungeliebte Roser so schnell wie möglich wieder loswerden konnte, deren Gelübde in seinen Augen nur bedingt, nicht vollgültig war.13 In den kommenden Wochen und Monaten entwickelte sich zwischen Ignatius und seiner geistlichen Tochter eine ungute Atmosphäre. Die Frauen gingen den Patres mit ihren materiellen und spirituellen Bedürfnissen zunehmend auf die Nerven. Verschärft wurde die Situation noch durch die Ankunft von zwei Neffen Isabels, die die Reste des Vermögens ihrer Tante für sich retten wollten. Der eine von ihnen, Dr. Francisco Ferrer, bezeichnete im Verlauf der Auseinandersetzungen Ignatius als Räuber (ladro) und Heuchler (hippocita).14 Anfang April 1546 hatte Ignatius Gelegenheit, dem Papst den gesamten Sachverhalt vorzutragen und ihn um „Entlastung" von dem weiblichen Zweig des Ordens zu bitten. Paul III. gestattete, ein Vierteljahr nachdem Isabel und ihre beiden Gefährtinnen die Ordensgelübde abgelegt hatten, die Auflösung derselben. Doña Isabel machte darauf, wohl unter dem Einfluß ihrer Neffen, gegenüber der Gesellschaft Jesu finanzielle Forderungen geltend. In einem Dokument listete sie alle ihre Geschenke und Spenden auf, die sich zu einer Gesamtforderung von 465 Scudi summierten. Ignatius macht eine Gegenrechnung, aus der sich ergibt, daß Isabel als Schuldnerin der Gesellschaft dasteht. Obwohl sie in den Verhandlungen Entgegenkommen zeigt, ist Ignatius entschlossen, alle Beziehungen des Ordens zu ihr ein für allemal zu beenden. Am 1. Oktober 1546 läßt er seiner ehemaligen Seelenfreundin durch P. Nadal einen Brief zustellen, dessen harter Kern folgenden Wortlaut hat:15 So bin ich in Ubereinstimmung mit meinem Gewissen zu der Einsicht gekommen, daß es mit den Aufgaben dieser unserer Gesellschaft nicht vereinbar sei, sich ausdrücklich mit der Leitung von Frauen, die das Gelübde des Gehorsams

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ablegen, abzugeben. In diesem Sinne habe ich schon vor bald einem halben Jahr ausführlich mit Seiner Heiligkeit gesprochen. So schien es mir denn gut getan, zur größeren Ehre Gottes, mich zurückzuziehen und loszusagen von der Verpflichtung, Sie als geistliche Tochter im Gehorsam zu leiten. Sie sollen mir einzig wieder die gute und liebe Mutter sein, wie Sie es mir in früheren Zeiten zur größeren Ehre Gottes gewesen sind.

Der Überbringer mußte der damit entlassenen Jesuitin den Brief viermal unter Zeugen vorlesen. In den Konstitutionen der Gesellschaft Jesu hat Ignatius das Verbot der Seelsorge an Klosterfrauen festgehalten.16 Die gleichen Konstitutionen verbieten darüber hinaus Frauen generell, die Häuser und Kollegien des Ordens zu betreten.17 Nach ihrem Hinauswurf aus der Gesellschaft Jesu fand Isabel Roser Unterkunft im Haus eines katalanischen Landsmanns namens Juan Bosch. Am 3. November 1546 wurden sie und ihre Gefährtin Francisca Cruyllas durch ein päpstliches Breve vom Gehorsam gegenüber Ignatius und der geistlichen Leitung durch ihn und seine Nachfolger entbunden; zum Gehorsam sollten sie dem Bischof verpflichtet sein, in dessen Diözese sie sich niederlassen würden; es wurde ihnen gestattet, in der geistlichen Gütergemeinschaft des Jesuitenordens zu bleiben.18 Lucrezia de Bradine trat in ein römisches Frauenkloster ein; später lebte sie in einem Kloster in Neapel. Francisca de Cruyllas kehrte nach Barcelona zurück, wo sie bis zu ihrem Lebensende in einem Spital wirkte. Isabel Roser blieb noch einige Monate in Rom. In dieser Zeit fanden gerichtliche Auseinandersetzungen zwischen ihr und ihren Neffen einerseits und der Gesellschaft Jesu andererseits statt. Es ging dabei um die Rufschädigungen, die Dr. Francisco Ferrer über Ignatius in Umlauf gebracht hatte und um Geldforderungen, die Isabel an den Orden stellte. In beiden Verfahren konnten Ignatius und die betroffenen Patres ihren Standpunkt durchsetzen. Die Sache gegen Isabel endete mit einer Urteilsverkündung am 2. April 1547. Schon zwei Monate zuvor, am 2. Februar, hatte sie eine Art Ehrenerklärung für die Priester der Gesellschaft Jesu in Rom abgegeben und auf Forderungen ihnen gegenüber verzichtet. Francisco Ferrer widerrrief am 2. Juni die gegen Ignatius geäußerten Schmähungen und bekannte, daß es sich dabei um Lügen gehandelt hatte.19 Gegen Ende des Jahres 1547 kehrte Isabel nach Barcelona zurück. Vor ihrer Abreise aus Rom hatte sie noch bei Ignatius in S. Maria della Strada die Beicht abgelegt. In Barcelona betreute sie zunächst die Kinder eines Waisenhauses. Danach trat sie in das Jerusalem-Kloster der (reformierten) Franziskanerinnen ein,20 wo sie am 6. Januar 1550 mit dem schwarzen Schleier bekleidet wurde. Es sind drei Briefe erhalten, die Isabel in ihren letzten Lebensjahren an Ignatius geschrieben hat. Sie sind voller Liebe, Verehrung und demütiger Ergebenheit gegenüber dem Ordensgeneral „wie einst in vergangenen Tagen".21 Ob er seine ehemalige geistliche Tochter noch einmal einer Antwort gewürdigt hat, um die sie ihn anbettelte? Es ist jedenfalls keine

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erhalten geblieben. Ende des Jahres 1554 wurde die schwerkranke Klosterfrau von ihren Leiden erlöst. Uber die Charaktere sowie Schuld und Verantwortung in diesem Trauerspiel mag sich jeder, nach Lektüre der Quellen, sein Urteil selbst bilden. Es geht aber nicht an, Ignatius als überragenden Kenner der weiblichen Psyche darzustellen und ihn als großen Heiligen von jeglichem Makel reinzuwaschen, in Isabel Roser dagegen lediglich eine „hysterische F r a u " z u sehen, w i e es bei HUGO RAHNER geschieht.

Der Leser wird sich erinnern, daß außer ihrer Dienerin noch eine weitere Frau mit Isabel Roser nach Rom gekommen war, um sich der Gesellschaft Jesu anzuschließen: Dona Isabel de Josa. Die hochgebildete Dame hatte vor ihrer Abreise von Barcelona an Ignatius einen Brief in lateinischer Sprache geschrieben, in dem sie ihre Absichten mitteilte.22 Nach der Ankunft der Frauen in Rom ist dann von ihr in den Quellen nicht mehr die Rede. Um eine Aufnahme in die Gesellschaft Jesu hat sie sich offenbar nicht mehr bemüht. Über die Gründe kann man nur Vermutungen anstellen: Vielleicht hat Isabel de Josa rechtzeitig gemerkt, daß Ignatius Frauen in seinem Orden nicht willkommen waren; vielleicht war ihr auch inzwischen aufgegangen, daß der ignatianische Weg zur Vollkommenheit für sie nicht der gemäße war. In den Aussagen der Zeugen, die bei der Vorbereitung der Seligsprechung des Ignatius angehört wurden, werden literarische Bildung und Tugend der Frau Isabel de Josa erwähnt. Sie soll sogar vor dem Papst (Paul III.) gepredigt haben.23 Andere

„Jesuitinnen"

Die Persönlichkeit und die Spiritualität des Ignatius übten auf viele Frauen seiner Zeit, hauptsächlich in Spanien und Italien, eine große Anziehung aus. Hätte sich der Heilige entschlossen, einen weiblichen Zweig seines Ordens zu gründen oder zuzulassen, so wäre derselbe vermutlich binnen kurzer Zeit zu einer zahlenmäßig größeren Bewegung angewachsen als der Männerorden. Allerdings war auch bei den Männern die Attraktion der Gesellschaft Jesu ab der Mitte des Jahrhunderts größer als die aller anderen Orden. Man kann dafür verschiedene Gründe aufzählen; einer davon liegt sicher in der Tatsache, daß in der ignatianischen Spiritualität und Theologie bewußt ein radikaler Gegenakzent zu den Neuerungen der protestantischen Kirchenreform gesetzt wurde, indem man mit neuen Methoden auf dem Althergebrachten (in Theologie und Kultus) insistierte. Daß das Jungfräulichkeitsideal, unterfüttert mit einer neuen Spiritualität, durchaus noch lebenskräftig war, beweisen alle die Damen, die dem Ignatius unbedingt als Jüngerinnen in der Gesellschaft Jesu nachfolgen wollten. Daß dabei gelegentlich auch emotionale, irrationale und krankhafte Motive im Spiel waren, ist nicht zu leugnen. Das religionsgeschichtliche Phänomen als solches kann aber nicht auf weibliche Hysterie reduziert werden.24 Die umfangreichsten geistlichen Unterweisungen, die Ignatius einer Frau erteilt hat, sind in dem Briefwechsel mit der Klosterfrau Teresa Rejadella

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(Rejadell) in Barcelona erhalten, die bereits früher erwähnt wurde. 25 Sor Teresa gehörte dem vornehmen Konvent der Benediktinerinnen von Sankt Klara an, der ursprünglich als Klarissen-Kloster gegründet worden war und hauptsächlich als Versorgungsanstalt der unverheirateten Töchter des katalanischen Adels diente. Wie in den meisten anderen Frauenklöstern Kataloniens konnte von der Einhaltung einer Regel oder klösterlichen Disziplin keine Rede sein. Teresa Rejadella hatte sich einer kleinen Gruppe von Schwestern angeschlossen, die unter der Leitung der schon betagten Priorin Hieronyma Oluja eine Reform des Konvents anstrebten. Gegenüber der Äbtissin und der reformunwilligen Mehrheit standen sie jedoch auf verlorenem Posten. Ignatius hatte Teresa Rejadella, die er von seinem zweiten Aufenhalt in Barcelona her kannte,26 in zwei Briefen aus Venedig (18. Juni und 11. September 1536) im Anschluß an die Exerzitien ausführlich in Fragen ihres spirituellen Lebens beraten, vor allem auch über das Wirken des „bösen Feindes" in der Seele.27 Jahre später erteilt er ihr von Rom aus in zwei weiteren Briefen (15. November 1543 und Oktober 1547) Ratschläge in Fragen der klösterlichen Lebensgestaltung und bestärkt sie in ihren Reformbestrebungen. 28 Die reformwilligen Nonnen von Sankt Klara kamen nun auf die Idee, daß alle ihre Probleme am besten gelöst werden könnten, wenn sie eine eigene Gemeinschaft bilden und sich dem Gehorsam des Ignatius unterstellen würden. In diesem Vorhaben wurden sie von den in Barcelona anwesenden Patres Antonio de Araoz und Juan Queralt bestärkt. (Araoz, der 1548/49 als spanischer Provinzialoberer amtierte, war grundsätzlich für die Errichtung eines weiblichen Zweigs des Ordens). Als erste wandte sich die Priorin Hieronyma Oluja am 10. Januar 1549 an Ignatius mit der Bitte um Aufnahme unter den Gehorsam der Gesellschaft Jesu. 29 Parallel zu der sich verschärfenden Situation im Kloster Sankt Klara - die reformwilligen Nonnen sind Schikanen durch die Äbtissin ausgesetzt und werden in einen ermüdenden Rechtsstreit verwickelt - folgt eine dringliche Bitte der Schwestern Hieronyma und Teresa auf die andere.30 Ignatius bleibt aber, bei aller Freundlichkeit im Ton, hart in der Ablehnung des Aufnahmegesuchs der Schwestern. Dabei beruft er sich auf die definitive Entscheidung des Papstes. 31 Aber die Autorität des Stellvertreters Christi hat ein für allemal das Tor verriegelt, und wir dürfen keine Ordensfrau unter unsere Leitung und Gehorsamspflicht stellen. Wir haben den Papst um diese Entscheidung für die ganze Gesellschaft gebeten, denn wir glaubten, dies sei nötig zum größeren Dienst Gottes unseres Herrn. Muß doch die Gesellschaft so möglichst unbehindert bleiben, um sofort zur Stelle sein zu können, in jedem beliebigen Teil der Welt, wann immer der Gehorsam gegenüber dem Papst und die Nöte des Nächsten sie rufen. So ist das Heilmittel, das Sie vorgeschlagen haben, meiner Ansicht nach in keiner Weise Gott unserem Herrn angenehm. Es ist durchsichtig, daß die von Ignatius vorgebrachten Gründe der Ablehnung vorgeschoben sind: sowohl derjenige der ständigen Bereitschaft (mit

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wachsender Zahl der Ordensmitglieder wurde er immer unglaubwürdiger!) als auch derjenige der päpstlichen Autorität (es ist anzunehmen, daß Paul III. oder Julius III. ohne weiteres einer Bitte des Ordensgenerals um Zulassung eines weiblichen Zweigs entsprochen hätten). Für die guten Klosterfrauen von Barcelona wird es kaum ein Trost gewesen sein, wenn Ignatius ihnen versicherte: Doch möchte ich hinzufügen: wenn je einmal Ordensfrauen aufgenommen werden sollten, würden wir Ihnen eher als allen anderen unsere Bereitwilligkeit anbieten.

Es gab noch genug andere: Doña Sebastiana Exarch war eine reiche Dame aus Valencia. In der Kartause von Val de Cristo bei Segorbe hatte man ihr Einsicht in Briefe gegeben, die Ignatius an seinen Freund Juan de Castro geschrieben hatte. Aus der Lektüre hatte sie Anregungen zu einem intensiveren spirituellen Leben geschöpft. Ihre Ehe mit Don Francisco Exarch scheint nicht sehr glücklich gewesen zu sein, und sie suchte nach einem Weg, auf geistliche Weise aus der ehelichen Verpflichtung zu eskapieren. P. Araoz, der im Jahre 1544 nach Valencia kam, bestärkte sie in ihrem Vorhaben. Danach wurde P. Diego Mirón ihr Beichtvater. Bei ihm machte sie die Exerzitien; in deren Konsequenz gab ihr, wie sie meinte, Gott die Entscheidung ein, das Gehorsamsgelübde abzulegen. In ihrer Ehe sah sie dafür kein Hindernis, wohl aber ihr Beichtvater, der die Entscheidung in dieser heiklen Sache doch lieber dem Ordensgeneral überlassen wollte. Auch Sebastiana selbst richtete an Ignatius, ohne ihren Gatten informiert zu haben, die Bitte, sie in die Gesellschaft Jesu aufzunehmen.32 Um die gleiche Zeit wie Doña Sebastiana wandte sich ihre enge Freundin Doña Juana de Cardona mit dem gleichen Anliegen an Ignatius.33 Auch sie hatte bei P. Mirón die Exerzitien gemacht, durch die sie eine Befreiung von ihren Rachegefühlen erfahren hatte. Denn ihr Mann war ermordet worden, und sie bemühte sich jahrelang bei dem königlichen Gerichtshof um Genugtuung. Aus einem Brief, den P. Mirón an Ignatius schrieb, geht hervor, daß Juana und Sebastiana vorhatten, ein gemeinsames Haus zu beziehen und eine Ordensgründung vorzunehmen.34 Juana de Cardona war eine energische, temperamentvolle Frau. Nach einer ersten Zurückweisung ihres Anliegens bot sie sich dem Ordensgeneral bedingungslos zu jeder Aufgabe an, sei es in Rom oder in den Missionen in Indien.35 Für den Unterhalt ihrer beiden Kinder hatte sie hinreichend Vorsorge getroffen. Obwohl die Bewegung zur Gründung eines jesuitischen Frauenordens in Spanien inzwischen sehr mächtig geworden war und auch von mehreren Patres der Gesellschaft unterstützt wurde, wies der Ordensgeneral alle diesbezüglichen Ansinnen weit von sich. In einer ausführlichen Denkschrift zu der Frage, die er dem P. Miguel Torres nach Spanien mitgab, heißt es:34

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So weit wir es von hier aus in unserem Herrn beurteilen können, kommt es darauf an, die Gesellschaft frei zu halten für die unbehinderte Beweglichkeit in wesentlichen Anforderungen, und wir dürfen uns nicht an unwesentliche Dinge binden. Weiterhin müssen wir, wenn wir auf dem Wege des Herrn voranschreiten wollen, zunächst an uns selbst denken und für uns sorgen. Denn wenngleich wir nicht würdig sind, dem hochgepriesenen heiligen Franziskus und dem heiligen Dominikus die Schuhriemen zu lösen, so beobachten wir doch, wie ihre Ordensfamilien gar sehr belastet und verwirrt sind durch das Gejammer der Frauenklöster - wir sehen dies ja täglich hier an der römischen Kurie. Daher kam uns die Einsicht, daß in Zukunft auch unserem Orden nicht weniger Streitereien und Skandale zustoßen würden, wenn wir Seelsorge und Gehorsamsleitung von Frauen auf uns nähmen. Selbst bezüglich der drei Frauen, die wir auf besonderen Befehl Seiner Heiligkeit übernommen haben, hoffen wir bald die Gnade zu erlangen, von ihnen wieder befreit zu werden. Mit den erwähnten drei Frauen sind Isabel Roser und ihre beiden Gefährtinnen gemeint, deren Hinauswurf aus der Gesellschaft Jesu gerade um diese Zeit betrieben wurde. Wie wenige andere Aussagen im Briefcorpus des Ignatius ist dieser Passus decouvrierend für die Haltung des Heiligen auch gutwilligen, charaktervollen, frommen Frauen gegenüber. Die erbauliche Phraseologie verbirgt nur mühsam die untergründig zynische Einstellung. Frauen im Orden waren ihm lästig; die Befassung mit ihnen gehörte zu den „unwesentlichen Dingen". 37 Mögliche Auseinandersetzungen mit Ordensfrauen erfüllten ihn mit Abneigung und Schrecken. Don Francisco Exarch, der von dem geistlichen Eskapismus seiner Frau nicht sehr viel mitbekam, blieb der Gesellschaft Jesu verbunden; er war bei der Gründung ihres Kollegs in Valencia nach Kräften behilflich. Auch in Italien fand der geistliche Weg des Ignatius zahlreiche Anhängerinnen, die sich nicht mit der religiösen Führung durch die Jesuiten begnügen wollten, sondern eine engere Bindung an den Orden anstrebten. Zu ihnen gehört eine vornehme Dame aus Parma, Donna Jacopa Pallavicino da Scipione. Ihr Mann, der Marchese Gian Girolamo Pallavicino, war 1536 von seinen Verwandten ermordet worden. Donna Jacopa lernte die Gesellschaft Jesu über die Patres Diego Laynez und Petrus Faber kennen, die in den Jahren 1539-1540 in Parma wirkten. Mit anderen adeligen Damen machte sie die Exerzitien bei dem jungen P. Juan Jerónimo Doménech.38 Eine dieser Damen war eine Mystikerin namens Giulia Zerbini, die angeblich nur von der in der Kommunion empfangenen Hostie lebte. Man sieht: in Zeiten kollektiver religiöser Erweckung ist die Grenze zur Exaltiertheit nicht selten fließend. Die entsprechenden Phänomene zeigen sich zwar häufig bei Frauen, sind aber keineswegs auf das weibliche Geschlecht beschränkt.39 Die Begeisterung der Frauen für die Jesuiten erfuhr einen Aufschwung, als im Jahre 1550 Margherita de Austria als Herzogin nach Parma kam. Am 10. Dezember des gleichen Jahres richtete Jacopa Pallavicino an den Ordensgeneral in Rom (den sie bereits als ihren Oberen anspricht!) die „glühende,

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heiße Bitte", sich ganz und gar „der heiligen Gemeinschaft" der Jesuiten weihen zu dürfen.40 Die Antwort des Ordensgenerals ist, wie nicht anders zu erwarten, eine Absage. Auch als ihn der Senat von Parma darum bittet, Patres für die Seelsorge des Hauses der Büßerinnen zur Verfügung zu stellen, ist seine Antwort ein entschiedenes Nein, denn hinter dem Wunsch des Senats stehen die frommen Frauen, die den Orden auf diesem Umweg verpflichten möchten.41 Ignatius seinerseits möchte die Hilfe der Donna Jacopa für die Gründung eines Kollegs gewinnen, die er ab dem Jahre 1552 betreibt. Die Dame ist bereit, dafür aus ihrem beträchtlichen Vermögen eine Stiftung zu machen, aus der 1000 Scudi, auszahlbar in zwanzig Jahresraten zu 50 Scudi, für das Kolleg fließen sollen. Sie knüpft daran allerdings den Plan einer weiteren Stiftung von 600 Scudi „zu einer Klosterstiftung für Nonnen, die dann von Ihrer Gesellschaft geleitet werden und ganz Ihren Regeln, Konstitutionen und Ihrem Gehorsam unterstellt werden sollen". Die Zustimmung des Ignatius zu diesem Plan vorausnehmend, unterzeichnet sie ihren Brief vom 2. Juni 1553 mit „Jacoppa aus der Gesellschaft Jesu".42 Auch einen weiteren Brief, in dem sie sich schließlich den Wünschen des Ordensgenerals beugt (7. Juli 1553), ist mit „Jacoppa Pallavicino aus der Gesellschaft Jesu" unterzeichnet.43 Dieser Kampf um die Zulassung eines Klosters von Jesuitinnen findet seinen Abschluß in einem Brief des Ordensgenerals - es ist der einzige in der ganzen Affäre, der im Wortlaut erhalten ist - vom 17. Februar 1554.44 Gemessen an der Sache, um die es in den vorausgegangenen Jahren ging - dem Lebensideal und dem Lebensschicksal religiös engagierter Frauen - erscheint er in seiner frommen Phraseologie seltsam hohl und nichtssagend. Die Marchesa Pallavicino starb, lange nach Ignatius, im Jahre 1575.45 Aus der von dem Ordensgeneral angestrebten Kollegsgründung wurde zu seinen Lebzeiten nichts mehr. Etwa um die gleiche Zeit, da die Auseinandersetzung mit Jacopa Pallavicino stattfand, erteilte Ignatius einer Gruppe von Frauen aus Modena eine Abfuhr. Ihre Sprecherin war Jeronima Pezzani, die das Haus der Büßerinnen (d. h., der bekehrten Dirnen) leitete. Sie suchte vollendete Tatsachen zu schaffen, indem sie am 18. Januar 1552 zusammen mit sieben gleichgesinnten Gefährtinnen dem Ordensgeneral ihr Gelübde übersandte und sich seinem Gehorsam unterstellte. Auch diese Damen präsumierten ganz einfach die Zustimmung des Ignatius: „Wir wissen, daß Sie uns diese Gnade nicht verweigern werden."46 Eine Antwort oder direkte Stellungnahme des Generals zu dem Schritt der frommen Frauen ist nicht erhalten; aber P. Polanco notiert kühl in seiner Chronik:47 Die Gelübde der Jeronima Pezzani als der Vorsteherin und die der anderen Ordensfrauen, die dem Pater Ignatius Gehorsam gelobt hatten, lehnte er einfach ab.

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Trotz dieser Abweisung sorgten die Schwestern in rührender Weise für die in Modena anwesenden Patres der Gesellschaft Jesu: sie kümmerten sich um ihre Wäsche und pflegten die Kranken. Jeronima leitete aus diesen Tätigkeiten allerdings das Recht ab, die Lebensgewohnheiten der Patres zu kritisieren und dem Generaloberen allerlei Klatsch zu kolportieren. Ignatius war darüber keineswegs erbaut und nahm in einem Brief, der das Mißfallen des Verfassers deutlich erkennen läßt, insbesondere seinen Beauftragten P. Giovanni Viola in Schutz.48 Von einem beredten Zeugnis „für die tiefe Kenntnis der weiblichen Seele, die dem Ordensgeneral eigen war", wie H U G O R A H N E R wieder einmal meint, kann allerdings keine Rede sein. Läßt man die zahlreichen am Widerstand des Ignatius gescheiterten Gründungsversuche von weiblichen Gemeinschaften innerhalb des Jesuitenordens an sich vorüberziehen, dann mutet es seltsam an, daß es tatsächlich ein einziges weibliches Mitglied der Gesellschaft gegeben hat, und zwar mit dem vollen Einverständnis des Ordensgenerals. Es handelt sich um die Infantin Juana, eine Tochter Kaiser Karls V. und Regentin von Spanien. Nach dem frühen Tod ihres Mannes, des portugiesischen Thronfolgers Joäo Manoel (2. Januar 1554), verließ sie Lissabon und kehrte nach Valladolid zurück. Schon in Portugal hatte sie sich der Seelenführung des P. Francisco Borja anvertraut, der ihrer Hofhaltung einen klösterlichen Charakter gegeben hatte. Obwohl sie seit dem 12. Juli 1554 von ihrem Vater mit der Regentschaft von ganz Spanien betraut war, führte sie in Valladolid ihre religiösen Gewohnheiten weiter. Sie hatte auch die franziskanischen Ordensgelübde abgelegt. Unter dem Einfluß der Patres Borja und Araoz faßte sie den Entschluß, in die Gesellschaft Jesu einzutreten. Die Absicht der hochadeligen Dame brachte Ignatius in große Verlegenheit; dennoch konnte von ihm und seinen römischen Beratern nicht einmal der Versuch eines Widerspruchs ernsthaft in Betracht gezogen werden. Vielmehr stellte man innerhalb der Ordensleitung über die Modalitäten der Aufnahme des „Mateo Sanchez" - mit diesem Pseudonym versah man die Infantin aus Gründen der Tarnung! - eingehende Beratungen an. Man wurde sich darüber einig, daß die „gewisse Person" so „wie die Scholastiker der Gesellschaft" aufgenommen werden sollte, „das heißt: auf Probe". Mit anderen Worten: der Obere hatte die Möglichkeit, das Ordensgelübde jederzeit einseitig wieder aufzuheben.49 Am 3. Januar 1555 teilte Ignatius der neunzehnjährigen Witwe in verklausulierter Form ihre Aufnahme in die Gesellschaft Jesu mit; der Text des Briefes ist so abgefaßt, daß keinerlei rechtliche Konsequenzen daraus abgeleitet werden können.50 Juana fühlte sich von da an als Vollmitglied des Ordens, mit allen Pflichten und Ansprüchen. Die selbstbewußte Fürstin benahm sich aber keineswegs wie ein gewöhnliches Ordensmitglied, sondern wie ein Oberer der Gesellschaft.51 Sie verteidigte aber auch den Orden gegen alle Angriffe, auch solche von theologischer Seite, wie die des berühmten Dominikaners Melchior Cano. Andererseits nimmt Ignatius die Dienste der Regentin für seine

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Pläne ohne Hemmungen in Anspruch: sie ist behilflich bei den Kollegsgründungen in Valladolid und Löwen und zeigt sich auch in finanzieller Hinsicht als großzügige Mäzenatin. Dem Papst Paul IV. gegenüber setzte sie sich für die Gesellschaft ein und half, die von ihm beabsichtigte Ernennung Francisco Borjas zum Kardinal zu verhindern.52 Juana blieb bis zu ihrem Tode am 7. September 1573 (während des Generalats ihres ehemaligen Seelenführers Francisco Borja) Mitglied der Gesellschaft Jesu, aber immer im Geheimen. Im Orden war ihr Pseudonym jetzt: „Montoya". 53 Damen des Hochadels Außer der Infantin Juana pflegte Ignatius auch mit anderen Damen des europäischen Hochadels enge Kontakte. Eine seiner ältesten und treuesten Freundinnen war Doña Leonor Mascarenhas. Der Pilger hatte sie zur Zeit seines Studiums (1527) entweder in Alcalá oder in Valladolid kennengelernt.54 Die aus portugiesischem Hochadel stammende Dame wurde am 24. Oktober 1503 geboren. Im Frühjahr 1526 begleitete sie die Infantin Isabel als Hofdame nach Spanien zur Vermählung mit dem Kaiser Karl V.; die Hochzeit wurde am 10. März in Sevilla gefeiert.55 Leonor wurde dann Erzieherin des Thronfolgers Philipp und seiner beiden Schwestern Maria und Juana. Eng befreundet war sie mit Leonor de Castro, die ebenfalls im Dienst des kaiserlichen Hofes stand und Francisco Borja, den Herzog von Gandia und späteren Jesuiten-General heiratete. Als Iñigo im Jahre 1535 von Paris aus nach Spanien reiste, suchte er in Madrid Doña Leonor Mascarenhas auf; damals begegnete er auch dem achtjährigen Prinzen Philipp, der sich zwanzig Jahre später an das Aussehen des Pilgers noch sehr gut erinnern konnte.56 Nach der Vermählung Philipps, der am 13. November 1543 im Alter von sechzehn Jahren in Salamanca die Infantin Maria von Portugal, seine Cousine, geheiratet hatte, widmete sich Leonor weiterhin den beiden Prinzessinnen Maria und Juana. Nachdem seine Frau im Kindbett gestorben war, vertraute Philipp seinen am 8. Juli 1545 geborenen Sohn Don Carlos ebenfalls seiner ehemaligen Erzieherin an. Uber ihren Einfluß auf diesen physischen und psychischen Krüppel, das bedauernswerte Produkt habsburgischer Heiratspolitik, könnte man allenfalls Vermutungen anstellen. Doña Leonor hatte um diese Zeit schon das Gelübde der Ehelosigkeit abgelegt. Im Jahre 1541 war P. Petrus Faber nach Spanien gekommen, und sie hatte ihn zu ihrem Seelenführer erwählt.57 Den Versuch, sich der Gesellschaft Jesu als deren Mitglied anzuschließen, hat sie nie unternommen, da sie, nach ihrer Selbsteinschätzung, „nur eine Frau, eine Sünderin ohne Tugendfortschritt" war.58 Sie förderte aber die Gesellschaft in Spanien nach Kräften (ihr politischer Einfluß war sehr groß, und sie hatte das Vertrauen des Kaisers Karl V.). Um ihr spirituelles Leben kümmerte sich neben P. Faber auch P. Araoz, so daß es Ignatius (in einem Brief vom 28. Juni 1545) für überflüssig

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ansah, ihr auch noch über „geistliche Dinge" zu schreiben.59 Doña Leonor ihrerseits beschäftigte den Ordensgeneral mit Anliegen kirchenrechtlicher Natur, die er in Rom für sie regeln sollte. Wenige Wochen vor seinem Tod, am 19. Mai 1556, versichert Ignatius sie seiner unwandelbaren, stetig wachsenden Liebe „in Seiner Göttlichen Majestät".60 Doña Leonor hatte Ignatius um Rat gebeten, ob sie sich in ein Kloster zurückziehen solle, und sehr dringend um sein Gebet für den König Philipp II. ersucht. Der Heilige rät ihr, in ihrem jetzigen Stand, d.., dem Hofdienst, zu bleiben und übersendet ihr insgesamt zehn Agnus Dei, eine Art Andachtsbildchen, die man einrahmen ließ. In dem Jahrzehnt danach war Doña Leonor von dem Schicksal ihres Pflegesohns, des wahnsinnigen Don Carlos bedrückt, bis zu dessen traurigem Ende am 24. Juli 1568. Sie lebte danach zurückgezogen in einer Wohnung bei dem Kloster der Franziskanerinnen in Madrid. Dort empfing sie den Besuch der Karmelitin Teresa von Avila.61 Die Jesuiten-Kollegien in Madrid und Alcalá bedachte sie zu ihren Lebzeiten und in ihrem Testament mit großzügigen Spenden. Doña Leonor Mascarenhas starb im Alter von 81 Jahren am 20. Dezember 1584. In dem von ihr gegründeten Kloster Santa Maria de los Ángeles befindet sich ihr Portrrät von der Hand eines unbekannten Malers; es zeigt sie in ihren letzten Lebensjahren, mit kummervollen, verbitterten Zügen.62 Der unmittelbarste Einfluß, den Ignatius auf eine Frau des europäischen Hochadels ausüben konnte, war der auf Margherita de Austria, die mehrere Jahre (1538-1550) mit ihm zusammen in Rom lebte. H U G O R A H N E R hat dazu bemerkt: „Das Verhältnis zwischen Ignatius und Margarita ist vielleicht eines der quellenmäßig faßbarsten Beispiele für den Einfluß, den die intime Kraft einer wahrhaft christlichen Seelenführung auch auf die hohe Politik ausüben kann."63 Vielleicht hat er den politischen Einfluß des Heiligen auf die Habsburgerin doch ein wenig überschätzt. Wie andere vornehme Frauen war Margherita aber aufgrund ihrer großen Frömmigkeit für den geistlichen Einfluß des Ignatius prädisponiert. In der ersten Zeit ihrer (unglücklichen) Ehe mit dem Papstenkel Ottavio Farnese war P. Jean Codure ihr Beichtvater. Nach dessen frühem Tod - er starb am 29. August 1541 im Alter von 33 Jahren - übernahm P. Diego Laynez die schwierige Aufgabe. Ab dem Jahre 1542 suchte dann Ignatius selbst regelmäßig den Palazzo Madama auf, um die Herzogin und ihre Damen seelsorgerlich zu betreuen.64 Der jesuitische Einfluß scheint sich stabilisierend auf die Ehe und damit auch positiv auf das politische Verhältnis zwischen Paul III. und Karl V. ausgewirkt zu haben. Am 27. August 1545 gebar Margherita Zwillinge, zwei Söhne, von denen der eine, Juan Carlos, das Säuglingsalter nicht überlebte. Der andere, der in der von Ignatius gespendeten Nottaufe den Namen Juan Pablo erhielt, war der spätere bedeutende Feldherr und Staatsmann Alessandro Farnese, dem Philipp II. (1578) die Statthalterschaft der Niederlande anvertraute.65 Der Papst war über die Geburt seiner Urenkel hoch erfreut, was

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er mit großzügigen Geschenken an die junge Mutter und die Hebamme zu erkennen gab. Die Frage wird erlaubt sein, ob die natürlichen Freude des Urgroßvaters als ein später Rückfall des Papsttums in das „unsittliche" Zeitalter der Renaissance zu werten ist oder als eine geschichtliche Widerlegung des priesterlichen Zölibats, an dem der Papst und seine theologischen und kanonistischen Ratgeber offiziell festhielten. In Madama Margherita hatte Ignatius eine vorbehaltlose Förderin seines Lebenswerks gefunden. Von Anfang an unterstützte sie tatkräftig seine ersten römischen Unternehmen, das Marthahaus und das hauptsächlich für die Bekehrung von Juden gegründete Katechumenenhaus. Nach dem Tode des Papstes Paul III. mußte sich Margherita zusammen mit ihrem Gatten Ottavio Farnese in ihr Herzogtum Parma und Piacenza zurückziehen. Durch seine ungeschickte Politik brachte Ottavio es fertig, sich die Feindschaft seines kaiserlichen Schwiegervaters und des neuen Papstes Julius' III. zuzuziehen. Während der kriegerischen Auseinandersetzungen um das Herzogtum hielt Ignatius den freundschaftlichen brieflichen Verkehr mit seiner geistlichen Tochter aufrecht.66 Margherita de Austria ihrerseits blieb auch nach dem Tode des Ignatius der Gesellschaft Jesu eng verbunden, namentlich den Ordensgeneralen Diego Laynez und Francisco Borja. Den Höhepunkt ihrer politischen Laufbahn erreichte sie in den Jahren 1559-1567, in denen sie als Statthalterin der Niederlande amtierte. Nach Italien zurückgekehrt, pflegte sie eine intensive Freundschaft zu P. Nicolás Bobadilla.67 Nach ihrem Tode am 18. Januar 1586 wurde sie zunächst in dem Wallfahrtsort Loreto beigesetzt; später wurde sie an die Seite des von ihr wenig geliebten Gatten Ottavio in der Abteikirche der Benediktiner zu Piacenza umgebettet. In Rom erinnert an Madama de Austria der Palazzo Madama am Corso del Rinascimento, heute Sitz des italienischen Senats. Ihre geschichtliche Bedeutung für die Gesellschaft Jesu hat G O T H E I N im ganzen zutreffend beschrieben: „Margarete von Parma war die erste Fürstin, die Jesuiten zu ihren Beichtvätern nahm; mit Wohlgefallen lasen die Väter in allen Erdteilen, wie unbedingt sie, die Tochter des Kaisers, Ignatius vertraue, wie sie ihn eigens berufen habe, um ihre Zwillingssöhne zu taufen. Und die kluge Frau, die später mit so viel Geschick ein Staatsschiff vor dem drohenden Sturme zu steuern wusste, ward die erste Schülerin der Jesuiten." 68 Eine nicht weniger ergebene Schülerin und geistliche Tochter aus hohem Adel fand der Ordensgeneral in Doña Leonor de Vega Osorio, 69 der Gemahlin des kastilischen Granden Juan de Vega (1507-1558), der seit Juli 1543 kaiserlicher Botschafter in Rom war. Auch Leonor de Vega nahm sich der „verirrten Frauen" an, suchte die Dirnen in ihren Häusern und auf der Straße zusammen und gewährte ihnen Unterkunft in ihrem Palast, bis sie im Marthahaus oder einem Kloster eine Wohnung fanden.70 Schon in Rom, aber mehr noch, nachdem Juan de Vega am 11. April 1547 zum Vizekönig von Sizilien ernannt worden war, übte Ignatius auch politischen Einfluß über seine ihm vollkommen ergebene Gemahlin aus. Die Korrespondenz mit der

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Vizekönigin ist Zeugnis für „das schier unentwirrbare Gewebe der geistlichen und politischen Beziehungen" (H. RAHNER). Die enge Verflechtung von Politik und Frömmigkeit ist überhaupt eines der hervorragenden Merkmale dieser Zeit der „katholischen Reform" und des werdenden „Konfessionalismus". Und den zugleich tief religiös gesinnten und politisch hoch gestimmten Frauen kommt dabei die Rolle von Protagonistinnen des geschichtlichen Prozesses zu. Für Festsetzung und Ausbreitung der Gesellschaft in Sizilien leistete Doña Leonor geradezu unschätzbare Dienste. Bei ihrer Reise nach Palermo war sie von P. Juan Jerónimo Doménech begleitet worden, der aber alsbald auf Wunsch seines alten Vaters und des Prinzen Philipp nach Spanien beordert wurde. Doch schon im April 1548 schickte Ignatius zehn Jesuiten unter Führung von P. Nadal nach Messina, um dort im ersten Kolleg der Gesellschaft den Lehrbetrieb aufzunehmen; unter ihnen war Petrus Canisius.71 Unter den karitativen Werken, die Doña Leonor ins Leben rief, ragen die Gründungen von Waisenhäusern in Messina, Palermo, Trapani, Agrigent hervor. Daneben hatte sie allerdings keinerlei Hemmungen, den vielbeschäftigten und gesundheitlich stark angeschlagenen Ordensgeneral mit allen erdenklichen religiösen und familiären Quisquilien zu beschäftigen, wegen deren er bei den römischen Behörden und dem Papst selbst vorstellig werden sollte.72 Obwohl Ignatius und andere römische Patres gelegentlich ihren Arger über das lästige Gehabe der vornehmen Dame nicht unterdrücken konnten, blieben sie sich doch ihrer Dankesschuld gegenüber der mächtigen Förderin des Ordens bewußt. Leonor de Vega Osorio starb am 30. März 1550 in Palermo. In ihrer letzten Krankheit stand ihr P. Laynez bei, den ihr Ignatius nach Sizilien geschickt hatte. An den Vizekönig, ihren Gemahl, schrieb er einen anrührenden Trostbrief;73 ebenso an ihre Tochter Isabel, die nach dem Tode der Mutter in Depressionen gefallen war.74 Ignatius selbst ging die Sache so nahe, daß er krank wurde, nachdem er auf Bitten Isabels drei Seelenmessen für ihre Mutter gelesen hatte. In einer 1561 in Coimbra gehaltenen Exhorte erinnert sich P. Nadal:75 Und er hatte eine große Sehnsucht danach, Messe zu lesen, und in ihr fand er einen so großen Trost, daß es etwas Außergewöhnliches war, so daß er danach, aufgrund seiner großen Erregung, Magenschmerzen bekam. Und fünfzehn Tage war er krank, weil er drei Messen gelesen hatte auf Bitten einer Tochter von Juan de Vega.

Man muß solche Zustände gegenseitiger religiöser Entzündung nicht, wie die Gefährten des Ignatius im 16. oder seine späten geistigen Nachkömmlinge im 20. Jahrhundert, in rein positivem Licht sehen.

Die Kollegien

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2. Die Kollegien Neben der Bemühung um den Text der Konstitutionen des Ordens galt die Hauptsorge des Ignatius in seinen letzten Lebensjahren der Gründung von Kollegien als Bildungsanstalten für den Nachwuchs der Gesellschaft Jesu und des Klerus der Katholischen Kirche. Wie wir bereits gesehen haben, dreht sich ein großer Teil seiner Korrespondenz in dieser Zeit um die solide Fundierung und Ausstattung der Kollegien. Ihre Vorbilder haben sie in den mittelalterlichen Universitätskollegien, namentlich denen der Pariser Sorbonne. Gleichwohl hat Ignatius, den neuen Zeiterfordernissen entsprechend, seinen (und den späteren) Gründungen seinen eigenen Charakter aufgeprägt. Dabei kam ihm der Umstand entgegen, daß für Leitung und Betrieb der Kollegien, infolge des nahezu massenhaften Zulaufs zu dem neuen Orden, genügend Personal zur Verfügung stand. (1556, dem Todesjahr des Ignatius, hatte der Orden schon fast 1000 Mitglieder). Von einer ausreichenden psychologischen und pädagogischen Ausbildung (im heutigen Sinne) der verantwortlichen Leiter der Studienanstalten kann allerdings keine Rede sein; sie alle hatten in der Regel nur das traditionelle, lebensfremde Studium der scholastischen Philosophie und Theologie absolviert. Ignatius selbst und seine Nachfolger waren sich dieses Mangels durchaus bewußt und suchten ihm mit einer Fülle von Konstitutionen, Regeln, Anweisungen abzuhelfen, wovon die Edition der Monumenta Paedagogica Societatis Iesu ein beeindruckendes Zeugnis gibt.76 Es gab Kollegien, in denen nur die elementaren Kenntnisse in den Sprachen (Grammatik, Rhetorik, antike Literatur), den Naturwissenschaften (Mathematik, Naturkunde) und den „niederen" philosophischen Fächern (Logik, Dialektik) vermittelt wurden, den heutigen Gymnasien und höheren Schulen vergleichbar. Bedeutsamer waren die Kollegien mit Hochschulcharakter, an denen vor allem Philosophie und Theologie, aber auch zahlreiche andere Wissenschaften gelehrt wurden. Rom und Italien Das erste Kolleg der Gesellschaft Jesu überhaupt wurde in Padua gegründet. Es verdankte seine Entstehung der Großzügigkeit des Priors Andrea Lippomani, eines alten Freundes des Ignatius, der den Jesuiten das Gebäude des Priorats Santa Maria Maddalena überließ. 1542 zogen die ersten Schüler dort ein, aber erst erteilte der Senat von Venedig die offizielle Genehmigung zur Errichtung des Kollegs.77 Im gleichen Jahr 1548 entstand das erste Kolleg mit Hochschulcharakter in Messina. Erster Rektor wurde P. Jerönimo Nadal, der auch die Konstitutionen verfaßte.78 Die materiellen und rechtlichen Voraussetzungen für die Gründung hatten der Vizekönig von Sizilien Juan de Vega und seine Gemahlin Leonor Osorio geschaffen, die beide dem Ignatius und seinem Orden sehr gewogen waren.79

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Im Blick auf die im Gange befindlichen und die zukünftigen Kollegsgründungen in Italien skizzierte P. Polanco um 1550 Richtlinien für die Kollegien des Ordens.80 Es ist auffällig, daß die Verantwortlichen der Gesellschaft von Anfang an großen Wert auf die humanistische Ausbildung legten, das heißt, neben guten Lateinkenntnissen auf die biblischen Sprachen Griechisch und Hebräisch. Mit Hilfe der örtlichen politischen Machthaber und wohlhabender Mäzenaten konnten ab dem Jahre 1550 in rascher Folge in zahlreichen Städten Italiens Kollegien errichtet werden: Venedig, Tivoli (1550), Bologna, Ferrara (1551), Florenz, Neapel, Perugia (1552), Monreale (1553), Genua (1554), Loreto, Syrakus (1555), Bivona, Catania, Siena (1556). Die Kollegien standen zwar externen Schülern und Studenten offen, doch wurde an ihnen zunehmend der Nachwuchs des Ordens rekrutiert. Zur geistlichen Bildung der jungen Jesuiten rief der Ordensgeneral so genannte Noviziate ins Leben, zunächst in Rom an seinem eigenen Amtssitz, dann in Messina (1550) und Palermo (1551). Die Zunahme der Mitglieder und der Einrichtungen des Ordens machte die Einteilung in Provinzen erforderlich. 1551 wurde die Provinz Italien errichtet, 1553 die Provinz Sizilien. Zentrale Ausbildungsstätte der Gesellschaft war das Collegium Romanum in der Nähe des Kapitols, das am 22. Februar 1551 eröffnet wurde. Wie die übrigen Kollegien des Ordens stand es auch externen Studenten offen, und: es wurden keinerlei Studiengebühren erhoben.81 Erster Rektor wurde der Franzose P. Jean Pelletier 1564). Mit dem Pontifikat Pauls IV., der, anders als seine drei Vorgänger, nicht eben ein Freund der Gesellschaft Jesu war, geriet das Collegium Romanum wegen seiner mangelhaften wirtschaftlichen Basis in eine Existenzkrise. Die Rettung in höchster Not brachte der zukünftige Ordensgeneral Francisco Borja, der schon die Gründung ermöglicht hatte, mit der Uberweisung einer beträchtlichen Summe aus seinem riesigen Vermögen.82 Eine solide wirtschaftliche Grundlage erhielt das Collegium Romanum erst durch den Papst Gregor XIII., der in den Jahren 1582-1584 den (heute noch stehenden) Bau errichten ließ. Der Lehrbetrieb findet heute in der 1930 erbauten, nach ihm benannten Pontificia Universitas Gregoriana an der Piazza Pilotta statt. Noch bedeutsamer als das Collegium Romanum war für die gesamte Katholische Kirche und für die deutschsprachigen Länder das ein Jahr später gegründete Collegium Germanicum, der „Augapfel" des Ignatius, bis heute das Kolleg schlechthin. Die erste Idee zur Gründung eines deutschen Kollegs in Rom stammt jedoch nicht von Ignatius selbst; der Plan entstand vielmehr in Deutschland.83 Im Jahre 1542 war der Kardinal Giovanni Morone von Paul III. als Legat nach Deutschland gesandt worden. In seiner Begleitung befanden sich die Jesuiten Claude Le Jay, Petrus Faber und Nicolás Bobadilla. Von dem in jeder Hinsicht desolaten Zustand der Seelsorge und der theologischen Wissenschaft konnten sie sich an Ort und Stelle ein Bild machen. Namentlich Le Jay verfolgte in den kommenden Jahren den Plan der Errichtung eines Kollegs in Rom, an dem Weltpriester für Deutschland eine

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gründliche Ausbildung erhalten sollten. Während der ersten Tagungsperiode des Konzils von Trient (1546) konnte er Morone für das Projekt gewinnen. Was Ignatius betrifft, so scheint es vor allem P. Bobadilla gewesen zu sein, der dem Ordensgeneral die Notwendigkeit der Gründung des Germanicum nahebrachte. 84 Nachdem sich Ignatius einmal von der Notwendigkeit überzeugt hatte, setzte er sich mit wirklichem Feuereifer für die Realisierung des Planes ein. Das Germanicum wurde formell mit der auf den 31. August 1552 datierten Bulle „Dum solicita" Julius' III. errichtet; den Text hatte Ignatius selbst entworfen. 85 Am 28. Oktober des gleichen Jahres fand in der Kirche S. Eustachio die feierliche Inauguration statt. Der Studienbetrieb konnte erst aufgenommen werden, nachdem im Laufe des November die ersten achtzehn Alumnen aus Deutschland und den Niederlanden eingetroffen waren (prinzipiell stand das Kolleg Kandidaten aus allen „deutschen" Ländern offen; zur „Germania" wurden auch Böhmen, Ungarn und Polen gezählt). Obwohl im Kolleg selbst Professoren für alle wichtigen Disziplinen vorgesehen waren, die auch das Promotionsrecht besaßen, suchten die Studenten zu den Vorlesungen das Collegium Romanum auf. Die wirtschaftliche Basis des Collegium Germanicum sollte, nach der Vorstellung des Ignatius, durch Spenden der Kardinäle und des Papstes selbst gesichert werden, was sich aber nach dem Tode Julius' III. als Illusion erwies. Es folgten krisenhafte Jahrzehnte, nicht nur aus wirtschaftlichen Gründen, sondern auch weil die Disziplin nur schwer aufrecht zu erhalten war, wovon zahlreiche erhaltene Gutachten ein eindrucksvolles Zeugnis geben.86 Für eine definitive Sicherung der Existenz des Kollegs sorgte erst, ebenso wie für die des Collegium Romanum, der Papst Gregor X I I I . (1572-1585). Die Konstitutionen und Regeln, die Ignatius dem Germanicum gab, schließen sich eng an die des Collegium Romanum an, von wenigen Ausnahmen abgesehen.87 So war den Germanikern das gemeinsame Offizium (Chorgebet) an den Sonn- und Feiertagen vorgeschrieben. 88 Sie sollten auch die italienische Sprache möglichst perfekt beherrschen lernen. Dieser und anderen zweifellos sinnvollen und nützlichen Bestimmungen stehen andere gegenüber, die sich durch eine seltsame Beschränktheit und Kleinlichkeit auszeichnen: Verbot außerhäuslicher mündlicher und schriftlicher Kontakte, Ausgang nur in Begleitung, Kontrolle der Korrespondenz durch den Rektor, und vieles andere, was nicht erst uns heute, sondern schon damaligen Zeitgenossen als unerträglich und lächerlich erschien. (Die meisten dieser Regeln blieben bis in die Zeit des II. Vatikanischen Konzils in Gültigkeit, um dann plötzlich und überhastet in der Versenkung zu verschwinden). Hinter diesem peniblen Regulierungswahn ist die Angst vor der Ansteckung durch Häresie oder Unsittlichkeit zu erkennen. In einem Zusatz zur Regel des Germanicum, den Ignatius im Mai 1555 erließ, wird das Institut der Spitzel und Zuträger, diese Pest katholischer Priesterseminare über die Jahrhunderte hin, gewissermaßen salonfähig ge-

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macht. Den nachlässigen Denunzianten (syndici) wird die gleiche Strafe angedroht wie den Übertretern der Regel: Reduktion der Mahlzeiten auf Suppe und Brot und einen Becher Wein.89 Neben vielen anderen Regeln wurde auch die Prügelstrafe von den Pariser Kollegien übernommen, wenn auch nicht in der dort üblichen barbarischen Form. In einer aus den fünfziger Jahren stammenden Anweisung an den Rektor ist die Rede von Rutenhieben auf die Handflächen und auf den Hintern (o con spalmatte, o con cauali). Die Strafen wurden „öffentlich" vollzogen, d.h., unter den Augen der versammelten Alumnenschaft, zum Zwecke der größeren Demütigung und Brechung des Willens der Betroffenen.90 Die höchste Strafe war der Hinauswurf aus dem Kolleg. Offensichtlich taten sich nicht wenige deutsche Studenten schwer mit der Unterwerfung unter das strenge Reglement des Kollegs. Die Folge war der freiwillige oder unfreiwillige Auszug nach kurzer Zeit. Wenn solche Kandidaten in Rom blieben, fürchtete man, daß sie mit ihrer Aufsässigkeit die Alumnen der anderen Kollegien ansteckten. Die Ordensleitung erließ deshalb Bestimmungen, die die Zulassung der hinausgeworfenen Germaniker zu den Vorlesungen des Collegium Romanum strikt untersagten.91 Wie in der Gesetzgebung der Jesuiten den Ordensoberen, so wird auch dem Rektor des Germanicum Gehorsam geschuldet, als ob er an der Stelle Gottes selbst stünde.92 Ignatius hat auch den Zweck des Collegium Germanicum in den Konstitutionen festgehalten:93 Zu Beginn sollen alle daran erinnert werden, daß das Kolleg zu dem Zweck errichtet wurde, daß in ihm Studenten unterhalten und unterrichtet werden, die den geistlichen Bedürfnissen Deutschlands, entsprechend dem Talent, das sie durch Gottes Güte erhalten haben, zu Hilfe kommen sollen. Da auch in den deutschen Ländern selbst, unter tatkräftiger Mitwirkung der Gesellschaft Jesu, Kollegien im Entstehen waren, stellt sich die Frage nach der Notwendigkeit eines römischen Kollegs für deutsche Studenten. Sie wurde auch in der oben erwähnten Krisenzeit des Germanicum gestellt und von maßgeblichen Gutachtern negativ beantwortet. Die beiden Gründe, die von Ignatius selbst und anderen Männern der Gründergeneration für die Existenz eines deutschen Kollegs in Rom genannt werden, sind die Abschirmung vor den in Deutschland verbreiteten Häresien und die enge Anbindung an den Papst.94 Die necessitates spirituales Deutschlands im Sinne des Ignatius sind vor allem die Bekämpfung der Häresie durch hervorragend ausgebildete Seelsorger, Theologen und Bischöfe und die Befestigung der katholisch gebliebenen Gläubigen mittels der durch ihn und seinen Orden gelehrten Spiritualität. Ein ökumenisches Denken im heutigen Sinne, das eine intensive Beschäftigung mit den „häretischen" Ideen vorausgesetzt hätte, anstatt vor ihnen abzuschirmen, war ihm fremd. Das Germanicum war allerdings in neuerer Zeit einer der ersten Orte, an denen innerhalb der Katholischen Kirche die Kenntnis der protestantischen Theologien und eine tolerante, ökumenische Geisteshaltung gefördert wurden.

