Ich war gefangen in Guantanamo. Ein Ex-Häftling erzählt
 3453120957, 9783453120952

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Nizar Sassi In Zusammenarbeit mit Guy Benhamou

»Ich war gefangen in Guantanamo« Ein Ex-Häftling erzählt

Aus dem Französischen von Maja Ueberle-Pfaff

Die Originalausgabe erschien 2 0 0 6 unter dem Titel Prisonnier 325, Camp Delta. De Venissieux ä Guantanamo bei fiditions Denoel, Paris

Inhalt Vorwort Kapitel Kapitel Kapitel Kapitel Kapitel Kapitel Kapitel Kapitel Kapitel Kapitel Kapitel Kapitel Kapitel

1: 2: 3: 4: 5: 6: 7: 8: 9: 10: 11: 12: 13:

7 Stille Tage in Les Minguettes Reiseziel Kandahar AI Walid - AI Faruq Die Falle Tora Bora Das Ende der Flucht Rückkehr nach Kandahar Willkommen in Guantanamo Die französische Polizei Häftling 325, Camp Delta Durststrecke Endspiel Gefängnis, Freiheit

Epilog Danksagungen

9 26 38 54 65 76 90 106 122 132 148 161 172 186 189

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Vorwort Ich heiße Nizar Sassi, bin siebenundzwanzig Jahre alt und habe vier Jahre meines Lebens hinter Gittern verbracht, davon dreißig Monate in Guantanamo, dem geheimsten Gefangenenlager der Welt. Ohne Grund. Ich weiß, das ist kaum zu glauben. Laut öffentlicher Meinung sind alle da unten zwangsläufig Kämpfer oder Terroristen. Die gibt es. Das stimmt. Aber viele andere sind dort gelandet, ohne zu wissen, warum. Zu denen gehöre ich. Zu denen, die sich zur falschen Zeit am falschen Ort befanden, aus Leichtsinn, Unbekümmertheit oder Leichtgläubigkeit. Zu denen, die kein Verbrechen begangen haben und die man dennoch verurteilt hat, ohne sie vor Gericht zu stellen. Meine Geschichte ist ein wenig auch die ihre. Hier ist sie.

Kapitel 1

Stille Tage in Les Minguettes Ich wurde am 1. August 1979 in Lyon geboren; meine Familie stammt aus Tunesien. Ende der 70er Jahre kamen meine Eltern nach Frankreich und zogen in die Wohnsiedlung »Les Minguettes« in Venissieux, einem Vorort von Lyon. Sie sind einfache Leute. Mein Vater ist Arbeiter und war lange in einer Fabrik angestellt, bevor er krank und dadurch arbeitsunfähig wurde. Seine Eltern waren so arm, dass er seit seinem achten Lebensjahr für den Lebensunterhalt der Familie schuften musste. Was bedeutet, dass er nur selten einen Fuß in die Schule gesetzt hat. Er kann weder lesen noch schreiben. Meine Mutter hat ihr Leben lang vor allem eines getan - uns großgezogen, mich, meine vier Brüder und meine beiden Schwestern. Sieben Kinder im Haus, das ist eine Vollzeitbeschäftigung. Aber im Gegensatz zu Papa war Mama auf der Schule und ist gebildet. Wir wohnen schon immer im selben Gebäude, in einer kleinen Wohnung, in der aber jeder seinen Platz hat. Die Aufteilung der drei Zimmer ist einfach: eines für die Eltern, eines für die Mädchen und eines für die Jungen. Natürlich ist es nicht immer leicht, am Abend Hausaufgaben zu machen, wenn die anderen dauernd stören, sich

streiten oder laut Musik hören. Aber auch wenn man beengt lebt, heißt das nicht unbedingt, dass man sich auf die Nerven geht. Im Gegenteil - wenn einer fehlt, fehlt allen etwas. Im großen Ganzen ist man glücklich in diesem vertrauten und warmen Nest. Und dann gibt es da noch die Onkel, Tanten