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Erster Rektor des Germanicum war der Franzose André des Freux (Andreas Frusius, ca. 1510-1556) aus Chartres, ein exzellenter Philologe und Kenner der drei alten Sprachen, darüber hinaus der erste bedeutende Universalgelehrte des Ordens,95 dem in den folgenden zwei Jahrhunderten noch viele andere folgen sollten. Als Farbe für die Kleidung der Alumnen des Kollegs wollte Ignatius nicht das für seinen Orden und die übrigen Kleriker übliche Schwarz, sondern „eine heitere Farbe, wie kräftiges Blau (pavonazzo) oder so". Die Kardinal-Protektoren entschieden sich für das (von ihnen selbst getragene) Rot, das bis zur Zeit des II. Vatikanischen Konzils vorgeschrieben war und über die Jahrhunderte hin zur Kolorierung des Stadtbildes von Rom und zur Erheiterung von Pilgern und Touristen beitrug. Neben dem Rektor, der für die Ordnung und Verwaltung des Kollegs zuständig war, gab es die Ämter des Ministers und des Ökonomen, die den finanziellen und wirtschaftlichen Bestand zu sichern hatten. Die individuelle Seelsorge an den Alumnen lag in den Händen der Beichtväter. Wichtiger als sie wurden im Laufe der Zeit die Spirituale. Ihre Aufgabe war umfassender als die der Beichtväter; sie kümmerten sich um die Spiritualität, das „geistliche Leben" der Studenten. Das geschah sowohl in Vorträgen (Exhorten) als auch in persönlichem Gespräch. Wann das Amt des Spirituals förmlich instituiert wurde, ist nicht ganz klar. Es scheint jedoch schon bald nach den ersten Kollegsgründungen der Fall gewesen zu sein. Aus dem Jahr 1564 sind „Regeln für den Beichtvater und den Präfekten der geistlichen Dinge des Collegium Germanicum" erhalten; sie setzen voraus, daß es neben dem

Beichtvater einen Praefectus rerum spiritualium (Prefetto delle cose spirituali)

gab.96 Es war oben schon kurz von der Errichtung des Kollegs in Venedig (1550) die Rede. Seine erste Ausstattung verdankte es, ebenso wie das zu Padua, der Spendenfreudigkeit des Priors Andrea Lippomani. Nicht alle der selbstbewußten Patrizier der Republik des heiligen Markus waren aber den Jesuiten so wohlgesonnen, und der Orden wurde in der Lagunenstadt nie so recht heimisch. GOTHEIN hat den sozial-psychologischen Grund dafür zusammengefaßt: „Und endlich hatte Venedig selber zu viel Jesuitisches an sich; zu sehr beruhte dies Gemeinwesen auf der unbedingten Unterwerfung des Einzelnen unter eine ohne Verantwortung handelnde Staatsgewalt; zu sehr bedurfte es als Mittel der Denunziation und des Geheimnisses, als dass es eine solche Genossenschaft ungestraft hätte in sich aufnehmen können." 97 Vielleicht trug zu der abweisenden Haltung der Venezianer gegenüber der Gesellschaft Jesu auch der Umstand bei, daß es in der Stadt (aber auch in vielen anderen italienischen Städten) bereits seit dem Ende des 14. Jahrhunderts einen Orden gab, der in vielem den Jesuiten ähnlich war und gelegentlich mit ihnen verwechselt wird: die Jesuaten. Der Orden verdankt seine Gründung dem heiligen Johannes Columbinus (Giovanni Colombino, ca. 1304-1367) einem verheirateten Laien aus Siena, dessen Festtag am 31. Juli, also am gleichen Tag wie der des heiligen Ignatius, begangen wird. Der Orden ging aus einer Bru-

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derschaft hervor, die sich der Buße, der Krankenpflege und der Armenbetreuung widmete; er erhielt 1367 seine Approbation durch den Papst Urban V.; 1668 wurde er durch Clemens IX. aufgehoben. Als eine der Ursachen für das Scheitern der Jesuaten wird die Tatsache angesehen, daß Colombino keinen traditionell verfaßten Orden gründen wollte, sondern eine lockere Gemeinschaft von „Armen Christi". Trotz den Bemühungen mehrerer Päpste, dem Orden ein engeres Korsett zu verpassen, konnte sich nie eine straffere Organisation durchsetzen. Man hat angenommen, daß Ignatius, der die Jesuaten in Venedig kennenlernte, durch sie auf den Namen für seine eigene Gesellschaft und den Plan, einen besseren Jesuaten-Orden ins Leben zu rufen, gekommen sei.98 An die Jesuaten erinnert heute in Venedig die Chiesa dei Gesuati (S. Maria del Rosario) an den Zattere, die allerdings erst 1726-1736 von den Dominikanern erbaut wurde. Ebenfalls in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts entstand die Chiesa dei Gesuiti (S. Maria Assunta) am Rio dei Gesuiti; die Jesuiten hatten 1657 die Gebäude des aufgehobenen Ordens der Crociferi übernommen und dort ein Kolleg errichtet. Portugal und Spanien Die Anfänge der Gesellschaft Jesu in Portugal gestalteten sich, infolge des gewaltigen personellen Zustroms, explosionsartig. Sie sind ebenso merkwürdig wie die bereits nach wenigen Jahren einsetzenden Zerfallserscheinungen. Beides hängt mit P. Simäo Rodrigues zusammen, der am 17. April 1540 als erster Jesuit in Lissabon angekommen war und sich von Anfang an der Gunst des Königs Johann III. erfreuen konnte." Man kann aber das Ganze, Erfreuliches und Unerfreuliches, nicht auf einen „Fall Rodrigues" reduzieren, von dem P. D A L M A S E S meint, er sei „geeigneter für eine psychologische Untersuchung als für eine geschichtliche Darstellung".100 Es hat eher den Anschein, daß es sich um massenpsychologische Phänomene handelt, die ihre Ursache in einer exzessiven, irrationalen Religiosität hatten. Dank der tatkräftigen Unterstützung des Königs konnten in wenigen Jahren wichtige Gründungen getätigt werden. Auch die Königin Catarina, jüngste Schwester Kaiser Karls V., die ihre Kindheit bei ihrer Mutter, Johanna der Wahnsinnigen, in deren Gefängnis in Tordesillas verbracht hatte, war den Jesuiten wohlgesonnen. Ihr persönliches Schicksal hatte sich auch in Lissabon nicht erfreulich gestaltet: bis 1540 hatte sie bereits sechs Kinder im frühen Alter verloren. Allein die Infantin Maria hatte die robuste körperliche Konstitution ihrer Mutter (und ihrer Großmutter) geerbt.101 Nach der ersten Niederlassung in der Hauptstadt Lissabon konnte 1542 in Coimbra ein Kolleg eröffnet werden, das bei seiner Gründung bereits 103 Mitglieder (Lehrer und Studenten) hatte; 1550 waren es 150 und im Todesjahr des Ignatius (1556) schon 900. 1555 wurde das in der Stadt bereits bestehende Colegio de Artes, eine philosophische Hochschule, den Jesuiten übergeben. 1551 war

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auch in Evora ein Kolleg gegründet worden, das 1559 in den Rang einer päpstlichen Universität erhoben wurde. Portugal wurde die Basis für die ersten missionarischen Unternehmungen der Gesellschaft Jesu. 1541 reisten die ersten Missionare in die portugiesischen Kolonien nach Indien (Francisco Javier),102 1549 nach Brasilien. 1553 konnte Ignatius dort eine Ordensprovinz errichten. Ein Jahr später wurde das Kolleg Säo Paulo gegründet, dem die heutige Großstadt ihren Namen verdankt.103 In Afrika, wo Ignatius große Hoffnungen in die „Bekehrung" des Kaiserreichs Äthiopien gesetzt hatte, gelang es den Jesuiten nicht, Fuß zu fassen.104 In Portugal wurde auch (1546) die erste Provinz des Ordens errichtet, mit P. Simon Rodrigues als Provinzialoberen. Noch vor den Konstitutionen des Ignatius vefaßte Rodrigues eine Regel, deren Gültigkeit auf Portugal beschränkt blieb. Schon in der Gründungsphase stellten sich, vor allem in Coimbra, Dekadenzerscheinungen ein, die in der Ordensliteratur, wohl aber auch schon von Ignatius selbst, der mangelnden Führungsqualität des P. Provinzial Rodrigues angelastet wurden. Dem Kolleg von Coimbra fehlte eine klare spirituelle Ausrichtung. Unter den Alumnen gab es zwei entgegengesetzte Tendenzen: während sich die einen rigorosen asketischen Übungen unterzogen, waren die anderen eher den angenehmeren Seiten des Lebens zugeneigt. Ignatius, dem über die Zustände einiges zu Ohren gekommen war, wandte sich am 7. Mai 1547 mit einem ausführlichen Lehrschreiben an die Studenten von Coimbra.105 Er ruft ihnen die Größe ihrer Berufung im Blick auf die Erwartungen, die die Menschen an vielen Orten in sie setzen, ins Bewußtsein. Sie sollen sich deshalb nicht auf den Erwerb diesseitiger Ehren und Vergnügungen einstellen oder Angst davor haben, „solche niederen Dinge" (estas cosas baixas) zu verlieren, sondern auf den Zweck sehen, zu dem sie Gott geschaffen hat: „seine Ehre und seinen Ruhm und eure Rettung und die Hilfe für eure Nächsten". Auf diese Ziele hin sind alle Institutionen des christlichen Lebens ausgerichtet; Gott hat die Adressaten dazu berufen, daß sie ihr ganzes Leben und ihre geistlichen Übungen daran orientieren. Der Gegensatz dazu ist die Eigenliebe, die unempfänglich für Gottes Gnade und Wohltaten ist. Im zweiten Teil seines Lehrbriefes behandelt Ignatius den extremen Gegensatz zu der geistlichen Bequemlichkeit und Lauheit: den Eifer ohne Augenmaß (indiscreto fervor). Mit zahlreichen Zitaten aus der Bibel und den asketischen Schriften Bernhards von Clairvaux warnt er davor, anstatt „den alten Menschen" zu kreuzigen, „den lebendigen Tempel Gottes" zu malträtieren. Im spirituellen Leben ist Augenmaß (discretio) notwendig, um die Tugendübungen vor den beiden Extremen zu bewahren.106 Das beste Mittel, um dieses Bewußtsein der Mitte zwischen Lauheit und übermäßigem Eifer zu erhalten, ist der Gehorsam gegenüber dem Oberen.107 Daß Ignatius in dem Mangel an Gehorsam die eigentliche Ursache für die in der Gesellschaft eingerissenen Mißstände gesehen hat, beweist sein zweites

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Lehrschreiben, das sich diesmal an alle Ordensmitglieder der portugiesischen Provinz richtet. 108 Drei Jahre vor seinem Tod (das Schreiben ist auf den 26. März 1553 datiert) hat der Ordensgeneral hier am umfassendsten und eindringlichsten dargelegt, was seine Auffassung vom Gehorsam ist, und es kann gar kein Zweifel sein, daß er der Meinung war, diese Auffassung sei auch diejenige Gottes. Wenn die Ausführungen über den Gehorsam in den Konstitutionen der Gesellschaft Jesu eines authentischen Kommentars bedürfen, dann liegt er hier vor. Der Verfasser sieht sich überdies in völliger Ubereinstimmung mit der Heiligen Schrift und der kirchlichen Tradition, was er mit zahlreichen Zitaten aus der Bibel und den Werken der Mönchsväter Gregor der Große, Johannes Cassian und Bernhard von Clairvaux zu belegen sucht. Zu wiederholten Malen wird eingeschärft, daß der Gehorsam gegenüber dem Oberen ein blinder Gehorsam zu sein hat, das heißt, daß er in

der Verleugnung des eigenen Urteils besteht. Der Grund dafür ist, daß der Wille des Oberen mit dem Willen Gottes identisch ist. Und so dürft Ihr euch niemals bemühen, den Willen des Oberen - von dem Ihr denken müßt, daß es der Gottes ist - zu dem Euren zu ziehen; denn das hieße, nicht den göttlichen Willen zur Regel für den Euren zu machen, sondern den Euren für den göttlichen, indem Ihr die Ordnung seiner Weisheit verkehrt. Es ist eine große Täuschung und Sache von Menschen mit durch Eigenliebe verdunkeltem Verstand, zu meinen, der Gehorsam werde gewahrt, wenn sich der Untergebene darum bemüht, den Oberen zu dem zu ziehen, was er selber will. Die zweite Stufe des Gehorsams, von der hier die Rede ist, setzt nämlich voraus, daß man sich des eigenen Willens entkleidet hat, um „sich den Willen des Oberen zu eigen zu machen". (Die erste Stufe des Gehorsams, in der nur das Gebotene ausgeführt wird, verdient gar nicht diesen Namen). Bei der dritten und höchsten Stufe des Gehorsams soll dann auch der Verstand dazu gebracht werden, zum gleichen Meinen mit dem Oberen zu kommen, „indem man das eigene Urteil dem seinen unterwirft, soweit der andächtige Wille den Verstand neigen kann". Denn obwohl dieser nicht die Freiheit hat, die der Wille hat, und natürlicherweise seine Zustimmung dem gibt, was sich ihm als wahr darstellt, kann er sich doch in vielen Dingen, in denen ihn nicht die Evidenz der erkannten Wahrheit zwingt, durch den Willen mehr der einen Seite als der anderen zuneigen. Und in diesen Dingen muß jeder wahre Gehorsame dazu neigen, zu meinen, was sein Oberer meint. Es ist klar, daß hier, über den Gehorsam als Willensakt hinaus, das sacrificium intellectus postuliert wird. Der Mensch entkleidet sich seiner gesamten geistigen Fähigkeiten, indem er sich gewissermaßen als holocaustum verbrennt.

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Und gewiß ist: Da ja der Gehorsam ein Ganzbrandopfer ist, in dem sich der ganz vollständige Mensch, ohne irgendetwas von sich abzutrennen, im Feuer der Liebe seinem Schöpfer und Herrn durch die Hand seiner Amtsträger darbringt; und da er ein vollständiger Verzicht auf sich selbst ist, durch den man sich ganz von sich selbst enteignet, um von der göttlichen Vorsehung mittels des Oberen in Besitz genommen und geleitet zu werden, kann man nicht sagen, daß der Gehorsam nur die Ausführung, um zu verwirklichen, und den Willen, um sich zufriedenzugeben, umfaßt, sondern auch das Urteil, um zu meinen, was der Obere anordnet, soweit es sich - wie gesagt - durch Willenskraft beugen kann. Trotz aller von gelehrten Mitgliedern des Jesuitenordens geübten hagiographischen Schönrederei kommt man bei nüchterner Betrachtung der biographischen Fakten nicht an der Feststellung vorbei, daß Ignatius während seines ganzen Lebens niemals daran dachte, das Gehorsamsideal, das er hier seinen Untergebenen vorstellt, selbst vorzuleben. Aus psychologischer Perspektive kommt der Jesuit W I L L I A M M E I S S N E R zu dem Schluß, daß „Ignatius' wiederholte und hartnäckige Betonung der zentralen Bedeutung des Gehorsams in einem recht merkwürdigen Verhältnis zu den in seinem eigenen Leben und Werdegang erkennbaren Verhaltensmustern" stehe; man habe es bei Ignatius mit „einem psychologischen Paradox" zu tun: „Der geistliche Mentor und Generalobere, der so leidenschaftlich zu absolutem, sofortigem, bedingungslosem, vollkommenen und blindem Gehorsam riet, war selbst nicht gerade dafür bekannt, während seines eigenen Lebens Gehorsam geübt zu haben." So erwies er sich in seinen Auseinandersetzungen mit der Inquisition, anstatt sich der geistlichen Autorität der kirchlichen Richter demutsvoll zu beugen, „als ein recht unverschämter, streitsüchtiger, beinahe trotziger Verteidiger der eigenen Ansichten und des eigenen Handelns".109 Dem Verbot, die Meinung des Oberen im eigenen Sinne zu beeinflussen, hat Ignatius nicht selten kraß zuwidergehandelt, so, als es darum ging, die Zustimmung des Papstes Paul III. für die Gründung eines neuen Ordens und dessen Konstitutionen zu erlangen. „Wenn es jemals darum ginge, einen Oberen entsprechend den eigenen Wünschen zu beeinflussen und ihn dazu zu bringen, den Meinungen und Wünschen, die man selber hat, zu gehorchen, anstatt sich selbst mit bedingungslosem Gehorsam den Wünschen und Anordnungen des Oberen unterzuordnen, wäre Ignatius' Verhalten kaum zu übertreffen." Auf diesem Hintergrund klingt der entsprechende (oben zitierte) Rat an die portugiesischen Ordensbrüder, für den er noch das Zeugnis des heiligen Bernhard bemüht, einigermaßen ironisch. Als die Krise in Portugal ihrem Höhepunkt zutrieb - eine größere Anzahl von Mitgliedern verließ die Gesellschaft oder wurde von ihr ausgeschlossen zeigte sich auch Simon Rodrigues, der immerhin dem Kreis der ersten Gefährten angehörte, weder von dem Gehorsamsideal noch von dem Geist der Exerzitien seines Ordensoberen geprägt. Nachdem ihn Ignatius Anfang 1552 von dem Amt des Provinzials entbunden hatte, das er ohnehin schon viel zu lange innegehabt hatte, und ihm die Provinz Aragón übertragen hatte,

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trat er das neue Amt einfach nicht an. Der neue Provinzial P. Diego Miró, den Ignatius Mitte 1552 ernannte, suchte in rigoroser und teilweise ungeschickter Manier mit der Krise fertigzuwerden.111 Rodrigues, der sich ohne Erlaubnis wieder nach Lissabon begeben hatte, wurde von Ignatius nach Rom zitiert, wo vier Mitbrüder (Manuel Miona, Martin de Olave, Juan Antonio de Polanco, Poncio Cogordán) über ihn zu Gericht sitzen sollten. Als Ankläger fungierten die Patres Luis Gongalves da Cámara (der Schreiber des Pilgerberichts) und Melchior Carneiro. Ein Verteidiger des Angeklagten war nicht vorgesehen."2 Das Tribunal untersagte Rodrigues am 4. März 1554 die Rückkehr nach Portugal und legte ihm schwere Bußen auf, von denen ihn Ignatius allerdings dispensierte.113 Rodrigues unterwarf sich zunächst dem Urteilsspruch; später wandte er sich an den Protektor der Gesellschaft, den Kardinal Rodolfo Pio di Carpi, um vom Gehorsam gegenüber der Ordensleitung entbunden zu werden. Ignatius erwog seinen Ausschluß aus dem Orden. Es kam jedoch nicht zum Äußersten. P. Nadal, der ihn im Herbst 1555 in Bassano aufsuchte, gelang es, ihn mit dem Ordensgeneral auszusöhnen.114 Rodrigues erhielt in den folgenden Jahren Aufgaben in Italien und Spanien; 1573 durfte er nach Portugal zurückkehren, wo er 1579 starb. In Spanien konnte die Gesellschaft Jesu, trotz großer Widerstände und Anfeindungen, schon in den vierziger Jahren Fuß fassen und innerhalb eines guten Jahrzehnts einen enormen Aufschwung nehmen. Einen großen Anteil daran hatte P. Antonio de Araoz, der zwischen 1539 und 1544 drei SpanienReisen unternahm. Als Mitglied einer hochadeligen Familie (er war der Neffe von Magdalena de Araoz, der Schwägerin des Ignatius) hatte er leichten Zugang zum spanischen Hof, und er verstand es, seine Beziehungen zum Vorteil der Gesellschaft zu nutzen. 1547 wurde er erster Provinzialoberer von Spanien; 1554, nach der Teilung in die Provinzen Kastilien und Aragón, übernahm er das Amt des Provinzials von Kastilien. Nicht unbedeutend war auch das Wirken von P. Petrus Faber, der zum ersten Mal 1541 mit Dr. Pedro Ortiz nach Spanien kam. Bei seinem zweiten Aufenthalt in den Jahren 1545-1546 arbeitete er zusammen mit P. Araoz auf der seelsorgerlichen und politischen Ebene. Seine Tätigkeit in Spanien nahm aber schon bald ein Ende, da er zur Teilnahme am Konzil von Trient abberufen wurde.115 Durch Faber und Araoz wurde Francisco de Borja, Herzog von Gandia und Vizekönig von Katalonien, mit der Gesellschaft Jesu bekannt. Er ermöglichte 1544 die Gründung des ersten spanischen Kollegs in Valencia. Ein Jahr später wurde in Gandia ein weiteres Kolleg gegründet, das von Paul III. in den Rang einer Universität erhoben wurde.116 Wie bereits erwähnt, ersuchte der Herzog von Gandia nach dem Tode seiner Gemahlin Leonor de Castro (27. März 1546) Ignatius um Aufnahme in den Orden.117 Nachdem der Eintritt des hochangesehenen Granden bekannt geworden war (die Sache wurde bis 1550 geheim gehalten), erhielt der Orden in Spanien und Italien einen großen Auftrieb. Wegen anhaltender Angriffe, vor allem aus Kreisen des Dominikaner-Ordens, und um weiteren Anfeindungen gegen die Gesellschaft vorzubeugen,

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suchte Borja bei Paul III. um eine offizielle Billigung der Exerzitien durch den Apostolischen Stuhl nach. Sie wurde am 31. Juli 1548 durch das Apostolische Schreiben „Pastoralis officii" gewährt.118 Zu den entschiedensten Gegnern der Jesuiten in Spanien zählte der Dominikaner Melchior Cano (1509-1560). Cano sah in den ignatianischen Exerzitien ein Dokument der Häresie der Alumbrados oder Dexados, weil sie ohne Beachtung der gesellschaftlichen Unterschiede allen Christen die gleiche Art der Meditation und Spiritualität anboten; eines der durch die Exerzitien gezeitigten Ergebnisse sei, daß Menschen, die in der Welt lebten, von der Erfüllung ihrer Aufgaben abgehalten würden, mit fatalen Folgen: die Weltleute werden untauglich für ihre persönlichen und gesellschaftlichen Aufgaben;119 Und selbst Spaniens höchster Kirchenfürst, der Erzbischof von Toledo, Juan Martínez Guijarro „el Silicéo" (1486-1557), Erzieher und Ratgeber des Prinzen Philipp, war dem Orden nicht wohlgesonnen.120 Dagegen fand die ignatianische Spiritualität in dem Reformprediger Juan de Avila (um 1499-1569) einen engagierten Fürsprecher.121 Bis 1556 konnten in zahlreichen spanischen Städten Kollegien gegründet werden: Barcelona, Valladolid (1545), Alcalá (1546), Salamanca (1548), Burgos (1550), Medina del Campo, Oñate (1551), Córdoba (1553), Avila, Cuenca, Plasencia, Granada, Sevilla (1554), Murcia, Zaragoza (1555), Monterrey (1556). Die Kollegien, die (gemessen an heutigen Vorstellungen) nicht sehr groß waren, dienten in erster Linie der Ausbildung des Ordensnachwuchses, hatten aber auch externe Schüler; das größte von ihnen in Córdoba hatte etwa 300 Schüler. In Simancas bei Valladolid bestand seit 1554 ein Noviziat des Ordens. Die seit 1547 bestehende spanische Ordensprovinz wurde 1554 zunächst in die Provinzen Kastilien und Aragón geteilt; noch im gleichen Jahr kam Andalusien als eigene Provinz hinzu. Beim Tode des Ignatius hatte die Gesellschaft in Spanien insgesamt achtzehn Kollegien und zählte 293 Mitglieder.122 In den spanischen Eroberungen in Süd- und Mittelamerika (Mexiko, Peru, Florida) dagegen konnte die Gesellschaft zu Lebzeiten des Ordensgründers noch keinen Fuß fassen. Deutschland und die Niederlande Deutschland (d. h., die deutschsprachigen Länder) war für Ignatius das Land, in dem der katholische Glaube am meisten bedroht war. Die religiöse Entwicklung nördlich der Alpen war deshalb ein Hauptgegenstand seiner Sorgen in den letzten eineinhalb Jahrzehnten seines Lebens. Auch Petrus Faber, der erste Jesuit, der deutschen Boden betrat, sah die seelsorgerliche Arbeit dort als vordringlich an.123 Faber begleitete den kaiserlichen Diplomaten Dr. Pedro Ortiz, der 1540-1541 an den Religionsgesprächen von Worms und Regensburg teilnahm. Ähnlich wie Ignatius sah er in dem moralischen Verfall des Klerus und der verbreiteten Vernachlässigung der Seelsorge die Hauptursachen für den Erfolg der Reformatoren. Wie der Frankfurter Kirchenhistori-

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ker und Jesuit KLAUS SCHATZ in einer scharfsinnigen Analyse der theologischen Vorstellungen und des Wirkens Fabers in Deutschland (1541-1544) gezeigt hat, haben er und seine Mitbrüder aus der ersten Generation des Ordens nicht erkannt, daß die Reformation, unabhängig von den herrschenden kirchlichen Mißständen, ihre eigene theologische und spirituelle Kraft hatte. Einer der Gründe für diese Fehleinschätzung lag sicher darin, daß es, aus kirchenpolitischen Gründen, niemals zu persönlichen Gesprächen zwischen einem der Reformatoren und Faber gekommen ist.124 Indem er jedoch das Hauptgewicht seiner Tätigkeit nicht auf die frontale Bekämpfung der Häresie, sondern auf die Reform der eigenen Seite legte und durch seine (echt ignatianische) Strategie, gerade das umso eifriger zu praktizieren, was die Häretiker angriffen, ist Faber letztlich erfolgreich gewesen. Das zeigte sich vor allem in Köln, wo der Erzbischof Hermann von Wied (1515-1547) sich der Reformation angeschlossen hatte. Mit tatkräftiger Unterstützung durch die Kölner Kartäuser und ihren Prior Gerhard Kalckbrenner konnten die Jesuiten (1544) in der größten Stadt Deutschlands ihr erstes Kolleg errichten.125 Man begann mit sieben Patres; 1556 zählte die Kölner Jesuiten-Kommunität 21 Mitglieder unter dem Rektor P. Leonard Kessel. Als Mittel religiöser und spiritueller Vertiefung setzte Faber die Exerzitien ein, die er auch bekannten Theologen, wie dem Luther-Gegner Johannes Cochläus (1479-1552) und dem Bischof von Naumburg Julius Pflug (1499-1564) erteilte. Im Mai 1543 machte Petrus Canisius in Mainz bei ihm die Exerzitien und trat danach in die Gesellschaft Jesu ein. Der Orden hatte damit einen seiner hervorragendsten Seelsorger, Wissenschaftler, Diplomaten gewonnen. „Unter den ersten Rekruten des entstehenden Ordens ist vielleicht er es, der in bewundernswerter Harmonie das Ideal von Gebet, Wissen, Unternehmungsgeist verwirklicht, der den Geist des Ignatius verkörpert, wie auch das Ideal des wahren Gefährten Jesu" (PAUL DUDON).126 Eine zweite Kollegsgründung wurde in Ingolstadt geplant, an dessen Universität Canisius 1549 eine Professur übernommen hatte. Durch den Tod des Herzogs Wilhelm IV. von Bayern verzögerte sich die Realisierung des Planes.127 Das Kolleg konnte erst 1556 eröffnet werden. Im gleichen Jahr zählte das Kolleg in Wien schon 320 Scholaren; es war 1551 gegründet worden.128 Das Zustandekommen war hauptsächlich der guten Beziehung zu verdanken, die P. Claude Le Jay zu König Ferdinand I. hatte. Erster Rektor des Wiener Kollegs war P. Nikolaus Lanoy. Ebenfalls noch in seinem Todesjahr konnte Ignatius die beiden Ordensprovinzen Nieder- und Oberdeutschland errichten. Canisius übernahm das Amt des ersten Provinzials von Oberdeutschland. Provinzial von Niederdeutschland wurde Everard Mercurian, später (1573-1580) vierter General des Ordens. Am 7. Juli 1556 begannen die Lehrveranstaltungen in dem Kolleg von Prag. Der Ordensgeneral hatte eine große Mannschaft von zwölf Jesuiten dorthin abkommandiert. Die vorbereitenden Arbeiten hatte Canisius geleistet.129 In den Jahren nach dem Tod des Ignatius konnten dann die Kollegien in München (1559), Trier, Mainz (1560), Inns-

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brück (1562) und Dillingen (1563) errichtet werden. Aus dem Dillinger Kolleg entstand eine Universität, die sich zu einem der bedeutendsten Zentren der katholischen Reform entwickelte. Bis zum Beginn des Dreißigjährigen Krieges folgten weitere Kollegsgründungen: in Fulda (1572), Graz (1573), Würzburg (1576), Augsburg (1582), Paderborn (1585), Münster (1588), Regensburg (1589), Eichstätt (1619). Die ersten Jesuiten, die Ignatius zum Studium an die Pariser Universität geschickt hatte, waren Spanier. Sie mußten 1542 wegen des zwischen Karl V. und Franz I. ausgebrochenen Krieges fluchtartig das Land verlassen. Unter der Führung von P. Jerönimo Domenech gingen sie nach Löwen, wo sich ihnen alsbald mehrere Flamen anschlössen, unter ihnen Adrian Adriaenssens (ab 1548 Superior des Hauses in Löwen) und Cornelius Brogelmans. Die Gründungen von Niederlassungen in den habsburgischen Niederlanden erwiesen sich als äußerst schwierig, da die Unterstützung durch die herrschenden Fürsten (namentlich die Regentin der Niederlande, die Königin Maria von Böhmen und Ungarn, 1505-1558, und Kaiser Karl V. selbst) fehlte und der Widerstand kirchlicher Kreise gegen die Gesellschaft erheblich war. Einen verläßlichen Verteidiger fanden die Patres jedoch in dem Vizekanzler der Universität, Ruard Tapper (1487-1559). Beim Tode des Ignatius bestanden in Löwen und Tournai kleine Häuser mit vier bzw. drei Patres.130 Später konnten aber in beiden Städten Kollegien etabliert werden, ebenso in Antwerpen, Brügge, Dinant, Douai. Sie sollten als geistige Brückenköpfe für die Rückgewinnung Englands dienen. Zahlreiche ihrer Studenten endeten dort als Märtyrer für ihre katholische Uberzeugung. Frankreich Die im Jahre 1542 aus Paris geflohenen Jesuiten konnten ein Jahr später dorthin zurückkehren, mußten sich aber in dem Lombardischen Kolleg verstecken. Sie fanden danach in dem Bischof von Clermont, Guillaume du Prat, einen Gönner. Der Bischof war auf dem Konzil von Trient mit der Gesellschaft und ihrer Spiritualität bekannt geworden. In Paris stellte er den Studenten ein ihm gehörendes Haus zur Verfügung. Er bemühte sich auch um die Gründung eines Kollegs in seiner Diözese. Für die Niederlassung des Ordens in Frankreich war jedoch dessen gesetzliche Anerkennung erforderlich, die auch (1550 mündlich, 1551 schriftlich) durch den König Heinrich II. gewährt wurde. Das Parlament verweigerte aber seine Zustimmung und verwies (1553) den Fall zur Begutachtung an die Theologische Fakultät der Sorbonne. Das illustre Gremium, in dem die feindselige Stimmung gegen die Gesellschaft Jesu das Ubergewicht hatte, erließ am 1. Dezember 1554 gegen sie ein Dekret.131 Um die Widerstände zu neutralisieren, aktivierte Ignatius seine Beziehungen zu zahreichen kirchlichen und politischen Persönlichkeiten. Der Durchbruch kam, als im Jahre 1555 vier Doktoren der Pariser Universität in Be-

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gleitung des Kardinals von Lothringen, Charles de Guise, nach Rom kamen. Der Kardinal war schon lange ein Freund des Ordens, und die Gegnerschaft der Theologen, vor allem die des Dominikaners Jean Benoit, konnte in einem Gespräch mit den römischen Jesuiten Laynez, Polanco, des Freux und Olave entschärft werden.132 Noch im gleichen Jahr errichtete Ignatius die französische Ordensprovinz mit P. Paschase Broét als Provinzial. In Billom, südöstlich von Clermont, gründete der Bischof du Prat das erste Kolleg im Königreich Frankreich; er stattete es reichlich mit finanziellen Mitteln aus. Das Pariser Haus, das 1554 mit zwölf Ordensmitgliedern eröffnet worden war, war kein eigenständiges Kolleg.

3. Außere Erscheinung des Ignatius und Eindruck auf die Zeitgenossen Für den Ordensgeneral muß es eine gewisse Genugtuung gewesen sein, daß er in seinen letzten Lebensjahren noch den gewaltigen Aufschwung seines Lebenswerks sehen konnte. In seiner kleinen Wohnung neben der Kirche S. Maria della Strada (die erhalten ist und die späteren Umbauten überstanden hat) hielt der Schwerkranke die Fäden der Regierung seiner Gesellschaft in eiserner Hand, wovon die jährlich an Umfang zunehmende Korrespondenz ein eindrucksvolles Zeugnis gibt. Eines von den vier „Kämmerchen"133 diente ihm als Kapelle, in der er unter Tränenergüssen seine stillen Messen las. Mit zunehmendem Alter und sich verschlimmernder Krankheit mußte er auf diese seltsamen, sich in die Länge ziehenden Individual-Messen, bei denen das „Volk" fehlte, verzichten. Schon 1539 hatte er sich von Paul III. vom Breviergebet dispensieren lassen.134 Er ersetzte es durch zwei Stunden individuellen Gebets nach der Messe. Die Zeitgenossen, die Ignatius noch bei Lebzeiten gesehen haben, konnten sich an einen kleinen (er maß etwa 1,58 Meter) Mann in Talar, Umhang und breitkrempigem Hut erinnern, der sich hinkend durch die Straßen Roms bewegte.135 Seine Gesichtszüge sollen einigermaßen zutreffend auf dem Porträt abgebildet sein, das der spanische Hofmaler Alonso Sánchez Coello (ca. 1531-1588) nach der Totenmaske und den Beschreibungen von P. Ribadeneira 1585 in Madrid malte. Noch am Todestag des Heiligen bekam der Florentiner Maler Jacopino del Conté (1510-1598), Schüler von Andrea del Sarto und Beichtkind des Verstorbenen, den Auftrag, ein Porträt zu malen; die römischen Mitbrüder des Ignatius waren nicht ganz zufrieden damit.136 Auf beiden Bildern sind charakteristische Gesichtszüge, wie die markante Nase und das elegante Lippenbärtchen, wiedergegeben. Von den Mitbrüdern, die mit ihm zusammenlebten, wird seine Höflichkeit, Freundlichkeit, Liebenswürdigkeit gerühmt.137 Der Rektor des Collegium Romanum, P. Sebastiano Romei berichtet, daß seine Gegenwart unter den Anwesenden Freude verbreitete.138 Seine besondere Sorge galt den kranken Mitbrüdern.139

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An Ignatius wird seine große Menschenkenntnis gerühmt, die vor allem beim Einsatz seiner Untergebenen in verschiedenen Aufgaben zur Geltung kam. Seinen nächsten Mitarbeitern gegenüber soll er gelegentlich ein ruppiges Benehmen gezeigt haben, und er konnte auch schwere disziplinarische Strafen (Geißeln!) verhängen.140 Fremden gegenüber war er gastfreundlich und Leute, mit denen er etwas zu besprechen hatte, lud er gern zum Essen ein; trotz aller Bescheidenheit und Spärlichkeit wurden bei den Mahlzeiten vornehme, höfische Sitten beachtet.141 Manchen, die mit ihm näher zu tun hatten, fiel sein gelebtes Gottvertrauen auf.142 Aber es war mehr als das Gottvertrauen des „normalen" Christen: Ignatius lebte in der Gewißheit, die Sache Gottes zu vertreten, und er nahm dies auch von seiner Gesellschaft an. Der Gründer der Gesellschaft Jesu hatte aber nicht nur Freunde, die über ihn ausschließlich Positives zu berichten wußten. Wie schon der junge Pilger und Student so wirkte auch der alte Ordensgeneral polarisierend. Bemerkenswert ist das, was der ihm selbst und seinem Lebenswerk feindlich gesonnene Dominikaner Melchior Cano über drei Begegnungen mit Ignatius in Rom berichtet.143 Zum ersten Mal suchte Cano den Ordensgeneral wahrscheinlich im Jahre 1542 auf. Damals habe Ignatius ohne erkennbaren Anlaß angefangen, von seinen in Spanien erlittenen Verfolgungen zu erzählen; dann habe er über „viele und gewaltige Dinge der Offenbarungen, die er von Gott bekommen hatte", berichtet. Der Besucher schloß daraus, daß sein Gesprächspartner eitel war; die berichteten Offenbarungen hielt er für unglaubwürdig. Der Grund für die befremdlichen Äußerungen wird gewesen sein, daß sich Ignatius dem Dominikaner gegenüber in die Notwendigkeit versetzt sah, sich selbst und sein Lebenswerk zu rechtfertigen. Oder wollte er doch mit seinen geistlichen Erfahrungen angeben? Die zweite Begegnung, von der Cano berichtet, fand bei Gelegenheit eines Essens (im Profeßhaus der Jesuiten) statt. Im Verlauf des Gesprächs rühmte Ignatius ein Mitglied seiner Gesellschaft, das im Ruf der Heiligkeit stand. Ein andermal kam er, um mit ihm zu essen; da lobte Ignatius einen Heiligen aus seiner Gesellschaft. Als man den Betreffenden herbeigerufen hatte, machte er auf den Verfasser [Cano] den Eindruck, daß er verrückt war. Und als er über Gott betreffende Dinge befragt wurde, da äußerte er viele Häresien, aufgrund deren der Verfasser ihn für einen Dummkopf erklärte und als solchen behandelte. Ignatius, dem der Vorfall peinlich war, bemühte sich, seinem Gast gegenüber zu erklären, der Mitbruder sei kein Irrlehrer, er sei nur verrückt, mit zeitweiligen lichten Momenten; aber infolge einer zur Zeit wirksamen MondKonjunktion sei er nicht so ganz katholisch. Cano schloß aus dem seltsamen Vorfall auf die mangelhafte Orthodoxie und Urteilsfähigkeit des Ignatius. Es fand noch eine dritte Begegnung mit dem Gründer der Gesellschaft Jesu statt, die Cano in der negativen Beurteilung von dessen Charakter end-

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gültig bestätigte; der Vorgang spielte sich ab im Vorzimmer des Kardinals Alessandro Farnese, des Enkels Pauls III. Es ergab sich ein andermal, daß ich mit ihm zum Gespräch mit dem Kardinal Farnese ging. Da kam ein Page und fragte: „Als wen soll ich Sie anmelden?" Er antwortete laut und vernehmlich: „Sagen Sie, daß es der Magister Iñigo ist, oder der General der Leute von der Gesellschaft, oder der Beichtvater von Madama; bei einem dieser Namen wird er Ihnen wohl zuhören." Cano gewann aus diesem Verhalten den Eindruck, „daß es da viel Wind gab", mit anderen Worten: Ignatius war in seinen Augen ein Windmacher, ein Angeber. Aus diesen Begegnungen und aus dem, was er von anderen über den Ordensgeneral erfuhr, kam der Dominikaner zu dem Urteil, daß derselbe von göttlichem und menschlichem Recht keine Ahnung hatte, außerdem unklug, ohne Augenmaß und voller Eitelkeit war. Man sieht, daß diese Gehässigkeiten ganz einfach von der Antipathie gegenüber Ignatius diktiert sind. Zum Beipiel muß man in dem Verhalten des Generals im Vorzimmer des Kardinals Farnese nicht unbedingt Angeberei sehen; die Nennung seiner amtlichen Funktionen gegenüber dem Pagen könnte auch ironisch gemeint gewesen sein. (Reicht das aus, um bei dem hohen Herrn vorgelassen zu werden?) Dennoch wird aus den Begegnungen mit dem dominikanischen Gralswächter der Orthodoxie deutlich, daß Ignatius kein reiner Sympathieträger war und auch seine Spiritualität keinesfalls allgemein als katholisch und rechtgläubig anerkannt wurde.

4. Ein einsamer Tod Schon in der Dispens vom Breviergebet, die Ignatius Anfang des Jahres 1539 gewährt wurde, werden als Gründe Erschöpfung und Magenleiden angegeben.144 Aus den folgenden Jahren sind zwei (undatierte) ärztliche Diätpläne für den Ordensgeneral erhalten.145 In einem von ihnen werden als Mittel gegen den hartnäckigen Husten (Katarrh), an dem der Patient offenbar gelitten hat, unter anderm das Trinken leichter Weine, wenig essen am Abend, wenig Schlaf empfohlen. Die zweite Verordnung verbietet den Genuß von Fleisch, Eiern und Wein - also von kräftiger Nahrung! Der Patient soll außerdem nicht zu viel Wasser trinken. Gestattet sind dagegen Linsen, Fisch in Öl, mit Anis, Kümmel und Fenchel gewürzte Suppen. Nach dem, was man heute über gesunde Ernährung weiß, sind die Rezepte der damaligen Arzte zum Teil wirkungslos, zum Teil schädlich. Vor allem haben sie die Ursachen der Krankheit falsch diagnostiziert. Ab 1548 berichtet P. Polanco in seinen Briefen häufig von Krankheiten des Generals.146 Im Januar 1550 erleidet Ignatius eine schwere, lebensbedohende Krise; er will die Leitung des Ordens niederlegen.147 Danach tritt eine

Ein einsamer Tod

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leichte Besserung ein, doch im Juni und Juli 1554 muß er das Bett hüten. Die „Magenschmerzen" sind kaum erträglich; die Anfälle sind von Fieberschüben begleitet. Die mediziniche Betreuung übernimmt jetzt der dem Orden angehörende Arzt P. Cristóbal de Madrid. Im darauf folgenden Winter bessert sich sein Zustand so weit, daß er im Januar für nach Ostern 1555 eine Pilgerreise nach Loreto plant. Die beiden auf den Tod Julius' III. folgenden Papstwahlen halten ihn jedoch in Rom zurück. Am 22. April 1555 schreibt P. Polanco (an P. Jerónimo Doménech), „unser Vater" habe in gesundheitlicher Hinsicht „sehr nachgelassen".148 Vor der dann einsetzenden sommerlichen Hitze sucht er Erleichterung in der Villa am Aventin, gegenüber den Caracalla-Thermen, die er selbst mit dem dazugehörenden Weinberg als Erholungsort für die Studenten des Collegium Romanum gekauft hatte.149 Sogleich stellte sich eine Besserung ein: seit Monaten zum ersten Mal konnte er wieder außerhalb des Bettes die Mahlzeiten zu sich nehmen.150 Aber das Wohlbefinden war nicht von langer Dauer: am 27. Juli ließ er sich zurück in das Profeßhaus bei S. Maria della Strada bringen. Am Dienstag, dem 28. Juli empfing Ignatius zum letzten Mal die Kommunion. Am folgenden Tag übernahmen die Arzte P. Baltasar Torres und Dr. Alessandro Petronio seine medizinische Betreuung. Er war aber nicht der einzige Kranke, der in dem Haus darniederlag. Anderen ging es schlechter als ihm; P. Laynez rang, vom Fieber geschwächt, mit dem Tod. Der Zustand des Generals dagegen wurde von den Ärzten nicht als bedrohlich angesehen.151 Am Donnerstag, dem 30. Juli, ließ er nachmittags P. Polanco zu sich rufen und bat ihn, unverzüglich den Papst Paul IV. aufzusuchen, um ihn um seinen Segen und den Ablaß zu bitten und die Gesellschaft seinem Wohlwollen zu empfehlen. Er fühlte sein Ende nahe. Der Sekretär, der an diesem Abend noch die Post der Ordensleitung für Spanien zu erledigen hatte, unterschätzte den Ernst des Lage seines Vorgesetzten; er fragte, ob der Gang zum Papst nicht Zeit bis zum folgenden Morgen habe. Der Kranke antwortete:152 Es wäre mir lieber heute als morgen; oder je eher desto lieber; aber tun Sie, wie es Ihnen gut scheint. Ich vertraue mich Ihnen freiwillig an.

Zur Vorsicht konsultierte Polanco noch die beiden Ärzte Torres und Petronio, die ihrerseits keinen Grund zur Besorgnis erkennen konnten. Um neun Uhr abends nahmen die Patres Polanco und Madrid mit Ignatius das Abendessen ein. Die Unterhaltung verlief normal und drehte sich unter anderem um geschäftliche Dinge. Die Mitbrüder verließen den General ohne jede Beunruhigung über seinen Zustand. In der Nacht hörte der Bruder Tomaso Canizaro, der in dem Zimmer nebenan schlief, wie der Kranke vor sich hin sprach oder betete. Nach Mitternacht rief er mehrmals stöhnend: „Ay, Dios!" (Oh Gott!). Es waren seine letzten Worte.153 Am Morgen fanden die Patres Madrid und des Freux Ignatius bewußtlos und in den letzten Zügen liegend. Bruder Canizaro sollte P.

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XI. Höhe und Ende des Lebens

Pedro Riera, den Beichtvater des Generals und Rektor der Kirche, herbeiholen, um dem Sterbenden die Letzte Ölung zu erteilen; doch man fand ihn nicht. P. Polanco rannte jetzt eilends zum Vatikan, wo ihn der Papst trotz der frühen Morgenstunde sogleich empfing und ihm mit großer Liebe und Rührung seinen Segen und den erbetenen Ablaß (d.h., die Generalabsolution „von allen Sünden und Sündenstrafen") für Ignatius mitgab. Der aber war, als der Sekretär zurückkam, bereits verschieden. Er war, wie Polanco selbst schreibt, „in ganz gewöhnlicher Weise" von der Welt gegangen.154 Der Tod war gegen sieben Uhr morgens eingetreten. Anwesend waren nur die Patres Cristóbal de Madrid und André des Freux, der Rektor des Collegium Germanicum; keiner von ihnen erteilte ihm das Sterbesakrament, und er wird sie wohl auch nicht mehr wahrgenommen haben. Noch am Todestag nahm der in päpstlichen Diensten stehende Chirurg Realdo Colombo aus Cremona die Autopsie vor. Wie er selbst berichtet, fand er zahlreiche Steine in den Nieren, der Lunge, der Leber und der Pfortader (vena portae).155 Die heftigen Schmerzen, an denen Ignatius jahrelang zu leiden hatte, werden demnach hauptsächlich in Gallen- und Nierenkoliken ihre Ursache gehabt haben. Am Sitz des Ordensgenerals wird bis heute eine Kopfbüste aufbewahrt, die von der Totenmaske des Ignatius abgenommen wurde.156 Sie dürfte wohl das genaueste Abbild seiner Züge wiedergeben, gewährt aber natürlich keinen Einblick in seine Seele. Sogleich nachdem sich die Nachricht vom Tod des Ordensgenerals in der Stadt verbreitet hatte, wurde durch das Römische Volk eine Art faktischer Heiligsprechung vorgenommen. Der Zustrom der Massen zur Kirche S. Maria della Strada, wo der Leichnam aufgebahrt wurde, war enorm.157 Der Leichnam wurde am nächsten Tag (1. August 1556) gegen Abend vor dem Hochaltar der Kirche S. Maria della Strada, auf der Evangelienseite, in einem vorläufigen Grab bestattet.158 Eine Umbettung in die im Bau befindliche Kirche Il Gesù war vorgesehen. Als der Hochaltar im Jahre 1568, unter dem Generalat des Francisco de Borja, abgerissen wurde, verlegte man das Grab (am 31. Juli) in den noch stehenden hinteren Teil der Kirche. Am 19. November (S. Pontiani) 1587 fand die Übertragung der Gebeine in die neue Kirche II Gesù statt. Sie wurden in einer Bleiurne geborgen und vor dem Hochaltar, auf der Evangelienseite, bestattet.159 Ihre endgültige Ruhestätte fand die Reliquie des Ignatius schließlich, nach weiteren vier Umbettungen,160 ein Jahrhundert später in dem prunkvollen, von Andrea Pozzo in den Jahren 1695-1697 gestalteten linken Seitenaltar von II Gesù.

XII AUFSTIEG UND NIEDERGANG DER GESELLSCHAFT JESU

1. Die Jesuiten und die Kunst des Barock Die Gesellschaft Jesu steht am Anfang der Kunst des Barock und des ganzen durch diese Kunst geprägten Zeitalters. Ihr Niedergang fällt zeitlich mit dem Erlöschen des barocken Kunststils zusammen. Die Vision des Ordensgründers in La Storta kann als Keimzelle der barocken Ikonographie angesehen werden. Deshalb ist sie, was die kulturgeschichtlichen Folgen betrifft, kaum zu überschätzen; dieselben reichen weit über Ignatius und seinen Orden hinaus. Aber in La Storta hat sich so etwas wie die Initialzündung des barocken Zeitalters ereignet. Anfänge des barocken Kirchenbaus in Rom In den großen Kirchen, welche die Jesuiten, nach dem Tode und der Heiligsprechung ihres Stifters durch Gregor XV. Ludovisi im Jahre 1622, in Rom errichteten und ausgestalteten, Il Gesù und San Ignazio, wurden Verankerung in der Vorsehung Gottes, Triumph und Glorie des Ignatius und seines Ordens von bedeutenden Künstlern des römischen Barock dargestellt. Bemerkenswert ist vor allem die Gestaltung des Grabes des Heiligen in der Kirche II Gesù durch den als Laienbruder dem Jesuitenorden angehörenden Architekten und Maler Andrea Pozzo (1642-1709). Pozzo hat dort die Vision von La Storta dargestellt, jedoch nicht als geschichtliches Ereignis, sondern als in die transzendente Sphäre erhobene Szene mit dem glorifizierten Ignatius. Zu Füßen des Heiligen winden sich, wie eine von der wahren Religion besiegte Drachenbrut, die Häretiker Luther und Calvin, kenntlich gemacht durch die Inschriften auf ihren Büchern.1 Die Kombination von Gründungslegende und Apotheose des Stifters und der Ordensgemeinschaft, wie sie Pozzo in dem Ignatius-Altar gestaltet hat, hat dann im 18. Jahrhundert in den Deckengemälden der Kirchen und Prunksäle der Abteien und Residenzen im südlichen Deutschland ihre Fortsetzung gefunden. Mit den Planungen und dem Bau von II Gesù hatte man schon zu Lebzeiten des Ordensgründers begonnen. Die anfänglichen Widerstände und die Auseinandersetzungen um den Erwerb des Geländes waren beendet, als Roms berühmtester Architekt, Michelangelo (1475-1564), um die Mitte des Jahres 1554 die Bauleitung übernahm. Voller Genugtuung ließ Ignatius am 21. Juli 1554 das wichtige Ereignis durch P. Polanco dem Grafen Diego Hur-

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XII. Aufstieg und Niedergang der Gesellschaft Jesu

tado de Mendoza mitteilen.2 Da es schwer vorstellbar ist, daß Michelangelo sich an die Pläne eines anderen gehalten hätte, wird man annehmen müssen, daß der erste Entwurf für Gesù von ihm stammte, auch wenn darüber aus anderen Quellen nichts Sicheres bekannt ist. 1546 hatte Paul III. Michelangelo die Bauleitung von St. Peter anvertraut, und der war damals hauptsächlich mit der Überwachung des Baus der Kuppel beschäftigt. Die Arbeit an der zukünftigen Hauptkirche der Jesuiten übernahm er, ohne dafür eine Bezahlung zu verlangen. Durch die in seinen letzten Lebensjahren ausgeübten Tätigkeiten wurde der geniale Architekt, wie es KENNETH CLARK treffend ausgedrückt hat, „zum geistigen Bindeglied zwischen Renaissance und Gegenreformation" .3 Die feierliche Grundsteinlegung von II Gesù fand am 6. Oktober 1554 statt, worüber Polanco ebenfalls einen Bericht verfasst hat.4 Anwesend bei der Feier war der Kardinal Bartolomeo de la Cueva, der zusammen mit Ignatius den Grundstein setzte; eingefunden hatte sich auch der portugiesische Botschafter Alfonso Lancaster. Die Studenten des Collegium Romanum und des Germanicum umrahmten die Szene. Auch Michelangelo war anwesend, wenn auch sein Name in dem Bericht nicht genannt wird. Aber nur er kann der Architekt gewesen sein, dem der Kardinal den Auftrag gab, zwei Edelsteine unter den Grundstein zu legen.5 Die Tatsache, daß Ignatius selbst die Grundsteinlegung der Hauptkirche seines Ordens vorgenommen hat, kann in ihrer historischen Symbolkraft kaum überschätzt werden: er macht hier sich selbst und sein Werk endgültig, auch in der sakralen und (im engeren Sinne) religiösen Dimension, in Rom fest. Rom ist damit an die Stelle Jerusalems als definitives Ziel seines Pilgerwegs getreten und zum Ausgangspunkt des neuen geistlichen Kreuzzugs der Gesellschaft Jesu geworden.6 Der Bau der Kirche II Gesù wurde dann unter der Leitung des Architekten Iacopo Barocci da Vignola (1507-1563) vollendet. Der Entwurf für die Fassade soll von Giacomo Della Porta (1539-1602) stammen. Die finanziellen Mittel hatte der Kardinal Alessandro Farnese zur Verfügung gestellt. In der Kirche fand am 31. Juli 1599 eine von den Kardinälen Roberto Bellarmino (S.J.) und Cesare Baronio (Oratorianer) inszenierte Demonstration statt, in der die Kanonisation des Ignatius gewissermaßen vorausgenommen wurde.7 (Es sollte wohl auch auf den Fortgang des Verfahrens Druck ausgeübt werden). Einen besonderen Eindruck machte es auf die Anwesenden, als der alte Kardinal Baronio in seiner Amtskleidung auf eine hohe Leiter kletterte und eigenhändig ein Bild des Ignatius über dessen Grabstätte befestigte. Der Gründer des Gesellschaft Jesu wurde 1609 von Paul V. Borghese seliggesprochen. Die glanzvolle, triumphale Heiligsprechung, zusammen mit der von Teresa von Avila, Filippo Neri, Francisco Javier und Isidoro durch Gregor XV. Ludovisi fand am 12. März 1622 statt.8 Vom Tiefpunkt des Sacco di Roma (1527) her gesehen war diese barocke Inszenierung par excellence, wie KENNETH CLARK meint, so etwas wie die Taufe des wiedergeborenen Rom.9 Schon mit der Kanonisation des Mailänder Kardinals Carlo Borromeo

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(1538-1584) durch Paul V. am 1. November 1610 war ein Protagonist der katholischen Reform zur Ehre der Altäre erhoben worden.10 Noch in den letzten Jahren des 16. Jahrhunderts begannen auch andere Orden mit dem Bau großer repräsentativer Barockkirchen: die Oratorianer mit der Chiesa Nuova (S. Maria in Vallicella) und die Theatiner mit S. Andrea della Valle. Die Arbeiten an beiden Kirchen, die wie II Gesù an der Straße zum Vatikan, dem heutigen Corso Vittorio Emanuele, liegen, zogen sich unter der Leitung mehrerer Architekten bis weit in das 17. Jahrhundert hinein." Im Jahre 1626 begannen die Jesuiten mit dem Bau ihrer zweiten Ordenskirche in Rom, S. Ignazio; sie war Kollegskirche des Collegium Romanum. Die Zeichnungen dafür hatte der Ordensbruder Orazio Grassi geliefert. Für die Finanzierung kam der Kardinal Ludovico Ludovisi auf; er war Nepot Gregors XV. (1621-1623), des Papstes, der Ignatius heiliggesprochen hatte. Eine architektonische Besonderheit dieser großen, saalartigen Kirche ist die über der Vierung vorgetäuschte Kuppel, die (wohl aus Gründen der Sparsamkeit) niemals realisiert wurde.12 In S. Ignazio befinden sich die Gräber von drei Heiligen des Ordens: Robert Bellarmin (seit 1923), Aloysius Gonzaga und Johannes Berchmans. Ein wahres Juwel des Barock ist die dritte Jesuitenkirche in Rom, S. Andrea al Quirinale, die der geniale Bildhauer und Architekt Gian Lorenzo Bernini (1598-1680) in den Jahren 1658-1661 errichtete.13 Neben der Kirche befand sich das Noviziat des Ordens; dessen wohl berühmtester Novize, der „frühvollendete" Stanislaus Kostka, ist in der Kirche bestattet.14 Kirchenbauten der Jesuiten nördlich der Alpen Die erste große Barockkirche, die von den Jesuiten in Deutschland erbaut wurde, war St. Michael in München. Schon 1583 begonnen, wurde sie 1597 geweiht. Für die architektonische Gestaltung des Innenraums waren stadtrömische Vorbilder maßgebend.15 Die Michaelskirche war ihrerseits vorbildlich für die barocken Wandpfeilerkirchen, die in den folgenden Jahrzehnten errichtet wurden. Ab 1606 arbeitete man an Planung und Bau der zweiten großen Jesuitenkirche in Deutschland, der so genannten „Studienkirche" (Mariae Himmelfahrt) des Kollegs von Dillingen;16 sie wurde 1617 geweiht. In den Jahren 1750-1765 wurde der Innenraum in den heiteren Formen des Rokoko umgestaltet. Zahlreiche Kollegskirchen im Stil des Spätbarock und Rokoko wurden von den Jesuiten im Verlauf des 17. und 18. Jahrhunderts errichtet. So wie die Kollegien als Bastionen des katholisch geprägter Wissenschaft und Erziehung entlang der Grenzen protestantischer Territorien gegründet wurden, so dienten ihre prachtvoll ausgestatteten Kirchen als Wegzeichen in der Landschaft und auch als Propagandainstrumente für die neuerstarkte päpstliche Erscheinungsform des Christentums. Die Kollegien und Kirchen von Fribourg (1586), Luzern (1588) und Solothurn (1680) standen praktisch in Sichtweite

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protestantischer Kantone. Das lutherisch gewordene Württemberg wurde durch die Kollegien von Ellwangen, Rottweil und Rottenburg umstellt.17 In der Fürstpropstei Ellwangen gab es seit 1611 eine Niederlassung der Jesuiten, die erst 1729 zum Kolleg erhoben wurde. Der Grundstein der Kollegskirche (S. Maria Immaculata; heutige evangelische Stadtpfarrkirche) in der Mitte der Stadt, unmittelbar neben der Stiftskirche, auf dem Gelände der ehemaligen Benediktiner-Abtei, wurde am Fest des heiligen Ignatius, dem 31. Juli 1724 gelegt. Architekt und Bauleiter war der Jesuitenbruder Jakob Amrhein (1673-1724) aus Münster bei Luzern; er war gelernter Schreiner; die Fähigkeiten eines Architekten hatte er sich auf autodidaktischem Wege angeeignet. Vor der Kirche hatte er bereits den Bau des Kollegs und Gymnasiums geleitet, der 1723 abgeschlossen war. Nach Amrheins plötzlichem und frühen Tod übernahm der Jesuitenarchitekt P. Josef Guldimann (1656-1736) aus Solothurn, auch er ein Autodidakt, die Leitung des Baus der Kirche. Sie war am 3. Dezember 1726 in den wesentlichen Teilen fertiggestellt, so daß man den Gottesdienst feiern konnte. Die Weihe fand am 18. Mai 1729 statt. Der Orden hatte sich mit dem Unternehmen hoch verschuldet.18 Schon in den achtziger Jahren des 17. Jahrhunderts hatten die Jesuiten auf dem Schönenberg bei Ellwangen die berühmte Wallfahrtskirche erbaut. Die Pläne hatte der zur „Vorarlberger Schule" gehörende Architekt Michael Thumb (ca. 1640-1690) gezeichnet. Sein jüngerer Bruder Christian Thumb (ca. 1645-1726) übernahm die Bauleitung. Vollendet wurde die Kirche von dem Architekten und Jesuitenbruder Heinrich Mayer (1636-1692), der an zahlreichen Kirchenbauten der Jesuiten im süddeutschen und Schweizer Raum (Konstanz, Freiburg, Luzern, Solothurn) mitwirkte. Die freie Reichsstadt Rottweil berief die Jesuiten im Jahre 1652. Als Kollegskirche wurde ihnen die spätgotische Kapellenkirche in der Mitte der Stadt zugewiesen, neben der sie ihr Kolleg erbauten. Als die Kirche baufällig geworden war, wurde an ihrer Stelle nach den Plänen des schon erwähnten Jesuitenarchitekten Josef Guldimann eine dreischiffige Barockkirche errichtet, die 1727 vollendet war. Den Turm aus dem 14. Jahrhundert, einen der schönsten spätgotischen Kirchtürme Deutschlands, ließ man stehen.19 Die Ausmalung wurde dem Jesuitenbruder Joseph Fiertmair (1702-1738) aus Schwandorf in der Oberpfalz übertragen. Er hatte sein Handwerk bei Cosmas Damian Asam in München gelernt und war 1723 in die Gesellschaft Jesu eingetreten. Während der kurzen Zeit des Wirkens, die ihm vergönnt war, hat er auch in Ellwangen und Rottenburg gemalt; doch gelten die Rottweiler Fresken als sein Hauptwerk.20 In Rottenburg am Neckar hatten die Jesuiten seit 1649 ein Haus, das 1668 zum Kolleg erhoben wurde.21 Der imposante Bau des Kollegs steht noch; in ihm ist heute das Bischöfliche Ordinariat untergebracht. Die in den Jahren 1711-1718 unter der Leitung des Jesuitenbruders Thomas Troyer (1657-1718) aus Mittersill im Pinzgau erbaute große Barockkirche fiel schon 1790 als angeblich baufällig dem aufgeklärten (katholischen!) ikonoklastischen Wahn

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zum Opfer. Die im benachbarten Weggental gelegene Wallfahrtskirche, ein Juwel des Frühbarock, wurde durch den energischen Einspruch des städtischen Magistrats vor dem gleichen Schicksal bewahrt. Als Architekt der Kirche gilt der Vorarlberger Michael Thumb, was man aus der Verwandtschaft mit der Wallfahrtskirche auf dem Schönenberg bei Ellwangen und der (Prämontratenser-)Abteikirche von Obermarchtal geschlossen hat, die beide zweifellos von ihm entworfen wurden. 22 Der schon erwähnte Jesuitenbruder Fiertmair hat auch für Weggental zwei Altarblätter gemalt, was die Kollegschronik unter dem Jahr 1732 (ohne Namensnennung) vermerkt. 23 Ich halte das Altarbild des linken Seitenaltars f ü r Fiertmairs bedeutendstes Werk, in technischer und inhaltlicher Hinsicht. Es ist vermutlich in der gesamten jesuitischen Ikonographie das einzige Gemälde, auf dem der heilige Ignatius (zusammen mit Franz Xaver) dargestellt ist, wie er der Gottesmutter die Konstitutionen der Gesellschaft Jesu oder Teile davon zur Ratifizierung (Bestätigung) vorlegt. 24 Nach Vollendung seiner beiden Bilder starb Fiertmair am 24. Juni 1738 in Rottenburg. 25 Merkwürdig ist, daß die Jesuiten, entgegen der gewaltigen (und von ihnen initiierten) Strömung des barocken Kunststils, bis ins 17. Jahrhundert hinein gotische Kirchen erbauten. Das wohl eindrucksvollste Beispiel dafür ist die Kirche von Molsheim, die in den Jahren 1614-1618 vor den Toren des protestantischen Straßburg errichtet wurde (Patrozinium: SS. Trinitas). Der damalige Bischof von Straßburg, Erzherzog Leopold von Österreich, der in Zabern (Saverne) residierte, hatte für den Bau beträchtliche Mittel zur Verfügung gestellt. Die ersten Pläne für die Errichtung eines Kollegs gingen auf den Bischof Erasmus von Limburg zurück; er leitete die Diözese Straßburg von 1541 bis 1568 und war Teilnehmer des Konzils von Trient. 1552 traf er mit Petrus Canisius zusammen, mit dem er den Plan der Gründung eines Jesuitenkollegs im Elsaß erörterte. Das Vorhaben konnte jedoch erst unter seinem Nachfolger Johannes von Manderscheid-Blankenheim realisiert werden, in dessen Regierungszeit (1569-1592) die ersten acht Jesuiten (am 15. März 1580) in Molsheim eintrafen. 26 O b w o h l die Kollegskirche von Molsheim nach landläufigen Maßstäben eigentlich gar nicht mehr in die Zeit paßt (anderswo ist die Renaisance längst vorübergezogen oder steht das Barock in Blüte), überrascht das Bauwerk durch seine außergewöhnliche Schönheit. Schon von außen erkennt man, daß man sich einem bedeutenden architektonischen Kunstwerk nähert. Der weite Innenraum vermittelt dem Besucher eine festlich-heitere Stimmung. Die „Kinder des Vaterlands", die im Gefolge der Französischen Revolution in der Kirche den Kult der Vernunft und des Höchsten Wesens etablierten, zeigten dafür wenig Gefühl: ein Teil der kostbaren Inneneinrichtung fiel ihrem ikonoklastischen Vandalismus zum Opfer. U m die gleiche Zeit wie die Jesuitenkirche von Molsheim, in den Jahren 1613-1618, wurde die von Luxemburg erbaut. Baumeister war der Jesuitenbruder Jean du Blocq (1583-1656), der schon am Bau der Ordenskirche von Möns mitgewirkt hatte. Man betritt die heutige Kathedrale Notre-Dame

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durch ein reich verziertes Renaissanceportal, das der Bildhauer Daniel Muller gestaltet hat. Das Innere der Kirche zeigt die Formen der niederländischen Spätgotik. Möglicherweise diente die Trierer Minoritenkirche, eine gotische Hallenkirche, die den Jesuiten übergeben worden war, dem Baumeister als Vorbild.27 (Das auf dem Hochaltar befindliche Gnadenbild der Mutter Gottes von Luxemburg, „Trösterin der Betrübten", das im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts große Pilgerscharen anzog, wurde erst nach der Aufhebung des Jesuitenordens über die Grenzen des Landes hinaus bekannt). Die größte gotische Jesuitenkirche auf deutschem Boden ist die MariaeHimmelfahrts-Kirche zu Köln.28 Als Vorbild diente die Kirche von Molsheim. Der Plan stammte von dem Architekten Christoph Wamser. Grundsteinlegung war am 15. Mai 1618. Das größte Verdienst an der Vollendung der Kirche kommt P. Heinrich Scheren (1556-1637) zu, der als director fabricae templi den Bau leitete; er war zeitweilig Rektor des Kölner Kollegs und Provinzial der rheinischen Ordensprovinz. Den größten Teil der Baukosten bestritt der Herzog Max von Bayern. Die Kirche wurde zu Beginn der Fastenzeit 1629, mitten im Dreißigjährigen Krieg, in Gebrauch genommen. Die zahlreichen Fenster geben dem Innenraum (ähnlich wie in Molsheim) eine große Helligkeit; er wurde im Laufe des 17. Jahrhunderts im Stil des Barock ausgestattet. Der Beichtstuhl Auf die in der Spiritualität der Jesuiten so wichtige Gewissenserforschung (Examen particulare und generale) und auf die von dem Orden geförderte Praxis der häufigen Beicht gehen letztlich Einführung und Verbreitung eines für das Zeitalter des Barock typischen Kirchenmöbels zurück: des Beichtstuhls. Der Förderung der Beicht diente auch die Propagierung des Kultes des heiligen Johannes von Nepomuk, eines (angeblichen) Märtyrers des Beichtgeheimnisses, durch die Jesuiten; er avancierte in Süddeutschland zum beliebtesten Brückenheiligen und letztem der Eisheiligen (16. Mai), der „auch noch'n Tuck" (in einer Frostnacht) tut.29 Seit dem Spätmittelalter gab es für die Beicht offene Stühle, bei denen Beichtvater und Beichtkind durch ein Gitter getrennt waren. In den Ausführungsbestimmungen zu den Beschlüssen des Konzils von Trient, die der Kardinal Carlo Borromeo verfaßt hat, wird der zweiteilige Beichtstuhl mit einem vergitterten Fensterchen zwischen Beichtvater und Pönitent vorgeschrieben.30 Der heute in den katholischen Kirchen noch allgemein verbreitete dreiteilige, geschlossene Beichtstuhl ist erst im 17. Jahrhundert erfunden worden. In diesem dunklen Flüsterschrank gewinnt die Sünde eine neue Dimension, indem sie, vor dem aufmerksam lauschenden Ohr des geistlichen Richters, mit unterdrückter Stimme noch einmal hervorgeholt und verbalisiert wird. Wenn man selbst Beichtunterricht gegeben hat, weiß man, wie neunjährige Erstkommunikanten auf den Kasten reagieren: in einer Mischung aus Grauen

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und Neugier. Um Erhaltung und Verstärkung dieser infantilen Gefühle geht es, wenn Seelsorger Erwachsenen (nicht selten gegen ihre eigene Uberzeugung) die Heilsnotwendigkeit dieser Prozedur einreden. Nicht von ungefähr wird auch der erwachsene Pönitent als „Beichtkind" bezeichnet! Natürlich dient das Clairobscur des Beichtstuhls nicht nur der Wahrung der Diskretion, sondern es bietet sich eine geradezu optimale Gelegenheit für psychischen Mißbrauch. Und gerade dieses zwielichtige Ineinander von prachtvoller Zelebration der Heiligkeit im hellen, üppig dekorierten Kirchenraum (zu dessen Mobiliar auch die in hervorragender Schreinerarbeit gefertigten Beichtstühle gehören!) und dem sich im Untergrund, in der Dimension des menschlichen „Geschlechts", vollziehenden Leben, ist charakteristisch für den barocken, von den Jesuiten entscheidend geprägten Katholizismus. 31 Im Zuge der so genannten „liturgischen Reformen", die auf das II. Vatikanische Konzil folgten, wurden „Bußandachten" eingeführt, durch die die Ohrenbeicht abgelöst werden sollte. Die Reformer hatten offenbar vergessen, daß es in der Katholischen Kirche seit ungefähr 2000 Jahren eine Bußandacht gab: die Messe. Eine Zeitlang verstaubten die Beichtstühle ungenutzt in vielen Kirchen, ebenso wie die Kanzeln; viele davon wurden an Antiquitätenhändler verhökert. Als dann in einer für die Zeit typischen Taumelbewegung von den kirchlichen Autoritäten die Ohrenbeicht wieder für obligatorisch erklärt wurde, machten selbst gestandene und gutwillige Katholiken diesen Schwenk nicht mehr mit. Am Rand einer vielbefahrenen Bundesstraße in der Nähe von Tübingen stand jahrelang ein Beichtstuhl als Aushängeschild für ein Antiquitätengeschäft, das in einer Scheune untergebracht ist, bis er gänzlich ausgebleicht und unansehnlich geworden war - ein Anblick, über den sich kein vernünftiger und nachdenklicher Mensch freuen kann, dennoch eines der stummen, vielsagenden Symbole, an denen die engere und weitere Geschichte der Gesellschaft Jesu reich ist.

Malerei In den römischen Kirchen der Jesuiten wurde der Stil der barocken Malerei initiiert, der im 18. Jahrhundert in zahlreichen Klosterkirchen Süddeutschlands und Österreichs, aber auch auf der iberischen Halbinsel und in Südamerika, Höhepunkte erreichte. In den prachtvollen Deckenfresken der barocken Kirchen sind die Gründungslegenden religiöser Gemeinschaften dargestellt. In ihnen ist der Gedanke gestaltet, daß die betreffende Gemeinschaft und ihr Lebensideal im Transzendenten, Ewigen, und damit im Plan Gottes, gegründet sind und zum Ewigen hinführen. In dem Deckenfresko der Hauptkirche der Gesellschaft Jesu, Il Gesù, das Giovanni Battista Gaulli, genannt Baciccio, in den Jahren 1672-1685 gemalt hat, ist die Apotheose des Namens Jesu in der Gestalt des vom Orden verwendenten Signets (IHS) und damit dessen Verankerung in der Herrlichkeit

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Gottes dargestellt.32 Ein verwandtes Thema, nämlich die im Willen Gottes gründende weltweite Missionstätigkeit des Ordens, hat der geniale Jesuitenbruder Andrea Pozzo 1691-1694 an der Decke des Schiffs von S. Ignazio ausgeführt.33 Der heilige Ignatius wird dort, in Anspielung auf die Vision von La Storta, in die unmittelbare Nähe des kreuztragenden Erlösers und der göttlichen Trinität gerückt. Die zentrale Vorstellung barocker Weltsicht wurde auch in den Deckenfresken der großen Säle in den Palästen römischer Adelsfamilien realisiert. In ihrer Erhöhung zum höchsten Amt der Christenheit sahen die Päpste des barocken Zeitalters auch die Aus erwähl theit ihrer Familien im göttlichen Heilsplan. Dementsprechend glorifizierte Pietro da Cortona (1596-1669) die Familie Urbans VIII. im Palazzo Barberini, die Familie Innocenz' X. im Palazzo Pamphili.34 In Süddeutschland fand die Zentralidee des Barock ihre imposantesten malerischen Gestaltungen in den Abteikirchen der reichen Benediktinerklöster, namentlich in Weingarten, Zwiefalten und zuletzt in Neresheim. Die Ausmalung der Abteikirche von Weingarten war der erste Großauftrag für Cosmas Damian Asam (1686-1739). Während seines Aufenthalts in Rom in den Jahren 1711-1713 hatte Asam sowohl die malerischen (Cortona, Baciccio, Pozzo) als auch die plastischen (Pozzo, Bernini) Meisterwerke des römischen Barock eingehend studiert. In den drei Deckenfresken des Hauptschiffs von Weingarten werden die spirituellen Grundlagen des Klosters in ihrer universellen Bedeutung und in ihrem Ewigkeitscharakter dargestellt: die Heilig-Blut-Reliquie, die Glorie des heiligen Benedikt und die Himmelfahrt Mariae. Das gewaltige, ihm vorgegebene ikonographische Programm verwirklichte der Maler in den Jahren 1718-1720.35 In der Mitte des 18. Jahrhunderts entstand in der Abteikirche von Zwiefalten das Hauptwerk des Malers Franz Joseph Spiegier (1691-1756).36 Die Kirche war unter dem Abt Augustin Stegmüller (1725-1744) durch den genialen Barockbaumeister Johann Michael Fischer in den Jahren 1741-1750 errichtet worden. Mit einer Gesamtlänge von mehr als 96 Metern ist sie Fischers größter Sakralbau.37 Das riesige Deckenfresko des Mittelschiffs überspannt vier Joche. Dargestellt sind, aus dem ewigen Licht der Trinität herausfließend und in dasselbe in einem Wirbel wieder hineinfließend, das Wirken der Gottesmutter und ihres Gnadenbildes, die zentrale Bedeutung des Mönchsvaters Benedikt im Vorgang der Erlösung und Gnadenvermittlung; von ihm ist das Wirken der übrigen Ordensgründer und Heiligen abgeleitet. Die Bedeutung, die Wallfahrt und Marienkult im Barock (wieder)erlangt hatten, schlägt sich in der Darstellung von sechs europäischen Marienwallfahrtsorten in dem äußeren Ring um den ovalen Wolkenwirbel des Gemäldes.38 Der Innenraum der Abteikirche von Neresheim gilt als letzte große architektonische Gestaltung des Würzburger Barockbaumeisters Balthasar Neumann. Er konnte die Anfänge des Baus in den Jahren 1747-1753 noch persönlich überwachen. Unter weniger fähigen Nachfolgern geschahen dann architektonische Mißgriffe. 39 Ein Werk höchster technischer und inhaltlicher

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Perfektion, zugleich einer der letzten Höhepunkte der europäischen Malerei des Spätbarock ist dagegen in den Fresken des Tiroler Malers Martin Knoller (1725-1804) erhalten. Knoller hat die Riesenaufgabe in der verhältnismäßig kurzen Zeit der sechs Sommer von 1770-1775 bewältigt.40 Was den Stil der Neresheimer Kuppelfresken betrifft, so zeigt er unverkennbar bereits die Merkmale der kommenden Epoche des Klassizismus. Knoller hielt sich von 1754 bis 1765 - abgesehen von zwei Reisen, die er 1758 nach Neapel und Mailand unternahm - in Rom auf. Er interessierte sich dort für die frühe barocke Deckenmalerei. Wichtiger für seine Entwicklung waren die Begegnungen mit Anton Raffael Mengs, dem Wegbereiter des Klassizismus in der Malerei, und Johann Winckelmann, der 1755 seine programmatische Schrift: Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Baukunst veröffentlichte. Der Einfluß von Mengs und Winckelmann auf die Malerei Knollers ist in vier von den Kuppeln in Neresheim deutlich zu erkennen: die Fresken zeigen Szenen des Lebens Jesu, die jeweils in eine klassische Tempelarchitektur hineinkomponiert sind: Tempelreinigung, Der zwölfjährige Jesus im Tempel, Abendmahl, Darstellung Jesu im Tempel. Die Taufe Jesu ist in eine Campagna-artige, an die Landschaftsbilder von Claude Lorrain erinnernde Umgebung hineinversetzt. Auch die Auferstehung Christi ereignet sich in freier Landschaft, an deren Rand römische Bauten zu erkennen sind. Darüber öffnet sich der von einem Wolken- und Engelwirbel gebildete unendliche Raum, der illusionäre barocke Himmel.41 Noch einmal, mit der denkbar größten Perfektion, wie ein glanzvoller Abschluß der barocken Kunst und Weltsicht, ist der Himmel in der Hauptkuppel der Neresheimer Abteikirche dargestellt. Mit seinen 23 Metern Länge, 21 Metern Breite und 32 Metern Höhe ist das auf vier Doppelsäulen ruhende Oval Zentrum der Kirche. Im Zenit der Kuppel erscheint aus der Unendlichkeit des goldenen ewigen Lichts heraus die göttliche Dreifaltigkeit. Auf Wolkengalerien hingelagert sind die Heerscharen der Heiligen, unter denen der Ordensvater Benedikt und die beiden anderen Kirchenpatrone, Sankt Ulrich und Sankt Afra, besonders hervorgehoben sind. Auffällig ist die große Zahl von Äbten und Äbtissinnen des Benediktiner-Ordens, mit denen der Himmel bevölkert ist. Doch sind auch die Gründer anderer Orden nicht vergessen: Bernhard von Clairvaux, Franziskus, Dominikus und Ignatius von Loyola. Die Heiligen sind im Zustand der Anbetung und beseligenden Schau (visio beatifica) dargstellt; es ist die Haltung des Schauens, die auch für die Frömmigkeit des barocken Zeitalters charakteristisch ist. Die Dynamik dieses Freskos ist eindeutig nach oben gerichtet, im Gegensatz zu zahlreichen früheren Decken- und Kuppelbildern des Barock, in denen auch, im Strom der von oben nach unten sich ergießenden Gnade, die gegenläufige Bewegung festgehalten ist. Auch die Jesuiten selbst haben in der Barockzeit auf dem Gebiete der Malerei Hervorragendes geleistet. Vor allem aus dem Kreis ihrer Laienbrüder (Coadiutores temporales) kamen bedeutende und vielseitige Meister in den

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verschiedenen Handwerken und Künsten. Der Maler Joseph Fiertmaier wurde schon erwähnt. Der vielleicht bedeutendste Maler überhaupt, den der Orden in Deutschland hervorgebracht hat, war Christoph Thomas Scheffler (1699-1756). Er trat 1722 in die Gesellschaft Jesu ein und wurde 1728 in Dillingen aus ihr wieder entlassen. Im gleichen Jahr erhielt er in Augsburg Wohn- und Arbeitsrecht. 1738 heiratete er. Zu dem Jesuitenorden unterhielt er weiterhin gute Beziehungen und hat noch bis in seine letzten Lebensjahre große Aufträge von ihm erhalten. Als Höhepunkte seines Schaffens können die Fresken der Kollegskirche (heute: Evangelische Stadtkirche) zu Ellwangen und der Studienkirche zu Dillingen gelten. Außerdem hat er zahlreiche andere Ordens-, Wallfahrts- und Pfarrkirchen, sowie profane Schloßsäle ausgemalt.42 Musik und

Theater

Uber die Musikfeindlichkeit der Jesuiten im allgemeinen und ihres Gründers im besonderen ist gelegentlich einiger Unsinn geschrieben worden; die entsprechenden Ansichten machen sich an der Tatsache fest, daß in den Konstitutionen der Gesellschaft Jesu das Singen des Chorgebets untersagt wird und in den Ordenshäusern keine Musikinstrumente erlaubt waren. Der Grund für beide Bestimmungen liegt auf der Hand: es sollte keine für die Seelsorge kostbare Zeit verplempert werden.43 Doch wurde auch in diesem Falle, wie so oft in der kirchlichen Gesetzgebung, die Suppe nicht so heiß gegessen, wie sie gekocht war. Ignatius war ohne Zweifel musikalisch, und er liebte die Musik, wie er selbst in seinen Lebenserinnerungen erzählt hat. In den Kollegien der Jesuiten wurde die Musik gepflegt. P. Gongalves da Cämara berichtet in seinem Memoriale, daß es schon zu Lebzeiten des Ordensgründers im Collegium Germanicum viele gute Sänger gab und daß dessen Rektor, P. des Freux, Ignatius auf dem Klavichord vorspielte, wenn ihn der Trübsinn überfiel. Ein Jesuitenbruder, der viele Lieder kannte, sang ihm gelegentlich vor.44 Man kann aber auch nicht feststellen, daß er sich besonders um die Pflege der Musik in den Kollegien der Gesellschaft gekümmert hätte. Im 17. Jahrhundert genossen die Jesuitenkollegien nördlich der Alpen einen hohen Ruf wegen des in ihnen herrschenden musikalischen Lebens, namentlich die von München (Collegium Gregorianum), Graz (Collegium Ferdinandeum), Wien, Prag, Köln, Mainz, Augsburg, Dillingen. In musikalischer Hinsicht an der Spitze stand jedoch das römische Collegium Germanicum, das „von den tausend Kollegien, die zwischen 1540 und 1773 zur Gesellschaft Jesu gehörten, bei weitem das bedeutendste war".45 Nach Überwindung der Krisenzeit und Neufundierung des Kollegs durch Gregor XIII. im Jahre 1573 sorgte der neue Rektor Michael Lauretano für eine Wiederbelebung der Musik. Luis de Vittoria wurde erster Maestro di Cappella. Mit der Übergabe des Palazzo und der (total verkommenen) Kirche Sant'Apollinare (1574/1575) an das Kolleg verfügte man über ausreichende Räumlich-

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keiten für die Pflege des Kultus, des Chorgesangs und der Instrumentalmusik. 46 Neben dem Kapellmeister, der seine Wohnung im Kolleg hatte, wurden schon unter dem Rektor Lauretano auswärtige Sängerknaben, so genannte putti soprani, engagiert. Später kamen erwachsene Sänger (Kastraten) hinzu, was gelegentlich zu Mißhelligkeiten und Mißbräuchen führte. 47 Einige der Kapellmeister des Germanicum sind als Komponisten hervorgetreten. Der bedeutendste von ihnen ist Giacomo Carissimi; er wirkte vom 15. Dezember 1629 bis zu seinem Tod am 12. Januar 1674 als Maestro di Cappella im Kolleg. Die Königin Christina von Schweden berief ihn nach ihrer Ankunft in R o m (1655) als Leiter ihres privaten Kammerorchesters. Der Einfluß von Carissimis Kompositionsstil reichte weit über Italien hinaus. Er konnte auch Schüler heranbilden. 48 Der bekannteste unter ihnen ist Marc Antoine Charpentier. Ein Satz aus Charpentiers Te Deum ist heute allgemein bekannt als Erkennungsmelodie der Eurovisions-Sendungen des Fernsehens. 1583 wurde in der Kirche Sant'Apollinare der Einbau einer exzellenten Orgel durch den flämischen Orgelbaumeister Sebastian Hay, einen Neffen des an S. Marco in Venedig tätigen Kapellmeisters Adrian Willaert, vollendet. Eine zweite Orgel in den Jahren 1665-1666, ebenfalls ein Meisterwerk. Ihr Konstrukteur war der flämische Jesuitenbruder Willem Hermans. Die Pflege der musikalischen Tradition im Germanicum setzte sich bis in die neueste Zeit fort. Es wurden allerdings keine auswärtigen Künstler mehr engagiert. Die Choral-Scholen, der Figuralchor und das Hausorchester setzen sich ausschließlich aus den Studenten des Kollegs zusammen, und einige von ihnen bestreiten auch das Orgelspiel. Der Anteil der Gesellschaft Jesu an der Geschichte des neuzeitlichen Theaters ist kaum zu überschätzen. Der Ursprung des Interesses der Jesuiten am Theater liegt, wie im Falle der Musik, in Rom: man wollte dem römischen Karneval mit seinen Verlockungen für die Studenten eine erbauliche, moralisch einwandfreie Art der Unterhaltung entgegensetzen. 49 P. Polanco berichtet in seiner Chronik, daß zu Beginn des Jahres 1556 unter anderem ein von dem schon mehrfach erwähnten André des Freux verfaßter Dialog von den Studenten aufgeführt wurde; der Titel lautete: „Wie wird man mit Christus wiedergeboren?" 50 Vermutlich liegt in dem Dialogus des genialen P. des Freux die Keimzelle des römischen Jesuitentheaters vor. Schon im Jahre 1548 schreibt Ignatius, anläßlich seiner Entsendung nach Messina, über seine Fähigkeiten: 51 Magister Andreas, der dorthin als Lektor geht - ich weiß nicht, wofür, weil er für alles geeignet ist - ; denn er ist sowohl geschickt als auch gelehrt in den Artes, der scholastischen Theologie und der Schrift. Er hat hervorragende Kenntnisse in der lateinischen und griechischen Sprache, außerdem kann er Hebräisch. Und wenn er auch Rhetoriker ist, so hat er doch von Gott die besondere Gabe zu dichten. Er ist so, daß ich unter den heutigen Menschen keinen kenne, der insgesamt eine gelehrtere, frömmere und trefflichere Begabung hat als er, auch

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XII. Aufstieg und Niedergang der Gesellschaft Jesu keine natürlichere und leichtere. Er kennt sich auch aus in den mathematischen Wissenschaften und ist geschickt im Spielen der Instrumente usw.

U m die gleiche Zeit begannen die Jesuiten auch in Spanien, unter großem Zustrom der Bevölkerung, mit dem Theaterspiel. In der Chronik des Jahres 1555 berichtet Polanco von der Aufführung der Tragödie über „Jephte, der seine Tochter umbringt" in Medina del Campo. Autor war P. José de Acosta (1540-1600). 5 2 Im folgenden Jahr wurde, ebenfalls im Kolleg von Medina del Campo, von P. Acosta die Tragödie „Josephs Verkauf" aufgeführt." Natürlich waren theatralische Darstellungen, in einem zölibatären Milieu, in moralischer Hinsicht nicht ganz ungefährlich. Die ausführlichen Bestimmungen, die P. Jakob Ladesma 1564/1565 für das Collegium Romanum verfaßt hat, legen deshalb „für die Aufführung von Dialogen, Komödien und Tragödien" fest: 54 1. Sie sollen nur einmal im Jahr von den Externen veranstaltet werden, in unserem Kolleg oder in der Kirche unseres Kollegs oder dem Theater, wenn es einmal eines gibt, nur zur Erneuerung der Studien. 2. Ebenso vom Collegium Germanicum, von denselben des Kollegs, auch nur einmal, vor der Fastenzeit, um die jungen Leute zurückzuhalten, damit sie nicht zu dieser Zeit nach Hause gehen, wegen der guten Sitten und ihrer Gefährdung. 3. Sie sollen so sein, daß sie nicht nur nichts Schimpfliches oder Ungehöriges enthalten, sondern nicht einmal zu einem entsprechenden Verdacht Anlaß bieten. Es ist auch nicht genug damit, daß sie von indifferenten, nicht bösen oder ehrbaren Dingen handeln, sondern sie sollen alle fromm, religiös sein; und sie sollen nicht nur den guten Sitten nicht schaden, sondern sie sollen für sie nützlich und erbaulich sein; andernfalls dürfen sie nicht aufgeführt werden. 4. Die Dichtungen und die Kompositionen sollen nicht mythischen Charakters sein, und sie dürfen keine Götter und Göttinnen nennen, oder Musen, Jupiter, Apollo, Minerva, Kalliope, Pallas, Juno oder irgend einen anderen von denen, die in Wirklichkeit Dämonen, keine Götter waren. Die Aufführung soll vielmehr ganz fromm, religiös und ernsthaft sein, darf jedoch in dezenter Weise heiter sein. 5. Es dürfen auch überhaupt keine Frauen eingeführt werden, und auf gar keinen Fall ist es gestattet, Frauenkleider anzuziehen. Wenn die Rollen von Religion, Kirche, Tugend und ähnliche zu besetzen sind, dann sollen sie ein mittleres, talarartiges Kleid, aber kein Frauenkleid anziehen. Wie die Erfahrung zeigt, schaden vor allem Kopf und Brust den Zuschauern und den Schauspielern selbst. 6. Der gesamte Aufwand soll nicht zu ausgefallen sein, sondern von mittlerer Qualität und maßvoll. Entgegen dieser letzten Bestimmung wurde im Zeitalter des Barock für die Gestaltung der Szenerie ein Riesenaufwand getrieben. Bekannte Künstler lieferten die Entwürfe für die Kulissen. Auch das Innere der Kirchen wurde zu bestimmten Festen, etwa dem Ewigen Gebet (Quarantore), zum gigantischen

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Theaterraum umgestaltet.55 Auf diese Weise fand eine Vermischung von Gottesdienst und Theater statt; die Liturgie selbst nahm theatralische Formen an. Aber auch das ist charakteristisch für den Geist des Barock. Die Form, die das Jesuitentheater in neuerer Zeit angenommen hat, erfüllt zwar die Vorschrift der Bescheidenheit. Doch sind Frauenrollen kein Tabu mehr. Sie werden allerdings von Männern in Frauenkleidern, mit entsprechender Herrichtung der Frisuren, Gesichter und Brüste, dargestellt. (Ich erinnere mich gut an die Inszenierung von Shakespeare's Komödie Was Ihr wollt unter diesen Voraussetzungen im Hof der Villa San Pastore bei Rom im Sommer 1957, bei der ich selbst mitgewirkt habe). Auch eine niedere Form des Jesuitentheaters hat bis in die Gegenwart in den Kollegien überlebt: die so genannte „Muftik", eine Art von Variété zur Karnevalszeit, bei der unter anderem der gegen die Vorgesetzten aufgestaute Groll seine Entladung findet sowie Mitbrüder karikiert und verulkt werden. Über die Besonderheiten der Entwicklung des jesuitischen Theaters in Deutschland, und besonders an dem Kolleg in Ingolstadt, informiert ausführlich die Studie von CARL M A X H A A S ; sie enthält eine vollständige Liste der von 1558 bis 1773 in Ingolstadt aufgeführten Bühnenwerke der Jesuiten.56 Bemerkenswert ist, daß von Anfang an nicht nur Theaterstücke, sondern auch Singdramen, Oratorien und Orchesterwerke aufgeführt wurden. Die Stoffe wurden vorwiegend aus der Bibel und der Tätigkeit der Missionare in den exotischen Ländern genommen.

2. Weltmission In der Glorie, die in den barocken Kunstwerken der Architektur, Malerei, Musik und szenischen Darstellung inszeniert wurde, konnte sich der Orden mit einem gewissen Recht selbst darstellen und sonnen, denn das Weiterbestehen der Katholischen Kirche in Europa nach der Reformation war hauptsächlich der Aktivität der Söhne des heiligen Ignatius zu verdanken, die mit ihren Kollegien und Universitäten, ganz Europa überzogen hatten. Seit Franz Xaver, einer der ersten Gefährten des Ignatius, im Auftrag des Papstes nach Ostasien gezogen war, nahm auch die Weltmission der Katholischen Kirche einen bis dahin nicht erlebten Aufschwung. Asien

Die riesigen Gebiete Ostasiens, der Herrschaftsbereich der Mongolen-Khane, waren schon im 13. Jahrhundert in das Blickfeld der Päpste und des Franziskanerordens getreten. Die Franziskaner-Missionare hatten sich noch auf dem Landwege bis zum Hof des Großkhans durchgeschlagen. Die Reisen, die die Minoriten Johannes von Pian del Carpine, Wilhelm von Rubruk, Johannes von Montecorvino und Odorich von Pordenone im Auftrag der

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Päpste und des Königs von Frankreich nach Fernost unternahmen, zeitigten auch einige missionarische Erfolge; so konnte schon 1307 in Peking ein Erzbistum mit sechs Suffraganbistümern errichtet werden. Die dem Christentum feindliche Ming-Dynastie, die 1368 an die Macht gelangte, sorgte dann aber für die fast vollständige Ausrottung der christlichen Gemeinden in China.57 Mit der Entdeckung des Seewegs um Afrika herum und den nachfolgenden potugiesischen Eroberungen eröffneten sich neue Aussichten für die Bekehrung Indiens, Chinas und Japans. 58 Der erste Missionar aus der Gesellschaft Jesu, der asiatischen Boden betrat, war Francisco de Javier (Franz Xaver). Nach fast einjähriger Wartezeit in Lissabon konnte er am 7. April 1541 die Reise nach Indien antreten. Am 6. Mai 1542 kam er in Goa an.59 Francisco hatte von Paul III. die Vollmachten eines päpstlichen Legaten erhalten, unterstellte sich aber freiwillig dem Bischof von Goa. Zunächst widmete er sich hauptsächlich der Seelsorge unter den portugiesischen Einwanderern. Ab 1545 erkundete er die weiter östlich gelegenen portugiesischen Kolonialgebiete. Eine Missionsreise führte ihn über Malakka zu den Molukken. Auf einer weiteren Reise gelangte er bis nach Japan, wo er in den Jahren 1549-1551 mit einigem Erfolg missionierte. Sein eigentliches Ziel war China. Es gelang ihm jedoch nicht mehr, den Boden des „Reichs der Mitte" zu betreten. Auf der vor der Küste gelegenen Insel Sancian (San-ch'üan) starb er in der Nacht vom 2. auf den 3. Dezember 1552. Ab 1557 wurde Goa Metropole für die gesamten indischen Missionsgebiete. An der Malabarküste gab es bereits seit der Antike christliche Gemeinden, die ihren Ursprung auf den Apostel Thomas zurückführten. Wegen dieser Thomas-Christen kam es zu jahrzehntelangen erbitterten Auseinandersetzungen: um die Jurisdiktion stritten sich der nestorianische und der mit Rom unierte Patriarch, zu denen sich dann noch der (portugiesisch-lateinische) Erzbischof von Goa gesellte. Sowohl die Einigung mit den Christen des malabarischen Ritus als auch die Missionstätigkeit unter der Bevölkerung Indiens wurde erschwert, weil die durch das westliche Christentum geprägten Missionare versuchten, die äußeren Formen der lateinischen Kirche durchzusetzen. Erfolg mit seiner Predigt unter den Hindus hatte dagegen der italienische Jesuit Roberto de' Nobili (1557-1656), der erkannte, daß der Versuch, westliche Formen des Christentums durchzusetzen, den Erfolg der Missionsarbeit behinderte. Nobili studierte eingehend die Landessprachen und nahm Kleidung und Lebensgewohnheiten eines indischen Mönchs an. Auf diese Weise gelang es ihm, vor allem in der obersten Kaste der Brahmanen viele Anhänger zu gewinnen. Andere Missionare wirkten erfolgreich unter den Parias, indem sie sich ihnen anpaßten. Im Verlauf der zweiten Hälfte des 16. und des 17. Jahrhunderts waren Missionare aus der Gesellschaft Jesu in ganz Südostasien tätig: in Thailand, Vietnam, den Inseln des malaiischen Archipels. Auf den Philippinen gelang es, das Christentum auf Dauer zu befestigen. Große Erfolge erzielten die Jesuiten auch in Japan. 60 Francisco Javier hatte das Tor für die dortige Mis-

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sionsarbeit geöffnet. Er war davon überzeugt, daß das Christentum nur durch die Methode der Assimilation oder Inkulturation innerhalb der uralten, gewachsenen asiatischen Traditionen Fuß fassen konnte. Deshalb suchte er die religiösen Überzeugungen, die er vorfand, so weit wie möglich gelten zu lassen und an sie anzuknüpfen. Javier hatte 1551 seinen Begleiter Cosme de Torres in Japan zurückgelassen. Dessen Nachfolger, P. Francisco Cabral, hielt nichts von der Anpassung an die heidnische Religion; er versuchte, das Christentum in seiner europäischen (portugiesischen) Form durchzusetzen. Unter den bereits zahlreichen Christengemeinden führte das zu nicht geringen Spannungen und Auseinandersetzungen. (Die Gesamtzahl der Christen in Japan belief sich um 1580 bereits auf 150 000). Der stagnierende, krisenhafte Zustand, in den P. Cabral die japanische Mission gebracht hatte, konnte überwunden werden durch den italienischen Visitator P. Alessandro Valignano (1539-1606). Er setzte binnen kurzem eine Reform der Missionsarbeit im Sinne der Anpassungsgrundsätze Javiers durch; er ordnete für die Ordensangehörigen ein gründliches Studium der Landessprache an; außerdem gründete er zwei Seminare zur Ausbildung eines einheimischen Klerus und Ordensnachwuchses. Bei seiner Rückkehr nach Europa brachte er eine japanische Gesandtschaft an den Papst und den König von Spanien mit, die in den Jahren 1582-1586 in den westlichen Ländern für größtes Aufsehen sorgte und das allgemeine Interesse an der Christianisierung Japans förderte. Der um 1580 als Shogun an die Macht gelangte Kriegsherr Hideyoshi, der dem Christentum anfangs wohlwollend gegenübergestanden hatte, wandelte sich, durch verschiedene Aktivitäten der Jesuiten mißtrauisch geworden, zu einem Christenfeind. 1587 erließ er ein Dekret, in dem die Ausweisung der Missionare verfügt wurde; es wurde allerdings nicht durchgeführt. Bis zum Ende des Jahrhunderts konnten die Jesuiten tausende von Neuchristen taufen. 1588 errichtete Sixtus V. in Japan, das bisher dem Bistum Macao unterstanden hatte, eine eigene Diözese mit Bischofssitz in Funai. Gregor XIII. hatte 1585 der Gesellschaft Jesu das Missionsmonopol für den Fernen Osten zugestanden. Nach Vereinigung der portugiesischen mit der spanischen Krone durch Philipp II. (1580) kamen zuerst spanische Franziskaner, später auch die Dominikaner und Augustiner ins Land. Die Rivalitäten unter den Orden, aber auch die geschäftlichen Tätigkeiten der Missionare boten dem Shogun den Anlaß, gegen das Christentum loszuschlagen. Insbesondere hatte sich bei ihm der (nicht ganz unbegründete) Verdacht festgesetzt, die Missionare und Kaufleute seien nur die Vorhut der Spanier und Portugiesen, um die Eroberung des Landes vorzubereiten. Am 15. Februar 1597 wurden in Nagasaki 26 Missionare und japanische Christen hingerichtet. Aus den Kämpfen der rivalisierenden Kriegsherren, die auf den Tod Hideyoshis (1598) folgten, ging Tokugawa Ieyasu als Shogun hervor. Als sich christliche Kriegsherren gegen ihn verbündeten, nahm er das zum Anlaß, das Christentum 1613 zu verbieten. Im folgenden Jahr erließ er ein Dekret, das

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die Christen aus Japan verbannte. Zur Verschärfung der Situation trugen die Rivalitäten und Intrigen der europäischen Kaufleute bei: der katholischen Spanier und Portugiesen auf der einen Seite und der protestantischen Engländer und Holländer auf der anderen. Tokugawa, der in den europäischen Einflüssen eine nationale Gefahr für Japan sah, brach die Handelsbeziehungen mit den Spaniern und Portugiesen ab. Bis zur Mitte des Jahrhunderts wurden mehrere Zehntausend Christen hingerichtet. Die adeligen christlichen Familien fielen vom Christentum ab. Nur spärliche Reste eines Untergrundchristentums überlebten bis ins 19. Jahrhundert. Francisco Javiers letztes Ziel war das Kaiserreich China gewesen. Nach seinem Tode versuchten die christlichen Missionare lange vergeblich, die Erlaubnis zur Einreise zu bekommen. Zentren der asiatischen Mission am Ende des 16. Jahrhunderts waren Macao, wo die Portugiesen 1576, und Manila, wo die Spanier 1579 eine Diözese errichtet hatten. In beiden Städten warteten Missionare auf die Gelegenheit, nach China zu gelangen. 1583 erhielten schließlich die italienischen Jesuiten Michele Ruggieri (1543-1607) und Matteo Ricci (1552-1610) die Aufenthaltsgenehmigung für das Reich der Mitte.61 In der Nähe von Kanton suchten sie zunächst in der Tracht buddhistischer Mönche, dann im Gewand der (konfuzianischen) Gelehrten Anhänger für die christliche Lehre zu gewinnen. Die Erfolge waren anfangs bescheiden, doch gelang es den Patres allmählich, aufgrund ihrer wissenschaftlichen Kenntnisse in der gebildeten Schicht ein hohes Ansehen zu erwerben. Ricci ist zweifellos der bedeutendste Missionar des Jesuitenordens nach Francisco de Javier. Wie dieser vertrat er die Methode einer sehr weitgehenden Akkomodation der christlichen Lehre an Religion und Kultur der zu bekehrenden Völker. So durften die von ihm und seinen Mitbrüdern getauften Christen den überlieferten Ahnenkult und die Verehrung für den „heiligen" Konfuzius beibehalten - was später zu schweren Konflikten mit Missionaren aus anderen Orden führen sollte, die jedes Entgegenkommen gegenüber dem Heidentum ablehnten. Aus der Begegnung mit chinesischen Gelehrten gingen drei philosophisch-theologische Schriften Riccis hervor, von denen später noch die Rede sein wird. Um seiner Tätigkeit größeren Einfluß zu verschaffen, bemühte er sich, an den kaiserlichen Hof zu gelangen. Eine erste Etappe der Annäherung erfolgte, als er sich 1598 in Nanking niederlassen konnte. Dort zeichnete er seine Weltkarte mit China als Mitte. 1601 kam er schließlich nach Peking, wo der Kaiser den Jesuiten ein Haus schenkte und ihnen die Erlaubnis zum Bau einer Kirche gab. Von den etwa 2 500 Christen, die es damals in China gab, gehörten viele den gehobenen und gebildeten Schichten an. Nach dem Tode Riccis (1610) wirkte der Kölner Jesuit Johann Adam Schall von Bell (1591-1666) als hochangesehener kaiserlicher Ratgeber und Astronom am Hof von Peking. Er wurde in die oberste Klasse der Mandarine aufgenommen, hatte allerdings auch viele Gegner. Einmal wurde ein Todesurteil über ihn ausgesprochen, das aber nicht vollstreckt wurde.62 Unter dem Kaiser

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K'ang-hi (1662-1722) aus der Mandschu-Dynastie standen die Patres wegen ihrer wissenschaftlichen und technischen Kenntnisse in höchstem Ansehen. Die christliche Lehre selbst hatte aber damals schon wegen des so genannten „Ritenstreits" erheblich an Ansehen verloren. In den dreißiger Jahren des 17. Jahrhunderts waren mit Erlaubnis des Papstes Urban VIII. spanische Dominikaner von den Philippinen als Missionare nach China gekommen. Sie lehnten die von den Jesuiten praktizierte Anpassung an die chinesische Kultur und Religion ab. Der Gegensatz in der Frage der Missionsmethode wuchs sich aus zu dem erwähnten „Ritenstreit", der vom Beginn des 18. Jahrhunderts an den Erfolg des Christentums lähmte und überhaupt der Anfang vom Ende der christlichen Mission in China in der frühen Neuzeit war. Der Kaiser Yung-tscheng verwies die Missionare vom Hof; sie mußten sich nach Macao zurückziehen. Von unserem modernen Standpunkt aus, der durch die Idee der Toleranz bestimmt ist, scheint uns die Methode der Inkulturation die vernünftigste zu sein; wir haben für sie auch gefühlsmäßig die größere Sympathie. Geschichtlich gesehen haben sich die Jesuiten denn auch bei ihrer Anwendung in China und Japan als die Moderneren, Aufgeschlosseneren erwiesen. Die Katholische Kirche probiert sie heute wieder in Afrika aus, indem sie etwa die Gesänge und Tänze der Eingeborenen in den Kultus aufnimmt; auch indische Tempeltänzerinnen hat man in den unter dem Papst Johannes Paul II. in Mode gekommenen Open-air-Messen auftreten sehen. Ob diese Art von Inkulturation (ohne Augenmaß) dem Christentum auf Dauer bekommen wird, scheint fraglich. Der Islam jedenfalls hat in seiner Geschichte jede Anbiederung an andere Religionen vermieden. „Allah ist mit den Standhaften", das heißt: den Kompromißlosen, den Fanatikern. Und die muslimischen Schüler lernen den Koran auswendig - auf Arabisch, das sie nie im Leben verstehen werden. Afrika Von den gescheiterten Bemühungen des Ignatius, die äthiopische Kirche mit Rom zu vereinigen, war bereits die Rede." Auch in dem großen Königreich Kongo, das zum portugiesischen Einflußbereich gehörte, scheiterte ein von den Jesuiten unternommener Missionsversuch bereits nach wenigen Jahren. Als die Patres im Jahre 1548 in dem zentralafrikanischen Reich ankamen, war das Christentum, das zwei Generationen davor noch in Blüte gestanden hatte, total heruntergekommen. Den regierenden König Diogo brachten sie durch ihr ungeschicktes Auftreten so gegen sich auf, daß er alle Weißen aus seinem Herrschaftsbereich auswies. Das Christentum im Kongo war damals schon durch eine unglückliche Vorgeschichte belastet. Diogos Großvater Alfonso, „eine der tragischsten Gestalten in der Geschichte der Begegnung Europas mit den überseeischen Ländern" (GLAZIK), hatte das Christentum angenommen und den portugiesischen König Manuel I. mehrmals um die Ent-

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sendung von Missionaren gebeten. Doch die portugiesische Krone war, trotz entgegengesetzter verbaler Beteuerungen, weniger an der Ausbreitung des Reiches Christi als an Sklaven, Kupfer und Elfenbein interessiert.64 Nach Angola, das die Portugiesen ebenfalls zu ihrem Machtbereich zählten, entsandte der Jesuitengeneral Diego Laynez im Jahre 1560 einige Missionare. Es war der erste Bekehrungsversuch überhaupt, der in dem westafrikanischen Land unternommen wurde.65 Aber auch hier verdarben die Portugiesen durch ihre macht- und wirtschaftspolitischen Interessen, und hauptsächlich durch den von ihnen in exzessiver Form betriebenen Sklavenhandel, den nachhaltigen Erfolg der christlichen Mission. Nicht viel anders war es in Ostafrika (Mocambique). Fuß fassen konnte das Christentum (und die jesuitische Mission) in Angola und Mocambique erst im 17. Jahrhundert, nach der endgültigen Eroberung dieser riesigen Gebiete durch die Portugiesen.66 Lateinamerika Es wurde bereits erwähnt, daß die Jesuiten noch zu Lebzeiten des Ignatius (1553) in Brasilien, das zum portugiesischen Kolonialgebiet gehörte, Fuß fassen konnten. In den beiden folgenden Jahrzehnten kamen sie in die beiden spanischen Vizekönigreiche Peru und Mexiko, wo sie insgesamt große Missionserfolge hatten.67 Nach ihrer Ankunft in Peru (1568) ging ihre Wirksamnkeit vor allem von den Kollegien in Lima und Cuzco sowie von einem großen Missionszentrum am Titicacasee aus. Außer den Spaniern waren dort auch Patres aus den deutschsprachigen Ländern tätig. In Mexiko, wo die Jesuiten 1572 eintrafen, hatte die Missionsarbeit mit größeren Schwierigkeiten zu kämpfen. In den Städten Mexiko, Puebla, Oaxaca und Valladolid konnten Kollegien gegründet werden. In Vera Cruz und an anderen Orten gab es weitere Niederlassungen des Ordens. Im 18. Jahrhundert genossen das schon erwähnte Kolleg von Lima (San Pablo) und die von den Jesuiten betriebenen Universitäten von Quito und Cordoba einen hohen wissenschaftlichen Ruf. Bei der Bekehrung der Indios gingen die Jesuiten mit großer Zurückhaltung vor: die Taufe wurde in der Regel erst nach langer Vorbereitungszeit gespendet; zur Priesterweihe wurden Eingeborene und Mischlinge überhaupt nicht zugelassen. Um die indianische Bevölkerung vor Übergriffen der Spanier und Versklavung zu schützen, wurden dörfliche Wehrsiedlungen, die so genannten Reduktionen gegründet. Die Einrichtung ist allerdings keine Erfindung der jesuitischen Missionare; bereits in den ersten Jahren des 16. Jahrhunderts hatten die Dominikaner in den von den Spaniern eroberten Gebieten Wehrsiedlungen zum Schutz der Einheimischen ins Leben gerufen. Am bekanntesten wurden die von den Jesuiten in Paraguay gegründeten Reduktionen. Sie erhielten durch einen Erlaß des (fünften) Ordensgenerals Claudio Acquaviva (1581-1615) einen offiziellen Status. Die Institution wurde auch

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durch die spanische Krone gebilligt. Im Verlaufe von vier Jahrzehnten (1610-1650) entstand durch Verbindung der Reduktionen ein ganzer „Jesuitenstaat".68 Dem beachtliche Experiment, dessen Licht- und Schattenseiten in der Literatur umfassend diskutiert wurden, war nur eine relativ kurze Lebenszeit beschieden. Bemerkenswert ist, daß die Jesuiten, im Gegensatz zu der in Süd- und Ostasien gehandhabten Praxis, in ganz Südamerika die Neubekehrten nicht zu den höheren Weihen zuließen. Entscheidend dafür dürften zwei Gründe gewesen sein: es gab in den Kulturen des präkolumbianischen Amerika keine mönchische und zölibatäre Tradition, und: die priesterlichen Funktionen lagen weitgehend in der Hand von Frauen (was in den bis heute verbreiteten christlich-heidnischen Mischkulten noch immer der Fall ist). So konnte unter den Indios eigentlich keine Kirche im Vollsinne Fuß fassen, da die Bevormundung durch die europäischen Missionare über lange Zeit erhalten blieb. Gegen die Zulassung der Indios zu Priestertum sprach sich auch der erste bedeutende Missionstheoretiker des Jesuitenordens, José de Acosta (1540-1600) aus. Der aus einer Familie bekehrter Juden stammende Pater war mit Leib und Seele Missionar. Er wirkte hauptsächlich in Lima, wo er Rektor des Kollegs war. 1576 wurde er Provinzial der (1568 gegründeten) peruanischen Ordensprovinz. Die vielen Reisen, die er unternahm, um seine Landesund Menschenkenntnisse zu erweitern, fanden ihren Niederschlag in einem Reisebericht, der nicht frei von Phantasieprodukten ist. Außerdem hat er eine vergleichende Ethnologie der indianischen Völker verfaßt, die 1590 erschien: Historia natural y moral de las Indias. Seine Ansichten über die Methode der Evangelisierung des amerikanischen Kontinents hat er in seinem Werk: De procuranda Indorum salute (Wie sorgt man für das Seelenheil der Indianer?) festgehalten. Er setzt sich hier, ähnlich wie die Asien-Missionare der Jesuiten, für eine Rücksichtnahme auf die gewachsene Kultur und Mentalität der Indios ein. Andererseits wendet er sich gegen Unkenntnis, Rücksichtslosigkeit, Gewalt und Habgier der europäischen Eroberer, die für eine sinnvolle Bekehrungsarbeit unter den Einheimischen kontraproduktiv sind.69

3. Die Jesuiten und die Theologie Die ersten Jesuiten hatten ihre theologische Ausbildung hauptsächlich in Paris absolviert und die dort herrschende spätscholastische Theologie verinnerlicht. Faber, Laynez, Salmerón, Le Jay und Bobadilla konnten ihre Kenntnisse als Experten und Berater von Kirchenfürsten in Deutschland und bei dem Konzil von Trient in der Praxis anwenden. Gemessen an den damaligen Verhältnissen in der wissenschaftlichen Theologie beherrschten sie ihr Fachgebiet ganz ordentlich. Eine für die Jesuiten typische Ausrichtung war jedoch zu dieser Zeit noch nicht erkennbar. Die zweite große theologische Arena neben dem Trienter Konzil bot sich dem Orden in dem Religionsgespräch von Poissy (1561).

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Das Religionsgespräch von Poissy Das Religionsgespräch von Poissy begann am 9. September 1561. Die führenden protestantischen Theologen, die daran teilnahmen, waren Théodore de Bèze (Beza; 1519-1605), der am 23. August am französischen Hof in Saint-Germain-en-Laye eingetroffen war,70 und Pierre (Petrus) Martyr Vermigli (1500-1562). In der Zeit bis zum Beginn des eigentlichen theologischen Colloquiums konnte Bèze Gespräche mit führenden Persönlichkeiten des Königreichs, unter anderem den Kardinälen Charles de Bourbon und Charles de Guise führen. Er wurde auch von der Königin Katharina von Medici empfangen. Auf dem Religionsgespräch selbst war der Kardinal von Lothringen, Charles de Guise, der Wortführer der katholischen Seite. Nach seiner Eröffnungsrede vergingen neun Tage, bevor die Protestanten Gelegenheit erhielten, ihm zu antworten. In den Diskussionen ging es vor allem um die maßgebliche Autorität in Angelegenheiten des Glaubens, die Gefährdung der Grundlagen des Staates durch die Häresie und die Abendmahlsfrage. Die Auseinandersetzungen erreichten ihren Höhepunkt am 26. September, dem vierten Tag des Colloquiums.71 Nach einer scharfen Rede des Kardinals von Lothringen, in der er forderte, die Protestanten zu Staatsfeinden zu erklären und hinrichten zu lassen, hatte der mittlerweile in Poissy eingetroffene Jesuitengeneral Diego Laynez seinen Auftritt. Nach Bezas Darstellung machte er sich in einer einstündigen Rede an die Königin durch seine unqualifizierten, unverschämten und dümmlichen Ausführungen total lächerlich. Besonderen Anlaß zur Heiterkeit boten offenbar Laynez' Erklärungen der katholischen Lehre von der Realpräsenz Christi im Abendmahl, in denen er die Eucharistie mit der Gedächtnisfeier eines Sieges verglich, bei der der König persönlich anwesend ist.72 Wenn man Laynez' Ausführeungen nüchtern betrachtet, dann sind sie weniger dumm, als es die damaligen Gegner wahrhaben wollten (auch der P r o t e s t a n t EBERHARD GOTHEIN hat es, in seiner ausführlichen u n d i m m e r

noch lesenswerten Darstellung des Colloquiums von Poissy so gesehen).73 Tatsache ist, daß Laynez der Versammlung Legitimation und Nutzen absprach; er forderte die Königin auf, die schon so oft verurteilten Häretiker nicht anzuhören, sondern sie an das Konzil zu verweisen. Die in Poissy begonnenen Verhandlungen setzten sich in Paris bis zum Frühjahr 1562 fort. Sowohl Beza als auch Laynez hielten sich monatelang in der Nähe des französischen Hofes auf. In dieser Zeit arbeitete Laynez, mit Unterstützung durch P. Polanco, der ihn begleitete, seine auf den Colloquium begonnenen Ausführungen in mehreren Gutachten für die Königin Katharina, den Prinzen Condé (Louis de Bourbon) und den französischen Episkopat aus.74 In dem Gutachten für die Königin insistiert er auf der Zuständigkeit des Konzils in Fragen der Lehre; außerdem wird (gegenüber den „gallikanisch" denkenden katholischen Theologen) die Autorität des Papstes

Die Jesuiten und die Theologie

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betont. Den Häretikern soll das Recht auf eigene Kirchen (Tempel) verweigert werden, um die Ausübung ihrer Riten und die Gewöhnung daran unmöglich zu machen. In dem Gutachten für den Prinzen von Conde, der auf der protestantischen Seite stand, kommt er den Vorstellungen der „neuen Kirchen" sehr weit entgegen, um sie zur Einheit mit „der alten Römischen Kirche" zurückzuführen.75 Für die eingetretene Kirchenspaltung nennt er zwei Ursachen: 1. die Mißstände im Leben des Klerus, vom Oberhaupt über die Prälaten bis zu den niederen Klerikern; sie haben auch die kirchliche Lehre in Mißkredit gebracht; das dürfte allerdings nicht sein, da bereits Christus dazu ermahnt hat, der Lehre der schlechten Pharisäer und Schriftgelehrten zu folgen, die auf der „Cathedra des Moses" sitzen (Mt 23,2f.); 2. die skandalösen Erscheinungsformen im Kultus, entstanden aus Unwissen, Habgier und anderen Ursachen. Ist man sich über die Beseitigung dieser Mißstände einig, dann kann man sich auch über die verschiedenen Lehrauffassungen „im Geist der Liebe, nicht des Streits" verständigen. Er lädt deshalb die Häupter der „neuen Kirchen" zur Teilnahme am Konzil ein, das ja frei sei und auf dem sie ihren Standpunkt zur Diskussion stellen könnten. Man sieht, daß das Vorgehen des Jesuitengenerals politisch nicht ungeschickt ist. Auffällig ist, daß er den Protestanten zugesteht, daß sie Kirchen sind und den Vorwurf der Häresie vermeidet. Aber er dachte natürlich nicht an ein wirkliches Entgegenkommen den Protestanten gegenüber. Und die wußten das auch ganz genau. Theologische

Eigentümlichkeiten

Die Jesuiten hatten in den Jahren nach dem Tode ihres Stifters noch keine eigene, für den Orden typische Theologie entwickelt. Allerdings zeigt sich an dem Auftreten des P. Laynez bei dem Religionsgespräch von Poissy ein für die Mitglieder des Ordens charakteristischer Zug: das Bewußtsein theologischer und intellektueller Überlegenheit und dessen gezieltes Zurschaustellen nicht nur gegenüber den Häretikern sondern auch gegenüber den Gegnern in der eigenen Kirche. Der Tübinger evangelische Kirchenhistoriker KARL H O L L (1866-1926) hat in dem jesuitischen Selbstbewußtsein ein direktes Ergebnis der Exerzitien gesehen,76 was nicht ganz abwegig ist. Aber unter dem Druck des Protestantismus hatten die führenden Männer des Ordens schon beizeiten den Ehrgeiz entwickelt, nicht nur in der Theologie, sondern auch in den übrigen Wissenschaften die Besseren zu sein. Nach dem Konzil von Trient bemühten sich die Jesuiten um eine Neubelebung der scholastischen Theologie, die durch die Humanisten und die Reformatoren in Mißkredit gebracht worden war. Schon in der zweiten Fassung der Ratio Studiorum von 1591, dann in verschärfter Form durch die im Jahre 1593 unter dem fünften Ordensgeneral Claudio Acquaviva (Generalat: 1581-1615) tagende Generalkongregation wurde der Orden auf Thomas von Aquin als theologische Leitfigur festgelegt.77 Das war eine Rückwärtsbewe-

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XII. Aufstieg und Niedergang der Gesellschaft Jesu

gung in das Mittelalter; sie zeigt, daß die Ordensleitung damals nicht imstande war, das Neue in der Spiritualität des Stifters in seiner theologischen Bedeutung zu erkennen und in die wissenschaftliche Theologie zu integrieren. Andererseits hatte man mit Thomas einen der größten mittelalterlichen Theologen gewählt (Pius V. Ghislieri hatte ihn 1567 in den Rang eines Kirchenlehrers erhoben), und das Denken auf der Basis seines Werkes zeitigte insofern Früchte, als der Orden um die Wende des 16. Jahrhunderts gleichzeitig vier exzellente Theologen vorzuweisen hatte: Francisco de Toledo (1534-1596), Gabriel Vázquez (1549-1604), Francisco Suárez (1548-1617) und Robert Bellarmin (1542-1621). Die Festlegung auf den Thomismus bis weit in das 20. Jahrhundert hinein mußte allerdings in der Theologie zu sklerotischen Prozessen führen, die durch geniale Leistungen jesuitischer Gelehrter auf anderen wissenschaftlichen Gebieten nur unzureichend wettgemacht werden konnten. Gegenüber der „klassischen" Thomistenschule, die ihre hervorragenden Repräsentanten in den spanischen Dominikanern Bartholomaeus de Medina ( t 1580) und Dominikus Báñez (f 1604) hatte, vertraten die Jesuiten eine eigene Richtung, die der menschlichen Willensfreiheit einen hohen Rang zuerkannte. Die entsprechenden Prinzipien entwickelte Luis de Molina (1535-1600) in seinem Werk: Liberi arbitrii cum gratiae donis, divina praescientia, Providentia, praedestinatione et reprobatione concordia, das 1588 in Lissabon erschien.78 Der Autor unternimmt darin den Versuch, das Zusammenwirken der göttlichen Gnade mit dem freien Willen des Menschen aus dem Vorherwissen (praescientia) Gottes zu erklären. Seinem Gegner Báñez warf Molina vor, die Lehre von der Vorherbestimmung (praedestinatio) stimme mit den Häretikern Luther und Calvin überein. Auf der anderen Seite diskriminierten die Dominikaner die Jesuiten als Neuerer und Ketzer. Der Theologenstreit „über ein letztlich kaum lösbares Problem" (JEDIN), mit dem auch die Päpste Clemens VIII. Aldobrandini und Paul V. Borghese befaßt wurden, zog sich über zwei Jahrzehnte hin und nahm unerquickliche Formen an. Der Papst Paul V. versuchte 1611 die gesamte Diskussion zu unterdrükken; sie setzte sich aber bis ins 20. Jahrhundert fort und ist letztlich ein Zeugnis für den intellektuellen Tiefstand der scholastischen Theologie. Sonderwege

in der Moral

Den Jesuiten ist von ihren Gegnern zu verschiedenen Zeiten nachgesagt worden, sie verträten die Maxime: „Der Zweck heiligt die Mittel." Die Theologen des Ordens haben stets bestritten, daß es erlaubt sei, unmoralische Mittel zum Erreichen eines guten Zwecks einzusetzen. Wenn der Satz aber so verstanden werde, daß an sich indifferente, neutrale Betätigungen durch das angestrebte Ziel - etwa das Seelenheil eines Menschen - geheiligt würden, dann sei er durchaus korrekt. De facto ist es aber so, daß Jesuiten, die als Beichtväter oder Berater hochgestellter politischer und kirchlicher Person-

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lichkeiten tätig waren, in der Bestimmung und Auslegung dessen, was sie als moralisch indifferent betrachteten, sehr weitherzig waren. Tatsache ist, daß der Orden wegen seiner angeblich „laxen" Moralprinzipien auch innerhalb der Katholischen Kirche verrufen war, und es waren vor allem die Dominikaner, die an der Diskriminierung ihrer mächtigsten Konkurrenz arbeiteten. U m 1614 erschien in Krakau eine Schrift mit dem Titel: Monita privata Societatis Jesu. Sie enthält „geheime" Anweisungen vor allem für die Beichtväter, wie der politische Einfluß des Ordens gestärkt und seine finanziellen Ressourcen vermehrt werden können; es werden Wege und Methoden aufgezeigt, wie man an Fürsten, reiche Witwen und andere nützliche Personen herankommt und sie für die eigenen (machpolitischen) Zwecke benutzt. Praktisch handelt es sich bei der Schrift um eine Unterweisung, wie der Grundsatz: „Der Zweck heiligt die Mittel" auf verschiedenen religiösen und politischen Betätigungsfeldern anzuwenden ist. Die Echtheit ist allerdings sehr zweifelhaft. In der Forschung wird heute fast allgemein angenommen, daß es sich um das Pamphlet eines Jesuitengegners handelt, mit dem Ziel, dem Orden die Ehrlichkeit und Lauterkeit seines seelsorgerlichen Handelns abzusprechen. Es gibt aber Leute, die nach wie vor überzeugt sind, daß die Anweisungen im Orden selbst entstanden und somit echt sind, wie der (anonyme!) Herausgeber einer neueren italienischen Ausgabe des Werkes.79 Auffällig ist jedenfalls, daß Mitglieder des Ordens bis in die Gegenwart hinein viel apologetischen Scharfsinn aufgewendet haben, um die Unechtheit der Monita privata nachzuweisen. Der Verdacht ist naheliegend, daß sie das tun, weil die Schrift doch weithin eine exakte Beschreibung der „Untergrundtätigkeiten" des Ordens enthält. Der gegen die Gesellschaft Jesu erhobene Vorwurf der „Laxheit" in moralischen Fragen hängt eng mit der von dem Orden beharrlich vertretenen Theorie des Probabilismus zusammen. In einer aus der letzten Zeit vor der Aufhebung des „alten" Ordens stammenden Verteidigungsschrift des Augsburger Jesuiten Franz Neumayr wird der Probabilismus folgendermaßen definiert:80 Der Probabilismus ist die moralische Lehre, die im Zweifel klugerweise die Freiheit vor dem Gesetz begünstigt, solange keine Gewißheit vorhanden ist über Existenz, Verständnis oder Verpflichtung des Gesetzes. Sich für die Freiheit, gegen das (nicht eindeutige) Gesetz entscheiden zu können, bedeutet, daß man sich im Falle des begründeten Zweifels, das heißt, wenn die Argumente für beide möglichen Entscheidungen wahrscheinlich und schwerwiegend, aber letztlich doch nicht überzeugend sind, für die weniger wahrscheinliche, weniger gewisse Meinung entscheiden kann, unter Nichtberücksichtigung der gewisseren und wahrscheinlicheren.81 P. Neumayrs apologetische Schrift ist gegen die Angriffe des Dominikaners Dominik Reichard gerichtet. Der heftigste Angriff auf den Probabilis-

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mus war schon ein Jahrhundert früher aus der Mitte des Jesuitenordens selbst erfolgt: in den siebziger Jahren des 17. Jahrhunderts hatte der spanische Theologe Tirso González eindeutig gegen die herrschende Moraltheorie des Ordens Stellung bezogen, die er für unseriös und dem Geist der Gesellschaft Jesu widersprechend hielt. 1680 hatte er für seinen Standpunkt die Billigung des in moralischen Fragen streng denkenden Papstes Innocenz' XI. Odescalchi (1675-1689) bekommen. Innocenz XI. setzte dann auch die Generalkongregation von 1689 unter Druck, González zum Generaloberen zu wählen.82 Trotz aller Widerstände und Verurteilungen hielt sich der Probabilismus als für die Jesuiten spezifische Morallehre bis ins 20. Jahrhundert. Ich erinnere mich an eine Exhorte des bekannten Kanonisten und Professors an der Gregoriana W I L H E L M B E R T R A M S , in der er den Probabilismus als das denkbar freiheitlichste Moralsystem überhaupt verteidigte. Man erwirbt bei den Jesuiten die Fähigkeit, mit hinreichend sophistischen Argumenten innerhalb eines Systems ein irrationales System zu verteidigen und als rational hinzustellen.83 In Wirklichkeit sind Moralsysteme wie der Probabilismus barer Unsinn. Was ein vernünftiger Christ und Mensch in einer dubiosen Situation zu tun hat, sagt ihm sein Gewissen. Im übrigen steht der Probabilismus auch in krassem Widerspruch zu der Spiritualität der ignatianischen Exerzitien,84 Das gilt auch für die von den Jesuiten entwickelte und bis zum Exzess kultivierte Kasuistik in der Moraltheologie. Ihre Einübung soll die (zukünftigen) Beichtväter sicher machen in der Beurteilung der Qualität der Sünden. Deshalb fanden neben dem regulären Studium in den Kollegien regelmäßig solche geistigen Turnübungen (collationes casuum) statt. Die Analyse der casus conscientiae führt aber letztlich zu der schon in der Reformation angeprangerten Verderbnis der Gewissen und Verwirrung des gesunden Urteilsvermögens.

4. Große Jesuiten des „alten" Ordens Francisco de Javier Als Ignatius sich im Jahre 1532 in Paris darum bemühte, Francisco de Javier für seine Sache zu gewinnen, da soll schließlich das Zitat aus dem MatthäusEvangelium (16,26), das er ihm mehrmals vorhielt, den Ausschlag gegeben haben: „Was hat ein Mensch davon, wenn er die ganze Welt gewinnt, aber an seiner Seele Schaden leidet?"85 Dem an seiner kirchlichen Karriere bastelnden Magister muß auf einmal klar geworden sein, daß das Heil seiner Seele wichtiger war als eine angesehene, gut dotierte Stellung als Domherr oder Bischof und daß seine zukünftige Lebensaufgabe darin bestehen sollte, die Seelen anderer zu retten. P. S C H U R H A M M E R hat eingehende Untersuchungen darüber angestellt, wer zu der „gefährlichen Gesellschaft" gehört haben könnte,

Große Jesuiten des „alten" Ordens

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aus deren Händen Iñigo seinen Landsmann schließlich entriß.86 Es ist wahrscheinlich, daß Calvin dazu gehörte, ebenso dessen Freund Nicolas Cop, der spätere Rektor der Sorbonne. Zum Wandel in der Gesinnung Javiers und damit zur Vorbreitung seiner „Bekehrung" durch Iñigo trug auch der unerwartete Tod seiner älteren Schwester Magdalena am 20. Januar 1533 bei. Die ehemalige Hofdame der Königin Isabella von Kastilien war Äbtissin des Klarissen-Konvents von Gandia.87 Francisco Javier ist, neben Petrus Faber, der qualifizierteste und vielseitigste unter den ersten Gefährten des Ignatius gewesen. Er war dem Ordensgründer persönlich verbunden und stand dessen Lebensideal, nachdem er sich einmal dafür entschieden hatte, sehr nahe. Ignatius hielt ihn für geeignet, alle anfallenden Aufgaben zu übernehmen, und er hat nicht gezögert, ihn auf den Spuren der portugiesischen Eroberer auf den Weg nach Süd- und Ostasien zu bringen. Javier hat für die Mission der Gesellschaft Jesu und der Katholischen Kirche in ganz Asien das Tor aufgestoßen und den nachfolgenden Glaubensboten den Weg bereitet. Es war die Initialzündung für die Missionsbewegung des Christentums in der Neuzeit überhaupt. Die Biographen haben die vielversprechenden Anfänge seiner Missionsarbeit ebenso wie deren vorzeitiges, tragisches Ende geschildert.88 Angesichts der wirtschaftlichen, sozialen und religiösen Probleme in der so genannten Dritten Welt ist es heute Mode geworden, die missionarischen Aktivitäten, die das Christentum in der frühen Neuzeit in Amerika, Afrika und Asien entfaltete, mit skeptischen Augen zu betrachten. Man darf aber nicht übersehen, daß die christliche Religion nicht überall mit Gewalt und aus wirtschaftlichen Interessen implantiert wurde. In vielen außereuropäischen Regionen hatte das Christentum damals so etwas wie seinen Kairos, und Francisco Javier hatte das erkannt. Deshalb bittet er in seinen Briefen immer wieder um die Nachsendung von Missionaren, „um Indien mit den geistlichen Grundlagen zu versehen".89 Die missionarische Pilgerfahrt Javiers begann, wie früher bereits erwähnt, mit mit seiner Abreise von Lissabon am 7. April 1541. Die Seereise um Afrika herum dauerte ein gutes Jahr. Von Goa aus, wo er Anfang Mai 1542 ankam, fuhr er zum Kap Comorin an der Südspitze Indiens. Anschließend kehrte er in die Städte Cochin und Goa an der Westküste des indischen Kontinents zurück (1542/1543). Von Cochin aus segelte er 1544 nach Negapatam und San Thomé an der Ostküste Indiens. Die Jahre 1545-1548 sind durch die Reise zu den Molukken ausgefüllt, von wo aus er nach Cochin zurückkehrte. In Cochin und anderen westlichen Städten Indiens hielt er sich bis zum Juni 1549 auf. Am 24. Juni lief das Schiff, das Javier nach Japan bringen sollte, aus dem Hafen von Goa aus. Nach siebenwöchiger, teilweise stürmischer Fahrt erreichte man den Hafen von Kanton. Am 15. August lief der Segler in den Hafen von Kagoshima in Japan ein. Nach etwa zweijähriger Tätigkeit in Japan kehrte Javier von Hirado aus nach Cochin zurück, wo er am 24. Januar 1552 eintraf. Schon um die Mitte April begab er sich von Goa aus auf seine

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letzte Reise, in Richtung China, das ihn unwiderstehlich anzog. Aber der Tod holte ihn auf der vor Kanton gelegenen Insel Sancian ein, bevor er seinen Fuß auf das Festland setzen konnte (2./3. Dezember 1552). Der anonyme Verfasser eines Artikels über André Bellessort, einen älteren Biographen des heiligen Franz Xaver, in der französischen Zeitschrift Revue des deux mondes hat versucht, die weltgeschichtliche Bedeutung des ersten Asien-Missionars der Gesellschaft Jesu in die ein wenig pathetischen, aber keineswegs unzutreffenden Worte zu fassen: „Die Pilgerreise des Francisco Javier bleibt eine der heroischsten Unternehmungen der menschlichen Natur. Kraft der Liebe! Werden wir niemals etwas Sicheres über diese fremden Völker wissen? Von allem, was wir von ihnen durchschauen, verdanken wir ihm die Kenntnis: er ist der Initiator von Wissenschaften, die er selbst nicht kannte. Sein Traum hat die Welt vergrößert. Er hat ein unsterbliches Fieber in sie gebracht und ein geheiligtes Prinzip, daß allein die Unruhe, die die Reise heiligt, die Neugier rechtfertigt: der Eifer des Menschen, die Leidenschaft der Liebe."90 Petrus Canisius Petrus Canisius ist der Jesuit, dem der deutsche Katholizismus vielleicht sein Uberleben verdankt. Ob diese Vermutung zutrifft oder nicht: sein Leben und Wirken hat, was die Folgen betrifft, weltgeschichtliche Dimensionen; aber er selbst ist nur so etwas wie die Speerspitze der zweiten Jesuitengeneration, in den vier Jahrzehnten nach dem Tode des Ordensgründers.91 Canisius wurde am 8. Mai 1521 in Nimwegen in dem niederländischen Herzogtum Geldern geboren. Sein Vater Jakob Kanis (1489-1543) war studierter Jurist; er war Mitglied des Magistrats seiner Heimatstadt. Die Mutter hieß Jelis van Houveningen und war die Tochter eines Apothekers; sie starb schon 1526. Das Paar hatte insgesamt sieben Kinder, von denen Petrus das zweite war. (Die folgenden fünf müssen im Jahresrhythmus gekommen sein, so daß die Mutter wohl an Erschöpfung starb; der Verlust der Mutter in der Kindheit kann, wie bei Ignatius, für die seelische Entwicklung nicht ohne Folgen geblieben sein). Anfang der dreißiger Jahre ging der Vater eine zweite Ehe ein, mit Wendel van den Bergh; sie starb 1557, nachdem sie zwölf Kinder geboren hatte. Eines davon war der Jesuit Derick Kanis (1532-1606). Unter den religiösen Einflüssen, die Petrus in seiner Kindheit prägten, hat er sich später an den seiner Großtante Reinalda van Eymeren (1463-1540) erinnert; sie hatte ein viel gelesenes mystisches Werk verfaßt (Evangelische Peerle oder Margarita Evangélica) und hatte prophetische Begabung, aufgrund deren sie die Entstehung des Jesuitenordens und den Eintritt ihres Großneffen in denselben voraussagte.92 Der Vater schickte Petrus nach dem Besuch der elementaren Schule bei den Brüdern des Gemeinsamen Lebens in Nimwegen zum Studium nach Köln (1535), wo er 1538 an der Artistenfakultät das Lizentiat erwarb. Nach

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einem Zwischenaufenthalt in Löwen, wo er Kirchenrecht studierte, wurde er 1540 mit neunzehn Jahren zum Magister der Philosophie promoviert. Im gleichen Jahr legte er das private Gelübde der Ehelosigkeit ab. Dieser folgenreiche Schritt war vor allem das Ergebnis seines Umgangs mit zwei Priestern, Andreas Herll und Nikolaus von Esche, die durch die mystische Frömmigkeit und den religiösen Reformgeist der Kölner Kartause geprägt waren. Bald darauf machte Petrus die Bekanntschaft eines spanischen Novizen der Gesellschaft Jesu, Alvaro Alfonso, der in Köln studierte; dieser stellte die Verbindung zu Petrus Faber her, der damals in Mainz war. Unter Fabers Leitung machte Canisius die dreißigtägigen Exerzitien und wurde am 8. Mai 1543, seinem 22. Geburtstag, von ihm in den Orden aufgenommen. Kurz darauf gab er die Schriften des Mystikers Johannes Tauler heraus, mit dessen Denken er sich eingehend beschäftigt hatte. Als Mitglied der Kölner Jesuiten-Kommunität (1543-1547) war Canisius direkt befaßt mit den Auseinandersetzungen um die religiöse Zukunft der Kölner Kirche unter dem Erzbischof Hermann von Wied, der, von Melanchthon und Bucer beraten, die Sache der Reformation unterstützte. Wiederholt wurde er (im Auftrag der Stadt, der Universität und des Kölner Klerus) zu diplomatischen Missionen eingesetzt. Auch an der Gründung des Löwener Kollegs war er in dieser Zeit beteiligt. Im Frühjahr 1546 hatte er die Priesterweihe empfangen (Primiz am 13. Juni 1546). Ende Februar 1547 wurde Canisius als Prokurator des Bischofs von Augsburg zum Trienter Konzil gesandt. Nach der Verlegung des Konzils nach Bologna reiste er nach Rom, wo er Anfang September 1547 mit Ignatius zusammentraf. Der Ordensgeneral nahm ihn für zwanzig Tage in die harte „Schule des Gehorsams" und wies ihm „niedere Dienste" zu: Betteln, Krankenpflege, Küchendienst. Er war für jede ihm übertragene Aufgabe dankbar; er hatte die ignatianische Indifferenz verinnerlicht. Ignatius sandte ihn im März 1548 mit der aus zehn Jesuiten bestehenden Gründungsmannschaft nach Messina. Seine erfolgreiche Tätigkeit in Wissenschaft und Seelsorge in Sizilien sollte nur von kurzer Dauer sein. Schon Mitte 1549 übertrug ihm Ignatius eine neue Aufgabe: er sollte zusammen mit Le Jay und Salmerön nach Ingolstadt gehen. Am 4. September legte er in Rom vor dem General sein Profeßgelübde ab. Davor hatte er ein bedeutsames visionäres Erlebnis, das er später als seine „Bekehrung" ansah.93 Als er sich in St. Peter der Fürbitte der Apostel empfahl, hatte er das Gefühl, daß sie mit „päpstlicher Autorität" (Pontificia auctoritate) sein bevorstehendes Ordensgelübde billigten. Es wurde ihm ein „neuer Engel" gegeben, der seine häßliche, unreine, von Lastern und Leidenschaften infizierte Seele vor dem Thron Gottes vorstellte und die Schwierigkeit anführte, die er mit ihrer Leitung haben werde. Da greift der Erlöser selbst ein:94

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Da endlich schien es mir, als ob Du das Herz deines allerheiligsten Leibes öffnetest, in das ich hineinblicken konnte, und Du gebotest mir, aus diesem Quell zu trinken, indem Du mich ermuntertest, die Wasser meines Heils aus deinem Brunnen zu trinken, mein Erlöser [nach Is 12,3]. Ich aber begehrte vor allem, daß die Ströme des Glaubens, der Hoffnung, der Liebe von dort in mich geleitet würden. Ich dürstete nach Armut, Keuschheit, Gehorsam. Ich verlangte, ganz von Dir gewaschen zu werden, und bekleidet und geschmückt zu werden. Als ich dann gewagt hatte, dein süßes Herz zu berühren und meinen Durst an ihm zu löschen, da versprachst Du mir ein aus drei Teilen zusammengewebtes Gewand, die meine nackte Seele behüten könnten und die vor allem zu diesem Profeßgelübde passen würden, nämlich Frieden, Liebe und Beharrlichkeit. Mit diesem heilsamen Kleid ausgerüstet, hatte ich das Vertrauen, daß mir nichts fehlen werde, daß vielmehr alles zu deiner Ehre ausgehen würde. Ein mystisches Erlebnis von großer Tiefe und Intensität, das an ähnliche Erfahrungen mittelalterlicher Heiliger, wie Bernhard von Clairvaux, Rupert von Deutz, Klara von Assisi und Katharina von Siena erinnert. Wenngleich es um einen geistigen Vorgang - die „Transfusion" der göttlichen Tugenden und der Ordensideale - geht, ist doch der massiv körperliche, fast sexuelle Aspekt unverkennbar. Es ist auch zu vermuten, daß die Nähe zu Ignatius bei dem Zustandekommen des Erlebnisses eine zündende Wirkung gehabt haben könnte; bekanntlich fiel dem Heiligen das Überspringen der Grenze zur transzendenten Welt überaus leicht. Den modernen Analytiker überkommt beim Lesen solcher Bekenntnisse wie dem des Petrus Canisius ein leichtes Unbehagen, vielleicht weil er im religiösen Vorgang das Krankhafte ahnt. Auch manchen Theologen und Historikern aus der Gesellschaft Jesu ist der Bericht offenbar peinlich, weshalb sie ihn umgehen oder verharmlosen. Die Vision gehört im übrigen in die Geschichte der Herz-Jesu-Verehrung, eines Sektors der katholischen Religiosität, der wegen seines süßlich-frömmelnden Charakters manchen sich für rational und aufgeklärt haltenden Theologen nicht geheuer ist. Die Herz-Jesu-Verehrung samt ihren krankhaften Exzessen kann aber aus Kult und Kunst des modernen Katholizismus nicht retouchiert werden. Für Canisius selbst, der tief religiös geprägt war und seit seiner Kindheit ganz in einer Aura der Frömmigkeit schwamm, war das Erlebnis am Apostelgrab in St. Peter, wenn nicht eine Bekehrung, so doch eine zusätzliche Vergewisserung und Befestigung für sein ganzes zukünftiges Leben. Weitere Einzelheiten dieses Lebens zu erzählen, können wir uns ersparen, da sie in guten Biographien nachlesbar sind. Auf der Rückreise nach Deutschland wurde Canisius am 2. Oktober 1549 in Bologna von dem Kardinal Giovanni Maria del Monte (dem späteren Papst Julius III.) zum Doktor der Theologie promoviert. Während der folgenden sieben Jahre war er im Kampf um die kirchliche Erneuerung in Bayern und Osterreich engagiert. Erfolge wechselten sich ab mit frustrierenden Enttäuschungen. So konnte in Ingolstadt jahrelang weder die Reform der Universität noch die Gründung eines Kollegs vorangebracht werden. Erfreulich gestaltete sich die Zusam-

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menarbeit mit dem Kaiser Ferdinand I., der Canisius gern zum Bischof von Wien gemacht hätte. Unter den literarischen Arbeiten Canisius' ragt seine Summa Doctrinae Christianae heraus, ein kurzgefaßter, verständlicher Katechismus, der 1555 zum ersten Mal erschien und in den folgenden Jahren über die gesamte Kirche verbreitet wurde. Er enthält in Form von Fragen und Antworten eine übersichtliche, leicht eingängige Darstellung der katholischen Glaubenslehre, Moral und Frömmigkeit, ohne jede Polemik gegen die Reformatoren. Da aber auch von allen bedeutenden Reformatoren, von Luther angefangen, inzwischen Katechismen oder zusammenfassende Darstellungen der christlichen Lehre in ihrem Sinne erschienen waren, trug dieses literarische Genus nicht wenig zur Abgrenzung und Verfestigung der christlichen Konfessionen bei. Die zweite Lebenshälfte des Heiligen (1556-1597) war ausgefüllt mit Reisen in die verschiedenen Gegenden Deutschlands im Dienst der Stabilisierung und Verbreitung des katholischen Glaubens. Uber viele Jahre bekleidete er das Amt des Provinzials (der oberdeutschen Ordensprovinz). In ihm verkörpert sich die durch die auf verschiedenen Gebieten geforderte Einsatzbereitschaft bedingte Rastlosigkeit und Heimatlosigkeit der Jesuiten, ein denkbar krasser Gegensatz zu der durch die Stabilität des Ortes bedingten Ruhe der benediktinischen Ordensgemeinschaften (pax Benedictina). Mit der Gründung des Kollegs von Fribourg (Freiburg im Uechtland) übernahm Canisius 1580 seine letzte größere Aufgabe. Dort, an der Grenze des calvinistischen Einflußbereichs, arbeitete er als Seelsorger und Gelehrter bis zu seinem Tode am 21. Dezember 1597. Obwohl ihn die Bürger von Freiburg schon zu Lebzeiten als Heiligen verehrten, erfolgte seine Beatifikation (durch Pius IX.) erst 1864. Leo XIII. erhob ihn 1897 zum „zweiten Apostel Deutschlands" (nach dem heiligen Bonifatius). 1925 sprach ihn Pius XI. heilig und verlieh ihm den Rang eines Kirchenlehrers (ecclesiae doctor). Zweifellos sind diese posthumen Ehrungen seiner religiösen und kirchenpolitischen Bedeutung angemessen; sie dürfen jedoch nicht vergessen lassen, daß er sich, wie seine Ordensgenossen, vernünftigen und längst überfälligen Reformen der Kirchenverfassung versagt hat.

Francisco Suárez Noch im 16. Jahrhundert hat der Jesuitenorden seine beiden wohl bedeutendsten theologischen Lehrer hervorgebracht: den Spanier Francisco Suárez (1548-1617) und den Italiener Roberto Bellarmino (1542-1621). Suárez wurde am 5. Januar 1548 in Granada geboren.95 Nach vorbreitendem Lateinunterricht im väterlichen Haus studierte er 1562-1564 Rechtswissenschaft in Salamanca. Dreimal bemühte er sich vergeblich um Zulassung zur Gesellschaft Jesu; die verantwortlichen Oberen verwehrten ihm wegen mangelnder Begabung (!) den Eintritt. Als man ihn dann schließlich doch in das Noviziat

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aufgenommen hatte (16. Juni 1564), erwartete ihn im Orden alles andere als ein friedvolles Gelehrten-Dasein: heftige Angriffe auf seine Lehrauffassungen und persönliche Verunglimpfungen folgten aufeinander. Nach philosophischem (1564-1566) und theologischem Studium (1566-1570) zu Salamanca erhielt er eine Professur für Philosophie in Segovia, wo er bis 1574 lehrte. In diese Zeit fallen seine ersten Zusammenstöße mit den ordensinternen Glaubenswächtern: wegen seiner Aristoteles-Interpretation, die von seinem Onkel, dem (ersten) Jesuiten-Kardinal Francisco de Toledo, beeinflußt war, wurde er zweimal denunziert. Es ging dabei um die Unterscheidung eines von Gott geschaffenen absoluten und eines vom Menschen vorgestellten imaginären Raums (sie wurde später von Descartes übernommen). Schon Toledo war mit der Ordensleitung in Konflikt geraten, weil er das jesuitischen Gehorsamsgelübde nicht ganz ernst nahm. In diesen ersten Jahren seiner Lehrtätigkeit entstand Suárez' Werk De anima, das erst 1621 veröffentlicht wurde. Suárez' nächste Station war Valladolid, wo er von 1576 bis 1580 die Theologie zu dozieren hatte. Damals entstand sein Kommentar zum ersten Teil der Summa theologica (Gotteslehre) des Thomas von Aquin. 1580 wurde er an das Collegium Romanum der Gesellschaft Jesu berufen, wo er den ersten Teil des zweiten und den dritten Teil der Summa auslegte. 1585 kehrte Suárez wegen einer Krankheit nach Spanien zurück. In Alcalá hielt er danach Vorlesungen über die Sakramentenlehre und andere Quaestionen der Summa, heftig bekämpft von seinem Ordensbruder Gabriel Vázquez, der in der Frage der Gerechtigkeit Gottes und weiteren Problemen seine Auffassungen nicht teilte. Gleichwohl konnte Suárez 1590 den ersten Band seines Kommentars zum dritten Teil der Summa (De verbo incarnato) veröffentlichen. Von dem anhaltenden Druck seiner theologischen Gegner und seiner Krankheit angeschlagen, zog sich Suárez 1593 nach Salamanca zurück. Hier arbeitete er hauptsächlich an den Disputationes metaphysicae, die 1597 veröffentlicht wurden.96 Sie „sind wohl die ausführlichste systematische Darstellung der M e t a p h y s i k , die es ü b e r h a u p t g i b t " (JOHANNES HIRSCHBER-

GER).97 In diesen Jahren wurde er mehrmals, auch aus Kreisen seiner Ordensbrüder, bei der Inquisition denunziert. Allen Widrigkeiten zum Trotz verlor Suárez jedoch nicht seinen Mut und brachte 1599 u.a. eine Schrift De iustitia Dei gegen Vázquez heraus. Auf Veranlassung Philipps II. wurde er im gleichen Jahr nach Coimbra berufen, wo er bis 1615 wirkte. Unterbrochen wurde die Tätigkeit durch eine Reise nach Rom (1605-1606), wohin er sich begeben hatte, um von dem Papst Clemens VIII. Aldobrandini (1592-1605) persönlich zu erfahren, weshalb seine Auffassung über die schriftliche Beicht verboten worden war. Paul V. Borghese, der inzwischen den Apostolischen Stuhl bestiegen hatte (1605-1623), rehabilitierte ihn. Der neue Papst beauftragte Suárez mit der Abfassung einer Verteidigungsschrift des katholischen Glaubens (Defensio fidei catholicae) gegen den von dem König Jakob I. von England (1603-1625) verlangten Huldigungseid. Das 1613 veröffentlichte Werk wurde in Paris und Löwen verbrannt. Im

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Auftrag des Ordensgenerals Claudio Acquaviva, der ihn ebenfalls hochschätzte, verfaßte Suärez ein Werk über den Ordensstand (De virtute et statu religionis). Als sein Hauptwerk gilt De Legibus a Deo legislatore, in dem er seine Rechts- und Staatslehre zusammengefaßt hat. Die dort entwickelten Gedanken entfalteten ihre Wirkung bis in die neueste Zeit, auch im protestantischen Bereich.98 Suärez starb am 25. September 1617 in Lissabon. In den theologischen Auseinandersetzungen seiner Zeit um Gnade, göttliche Prädestination und menschliche Willensfreiheit hielt Suärez eine mittlere Linie zwischen den Positionen von Banez und Molina. Bekannt ist seine Auffassung von der scientia media, nach der Gott zukünftige kontingente Ereignisse, auch die bösen Taten, im voraus weiß, aber nicht auf den freien Willen des Menschen in zwingender Weise Einfluß nimmt. Gegen die herrschende thomistische Auffassung von der Analogie des Seins vertrat Suärez einen univoken Seinsbegriff. Die Vernunft gelangt zur unmittelbaren Anschauung Gottes, der in ihr gegenwärtig ist. Dies ist vielleicht der bedeutendste Gedanke von Suärez, mit dem er die Metaphysik zu einem Teil der Ontologie gemacht („Metaphysik als vertiefte Ontologie": HIRSCHBERGER)" und zugleich den Gegensatz von Philosophie und Theologie überbrückt hat. Es wird damit, in Rückbesinnung auf Augustinus, Anselm von Canterbury, Johannes Duns Scotus, Wilhelm von Ockham und Ignatius von Loyola (!), das Denken über Gott aus der inneren Schau wiederaufgenommen. Die Wirkung auf Descartes ist unverkennbar. Es wäre vermessen, eine Würdigung des gesamten Lebenswerks dieses großen Gelehrten auch nur zu versuchen. Er hat sich mit so gut wie allen philosophischen, theologischen, staats- und völkerrechtlichen Fragen beschäftigt.100 Er ist außerdem ein frühes Beispiel für eine eigenständige wissenschaftliche Existenz im Jesuitenorden gegen dessen theologische Hauptströmung und die von der Ordensleitung verordneten Sprachregelungen, aber auch für die Behauptung persönlicher Würde anstatt vorbehaltloser Unterwerfung. Bis in das 20. Jahrhundert haben prominente Ordensmitglieder ihr Eskapieren aus der Zwangsjacke des amtlich verordneten Neothomismus damit akzeptabel gemacht, daß sie sich als „Suarezianer" erklärten, wie zum Beispiel Gustav Gundlach.101 Der „Suarezianismus" hat aber auch außerhalb des Jesuitenordens in den Gebieten der Philosophie, Theologie, Rechts- und Staatswissenschaften seine Anhänger.

Robert

Bellarmin

Was die Kraft des spekulativen Denkens und die Weite des geistigen Horizonts betrifft, reicht Robert Bellarmin bei weitem nicht an Suärez heran; sein theologisches Bemühen galt vor allem der positiven kirchlichen Lehre, die er zu erklären und gegen die Häretiker seiner Zeit zu verteidigen suchte. Bellarmin war der Neffe des frühverstorbenen Papstes Marcellus II.,102 in dessen Heimatstadt Montepulciano er am 4. Oktober 1542 geboren wurde.103 Seine

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Eltern, Vincenzo Bellarmino und Cinzia Cervini, hatten fünf Söhne und sieben Töchter. Am Jesuiten-Kolleg von Montepulciano absolvierte er seine ersten Studien. 1560 trat er in die Gesellschaft Jesu ein. 1570 wurde er von Cornelius Jansenius dem Älteren (1510-1576), Bischof von Gent, zum Priester geweiht. Von 1570 bis 1576 wirkte er in Löwen als Professor der Theologie und Prediger. Schon damals galt sein bevorzugtes Interesse kontroverstheologischen Fragen. Auf Veranlassung Gregors XIII. Boncompagni wurde Bellarmin an das Collegium Romanum berufen, wo er von 1576 bis 1588 Kontroverstheologie lehrte; er erwarb sich den Ruf des Kontroverstheologen par excellence der Gesellschaft Jesu. Aus den römischen Vorlesungen ging sein Hauptwerk: Disputationes de controversiis christianae fidei adversus huius temporis haereticos hervor, dessen drei Bände 1586-1593 in Ingolstadt gedruckt wurden. Die Lektüre des Werkes wurde in den protestantischen Gebieten verboten, und es wurden eigens Professuren zur Widerlegung Bellarmins eingerichtet. Außer seiner Lehrtätigkeit nahm er auch die Aufgaben eines Beichtvaters und Spirituals am Collegium Romanum wahr; als solcher betreute er Aloysius Gonzaga,104 für dessen Seligsprechung er sich später einsetzte. 1592 wurde Bellarmin Rektor des Collegium Romanum; von 1594 bis 1597 leitete er als Provinzial die Neapolitanische Ordensprovinz. Clemens VIII. Aldobrandini berief ihn nach Rom zurück, wo er dem Papst und dem Heiligen Offizium als theologischer Berater diente. 1597 veröffentlichte er seinen kleinen Katechismus (Dottrina cristiana breve), ein Jahr später folgte ein ausführlicherer, für Religionslehrer bestimmter Katechismus (Dicbiarazione piü copiosa della dottrina cristiana). Der erstere wurde zu einer Art „Weltkatechismus": er erlebte 400 Auflagen und wurde in 56 Sprachen übersetzt. Was schon über den Katechismus des Petrus Canisius gesagt wurde, gilt in verstärktem Maße für denjenigen Robert Bellarmins: durch ihn wurde der Katechismus zu dem literarischen Genus der Glaubensverkündigung schlechthin und er hat das „konfessionelle" Zeitalter, vor allem in der Betonung der Unterschiede im Glauben, nachhaltig geprägt. Am 3. März 1599 ernannte Clemens VIII. Bellarmin zum Kardinal, was aber dessen Anpassungsfähigkeit kaum erhöhte - im Gegenteil: er machte aus seiner abweichenden Auffassung im Gnadenstreit dem Papst gegenüber keinen Hehl. Das hatte seine ehrenvolle Abschiebung nach Capua zur Folge. Als Erzbischof dieser Stadt konnte Bellarmin aber zeigen, daß er nicht nur über wissenschaftliche Qualitäten verfügte. Er setzte u.a. eine Agrarreform in Bewegung und war um Arbeitsbeschaffung für die ländliche Bevölkerung bemüht. Für seine Pfarrer schrieb er damals eine Erklärung des Glaubensbekenntnisses (Declaratio Symboli pro parocbis). Nach dem Tode Clemens' VIII. (5. März 1605) wurde Bellarmin nach Rom zurückgerufen.105 Unter Paul V. war er Mitglied des Heiligen Offiziums und anderer Kongregationen; er gehörte auch zu den Protektoren des Collegium Germanicum. Er war befaßt mit den theologischen und kirchenpoli-

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tischen Auseinandersetzungen seiner Zeit, in die er mit seinen Schriften eingriff.106 In seinem Werk: De potestate Summi Pontificis in rebus temporalibus, das 1610 herauskam, vertrat er die Lehre von der indirekten Gewalt des Papstes in zeitlichen Angelegenheiten; das Buch hatte eine große Wirkung, war jedoch auch im katholischen Bereich umstritten. Bellarmin war auch von Amts wegen mit dem Fall Galilei befaßt; als Sprecher der Index-Kongregation teilte er dem Beschuldigten am 26. März 1616 die Verurteilung des kopernikanischen Weltbildes und damit von Galileis eigenen Auffassungen (vom Stillstand der Sonne und der Bewegung der Planeten) mit. Daß er von seiner Handlung und Rede selbst überzeugt war, ist schwer vorstellbar. Die Fälle Bruno und Galilei führen in drastischer Weise vor, welchen Wert das „richtige" Sprechen und Schreiben in der nachtridentinischen Kirche gewonnen hatten. Jesuiten wie Bellarmin hatten an der Verfestigung der kirchenamtlichen Sprachregelungen ihren gebührenden Anteil. Ein geistiges Zwangssystem dieser Art konnte allerdings nicht lange Bestand haben; in der Aufklärung und in der Französischen Revolution barst es entzwei. Zeitgenosssen bezeugen, daß Bellarmin ein Leben in strenger Askese und, für damalige Begriffe, großer Armut geführt habe. In seinen letzten Lebensjahren verfaßte er zwei asketisch-meditative Werke, die eine zahlreiche Leserschaft fanden: De gemitu columbae (Die seufzende Taube: 1615) und : De arte bene moriendi (Die Kunst, gut zu sterben: 1620),107 sowie eine Autobiographie (1613).108 Er starb am 17. September 1621 und wurde in der Hauptkirche des Ordens, Ii Gesü, bestattet. Bald danach wurde der Seligsprechungsprozeß eingeleitet. Die Akten wurden aber dreihundert Jahre lang innerhalb der zuständigen Riten-Kongregation hin- und hergeschoben. Erst der Papst Pius X I . sprach Bellarmin am 13. Mai 1923 selig. Wenige Tage später (21. Mai 1923) wurden seine Gebeine nach S. Ignazio überführt, wo er, mit einer Silbermaske bekleidet, neben seinem geistlichen Schüler, dem heiligen Aloysius, ruht. Am 29. Juni 1930 folgte die Heiligsprechung, ein Jahr später die Erhebung zum Kirchenlehrer durch Pius X I .

Matteo Ricci Matteo Ricci war Zeitgenosse von Canisius, Suärez und Bellarmin. Während diese drei Jesuiten ihren theologischen Sachverstand und ihr seelsorgerliches Engagement in die Stabilisierung des katholischen Glaubens in Europa investierten, galt das Lebenswerk Riccis der Ausbreitung des Christentums in Ostasien und der Gewinnung des riesigen chinesischen Reiches für die Katholische Kirche. Geboren am 6. Oktober 1552 in Macerata als ältestes von zwölf Kindern des Giovanni Battista Ricci und der Giovanna Angelelli, trat Ricci am 15. August 1571 in Rom in die Gesellschaft Jesu ein. Am Collegio Romano studierte er Philosophie und Mathematik. Seine theologischen Studien absolvierte er an dem Jesuiten-Kolleg von Goa (1578-1582). 109 Von dort reiste er nach Macao. 1583 konnte er zusammen mit seinem Ordensbruder

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Michele Ruggieri in das Reich der Mitte gelangen. In Shaoking bei Kanton baute er 1585 ein Ordenshaus und eine Kirche. Nach Aufenthalten in anderen Städten wohnte er ab 1598 in Nanking, wo er seine chinesische Weltkarte veröffentlichte.110 Um leichter Zugang zu den Gelehrten zu finden, hatten die Missionare inzwischen ihr Außeres verändert: sie hatten die anfangs getragene Kleidung der buddhistischen Mönche abgelegt und die Tracht der chinesischen Weisen übernommen. Ziel Riccis war es, sich in der Hauptstadt des Reiches, in der Nähe des kaiserlichen Hofes, niederzulassen. Bei seinem zweiten Besuch in Peking (1601) gelang es ihm schließlich, von dem Kaiser Wan-li die dauernde Aufenthaltserlaubnis für Peking zu erlangen. In dem knappen Jahrzehnt bis zum Ende seines Lebens (11. Mai 1610) suchten ihn zahlreiche chinesische Gelehrte und Würdenträger auf, um sich mit ihm über Probleme der Astronomie, Mathematik, Philosophie auszutauschen. Dabei verlor Ricci niemals den Zweck seines Aufenthalts, die Werbung für die christliche Religion, aus den Augen. Bis zu seinem Tode konnte er ca. 2 500 Neuchristen gewinnen. Seine Mission richtete sich vornehmlich an die Gebildeten, denen er in seinen Werken westliches Denken und westliche Wissenschaft nahezubringen suchte. Schon vor seiner endgültigen Niederlassung in Peking hatte er in chinesischer Sprache zwei Schriften veröffentlicht: „Uber die Freundschaft" und „Das vergessene Gedächtnis", ein Traktat über die Kunst der Mnemotechnik.111 „Die wahre Lehre über Gott" entstand aus Gesprächen, die er mit chinesischen Gelehrten führte.112 Andererseits suchte Ricci das Christentum in Lehre und Kult den chinesischen Traditionen so weit wie möglich anzupassen. Diese Methode der Akkomodation war schon im 17. Jahrhundert umstritten und wurde vor allem aus Kreisen der mit den Jesuiten konkurrierenden Dominikaner und Franziskaner heftig bekämpft.113 Bis heute sind die Ansichten darüber geteilt. Verhängnisvoll für die Entwicklung der Mission in China war es jedenfalls, daß die christliche Religion von sich bekämpfenden Glaubensboten präsentiert wurde und der für das „konfessionelle" Zeitalter typische Streit um die rechte Lehre und die richtige Methode der Verkündigung, verbunden mit der Lust, sich gegenseitig zu verketzern, sich auch in den ostasiatischen Missionsgebieten fortsetzte. Man könnte Ricci und den anderen Missionaren der Gesellschaft Jesu auch vorwerfen, daß sie ihre Aktivitäten vor allem auf die höheren Schichten der chinesischen Gesellschaft konzentrierten und die Volksmassen vernachlässigten. Wegen der zeitlichen Distanz und mangelnden Kenntnis der Umstände ist jedoch bei solchen Urteilen Zurückhaltung geboten. Leider wissen wir auch zu wenig über die persönlichen Charaktereigenschaften Riccis. Sicher ist, daß er, überlastet und gesundheitlich ausgelaugt, viel zu früh gestorben ist. Der chinesische Kaiser, der ihn hochschätzte, ließ ihn unter großen Ehrenbezeugungen bestatten. (Ob Ricci ihn je persönlich zu Gesicht bekommen hat, ist fraglich). Selbst wenn man von Riccis Tätigkeit

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als Missionar absieht, hat er für die Begegnung der Kulturen Überragendes geleistet, und allein wegen der Eröffnung der kulturellen und religiösen Beziehungen zwischen China und dem Westen gehört er zu den ganz Großen seines Zeitalters. Athanasius Kircher Im 17. Jahrhundert erreichte der Jesuitenorden den Rang einer geistigen Weltmacht. Exemplarisch dafür ist die Gestalt des überragenden Universalgelehrten Athanasius Kircher." 4 Er wurde geboren am 2. Mai 1602 in Geisa in der Rhön (nordöstlich von Fulda) als siebentes Kind von Johann Kircher und Anna geb. Gansek. Johann hatte in Mainz Philosophie und Theologie studiert und sein Studium mit dem Doktorat abgeschlossen. Zunächst lehrte er Theologie am Benediktinerstift Seligenstadt am Main, danach war er Amtmann im Dienst des Fürstabts von Fulda, Balthasar von Dernbach. Athanasius verdankt seinem Vater die Grundlagen seiner umfassenden Bildung. Ergänzend zum Unterricht an der Elementarschule in Geisa unterwies ihn der Vater in Musik, Mathematik und Geographie. Außerdem engagierte er für seinen Sohn einen jüdischen Rabbiner, um ihm die Grundlagen der hebräischen Sprache beizubringen. Im Alter von zehn Jahren (1612) wurde Athanasius an das Fuldaer Jesuitengymnasium geschickt, wo er bis 1618 blieb. (Es ist das Jahr, in dem der Dreißigjährige Krieg ausbrach). In Paderborn trat er dann als Novize in die Gesellschaft Jesu ein. Als das Paderborner Kolleg infolge der Kriegswirren schon drei Jahre später seine Tore schließen mußte, setzte er seine Studien in Köln fort. Nach Abschluß des philosophischen Kurses schickte man ihn 1623 zur Erweiterung seiner Sprachenkenntnisse nach Koblenz. Noch im gleichen Jahr wurde er als Lehrer des Griechischen an das Jesuitengymnasium in Heiligenstadt (Eichsfeld) abgeordnet. 1624 trat er in Aschaffenburg in den Dienst des Kurfürsten und Erzbischofs von Mainz, Johann Schweickard von Kronberg (1604-1626). Seine Aufgabe bestand in der Durchführung von Vermessungsarbeiten im Odenwald. Damals entstand sein erstes Werk, Ars Magnesia, eine umfassende Darstellung des magnetischen Phänomens, die 1631 in Würzburg erschien.115 Im Jahre 1625 begann Kircher in Mainz das Theologiestudium, dem er sich vier Jahre widmete. Es blieb ihm aber, wie er selbst in seiner Autobiographie schreibt, daneben ausreichend Zeit zum Erlernen der orientalischen Sprachen.116 Außerdem war er am Mainzer Jesuitenkolleg als Griechischlehrer tätig und leitete dessen Chor. 1628 wurde er zum Priester geweiht. Das Terziat (drittes Noviziatsjahr) absolvierte er in Speyer. 1629 wurde Kircher als Professor für Moralphilosophie, Mathematik und orientalische Sprachen an die Universität Würzburg berufen. Gern wäre er als Missionar nach China gegangen, für dessen Kultur er ein lebenslanges Interesse bewahrte. Doch der Orden wollte seinen mittlerweile größten Ge-

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lehrten in Deutschland behalten. Im Herbst 1631 mußten die Jesuiten vor den heranrückenden Truppen des schwedischen Königs Gustav Adolf aus Würzburg fliehen. Kirchers nächste Stationen waren die Jesuitenkollegien von Lyon und Avignon. In Avignon beschäftigte er sich hauptsächlich mit naturwissenschaftlichen Fragen; er konnte sich ein eigenes Observatorium einrichten lassen. Viele gelehrte Männer suchten ihn auf; unter anderen machte er die Bekanntschaft des Privatgelehrten Nicolas Claude Fabri de Peiresc, der ein besonderes Interesse für die Orientalistik hatte; er wollte mit Kircher zusammen den Versuch unternehmen, die ägyptische Hieroglyphenschrift zu entziffern. Der Plan konnte allerdings nicht verwirklicht werden, da Kircher bereits 1633 als Hofmathematiker Kaiser Ferdinands II. (1619-1637) nach Wien berufen wurde. Aber auch das blieb nur eine kurze Episode in seinem Gelehrtenleben. Alsbald erreichte ihn der Ruf zum Professor für Mathematik, Physik und orientalische Sprachen am Römischen Kolleg der Gesellschaft Jesu. Kircher kam Anfang November 1633 in Rom an und verbrachte die restlichen 47 Jahre seines Lebens, abgesehen von mehreren Reisen, bis zu seinem Tode am 27. November 1680 in der Hauptstadt der Christenheit. Die Stätte seines Lehrens und Forschens, das Collegium Romanum, war die wichtigste Studienanstalt der Jesuiten, mit Modellcharakter für den gesamten Orden. Während einer Reise über Kalabrien und Sizilien nach Malta (1637/1638) beobachtete er ein Erdbeben und studierte das Phänomen der Fata Morgana. Die Ergebnisse der betreffenden Studien fanden ihren Niederschlag in den Werken: Ars magna Iuris et umbrae (Die große Kunst des Lichts und des Schattens) und Mundus subterraneus (Die unterirdische Welt).117 Zu den bevorzugten Gegenständen der Forschung Kirchers gehörte die Musik. Sein bedeutendes musiktheoretisches Werk Musurgia universalis erschien 1650 in Rom; es erlebte 2004 einen Neudruck.118 Während seines Wirkens in Rom erlangte Kircher internationales Ansehen. Päpste und Kardinäle zogen ihn als Berater heran. Der Papst Alexander VII. Chigi schätzte ihn sehr und förderte seine wissenschaftliche Tätigkeit. Große Berühmtheit erlangte das von Kircher im Collegium Romanum eingerichtete naturkundliche und ethnologische Museum. Der Kern bestand aus Objekten, die ihm der schon erwähnte Peiresc aus seiner privaten Sammlung geschenkt hatte. Später erhielt Kircher wertvolle Materialien von den Missionaren der Gesellschaft Jesu in Afrika, Amerika, Indien, China und Japan. Der Besuch des Museums gehörte bald zum Programm der gebildeten Rombesucher aus aller Welt. Kircher versuchte, auf der Grundlage von Mathematik, Musik und Theologie das Konzept einer Universalwissenschaft zu verwirklichen. Aus seinen zahlreichen Werken entsteht das Bild einer Welt, in der Gott alles in allem wirkt. Außerdem war Kircher ein überragender Philologe; als solcher beherrschte er den Zugang zu den Originalquellen der Philosophie und der Orientalistik. Seine für die damalige Zeit einzigartigen geographischen und

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geologischen Kenntnisse gehen nicht zuletzt auf die Korrespondenz mit seinen in aller Welt tätigen Ordensbrüdern zurück. Gleichwohl ist Kircher kein „moderner" Wissenschaftler. Die Bibel, speziell das Alte Testament, galt ihm als Norm auch der naturwissenschaftlichen Erkenntnis. Er beschäftigte sich auch mit Magie und Geheimlehren, wie der jüdischen Kabbala, und unterscheidet nicht klar zwischen physikalischen und magischen Ursachen. Bei manchen „aufgeklärten" Wissenschaftlern konnte er deshalb dem Vorwurf nicht entgehen, ein Scharlatan zu sein. Seit dem Jahre 1545 war Kircher von seiner Lehrtätigkeit am Collegio Romano entbunden und konnte sich vor allem der Forschung und seinem Museum widmen. Erholung fand er in der römischen Campagna, wohin er auch vor seinen zahlreichen Besuchern floh. Er verfaßte eine wissenschaftliche Beschreibung von Latium, die auch heute noch für den Liebhaber dieser grandiosen und geschichtsträchtigen Landschaft von Interesse ist.1'9 Besonders am Herzen lag ihm das alte Heiligtum der Madonna und des heiligen Eustachius auf der Mentorella bei Guadagnolo, das er restaurieren ließ. 1665 erschien in Rom seine Darstellung von Geschichte und Legende dieses heiligen Ortes.120 Nach seinem Tod wurde Kircher in der römischen Hauptkirche seines Ordens, Ii Gesü, bestattet. Der genaue Ort seines Grabes ist heute nicht mehr bekannt. Er hatte aber zu seinen Lebzeiten vorgesorgt, daß sein Herz vor dem Gnadenbild der Mentorella beigesetzt würde. Den heutigen Besucher und Pilger erfaßt, wenn der Custode des Heiligtums den Teppich auf den Altarstufen anhebt und der verborgene Ort der Inschrift sichtbar wird, auf der Athanasius Kircher, in der Manier der alten römischen und christlichen Bauherren, als TEMPLI HVIVS INSTAVRATOR bezeichnet ist, das Gefühl von Ehrfurcht und Andacht.121 Baltasar

Gradan

Schon in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts hat der spanische Jesuit Baltasar Gracián, ein Denker der Macht von der Dimension eines Machiavelli, aber auf seine Weise wiederum ein echter Schüler des Ignatius von Loyola, meisterhafte Anweisungen zu einer gehobenen und überlegenen Lebenskultur gegeben, in der die Diskretion, das Verschweigen der Wahrheit - reticentia veri - eine zentrale Rolle spielt, insbesondere in seinen Werken: El Discreto (Huesca 1645) und: Oráculo manual y arte de prudencia (Huesca 1647. Madrid 1653). Das letztere fand eine große Verbreitung, auch außerhalb Spaniens, und wurde in mehrere Sprachen übersetzt; es war eines der Lieblingsbücher des Philosophen ARTHUR SCHOPENHAUER, der es ins Deutsche übertragen hat.122 Das Ideal des höfisch und wissenschaftlich gebildeten Menschen, der sich, unter Ausnutzung der Schwächen seiner Mitmenschen, einen höheren Lebensstatus verschafft, hatte Gracián davor schon in drei Werken beschrieben.123

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Graciáns Hauptwerk ist jedoch El Criticón, eine allegorische Novelle, die in einer satirischen, teilweise paradoxen Sprache eine skeptisch-pessimistische Lebenseinstellung zum Ausdruck bringt. Der erste Teil: En la primavera de la niñez y en el estío de la juventud (Im Frühling der Kindheit und im Sommer der Jugend) erschien 1651 in Zaragoza unter dem Pseudonym García de Marlines, einem Anagramm seines Namens. Bei dem zweiten Teil, den er 1653 in Huesca herausbrachte, versteckte er sich hinter dem Namen eines imaginären Bruders, Lorenzo Gradan: Iniciosa cortesana filosofía en el otoño de la varonil edad (Einführung in die höfische Philosophie im Herbst des Mannesalters); ebenso bei dem dritten Teil des Criticón (Madrid 1657): En el invierno de la vejez (Im Winter des Greisenalters).124 Für die Veröffentlichung seiner Werke hatte Gracián nicht um die Genehmigung seiner zuständigen Oberen nachgesucht. In Graciáns „weltlichen" Werken wird eine Ethik und Lebenshaltung vertreten, die dem Schüler und Leser den Eindruck vermittelt, daß er an einer besonderen, höheren Form des Wissens teilhat, und die den Dummen in seiner Dummheit beläßt oder sogar bestärkt, weil seine beschränkten Ansichten gut genug für ihn sind. Es ist offenkundig, daß ein solches Menschenbild am Rande von Doppelzüngigkeit und Zynismus angesiedelt ist. Man kann sagen, diese Geisteshaltung sei ehrlich und realistisch, weil sie von der Schlechtigkeit des Menschen ausgehe. Und so rühmen sich heute Politiker, Manager in der Wirtschaft und Leiter von Industrieunternehmen, daß sie Gracián gelesen und verinnerlicht hätten. Aber trotz partieller Wahrhaftigkeit und hervorragender sprachlicher Qualität ist das, was dieser Sohn des heiligen Ignatius zu vermitteln sucht, im ganzen doch eine müde Greisenethik, geeignet, jugendlichen Idealismus in der Wurzel zu zerstören. Es beginnt hier, auf dem Gipfel von Ansehen und Wirkung des Ordens, schon etwas, was man als die „innere Demontage" der Gesellschaft Jesu bezeichnen könnte. Baltasar Gracián y Morales wurde am 8. Januar 1601 in Belmonte de Calatayud (Aragón) geboren. (Das Geburtshaus ist noch erhalten). In Tarragona trat er im Alter von achtzehn Jahren in die Gesellschaft Jesu ein und absolvierte dort auch sein Noviziat. Anschließend studierte er, wahrscheinlich in den Kollegien von Tarragona, Calatayud und Huesca, Philosophie und Literaturwissenschaft. Nach vierjährigem Theologiestudium legte er am 25. Juli 1635 seine feierliche Profeß ab. Während der Regierungszeit des Königs Philipp IV. (1621-1665) diente er eine Zeitlang als Heeres-Kaplan (Militärseelsorger) und zeichnete sich in den Kämpfen gegen die aufsässigen Katalanen und die mit ihnen verbündeten Franzosen bei Lérida (1646) durch Tapferkeit aus. Das erste Amt, das die Ordensleitung ihm anvertraute, war das des Rektors des Noviziats von Tarragona; am dortigen Kolleg und später an denen von Lérida und Zaragoza nahm er außerdem Professuren für Literatur (Humaniora), Philosophie, Moraltheologie und Exegese der Heiligen Schrift wahr. Er war auch in der Seelsorge tätig, nämlich als Prediger am königlichen Hof und in mehreren Städten Spaniens.

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Es konnte nicht ausbleiben, daß sich Gracián mit seinen Schriften das Mißfallen der Ordensleitung zuzog. Der zuständige Provinzial verhängte Strafmaßnahmen, deren schwerste der Entzug der Professur für die Heilige Schrift in Zaragoza war. Der (zehnte) Ordensgeneral Goswin Nickel (1652-1661) stärkte dem Provinzial bei seinem Vorgehen gegen Gracián den Rücken. Bemerkenswert ist, daß nicht etwa der Inhalt der Werke beanstandet wurde, sondern allein die Tatsache, daß der Verfasser das Werk El Criticón ohne Erlaubnis der Oberen herausgebracht hatte. Außer den genannten „weltlichen" Schriften hat Gracián, unter seinem richtigen Namen, ein Werk verfaßt, das fromme Meditationen über die Eucharistie im Stil seines Ordensvaters Ignatius von Loyola enthält.125 Die biographische und intellektuelle Schizophrenie ist offenkundig. Nachdem die Ordensleitung Gracián aus dem (wissenschaftlichen) Verkehr gezogen hatte, wurde er zunächst an das Kolleg in Graus, danach an das von Tarazona versetzt. Dort starb er am 6. Dezember 1658, wie manch anderer bedeutende Jesuit, der sich zu weit vorgewagt hatte, als Spiritual. Friedrich Spee Der westeuropäische, christliche Hexenwahn erreichte seinen theoretischen (kirchenrechtlichen, theologischen) Höhepunkt in dem Hexenhammer (Malleus maleficarum) der deutschen Dominikaner Heinrich Institoris (Kramer) und Jakob Sprenger, der 1487 erschien.126 Die faktische, durch das herrschende kirchliche und weltliche Recht gedeckte Verfolgung und Ausrottung unschuldiger Menschen, die man für Hexen und Zauberer mit übernatürlichen, vom Teufel verliehenen Fähigkeiten hielt, verbreitete sich in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges. In diese Zeit fällt das Wirken des wohl bekanntesten Gegners der Hexenverfogungen, des Jesuiten Friedrich Spee von Langenfeld.127 Bekannt und erfolgreich wurde sein Wirken vor allem dadurch, daß er auch ein bedeutender religiöser Dichter war.128 Viele seiner Dichtungen rühren auch heute noch durch die Kraft und Schönheit ihrer Sprache an, sprechen aber weithin aus einer uns fremd gewordenen geistigen Welt zu uns: Friedrich Spee ist ein Dichter des (früh-) barocken Zeitalters. Das heißt auch: er ist noch ein paar Jahrzehnte von der Aufklärung entfernt und er hat, wie die meisten seiner gebildeten Zeitgenossen, an die Möglichkeit der Teufelsbesessenheit und die Existenz von Hexen geglaubt. Das geht gleich aus dem ersten Dubium seines berühmten Werkes: Cautio criminalis (1631) hervor:129 Existieren wirklich Hexen, Zauberinnen und Zauberer? Ich antworte: Ja.

In dem zweiten Dubium stellt Spee die Frage, ob es in Deutschland mehr Hexen und Zauberer gebe als anderswo - was man aus der Vielzahl der Hexenprozesse und Hinrichtungen ja schließen könnte. Die Tatsache, daß in

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Deutschland überall die Scheiterhaufen lodern, ist aber nach seiner Ansicht nicht auf die tatsächlich vorhandene Menge der Hexen zurückzuführen, sondern hat zwei Ursachen: die weite Verbreitung von 1. Unwissen und Aberglauben, 2. Neid und Mißgunst. Die zeitgenössische Ubersetzung von Cautio criminalis ist: „Peinliche Warschawung". Eine moderne Ausgabe (1939) übersetzt: „Rechtliches Bedenken".130 Gemeint ist ein rechtlicher Vorbehalt, der seinen Niederschlag findet in einer genauen kriminalrechtlichen (und auch theologischen!) Überprüfung der juristischen Grundlagen und der Praxis der Rechtsprechung in den Verfahren gegen die angeblichen Hexen und Hexer. Spee kommt in fast allen Einzeluntersuchungen zu der Konstatierung von Rechtswidrigkeit, Inhumanität, Mißbrauch und Mißständen, auf deren schleunige Beseitigung durch Fürsten und Magistrate er dringt. In scharfer Form wendet er sich auch gegen das Denunziantentum. Ausführlich schreibt er über die Folter, gegen deren Anwendung er schwerste Bedenken hat.131 Sollte die Folter, da sie so gefährlich ist, abgeschafft werden? ... Nachdem die genannten Voraussetzungen feststehen, ergibt sich mit Notwendigkeit die in richtiger Form gezogene Schlußfolgerung: daß die Folter beseitigt und ihr Gebrauch gänzlich verboten werden muß. Spee prangert auch die menschenunwürdige, in die Intimität der Frauen eingreifende Behandlung durch die Folterknechte während der Ermittlungen an:132 Gehört es sich, daß die Frauen vor der Folterung durch den Henker rasiert werden? Bevor ich darauf antworte, bitte ich den ehrbaren Leser, er möge mir erlauben, vor seinen Ohren das zu sagen, was man ohne jede Scham an manchen Orten zu tun pflegt. Wenn nämlich die Angeklagte zur Befragung oder Tortur geführt werden soll, dann führt sie der unverschämte Henker zunächst beiseite und rasiert sie akkurat nicht nur am Kopf und an den Achseln, sondern auch an der Stelle, die ihr Frau-Sein ausmacht, oder er brennt das Haar mit einer Fackel ab. Der Grund dafür ist, damit nicht in den Haaren kleine Zaubermittel zurückbleiben, die sie zum Aushalten der Folter befähigen. Ich antworte: Das ist auf keinen Fall erlaubt. Die Gründe dafür sind folgende: 1. Es ist unflätig und schmutzig; die christliche und evangelische Reinheit darf es nicht einmal denken. 2. Bei einem unflätigen und unzüchtigen Menschen ist es mit der Gefahr zu sündigen verbunden ... 4. Es stellt eine allzu große Zumutung für das seiner Natur nach schamhafte weibliche Geschlecht dar, das oftmals eher sterben will, als vor einem unflätigen Drecksack in so enormer Weise in seiner Scham verletzt zu werden ... Es konnte natürlich nicht ausbleiben, daß sich Spee mit seinen unzeitgemäßen Ansichten Feinde, vor allem auch aus Kreisen des Klerus und des eigenen Ordens, zuzog. Denn trotz der Anonymität des Buches sprach es sich bald

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herum, wer der Autor war. Nach dem Erscheinen der zweiten Auflage der Cautio criminalis wurde er bei dem Ordensgeneral Mutius Vitelleschi (1615-1645) denunziert. Der verlangte darauf dreimal den Ausschluß Spees aus der Gesellschaft Jesu. Doch der Kölner Provinzial (und spätere Generalobere) Goswin Nickel protegierte ihn und kam dem Ansinnen seines Vorgesetzten nicht nach.133 Spee war zu dieser Zeit Professor an dem Jesuiten-Kolleg in Paderborn. Nach den Querelen um seine Stellungnahme zu den Hexenprozessen wurde er nach Trier versetzt, wo er eine Professur für Bibelexegese innehatte. Es war die letzte Station seines kurzen Lebens. Friedrich Spee von Langenfeld wurde am 25. Februar 1591 zu Kaiserswerth bei Düsseldorf geboren. Sein Vater, der Amtmann Peter Spee von Langenfeld, war kurfürstlicher Burgvogt der ehemaligen, von dem Kaiser Friedrich Barbarossa erbauten Pfalz. Friedrich wurde an das Gymnasium der Jesuiten in Köln geschickt, wo er eine hervorragende humanistische Bildung erwarb. Es folgte ein zweijähriges Studium der Rechte an der Kölner Universität. 1610 trat Spee in die Gesellschaft Jesu ein. Das Noviziat absolvierte er in Trier, wo er zum ersten Mal mit den Folgen des Hexenwahns konfrontiert wurde; unter anderem erlebte er die Hinrichtung des Schultheißen und ehemaligen Rektors der Universität, Dr. Dietrich Flade. Der Ausbruch der Pest in Trier erzwingt eine Verlegung des Noviziats nach Fulda, wo Spee seine (ersten) Ordensgelübde ablegt. (Zum letzten Gelübde, der Profeß, wurde er nie zugelassen). Es folgt ein dreijähriges Studium der Philosophie (1612-1615) in Würzburg, das er mit dem Magister-Grad abschließt. Danach war er eine Zeitlang in der Jugendseelsorge in den Städten Speyer und Worms tätig, unter anderem als Leiter einer St. Michaels-Sodalität. Wahrscheinlich hat er damals sein erstes Lied gedichtet und komponiert: „Unüberwindlich starker Held, Sankt Michael", dessen einprägsame Melodie noch heute von dem Glockenspiel des Würzburger Bürgerspitals zum Klingen gebracht wird. Von 1619 bis 1623 studierte er in Mainz die Theologie und wurde dort auch zum Priester geweiht. Danach wurde er an die Paderborner JesuitenUniversität als Professor für Philosophie berufen. Er war daneben auch als Seelsorger tätig und führte Gespräche mit protestantischen Bürgern, um sie zur Konversion zu bewegen. Er bemühte sich auch um in der Stadt lagernde italienische Söldner. Um deren Sprache zu erlernen, wollte er sein Terziat (das der Profeß vorausgehende dritte Noviziatsjahr) in Italien verbringen. Doch sein vorgesetzter Provinzial schickte ihn nach Speyer. Kurz darauf mußte er die Vertretung eines philosophischen Lehrstuhls in Köln ünernehmen. Er war dort auch als Seelsorger einer nach Sankt Ursula benannten Frauengemeinschaft tätig. Aus Betrachtungen, zu denen er die Frauen anleitete, entstand sein Güldenes Tugend-Bucb. Seinen Studenten gegenüber äußerte er sich kritisch über die im Jesuitenorden vorgeschriebene, aber nicht mehr vorhandene Armut. Damit handelte er sich eine Strafversetzung in die Gegend der protestantischen Stadt Hildesheim ein, wo er sich der Bekehrung

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der Ketzer widmen sollte. Er zog sich aber offenbar deren Haß zu, denn am 28. April 1629 wurde in Woltorf bei Peine ein Anschlag auf ihn unternommen; von den lebensgefährlichen Verletzungen, die er dabei erlitt, konnte er sich nie mehr ganz erholen. Während der Genesungszeit erteilte Spee den Benediktinern der Abtei Corvey bei Höxter die ignatianischen Exerzitien. Ab November 1629 nahm er in Paderborn eine Professur für Moraltheologie wahr. Infolge seiner kritischen Haltung zu den Hexenprozessen, aus der er auch in seinen Vorlesungen keinen Hehl machte, wurde ihm mitten im Studienjahr 1629/1630 die Lehrerlaubnis entzogen. Er durfte nur noch als Beichtvater tätig sein. Er arbeitete aber insgeheim am der Cautio criminalis, die im Mai 1631 anonym erschien und einen großen Wirbel auslöste. Spee wurde zunächst nach Köln, anschließend nach Trier versetzt, wo er wieder die Moraltheologie lehren durfte. Die Übernahme einer Professur für Exegese nach zwei Jahren bedeutet seine endgültige Rehabilitation im Orden. In Trier konnte Spee sein dichterisches Hauptwerk Trutz Nacbtigal vollenden. Im März 1635 erreichte der Dreißigjährige Krieg die Gegend von Trier. Spee nahm sich intensiv der Pflege der verwundeten Soldaten, auch der gefangenen Franzosen an. Dabei infizierte er sich mit der Pest, die ihn am 7. August 1635 dahinraffte. Er war nur 44 Jahre alt geworden. Man bestattete ihn in aller Eile in der Jesuitenkirche. Dort wurde sein Grab am 16. Oktober 1980 bei archäologischen Grabungen, die unter der Leitung des damaligen Regens des Trierer Priesterseminars und späteren Domherrn ANTON ARENS stattfanden, wieder aufgefunden.134 Wegen seiner nicht perfekten Gehorsamshaltung eignet sich Friedrich Spee wohl nicht für eine Heiligsprechung. Auch hat er auf postmortale Wundertaten, die bis heute für eine Kanonisation erforderlich sind, offenbar verzichtet. Der Höhepunkt von Spees dichterischem Schaffen liegt zweifellos in der Trutz Nachtigal vor. Trutz Nacbtigal nennt er das Büchlein, „weil es trutz allen Nachtigalen süß, und lieblich singet", und zwar in der deutschen Sprache, in der es bisher an Dichtern gemangelt habe. Das Werk ist eine religiöse Dichtung von großer Kraft und Ursprünglichkeit, die gleichwohl antiken Vorbildern verpflichtet ist. Der Vorspruch des Autors lautet:135 Sicelides Musae Sacrum decorate Poetam Qui vos Germano nunc facit ore loqui.

Außerdem hat Friedrich Spee zahlreiche Kirchenlieder vefaßt, von denen viele bis heute im Gebrauch sind. Einem anderen literarischen Genus gehört das Güldene Tugend-Buch an, von dem je eine Handschrift in der Landes- und Stadtbibiothek Düsseldorf (Signatur: B 128) und der Bibliothèque Nationale zu Paris (Signatur: ALL. 134) erhalten ist. Im Druck erschien das Buch zum ersten Mal 1649 in Köln. Es handelt sich um eine meditative Einführung in den christlichen Glauben, zum Teil in Dialogform, mit Fragen und Antwor-

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ten; der Inhalt ist im wesentlichen der gleiche wie in den Katechismen. Es entstand, wie schon bemerkt, aus Spees Frauen-Seelsorge in Köln.

5. Die „Frühvollendeten" Schon in der zweiten Hälfte des 16. und in den beiden ersten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts brachten es drei junge Novizen des Jesuitenordens in ihrem kurzen Leben zur Heiligkeit. Die Tugend, in der sie ein heroisches Maß erreichten, war, wie nicht anders zu erwarten, die Keuschheit. Als ich an dem römischen Collegium Germanicum studierte, gehörten die „Philosophen", d.h., die Angehörigen der drei ersten Jahrgänge, zur Camera Sancti Stanislai. Für sie wurde regelmäßig durch den vorgesetzten Präfekten angesagt, daß „man" einmal in der Woche das Grab des heiligen Stanislaus Kostka in der Kirche S. Andrea al Quirinale aufzusuchen und dort das Gebet „Frühvollendet" aufzusagen habe. Ich konnte dieses Gebet nicht vergessen, weil ich es nie auswendig gelernt hatte. Später fiel mir dann ein verbreitetes Andachtsbüchlein in die Hände, das Gebete und Andachtsübungen zu Stanislaus Kostka und dem zweiten „Frühvollendeten" des Jesuitenordens, Aloysius Gonzaga, enthält.136 Es zählt, um es vorsichtig auszudrücken, zu den weniger erfreulichen Produkten religiöser Literatur, beleuchtet aber schlagartig die Mentalität und die Grundsätze, die der Orden (immerhin über fast vier Jahrhunderte) bei der Jugenderziehung meinte anwenden zu müssen. Stanislaus Kostka Der Jüngste, dem ohne Marterkrone Der Kirche Verehrung ward zum Lohne: Mit diesen Versen beginnt eine „Kurze neuntägige Andacht zu Ehren des heiligen Stanislaus Kostka" in dem erwähnten Gebetbüchlein. Der Anfang des ersten Gebetes zu dem Heiligen hat folgenden Wortlaut:137 Unschuldigster, heiliger und mein besonderer Patron Stanislaus! O wie werde ich beschämt, wenn ich deine Unschuld mit meiner sündhaften Aufführung vergleiche. Ach, habe Mitleid und verschaffe mir den wahren Geist der Buße, damit ich die verlorne Unschuld wieder erlange, und mich auf den Weg des Heils zurück begebe. Ein weiteres Gebet, das „täglich zu Ehren des Heiligen zu beten" ist, beginnt folgendermaßen: Unschuldigster und seraphischer heiliger Jüngling Stanislaus! Ich, dein unwürdiger Diener und andächtiger Verehrer , werfe mich demüthig hin vor den

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Thron deiner Glorie; mit lebhafter Andacht demüthige ich mich vor dir, und opfere mich dir auf. Ich freue mich mit dir über jene große Fülle der Seligkeit, die du jetzt als Lohn für deine unversehrte Unschuld und flammende Liebe genießest. Ich benedeie tausend und abermal tausend Mal die heiligste Dreieinigkeit, welche dir auf Erden mit den zärtlichsten Liebkosungen ihrer Gnade zuvorkam. Wir zitieren diese Passagen nicht, um beim Leser Heiterkeit oder Spott zu erzeugen, sondern weil sie charakteristisch sind für die von den Jesuiten bei ihrem eigenen Ordensnachwuchs und in den so genannten Jünglings-Vereinen und Marianischen Jünglings-Kongregationen gepflegte Frömmigkeit. 138 In einer Betrachtung „über die jungfräuliche Reinheit des heil. Stanislaus" am zweiten Tag der Novene heißt es: Stanislaus verdiente den Namen des Engels im Fleische wegen seiner unversehrten Reinheit, und er war so eifersüchtig in Bewahrung dieser Lilie, daß ein zweideutiges, weniger reines Wort hinreichte, um ihn zu erschüttern, erbleichen und ohnmächtig auf die Erde hinsinken zu machen. Was hier meditiert werden soll, bezieht sich auf ein aus der Kindheit des Heiligen überliefertes Phänomen: „ein einziges zu freies Wort", das im Gespräch der Erwachsenen verlautete, ließ ihn in Ohnmacht fallen. Die Geschichte geht auf eine Aussage seines älteren Bruders Paul in den Ermittlungen zur Vorbereitung der Heiligsprechung zurück. Der polnische Jesuit JOSEPH M A J K O W S K I , der sich um eine eingehende psychologische Analyse der Persönlichkeit von Stanislaus Kostka bemüht hat, äußert zu dem Phänomen der Ohnmachtsanfälle nur vage Vermutungen.139 Der Hinweis auf die letztlich durch die Mutter bestimmte extrem religiöse Erziehung dürfte indes zutreffen. Wenn das Kind bei obszönen Männergesprächen oder dem, was es dafür hielt, das Bewußtsein verlor, so sieht das ganz nach einer Programmierung durch die Mutter aus. (P. M A J K O W S K I möchte eine übernatürliche Ursache dafür nicht ganz ausschließen!). Stanislaus Kostka wurde am 28. Oktober 1550 in Rostkow bei Przasnysz (Provinz Mazowsze) als Sproß einer adeligen, sehr wohlhabenden Familie geboren.140 In der St. Adalberts-Kirche von Przasnysz wurde er getauft. Seine Eltern waren Johann Kostka und Margareta Kryska. Mit dreizehn Jahren (1564) schickte ihn sein Vater zusammen mit seinem zwei Jahre älteren Bruder Paul und einem Hofmeister namens Bilinski zum Studium an das Jesuiten-Kolleg in Wien. Das Kolleg wurde jedoch schon bald darauf, nach dem Tode seines Gründers und Protektors, des Kaisers Ferdinand I., geschlossen. Die Brüder Kostka und ihr Hofmeister bezogen darauf eine Wohnung im Hause eines Lutheraners. Stanislaus, der viel Zeit mit religiösen Übungen zubrachte, konnte sich mit dieser Situation nicht abfinden, im Gegensatz zu seinem Bruder, der einem eher lockeren Lebenswandel zugeneigt war. Dar-

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über kam es zu ernsthaften Differenzen, die offenbar auch in Mißhandlungen durch den Alteren ausarteten. Stanislaus wurde schwer krank. Nach einer plötzlichen Heilung durch die Jungfrau Maria ersuchte er den Wiener Provinzial um Aufnahme in die Gesellschaft Jesu. Als sie ihm verweigert wurde, verließ er um die Mitte August 1567 insgeheim Wien, um über Augsburg und Dillingen nach Rom zu gelangen. In dem Kolleg von Dillingen mußte sich Stanislaus auf Anweisung des Provinzials der Oberdeutschen Ordensprovinz, Petrus Canisius, niederen Diensten unterziehen. Nachdem er alle Prüfungen seiner Gesinnung bestanden hatte, entsandte der Provinzial ihn nach Rom. Zusammen mit zwei jungen deutschen Jesuiten traf er am 25. Oktober 1567 in dem römischen Noviziat der Gesellschaft Jesu ein. Der Ordensgeneral Francisco Borja, der von seiner bevorstehenden Ankunft unterrichtet worden war, nahm ihn persönlich auf. Sein Vater, der mit der Lebensentscheidung von Stanislaus keineswegs einverstanden war und durch dessen Eintritt in die Gesellschaft Jesu den Adel seines Hauses geschändet sah, sandte ihm einen Drohbrief nach, in dem er Maßnahmen gegen die polnischen Jesuiten ankündigte. Aber Stanislaus ließ nicht mehr beirren. Während der Probezeit soll sich der junge Novize durch einen vollkommenen Gehorsam, strenge Bußübungen und eine engelgleiche Keuschheit ausgezeichnet haben. Außerdem war er von Todesahnungen und Todessehnsucht erfüllt. Der Tod erreichte ihn, nach kurzer fiebriger Krankheit, in der Mitte des römischen Ferragosto, in der Nacht der Vigil von Mariae Himmelfahrt, am 14./15. August 1568. Clemens VIII. Aldobrandini sprach Stanislaus Kostka am 18. Februar 1604 selig. Clemens XI. Albani verehrte ihn am 13. November 1714 in S. Andrea al Quirinale als Heiligen. Doch folgte die formelle Kanonisation erst am 31. Dezember 1726 durch den Papst Benedikt XIII. Orsini, zusammen mit der des Aloysius Gonzaga. Aloysius Gonzaga Im Todesjahr von Stanilaus Kostka, 1568, am 9. März, wurde der zweite der „engelgleichen" Jünglinge des Jesuitenordens, Aloysius Gonzaga, in der Burg von Castiglione delle Stiviere geboren. Die süßlichen, durch die Jesuiten propagierten Devotionsformen haben im Falle dieses Heiligen wahre Exzesse gezeitigt. BURKHART SCHNEIDER, der den Artikel über ihn im Lexikon für Theologie und Kirche verfaßt hat, bemerkt dazu: „Seine Gestalt, oft verzeichnet, erweist sich besonders seit Herausgabe seiner Briefe und anderer Schriften ... als auch heute noch gültiges Vorbild."141 Die Bemerkung von P. SCHNEIDER ist insofern zutreffend, als sich aus den Briefen, deren ersten der zehnjährige Luigi aus Florenz an seinen Vater geschrieben hat, das Bild eines zwar sehr braven, aber doch durchaus normalen jungen Mannes ergibt, dem jede Exaltiertheit fremd ist.142 Eine besondere „Vorbildlichkeit" für heute ist

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daraus nicht zu erkennen, es sei denn das Verlassen der „Welt" und der Eintritt in den Jesuitenorden werden als vorbildlich angesehen. Luigi oder Aluigi, wie er als Kind genannt wurde, entstammte der Familie der Marchesi (Markgrafen) Gonzaga von Castiglione delle Stiviere, die mit den mächtigeren Gonzaga von Mantua verwandt waren.143 Seine Eltern waren Don Ferrante Gonzaga und Donna Marta aus der Familie der Marchesi Tana di Santena von Chieri bei Turin. Luigi war das älteste Kind des Markgrafenpaares; seine Geburt war kompliziert, und die Hebamme, die um das Uberleben des Kindes fürchtete, nahm eine Nottaufe vor. Die feierliche Taufe wurde unter großer Anteilnahme der Bevölkerung des kleinen Fürstentums am 20. April 1568 nachgeholt. Luigi behielt zeitlebens eine zarte körperliche Konstitution und war anfällig für Krankheiten. Im Jahre 1573 wurde der Fünfjährige in Casal Maggiore in das Militärleben eingeführt; die kleinen Streiche von damals, wie das Abschießen einer Kanone, beweinte er später als seine „großen Sünden". 1576, als Luigi acht Jahre alt war, floh die markgräfliche Familie vor der in der Lombardei ausgebrochenen Pest nach Monferrato. Im folgenden Jahr begleiteten er und sein jüngerer Bruder Rodolfo den Vater in die Bäder von Lucca, wo der Markgraf Linderung seines rheumatischen Leidens suchte. Auf der Rückreise von der Kur (August/September 1577) wurden die Brüder nach Florenz gebracht, wo sie studieren und am Hof des Großherzogs Francesco de' Medici (fl587) als Pagen erzogen werden sollten. Don Ferrante Gonzaga hatte den Großherzog in Madrid kennengelernt. Während des zweijährigen Aufenthalts in Florenz hatte Luigi an den Feiertagen Pagendienste am Hof zu leisten; er vergnügte sich auch, zusammen mit den Töchtern des Großherzogs, Eleonora, Anna und Maria, an Ballspielen. (Eleonora wurde als zweite Gemahlin von Vincenzo Gonzaga Herzogin von Mantua; Anna starb 1584 im Alter von fünfzehn Jahren; Maria ist die spätere Königin von Frankreich, Gemahlin Heinrichs IV. und Mutter Ludwigs XIII.). An den Werktagen ging Luigi zu den Jesuiten in die Schule, wo er Latein, Französisch und Spanisch lernte. Damals hatte er ein erstes Bekehrungserlebnis: er legte eine Generalbeicht ab und gelobte ewige Jungfräulichkeit - was nicht unbedingt auf „übernatürliche" Eingebungen zurückgeführt werden muß (er war gerade elf Jahre alt!). Es liegt näher, an den Einfluß der Väter der Gesellschaft Jesu zu denken, die einem Jungen in diesem Alter einredeten, was für ein großer Sünder er sei. Im Juni 1580 kehrte Luigi nach Castiglione zurück. Nach Darstellung eines seiner Biographen hatte er dort „das Glück", dem Kardinal Carlo Borromeo zu begegnen, der sich auf einer Visitationsreise durch die Diözese Brescia befand. Der als Kirchenreformer im Gefolge des Konzils von Trient hochgepriesene Erzbischof von Mailand war ein düsterer Heiliger, mit beschränkten und fanatischen Charakterzügen. Er examinierte den mittlerweile zwölfjährigen Luigi und ließ ihn danach zur Erstkommunion zu. (Der Maler Andrea Pozzo hat die Szene der Kommunion Luigis aus der Hand des Carlo

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Borromeo über dem Grab des Heiligen in der Kirche S. Ignazio zu Rom in idealisierender Weise dargestellt). 1581 soll Luigi in Casal Monferrato den Entschluß zum Ordensleben gefaßt haben. Die Anziehungskraft der Jesuiten war um diese Zeit gewaltig: unter dem Generalat des Niederländers Everard Mercurianus (1573-1580) hatte die Mitgliederzahl des Ordens 5 000 überschritten. Vorerst folgte Luigi aber noch den „weltlichen" Plänen seines Vaters: im September 1581 reiste er über Genua nach Spanien, um als Page am Hof Philipps II. diplomatische Kenntnisse zu erwerben. Aus dieser Zeit ist eine panegyrische Rede erhalten, die er bei der Rückkehr des Königs von Lissabon am 29. März 1583 hielt. (Philipp hatte soeben auch die Krone von Portugal übernommen).144 In der Zeit seines Dienstes am spanischen Hof hatte er Gelegenheit, die Briefe zu lesen, die Missionare der Gesellschaft Jesu „aus den indischen Territorien" nach Europa gesandt hatten. Die Lektüre dieser Berichte gab wohl den Ausschlag für seine Entscheidung, in den Jesuitenorden einzutreten, um später ebenfalls als Missionar in den überseeischen Gebieten wirken zu können. 1584 nach Italien zurückgekehrt, teilte Luigi seinem Vater den Entschluß mit. Doch der war keineswegs davon begeistert und sandte den Sohn zunächst einmal in diplomatischen Geschäften an verschiedene italienische Höfe, vielleicht in der Hoffnung, daß der Erbe seines Fürstentums bei einer der herrschenden Familien seine zukünftige Gemahlin kennenlernen würde. In Mailand hielt sich Luigi über ein halbes Jahr auf und studierte am Collegio di Brera Physik. Im Juli 1585 reiste er nach Mantua, wo er die Exerzitien machte. Anschließend kehrte er nach Castiglione zurück. Es gelang ihm, die Bedenken seines Vaters gegen seinen Ordenseintritt zu zerstreuen. Am 2. November 1585 verzichtete er auf sein dynastisches Erbe. Zwei Tage später machte er sich auf den Weg nach Rom, wo er am 25. November in das Noviziat von S. Andrea al Quirinale eintrat. Nach dem ersten Noviziatsjahr wurde er nach Neapel geschickt, wo er seine in Spanien und Mailand begonnenen Philosophie-Studien fortsetzen sollte. Am 8. Mai 1587 kehrte er nach Rom zurück. Er beendete die Philosophie und begann mit der Theologie am Collegium Romanum. Spiritual des Kollegs und damit Seelenführer Luigis war der spätere Kardinal Robert Bellarmin.145 Am 25. November, dem Fest der heiligen Katharina, legte er seine ersten (einfachen) Ordensgelübde ab. In einem auf den 11. Dezember datierten Brief teilt Luigi das Ereignis seiner Mutter mit, zusammen mit einer Bitte um Geld. Aus dem Brief geht auch die Unzufriedenheit mit der Regierungsführung seines Bruders Rodolfo hervor (der Vater war am 13. Februar 1586 in Mailand gestorben).146 Das zweite Jahr der Theologie (1588) verlief ohne besondere Ereignisse. Im Jahre 1589 sah sich Luigi genötigt, sein Studium zu unterbrechen: er reiste nach Mantua, um zwischen seinem Bruder und dem Herzog Vincenzo Frieden zu stiften. Er konnte Rodolfo auch überreden, seine geheime, aber dennoch skandalöse Ehe mit Elena Aliprandi, der Tochter seines Münzmeisters,

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publik zu machen. Im Mai 1590 kehrte Luigi nach Rom zurück, um sein theologisches Studium fortzusetzen. Er hatte vor, als Missionar nach Asien zu gehen. Anfang des Jahres 1591 brach in Rom eine Typhus-Epidemie aus. Bei der intensiven Pflege der Kranken, der er sich in verschiedenen Hospitälern widmete, zog sich Luigi selbst die tödliche Krankheit zu. Er starb am 21. Juni 1591 in der Infirmerie des Collegio Romano. Sein wochenlanger Einsatz für die Kranken hatte die „heroische Vollkommenheit" des „engelgleichen Jünglings" in ganz Rom bekannt gemacht. Die postmortale Anerkennung der Heiligkeit Luigi Gonzagas erfolgte in mehreren Schritten: Am 12. Mai 1604 billigte eine Diözesansynode in Mantua den Kult des „Seligen"; am 21. Juni 1604 feierte die Diözese Brescia zum ersten Mal sein Fest; am 28. Juli des gleichen Jahres fand in seiner Heimatstadt Castiglione delle Stiviere ein großes Fest in Gegenwart seiner Mutter und der gesamten Familie Gonzaga statt; am 19. Oktober 1605 sprach der Papst Paul V. Borghese Aloysius selig; Clemens X. Altieri ließ ihn am 31. Dezember 1672 in das Martyrologium Romanum aufnehmen;147 am 31. Dezember 1726 wurde er, zusammen mit Stanislaus Kostka, durch den Papst Benedikt XIII. Orsini kanonisiert. Wie aus den von den Jesuiten verbreiteten Andachtsbüchern zu Aloysius und seinem Vorläufer Stanislaus Kostka zu sehen ist, geht es bei dem Kult dieser „weißen Märtyrer" vor allem um die Bewahrung der „engelgleichen" Tugend der Keuschheit, prosaischer ausgedrückt: um den Kampf gegen die Onanie.148 Die Keuschheits-Ideologie wurde von der Gesellschaft Jesu, später auch von ihr ähnlichen Orden, wie den Redemptoristen, in der Kirche ganz allgemein in Volksmissionen, Jünglingsvereinen, Marianischen Kongregationen, besonders aber in den Kollegien und Priesterseminaren propagiert. Der Papst Johannes XXIII. Roncalli (1958-1963), von dem viele „moderne" Theologen die Aufhebung des Priesterzölibats erwarteten, rief wenige Monate nach seiner Wahl alle römischen Seminaristen in der Kirche S. Ignazio zusammen, um sie auf „die Gabe der heiligen Reinheit" einzuschwören. Er selbst, so erzählte er in seiner Predigt, habe als Student wöchentlich das Grab des heiligen Aloysius aufgesucht, um für die Erhaltung seiner Keuschheit zu beten. Innerhalb des Jesuitenordens hatte sich zu dieser Zeit schon das Studium der Psychologie nach S. F R E U D und C . G . J U N G ausgebreitet. Um die Mitte des 20. Jahrhunderts vefügte der Orden, neben den Langweilern, die weiterhin die „philosophische" Psychologie dozieren mußten, über exzellente „experimentelle" Psychologen und Psychoanalytiker.149 Die beiden Lehrer, bei denen ich in Rom die „Psychologia experimentalis" studierte, der Deutsche H U B E R T T H U R N (fl989) 150 und der Kanadier G E O R G E S C R U C H O N 1 5 1 machten (allerdings nur mündlich!) keinen Hehl daraus, daß sie von der Keuschheits-Ideologie und der Dämonisierung der Sexualität überhaupt nichts hielten und die „frühvollendeten", „engelgleichen" Jünglinge des Ordens in ihren Augen keine Vorbilder für die Jugend, sondern Psychopathen waren.

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Wie Stanislaus Kostka und Aloysius Gonzaga hat auch der dritte der heiligen Jesuiten-Jünglinge, Johannes Berchmans, eine Zeitlang an dem Collegium Romanum studiert. Er wurde am 13. März 1599 zu Diestheim in Flandern geboren. Seine erste religiöse Unterweisung erhielt er im Alter von zehn Jahren bei einem Prämostratenser namens Peter Emmerich, in dessen Haus er als Zögling untergebracht war. Am 24. September 1616 trat er in Mecheln in die Gesellschaft Jesu ein. Das Philosophie-Studium begann er im Herbst 1618 an dem Kolleg in Antwerpen. Schon nach wenigen Wochen wurde er, zusammen mit einem Studiengenossen, nach Rom geschickt. Am 24. Oktober 1618 traten sie die Reise an. Sie begannen beide am 2. Januar 1619 ihre philosophischen Studien am Collegium Romanum. Bei der Übertragung der Reliquien des heiligen Aloysius nach S. Ignazio am 15. Juli 1520 ministrierte Johannes Berchmans in der Prozession als Leuchterträger (Cerofer). Er starb am 13. August 1621 nach kurzer fiebriger Krankheit und wurde in S. Ignazio gegenüber der Grabstätte seines Vorbilds Aloysius bestattet. Uber Johannes Berchmans haben seine Ordensbrüder so viel Unsinn kolportiert, daß sich einem die Haare sträuben.152 Der ehemalige Jesuit und Professor an der Gregoriana ALIGHIERO TONDI hat davon eine Blütenlese zusammengestellt, die eigentlich zusätzliche Kommentare überflüssig macht.153 Berchmans war von der Tugendhaftigkeit des seligen Aloysius so entflammt, daß sein Vorgesetzter, als er eine Predigt von ihm hörte, um seine Gesundheit fürchtete. Um die nächtliche Onanie zu vermeiden, gewöhnte er sich an, während des Schlafes bewegungslos in der gleichen Stellung zu liegen. Er schrieb, den Anblick der Frauen habe man zu fliehen wie den Anblick von Basilisken. Schon als Kind soll er nicht geduldet haben, daß Frauen und Männer (!) ihn berührten. Um der Versuchungen des Fleisches Herr zu werden, geißelte er sich dreimal wöchentlich; er biß sich auch die Lippen blutig und kniff sich in die Arme, daß blaue Flecken zurückblieben.154 Eine Ergebenheitsadresse an die Jungfrau Maria unterschrieb er mit seinem Blut. Wenn Johannes diese Masochismen und Perversionen unter Aufsicht seiner jesuitischen Oberen praktizieren konnte, so ist das schlimm genug. Verhängnisvoller ist aber, daß dergleichen Unfug „der Jugend" des Ordens, der Kirche (dem Priesternachwuchs) und der katholischen Laienverbände als vorbildlich hingestellt wurde. Es ist wohl nicht ganz abwegig, in solchen exzessiven Lebens- und Devotionsformen Keime der Dekadenz und des Zerfalls religiöser Bewegungen zu sehen.

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6. Geisteskämpfe des 17. und 18. Jahrhunderts Die Geschichte der Gesellschaft Jesu ist eine Geschichte theologischer und politischer Kämpfe. Daß die Jesuiten seit den Anfängen ihres Ordens bei den Protestanten zu den bestgehaßten Gegnern zählten, ist nicht verwunderlich. Aber sie hatten zu allen Zeiten auch innerhalb der Katholischen Kirche erbitterte Feinde, die sie am liebsten mit dem Makel der Häresie behaftet hätten. In der Gründungszeit der Gesellschaft fanden sie in dem Dominikaner Melchior Cano ihren konsequentesten und entschiedensten theologischen Widersacher.'55 Noch vor dem Ende des 16. Jahrhunderts erschien in Frankfurt die erste Auflage der Historia Jesuitici Ordinis, des Lutheraners und ehemaligen Jesuitennovizen Elias Hasenmüller.156 Der Autor war vor der Veröffentlichung des Werkes (1593) gestorben. Ein Bekannter, Dr. Polykarp Leiser aus Braunschweig, dem er das Manuskript überlassen hatte, schickte das Buch mit einem Widmungsschreiben an den Jesuitengeneral Claudius Acquaviva. Das Werk ist geprägt von der Gehässigkeit eines Apostaten, dennoch enthält es zahlreiche wertvolle Informationen, wie sie nur ein „Insider" geben kann. Überdies ist es ein Zeugnis für den weitverbreiteten Haß, der der Gesellschaft Jesu schon ein halbes Jahrhundert nach ihrer Gründung entgegenschlug. Der Geist der Aufklärung kündigt sich schon an, wenn die La Storta-Vision des Ignatius und andere Offenbarungen als unglaubwürdig glossiert werden. Schon ein Jahr nach der Erstveröffentlichung erschien, ebenfalls in Frankfurt, eine deutsche Ubersetzung des Braunschweiger evangelischen Pfarrers Melchior Leporinus.157 Ebenfalls 1594 brachte der in Deutschland sehr bekannte Jesuit Jakob Gretser (1562-1625), Theologieprofessor in Ingolstadt, unter dem Titel Historia Ordinis Iesuitici eine Widerlegung und Berichtigung des Pamphlets von Hasenmüller heraus.158 Eine zweite Auflage der Historia von Hasenmüller veröffentlichte Leiser 1595, mit einer Replik auf Gretsers „Sophismen".159 Venedig Der erste große Konflikt mit einem Staat, in den die Gesellschaft Jesu hineingezogen wurde, war die Auseinandersetzung des Papstes Paul V. Borghese mit der Republik Venedig. Es ging um die vom Papst beanspruchte Oberhoheit über die weltlichen Regierungen, wenn es sich um geistliche Angelegenheiten handelte, eine Lehre, die auch von dem Jesuiten-Kardinal Robert Bellarmin in seinem Traktat De potestate Summi Pontificis in rebus temporalibus (1610) vertreten wurde. Die auf ihre staatskirchlichen Traditionen pochende Republik des heiligen Markus dachte nicht daran, sich dem päpstlichen Anspruch zu beugen. Der Konflikt, der hier im einzelnen nicht dargestellt werden kann, erreichte seinen Höhepunkt in den Jahren 1605-1607 mit

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der Verhängung des Interdikts über das Gebiet der Republik und der Exkommunikation des Senats von Venedig durch Paul V. Beides wurde in Venedig nicht beachtet: die mittelalterlichen Waffen des Papsttums waren stumpf geworden. Die Republik wies ihrerseits die als besonders papsttreu geltenden Jesuiten, Kapuziner und Theatiner aus ihrem Gebiet aus.160 Als Berater in staatskirchenrechtlichen und theologischen Fragen diente den venezianischen Behörden der dem Servitenorden angehörende Paolo Sarpi (1552-1623).'" Der abgrundtiefe Haß, den er auf das Papsttum hatte, galt auch den Jesuiten. Gesinnungsgenossen fand er in hochrangigen französischen Politikern, mit denen er eine lebhafte Korrespondenz führte.'62 Einer von ihnen war Jacques Leschassier (1550-1625), ein angesehener Jurist, den Heinrich IV. als Ratgeber heranzog. In einem Brief an ihn (Venedig, 28. September 1610)'63 warnt er ihn vor den Jesuiten, in denen er eine Gefahr für die Freiheit der Kirche Frankreichs sieht. In der von den Jesuiten vertretenen Auffassung von der Erlaubtheit des Tyrannenmordes sieht er keinen Grund zur Aufregung, da diese Theorie in Italien allenthalben vertreten wird. Gefährlicher scheint ihm da schon das Werk Bellarmins zu sein, in dem „die Lehre von der Allmacht des Papstes" verteidigt wird; konkret geht es um die Macht, die Fürsten zu exkommunizieren, die Untertanen von Treueid und Gehorsam zu entbinden, ferner die Fürsten ihrer Herrschaften zu berauben, und zwar nicht nur wegen einer Schuld, sondern aus einem beliebigen Grund, den der Papst für ausreichend hält. Begründet wird das damit, daß der Papst für die Angelegenheiten der Christen verantwortlich ist und für das Wohl der Kirche sorgen muß. Sarpi sieht in dieser Argumentationsweise „eine mehr als jesuitische Frechheit und Unverschämtheit". 1 " Er meint, daß der Plan für De potestate Summi Pontificis in Rom ausgeheckt worden sei, um nach dem Tode des Königs Heinrich IV. (14. Mai 1610) in Frankreich verlorengegangenes Terrain wieder zu gewinnen. In einem Brief an den gleichen Adressaten vom 27. März 1612 warnt Sarpi vor den Jesuiten als Erziehern der Jugend.165 Selbst Frauen und Mädchen sind vor ihrer Geldgier nicht sicher. Mit der Castiglione genannten Stadt verhält sich die Sache folgendermaßen: Der Ort liegt zwischen Verona und Brescia; er gehört zur Diözese Brescia, steht aber unter der Herrschaft des Marchese [Francesco] Gonzaga, des Bruders des Jünglings, den die Jesuiten zu einem Seligen und Heiligen gemacht haben und den sie den „seligen Aloisius" nennen. Der Ort hat eine kleine Burg, im übrigen ist es ein Dorf, wo ungefähr 2000 Männer und Frauen, fast alle Bauern, leben, nicht nur in Armut, sondern im Elend. Nach ihrer Vertreibung aus dem Herrschaftsgebiet von Venedig haben die Jesuiten dort ein Kolleg errichtet, und sie wollen, wie Du aus dem [beigefügten] Dekret entnehmen kannst, nicht nur junge Männer, sondern auch Mädchen erziehen. Wenn diese Mädchen, die sie unter den Einwohnern von Brescia und Verona aufsammelten, sich etwas haben zuschulden kommen lassen, dann müssen sie entweder abreisen oder Hungers sterben. Ihr dürft glauben, daß die hinterhältigen Anschläge, die sie in Italien anzetteln,

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nichts sind im Vergleich zu denen, die sie in Konstantinopel betreiben, wo sie nämlich alles in die Wege leiten, um die Türken gegen uns aufzuhetzen. Ich hoffe vergeblich, daß sie mit ihren Versuchen aufhören. Doch kann sich niemand von Rachegefühlen freihalten, wenn soche Leute sich für Christen, ja die alleinigen Christen ausgeben. Die Jesuiten werden hier als Verderber der Jugend und politische Intriganten charakterisiert. An anderer Stelle hat Sarpi geschildert, wie sie die Beicht gewissermaßen neu erfundeen haben und als Mittel zur Stärkung der päpstlichen Macht einsetzen.166 Die an tijesuitische (keineswegs unbegründete) Polemik Sarpis zeitigte ihre Wirkung vor allem in den gebildeten und politisch verantwortlichen Kreisen Italiens und Frankreichs. Port-Royal Schon lange bevor in Europa das Geschrei um die Auflösung der Gesellschaft Jesu allgemein wurde, hatten sich die Jesuiten im Frankreich Ludwigs XIII. und Ludwigs XIV. zahlreiche und mächtige Gegner gemacht, und zwar in den Auseinandersetzungen um den Jansenismus und dessen geistige Hochburg, die Cistercienserinnen-Abtei Port-Royal bei Paris. Hauptsächlich wegen der Teilnahme des „großen" Antoine Arnauld d'Andilly (1612-1694) und des Philosophen Blaise Pascal (1623-1662) hat EBERHARD GOTHEIN darin den „wichtigsten Geisteskampf" gesehen, „den Frankreich bis zu den Zeiten der Revolution durchgemacht hat".167 Uns interessiert dieser Geisteskampf hier nur, insofern der Jesuitenorden durch die in ihm aufgeheizte Polemik betroffen war.168 In dem Konflikt ging es um das Verhältnis von göttlicher Gnade und menschlicher Willensfreiheit. Er wurde ausgelöst durch das monumentale dreibändige Werk Augustinus des Cornelius Jansenius (1585-1638), Bischofs von Ypern, dessen ersten Auflage posthum 1640 in Löwen erschien. Das Werk gilt wegen der in ihm dargestellten und vertretenen streng augustinischen Gnadenlehre als fundamentale Schrift des so genannten Jansenismus. Hauptvertreter der jansenistischen Lehre war der schon erwähnte Antoine Arnauld, jüngster Bruder der Äbtissin von Port-Royal, Mère Angélique Arnauld (1591-1661). Er verteidigte die Gnadenlehre des Augustinus in zwei Schriften: Apologie de M. Jansenius (1644) und: Apologie pour les Saints Pères (1651); er bestärkte die Klosterfrauen von Port-Royal, in dessen Nähe er eine Zeitlang als Einsiedler lebte, in ihrem Widerstand gegen die kirchliche und staatliche Gewalt. Der Jansenismus wurde durch die Theologische Fakultät der Pariser Universität und anschließend durch eine Bulle des Papstes Innocenz X. Pamphili (31. Mai 1653) verurteilt. Mit den Jesuiten legte sich Arnauld an wegen ihrer auf den Schriften Molinas basierenden „laxen" Moral, vor allem wegen des von dem Orden propagierten häufigen Kommunionempfangs. Zu diesem Gegenstand hatte er ebenfalls zwei Schriften veröffent-

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licht: De la fréquente communion (1643) und: La tradition de l'Église sur le sujet de la pénitence et de la fréquente communion (1644). Der Streit wurde erheblich verschärft, als Pascal mit seinen Lettres Provinciales, den fingierten Briefen an einen Provinzbewohner über die gegenwärtigen Disputationen an der Sorbonne, in ihn eingriff.169 Der erste der Briefe wurde am 23. Januar 1656 veröffentlicht. Pascal verteidigt darin vor allem Arnauld und die Lehre von der gratia efficax, die erforderlich ist, um unseren Willen zu determinieren, damit er das Gute vollbringen kann. In dem zweiten Brief setzt er sich schon polemisch mit dem von den Jesuiten propagierten Begriff der „hinreichenden Gnade" (grâce suffisante) auseinander. Die dritte Provinciale verteidigt wiederum das Gnadenverständnis Arnaulds. In der vierten greift Pascal, in einem fingierten Dialog mit einem Vertreter der Gesellschaft, die positive Auffassung der Jesuiten von der menschlichen Natur an. In der fünften stellt er mit beißender Ironie die fragwürdige, doppelzüngige Moral der Jesuiten bloß.170 Sie müssen wissen, daß ihr Ziel nicht darin besteht, die Sitten zu verderben; das ist nicht ihre Absicht. Aber sie haben auch nicht als einziges Ziel, sie zu reformieren; das wäre nämlich eine schlechte Politik. Ihr Gedanke ist folgender: Sie haben eine so hohe Meinung von sich selbst, daß sie glauben, es sei nützlich und notwendig für das Wohl der Religion, wenn ihr guter Ruf sich überall verbreitet und wenn sie alle Gewissen leiten. Und weil die evangelischen, strengen Maximen gut geeignet sind, bestimmte Personenkreise zu leiten, bedienen sie sich ihrer bei den Gelegnheiten, wo sie ihnen günstig sind. Aber weil die gleichen Maximen mit den Absichten der meisten Menschen nicht übereinstimmen, lassen sie sie im Hinblick auf diese beiseite, damit sie alle Welt zufriedenstellen können. In dem gleichen Brief macht Pascal den Jesuiten auch zum Vorwurf, daß sie in ihren Missionsgebieten Indien und China die Verkündigung des Evangeliums den bei den Heiden herrschenden Vorstellungen anpassen, indem sie den Skandal des Kreuzes unterdrücken und nur Jesus Christus in seiner Glorie predigen. Im ganzen bekämpft Pascal die Jesuiten als politische und ideologische Gegner, weil er in ihren theologischen Prinzipien und moralischen Maximen eine Verfälschung des ursprünglichen Christentums sieht. Obwohl er in den beiden letzten Provinciales seine Polemik abmildert und versöhnlichere Töne anschlägt, blieb seine Stimme im Konzert der Jesuitengegner eine von denen, die am längsten und wirksamsten nachhallten. Die Gesellschaft Jesu war durch die Auseinandersetzungen um PortRoyal auch dadurch besonders betroffen, daß man die Feindschaft Ludwigs XIV., die zur Zerstörung der Abteigebäude von Port-Royal-des-Champs und zur Schändung des Nonnenfriedhofs (1711) führte, auch den Beichtvätern des Königs, P. François d'Aix de La Chaise (1624-1709) und P. Michel Le Tellier (1643-1719) zur Last legte.

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XII. Aufstieg und Niedergang der Gesellschaft Jesu

Die Jesuiten in der Aufklärung Die Glanzzeit des Barock, dieses letzten umfassenden christlichen Kunstund Kulturstils, dauerte knapp zwei Jahrhunderte. Sie deckt sich mit der „hohen Zeit" des Jesuitenordens. Im 18. Jahrhundert, als die skeptischen französischen Philosophen versuchten, dem ihrer Meinung nach in religiösem Fanatismus und Aberglauben versunkenen Volk die Lichter - lumières - der Aufklärung anzuzünden, gerieten die Jesuiten zunehmend unter moralischen und politischen Druck. Einen nicht geringen Anteil daran hat der Jesuitenschüler Voltaire (1694-1778). Von 1704 bis 1711 besuchte er das berühmte, von den Jesuiten geleitete Lycée Louis-le-Grand in Paris, wo er eine exzellente literatur- und naturwissenschaftliche Grundausbildung erhielt. Seinen Lehrern blieb er zeitlebens in großer Dankbarkeit verbunden.171 Der Geist der Aufklärung hatte allerdings die Patres von Louis-le-Grand bereits erfaßt, und sie waren in den Werken der antiken Autoren eher beheimatet als in der Spiritualität ihres Ordensvaters, die sie vermutlich insgeheim belächelten. Jedenfalls scheinen sie ihren Schülern nicht eben viel davon tradiert zu haben. Und so ist es nicht ganz von ungefähr, wenn Voltaire später in dem Artikel über Ignatius von Loyola in seinem „Philosophischen Wörterbuch" schreibt:172 Wollen Sie einen großen Namen erwerben, Gründer sein? Seien Sie total verrückt; aber von einer Verrücktheit, die zu ihrem Jahrhundert paßt. Behalten Sie in ihrer Verrücktheit einen Bodensatz von Vernunft, mit dessen Hilfe Sie Ihre Extravaganzen steuern können, und seien Sie über die Maßen stur. Es kann sein, daß Sie aufgehängt werden. Aber wenn Sie dem entgehen, können Sie zur Ehre der Altäre gelangen ... Wie war es möglich, daß ein solcher Außenseiter schließlich in Rom zu einiger Beachtung kommen konnte, sich Schüler erwerben konnte und der Gründer eines mächtigen Ordens wurde, in dem es sehr achtbare Männer gegeben hat? Nur deshalb, weil er stur und enthusiastisch war. E r fand Enthusiasten wie er selbst, mit denen er sich zusammentat. Die hatten mehr Vernunft als er und brachten die seine ein wenig in Ordnung. E r wurde gegen Ende seines Lebens bedächtiger und nahm sogar in seinem Benehmen eine gewisse Gewandtheit an. Vielleicht fing Mohammed an, ebenso verrückt zu sein wie Ignatius in den ersten Unterhaltungen, die er mit dem Engel Gabriel hatte. Und vielleicht hätte Ignatius an der Stelle von Mohammed ebenso große Dinge wie der Prophet vollbracht; denn er war genau so dumm, ganz genau so visionär begabt und so mutig.

Das intellektuelle und politische Abseits, in das die Gesellschaft Jesu im 18. Jahrhundert geriet, war nicht nur das Ergebnis äußerer Anfeindungen. Die geistigen Grundlagen des Ordens selbst scheinen sich im Gefolge der Aufklärung weitgehend aufgelöst zu haben. Die Gestalt des ungläubigen, eiskalten Jesuitenprofessors Aloysius Walther, die E. T. A. Hoffmann in seiner

Die Aufhebung der Gesellschaft Jesu

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Novelle: „Die Jesuiterkirche in G[logau]" beschreibt,173 ist keine bloß literarische Fiktion, sondern ein Schlaglicht auf die geistige Situation der intellektuellen Oberschicht des Ordens, der Professoren, in der Mitte des „Siècle des lumières".

7. Die Aufhebung der Gesellschaft Jesu Der geistige und politische Kampf gegen den Jesuitenorden erreichte in dem Pontifikat des Papstes Clemens XIII. Rezzonico (1758-1769) seinen Höhepunkt. „Das rasch um sich greifende Kesseltreiben gegen die Gesellschaft Jesu ist in seinem Ausmaß und in seinen Wirkungen als etwas Einmaliges in der Kirchengeschichte anzusehen."174 Man kann viele einzelne Ursachen für die im Laufe der Jahrzehnte sich steigernde Unbeliebtheit der Jesuiten und den wachsenden Haß gegen den Orden aufzählen. Die Hauptgründe dafür sind jedoch eher irrationaler Natur: das Mißtrauen gegenüber der Macht einer schwer durchschaubaren Organisation, der man generell konspirative Machenschaften unterstellte, sowie das Stigma unaufgekärter, obskurantenhafter Gesinnung. Schon vor der definitiven Aufhebung durch den Papst wurde der Orden in den europäischen Königreichen Portugal, Spanien und Frankreich unterdrückt. Die portugiesische Regierung ging schon unter dem Pontifikat Benedikts XIV. Lambertini (1740-1758) gegen die Gesellschaft vor, der man Bereicherung durch unerlaubte Geschäfte und sogar die Beteiligung an einem mißglückten Attentat auf den König José I. (am 3. September 1758) zur Last legte. Die Regierung verfügte die Beschlagnahme der Güter des Ordens in Portugal und den überseeischen Gebieten. Im September 1759 wurden die Jesuiten aus dem portugiesischen Herrschaftsbereich ausgewiesen. Auf dem Transport oder in den Gefängnissen starb ein großer Teil der Ordensmitglieder; andere suchten ihre Haut zu retten, indem sie aus der Gesellschaft austraten. In Frankreich hatte der Orden schon im 17. Jahrhundert eine mächtige Gegnerschaft. In den Auseinandersetzungen um den Jansenismus und Pascals Lettres provinciales waren die politischen Maßnahmen vorbereitet worden. Äußerer Anlaß dafür war die Affäre um P. Antoine Lavalette, der auf den französischen Antillen im großen Stil Plantagen betrieb und für den Ruin einer Firma, mit der er zusammenarbeitete, mit verantwortlich gemacht wurde. Hinzu kam dann noch die Feindschaft der Marquise de Pompadour, Mätresse des Königs Ludwig XV., die ihren Einfluß am Hof durch die Jesuiten bedroht sah. Im April 1562 wurden alle Güter des Ordens in Frankreich beschlagnahmt. Zahlreiche Mitglieder wurden ausgewiesen oder verließen den Orden. Schließlich wurde die Gesellschaft Jesu am 1. Dezember 1764 im Königreich Frankreich für aufgehoben erklärt.

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XII. Aufstieg und Niedergang der Gesellschaft Jesu

Als Hauptgegner des Jesuitenordens in Spanien erwies sich der einflußreiche Minister Bernardo Tanucci. Unter dem König Karl III., der 1759 die spanische Krone übernahm (er war schon König von Neapel) hatte er Gelegenheit, seine staatskirchlichen, antiklerikalen Auffassungen durchzusetzen. Obwohl er keinerlei persönliche Feindschaft gegen die Jesuiten empfand, bekämpfte er den Orden doch als Organ des Papsttums und Organisation, die die Weltherrschaft anstrebe.175 Für die Unruhen, die im Jahre 1766 infolge wirtschaftlicher Mißstände im Land ausbrachen, machte die Regierung die Jesuiten verantwortlich. An der Hetze gegen die Gesellschaft Jesu in Spanien waren auch kirchliche Kreise, besonders der Augustiner-Orden beteiligt. Schließlich wurde durch ein königliches Dekret (27. Februar 1767) die Ausweisung aller Jesuiten aus Spanien und die Enteignung der Güter des Ordens verfügt. Weitere Dekrete ordneten die Vertreibung der Jesuiten aus den spanischen Sekundogenituren Neapel (21. Oktober 1767), Parma-Piacenza (7. Februar 1768) und Malta (22. April 1768) an. Die katholischen Mächte unternahmen von da an gemeinsame Anstrengungen, um von dem Papst Clemens XIII. die gänzliche Aufhebung des Ordens zu erreichen. Im Januar 1769 wurde durch die Gesandten ein formelles Gesuch eingereicht. Der Papst, der sich gegen die staatskirchlichen Bestrebungen der katholischen Königreiche wehrte, zeigte sich auch von dem Ansinnen gegen die Jesuiten unbeeindruckt. Nach dem plötzlichen Tod Clemens' XIII. am 2. Februar 1769 betrieb die spanische Regierung die Wahl des Franziskaner-Kardinals Lorenzo Ganganelli, von dem man sich, aufgrund vager Zusagen, die Aufhebung der Gesellschaft Jesu erhoffte. Ganganelli, der am 19. Mai 1769 als Clemens XIV. (1769-1774) den Apostolischen Stuhl bestieg, zögerte die Entscheidung jedoch hinaus. Am 22. Juli wurde der französische Gesandte Kardinal François de Bernis (1715-1794) im Namen der katholischen Mächte wegen der Auflösung des Jesuitenordens vorstellig. Doch der Papst zog die Angelegenheit weitere drei Jahre hin. Schließlich erreichte der spanische Gesandte José Monino y Redondo im Jahre 1773 die Aufhebung des Ordens. Das päpstliche Breve „Dominus ac Redemptor noster", dessen Entwurf in der spanischen Botschaft angefertigt worden war, wurde am 16. August in Rom publiziert. 176 Mit seiner Umsetzung hatte es die päpstliche Regierung auf einmal eilig: Der Ordensgeneral Lorenzo Ricci (1758-1773) und seine wichtigsten Mitarbeiter wurden verhaftet und in der Engelsburg eingekerkert; Ricci wurde dort, unter sehr strengen Haftbedingungen, bis zu seinem Tode (24. November 1775) gefangengehalten. Die Gegner der Jesuiten feierten die Aufhebung des Ordens als Sieg der Vernunft. Ausgerechnet in zwei nichtkatholischen Staaten konnte die Gesellschaft Jesu jedoch überleben, weil die Regierungen eine Beeinträchtigung des Schulwesens vermeiden wollten und deshalb die Publikation des päpstlichen Breves untersagten. In Preußen wollte der König Friedrich II. die Jesuiten erhalten wissen, weil das Schulwesen im katholischen Schlesien weitgehend von

Die Aufhebung der Gesellschaft Jesu

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ihnen getragen wurde.' 77 Sein Widerstand war jedoch nicht von langer Dauer; nach einigen Jahren wurde die Auflösung des Ordens auch in Preußen durchgeführt. In Rußland dagegen konnten die Jesuiten, dank der Protektion durch die Zarin Katharina II., ihre Arbeit ungestört fortsetzen. Der Zarin ging es dabei um die Erhaltung der katholischen Schulen in Weißrußland. 1801 bestätigte der Papst Pius VII. offiziell die Existenz des Ordens für ganz Rußland,178 und in der Folgezeit war es möglich, daß auch in Westeuropa vereinzelt Mitglieder formell in die russische Ordensprovinz aufgenommen werden konnten. Schon 1797 hatte Pius VI. Braschi dies dem um das Weiterleben der Gesellschaft Jesu hochverdienten P. José Pignatelli (1737-1811) erlaubt. Erst im Jahre 1820 wurden die Jesuiten auch aus Rußland vertrieben; aber zu der Zeit war der Orden bereits für die gesamte Kirche wiedererrichtet.

XIII DER „ N E U E " O R D E N 1. Neubeginn im 19. Jahrhundert Im 19. Jahrhundert, nachdem die europäischen Mächte Napoleon das Handwerk gelegt hatten, wurde der Jesuitenorden neu ins Leben gerufen. Es war der Papst Pius VII. Chiaramonti, selbst aus dem Benediktinerorden hervorgegangen und der Gesellschaft Jesu freundlich gesonnen, der mit der auf den 7. August 1814 datierten Bulle „Sollicitudo omnium ecclesiarum" auf vielfache Bitten aus kirchlichen, politischen und privaten Kreisen den Orden neu errichtete.1 Die Bulle wurde am gleichen Tag, im Anschluß an eine Messe, die der Papst am Ignatius-Altar von II Gesü zelebrierte, in Gegenwart der in Rom anwesenden Kardinäle und von etwa hundert ehemaligen Jesuiten, feierlich vorgelesen. Der Ordensgeneral Thaddäus Brzozowski, ein Pole, der schon 1804 in Rußland sein Amt angetreten hatte, übernahm nun, bis zu seinem Tode (1820), die Leitung des gesamten Ordens. Die Mitgliederzahl betrug bei der Wiederzulassung etwa 800 Patres; sie nahm bald darauf, ähnlich wie in der Gründungszeit der Gesellschaft, eine geradezu stürmische Aufwärtsentwicklung; 1820 zählte der Orden schon wieder um die 2000 Mitglieder. Bald nach der Neuzulassung enststand innerhalb des Ordens eine Auseinandersetzung um dessen zukünftige Orientierung. Der bei Pius VII. einflußreiche Gaetano Angiolini (1748-1816) war der Meinung, daß man aus den Fehlentwicklungen des alten Ordens lernen müsse, und trat deshalb für eine Anpassung an die nach-revolutionären Verhältnisse ein. Nach seinem Tode setzten sich insbesondere Luigi Maria Rezzi (1785-1857) und Pietro Pietroboni, der das Amt des Generalassistenten für Italien bekleidete, für eine Anpassung des Geistes der Gesellschaft an die neuen gesellschaftlichen Strömungen ein. Sie fanden Unterstützung bei dem Kardinal Annibale Deila Genga (dem späteren Papst Leo XII.: 1823-1829). Der einflußreiche Kardinalstaatssekretär Ercole Consalvi (1757-1824), auch auf anderen Gebieten der Kirchenpolitik ein Gegner Deila Gengas, förderte jedoch nach Kräften die reaktionären Kreise des Ordens. Bei der Generalkongregation, die vom 14. September 1820 an in Rom tagte, setzte Consalvi es durch, daß die Gesellschaft Jesu, auf der Basis der alten Ordensstruktur, ein jederzeit verfügbares Instrument in den Händen des Papsttums blieb. Rezzi und andere „Neuerer" wurden aus dem Orden ausgeschlossen. Der neugewählte Generalobere Luigi Fortis (1820-1829), bei aller persönlichen Freundlichkeit und Bonhommie ein knochenharter Konservativer, setzte allen Bestrebungen, die auf eine Umgestaltung der Gesellschaft hinzielten, ein Ende.

Neubeginn im 19. Jahrhundert

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Obwohl bei Urteilen über „Richtigkeit" oder Fehlentwicklung historischer Erscheinungen Vorsicht geraten ist, zeigt sich gerade am Scheitern der Neuerer und ihrer gnadenlosen Eliminierung, daß die Neugründung des Jesuitenordens im Grunde eine der restaurativen Unternehmungen des 19. Jahrhunderts war, ähnlich wie auf dem Gebiete der sakralen Architektur die Wiederbelebung der mittelalterlichen Baustile in der Neoromanik und Neogotik (hier wie dort mit durchaus beachtlichen Ergebnissen). Nachfolger von Fortis als Ordensoberer wurde der aus den Niederlanden stammende P. Johann Philipp Roothaan, in dessen langem Generalat (1829-1853) die Gesellschaft Jesu einen großen Aufschwung nahm. Roothaan förderte die äußere Entwicklung und bemühte sich zugleich um eine Wiederbelebung der spirituellen Grundlagen des Ordens. Inwieweit er dabei dem Geist des Gründers nahegekommen ist oder ihn verfälscht hat, ist in der Forschung umstritten. 2 Er gilt jedoch mit Recht als „zweiter Gründer der Gesellschaft Jesu". Schon bald nach dem Neubeginn bemühte sich die Gesellschaft Jesu mit großer Energie um den Wiederaufbau ihres Bildungs- und Hochschulwesens. Leo XII. hatte die zentrale Ausbildungsstätte des Ordens, das Collegium Romanum, wiedereröffnen lassen (1824) und den Jesuiten ihre früheren Privilegien zurückgegeben (1826).3 Dem Orden schlug aber mindestens ebenso viel Widerstand und Gehässigkeit entgegen wie in seinen alten Zeiten, und er mußte erneut viele Rückschläge einstecken. Neben dem Collegium Romanum ist vor allem die Universität Innsbruck mit ihrer ausschließlich durch Professoren aus der Gesellschaft besetzten Theologischen Fakultät zu nennen. Sie bestand seit 1677 und wurde 1857 wiederrichtet. 1912 wurde das Collegium Canisianum als Studienkolleg an der Universität gegründet; es ersetzte das ältere Nikolaihaus. Zum bedeutendsten Ort jesuitischer Ausbildung, Wissenschaft und Publizistik im deutschen Sprachgebiet wurde, wenn auch nur für eine kometenhaft kurze Zeit, das Kloster Maria Laach in der Eifel.4 Die Jesuiten erwarben die Gebäude der ehemaligen Benediktiner-Abtei im Jahre 1863 aus privater Hand. Um den protestantischen Eigentümern gegenüber nicht als Jesuit erkennbar zu sein, trat der Bevollmächtigte des Provinzials, P. Franz Lovis, incognito als Rentner Franz Lovis-Willemin auf. Provinzial war damals der spätere Ordensgeneral (1883-1892) Antonius Maria Anderledy. Obwohl die an städtische Umgebungen gewöhnten Patres keineswegs begeistert über den Umzug in die menschenleere Einsamkeit des Laacher Sees waren, begann doch mit dem Einzug im Mai 1863 ein fast unglaublicher Auf- und Ausbau des jesuitischen Ordenslebens auf allen Ebenen. Schon am Ende des Gründungsjahres lebten in Laach 41 Patres, 111 Scholastiker und 25 Brüder. Zu ihrer Unterbringung wurde ein neuer großer Wohnflügel errichtet, außerdem der (noch erhaltene) Bibliotheksbau. Als wirtschaftliche Basis dienten unter anderem Landwirtschaft und Fischzucht. Der Zugang zu der romanischen Abteikirche blieb den Jesuiten während der gesamten Zeit ihres Aufenthalts

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XIII. Der „neue" Orden

verwehrt. (Wie immer man zu den Aktivitäten des Ordens im 19. Jahrhundert stehen mag: es bleibt ein gehässiger Unfug). Das erste bedeutende wissenschaftliche Unternehmen war die von den Patres Florian Riess (1823-1882) und Daniel Rattinger begründete Zeitschrift „Stimmen aus Maria Laach", deren erstes Heft im Juli 1871 erschien. Ab dem 45. Jahrgang (Oktober 1914) heißt die Zeitschrift „Stimmen der Zeit". P. Gerhard Schneemann (1829-1885) begründete die wissenschaftliche Quellenreihe „Collectio Lacensis"; er gehörte zu den Befürwortern des Dogmas von der Unfehlbarkeit des Papstes. Mit der Vorbereitung und endgültigen Formulierung des Unfehlbarkeitsdogmas war aber vor allem der in Laach als Professor für Dogmatik tätige P. Wilhelm Wilmers (1817-1899) befaßt. Zusammen mit Joseph Kleutgen (1811-1883) arbeitete er auf dem I. Vatikanischen Konzil den Text des Dogmas aus. Ein weiteres wissenschaftliches Vorhaben, das schon in Laach geplant, aber dort nicht mehr verwirklicht werden konnte, war die Kommentarreihe „Cursus Scripturae Sacrae". Ihr Urheber war der bekannte Exeget Rudolf Cornely (1830-1908), der von 1872 bis 1879 auch Schriftleiter der „Stimmen aus Maria Laach" war. Das Unternehmen hatte allerdings eine ausgesprochen reaktionäre Tendenz und sollte vor allem der Abwehr von Ergebnissen der protestantischen Exegese dienen, die man für irrig hielt. In der kurzen Zeit der Existenz des Collegium Maximum lehrten und studierten in Laach viele bedeutende Jesuiten, die sich als Theologen, Naturwissenschaftler, Publizisten, Seelsorger einen Namen gemacht haben. Sie können hier nicht aufgezählt werden. 5 Der wohl prominenteste Student war P. Wilhelm Eberschweiler (1837-1921), ein beliebter Exerzitienmeister und Seelenführer, der im Ruf der Heiligkeit stand. Sein Grab ist in der Trierer Jesuitenkirche, neben dem von Friedrich Spee. Das so genannte „Jesuitengesetz" vom 5. Juli 1872, durch das die Ausweisung der Mitglieder des Ordens aus dem Deutschen Reich verfügt wurde, setzte auch ihrer erfolgreichen und hoffnungsvollen Arbeit in Maria Laach ein Ende. An dem Collegium Romanum hatte seit 1844 ein hervorragender Gelehrter einen Lehrstuhl für Dogmatik inne: Carlo Passaglia (1812-1887).6 Seine Vorlesungen waren, im Gegensatz zu denjenigen seiner Kollegen, weniger durch die Polemik gegen alle möglichen zeitgenössischen Häresien (oder das, was man dafür hielt) bestimmt als durch die Heranziehung der biblischen und patristischen Quellen. Er schätzte auch die philologischen und historischen Wissenschaften, weil sie ihm für die biblische Exegese unentbehrlich schienen. Das brachte ihn bei Kollegen, die in den Methoden der Neoscholastik befangen waren, in den Verdacht des „Protestantismus". Differenzen mit dem Ordensgeneral Roothaan und seinem Nachfolger Petrus Beckx (1853-1887) führten am 19. Januar 1859 zu Passaglias Austritt aus der Gesellschaft Jesu. Nachdem man den hochqualifizierten Gelehrten und Lehrer aus dem Orden hinausgeekelt hatte, wurde er im Jahre 1867 von seinen priesterlichen Funktionen suspendiert.

In den Stürmen des 20. Jahrhunderts

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Es war bereits von der Arbeit der deutschen Jesuiten Kleutgen und Wilmers am Text des Unfehlbarkeitsdogmas die Rede. Von den am Collegium Romanum lehrenden Patres sind besonders Giovanni Perrone (1794-1876), Clemens Schräder (1820-1875) und Johann Baptist Franzelin (1816-1886) als „Infallibilisten" zu nennen.7 Obwohl sie Schüler von Passaglia und in vielerlei Hinsicht von ihm beeinflußt waren, blieben sie als Dogmatiker in der Lehre wie im Denken doch letztlich den unhistorischen neoscholastischen Strukturen verhaftet. Nur als solche konnten sie ja den Papst in der Absicht, seine Infallibilität zum Dogma zu erheben, bestärken, wenn sie ihn nicht, wie manche annehmen, dazu angestiftet haben. Daß ein Kenner der neutestamentlichen, patristischen und mittelalterlichen Tradition auf die Idee gekommen wäre, ist jedenfalls schwer vorstellbar. Andererseits ist ein zweifellos hochgelehrter, auf historischem und philologischem Gebiet versierter Theologe wie der 1876 von Pius IX. zum Kardinal erhobene Franzelin so etwas wie ein Exempel für die Befangenheit in einer Ideologie und, mit den anderen genannten römischen Jesuiten, ein Symptom für die Rückwärtsgewandheit der führenden Professen-Schicht des Ordens im 19. Jahrhundert.8 Bezüglich der Rolle seiner Ordensbrüder auf dem I. Vatikanischen Konzil hat der Ordenshistoriker HUBERT BECHER in der für viele (nicht alle!) Jesuiten typischen geschichtsklitternden Manier formuliert: „Der Glaubenssatz von der Unfehlbarkeit des Papstes hatte unter den Jesuiten eine lange Uberlieferung, da schon Lainez auf dem Konzil von Trient für die Rechte des Papstes eingetreten war." 9 So kann man es auch sehen.

2. In den Stürmen des 20. Jahrhunderts In der Modernismus-Krise Die erste ernsthafte Gefahr, der die Gesellschaft Jesu nach den vielversprechenden Anfängen des 19. Jahrhunderts ausgesetzt war, kam nicht von Glaubens- und Kirchenfeinden, die sie von außen bedrohten, sondern direkt von der obersten Kirchenleitung, der Person des Papstes Pius X. Sarto (1903-1914) und seinen Ratgebern. Der jahrelange Kampf dieses Pontifex gegen die vermeintlichen Irrtümer des so genannten „Modernismus" nahm obsessionsartige Züge an und hat der geistigen Entwicklung und dem Ansehen der Katholischen Kirche auf ihrem Weg in die moderne Zeit schwer geschadet; so vor allem in den biblischen und historischen Wissenschaften und in der Sozialethik.10 Als „Vater des Modernismus" überhaupt und Häresiarch auf dem Gebiet der biblischen Forschung galt der Franzose Alfred Loisy (1857-1940). Weil er die absolute Irrtumslosigkeit der Bibel bestritt (womit er zweifellos Recht hatte), wurde ihm 1893 sein Lehrstuhl am Pariser Institut Catholique entzogen. Wegen Anwendung der historisch-kritischen Methode (die sich nach dem Zweiten Weltkrieg auch in der katholischen

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XIII. Der „neue" Orden

Bibelwissenschaft durchsetzte), wurde er 1908 exkommuniziert. Noch um 1960 sprachen Professoren aus der Gesellschaft Jesu von ihm, unter Meidung seines Namens, als dem „unglücklichen Priester". Das Päpstliche Bibelinstitut, das sich später den Ruf einer erstklassigen Forschungsstätte erwarb, wurde 1909 als Bollwerk gegen die modernen Strömungen in der Bibelexegese gegründet. Erster Rektor war P. Leopold Fonck (1865-1930), Altgermaniker und Neutestamentier; er „wandte sich gegen den Modernismnus und freiere Strömungen im katholischen Lager, in denen er die Traditionstreue der katholischen Bibelarbeit gefährdet sah", wie es sein Ordensbruder PETER NOBER vorsichtig ausgedrückt hat.11 Hauptgegner Foncks war der Dominikaner Marie-Joseph Lagrange (1855-1938), Gründer der École Biblique in Jerusalem (1890); er ist der Pionier für die Einführung wissenschaftlicher und kritischer Methoden in die katholische Exegese und wurde eben deswegen in der Modernismus-Krise heftig angefeindet. Seine Auffassungen setzten sich aber schließlich durch, auch bei den Jesuiten. Die von Pius X. angestiftete antimodernistische Hexenjagd führte so weit, daß die Forschung auf allen kirchlichen Gebieten und der intellektuelle Katholizismus von Außenstehenden nicht mehr ernst genommen wurden und sich der Spruch: „Catholica non leguntur" (Die Werke von Katholiken liest man nicht) ausbreitete. In seinem Bestreben, die Kirche von den Ketzereien der „Modernen" in Wissenschaft und Gesellschaft zu reinigen, fand der Papst im Jesuitenorden sowohl willige Hilfstruppen als auch vorsichtige Kritiker, die seinen Kurs nicht vorbehaltlos unterstützten. Gegen Ende des Pontifikats, als der Papst in der Auseinandersetzung um die katholischen Gewerkschaften die Linie der so genannten „Integralen" unterstützte, mehrten sich die kritischen Stimmen, auch in Kreisen des Hochklerus. Zu ihnen gehörten die Kardinäle Pietro Maffi (1858-1931), ein exzellenter Naturwissenschaftler und Philosoph, und Désiré Mercier (1851-1926), Erzbischof von Mecheln, sowie der Jesuitengeneral Franz Xaver Wernz (1842-1914), der den Orden seit 1906 leitete.12 Die Genannten und einige andere brachten es durch ihre Interventionen fertig, den Papst von der Veröffentlichung eines Dokuments abzuhalten, in dem er das Gewerkschaftswesen insgesamt verurteilen und damit den christlichen Gewerkschaften den Todesstoß versetzen wollte. Obwohl P. Wernz nicht an eine Rebellion oder Gehorsamsverweigerung gegenüber dem Papst dachte, nahm ihm dieser die Beteiligung am Widerstand gegen seine (törichten) Absichten doch übel. In einem Breve, das er am 10. Mai 1914 an die Gesellschaft Jesu anläßlich der hundertjährigen Wiederkehr ihres Neubeginns richtete, unterstellte er dem Orden, sich der „pestbringenden Anstekkung durch die Welt" auszusetzen, und warnte die Mitglieder desselben vor der „Beschäftigung mit vermessenen Neuerungen".13 Er hatte sogar vor, P. Wernz abzusetzen und dem willigeren P. Guido Matiussi (1852-1925) die Leitung des Ordens zu übertragen. Dazu kam es nicht mehr: Franz Xaver Wernz und Pius X. starben in der Nacht vom 19. auf den 20. August 1914,14

In den Stürmen des 20. Jahrhunderts

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was Zeitgenossen und Späteren Anlaß zum Raunen und zum Schneiden bedeutungsvoller Grimassen gab.

Widerstand gegen den

Nationalsozialismus

Das Engagement der Jesuiten in sozialen und politischen Fragen hatte mit Notwendigkeit ihre Gegnerschaft zum Nationalsozialismus von dessen Entstehen an zur Folge.15 Das trug ihnen Haß und Verfolgung durch die Nazis ein, sobald diese an die Macht gelangt waren. Konkrete Maßnahmen gegen den Orden wurden im Jahre 1935 ergriffen. Der erste katholische Geistliche, der in ein Konzentrationslager eingeliefert wurde, war ein Jesuit: P. Josef Spieker. Ein entschiedener Kämpfer gegen Hitler und sein Regime war der in München als Seelsorger tätige P. Rupert Mayer (1876-1945), der das Konzentrationslager mit schweren Gesundheitsschäden überlebte." Eine wichtige Rolle im Widerstand gegen das Nazi-Regime spielte auch der Provinzial der Oberdeutschen Provinz des Ordens, P. Augustin Rösch (1893-1961), der dem „Kreisauer Kreis" nahestand.17 Durch den Einmarsch der Roten Armee in Berlin entging er der Hinrichtung. Weniger Glück hatte sein Ordensbruder Alfred Delp (1907-1945), der im Kreisauer Kreis an der Konzeption für den Wiederaufbau der staatlichen Strukturen nach dem geplanten Sturz Hitlers mitgearbeitet hatte.18 Nach einem demütigenden Prozeß in Berlin wurde Delp am 2. Februar 1945 gehenkt. Der hochgebildete Jesuit, einer der besten Männer des Ordens im 20. Jahrhundert, gilt neben der Karmelitin Edith Stein mit Recht als der bedeutendste katholische Märtyrer in der Zeit des Nationalsozialismus.

Symptome des Zerfalls Um die Wende des 19. Jahrhunderts hatte die Gesellschaft Jesu über 15 000 Mitglieder; 1965 erreichte sie mit 36 038 den höchsten Mitgliederstand in der Geschichte des Ordens. Dieser äußeren Blüte entsprach ein hohes Ansehen auf intellektuellem und spirituellem Gebiet: die Jesuiten galten in jeder Hinsicht als die Elite der Katholischen Kirche. Die von ihnen unterhaltenen oder dominierten Hochschulen wurden (wenn auch nicht immer mit Recht) als die qualifiziertesten Lehranstalten für Philosophie und Theologie angesehen. 1930 bezog die Päpstliche Universität Gregoriana, Nachfolgerin des Collegium Romanum, ihr neues Gebäude an der Piazza Pilotta, unterhalb des Quirinal. Bis 1967 war das Lateinische offizielle und fast einzige Unterrichtsund Examenssprache. Es soll hier noch eine Besonderheit dieses Universitätsgebäudes erwähnt werden (die aber bei den Jesuiten gar nichts Besonderes ist!): es enthält nicht nur die für eine Hochschule üblichen Räume wie Hörsäle, Lesesäle, Bibliothek, sondern ist zugleich eine Art Kloster, mit den Zimmern der Professoren in den oberen Stockwerken. Die kleinen Zellen dienen als Wohn-, Arbeits- und Schlafzimmer und haben nicht mehr Komfort als die

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XIII. Der „neue" Orden

der Studenten. Im deutschsprachigen Gebiet war die Theologische Fakultät von Innsbruck, von der bereits die Rede war, die bedeutendste von Jesuiten geleitete akademische Ausbildungsstätte. Daneben erwarb sich die 1926 gegründete Philosophisch-theologische Hochschule St. Georgen in Frankfurt am Main hohes Ansehen. In Pullach unterhielten die Jesuiten seit 1925 eine ausschließlich für den Nachwuchs des Ordens bestimmte philosophische Hochschule (Berchmans-Kolleg). Sie wurde 1971 nach München verlegt, wo sie heute noch besteht und für alle Studenten geöffnet ist.19 In Frankreich, wo die Jesuiten im 19. Jahrhundert zahlreiche Kollegien unterhielten, die je nach den kirchenpolitischen Verhältnissen geöffnet und wieder geschlossen wurden, waren im 20. Jahrhundert die bedeutendsten Hochschulen, an denen Mitglieder des Ordens lehrten, das Institut Catbolique von Lyon (gegründet 1875) und das von Paris. In den Missionsgebieten der Jesuiten steht bis heute die Sophia-Universität von Tokyo in hohem Ansehen. Gegründet 1908 auf Initiative Pius' X., wurde sie nach großen Anfangsschwierigkeiten erst 1928 von der japanischen Regierung offiziell anerkannt. Neben den erwähnten Hochschulen unterhielt die Gesellschaft Jesu in den deutschsprachigen Ländern auch Gymnasien mit angeschlossenem Internat. Es sollen hier nur die bedeutendsten erwähnt werden. In Feldkirch wurde 1856 das Kolleg Stella Matutina gegründet. Als die deutschen Schüler das Kolleg 1933 aufgrund der politischen Verhältnisse verlassen mußten, erwarben die Jesuiten die ehemalige Benediktiner-Abtei St. Blasien im Schwarzwald und errichteten dort eine Internatsschule. 1900 erwarb der Orden das ehemalige Dominikaner-Kloster in Bad Godesberg, das Sitz des AloisiusKollegs wurde; an dem Gymnasium wurden sowohl interne wie externe Schüler unterrichtet. In Berlin-Charlottenburg eröffnete der Orden 1919 ein Gymnasium, das sich einen hervorragenden Ruf erwarb. Vom Ende der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts an geschah bei der Gesellschaft Jesu, wie bei allen anderen Ordensgemeinschaften der Katholischen Kirche und den Weltpriestern, ein starker Einbruch in der Mitgliederzahl. Nicht nur der Priesternachwuchs ging zurück, sondern viele ordinierte Priester gaben ihren Beruf auf. Der Jesuitenorden verlor in dem Jahrzehnt von 1970 bis 1980 etwa ein Drittel seiner Mitglieder. Besonders stark waren die westeuropäischen Länder, die USA und Kanada betroffen, während der Orden in Japan und Korea eine Stabilisierung oder einen bescheidenen Zuwachs verzeichnen konnte. In Indien und China gab es in den letzten Jahrzehnten sogar überdurchschnittlich viele Neueintritte in die Gesellschaft. Doch sind in Indien die religiösen Verhältnisse nicht klar: ein Teil der dortigen Jesuiten ist stark vom Hinduismus beeinflußt und huldigt synkretistischen Denk- und Kultformen. In China sind die kirchenrechtlichen Verhältnisse unklar. Die dortigen Jesuiten gehören der Nationalkirche an, die von Rom (noch) durch ein Schisma getrennt ist; es bestehen aber de facto Beziehungen zur Ordensleitung.

In den Stürmen des 20. Jahrhunderts

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Wir wollen hier nicht in eine Ursachenforschung des Zerfalls des überkommenen Seelsorge- und Wissenschaftssystems im modernen Katholizismus eintreten (das haben schon andere getan). Es ist aber sehr seltsam und entbehrt nicht einer gewissen geschichtlichen Ironie, daß der große Exodus aus den Pfarrhäusern, Priesterseminarien, Männer- und Frauenklöstern nach dem II. Vatikanischen Konzil stattfand, das von der Hierokratie als großes Reformunternehmen und Aufbruch der Kirche in die moderne Zeit gefeiert wurde, aber Reformen, die diesen Namen verdienen, überhaupt nicht in Angriff nahm.20 Die Anfänge einer zukunftsorientierten Änderung des kirchlichen Gefüges hätten vielleicht in einem dreifachen (Macht-) Verzicht der Hierokratie bestehen können: 1. auf den Unfehlbarkeitswahn und die daraus fließenden Schreib-, Rede- und Denkverbote in der theologischen Wissenschaft und der religiösen Publizistik; 2. auf den Anspruch, die Sexual- und Ehemoral zu reglementieren; 3. auf den Priesterzölibat. Statt dessen fabrizierten die Konzilstheologen Unmassen von nichtssagenden oder von den Fragen der Menschen ablenkenden Texten, denen seit dem Pontifikat Pauls VI. Montini päpstliche Verlautbarungen in inflationärem Ausmaß folgten. Der Pontifikat des Papstes Johannes Paul II. schließlich brachte eine Inflation der Heiligsprechungen und der Open-air-Messen auf Fußballstadien und Flugplätzen, mit Tausenden „begeisterten" Jugendlichen und „Gläubigen".21 Wer die Vorgänge bewußt erlebt hat, wird denen, die gegangen sind, nicht Uneinsichtigkeit, Böswilligkeit oder Verfallenheit an den (materialistischen) Zeitgeist anlasten. Nicht wenige Jesuiten haben den Orden einfach aus Frustration verlassen, weil sie innerhalb eines Systems, das auch in einer allgemeinen Versammlung des Hochklerus keine einzige wirkliche Reform zustandegebracht hatte, keine wissenschaftliche, berufliche und menschliche Perspektive mehr sahen. Um nur ein einziges Beispiel zu nennen, das ich vor Augen habe: P. Egidio Papa, Professor für Kirchengeschichte an der Gregoriana, eine der besten, wissenschaftlich und didaktisch qualifizierten, geistig unabhängigen und liberal denkenden („Lutherus est mihi valde simpathicus") Nachwuchskräfte des Ordens, zog es eines Tages vor, sich für sein persönliches Glück zu entscheiden, anstatt sich an überholten, irrationalen Strukturen den Schädel blutig zu stoßen. Die Hauptkrise der Gesellschaft Jesu fiel in das Generalat des aus dem Baskenland stammenden Generals Pedro Arrupe (1907-1991), was ebenfalls nicht einer gewissen tragischen Ironie entbehrt.22 Pedro wurde am 14. November 1907 in Bilbao als fünftes Kind (nach vier Schwestern) von Marcelino und Dolores Arrupe geboren. Nach der Gymnasialzeit (1916-1922) in seiner Heimatstadt nahm er 1922 das Studium der Medizin auf, das er kurz vor dem Abschluß abbrach, um (15. Januar 1927) in die Gesellschaft Jesu einzutreten. In Loyola absolvierte er das Noviziat. Anschließend studierte er Philosophie und Theologie an den Hochschulen des Ordens in Ona (Burgos), Marneffe in Belgien, Valkenburg in den Niederlanden, wo er am 30. Juli 1936 zum Prie-

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ster geweiht wurde. In Valkenburg erlernte er auch die deutsche Sprache, die er fließend und fast akzentfrei beherrschte. Die theologischen Studien schloß er in St Mary's (Kansas) ab. Das so genannte Tertiat (drittes Noviziats jähr) absolvierte er in Cleveland, womit er unter die „Oberschicht" des Ordens, die Professen, vorgerückt war. Während dieses Jahres widmete er sich der Seelsorge unter den Armen und den Gefängnis-Insassen; vor allem war er unter den lateinamerikanischen Immigranten tätig. Außerdem vertiefte er seine Kenntnisse in Medizin und Psychiatrie. Seinen mehrfach geäußerten Wunsch nach einer Tätigkeit in den Missionen erfüllte die Ordensleitung: am 15. Oktober 1938 konnte er nach Japan reisen. Die ersten drei Jahre widmete er sich dem Erlernen der japanischen Sprache. Er war auch als Seelsorger in den Außenquartieren der Großstadt Tokyo tätig. 1942 wurde P. Arrupe Novizenmeister in Hiroshima. Dort erlebte er am 6. August 1945 den Abwurf der ersten Atombombe und das nachfolgende Grauen. 23 Von 1958 bis 1965 amtierte er als Provinzialoberer der japanischen Ordensprovinz. Nach dem Tode des Ordensgenerals Johannes Baptist Jarnsens (7. Mai 1965) wurde er in der 31. Generalkongregation am 22. Mai 1965 zum Generaloberen der Gesellschaft Jesu gewählt. Als solcher suchte er, der persönlich von großer Liebenswürdigkeit, Gelassenheit und Offenheit war, den Orden mit Energie an die neuen Zeitverhältnisse anzupassen. Besondere Anliegen waren ihm die Seelsorge an den Armen und die Förderung des christlich-marxistischen Dialogs. 24 Innerhalb des Ordens wollte er die hierarchische Struktur der Professen und Koadjutoren beseitigen, worüber auf der 32. Generalkongregation (ab 1. Dezember 1974) verhandelt wurde. Zwei Drittel der Stimmberechtigten entschieden sich für die Vereinheitlichung der Ordensgelübde. Darüber kam es zum Konflikt mit dem Papst Paul VI., der der Gesellschaft Ungehorsam vorwarf, obwohl er sich vorher nicht eindeutig zu den Plänen des Generals geäußert hatte. Paul VI. untersagte schließlich in einem Brief an Arrupe jede Änderung der Konstitutionen bezüglich des vierten Ordensgelübdes. Ein schwerer Konflikt zog unter dem Pontifikat Johannes Pauls II. Wojtyla herauf. Wiederum ging es um das vierte Ordensgelübde und den Unterschied von Professen und Koadjutoren, der durch das besondere Gehorsamsgelübde dem Papst gegenüber festgeschrieben war. Der Ordensgeneral plante für 1980 die Einberufung einer Generalkongregation, auf der er die Frage erneut verhandeln lassen und zugleich sein Rücktrittsgesuch vorlegen wollte. Der Papst verlangte jedoch eine Verschiebung des Vorhabens, um die Sitzung des obersten Ordensgremiums besser vorzubereiten. Er versprach dem General, in der Zwischenzeit mit ihm im Gespräch zu bleiben. P. Arrupe versuchte jedoch mehrfach vergeblich, zum Oberhaupt der Kirche vorgelassen zu werden. Am 7. August 1981 erlitt er einen Schlaganfall, der ihn fast vollständig lähmte und allen seinen Aktivitäten ein Ende setzte. Der Papst ernannte am 6. Oktober den achtzigjährigen P. Paolo Dezza (1901-1999), Professor an der Gregoriana, zu seinem persönlichen Delegaten, dem er die Lei-

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tung des Ordens übertrug, so als wollte er die Jesuiten erneut demütigen und herabsetzen.25 Ob Pedro Arrupe bei seinen Reformbestrebungen geschickt vorgegangen ist, ob die Kur, die er dem Orden verordnen wollte, nicht ohnehin zu spät kam, ob sein Weg überhaupt der richtige war und der Gesellschaft Jesu etwas gebracht hätte: darüber wollen wir hier nicht räsonnieren. Es kann aber kaum ein Zweifel bestehen, daß die offenkundige Mißachtung durch seinen obersten Vorgesetzten den feinfühlenden Mann, der in seiner zartgliedrigen Statur und seinem markanten Baskenschädel große Ähnlichkeit mit seinem Landsmann Ignatius, aber nicht dessen Härte hatte, tief verletzt und schließlich zerbrochen hat. Ein Teil des Mißgeschicks oder der „Tragik" des Pedro Arrupe bestand auch darin, daß der Papst, mit dem er zu tun hatte, nicht Paul III., sondern Johannes Paul II. war. Die Zeit, in der der Jesuitengeneral als „schwarzer Papst" gegolten hatte und es manchmal auch war, war mit Pedro Arrupe endgültig vorbei. Mancher, der mit ihm gesprochen und ihn persönlich gekannt hat, hatte das Gefühl, einem echten Heiligen begegnet zu sein.

3. Bedeutende Jesuiten des „neuen" Ordens Bevor in der Zeit nach dem II. Vatikanischen Konzil der quantitative und qualitative Schwund nahezu aller Ordensgemeinschaften der Katholischen Kirche einsetzte, erlebte die Gesellschaft Jesu noch einmal eine Blüte, die hauptsächlich auf eine Reihe hervorragender Persönlichkeiten zurückzuführen ist, die im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als Gelehrte und Seelsorger wirkten. Es sollen hier, gewissermaßen exemplarisch, die geistigen Profile einiger gelehrter Männer des Ordens skizziert werden, deren wissenschaftliches Werk weit in den gesellschaftlichen, „weltlichen" Bereich hinein Folgen zeitigte.

Hartmann Grisar Hartmann Grisar (1845-1932) steht am Anfang der ernstzunehmenden katholischen Luther-Forschung. Damit ist gemeint, daß er von der bis dahin im Katholizismus verbreiteten unsachlichen Polemik gegen den Reformator Abschied nahm. Über das wissenschaftliche Ethos, das ihn bei seinen reformationsgeschichtlichen Forschungen bestimmte, sagt Grisar selbst, er sei mit dem Willen zu unbedingter Wahrhaftigkeit und der Absicht, der Verständigung zu dienen an seine Arbeit gegangen.26 Er war also, wie man heute sagen würde, von ökumenischem Geist bestimmt. Die Forschungen fanden ihren Niederschlag in der großen dreibändigen Biographie Luthers, an der er fast zehn Jahre lang (1902-1912), hauptsächlich in Innsbruck, arbeitete; sie erschien 1911-1912.27 Da er eine der Hauptursachen für den Ausbruch der

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Reformation in Deutschland in Luthers krankhaftem Seelenleben sah, stieß sein Werk in Kreisen der protestantischen Luther-Forschung weitgehend auf Ablehnung. Grisar stellt aber im Grunde nichts anderes dar als die Angstzustände und Selbstquälereien in den ersten Klosterjahren, von denen Luther selbst berichtet. 28 Die Skrupulosität und der Beichtzwang, unter denen der junge Mönch zu leiden hatte, hätten allerdings gerade einen jesuitischen Historiker an seinen eigenen Ordensstifter erinnern müssen. Daß derartige psychische Störungen letztlich auf sexuelle Ursachen, namentlich die so genannte pollutio nocturna, zurückgehen, ist eine Tabuzone, an die weder katholische noch protestantische Kirchenhistoriker gerne rühren. 29 Im ganzen ist Grisars Luther-Biographie ein bedeutendes Werk, das in vielem bis heute nicht überholt ist, eine Fundgrube zuverlässiger Informationen über den Reformator und sein Zeitalter. In der katholischen Forschung hat er den Zugang zu einem sachlichen, unpolemischen Verständnis Luthers und seiner Theologie geöffnet. Grisars Luther-Biographie ist schon ein Alterswerk. Der am 22. September 1845 in Koblenz als Sohn eines Hofbäckermeisters geborene trat nach dem Theologiestudium in Münster und Innsbruck 1868 in Rom als Priester in die Gesellschaft Jesu ein. 1871 wurde er Professor für Kirchengeschichte an der Universität Innsbruck. Schon damals beschäftigte er sich mit der Reformation. Doch bald wandte sich sein Interesse der Geschichte Roms und der Päpste des christlichen Altertums zu. 1896 gab er seine Innsbrucker Professur auf und nahm seinen Wohnsitz in Rom. Dort arbeitete er sich besonders in die römische Archäologie ein. Ohne Rücksicht auf eventuelle Tabuverletzungen wandte er bei seinen Studien die historisch-kritische Methode an, was ihm auch Anfeindungen eintrug. Die Hauptfrucht seiner römischen Forschungsjahre ist der erste Band einer „Geschichte Roms und der Päpste im Mittelalter", der 1901 erschien; er umfaßt die Zeit bis zum Jahre 590. 30 In den Untertiteln des Werkes hat Grisar sein wissenschaftliches Programm und und seine Methode festgehalten: „Mit besonderer Berücksichtigung von Cultur und Kunst" - womit er der Historiographie einen weiten, über das Politische hinausreichenden Horizont gegeben hat; „nach den Quellen dargestellt" - womit er seine Arbeit auf die Basis der Quellen, nicht auf die vergänglichen Meinungen sekundärer Autoren gestellt hat. Und nochmals im Untertitel des ersten Bandes: „Nach den schriftlichen Quellen und den Monumenten". Das mag heute als antiquiert oder „Historiographie alten Stils" angesehen werden, ist aber für jeden Historiker vorbildlich. Außerdem hat Grisar eine Biographie Gregors des Großen verfaßt, die aber nur innerhalb der italienischen Ausgabe des Werkes veröffentlicht wurde. Von großem Wert ist seine Studie über die Papstkapelle Sancta Sanctorum innerhalb des mittelalterlichen Lateran-Palastes. 31 Seine angegriffene Gesundheit zwang Grisar 1902 zum Verlassen Roms. Er zog sich zunächst in die Nähe von München, später nach Innsbruck zurück, wo er am 25. Februar 1932 starb.

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An der Hochschule des Ordens in Valkenburg und an der Gregoriana in Rom wirkte sein Neffe Josef Grisar (1886-1967) als Kirchenhistoriker. Zusammen mit dem Ignatius-Forscher Pedro de Leturia und Robert Leiber gründete er 1932 die Fakultät für Kirchengeschichte an der Gregoriana. Außerdem hat er die Miscellanea Historiae Pontificiae, eine Fachzeitschrift für die Papstgeschichte, ins Leben gerufen. Der wohl bedeutendste Historiker aus dem Jesuitenorden, der nach Hartmann Grisar in Rom wirkte, war der Schwabe Franz Ehrle (1845-1934). In enger Zusammenarbeit mit dem Dominikaner Heinrich Denifle (1844-1905) gab er das „Archiv für Literatur- und Kirchengeschichte des Mittelalters" heraus, dessen sieben Bände bis heute ihren Wert behalten haben. Ehrle wurde 1895 Präfekt der Bibliotheca Apostólica Vaticana. 1922 erhob ihn Pius XI. Ratti, der sein Nachfolger in der Leitung der Vatikanischen Bibliothek gewesen war, zum Kardinal. Sein Diener Bruder Johannes Häring (f 10. Februar 1951), ein humorvoller, kluger und kenntnisreicher Mann, eine Art Faktotum, gehörte fast ein halbes Jahrhundert (1903-1951) der (außergewöhnlichen) Brüdermannschaft des Collegium Germanicum an; er stand bei seinen jüngeren Mitbrüdern, dem Sakristan Friedrich Huppuch (t 24. Juni 1962), dem Hausmeister Bernhard Hammer (f 23. September 1969), dem Küchenmeister Wilhelm Dankl (f 17. April 1984) und dem Ökonomen Johann Baptist Kaufmann (f 9. Juli 1994) in hohem Ansehen. Die Tatsache, daß ähnlich tüchtige, handwerklich und wirtschaftlich hochbegabte Männer sich nicht mehr zum Ordensleben entschließen können, ist vielleicht eines der signifikantesten Indizien für den Zerfall der Gesellschaft Jesu in den westlichen Ländern. Pierre Teilhard de

Chardin

Zu Pierre Teilhard de Chardin (1881-1955) noch etwas Neues zu sagen, ist kaum möglich, da über ihn bereits eine ganze Bibliothek zusammengeschrieben wurde32 und sein Gesamtwerk in gut zugänglicher Form vorliegt." Teilhard ist gewissermaßen eine zweifaltige Persönlichkeit, was letztlich eine Folge seines Jesuiten-Seins ist: einmal ein nüchterner Naturforscher, sodann ein Visionär und Mystiker,34 insgesamt aber ein gewaltiger, bewundernswerter Geist, der wie kaum ein anderer die Religiosität und das Denken im 20. Jahrhundert beeinflußt hat und dessen Wirkung noch lange nicht zuende ist. Teilhard akzeptiert vorbehaltlos das Weltbild, das sich aus den Erkenntnissen der modernen Naturwissenschaften ergibt und das mit den biblischen (attestamentlichen) und traditionell christlichen Vorstellungen nicht zu vereinbaren ist: die Welt ist für ihn „das Universum, das wir organisch aus einer unbegrenzten Zeit und einem unbegrenzten Raum emergieren sehen".35 Es ergibt sich aber daraus nicht eine agnostische Verlorenheit in einer unbegreiflichen Unendlichkeit, sondern ein Neudenken der gesamten christlichen Religion mit einem veränderten Gottesbild und der Vorstellung von einem Universum, dessen Mitte der neue, kosmische Christus ist.36

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XIII. Der „neue" Orden

Pierre Teilhard de Chardin wurde am 1. Mai 1881 auf dem Schloß Sarcenat bei Clermont-Ferrand als viertes von elf Kindern geboren. Durch die Mutter Berthe-Adèle de Dompierre d'Hornoy (1853-1936), eine Großnichte Voltaires, wurde er in die in Frankreich lebendige Herz-Jesu-Verehrung eingeführt, deren Einfluß noch in seinen späteren Werken erkennbar ist. Der Vater, Alexandre-Victor-Emmanuel (1844-1932), war historisch und naturwissenschaftlich hochgebildet; er verwaltete erfolgreich mehrere landwirtschaftliche Güter. Pierre wurde durch ihn in die lateinische Sprache und die Beobachtung der Natur eingeführt. Seine Schulzeit verbrachte Pierre in dem Jesuitenkolleg Notre-Dame-de-Mongré. 1899 trat er in Aix-en-Provence in die Gesellschaft Jesu ein. Das Studium der Philosophie und der Theologie absolvierte er in Jersey und Hastings (England). 1911 wurde er zum Priester geweiht. Großen Eindruck scheint das Auswendiglernen der neoscholastischen Thesen bei ihm nicht hinterlassen zu haben, denn ab 1912 wandte er sich dem Studium der Geologie und Paläontologie zu; es wurde unterbrochen durch den Militärdienst (1915-1919), den er als Sanitäter verbrachte. Nach seiner Promotion im Jahre 1922 wurde Teilhard als Professor für Geologie und Paläontologie an das Institut Catholique in Paris berufen. Er hatte die Gelegenheit, mehrere Forschungsreisen nach China zu unternehmen. Die intensive Beschäftigung mit Darwins Evolutionstheorie löste bei ihm Zweifel an der historischen Aussagekraft des biblischen Schöpfungsberichts, dem Monogenismus (Entstehung der Menschheit aus einem einzigen Paar) und der kirchlichen Erbsündenlehre aus. Das konnte natürlich der Ordensleitung nicht verborgen bleiben. Teilhard mußte sich demütigenden ordensinternen Verhören unterziehen, die das Ziel hatten, seine Gesinnung zu erforschen. Er wurde schließlich gezwungen, seine Lehrtätigkeit aufzugeben. Der Ordensgeneral Wladimir Ledóchowski untersagte ihm die Veröffentlichung theologischer Schriften; er sollte sich in Zukunft auf die Publikation rein naturwissenschaftlicher Werke beschränken. Das Publikationsverbot war lebenslänglich wirksam, und Teilhard hielt sich daran. 1926 ging er in sein „erstes Exil" nach China. Er lebte hauptsächlich in Peking. Erst 1947 konnte er nach Frankreich zurückkehren. Mit zahlreichen Veröffentlichungen auf den Gebieten der Geologie und Paläontologie hatte er sich inzwischen internationale Anerkennung verschafft. 1950 wurde er korrespondierendes Mitglied des Institut de France. Er unternahm weitere Forschungsreisen nach Zentralasien, Indien und Afrika. Bei einer dieser Expeditionen entdeckte er in Asien den Schädel eines 700 000 Jahre alten Menschen, des Homo sinanthropus Pekinensis. Er wurde auf eine Professur für Paläontologie am College de France berufen. In all diesen Jahren galt aber sein eigentliches Interesse der Theologie, einer neuen Theologie. Seine Gedanken schrieb er permanent nieder. Aber er wurde beobachtet und bespitzelt: das Mißtrauen der Ordensoberen schlief nicht ein. Der General Johannes Janssens belegte ihn erneut mit einem Verbot theologischer Veröffentlichungen. Auch die Professur am College de France durfte er nicht antreten.

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Im Jahre 1951 hing Teilhard zum zweiten Mal ins „Exil", diesmal nach New York. Er arbeitete dort an einem Forschungsinstitut für Anthropologie. Er konnte noch zwei Forschungsreisen nach Südafrika unternehmen. Am 10. April (Ostersonntag) 1955 starb er in New York. Die Ordensleitung der Jesuiten hatte zu Teilhards Lebzeiten alles ihr Mögliche getan, um ihn intellektuell abzuwürgen, was (im 20. Jahrhundert!) nicht nur ein Kulturverbrechen von besonderer Qualität, sondern eine bodenlose Dummheit war. Wieviel Anregung und welche Neubelebung der Theologie hätte von ihm ausgehen können, wenn man ihn zum Lehrer des Ordensnachwuchses gemacht hätte, anstatt ihn zu verketzern und zum Schweigen zu bringen! Doch selbst nach seinem Tode versuchte der Orden, im Bunde mit der obersten Kirchenleitung, die Wirksamkeit von Teilhards theologischem Werk zu verhindern. Die Veröffentlichung konnte, gegen kirchlichen Widerstand, nur durch zwei internationale Gremien durchgesetzt werden, in denen sich hochrangige Persönlichkeiten des wissenschaftlichen und kulturellen Lebens zusammengefunden hatten - ein einmaliger Vorgang in der neueren europäischen Kulturgeschichte. Nachdem ein Teil der Werke Teilhards erschienen waren, erließ das Heilige Offizium am 30. Juni 1962 ein Monitum, in dem ihm „schwerwiegende Irrtümer" zur Last gelegt wurden; die Bischöfe und die Rektoren der Universitäten und Seminarien wurden angehalten, wirksame Maßnahmen zum Schutz der Jugend (!) vor den Gefahren, die von Teilhards Werken (die „vor Zweideutigkeiten nur so wimmeln") ausgingen, zu ergreifen.37 Nun sind die obersten Kirchenbehörden keineswegs personen- und seelenlose Apparate, sondern ihre Mitglieder und Berater sind verantwortliche Personen, die in diesem Fall einmal mit Namen genannt werden sollen: Präfekt der Suprema S. Congregazione del Sant'Offizio genannten Behörde war damals noch „die Heiligkeit unseres Herrn", das heißt, der Papst Johannes X X I I I . persönlich. Als Sekretär (und faktischer Leiter) des Gremiums fungierte der Kardinal Alfredo Ottaviani. Consultoren waren: aus dem Dominikanerorden P. Reginald Garrigou-Lagrange, aus der Gesellschaft Jesu die Patres Franz Hürth, Sebastian Tromp und Wilhelm Hentrich. Die genannten Jesuiten haben mit ziemlicher Sicherheit nichts für ihren Ordensbruder unternommen, wenn nicht einer von ihnen der Urheber des Erlasses ist. Zehn Jahre nach Teilhards Tod, am 14. Juni 1965, rehabilitierte der Ordensgeneral Pedro Arrupe in einer der ersten Maßnahmen seines Generalats den Mitbruder, dessen Ruhm und allgemeine Anerkennung nicht mehr ignoriert werden konnten, für die Gesellschaft Jesu. Er würdigte auch eigens sein theologisches Denken, in dem Christus ins Zentrum der Evolution gehoben werde. Teilhard de Chardin hat den Beginn seiner tieferen Einsicht in das Wesen des Kosmos einer religiösen Erfahrung, einem visionären Erlebnis zugeschrieben, das er Anfang August 1919 hatte. Von da an fühlte er sich zum Propheten berufen, der seinen Zeitgenossen zu größerer Klarheit in ihren

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Vorstellungen und Erwartungen verhelfen sollte.38 Teilhards Welt- und Menschenbild ist bestimmt durch die Ergebnisse der modernen Kosmologie, Astrophysik, Geologie, Biologie und Paläontologie, die er studiert und verinnerlicht hatte. In dieses wissenschaftlich unbestreitbare Weltbild versuchte er seinen Glauben herüberzuretten; aber es war ein Glauben, der nicht mehr die falschen Vorstellungen der christlichen und biblischen Schöpfungs- und Heilsgeschichte mit sich schleppte, sondern ein kosmischer, „christischer" Glaube.39 Die Synthese des gesamten geistigen Gebäudes war jedoch in Teilhards eigenem Verständnis nicht das Ergebnis einer Reflexion, sondern von innerer Schau, Intuition:40 Die Wahrnehmung der göttlichen Allgegenwart ist wesentlich ein Schauen, ein Kosten, d.h., eine Art Intuition, die sich auf gewisse höhere Eigenschaften der Dinge erstreckt. Sie läßt sich also nicht unmittelbar durch irgendeine Beweisführung oder durch irgendeinen menschlichen Kunstgriff erhalten. Wie das Leben, dessen höchste Vollkommenheit sie im Bereiche der Erfahrung wahrscheinlich darstellt, ist sie Geschenk.

Von Seiten der Ordensleitung und der kirchlichen Glaubenswächter sah man hierin eine neue Religion, die nicht mehr mit der traditionellen Schöpfungstheologie und der Erbsündenlehre übereinstimmte: Gott schaffe nicht wirklich aus dem Nichts, und in einem evolutiven Prozeß der Welt wäre kein Platz mehr für den Sündenfall und das Böse, so wie es in der (biblischen) Genesis beschrieben ist. Die Auffassung von einem mit göttlichem Leben erfüllten Universum laufe letztlich auf den Pantheismus hinaus; auch die Vorstellung von der „Christifizierung" der Welt oder „Eucharistisierung" der Materie sei unvereinbar mit den traditionellen Lehren von Erlösung und Endgericht. Auch wenn diese Häresie-Vorwürfe aus heutiger Sicht absurd erscheinen mögen, so ist Teilhards „Lehre" selbstverständlich nicht unantastbar und über jede Kritik erhaben. Nichts wäre falscher, als in ihm einen neuen Heiland und Religionsstifter zu sehen.41 Aber sein Denkgebäude darf auch nicht falsch dargestellt und erst recht nicht unterdrückt werden. Teilhard hatte vor allem die aus der Perspektive der Naturwissenschaften und des modernen Weltbildes falschen Aussagen im Blick, nicht die Texte in ihrem vollen Gehalt.42 Er war weder Historiker, noch Philologe, noch Exeget. Er hat die Bibel mit den Augen des Naturwissenschaftlers gesehen, was nicht unbedingt falsch, aber unvollständig ist. Große Texte der Vergangenheit versuchte er in sein neues religiöses Weltbild zu integrieren. So hatte er sich (gegen Ende seines Lebens) vorgenommen, die Ignatianischen Exerzitien „wiederzuerfinden", „eine prachtvolle Herübernahme" (une magnifique transposition) in sein Denksystem zu unternehmen.43 Er konnte den Plan nicht mehr verwirklichen.

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Was den oben erwähnten Verdacht des Pantheismus betrifft, so kann sich Teilhard auf den Ersten Korintherbrief des Apostels Paulus berufen, nach dem der Gott alles in allem und in allen wirkt (12,6; vgl. 15,28). Ebenso wie bei Franziskus von Assisi wäre es korrekter, von einem Panentheismus in seiner Weltsicht zu sprechen.44 Überdies hat Teilhard in dem schwierigen Bedenken des Verhältnisses von Schöpfer und Schöpfung, Gott und Mensch den Gesichtspunkt der Vermittlung keineswegs außer Acht gelassen. In seinem Gesamtwerk kommt dieser Aspekt nicht so häufig vor, so daß man ihn leicht übersehen kann, dafür aber einzigartig und deutlich in seinem Hymnus an das Ewig-Weibliche von 1918.45 Das Gedicht ist eine Paraphrase und Ausfaltung des Textes aus den alttestamentlichen Weisheitsbüchern des Jesus Sirach (24,14): „Vor aller Zeit, im Anfang, hat er mich erschaffen, und bis in Ewigkeit werde ich kein Ende nehmen ..." und der Sprüche (8,22-31): „Der Herr hat mich geschaffen als den Erstling seiner Schöpfertätigkeit, als das früheste seiner Werke in der Urzeit. Von Ewigkeit her bin ich gebildet, von Anbeginn an, vor den Uranfängen der Welt ..." Mit Goethes Begriff des Ewig-Weiblichen bezeichnet Teilhard das „wesentlich Weibliche", das „universal Weibliche", die von Gott ausgehende Kraft der Liebe, durch die die Welt als von ihrer eigentlichen Seele belebt wird. In beidem: der Uberzeugung vom universalen Handeln Gottes und der Verbindung von Zeit und Ewigkeit in dem Geschöpf, das an beiden teilhat, berühren sich Teilhards Gedanken mit denen seines genialen Zeitgenossen und Ordensbruders Wilhelm Klein. Hans Urs von Balthasar Der erste Satz von Balthasars Essay „Zwei Glaubensweisen", der 1967, nur zwei Jahre nach dem Abschluß des II. Vatikanischen Konzils (8. Dezember 1965) veröffentlicht wurde, lautet:46 Es bleibt die nicht aufzuhebende Tragik des letzten Konzils, daß es ein Unternehmen des Aggiornamento und nicht der Reform war. Schärfer kann ein im ganzen kirchentreuer katholischer Theologe die Kritik an dieser Kirchenversammlung kaum formulieren. Und Balthasar ist, bei allen kritischen Fragen, die man auch an sein Denken und sein umfangreiches Schrifttum richten kann, einer der größten Theologen des 20. Jahrhunderts, wenngleich er die formelle theologische Meisterprüfung, nämlich das Doktorat, niemals abgelegt hat. Hans Urs von Balthasar wurde am 12. August 1905 als Sproß einer geadelten Bürgerfamilie in Luzern geboren. Er besuchte das Gymnasium der Benediktiner in Engelberg und das Jesuitenkolleg Stella Matutina in Feldkirch als Internatsschüler. Sein Abitur machte er jedoch als so genannte „Fremdenmaturität" in Zürich. Das Studium der Germanistik in Wien, Berlin

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und Zürich schloß er nach neun Semestern im Herbst 1928 mit der Promotion ab. Die in Zürich eingereichte Dissertation trägt den Titel: „Geschichte des eschatologischen Problems in der modernen deutschen Literatur". In ihr tritt die stupende Belesenheit des Autors zu Tage. Zum entscheidenden religiösen Erlebnis seiner Jugend wurden die vierwöchigen Exerzitien, die er im Sommer 1927 in Whylen bei Basel unter Leitung von P. Friedrich Kronseder S.J. machte. Der Entschluß, der Gesellschaft Jesu beizutreten, war wohl ein Ergebnis der in den Exerzitien vollzogenen Wahl. Am 18. November 1929 trat er in das Noviziat des Ordens in Tisis bei Feldkirch ein. Auf das zweijährige Noviziat folgten zwei Jahre Philiosophiestudium in Pullach (1931-1933). In dieser Zeit lernte er Erich Przywara (1889-1972) näher kennen, der damals in München lebte. Przywara wurde so etwas wie sein spiritueller Lehrmeister. An der später in Erscheinung tretenden und sich allmählich verstärkenden Geisteskrankheit des Lehrers hat er sehr gelitten. Sein vierjähriges Theologiestudium absolvierte Balthasar in Lyon-Fourvière (1933-1937), wo er „die Trostlosigkeit der Theologie", das heißt, der jesuitischen Neoscholastik, kennenlernte. Er machte aber auch die Bekanntschaft von Henri de Lubac, Jean Daniélou und Henri Bouillard. Lubac vor allem war es, der ihn zum Studium der Kirchenväter anregte. Zusammen mit Daniélou und Bouillard las er die Werke des Origenes, Gregor von Nyssa, Maximus Confessor.47 Daneben vertiefte er sich in die Werke der französischen Dichter und Schriftsteller Charles Péguy, Georges Bernanos, Paul Claudel, Léon Bloy. Am 26. Juli 1936 wurde Balthasar in der Jesuitenkirche St. Michael in München zum Priester geweiht. Ab 1937 war er Mitarbeiter bei den Stimmen der Zeit in München. 1939 absolvierte er das dritte Noviziatsjahr in Pullach. Von 1940 an wirkte er als Studentenpfarrer und Schriftsteller in Basel. Er lernte dort die Ärztin Adrienne von Speyr (1902-1967) kennen, die in zweiter Ehe mit dem Ordinarius für Geschichte an der Universität Basel, Werner Kaegi verheiratet war.48 Die Bekanntschaft vertiefte sich zu einer spirituellen Freundschaft, die schließlich in einer Art geistiger Identität mündete.49 Vor allem diese Freundschaft führte zu einem Konflikt mit dem Jesuitenorden, aus dem Balthasar 1950 austrat. In der Folgezeit lebte er als freier Schriftsteller im Hause Adriennes. Seine und ihre Werke veröffentlichte er zum großen Teil in seinem eigenen Johannes Verlag in Einsiedeln. In Basel trat Balthasar auch in nähere Beziehung zu Karl Barth; es entstand daraus eine dauernde Freundschaft. 1951 erschien sein Buch: „Karl Barth. Darstellung und Deutung seiner Theologie". 1988 wurde seine Erhebung zum Kardinal durch den Papst Johannes Paul II. bekannt gegeben. Er konnte aber die Insignien seiner neuen Würde nicht mehr in Empfang nehmen: sein Tod am 26. Juni 1988 kam dem zuvor. Hans Urs von Balthasar war eine imposante Erscheinung. Der Jesuit, Professor und Bischof PETER HENRICI, der ihn gut gekannt hat, verfaßte bald nach seinem Tode eine einfühlsame Biographie. Darin schildert er den Ein-

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druck, den der hochgewachsene Mann machte, wenn er einen Raum betrat.50 Ich bin Balthasar ein einziges Mal begegnet und kann die Beschreibung, die P. HENRICI von seinem Auftreten gibt, bestätigen. Er war Ende der fünfziger Jahre in Rom, um mit der Ordensleitung über seine Wiederversöhnung zu verhandeln. (Die Verhandlungen scheiterten). Damals hielt er im Germanicum einen (glänzenden) Vortrag über die neuere französische Literatur. In Erinnerung geblieben ist mir eine Bemerkung von ihm über Léon Bloy: „Unmöglich Bloy zu lesen, ohne zu weinen." Des öfteren habe ich seinen Bruder Dieter gesehen, der bis 1961 Offizier, zuletzt Oberst-Leutnant der Päpstlichen Schweizergarde war. Er wirkte äußerlich fast wie eine Karikatur von Hans Urs. Von der gleichen Körperlänge, stakste er bei feierlichen Aufzügen der Garde in schwarzer spanischer Hoftracht einher, aus deren Pluderhosen die dürren Beinchen hervorragten. Balthasars theologisches Lebenswerk ist, nach Inhalt und Umfang, von imponierender Größe. Vor allem in seinen „Skizzen zur Theologie": „Verbum Caro" (1960), „Sponsa Verbi" (1961), „Spiritus Creator" (1967), „Pneuma und Institution" (1974), „Homo creatus est" (1986) ist seine theologische Konzeption und seine spirituelle Gesamtschau entfaltet. Die Kenntnis der geistigen Traditionen des Christentums von den Anfängen bis in die Gegenwart sowie die der klassischen und modernen europäischen Literatur ist bewundernswert. Die Lektüre der Bücher Balthasars ist immer nützlich und anregend. In zahlreichen kleineren Schriften hat er zur innerkirchlichen Entwicklung, zu kirchenpolitischen und ökumenischen Fragen Stellung bezogen und sich zuweilen keinen geringen Widerspruch eingehandelt. Das Verhältnis zu Karl Rahner (und das der Anhänger beider untereinander) blieb gespannt.51 Es ist nicht verwunderlich, wenn ein theologisches und spirituelles Riesengebäude auch seine langen Schatten wirft. Balthasar macht sich für eine Ideologie des (Kadaver-)Gehorsams und des Priesterzölibats in exzessiver Form stark. Insgesamt ist seine Methodik dogmatisch-systematisierend, nicht exegetisch-historisch: bei seinen Textinterpretationen geht es nicht in erster Linie um die Aussage des betreffenden Autors in ihrem geschichtlichen Kontext; er rührt vielmehr aus dem vorliegenden Text und seinen eigenen Vorstellungen einen ideologischen Brei an (der Tübinger protestantische Kirc h e n h i s t o r i k e r HANNS RÜCKERT s p r a c h v o n d e r „ k a t h o l i s c h e n S a u c e " ) . M i t

anderen Worten: die Auslegungskunst Balthasars erweckt den Eindruck hermeneutischer Fragwürdigkeit, weil sie die historisch-kritische Distanz vermissen läßt. Seine sprachlich hervorragend formulierten theologischen Essays offenbaren die künstlerische Begabung des Autors; es haftet ihnen aber auch nicht selten etwas Künstliches, Versponnenes, Weltfremdes an. Zwar kann sich das Geistliche nicht mit dem Weltlichen gemein machen, aber die Theologie muß doch mit beiden Füßen in der Welt stehen. Uber das literarische Werk Adriennes von Speyr zu einem kompetenten Urteil zu kommen, ist nicht leicht. Der bemerkenswerteste Teil davon scheinen mir ihre Kommentare zu Büchern des Neuen Testaments zu sein.52 HANS URS VON BALTHASAR schreibt über das Zustandekommen:53

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In späteren Jahren konnte ich ihr jeden beliebigen Text der Schrift in die Hand drücken und ihr vorschlagen, heute diesen auszulegen; sie schloß einige Sekunden die Augen und begann dann mit ihrer ruhigen, sachlichen Stimme zu sprechen, in Sätzen, die beinahe druckfertig waren. Was sie diktierte und was BALTHASAR Wort für Wort mitstenographierte, waren ihre inneren Eingebungen, Produkte ihrer mystischen Erfahrung. H ö ren wir noch einmal BALTHASAR: 5 4 Seit 1950 war sie so sterbensmüde, daß ich sie nur selten mehr um Diktate bat. Da ihre Werke um 1953 herum an die sechzig Bände darstellten, schien mir eine Grenze auch der Lesbarkeit und für mich selber der zu bewältigenden Fülle an Stenogrammen erreicht; was Adrienne angeht, die immer tiefer in die göttlichen Wahrheiten eindrang, so war ihr diese von mir auferlegte Beschränkung hemmend, ja enttäuschend; was ihre geistliche Produktion betraf, war ihr keine Grenze gesetzt, wir könnten heute ohne weiteres das Doppelte oder Dreifache von ihr besitzen. Also 120 oder 180 Bände! Der unbefangene Leser der Schriftkommentare Adriennes hat nicht den Eindruck, in hohe Weisheiten oder mystische Tiefen eingeführt zu werden, sondern den eines permanenten Dahinplätscherns von Wortkaskaden ohne jeden Tiefgang, ähnlich erschöpfend wie die geschwätzigen Tiraden der heiligen Katharina von Siena im Spätmittelalter. Aussagen am Rande der kirchlichen Orthodoxie oder gar Infragestellungen derselben (wie etwa bei Hildegard von Bingen oder Mechthild von Magdeburg) wird man vergeblich suchen. Adrienne reduziert die Aussagen der Schrift auf eine einfache Katechismus-Theologie. Merkte Balthasar nicht, daß hier, neben dem schweren körperlichen, der ja nicht zu übersehen war, ein psychischer Krankheitsprozeß im Gange war? Oder konnte er es nicht merken, weil er selber zu sehr in diese Krankheit involviert war? Bei dem gewaltsamen Versuch, mittelalterliche religiöse Erfahrung in die Neuzeit zu transponieren, leistete er einer Schwerkranken, die sich für eine Mystikerin hielt und mit Ignatius von Loyola (S.P.N.: Sanctus Pater Noster) und anderen Heiligen des Himmels vertraute Gespräche führte, fragwürdige Hebammendienste. Der Versuch endet in pseudotheologischem und pseudoreligiösem Schwachsinn. Man lese nur etwa nach, was diese moderne Prophetin über Gehorsam, Beicht, Fegfeuer und ihre diesbezüglichen transzendenten Erlebnisse zu erzählen weiß. Anders liegt die Sache bei der so genannten „Karsamstagstheologie". Wie Balthasar berichtet, hat Adrienne von Speyr ihre tiefsten und zugleich leidvollsten geistlichen Erfahrungen in dem „Abstieg zur Hölle" gemacht, den sie alljährlich am Karsamstag erlebte.55 Balthasar selbst hat in verschiedenen seiner Schriften eine Theologie des Karsamstags und des Descensus ad inferos entfaltet,56 die von bestimmten Theologenkreisen als häretisch bekämpft wurde.57 Gegen sie weist er darauf hin, daß seine Gedanken über das „Heil aller

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Menschen" auf seine Studien zurückgehen, die er zusammen mit Jean Daniélou über den Werken der griechischen Väter Origenes, Gregor von Nyssa und Maximus Confessor betrieben hatte, lange vor seiner Begegnung mit Adrienne von Speyr.58 Abgesehen von Adriennes religiösen Erfahrungen, an die er geglaubt und die er für einmalig in der gesamten Theologiegeschichte gehalten hat, sind Balthasars Erwägungen über den Descensus ad inferos das Tiefste und Bedenkenswerteste, was er geschrieben hat: weil es hier um die Erlösung der Seelen und der Welt in einem sehr radikalen Sinne geht. Selbst wenn man seine Antworten für falsch halten sollte, die entsprechenden Fragen scharf gestellt zu haben, ist allein schon eine große Leistung innerhalb der christlichen Theologie. Wer meint, dagegen aus dem Blickwinkel einer vermeintlichen Rechtgläubigkeit oder „vom Biblischen her" argumentieren zu müssen, bleibt im Rahmen oberflächlicher Polemik haften.

Henri de Lubac Als ich im Herbst 1956 meine Studien am römischen Collegium Germanicum begann, war unter den älteren Mitstudenten immer wieder die Rede von einem „Unnennbaren", das heißt: von einem Jesuiten, dessen Namen verschwiegen werden mußte. Nach einiger Zeit kam heraus, daß es sich dabei um den französischen Theologen Henri de Lubac handelte.59 Er war wegen seines 1946 veröffentlichten Buches „Surnaturel" mit der Ordensleitung und dem römischen Lehramt in Konflikt geraten. Es ging dabei (wieder einmal) um die Problematik: „Natur und Gnade".60 In der Enzyklika „Humani generis" (1950) verurteilte der Papst Pius XII. Pacelli die Auffassungen Lubacs und anderer französischer Theologen über das Verhältnis von menschlicher Natur und übernatürlicher Ordnung. 61 Die Betroffenen verloren daraufhin ihre Lehrstühle und wurden zu theologischen Unpersonen, deren Namen man besser nicht mehr nannte.62 Der Name von Henri de Lubac ist, ebenso wie der seiner Ordensbrüder Jean Daniélou und Henri Bouillard (1908-1981) und der des Dominikaners Yves Congar (1904—1995) mit einer theologischen Richtung verbunden, die unter dem Namen „Nouvelle théologie" bekannt wurde. Ihre Begründer wollten einen Gegenakzent zu der herrschenden neoscholastischen Dogmatik setzen, indem sie das Studium der biblischen und patristischen Quellen förderten. In diesem Zusammenhang steht die Veranstaltung einer neuen Kirchenväterausgabe, den Sources chrétiennes (Originaltexte mit französischer Übersetzung). Sowohl Lubac als auch Daniélou ging es dabei vor allem darum, Theologie, Spiritualität und Hermeneutik des Origenes, des Augustinus und der anderen Kirchenväter in der systematischen Theologie wieder Geltung zu verschaffen. Sie versprachen sich davon auch eine Belebung des Dialogs mit den modernen Geistesströmungen. Damit zogen sich die „Neuerer" die Gegnerschaft knochenharter Neothomisten, wie die des Dominikaners Réginald Garrigou-Lagrange (1877-1964), zu. Nach seiner Ansicht läuft die

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Nouvelle théologie auf den kirchenamtlich mehrfach verurteilten Modernismus hinaus.63 Die Anfeindungen gegen die „neue Theologie" mündeten in ein päpstliches Lehrschreiben, die schon erwähnte Enzyklika „Humani generis". Dieses seltsame Dokument, das unter den Sprach- und Denkverboten, mit denen das moderne Papsttum seit der Mitte des 19. Jahrhunderts die kirchliche Wissenschaft überzogen hat, eine einsame Spitze darstellt, diente hauptsächlich der Disziplinierung der katholischen Theologen. Bemerkenswert ist, daß es sich dabei hauptsächlich um Theologen des Jesuitenordens handelt. Und hinter dem Papst, der sie diszipliniert, steht als einer der „ghostwriter" gleichfalls ein Jesuit: P. Sebastian Tromp (1889-1975), Professor an der Gregoriana, der sich in seinen Vorlesungen und bei anderen Gelegenheiten selbst als Enzykliken* Autor zu zitieren pflegte. Was den Inhalt von „Humani generis" betrifft, so werden unter den Theologen diejenigen angeprangert, die die herrschende (scholastische!) Methode der Theologie in Frage stellen. Die daraus entstehende Gefahr vor allem für den jüngeren Klerus wird beschworen. Den Neuerern gehe es letzlich um die Aufweichung des Inhalts der Dogmen. Deshalb propagierten sie die Rückkehr zur Auslegung der Heiligen Schrift und der Kirchenväter. Davon versprächen sie sich einen fruchtbaren Vergleich mit den Meinungen der von der Kirche Getrennten. Die Enzyklika nennt das einen „unklugen Irenismus". Außerdem wird die Anbiederung an moderne Geistesströmungen verurteilt: sie hat das Eindringen schädlicher philosophischer Richtungen, insbesondere des Existentialismus, in die Theologie zur Folge. Auch die Entwicklung der Dogmen wird abgelehnt, weil das eine Änderung ihres ursprünglichen Sinnes zur Folge hätte. Der gesamte Komplex der genannten geistigen Strömungen, so die Enzyklika, laufe auf einen dogmatischen Relativismus hinaus. Henri de Lubac wurde am 20. Februar 1896 in Cambrai geboren. Als ihn 1950 das Lehrverbot im Gefolge der Enzyklika „Humani generis" traf, war er schon seit 21 Jahren (seit 1929) Professor für Fundamentaltheologie und Dogmatik am Institut Catholique in Lyon. 1953 konnte er seine Lehrtätigkeit wieder aufnehmen und bis 1960 fortsetzen. Obwohl er selbst im Schußfeld der amtlichen Glaubenswächter stand, setzte er sich mutig und nachdrücklich für seinen Ordensbruder Teilhard de Chardin ein. 1958 wurde er Mitglied des Institut de France. Johannes XXIII. Roncalli berief ihn als Peritus (theologischen Sachverständigen) beim II. Vatikanischen Konzil, wodurch er, wie auch die anderen unter Pius XII. in ihrem wissenschaftlichen Ruf Geschädigten, rehabilitiert wurde. Eine verspätete hohe Ehrung erreichte den Siebenundachtzigjährigen, als ihn der Papst Johannes Paul II. am 2. Februar 1983 zum Kardinaldiakon erhob. Die ihm zugewiesene Titelkirche war S. Maria in Domnica auf dem Monte Celio, die vorher einmal der Kardinal Alfredo Ottaviani (1890-1979), unter Pius XII. Sekretär des Heiligen Offiziums und berüchtigter Wachhund der Orthoxie, innegehabt hatte. Eine (von wem?) beabsichtigte Ironie?

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In seinem „Hauptberuf" war Lubac systematischer Theologe. Er hat mehrere Werke zur Gotteserkenntnis, Gnadenlehre und Ekklesiologie verfaßt.64 Von bleibender Bedeutung sind seine monumentalen Werke zur Theologiegeschichte des Mittelalters, einem Gebiet, auf das er nach seiner kirchenamtlichen Maßregelung „eskapiert" war: in den Jahren 1959-1964 erschienen die vier Bände seiner „Exégèse médiévale", die umfassendste Darstellung biblischer Theologie des Mittelalters. Noch in hohem Alter brachte er ein zweibändiges Werk über Joachim von Fiore und seine Wirkungsgeschichte heraus: „La postérité spirituelle de Joachim de Flore" (1979-1981). Henri de Lubac starb am 4. September 1991 in Paris. Jean

Daniélou

Jean Daniélou (1905-1974) bleibt, ganz gleich wie man seine theologischen Auffassungen, sein kirchenpolitisches Engagement, seinen Charakter beurteilen mag, einer der hervorragendsten Kenner des antiken Judentums, des Urchristentums und der Alten Kirche, der patristischen Literatur. Diejenigen, die auf diesen Gebieten seine unmittelbaren Schüler waren, können sich glücklich schätzen. Den Nachgeborenen bleiben Lektüre und Studium seines großen, vielseitigen Lebenswerks. Geboren am 14. Mai 1905 in Neuilly-surSeine, wuchs er in einer typisch intellektuellen französischen Familie auf. Sein Vater Charles war Journalist, Bürgermeister und Abgeordneter in der Chambre des Députés; er wurde erst bei seiner Eheschließung (27. Juli 1904) getauft. Seine Mutter Madeleine geborene Ciamorgan gründete 1906 eine höhere Schule für katholische Mädchen, die 1913 nach Neuilly verlegt wurde. Seine Gymnasialzeit absolvierte Jean Daniélou am Kolleg der Jesuiten Notre-Dame de Bon Secours in Jersey, danach in Sainte-Croix-de-Neuilly. Von 1927 an studierte er an der Pariser Sorbonne - nicht sehr lange und nicht sehr intensiv, denn im gleichen Jahr wurde er zum Militärdienst eingezogen. In den Jahren 1928-1929 engagierte er sich in verschiedenen katholischen Jugendorganisationen in Paris. Am 20. November 1929 trat er in das Noviziat der Jesuiten in Laval (Mayenne) ein. Von 1931 bis 1934 widmete sich Daniélou dem ordensinternen Philosophiestudium am Scholastikat der Jesuiten Saint-Louis-de-Jersey, wo P. André Marc, der Verfasser eines bekannten Lehrbuchs der Metaphysik, einer seiner Lehrer war.65 Bevor er mit dem Theologiestudium begann, unterrichtete er zwei Jahre (1934-1936) an dem College Saint-Joseph-de-Poitiers. Die Theologie studierte er dann in den Jahren 1936-1939 an der Hochschule der Jesuiten in Lyon-Fourvière. Er besuchte die Vorlesungen über Religionsphilosophie von Henri de Lubac. Einer seiner Mitstudenten war Hans Urs von Balthasar, mit dem zusammen er die Werke des griechischen Kirchenvaters Gregor von Nyssa studierte. Am 24. August 1938 wurde er zum Priester geweiht. Nach dem Kriegsdienst (1939-1940) konnte er das dritte Noviziatsjahr in Mongré (Rhône) ablegen. 1943 promovierte er am Institut Catholique

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von Paris, wo er im gleichen Jahr einen Lehrstuhl für Geschichte des Urchristentums erhielt. 1944 wurde er mit der gleichen These, die er ein Jahr zuvor am Institut Catholique vorgelegt hatte, an der Sorbonne zum Doktor der Literaturwissenschaften promoviert. Der Titel lautet: „Platonisme et théologie mystique. Essai sur la doctrine spirituelle de Saint Grégoire de Nysse".66 Seine zweite bedeutende Monographie war eine Einführung in das Denken des Origenes, in Auseinandersetzung mit den Forschern, die sich vor ihm mit dem Werk dieses großen Theologen der Alten Kirche beschäftigt hatten. Wie viele Gelehrte vor ihm und nach ihm, von Abaelard bis Hans Küng, ist allerdings auch Daniélou auf die Legende von der Selbstkastration des Origenes hereingefallen, die nichts anderes als eine postmortale Verleumdung ist.67 Es ist hier nicht der Ort, das gesamte Œuvre Daniélous zu würdigen oder auch nur seine wichtigsten Arbeiten aufzuzählen. Zusammen mit seinem Lehrer und Mitbruder Henri de Lubac und anderen französischen Theologen geriet er gegen Ende der vierziger Jahre des 20. Jahrhunderts in die Schußlinie orthodoxer Gralswächter, die meinten, in der so genannten „Nouvelle théologie" die Gefahr der Relativierung und Aufweichung zentraler christlicher Dogmen feststellen zu können. Wie schon erwähnt, fand dieser Glaubenskrieg in der Enzyklika „Humani generis" Pius' XII. von 1950 seinen lehramtlichen Niederschlag. Das Verdikt traf auch Daniélou, der fortan zu den theologi non grati zählte. Als er Ende der fünfziger Jahre in Rom einen Vortrag hielt, wurde den Studenten der Besuch der Veranstaltung untersagt. Wer trotzdem hinging, mußte dies incognito und in einen schwarzen Talar verkleidet tun. Daniélou sprach über ein (harmloses) Thema aus dem Bereich der Patristik, an dessen Inhalt ich mich nicht mehr erinnere. Beeindruckend war aber seine brillante Sprache und Formulierungskunst, durch die er von den scholastischen Langeweilern des römischen Lehrbetriebs nicht nur wohltuend abstach, sondern fast schon eine subversive, revolutionäre Wirkung erzielte. Wie für Lubac, Congar und andere Theologen brachte die Zeit des II. Vatikanischen Konzils auch für Daniélou eine volle Rehabilitierung: 1962 ernannte der Papst Johannes XXIII. ihn zum Peritus (theologischen Experten) des Konzils. Die Gedemütigten von gestern waren nun auf einmal die Sieger. Ihre Ideen fanden ihren Niederschlag in den Konzilstexten. H A N S K Ü N G , der mit ihnen allen im Rahmen der vorbereitenden Kommissionen und in mehr privaten Zirkeln zusammenarbeitete, hat P. Daniélou, ähnlich wie seinen Schweizer Landsmann Balthasar, mit einem bösen Nachruf bedacht. Er wirft dem ehemaligen Exponenten der „Nouvelle théologie" vor, er habe sich bemüht, die Kurve in die römische Orthodoxie zu bekommen (also intellektuelle Charakterlosigkeit), und beruft sich dafür auf das Urteil von Daniélous Ordensbruder und früheren Kampfgefährten Henri de Lubac.68 LUBAC schreibt jedoch in seinem Nachruf auf Daniélou unter der Überschrift: „Un homme libre et évangélique":69

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Wie konnten gewisse Leute glauben, er hätte am Ende dem Konservativismus, ja sogar dem „Integralismus" geopfert? Das genaue Gegenteil ist der Fall. Wenige Menschen haben eine solche geistige Freiheit bewiesen ... Vor allem war er am Evangelium orientiert. Dafür habe ich ihn am meisten geliebt.

1969 wurde P. Daniélou durch den Papst Paul VI. zum Kardinal erhoben. Die der Ernennung vorausgehende Bischofsweihe empfing er am 13. April in der Église des Carmes, der Kirche des Institut Catholique. Die Feier wurde durch „progressive" Katholiken gestört („De qui es-tu évêque?" - man hatte Daniélou den Titel eines „Erzbischofs von Tauromenium" verliehen). Am 28. April folgte in Rom die Kreierung zum Kardinal. Wie Henri de Lubac bezeugt, änderte die hohe Würde nichts an seinem Lebensstil: er blieb arm, verzichtete auf Sekretär und Dienstwagen, lebte in einer ärmlichen Wohnung. Am 7. November 1972 wurde er zum Mitglied der Académie française gewählt; er nahm den Platz des verstorbenen Kardinals Eugène Tisserant ein. Zwei Jahre später, am 20. Mai 1974, holte der Tod den Kardinal unter merkwürdigen Umständen ein, die in der französischen Presse für Schlagzeilen sorgten: Daniélou starb in einem Pariser Bordell. Bei seinen zahlreichen Feinden erregte das Schadenfreude. Die offizielle Kirche ließ sich nicht beirren: am 24. Mai, der Vigil von Christi Himmelfahrt, zelebrierte François Kardinal Marty, Erzbischof von Paris, die Exequien in der Kathedrale NotreDame. Der aus Rom eingeflogene Ordensgeneral Pedro Arrupe hielt die Totenpredigt. Eine ehemalige Schülerin Daniélous, C H R I S T I A N E INGREMEAU, schreibt in ihrem Nachruf: 70 Was bedeuten, im Blick auf sein Leben, die Umstände seines Todes und die vorübergehenden Aufregungen, die sie hervorgerufen haben? Seit einigen Jahren erschien P. Daniélou, erst Kardinal, dann Mitglied der Akademie, mit Ehren überhäuft. Die Demütigung, die sein Tod war, dessen Umstände ungerechter Weise dem öffentlichen Spott ohne hinreichende Beweise preisgegeben wurden, ist sie nicht das - trotz allem, was es uns kostet - glückliche Zeichen, daß er nicht nur „von der Welt" war?

Noch frömmer schreibt die Bibliothekarin

YVONNE L E B L A Y E : 7 1

Gott hat dem P. Daniélou die Prüfung des Alters und der Krankheit erspart und hat ihn ohne Ubergang vom apostolischen Leben zur Schau seiner Herrlichkeit gelangen lassen, über die er sprach als von dem allein wahren Gut.

Im Blick auf die gesamte Kirchengeschichte sind die Umstände des Todes von Jean Daniélou nicht besonders skandalös. Im Zeitalter der Renaissance und des Barock pflegte mehr als ein Kardinal Umgang mit Dirnen und Frauen aus niederen Schichten der Gesellschaft und zeugte mit ihnen gelegentlich einen zahlreichen Nachwuchs. Ein echter Skandal und ein Indiz des Zerfalls ist allerdings die doppelte Heuchelei und der Zynismus, die bei solchen Ereig-

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nissen ans Tageslicht treten: ein in Wissenschaft und Seelsorge tätiger Jesuit formuliert an die vor ihm sitzenden jungen Zuhörer und Studenten hohe moralische Forderungen und religiöse Ideale, für die er selbst (als Vorbild) einstehen müßte; sowohl die offizielle Kirche (die Hierokratie) als auch die Gemeinde der Frömmler (dévots) wischen solche evidenten Zeichen theologischer und kirchlicher Krankheit und Unordnung mit frommen Phrasen weg und gehen zur Tagesordnung über. Bernard

Lonergan

Bernard Lonergan (1904-1967) ist ein Theologe, der im deutschen Sprachbereich kaum bekannt ist. In den angelsächsischen Ländern ist das anders. „Die Wirkungsgeschichte von Lonergans Werk im angelsächsischen Bereich ist vergleichbar der des transzendentaltheologischen Ansatzes Karl Rahners i m e u r o p ä i s c h e n B e r e i c h " , s c h r e i b t GIOVANNI B . SALA S.J. in d e m b i o g r a -

phischen Artikel über seinen Ordensbruder.72 Bernard Lonergan wurde am 17. Dezember 1904 in Buckingham (Québec, Kanada) geboren. 1922 trat er in die Gesellschaft Jesu ein. Die philosophischen Studien absolvierte er 1926-1929 in Heythrop (England). In den Jahren 1933-1940 studierte er in Rom Theologie. 1936 wurde er zum Priester geweiht. 1940-1953 war er Professor für Dogmatik in Montreal und Toronto. 1953-1965 hatte er an der römischen Gregoriana einen dogmatischen Lehrstuhl inne. Er las die Traktate De Deo trino und De Verbo incarnato, also die Trinitätslehre und die Christologie. Nach seiner Tätigkeit in Rom versah Lonergan noch zwei Professuren in Nordamerika: 1971/1972 an der Harvard University und 1975-1983 am Boston College. Er starb am 26. November 1984 in Pickering (Ontario). Lonergans Hauptwerke sind schwierigen erkenntnistheoretischen und methodologischen Problemen gewidmet: 1957 erschien „Insight";73 1972 brachte er „A Method in Theology" heraus.74 „Insight" ist eine ruhig fließende Darlegung in der Sphäre der reinen Spekulation. Es geht um die Möglichkeiten und Grenzen der Erkenntnis und um die Erkenntnis Gottes. Das aristotelisch-thomistische Denksystem wird als das schlechthin überlegene dargestellt, doch läßt sich Lonergan durchaus auf die modernen Denkströmungen ein, und zwar ohne jede Polemik. Er kennt die Werke von Descartes, Hegel, Kierkegaard. Inwieweit er sie in ihrer geschichtlichen Bedeutung ernst nimmt, ist schwer zu beurteilen. Seine Denkweise steht überhaupt in der Tradition der englischen Empiriker und Rationalisten, und ihre (ungeschichtliche) Abstraktheit ist dem deutschen Leser schwer zugänglich.75 In der angelsächsischen Welt findet Lonergans Lebenswerk zunehmendes Interesse. Von einer projektierten Gesamtausgabe sind seit 1992 zehn Bände erschienen.

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Augustin Bea Augustin Kardinal Bea bleibt im Gedächtnis vieler Christen als „Wegbereiter der kirchlichen Einheit". 76 Bea wurde am 28. Mai 1881 in Riedböhringen (Baden) als einziges Kind des Zimmermanns Karl Bea und seiner Frau Maria geb. Merk geboren. Seine höhere Schulzeit begann er 1893 an dem Gymnasium und Internat in Sasbach. Im Juli 1900 legte er in Rastatt das Abitur ab. Danach studierte er in Freiburg drei Semester Theologie. Am 8. April 1902 trat er in Blijenbeek (Holland) in die Gesellschaft Jesu ein. Das ordensinterne Studium der Philosophie und Theologie absolvierte er in Valkenburg. 1912 zum Priester geweiht, legte er 1918 seine feierliche Profeß ab. An der Ordenshochschule Valkenburg wirkte er anschließend als Professor und Studienpräfekt. Das erste hohe Amt im Orden wurde P. Bea übertragen, als er im September 1921 Provinzial der neugegründeten Oberdeutschen Provinz der Gesellschaft wurde. 1924 erhielt er den Ruf als Professor für die biblischen Wissenschaften am Päpstlichen Bibelinstitut (Altes Testament) und an der Universität Gregoriana (Neues Testament). Am 6. Juli 1930 wurde er zum vierten (nach P. Leopold Fonck) Rektor des Bibelinstituts ernannt; er hatte das Amt neunzehn Jahre lang inne. Diese Jahre und das darauf folgende Jahrzehnt waren intensiven Forschungen auf den Gebieten der alttestamentlichen Exegese und der Orientalistik gewidmet. Die eigentliche Auslegung und biblische Theologie stand allerdings noch immer im unguten Schatten der Verfolgung des so genannten „Modernismus" unter Pius X . und der damaligen Dekrete der Bibelkommission. Von wissenschaftlicher Freiheit konnte also keine Rede sein. Beas Kollege M A X Z E R W I C K hat die Situation am Biblicum, die sich auch in dessen wissenschaftlicher Zeitschrift „Biblica" spiegelte, folgendermaßen beschrieben:77 Ein Blick in jene Jahrgänge zeigt, wie die katholische Exegese noch schwer unter dem Schock litt, der sie durch die kichliche Reaktion gegen den Modernismus getroffen hatte. Es finden sich kaum ein paar Artikel, die auf dem Gebiet der Exegese einen Fortschritt bedeutet hätten. Man zog es vor, sich in die ruhigeren Gewässer der Textkritik und der Exegesegeschichte zurückzuziehen. Mit anderen Alttestamentlern des Bibelinstituts arbeitete Bea an einer Ubersetzung der Psalmen (aus dem Hebräischen ins Lateinische), die zwar grammatisch und wörtlich genau, aber staubtrocken und völlig unpoetisch war (z. B. Ps 109,3: „Tecum principatus die ortus tui in splendore sanctitatis: ante luciferum, tamquam rorem, genui te" für: „Tecum principium in die virtutis tuae in splendoribus sanctorum, ex utero ante luciferum genui te"; Ps 112,9: „qui habitare facit eam quae sterilis erat in domo matrem filiorum laetantem" für: „qui habitare facit sterilem in domo matrem filiorum laetantem").78 Bei

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Pius XII., dessen Beichtvater er war, erreichte er, daß dieser sie für „offiziell" erklärte. Der große Einfluß, den Bea auf den Papst hatte, zeigt sich auch darin, daß er die Enzyklika „Divino afflante Spiritu" (1943) abfassen durfte.79 Mit ihr wurde den katholischen Exegeten endlich von höchster Stelle erlaubt, was ihre protestantischen Kollegen sich schon seit etwa zweihundert Jahren herausnahmen: nämlich die Bibel mit Hilfe literaturwissenschaftlicher und historisch-kritischer Methoden zu interpretieren. Die Fesseln, die Pius X. der katholischen Bibelwissenschaft angelegt hatte, galten damit für endgültig abgetan. Nach seiner Ernennung zum Kardinal (1959) durch Johannes XXIII. Roncalli hat Bea diese verspätete Rehabilitation wissenschaftlicher Methodik (und seine persönliche Rolle bei derselben) in seinem Wappen symbolisch darstellen lassen: über dem geöffneten Bibel-Buch mit Alpha und Omega schwebt die Taube des Heiligen Geistes.80 Ob der Vorgang wirklich einem geänderten Denken Beas entsprach oder nur kirchenpolitischen Charakter hatte, ist mit Gewißheit nicht auszumachen. In einer Vorlesung, die er als Kardinal in der Hochburg protestantischer Bibelwissenschaft, der Universität Tübingen, hielt, suchte er den evangelischen Exegeten den Einfluß und die Gefährdung, welchen ihre Arbeit durch die zahlreichen modernen -ismen (Rationalismus, Relativismus, Skeptizismus) ausgesetzt sei, aufzuzeigen - im Gegensatz zu der im sicheren Fahrwasser des Lehramts segelnden katholischen Exegese. Die Herren rochen den Braten nicht und waren geschmeichelt, von einem Kardinal zum Gespräch empfangen zu werden, der damals schon den Ruf eines großen Okumenikers hatte. Wie immer es sich damit verhalten mag, während der früheren und längeren Periode seines Lebens hat Augustin Bea als Alttestamentier eine eher reaktionäre Linie der Bibelexegese vertreten. So hat er, in Folgsamkeit gegenüber dem magisterium ordinarium des Papstes (und wider besseres Wissen) in seinen Vorlesungen - trotz Zugeständnissen an die neuere Forschung im Sinne von „Divino afflante Spiritu" - die Autorschaft des Moses für den gesamten Pentateuch und die Historizität der elf ersten Kapitel der Genesis vertreten.81 Was sich hinter seinen Augen, die freundlich und eiskalt abweisend blicken konnten, und seinem faltigen Hundegesicht (studentischer Spitzname: Goofy), das in blitzartigem Wechsel gutmütige und boshaft lauernde Züge annehmen konnte, verbarg, weiß man nicht. An dem Morgen, als seine bevorstehende Erhebung zum Kardinal bekannt geworden war, wollte ich (nichts ahnend) seine Vorlesung im ersten Stock des Bibelinstituts aufsuchen. Das gesamte Auditorium hatte den Hörsaal verlassen und kniete, ein Spalier bildend, im Gang davor. Der Noch-nicht-Kardinal schritt mit gnädigem Lächeln hindurch und reichte den Studenten die Hand zum Kusse. Mit der Erhebung zum Kardinal begann so etwas wie Beas „zweites Leben", in dem er durch seine ökumenische Tätigkeit internationale Prominenz und Weltruhm erwarb. Als Leiter des Päpstlichen Sekretariats für die Einheit der Christen zeigte er den orthodoxen und protestantischen Kirchenführern gegenüber großes diplomatisches Entgegenkommen und menschliche

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Freundlichkeit. Daß er geneigt war, von den eigenen dogmatischen Positionen Abstriche zu machen, darf man bezweifeln. Wahrscheinlich führte er die ökumenischen Gespräche in der Hoffnung, daß am Ende die Konversion der Gegenseite stünde. Einige seiner damaligen Gesprächspartner scheinen diesen Verdacht gehabt zu haben.82 Die meisten protestantischen, orthodoxen und jüdischen Gesprächspartner fühlten sich von Beas persönlicher Liebenswürdigkeit und der Pracht des römischen Parketts, zu dem er ihnen Zugang verschaffte, entzückt und geehrt. Heute, vierzig Jahre danach, hat sich gezeigt, daß die damalige ökumenische Euphorie verfrüht war: der Apostolische Stuhl hat bislang weder den anderen christlichen Religionsgemeinschaften den Status von Kirchen zugebilligt, noch die Amter und kultischen Funktionen ihrer Vertreter als gültig anerkannt. Augustin Kardinal Bea starb am 16. November 1968 in Rom. Er wurde in der Pfarrkirche seines Heimatortes Riedböhringen bestattet, in deren Chor er sich eine Grabstätte hatte bereiten lassen, in die er auch seine Eltern überführen ließ. In Rom gibt es massenhaft Kardinalsgräber, in Riedböhringen nur eines. Stanislas

Lyonnet

Zu weniger Prominenz als Augustin Bea innerhalb und außerhalb der Katholischen Kirche, dafür aber zu großer Wertschätzung in Kreisen der biblischen Fachgelehrten brachte es der französische Neutestamentier Stanislas Lyonnet.83 Geboren am 23. August 1902 in Saint-Étienne, trat er 1919 in das Noviziat der Jesuiten in Sainte-Foy-lez-Lyon ein. Danach wurde er zum Studium an der Universität Grenoble freigestellt, wo er 1924 die Licence-eslettres (ein philologisches Abschlußexamen) erwarb. Es folgten drei Jahre als Griechisch-Lehrer an einer Schule des Ordens in Yzeure. Von 1928 an studierte er die indo-europäischen Sprachwissenschaften an der École Pratique des Hautes Études in Paris. Seine Diplomarbeit hat den Titel: „Das Perfekt im klassischen Armenisch"; sie erschien 1933.84 Im Auftrag von P. Marie-Joseph Lagrange O.P. bearbeitete Lyonnet für das Manuel de critique textuelle du Nouveau Testament die Kapitel über die armenischen und georgischen Ubersetzungen des Neuen Testaments. Es entstand daraus eine Freundschaft mit dem gelehrten Dominikaner, der ihn wegen seiner wissenschaftlichen und menschlichen Qualitäten sehr schätzte. Nach den ordensinternen Studien der Philosophie und der Theologie in Lyon-Fourviére sollte Lyonnet zunächst einen Lehrstuhl für Armenisch an der École des Langes Orientales vivantes in Paris übernehmen. Die Ordensleitung bestimmte ihn jedoch für ein weiteres Studium am Päpstlichen Bibelinstitut, mit dem er 1936 begann. Nach dem Erwerb des biblischen Lizentiats kehrte er 1938 nach Lyon-Fourviére zurück, um an Stelle des erkrankten P. Joseph Huby die biblische Theologie zu lehren. 1942 wurde er auf den Lehrstuhl für Armenisch und Georgisch am römischen Bibelinstitut

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berufen, den er bis 1951 innehatte. Ab 1943 las er auch über die Exegese der Paulinischen Briefe. 1950 veröffentlichte er seine Dissertation über die Anfänge der armenischen Bibelübersetzung.85 Ab dem Jahre 1951 lehrte er nur noch Exegese und Theologie des Neuen Testaments. Lyonnets Hauptinteresse in Forschung und Lehre galt den Paulinischen Briefen, namentlich dem Römerbrief. Uber ihn verfaßte er mehrere gelehrte Studien, die zumeist aus seinen Vorlesungen hervorgingen und bis heute nicht überholt sind.86 Stanislas Lyonnet war nicht nur ein erstklassiger, umfassend gebildeter Wissenschaftler, er war auch ein brillanter akademischer Lehrer. Ich habe über zwei Jahre hin seine Vorlesungen über den Kolosserbrief (dessen paulinische Echtheit er verteidigte) und den Römerbrief des Apostels Paulus gehört. Sie waren Glanzlichter in wissenschaftlicher und didaktischer Hinsicht. Er beherrschte die lateinische Sprache wie seine französische Muttersprache, deren nasale Akzentuierungen er allerdings beibehielt. Seine Methode war die der Wort-für-Wort-Exegese entlang dem griechischen Text. Er hatte, wie er selbst einmal erwähnte, als erster seinen Vorlesungen am Bibelinstitut den griechischen Urtext (anstatt, wie es die Studienordnung vorschrieb, den lateinischen Text der Vulgatd) zugrundegelegt und war von einem erfahrenen Kollegen davor gewarnt worden („Ego non auderem!"). Die betreffende Passage stellte er dann in den Kontext der zu interpretierenden Schrift und in den Gesamtzusammenhang Paulinischer Theologie. Anschließend erläuterte er den religionsgeschichtlichen (jüdischen und hellenistischen) Hintergrund. Er setzte sich nicht nur eingehend mit der aktuellen exegetischen Literatur auseinander, sondern zog auch die auslegungsgeschichtliche Tradition, die Kommentare der Kirchenväter und die der Reformatoren Luther und Calvin heran. Im Gegensatz zu seinem deutschen Kollegen Karl Prümm (1890-1981), der ebenfalls ein hochgelehrter Exeget und Religionswissenschaftler,87 aber auch ein großer (manchmal polternder) Apologet war, vermied Lyonnet jede scharfe Polemik. Seine Waffe war die Ironie, zuweilen blitzte auch verhaltener Hohn auf, zum Beispiel wenn er die Auslegungskünste in offiziellen päpstlichen Verlautbarungen glossierte. Lyonnet betonte immer wieder oder ließ durchblicken, daß die biblischen Texte nicht als Belege für lehramtliche, dogmatische Verlautbarungen geeignet waren, weil das ihrem literarischen Charakter und Genus widersprach. Wohl hauptsächlich wegen dieser Einstellung und auch, weil seine Art der Bibelinterpretation überhaupt manchen römischen Kreisen als zu modern erschien, wurde noch unter dem Pontifikat des Papstes Johannes XXIII. Roncalli gegen ihn „an hoher Stelle" (VANHOYE) eine verleumderische Campagne ins Werk gesetzt. Lyonnet wurde, zusammen mit seinem deutschen Kollegen P. Max Zerwick, gemaßregelt und mit einem Vorlesungsverbot (1962-1964) belegt.88 Paul VI. Montini, der am 21. Juni 1963 zum Papst gewählt worden war, rehabilitierte ihn einige Monate später. Er wurde sogar zum Consultor der Kongregation für die Glaubenslehre, wie das Heilige

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Offizium nunmehr (euphemistisch) hieß, ernannt. 1982 hielt er, in Gegenwart des Papstes, die Fastenpredigten im Vatikan. Am Ende des Zyklus dankte Paul VI. P. Lyonnet und beglückwünschte den fast Achtzigjährigen zu seinem temperamentvollen und jugendlichen Auftreten. Lyonnet, dessen Arbeitskraft auch in vorgerücktem Alter kaum nachließ, starb am 8. Juni 1986 auf der Krankenstation der Gregoriana. Karl Rahner Die Urteile über Karl Rahner (1904-1984), seine Theologie und seine kirchengeschichtliche Bedeutung, gehen heute, über zwei Jahrzehnte nach seinem Tode, erheblich auseinander.89 Es gibt noch getreue Adepten, die in ihm den größten Theologen des 20. Jahrhunderts sehen.90 Andere machen ihn, mit ziemlicher Gehässigkeit, für die Irrwege der „modernen" Theologie verantwortlich. Schon zu seinen Lebzeiten tat dies der damalige Erzbischof von Köln, Joseph Kardinal Höffner (1906-1987); in Gegenwart von Priestern der Diözese Trier sprach er von Rahner als dem „Häresiarchen" der in Kirche und Klerus eingedrungenen Irrlehren.91 An dieser Stelle soll er gewiß nicht aus dem Blickwinkel der kirchlichen Orthodoxie beurteilt und abgeurteilt werden. Auch gilt für ihn und seine Theologie das Sprichwort: „De mortuis nil nisi bene." Und niemand gibt gern den Esel ab, der dem toten Löwen einen Fußtritt versetzt.92 Karl Rahner zählt zu den „großen" Theologen des 20. Jahrhunderts, allein schon wegen seiner Wirkung, seines Einflusses auf die jüngere Generation von (systematischen) Theologen und seine Arbeit am Zustandekommen zentraler Dokumente des II. Vatikanischen Konzils. Dennoch ist es an der Zeit, ohne die verbreiteten schriftlichen und mündlichen Würdigungen seines Lebenswerks angreifen zu wollen, auf seine epochebedingten theologischen und menschlichen Grenzen hinzuweisen. In seiner typisch jesuitischen Bescheidenheit hat er das schon selbst getan, als er von sich sagte: „Ich bin kein 'Wissenschaftler'".93 Karl Rahner wurde am 5. März 1904 zu Freiburg im Breisgau geboren. Im Jahre 1922 folgte er seinem älteren Bruder Hugo (1900-1968), der bereits Mitglied der Gesellschaft Jesu war, und trat in das Noviziat in Feldkirch ein. Die ordensinternen philosophischen Studien machte er in Feldkirch und Pullach. Es folgte das Theologiestudium in Valkenburg. 1932 wurde er zum Priester geweiht. 1934 stellte der Orden Rahner zu weiteren Studien frei; er war als Philosophie-Professor vorgesehen und sollte bei dem Freiburger Philosophen Martin Honecker (1888-1941) promovieren. Die Dissertation mit dem Titel: „Geist in Welt" geriet zum Debakel und wurde von dem Doktorvater wegen schwerer methodischer Mängel nicht akzeptiert. DAVID B E R GER schreibt darüber:94 In seiner Doktorarbeit, in der er über die Erkenntnislehre des Thomas von Aquin arbeiten sollte, hat er dann in wilder Weise Gedanken Heideggers mit

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denen des französischen Jesuiten [Joseph] Maréchal [1878-1944; er war Belgier!] vermischt und versucht, mit Thomaszitaten zu begründen: Dies war auch der Grund, warum ihm Honecker die Arbeit zur Überarbeitung zurückgegeben hat; Rahner weigerte sich, diese Umarbeitung durchzuführen und fand für Honekker Zeit seines Lebens nur noch sarkastisch-bösartige Äußerungen: Rahner bezeichnete Honecker stets als sturen Neuthomisten und beschuldigte ihn, er habe nur Arbeiten angenommen, die „von seinem Geist bestimmt" gewesen seien, und fügte hinzu: „Als ob der überhaupt einen Geist hätte." Rahner sah es jedenfalls nicht als sinnvoll an, sich mit Honecker auf weitere Diskussionen einzulassen und Korrekturen an seiner Arbeit vorzunehmen. Er kehrte nach Innsbruck zurück, wo er binnen weniger Monate durch den bekannten Neutestamentier Paul Gaechter S.J. (1893-1983) zum Doktor der Theologie promoviert wurde. Die Dissertation trägt den Titel: „E latere Christi". Nach Rahners eigenen Worten ist sie „eine kleine, miserable, aber nach damaligen Maßstäben genügende theologische Dissertation". Das Gutachten von P. Gaechter besteht aus einem einzigen Satz (!). Dem Votum schloß sich der Dogmatiker Franz Mitzka S.J. (1895-1950) durch einfaches Schreiben seines Namens an.95 Schon ein Jahr später (1937) folgte die theologische Habilitation. Jedem Kundigen ist klar, daß eine so zügige Abwicklung akademischer Verfahren nur durch mächtige Protektion erfolgen kann. Die wissenschaftliche Karriere eines „normalen" Doktoranden wäre bei einem vergleichbaren Hereinfall beendet gewesen. Karl Rahners Fall aber wurde durch den warmen Schoß seines Ordens abgefangen. Der übertrug ihm nach dem Zweiten Weltkrieg einen theologischen Lehrstuhl in Innsbruck, den er von 1949 bis 1964 innehatte. Aus den Vorlesungen ist seine zweite größere Monographie hervorgegangen: „Hörer des Wortes", eine Religionsphilosophie. 96 Von da an erschienen in rascher Folge seine Vorträge und Aufsätze zu allen möglichen Fragen der spekulativen und praktischen Theologie; sie sind in den siebzehn Bänden seiner „Schriften zur Theologie" zusammengefaßt.97 Obwohl er viele schwer verständliche Schachtelsätze baut und seine Kautelen in Klammern und Klammern innerhalb von Klammern anbringt, strotzen einige seiner Schriften von tiefsinnig klingenden Allgemeinplätzen. 1964 wurde Rahner auf den Lehrstuhl für katholische Weltanschauung in München berufen, den vor ihm Romano Guardini (1885-1965) innegehabt hatte. Durch den Stil seiner Vorlesungen und deren für die Hörer unverständlichen Inhalt brachte er es fertig, seinen Hörsaal binnen kurzer Zeit zu „entvölkern". In einem Brief an seinen Schüler Herbert Vorgrimler nahm er dazu folgendermaßen Stellung:98 Letztlich ist mir die Klage [über meine Vorlesungen] eigentlich wurscht. Denn wenn ein vernünftiges Buch da herauskommt, ist der Kirche mehr gedient, als wenn ich ein paar hundert dumme Leute wie Guardini „erbaue".

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Studenten, einfache Pfarrer, aber in seinen letzten Lebensjahren zunehmend auch Bischöfe, waren für ihn letztlich Dummköpfe, auf die er aus den Höhen seiner Theologie höhnisch herabblickte. In diesem Zusammenhang ist auch seine Ablehnung der „Volksreligion" zu sehen: die Christenheit der Zukunft stellte er sich als eine Minderheit von esoterisch-elitärem Charakter vor. Das genaue Gegenteil ist zutreffend: eine Religion muß sich davor hüten, ins Sektierertum abzugleiten; sie muß Volksreligion sein, insofern sie von einer allgemeinen Zustimmung und dem Ansehen bei den Vernünftigen oder zumindest (in der europäischen spätmodernen Gesellschaft) von wohlwollender Toleranz getragen sein muß. Im Verlaufe von Exerzitien, die Rahner 1956 im römischen Collegium Germanicum et Hungaricum gab, verstieg er sich zu der Behauptung, in der Kirche der Zukunft müßten die Priester Armut und Zölibat noch erheblich radikaler verstehen und leben. HEINZ-JÜRGEN VOGELS und in seinem G e f o l g e DAVID BERGER werfen

Rahner heterodoxe Vorstellungen in zentralen Bereichen der Dogmatik: der Trinitätslehre, Christologie, Mariologie vor. Es kommt darauf an, woher man die Grundlagen für solche Urteile nimmt (aus Thomas von Aquin? aus der neothomistischen Dogmatik? aus den Verlautbarungen des päpstlichen Lehramts?) und welche Maßstäbe man anlegt, um Rahner zum Ketzer zu stempeln. Wir lassen diese Diskussion auf sich beruhen. Den Historiker stören am Werk Rahners vor allem methodische Defizite und Unsauberkeiten, von denen hier nur drei exempli gratia genannt werden sollen: 1. In seinem Artikel „Ablaß", den er für die zweite Auflage des Lexikons für Theologie und Kirche verfaßt hat, zeigt sich seine mangelnde Kenntnis der einschlägigen kanonistischen Texte des Mittelalters. Das seit den Kreuzzügen herrschende Verständnis des Ablasses bügelt er nach seinen eigenen dogmatischen Vorstellungen zurecht, wie aus seiner Bemerkung erkennbar wird, daß „gewisse alte Formulierungen des Ablasses ... nur scheinbar auch eine Vergebung der Schuld als solcher aussprechen". Die „Vergebung von Portiuncula" des heiligen Franziskus ist nicht einmal erwähnt." 2. Die sophistische Unterscheidung von allgemein verbindlichen und privaten Offenbarungen, auf die sogar angesehene Literaturwissenschaftler und Mediävisten hereingefallen sind. Es gibt aber im Mittelalter einen solchen Unterschied nicht. Hildegard von Bingen, Franziskus von Assisi, Katharina von Siena, Birgitta von Schweden sind der Meinung, daß ihre Offenbarungen für die gesamte Kirche, nicht nur für sie selbst und private Konventikel bestimmt sind.100 3. Die von Ignatius in seinen Exerzitien postulierte Erkennbarkeit des Willens Gottes interpretiert er von seinen modernen Voraussetzungen her und historisch völlig unzutreffend als „Logik der existentiellen Erkenntnis". 101 Die Unart, eigene Spekulationen vorzutragen und deren „gut thomistischen" Charakter durch ein Zitat aus Thomas zu belegen, die ihm schon sein Lehrer Martin Honecker vorgehalten hatte, brachte ihm in den gefährlichen Zeiten des Pontifikats Pius' XII. viel augenzwinkernde Zustimmung ein, ist aber letztlich ein eitles Gebaren, das mit seriöser, handwerklich sauberer wissenschaftlicher Arbeit nicht eben viel zu tun hat.

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Die große prinzipielle Schwäche und Angreifbarkeit von Theologen wie Karl Rahner beruht darauf, daß sie in einem weit- und lebensfremden Raum gelehrt und geschrieben haben. Außer während ihrer Kindheit in meist frommen Elternhäusern hatten sie mit der Welt der Arbeit, des Handwerks, der Industrie so gut wie keine direkte Berührung. Die geistige Atmosphäre, in der sie wie in einer isolierten Luftblase schwammen, war für sie die Welt schlechthin, zumal sie sich von der (damals noch) großen Zahl des gläubigen Kirchenvolks getragen und bestätigt sahen. Und der (damals noch) intakte Orden bot ihnen materielle Absicherung und große Privilegien.102 Wenn (in den Jahren 1955-1960) Karl Rahners Besuch in dem römischen Collegium Germanicum angekündigt wurde, ging unter den Jesuiten-Brüdern der Spruch um: „Der Collatio-äh ist im Anmarsch." Diesen Spitznamen hatte er sich in seinen jungen Jahren in Innsbruck zugezogen, weil er den Tischlektor unter anderem mit dem Zwischenruf: „Collatio, äh!" zu nerven pflegte. Auf meine Bemerkung, es sei doch nichts Schlimmes, den Tischlektor auf die Ansage der Collatio casuum (der für die Theologiestudenten vorgeschriebenen Einübung der Beicht) aufmerksam zu machen, antwortete Bruder Wilhelm Dankl: „Aber der Ton, in dem er das geschrieen hat, der Ton!" Der Ton hatte sich den guten Brüdern eingeprägt, die (als unterste Kaste des Ordens) ein sehr feines Gefühl für menschliche Gefühllosigkeit entwickelt hatten. In der Biographie von Karl Kardinal Lehmann (*16. Mai 1936), deren Details doch wohl auf die von ihm selbst gegebenen Informationen zurückgehen, wird unter der Uberschrift: „Knochenarbeit in München" die umfangreiche Tätigkeit geschildert, die Lehmann als wissenschaftlicher Assistent „des großen Rahner" zu leisten hatte. Es ging dabei hauptsächlich um die Ausarbeitung der Vorlagen für das Konzil. Bei Antritt seiner Stelle war er von einem „Kenner" gewarnt worden: „Der hat schon mehrere verheizt." Ein helles Licht auf die schweren Defizite Rahners im Bereich des einfachen menschlichen Lebens und Umgangs fällt jedoch in den Abschnitten: „Ein besonderes Erlebnis: Urlaub mit Karl Rahner" und: „Höllenfahrt nach Rom", wo geschildert wird, wie der berühmte Theologe es versteht, einen Erholungsurlaub in eine menschenverschleißende Arbeitsorgie umzufunktionieren.103 Man muß die schier unglaublichen Einzelheiten selbst nachlesen. Dabei ist zu berücksichtigen, daß Lehmann seinem ehemaligen Lehrer gegenüber durchaus die Haltung des Wohlwollens und der Dankbarkeit bewahrt hat. Als im Jahre 1994 die Schriftstellerin L U I S E R I N S E R ihre Liebesbriefe an Karl Rahner veröffentlichte, kam heraus, daß auch dieser große Meister der Theologie und Spiritualität eine jahrzehntelange Doppelexistenz geführt hatte.104 Zwar hätte die Autorin, die die Gelegenheit wahrnimmt, auch ihre intime Beziehung zu einem weiteren hohen Kleriker zu offenbaren, besser über ihre Eroberungen im zölibatären Milieu geschwiegen. Aber nachdem nun einmal die Peinlichkeit nicht mehr zu vermeiden war, hätten die Verantwort-

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liehen des Jesuitenordens, zur Vervollständigung des Bildes, ihre Genehmigung zur Publikation der Briefe Rahners (Luise Rinser behauptet, sie besitze deren mehr als 1 800!) nicht verweigern sollen, anstatt diese Seite ihres berühmten Ordensbruders zu vertuschen. Für sich genommen, wird die Theologie Karl Rahners durch die Affäre nicht schlechter (auch nicht besser). Der Historiker kommt aber nicht umhin, auch in diesem Fall ein Symptom des inneren Zustands der Gesellschaft Jesu im ausgehenden 20. Jahrhundert zu markieren. Karl Rahner gab den Guardini-Lehrstuhl bereits nach drei Jahren (1967) wieder auf. In einem Alter, in dem das in Deutschland normaler Weise nicht mehr möglich ist, gelang es ihm, die Berufung auf einen Lehrstuhl für Dogmatik in Münster zu erhalten. Nach seiner Emeritierung zog er sich nach Innsbruck zurück, wo er am 30. März 1984 gestorben ist. Er wurde in der dortigen Jesuitenkirche bestattet. Gustav Gundlach Gustav Gundlach wurde am 3. April 1892 zu Geisenheim im Rheingau in einer Weinhändler-Familie geboren.105 Die Herkunft prägte sich in seinem Personentypus aus: seine massige Gestalt und sein großflächiges Gesicht verrieten (katholisch-barocke) Freude am Genuß: einem guten Glas Wein und einer dicken Zigarre. Ein Fabrikant stellte Zigarren her, auf deren Bauchbinde vermerkt war, daß es sich um Sonderanfertigungen für P. Gundlach handelte; Studenten, denen er sein besonderes Wohlwollen zeigen wollte, schenkte er gelegentlich eine davon. Nach der Ubersiedlung der Eltern nach Frankfurt am Main besuchte er das dortige Kaiser-Friedrichs-Gymnasium, an dem er 1910 das Abitur bestand. Das Studium der Philosophie begann Gundlach 1910 in Freiburg im Breisgau. Nach fünf Semestern trat er in die Gesellschaft Jesu ein. Von 1914 an studierte an der Hochschule des Ordens in Valkenburg Philosophie und Theologie. Im Ersten Weltkrieg mußte er sein Studium für drei Jahre unterbrechen, in denen er Verwundete betreute. Das ordensinterne Studium war 1924 beendet. Danach spezialiserte er sich auf den Gebieten der Sozialphilosophie und Nationalökonomie in Berlin, wo er 1927 bei Werner Sombart und Max Sering promovierte. Seine Dissertation mit dem Titel: „Zur Soziologie der katholischen Ideenwelt und des Jesuitenordens" gilt als grundlegend für die katholische Gesellschaftslehre (doctrina socialis Ecclesiae). Ihre letzten Sätze lauten (über den Jesuitenorden):106 Der Haß der Aufklärung als der gott„losen" Weltanschauung gegen den Orden ist nur dadurch zu verstehen, daß sie in ihm und seiner religiös-aktiven Art den gefährlichen Gegner sah. Diesem Unstand, und weniger einem Nachlassen seiner schöpferischen Aufgeschlossenheit, ist die äußere Niederlage des Ordens zuzuschreiben. Aber seine Arbeitsdynamik, seine Weltoffenheit werden der

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Kirche umso notwendiger sein, je mehr sich die Welt in jenem gesteigerten Lebensrhythmus befindet, dessen auffälligste Offenbarung der moderne Kapitalismus ist. 1929 übernahm Gundlach eine Professur für Sozialphilosophie an der Hochschule St. Georgen in Frankfurt. 1934 wurde er an die römische Gregoriana berufen. Schon unter Pius X I . wurde Gundlach als Berater für päpstliche Verlautbarungen zur Gesellschaftslehre herangezogen. Er entwarf ein Rundschreiben gegen den Nationalsozialismus, das aber nicht mehr zur Veröffentlichung gelangte.107 Im Pontifikat Pius' X I I . gelangte er dann zu beträchtlichem Einfluß, da der päpstliche Sekretär Robert Leiber, mit dem er befreundet war, ihn mit speziellen Aufgaben betraute. Pius XII. hat ihn allerdings, aus welchen Gründen immer, persönlich nie zu Gesicht bekommen. P. Leiber erzählte, daß sich der Papst einmal sehr über das Aussehen Gundlachs auf einer Fotografie in der Zeitung gewundert habe: er habe sich P. Gundlach ganz anders vorgestellt. In philosophischer (und theologischer) Hinsicht lag Gundlach, der ein ungemein scharfsinniger Denker und treffender Formulierer war, an einer Begründung von Familie, Eigentum und gesellschaftlicher Ordnung im metaphysischen, transzendenten Bereich. Von daher nahm er auch (er war vor allem bei deutschen Verbänden ein sehr beliebter Redner) zu aktuellen gesellschaftspolitischen Fragen Stellung. So vertrat er die Meinung, das „Recht auf Heimat", das die deutschen Vertriebenen damals beanspruchten, sei nicht ohne weiteres begründbar (allenfalls über das Wohl der Familie). Er vertrat auch die Berechtigung eines Krieges gegen die kommunistischen Staaten notfalls auch eines Atomkrieges als ultima ratio. Vom Ende des Kommunismus in absehbarer Zeit war er fest überzeugt (wofür er damals von den Studenten noch Hohn erntete). Dem im Orden herrschenden philosophischen und theologischen Neothomismus gegenüber suchte er sich einen geistigen Freiraum zu schaffen, indem er sich mehr an die Gedanken seines Ordensbruders Francisco Suarez hielt, der ja auch an der politischen Ethik sehr interessiert war; Gundlach galt als „Suarezianer". Wie er die nichtchristlichen Gesellschaftssysteme des Nationalsozialismus und des Kommunismus, aber auch den Liberalismus bekämpfte, so ging P. Gundlach auch mit innerkirchlichen Strömungen, die er für verfehlt hielt, nicht zimperlich um. Wenn er sich in Emphase redete, konnte die ansonsten sonore Stimme des schwergewichtigen Mannes sich zu Fisteltönen steigern;108 so, wenn er auf einen seiner Lieblingsgegner, den Fribourger Sozialwissenschaftler und Dominikaner Arthur Fridolin Utz (1908-2001) zu sprechen kam: „Uiitz" krächzte er dann; dagegen herablassend, fast mitleidsvoll, mit tiefer Stimme über seinen Ordensbruder und Kollegen Oswald von NellBreuning: „Ja, ja, ja, der Pater von Neil!" - er war ihm nicht radikal genug. Seine Aggressionen pflegte er abzubauen, indem er auf seinem Zimmer einen Boxbeutel mit den Fäusten bearbeitete. Im persönlichen Umgang war er von

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großer Liebenswürdigkeit und Hilfsbereitschaft, und er hatte einen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit (was bei einem Jesuiten keineswegs selbstverständlich ist). Zu den Kirchenfürsten, denen P. Gundlachs tiefe Abneigung galt, zählte der Kardinal Giovanni Battista Montini, Erzbischof von Mailand. Am 21. Juni 1963 wurde Montini zum Papst gewählt. P. Gundlach starb zwei Tage später, am 23. Juni. Ein anderer Jesuit, der ihn gut kannte, meinte, er habe diese Papstwahl nicht verkraftet. Gundlach hatte sich schon ein Jahr vorher nach Mönchengladbach zurückgezogen, wo er die Leitung der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle übernommen hatte.109 Offenbar übte der Dunstkreis des Konzils keine Anziehungskraft auf ihn aus, und sein Rat war wohl auch nicht mehr gefragt. Man kann über Gundlachs Tätigkeit in Rom nicht sprechen, ohne auch an P. Robert Leiber (1887-1967) zu erinnern, der in seinem wie in anderen Fällen die Verbindung zu der höchsten Stelle der Römischen Kirche herstellte. Leiber galt seinerzeit als engster Vertrauter Pius* XII., und er hatte auf alle Betätigungen dieses Papstes einen großen Einfluß. Wenn man ALIGHIERO TONDI glauben darf, der sein Kollege an der Gregoriana war, dann hat sich Leiber in einem Gespräch mit ihm einmal sehr kritisch über die finanzielle Abhängigkeit des Heiligen Stuhls von Amerika geäußert:110 Und der Jesuitenpater Leiber, Privatsekretär des Papstes, sagte mir: „Amerika ist im Laufe der Zeit vielleicht gefährlicher als die Kommunisten, weil diese durch eine menschliche Idee vorwärtsgetrieben werden, jenes hingegen nur an seine Interessen denkt. Aber jetzt scheint dem Papst die kommunistische Gefahr dringlicher zu sein. Leider erhalten wir von den Vereinigten Staaten viel Geld, und wir brauchen es. Kardinal Spellman hilft uns nach besten Kräften, 111 und auch das Weiße Haus hilft uns." - „Sie sagen 'leider', Pater", bemerkte ich. „Warum leider? Ist es nicht gut, daß sie uns Dollars schicken?" - „Nein", sagte Leiber, „nein. Es wäre sehr viel besser, sie schickten uns wirklich gar nichts. Es wäre sogar sehr viel besser, die Kirche beschäftigte sich weder mit Amerika noch mit Rußland, noch mit sonst jemand, sondern übte frei und unabhängig nur ihr geistliches Amt aus. Aber heute ist das nicht möglich." - „Und warum ist das nicht möglich?" - „Weil man Glauben haben müßte", antwortete er, „weil man an die Versprechungen Jesu Christi glauben und, wahrscheinlich, unter dem Kreuz gehen müßte, wie er es tat. 112 Aber heutzutage glaubt niemand mehr an diese Dinge; und unter dem Kreuz will niemand gehen."

Nach dem Tode Pius' XII. wurde Leiber kaltgestellt: er zog als zweiter Spiritual in das Collegium Germanicum. Bei der ersten Kardinalskreierung Johannes' X X I I I . war in Rom das Gerücht umgegangen, der Papst habe ihn für das hohe Amt vorgesehen, Leiber habe aber abgelehnt; statt seiner sei dann Augustin Bea erhoben worden. Bei seiner Einführung für Leiber spielt WILHELM KLEIN auf den V o r g a n g an. 113

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Jetzt wird P. Robert Leiber SJ in unsere Kommunität kommen und im Haus wohnen und seine Arbeiten fortsetzen. Wenn wir auch gelernt haben und lernen, über alles und jedes, was uns im Leben in den Blick kommt, Kritik zu üben, werden wir es hier schwer können. Ich pflege, wie Sie wissen, über meine Mitbrüder hier nicht zu sprechen, allenfalls, wenn einer tot ist und dann de mortuo nil nisi bene, über einen Toten nur Gutes. Bei den vivi sind wir ja immer versucht: de vivis nil nisi male, über die Lebenden nur Böses. Aber über P. Leiber wäre Letzteres wirklich schwer. Er hat jahrzehntelang hindurch in verantwortungsvollster Arbeit gestanden, mit schwierigsten Aufgaben beladen. Mit welchem Ausgang, sehen Sie daraus, dass die öffentliche Meinung es für selbstverständlich hält, dass ein solcher Mann für die allerhöchsten kirchlichen Ämter in Frage kommt. Dass so etwas wie das Letzte niemand mehr zuwider ist als dem guten Pater selbst, ist selbstverständlich für jeden, der ihn kennt. Und er ist Jesuit und hat wie wir alle ein aufs Schwerste im Gewissen bindendes Gelübde gemacht, von dem der Papst, aber auch nur der Papst, lösen kann, nie im Leben irgend eine kirchliche Würde anzunehmen oder zu erstreben. (Die Welt versteht so was nicht; und manchmal sagt man boshaft: Die Jesuiten werden nicht Bischöfe, sondern machen Bischöfe. Nun, wo immer ein Jesuit wirklich solcher Versuchung nachgebend bei dergleichen mitwirkt, verstößt er zwar nicht gegen das genannte Gelübde, aber gegen genug anderes und auch gegen die Klugheit. Denn nur die allerdümmsten Kälber usw.). Ich freue mich, dass P. Leiber, mit dem ich auch in persönlicher Freundschaft seit fast vierzig Jahren verbunden bin, in unsere Kommunität kommt und brauche Sie nach allem Gesagten nicht eigens zu bitten, sich dankbar zu zeigen. In der darauf folgenden Zeit lernte ich P. Leiber näher kennen (so weit das bei dem verschlossenen, introvertierten Mann möglich war). Während der Zeit, in der er im Germanicum wohnte, unternahm er auch Reisen nach Deutschland, wo er in Vorträgen Pius X I I . verteidigte, der damals, im Gefolge von Rolf Hochhuts Drama „Der Stellvertreter" (1963) wegen seiner Haltung den Juden gegenüber heftiger Kritik ausgesetzt war." 4 Im Kolleg hielt er ab und zu Vorträge (Betrachtungspunkte, Exhorten), die sich seltsam realitätsfremd und weitabgewandt anhörten. Er hatte wohl schon weitgehend resigniert und mit seinem aktiven Leben abgeschlossen. E r litt unter schwerem Asthma, einer Krankheit, die bekanntlich auch psychische Ursachen hat. Ich kann mich gut erinnern, wie er, ein kleines gebeugtes Hutzelmännchen, schnaufend über Treppen und Gänge schlich (mitleidloser studentischer Spitzname: „die Dampfmaschine") und sich mittels einer Inhalierpumpe Erleichterung verschaffte. Als ihn der Bischof von Trier, Matthias Wehr (1892-1967), kurz nach seinem Umzug in das Germanicum fragte, ob er jetzt seine liegengebliebenen wissenschaftlichen Arbeiten wieder aufnehmen werde, antwortete er: „Ist nichts liegen geblieben, Exzellenz, ist nichts liegen geblieben." Die zahlreichen Briefe, die er noch erhielt, reihte er (ungeöffnet!) am Rande seines Schreibtisches zwischen zwei Buchstützen auf. Jedesmal wenn die Reihe voll war, schubste er einen Teil davon in den darunter stehenden Papierkorb. Den Schreibern versicherte er bei Nachfragen halbwahrheitsgemäß, er habe den Brief nicht erhalten.

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Oswald von

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„Die große Bedeutung Neil-Breunings für die Sozialgeschichte der Bundesrepublik liegt darin, daß er kritische Vermittlungsdienste über trennende politische Gräben hinweg leisten konnte", schreibt sein Mitbruder FRIEDHELM HENGSBACH in dem informativen Artikel über Oswald von Nell-Breuning in der „Neuen Deutschen Biographie".115 Mit Neil-Breunings intensivem staatsund kirchenpolitischen Engagement hängt es zusammen, daß er „kein umfassendes Lebenswerk" geschrieben hat, was er selbst bedauerte. Seine erste Betätigung mit Folgen für die Gesamtkirche war der Entwurf für die Sozialenzyklika „Quadragesimo anno" (1931), den er im Auftrag des Papstes Pius' XI. schrieb.116 Uber den Text diskutierte er u. a. mit Gustav Gundlach, dessen Gedanken somit ebenfalls in die Enzyklika einflössen.117 In den Nachkriegsjahren gab er das „Wörterbuch der Politik" heraus, ein nützliches Arbeitsinstrument, dessen fünf Bände 1947-1950 erschienen. Nell-Breuning, der in den Gründungsjahren der Bundesrepublik Deutschland mehreren politischen und wirtschaftlichen Beratungsgremien angehörte und bei Parteien und Gewerkschaften gleichermaßen als sachkundiger und unabhängiger Ratgeber geschätzt war, war im Hauptberuf (seit 1929) Professor für Moraltheologie, Kirchenrecht, Wirtschafts- und Gesellschaftslehre an der Hochschule St. Georgen in Frankfurt am Main. Seine kirchenpolitischen Aktivitäten erreichten ihren Höhepunkt während der gemeinsamen Synode der Bistümer Deutschlands im Jahre 1974 in Würzburg, für die er die Beschlußvorlage mit dem Titel: „Kirche und Arbeiterschaft" vefaßte. In dieser Zeit war seine innerkirchliche Position nicht mehr umstritten, was keineswegs immer so war. Denn der äußerlich asthenische, immer vornehm-zurückhaltend agierende Jesuit - in seiner körperlichen Erscheinung und in seinem Verhalten war er der Gegentyp seines Kollegen P. Gundlach! - war eine Kämpfernatur, die Konflikten nicht aus dem Wege ging. Oswald von Nell-Breuning wurde am 8. März 1890 in Trier geboren. Sein Vater Arthur von Neil war preußischer Rittmeister und zeitweilig Mitglied des rheinischen Provinziallandtags; er war Besitzer des Ritterguts St. Matthias bei Trier. Die Mutter Bernarda von Breuning stammte aus Koblenz. Oswald besuchte das Trierer Friedrich-Wilhelm-Gymnasium, an dem er 1908, ein Jahr nach Wilhelm Klein und siebzig Jahre nach Karl Marx, das Abitur machte. Danach studierte er einige Semester Mathematik und Naturwissenschaften in Kiel, München, Straßburg, Berlin. In Berlin lernte er den berühmten Germaniker Carl Sonnenschein (1876-1929) kennen. In Folge der mit ihm geführten Gespräche entschloß sich Nell-Breuning zum Studium der Theologie, das er 1910 in Innsbruck aufnahm. 1911 trat er in die Gesellschaft Jesu ein. 1921 wurde er zum Priester geweiht. Danach war er einige Jahre im seelsorgerlichen Bereich tätig. 1926 zum Weiterstudium freigestellt, wurde er

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1928 an der Universität Münster mit einer Dissertation über das Thema: „Grundzüge der Börsenmoral" promoviert.' 18 Dies blieb seine einzige größere wissenschaftliche Monographie. In vorgerücktem Alter, nach seiner Emeritierung, publizierte Nell-Breuning seine gesellschaftspolitischen Ansichten in mehreren Werken, die teilweise den Charakter von Kampfschriften haben, wie schon ihre Titel ahnen lassen: „Kapitalismus kritisch betrachtet (1974), „Worauf es mir ankommt" (1983), „Arbeitet der Mensch zuviel?" (1985), „Unsere Verantwortung für eine solidarische Gesellschaft" (1987).119 Er trat für ein Gesellschaftssystem ein, das man als „gemäßigten Sozialismus" bezeichnen könnte. Seine Sympathie für die Arbeiter und die Gewerkschaften verschaffte ihm auch in sozialistischen Kreisen Vertrauen. So hatte er schon 1959 die Gelegenheit erhalten, an dem Godesberger Programm der Sozialdemokratischen Partei mitzuwirken. Weit davon entfernt, die so genannte „soziale Marktwirtschaft" der Bundesrepublik zu loben, sprach er vielmehr kritisch von einem „sozial temperierten Kapitalismus" - womit er wohl nicht ganz falsch lag. Oswald von Nell-Breuning starb, im Alter von über 101 Jahren, am 21. August 1991 in Frankfurt am Main. Wilhelm Klein Karl Rahner, den viele für den bedeutendsten katholischen Theologen des 20. Jahrhunderts halten, soll einmal geäußert haben, daß er einem anderen diesen Rang zuerkenne: Wilhelm Klein.120 Klein fällt aus der Reihe der gelehrten Jesuiten, von denen bisher die Rede war, schon dadurch heraus, daß von ihm bei seinen Lebzeiten keine einzige Zeile veröffentlicht wurde. Er entfaltete seine denkwürdige und weit reichende Wirksamkeit allein durch das gesprochene Wort: in Vorträgen, Predigten und persönlichem Gespräch. Erst nach seinem Tode begannen zwei seiner ehemaligen Schüler damit, seine nachgelassenen Schriften, die ein abenteuerliches Schicksal hatten und deren Vernichtung er mehrmals angeordnet hatte, zu sichten und herauszugeben. Das meiste davon sind Vorträge, die er in seiner Zeit als Spiritual im römischen Collegium Germanicum et Hungaricum gehalten hat.121 Klein wirkte als Spiritual von 1948 bis 1961 im Germanicum. Der eigentliche Höhepunkt seines Lebens und Wirkens waren die fünf Jahre von 1956 bis 1961, aus denen auch die meisten seiner erhaltenen Schriften stammen. Er selbst äußerte gelegentlich, er habe erst nach seinem 65. Lebensjahr einigermaßen den Durchblick bekommen. Wilhelm Klein wurde am 24. März 1889 in Traben-Trarbach als fünftes Kind des dortigen Bahnhofsvorstehers Wilhelm Klein und seiner Frau Katharina geb. Goergen geboren. Nach der Versetzung des Vaters nach Trier wuchs Klein dort im Kreise von insgesamt neun Geschwistern, sechs Brüdern und drei Schwestern, auf. Die Eltern ließen alle Kinder studieren. Fünf von den Jungen wurden Priester, vier davon Jesuiten. 1907 machte Klein sein

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Abitur an dem Trierer Friedrich-Wilhelm-Gymnasium. Der spätere Münsteraner Philosoph Peter Wust (1884-1940) war sein Klassenkamerad. Von 1907 bis 1913 studierte Klein an den von den Jesuiten geleiteten römischen Elite-Ausbildungsstätten, der Päpstlichen Universität Gregoriana und dem Collegium Germanicum-Hungaricum. Aufgrund einer besonderen Erlaubnis des Papstes Pius' X. (1903-1914) wurde er, noch nicht vierundzwanzigjährig, am 28. Oktober 1912 zum Priester geweiht. Das Studium an der Gregoriana hatte er, wie damals noch möglich und üblich, mit den Doktoraten in Philosophie und Theologie abgeschlossen. Nach kurzer Kaplanszeit in Dieblich bei Koblenz trat er 1913 in die Gesellschaft Jesu ein. Den ersten Weltkrieg verbrachte er als Feldgeistlicher an der Westfront. 1918 erlitt er schwere Verletzungen durch Granatsplitter, von denen einer in den Schädel eindrang und im Gehirn steckenblieb.122 Die vernarbte Wunde blieb lebenslänglich sichtbar: Es fehlte ein größeres Stück der hinteren Schädeldecke, und da er Haare wegen der Schmerzen nicht mehr ertragen konnte, sah man die über dem Gehirn pulsierende Haut. Bekannten und Freunden gegenüber sprach er gelegentlich von einem „Gehirnschrittmacher", mit dem Gott ihn ausgestattet habe, um ihn bestimmte Dinge klarer erkennen zu lassen und sie anderen vermitteln zu können. Ein zweiter Splitter, der ihn an der Wirbelsäule getroffen hatte, hinterließ ebenfalls eine Spur, die ihn für sein weiteres Leben zeichnete: Seine ohnehin kleine Gestalt blieb leicht gekrümmt. In diesen wie in anderen Dingen sah er sich in der Gefolgschaft seines Lieblingsapostels Paulus, des „Kleinen",123 dessen Briefe er ebenso meisterhaft wie eigenwillig interpretierte. Gegen die Beschwerden seines Körpers ging er mit verschiedenen selbstverordneten Diäten, viel kaltem Wasser und eiserner Disziplin vor. Unmittelbar nach seiner schweren Verwundung hatten ihn Ärzte und Sanitäter aufgegeben. Sein Mitbruder und Kaplan Josef Grisar (1886-1967) 124 brachte den fast schon Toten zu einem Lazarettzug, den die Berliner Juden ausgerüstet und an die Front geschickt hatten. Von der Krankenschwester, die ihn damals pflegte und ihm das Leben rettete, behauptete er später, es sei Edith Stein (1891-1942) gewesen. Er erzählte auch zahlreichen Freunden und Bekannten, er sei der jungen Philosophin und Schülerin Edmund Husserls (1859-1938) in Freiburg wiederbegegnet, als er dort nach seiner Genesung an seiner Promotion arbeitete. Beide Begegnungen mit der später in dem Konzentrationslager Auschwitz ermordeten Philosophin und Karmelitin halten einer biographischen Nachprüfung nicht stand: Edith Stein war im letzten Kriegsjahr nicht an der Westfront und hielt sich in den Nachkriegsjahren auch nicht mehr in Freiburg auf, sondern war in ihre Heimatstadt Breslau zurückgekehrt. Kleins „Erinnerungen" an die beiden Begegnungen sind somit Bestandteil einer autobiographischen Legende, an der er, wie viele andere bedeutende Persönlichkeiten, im Alter strickte. Überdies hatte er, wie andere Jesuiten, zu der geschichtlichen Wahrheit ein gespaltenes Verhältnis. Dagegen ist er damals mit Sicherheit einem anderen Husserl-Schüler, nämlich dem mit ihm gleichaltrigen Martin Heidegger (1889-1976), begegnet.

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1921 wurde Klein mit einer Arbeit über den spätmittelalterlichen Philosophen Nikolaus von Autrecourt promoviert. Referenten waren Joseph Geyser (1869-1948) und Husserl. Obwohl ihn die damals in seinem Orden betriebene Schulphilosophie überhaupt nicht interessierte, machte man ihn zum Philosophieprofessor an der Ordenshochschule in Valkenburg in den Niederlanden (1922-1929). Es folgten drei Jahre als Rektor der Hochschule St. Georgen in Frankfurt am Main (1929-1932). In den entscheidenden Jahren 1932-1938 bekleidete er das Amt des Provinzials in Köln. Als solcher unternahm er mehrere Visitationsreisen in die Missionsgebiete der Jesuiten, die ihn u.a. bis nach China und Japan führten. 1938 kehrte er als Rektor nach Valkenburg zurück; er leitete die Hochschule bis zu ihrer Schließung durch die deutsche Besatzungsmacht im Jahre 1942. Nach dem Kriege wurde er nicht mehr in höheren Funktionen eingesetzt. 1945-1948 war er Spiritual an dem Priesterseminar in Hildesheim; danach kehrte er an seine Ausbildungsstätte, das römische Germanicum, zurück, wo er bis 1961 als Spiritual wirkte. 1961-1988 lebte er, zunächst als Superior, später als einfacher Seelsorger, in dem im Zentrum von Bonn gelegenen Paulushaus der Jesuiten. Er war ein gefragter und von Besuchern nahezu überlaufener Ratgeber. Die letzten Jahre seines Lebens verbrachte er in dem Pflegeheim seines Ordens, Haus Sentmaring in Münster, wo er am 7. Januar 1996 im Alter von fast 107 Jahren als ältester Jesuit und ältester Priester der Katholischen Kirche starb. Die höchst eigenwilligen und einflußreichen theologischen und spirituellen Gedanken Kleins sind zum Teil dokumentiert in seinen nachgelassenen Schriften, die allerdings das, was er seinen Schülern und Hörern im gesprochenen Wort vermittelte, nur unzureichend wiedergeben. Immerhin vermitteln sie dem, der sich in sie ohne dogmatische Vorurteile vertieft, ein im ganzen zutreffendes Bild von seinem Denken. Die zentrale Idee, um die sein Denken in den Jahren 1956-1961 kreiste, war das, was er die „Marienwahrheit" nannte: Die Vorstellung, das Geheimnis von der reinen Schöpfung war seiner Ansicht nach das, worum es in der Schrift von der Genesis bis zur Apokalypse eigentlich geht. Am Römerbrief des Apostels Paulus zeigte er dies in einer über die Jahre sich hinziehenden Wort-für-Wort-Exegese. Sie erreichte ihren Höhepunkt zu Beginn des Jahres 1960 in der Auslegung von Rom 8,30 (npocbpioev, emXeaev, eSiKaicoaev, eSo^aaev), der Mitte des Römerbriefs.125 Es gibt die reine, nie gefallene, unversehrt und unbefleckt gebliebene Herrlichkeit Gottes im persönlichen Geschöpf seiner Liebe, in dem er seine Herrlichkeit geschaffen hat. Erschreckt sehen Sie gewöhnlich auf und wehren ab, wenn ich darauf zu sprechen komme. Sie wehren ab und gehen allenfalls mit, wenn ich sage: diese geschaffene Herrlichkeit Gottes ist die Herrlichkeit Jesu Christi, des Einziggeborenen des Vaters. Wenn ich aber fortfahre und sage, diese Herrlichkeit der geschaffenen Menschheit Jesu Christi, die in der ewigen Schöpferperson Jesu Christi getragen

Bedeutende Jesuiten des „neuen" Ordens

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wird, ist geschaffen in der geschaffenen Person der Gottesmutter, dann werden wir unruhig. Dann beginnt jedesmal der unheimliche Pudel sich zu regen und aufzubäumen. Dieser Faustische Pudel ist die in jedem wirksame und wache á(iapxía, die große Gegenkraft der Immaculata und Assumpta. Obwohl die ánaptía als treibende Kraft der Welt- und Menschheitsgeschichte dem entgegenwirkt, wird doch in den Äonen der Kirche die Braut zunehmend enthüllt. Insofern ist das zwanzigste Jahrhundert der Kirche weiter als das erste.126 Entgegen den Grundtendenzen der historisch-kritischen Exegese, die sich nach Erscheinen der Enzyklika „Divino afilante Spiritu" des Papstes Pius XII.127 auch innerhalb der katholischen Bibelwissenschaft allmählich durchsetzte, ging Klein bewußt auf die allegorische Auslegungsmethode der Kirchenväter, insbesondere des Augustinus, zurück, weil er sie letztlich für die sachgemäßere hielt. Die Kapitel 30-32 des zwölften Buches der Confessiones waren für ihn die hermeneutische Schlüsselstelle schlechthin.128 Auf eine verkürzte Formel gebracht lautet der Leitgedanke für Lesen und Verstehen der Bibel: Die Wahrheit der Schrift ist umfassender, weiter, tiefer, als es die vordergründige Rede des jeweiligen biblischen Autors (Moses, Jeremias, Paulus) zum Ausdruck bringt. In den von ihm hochgeschätzten drei letzten Büchern der Confessiones fand Klein auch die „Marienwahrheit", vor allem in den tiefen Gedanken über das Verhältnis von ewigem Gott und zeitlichem Geschöpf, die um die Idee von der intellectualis creatura kreisen (Conf. 12,9-17). Wie schon bei Augustinus ist auch für Klein die Kreatur, die nicht gleich ewig wie Gott ist, aber dennoch sich nicht in die Zeiten verliert, sondern an der Ewigkeit Gottes teilhat, zugleich hermeneutisches Prinzip, durch das der Menschengeist Einsicht erlangt (intelligat) in das Geheimnis der Schrift und des ewigen Gottes.129 Seine Auslegung der Bücher 11-13 der Confessiones trug Klein im Sommer 1957 im Park der Villa San Pastore bei Palestrina im Rahmen einer „geistlichen Lesung" vor.130 Es existieren darüber wohl keine Aufzeichnungen mehr. Die Frage: Wie kommt der Gott in die Welt-Zeit? sah er schon in den ersten Worten der Genesis und des Johannes-Evangeliums: év ópxti> ausgesprochen: der Anfang der Schöpfung ist das reine Geschöpf, das da war, ehe mit der gefallenen Schöpfung die Geschichte begann. In diesem Zusammenhang wurde er nicht müde zu betonen, daß das äußere Wort der Schrift, auch das des Neuen Testamentes, p á j i n a , toter und tötender Buchstabe (2 Kor 3,6) ist. Leben und Sinn erhält das biblische Wort allein durch das Ttvetyux, das er mit „Maria" identifizierte. In der hier skizzierten Auffassung lag letztlich auch der Grund für seine Geringschätzung der historischen und philologischen Wissenschaften, zu denen er aufgrund seines rein systematisch orientierten Studiums ohnehin keinen rechten Zugang hatte - eine der schwachen Seiten dieses genialen Denkers.

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XIII. Der „neue" Orden

In seinen späteren Jahren kreiste Kleins Denken um die tätige Liebe als Erweis auch des rechten Glaubens und das Wirken Gottes in allem und in allen (1 Kor 12,6). So betrachtet, konnten Menschen, die in der vordergründigen, geschichtlichen Dimension als Verbrecher auftraten, wie etwa Hitler, in Wirklichkeit Heilige sein. Ahnliche Gedanken hatten ihm schon in seinen römischen Jahren die Vorwürfe des Gnostizismus und Origenismus eingetragen. Und es sind wohl seine in die Nähe der Apokatastasis-Vorstellung führenden Erwägungen, die noch P. STEINMETZ in seinem Nachruf zu der Feststellung veranlassen: „Manchmal hingegen wirkte er geradezu furchterregend."131 Wilhelm Klein hat durch sein Wort und sein Leben vor allem bei der letzten Generation katholischer Theologen des 20. Jahrhunderts eine tiefgehende Wirkung entfaltet, die gegenwärtig nur schwer einzuschätzen, aber kaum zu überschätzen ist. Bekannte Theologen und kirchliche Amtsträger wie Hans Küng und Karl Lehmann haben in ihren Lebenserinnerungen auf die Anregungen hingewiesen, die sie in den Jahren ihres Studiums durch Klein erhalten haben.132 Aber auch weniger prominente Schüler Kleins, wie z. B. Dominik Schmidig (27. März 1936 - 6. Juni 2003), Philosophieprofessor in Chur und Luzern, und Josef Peter (20. Dezember 1933 - 20. Juni 2003), Spiritual in Fulda, haben sich zeitlebens dankbar an das erinnert, was er ihnen in ihren römischen Studienjahren an Wertvollem vermittelt hatte.133 Wer immer sich in Zukunft mit dieser sokratischen Gestalt beschäftigt, wird gut daran tun, sie nicht an den Kriterien einer vermeintlichen Rechtgläubigkeit oder eines spätaufgeklärten Biblizismus zu messen, sondern sie im Kontext ihrer geistigen Verwandten und Vorfahren zu sehen: der heiligen Häretiker Origenes, Augustinus, Hildegard von Bingen, Mechthild von Magdeburg, Gertrud von Helfta, Jakob Böhme und anderer theologischer und spiritueller Grenzgänger.

XIV E P I L O G

Was bleibt? Seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts ist einer zunehmenden Anzahl von Mitgliedern der Gesellschaft Jesu das ignatianische Lebensideal und dessen Zukunftsfähigkeit fragwürdig geworden. Sie haben dies mit stillem oder spektakulärem Austritt aus der Gesellschaft dokumentiert. Viele der einstmals berühmten Kollegien und Ausbildungsstätten des Ordens sind heute zweckentfremdet oder zu traurigen Ruinen verkommen. Aber auch bislang treue Mitglieder des Ordens sind von einer Unsicherheit erfaßt, der sie gelegentlich, schriftlich oder mündlich, Ausdruck geben. In seiner Untersuchung über den aktuellen Stand des spirituellen Vermächtnisses des Ignatius von Loyola stellt P. L o u i s BEIRNAERT unter der Überschrift „Ausblick" die Fragen, ob „man den gegenwärtigen Augenblick des einzelnen Jesuiten und des Ordens mit dem ignatianischen Terminus der Trostlosigkeit umschreiben" könne, und: „Ist die Zeit des Ordens vorbei? Ist der Jesuit im Grunde nur eine Übergangsform vom Ordensmann zum Laien?" 1 Im Jahre 1952, auf dem Höhepunkt des Pontifikats Pius' XII., als noch fast niemand an den Zerfall des katholischen Ordenswesens dachte und die Gesellschaft Jesu weltweit 31 561 Mitglieder hatte (15 593 Priester, 10 454 Scholastiker, 5 514 Brüder) trat der Jesuit und angesehene Professor an der Gregoriana A L I G HIERO TONDI (1908-1984) aus dem Orden aus. Sein 1961 erschienenes Buch: Die Jesuiten ist ein Abgesang auf die Gesellschaft Jesu, die er als „Organismus, in dem niemand frei atmen kann, in dem alle vernichtet werden", erfahren hatte, und ein Vordenken von deren Auflösung. 2 Angesichts des offenbar unaufhaltsamen Zerfalls der Gesellschaft Jesu und der Organisationen mit sektiererischem und mafiosem Charakter, die in der Katholischen Kirche von heute ihre Rolle und ihren Einfluß abgelöst haben, kann man keine Freude empfinden. Aber es ist das Schicksal religiöser Bewegungen, daß ihnen der Keim des Zerfalls bereits eingestiftet ist und, nach Überschreiten ihrer hohen Zeit, auch wirksam wird. Vor den Jesuiten haben die mittelalterlichen Ordensgründungen der Cistercienser und der Franziskaner dieses Geschick erlebt.3 Die radikalen Lebensformen und Lebensnormen, zu denen die Gründergestalten nach harten Kämpfen mit sich selbst und ihrem geschichtlichen Umfeld gefunden haben, finden in einer Epoche, die dafür reif ist, eine Schar begeisterter Anhänger, die auf ihrem Niveau stehen. Nach einer kurzen Zeit geistiger Bewegkraft und äußeren Glanzes erlischt, oft schon nach einer oder zwei Generationen, ihre Ausstrahlungs-

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Epilog

kraft; die weniger genialen Nachkömmlinge fallen der Routine des Alltäglichen anheim, verlieren ihre ursprünglichen unterscheidenden Merkmale und versacken mit der Dekadenz ihrer Bewegungen in der Bedeutungslosigkeit. Trotzdem muß bei einer welthistorischen Gestalt wie Ignatius die Frage nach dem Bleibenden seines Lebenswerks erlaubt sein. Eine Aufzählung dessen, was nicht bleiben kann, mag man für überflüssig halten. Ich habe auch nicht die Illusion und den Ehrgeiz, zur Beseitigung zählebiger kirchlicher Mißstände einen Beitrag leisten zu können. Allerdings bin ich der Meinung, daß zur Bewahrung und einer neuen Möglichkeit der Wirkung ignatianischer Theologie und Weltsicht die Beseitigung einiger krankhafter Elemente notwendig wäre. Zu ihnen gehört an erster Stelle die Ideologie des blinden Kadavergehorsams, die weder ein theologisches noch ein humanes Fundament hat; an zweiter Stelle die Jungfräulichkeits- und Zölibatsideologie, dieses ungute Erbe des Mönchtums, das als Ursache individueller und kollektiver Neurosen das Lebensglück unzähliger Menschen zerstört hat. Eng verbunden damit ist der Beichtzwang, der sein Uberleben den sorgfältig gepflegten sexuellen Angstträumen verdankt. Der größte Teil der heutigen Christenheit kommt ohne Zölibat und Beicht aus. Ausgedient hat auch der Dogmatismus in der Theologie und der Moral, wie er vor allem in dem von den Jesuiten kultivierten neoscholastischen System seinen Niederschlag fand, mit seinem Unfehlbarkeitsanspruch und der Diskriminierung der Nicht-Konformen als Häretiker. All das ist in den ignatianischen Exerzitien zugrundegelegt, deren unkritische Rezeption, aber auch modernisierende Verwässerung mehr als fragwürdig sind. Ignatius von Loyola ist jedoch, trotz eindeutiger Anzeichen von „Geistesgestörtheit" (TONDI)4 und ihrer geschichtlichen Folgen nicht nur ein Heiliger der Katholischen Kirche mit begrenzter theologie- und frömmigkeitsgeschichtlicher Bedeutung, sondern eine Gestalt von welthistorischem Rang (GOTHEIN). 5 Das gibt Anlaß zu der Frage, worin, über das geschichtlich greifbare Werk hinaus, die individuelle weltgeschichtliche Bedeutung des Ignatius eigentlich besteht. Ich meine, daß Ignatius kultur- und religionsgeschichtlich bedeutend ist durch die Entdeckung der Seele. Durch die meditative Schau ins eigene Innere (Introspektion) hat er das Leben seiner Seele in verschiedenen Äußerungen und Bewegungen in sein Bewußtsein gehoben. Damit gelangte er zur Erkenntnis der Abhängigkeit der Seele von Gott, was ihn zur Erkenntnis Gottes selbst führte; oder, um es mit den Worten HEGELS ZU sagen: „daß Gott sich im endlichen Geist manifestiert und darin identisch mit sich ist".6 Natürlich kann man nicht von einer Entdeckung der Seele in striktem Sinn durch Ignatius sprechen; es handelt sich eher um eine Wiederentdeckung derselben und Wiedereinsetzung in ihre alte Würde als das eigentliche Ich. Die Seele als Ort Gottes ist für Ignatius von größerer Bedeutung als das Wort Gottes, mit anderen Worten: Ignatius findet in den Texten der Bibel, was er vorher schon in seiner Seele entdeckt hat. Die Seele ist zugleich der Kampfplatz, auf dem die Unterscheidung der Geister stattfindet, das Schlachtfeld, auf dem die Entscheidung zwischen Gott und Teufel fällt.

Epilog

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Der Blick in die Seele, die innere Schau, führt zur Gewißheit meiner Abhängigkeit „von oben". Andererseits: ich habe im Erlösungs-Drama eine wichtige Rolle; es wird mir im Zentrum der Trinität, neben dem kreuztragenden Erlöser, ein Platz angewiesen. Der Weg auf diesen Platz in der himmlischen Glorie führt über das Eingehen in die Passion des (im Tode) aufgespaltenen Erlösers. Von daher leitet sich das Zentrum der ignatianischen Theologie ab, die in keine dogmatische Schultheologie hineinpaßt, auch nicht in das kirchenoffizielle dogmatische System eingeordnet werden kann, sondern meditative, mystische Theologie ist, die keine gedankenlose Zustimmung einfordert, sondern zum Weiterdenken anregt. Die pia meditatio des Lebens und Leidens Christi mit dem Ziel der Angleichung an den Erlöser ist der eigentliche Kern der Exerzitien, der über deren zeitbedingte (aber in ihrem historischen Kontext zu erklärende) Schwachstellen hinausreicht. Und hier ist auch der Ort für den Gehorsam in seiner theologischen und mystischen Dimension: nicht als blinder Kadavergehorsam mit dem Ziel der Abtötung von Verstand und Eigenwillen, sondern als Horchen auf Willen und Walten Gottes in der Nachfolge des Sohnes Gottes, „der aus seinen Leiden den Gehorsam lernte" (Hebr 5,8). Doch gehen diese Erwägungen bereits über den Rahmen einer historischen Untersuchung hinaus. Es sollte damit nur angedeutet werden, wie das Denken des Ignatius innerhalb der christlichen Religion weiterwirken könnte. In der Geschichte des Christentums entstanden aus dem erwähnten denkerischen Kern einerseits die architektonischen und ikonographischen Apotheosen des Barock, andererseits das Opferleben und Martyrium der Heiligen, die die Gesellschaft Jesu hervorgebracht hat, im Dienst der Sorge für die Seelen. Dieser Kern des geistlichen Rittertums, den Ignatius von Loyola aus dem Mittelalter heraus in die Neuzeit transportiert hat, findet, wie ich meine, seinen angemessenen Ausdruck in dem schönen franziskanischen Lebensund Todesgebet, das Bestandteil der Exerzitien ist: Seele Christi, heilige mich. Leib Christi, rette mich. Blut Christi, berausche mich. Wasser der Seite Christi, wasche mich. Leiden Christi, stärke mich. Guter Jesus, erhöre mich. Verbirg in deinen Wunden mich. Laß niemals von dir trennen mich. Vom bösen Feind bewahre mich. In meiner Todesstunde rufe mich Und stelle dir zur Seite mich, Auf daß mit deinen Heiligen ich lobe dich Für alle Zeiten ewiglich. Amen.

Pour quoy non - Warum nicht?

Anmerkungen I. Einführung 1 Hugo RAHNER hat das Bild seinem 1964 erschienenen Buch: „Ignatius von Loyola als Mensch und Theologe" vorangestellt und im Vorwort desselben eine Erläuterung gegeben. 2 S. dazu: Helmut FELD: Franziskus von Assisi und seine Bewegung, Darmstadt 1994, 115-120. 3 Fotografie des Wappens in: Leonard VON MATT, Hugo RAHNER: Ignatius von Loyola, Würzburg [1955], Abb. 1 und 3.

II. Kindheit und Jugend 1 Über die Amme und Pflegemutter Iñigos s. vor allem: Pedro DE LETURIA: Disertación critica sobre el año del nascimiento de San Ignacio, in: DERS.: Estudios Ignacianos 1,55-68; ebd. 59; DERS.: Damas Vascas en la formación y transformación de Iñigo de Loyola: ebd. 1,69-85; ebd. 84f. 2 W. W. MEISSNER: Ignatius von Loyola. Psychogramm eines Heiligen, Freiburg-Basel-Wien 1997 (engl. Orig.: The Psychology of a Saint. Ignatius of Loyola, New Häven and London 1992). 3 V g l . MEISSNER, o . e . , 4 1 5 .

4 I. TELLECHEA: Ignatius von Loyola. „Allein und zu Fuß". Eine Biographie, Zürich 1991 (span. Orig.: Ignacio de Loyola solo y a pie, Madrid 1986. 5 TELLECHEA, o.e., 13f.; vgl. auch ebd. 37f.: „Das Fehlen der Mutter ist Quelle von Depressionen und Verhaltensweisen, denen das Objekt fehlt, es beeinflußt das Reagieren und die Beziehungen zu den andern, es erweckt dunkle Schuldgefühle. All die ruhelosen Draufgänger folgen einem unausweichlichen Drang, Ausgleich für die Störung der mütterlichen Orientierungsfunktion zu schaffen. Liegt darin der verborgene Schlüssel zu der rastlosen Abenteuersuche, die ein gutes Stück in Iñigos Leben ausmacht? ... In Iñigos Seele wurde die Mutter ersetzt und ihr Mangel kompensiert, sei es durch die Amme, sei es durch seine Schwägerin Doña Magdalena de Araoz, sei es durch die guten Frauen von Manresa oder eine noch viel höhere Beschützerin." 6 Darüber ausführlich: LETURIA: Disertación (o. Anm. 1); MEISSNER: Ignatius, 504, Anm. 4. 7 Im ersten Satz des Pilgerbuches sagt Ignatius von sich selbst, er sei „bis zu seinem 26. Lebensjahr den Eitelkeiten der Welt ergeben" gewesen („Hasta los 26 años de su edad fue hombre dado a los vanidades del mundo y principalmente se deleitaba en ejercicio de armas con un grande y vano deseo de ganar honra.") Demnach hätte er als sein Geburtsjahr 1495 angenommen. S. darüber: E l P e r e g r i n o , e d . RAMBLA BLANCH (U. A n m . 2 3 ) , 2 7 , A n m . 2 . 3 4 5

Anmerkungen

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8 Das Geburtsjahr 1491 wird bestätigt durch einen Verkaufsvertrag vom 23. Oktober 1505, in dem Ignatius (Ynego de Loyola) als Zeuge beim Verkauf eines Pferdes auftritt; nach damals geltendem Recht muß er 14 Jahre alt gewesen, also vor dem 23. Oktober 1491 geboren sein; s. Fontes Documentales (MHSI 115), 169f. (Nr. 32); vgl. auch FN 1 (MHSI 66), 20-22*. 9 TELLECHEA: I g n a t i u s , 3 9 .

10 Über ihn: Genealogía, Nr. 17 (Fontes Documentales [MHSI 115], 781 f.); über den Krieg in Italien zwischen Karl VIII. von Frankreich einerseits und den miteinander verbündeten Papst Alexander VI., Kaiser Maximilian I. und König Ferdinand von Aragon andererseits, dessen Anlaß der Tod des Königs Ferrante von Neapel Anfang des Jahres 1494 war, s.: Erich HASSINGER: Das Werden des neuzeitlichen Europa 1300-1600, Braunschweig21964, 97f. 11 S. Genealogía, Nr. 18. 19 (Fontes Doc. [MHSI 115], 782-785). 12 „Pater noster ... die quadam ad cubiculum suum me accersit, cumque apud se me sedere iusisset, familiariter mihi exponere cepit quod in initio conversionis sue a seculo ad Deum habebat in libello precatorio officii B. Marie virginis imaginem referentem speciem cuiusdam cognate sue; cumque horas eas recitando quotidie veniret ad folium impresse illius imaginis, sentiebat affectu quodam humano in cognatam perturbari cursum devotionis sue; sed ubi magna cum reverenda imaginem velasset interpositione carte nitide, statim ad consuetum devotionis cursum rediit" (MI Scripta 2 [MHSI 8], 434f.; Nr. 56). 13 Er war Baccalaureus und starb nach 1500 in Süditalien: Genealogía, Nr. 20 (Fontes Doc. [MHSI 115], 785). 14 Sein Testament (vom 16. Februar 1508) ist erhalten: Doc. Nr. 35 (Fontes Doc. [MHSI 115],185-194); Genealogía, Nr. 21 (ebd. 785f.). 15 Verzichtserklärung gegenüber seinem Bruder Martín Garcia: Doc. Nr. 38 (Fontes Doc. [MHSI 115], 202-205; Genealogia, Nr. 22 (ebd. 786). 16 Genealogia, Nr. 23 (ebd. 786f.). 17 Genealogia, Nr. 25-28 (ebd. 792-794). 18 Genealogia, Nr. 29. 30 (ebd. 794). 19 Eine konzise, übersichtliche Darstellung gibt Burkhart SCHNEIDER in der Einleitung seiner deutschen Übersetzung des „Berichts" (Freiburg Br. 1956), 27-29.

20 S. FELD: Franziskus (1994), 42f. 21 B. SCHNEIDER, I.e. (o. Anm. 19), 28. - Zwei handschriftliche Aufzeichnungen des Ignatius selbst, von denen später noch die Rede sein wird, sind bis heute verschollen: das in roter und blauer Schönschrift niedergeschriebene Buch mit Worten Christi und der Jungfrau Maria und der Anfang eines Buches über die Trinität. 22 Acta Antiquissima, a P. Ludovico Consalvo S.I., ex ore Sancti excepta; et a P. Hannibale Codretto, eiusdem S.I., in Latinum conversa, in: Acta Sanctorum Iulii VII,634-654. 23 Acta Patris Ignatii scripta a P. Lud. Gonzalez de Camara 1553/1555, in: Fontes Narrativi de S. Ignatio de Loyola 1 (MHSI 66), Roma 1943, 323-507; neuere kritische Ausgabe: El Peregrino. Autobiografía de San Ignacio de Loyola. Introducción, notas y comentario por Josep M. a RAMBLA BLANCH, Bilbao-Santander 1984.

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24 Weitere deutsche Übersetzungen: Die Bekenntnisse des Ignatius von Loyola Stifters der Gesellschaft Jesu, übersetzt von Heinrich BOEHMER, Leipzig 1902; Lebenserinnerungen des hl Ignatius von Loyola. Nach dem spanisch-italienischen Urtext übertragen, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Alfred FEDER, Regensburg 1922; Ignatius von Loyola: Bericht des Pilgers. Übersetzt und kommentiert von Peter KNAUER, Leipzig 1999. 25 TELLECHEA: Ignatius, 21.

26 Vgl. Pilgerbericht, Nr. 6, und die Anm. dazu von B. SCHNEIDER, o.e., 138. Die Bedeutung der Herzensdame für die psychische und religiöse Entwicklung des Ignatius bleibt letztlich ebenso ungewiß wie die der Pflegemutter Maria Garin. Bemerkenswert ist jedoch, wie präsent ihm ihre „virtuelle" Gestalt noch im Alter war. 27 S. o. Anm. 7! 28 Die erhaltenen Akten der Prozesse von Azpeitia und Pamplona gegen Iñigo und seinen Bruder Pero López sind jetzt veröffentlicht in: Fontes Documentales de S. Ignatio de Loyola (MHSI 115), 229-246 (Nr. 48). 29 „... e los delictos que cometyó son calificados e muy henormes, por los haver cometydo él e Pero Lopes, su hermano, de noche, e de propósyto, e sobre habla e consejo ávido sobre asechança, e alebosamente, segund paresce por esta pesquisa que le presento" (ebd. 238). 30 Fontes Doc. (MHSI 115), 258-260 (Nr. 53); s. auch: Luis FERNÁNDEZ M A R T Í N : Un episodio desconocido de la juventud de Ignacio de Loyola. AHSI 44 (1975), 131-138. 31 „Por la quai vos mandamos que ayáys ynformaçiôn sy el dicho Ynigo de Loyola tiene nesçesydad e justa cabsa de traer las dichas armas e dos onbres andando con el e, sy por ella allardes ser asy, que dando primeramente fianças que no ofenderá con ellas a persona alguna e que solamente las traerá para defensyón de su persona, e le deys liçençia e faculdad para que por término de un año primero syguiente pueda traer las dichas armas o un onbre andando con él, que, dándole vos la dicha liçençia, nos por la presente se la damos para que durante el dicho término pueda traer las dichas armas e un ombre andando con él e non en otra manera, con tanto que no las pueda traer en nuestra corte" (ebd. 261). 32 TELLECHEA: Ignatius, 61.

33 In der heutigen Medizin wird das Krankheitsbild als „Hyperostose" bezeichnet. 34 Vgl. o. Anm. 12. 35 Gemeint ist vor allem der damals sehr verbreitete und später auch von Ignatius erwähnte „Amadis de Gaula"; moderne kritische Editionen: Garci Rodríguez de Montalvo: Amadis de Gaula. Edición de Juan Manuel C A C H O B L E C U A , 2 Bde., Madrid 1987. 1988; Amadis de Gaula. Garci Rodríguez de Montalvo. Al cuidado de Javier CERCAS, Barcelona 1999; vgl. u. Kap. IV, Anm. 14. 36 Das Leben Jesu des Ludolf von Sachsen ( t 1377/78 in Straßburg) ist eine Art Evangelien-Harmonie, angereichert durch zahlreiche apokryphe und legendarische Erzählungen; bei der Sammlung von Heiligenleben handelt es sich um die bekannte „Legenda aurea" des Jacobus de Vorágine (1228/29-1298). Von beiden Werken gab es zu Beginn des 16. Jahrhunderts spanische Übersetzungen; s. darüber ausführlich in der Einleitung von MI, Ser. II, Tom. 1 (MHSI 100), 38—46.

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Anmerkungen

37 „Item mando que enbíen a Santiago un orne por mi alma": Fontes Documentales (MHSI 115), 47 (Nr. 12). 38 „Ytem mando que enbíen dos ornes a Santiago de Galisia, por quanto soy en cargo. Ytem mando que enbíen dos ornes a Santa Maria de Guadalupe, el uno por mi alma e el otro por el alma de Juan Peres de Oynás, que Dios aya, e enbíen con los ornes que allá ovieren de yr dies florines corrientes para la obra de dicha yglesia": ebd. 67 (Nr. 15). 39 Pilgerbericht, Nr. 10. 40 Die gleiche Erfahrung machen auch andere Heilige, deren Bekehrung mit dem Vorsatz sexueller Enthaltsamkeit verbunden ist. So schreibt schon Augustinus in seinen Confessiones (10,30,41): „Befohlen hast du, mich des Beischlafs zu enthalten, und hast mich gebieterisch an etwas Besseres gemahnt, als die Ehe es ist, die du zugelassen hast. Weil du mir es gegeben hast, war diese Vorschrift erfüllt, noch bevor ich zum Verwalter deines Sakraments wurde. Aber noch leben in meinem Gedächtnis, von dem ich so viel geredet habe, sexuelle Bilder, von meiner Gewohnheit dort eingeprägt. Wenn ich wach bin, überfallen sie mich kraftlos, aber im Schlaf führen sie nicht nur bis zur Lust, sondern bis zum Einverständnis und zu etwas, was der Tat sehr nahe kommt." 41 Pilgerbericht, Nr. 11. 42 Vgl. MEISSNER: Ignatius, 80; TELLECHEA, Ignatius, 88f.; anders dagegen: Gottfried MARON: Ignatius von Loyola, Göttingen 2001, 23. 43 Immerhin wird in dem zweiten und dritten Punkt der „Betrachtung zur Erlangung der Liebe" (Exerc. Nr. 235) eine Meditation empfohlen, die vom Wirken Gottes in der Natur ihren Ausgang nimmt: „Zweitens, darauf achten, wie Gott in den Geschöpfen wohnt; in den Elementen, indem er ihnen das Sein gibt; in den Pflanzen, indem er ihnen das Wachstum gibt; in den Tieren, indem er ihnen das Fühlen gibt; in den Menschen, indem er ihnen das Erkennen gibt; und so in mir, indem er mir Sein, Leben, Fühlen und Erkennen verleiht, mich darüber hinaus zu seinem Tempel macht, da ich nach dem Gleichnis und Bild seiner göttlichen Majestät geschaffen bin; ebenso für mich die Folgerung daraus ziehen ... Drittens, betrachten, wie Gott meinetwegen wirkt und arbeitet in allen geschaffenen Dingen auf der Erdoberfläche, das heißt: er verhält sich wie ein Arbeitender am Himmel, in den Elementen, den Pflanzen, Früchten, Herden usw., indem er ihnen das Sein gibt, sie erhält, ihnen Wachstum und Gefühl gibt usw. Sodann die Folgerung für mich daraus ziehen."

III. Anfang der Pilgerschaft 1 In der Nähe von Burgos liegt die Kartause Miraflores; s. Leonard VON MATT, Hugo RAHNER: Ignatius von Loyola, Würzburg [1955], 99f.; Abb. 69-72. 2 „Ma la respuesta fué de manera que, sin apartarse de la verdad, porque dello tenía ya grande escrúpulo, se descabullo del hermano" (Pilgerbericht, Nr. 12). 3 Pilgerbericht, Nr. 13. 4 S. VON MATT, RAHNER: Ignatius, 105f.; Abb. 73-76; das Heiligtum wird von Franziskanern gehütet. 5 „Y porque tenía más miedo de ser vencido en lo que toca a la castidad que en otras cosas, hizo en el camino voto de castidad, y esto a nuestra Señora, a la cual tenía especial devoción": Epístola P. Lainii, Nr. 5 (FN 1 [MHSI 66], 74/76).

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6 „Desde el día que se partió de su tierra siempre se disciplinaba cada noche" (Pilgerbericht, Nr. 13). 7 B. SCHNEIDER: Bericht des Pilgers, Erläuterungen, 140. 8 Adrian von Utrecht, seit 1516 Bischof von Tortosa und seit 1520 Statthalter Karls in Spanien, war am 9. Januar 1522 in Abwesenheit zum Papst gewählt worden. 9 Pilgerbericht, Nr. 14. 10 Es scheint ein „aufgeklärter" Maure gewesen zu sein, der auch bezüglich der Glaubensinhalte des Koran seine Vorbehalte hatte; die heilige Schrift der Muslime lehrt nämlich die Empfängnis Jesu durch ein Wunder und damit die Jungfräulichkeit der Mutter Jesu: 19. Sure (Maria), 16-22; vgl. auch 21. Sure (Die Propheten), 91. 11 Pilgerbericht, Nr. 15. Das Gnadenbild vom Montserrat ist eine so genannte „Schwarze Madonna", 12 eine bemalte Holzplastik vom Ende des 1 1 . Jahrhunderts; s. VON M A T T , R A H NER: Ignatius, l l l f . ; Abb. 79 und 80. Über die Nachtwache am Vorabend der Ritterweihe vgl.: Dietrich S A N D B E R 13 GER: Die Aufnahme in den Ritterstand in England, in: Arno B O R S T (Hrsg.): Das Rittertum im Mittelalter, Darmstadt 1 9 7 6 , 8 4 - 1 0 5 ; ebd. 9 1 - 9 3 . Amadís, Libro I, Cap. 11 (ed. C A C H O B L E C U A 1 , 3 3 8 ) : „Pues que assí es - dixo 14 él - , en el nombre de Dios sea, y agora nos vamos a alguna iglesia para tener la vigilia. - N o es necessario - dixo Galaor - , que ya oy he oído missa y vi el verdadero Cuerpo de Dios. - Esto basta - dixo el de los leones. Y poniéndole la espuela diestra, y besándolo le dixo: - Agora sois cavallero, y tomai la espada de quien más vos agradará." 15 Der bedeutende spanische Philologe und Kulturphilosoph Miguel DE U N A M U NO (1834—1936) hat den Charakter des D o n Quijote mit dem des Ignatius verglichen; s. bes.: Vida de Don Quijote y Sancho, ed. Alberto N A V A R R O , Madrid 1988, 160. 167f. 16 D . L O P E Z T E J A D A : L O S Ejercicios espirituales de San Ignacio de Loyola. Comentario y textos afines, Madrid 1998, 306-308. 17 S. u. Kap. VIII.4. 18 S. u. Kap. V, bei Anm. 16; 24/25; 47-55. 19 S. u. Kap. IX.2, bei Anm. 48. 20 S. u. Kap. IX.2, bei Anm. 63. 21 S. u. Kap. XIII.3. 22 G. MARÓN: Ignatius von Loyola, Göttingen 2001, vor allem 165-169; vgl. meine Besprechung dazu in: T h L Z 127 (2002), 1321-1324. 23 MEISSNER: Ignatius, 375. 24 MEISSNER, ebd. 375f.

IV. Die Geistliche Schule von Manresa 1 Es waren aber sicher auch geistlich-aszetische Motive, die hinter der Entscheidung für das Bettlertum standen. Ignatius wußte sehr gut und mußte es auch erleben, daß er sich damit dem Spott der „normalen" Leute aussetzte; vgl. Pilgerbericht, Nr. 56 und u. Kap. VII, bei Anm. 17.

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Anmerkungen

2 Pilgerbericht, Nr. 19-27. 3 Pilgerbericht, Nr. 20. 4 Vgl. hierzu Ignatius' Brief an die Benediktinerin Teresa Rejadella in Barcelona vom 18. Juni 1536: „Was den ersten Punkt betrifft, so ist das die gewöhnliche Taktik, die der böse Feind denen gegenüber beobachtet, die Gott unserem Herrn dienen wollen und damit anfangen: er legt ihnen Hindernisse und macht Einwände, und das ist die erste Waffe, mit der er uns verwunden will. Zum Beispiel (sagt er): 'Wie willst du all deine Jahre hindurch so ein Leben der Buße führen ohne die Freuden der Familie, der Freunde, des Besitzes? Wie ein solches Leben der Einsamkeit, ohne einen Augenblick der Ruhe? Gibt es nicht andere Wege, auf denen du deine Seele retten könntest, ohne so viele Gefahren?' Damit will er uns einreden, daß wir mit all den Mühsalen, die er uns vorspiegelt, länger leben müßten, als je ein Mensch lebte. Nichts aber verrät er von der Süßigkeit und den Tröstungen, die der Herr solchen Menschen zu geben pflegt - wenn der neue Diener Gottes allen jenen Einflüsterungen die Spitze abbricht mit dem liebenden Entschluß, seinem Schöpfer und Herrn auch ins Leiden zu folgen" (Hugo RAHNER: Ignatius von Loyola. Briefwechsel mit Frauen, Freiburg. Br. 1956, 383f.). - Fortsetzung des Textes s. u. Anm. 47. 5 „O! Piega a mi Señor Jesu Cristo que os quiera aparecer un día" (Pilgerbericht, Nr. 21). 6 „Mas ni en Barcelona ni en Manresa, por todo el tiempo que allí estuvo, pudo hallar personas, que tanto le ayudasen como él deseaba; solamente en Manresa aquella muger, de que arriba está dicho, que le dixera que rogaba a Dios le aparesciese Jesu Cristo: esta sola le parescía que entraba más en las cosas espirituales" (Pilgerbericht, Nr. 37). 7 Vgl. etwa Imitatio Christi IV,3,2: „Necessarium quidem mihi est, qui tarn saepe labor et pecco, tam cito torpesco et deficio, ut per frequentes orationes et confessiones, ac sacram Corporis tui perceptionem, me renovem, mundem et accendam, ne forte diutius abstinendo, a sancto proposito defluam." - Zur Häufigkeit der Beicht im Spätmittelalter s. Sven GROSSE: Heilsungewißheit und Scrupulositas im späten Mittelalter, Tübingen 1994, 176-178. 8 „Estando en estos pensamientos, le venían muchas veces tentaciones con grande Ímpetu para echarse de un agujero grande que aquella su cámara tenía, y estaba junto del lugar donde hacía oración" (Pilgerbericht, Nr. 24). 9 MEISSNER: Ignatius, 1 0 9 ; so auch schon Heinrich BOEHMER, Ignatius ( 1 9 4 1 ) , 36; „Fenster" heißt aber ventana oder ventanal. 10 Der spanische Dominikaner José Ma C O L L hat eine eingehende Untersuchung über den ehemaligen Dominikanerkonvent San Pedro Mártir (vulgo Santo Domingo) in Manresa und den dortigen Aufenthalt Iñigos im Jahre 1522 verfaßt. Nach einer im Kloster umlaufenden Tradition soll sich die von Iñigo bewohnte Zelle in dem so genannten „Priorat" befunden haben. Sie wurde am Beginn des 18. Jahrhunderts in eine Kapelle umgewandelt. Ob es tatsächlich die Zelle des heiligen Ignatius war, ist jedoch ungewiß. Auch C O L L nimmt an, daß es sich bei dem agujero nur um ein Fenster gehandelt haben könne. Die Madonnen-Statue „Mare de Deu de Gracia", die Iñigo noch an der Fassade der Klosterkirche gesehen hatte, und ein Kreuz, das ihm angeblich gehört hatte, wurden 1936 durch die republikanischen Truppen zerstört: San Ignacio de Loyola y el convento de Santo Domingo, de Manresa. Analecta Sacra Tarraconensia 29 (1956), 313-343; bes. 313-323.

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11 Karl KUBES, Joachim RÖSSL: Stift Zwettl und seine Kunstschätze, St. PöltenWien 1979; romanische Latrinenanlage (Necessarium): 18f. und Abb. 1. 31. 12 S. die Zusammenstellung der entsprechenden Stellen aus den Tischreden bei Kurt ALAND: Der Weg zur Reformation, München 1965, 68-70. 13 Vgl. z.B. Exerc. Nr. 354: „Alabar et confessar con sacerdote, y el res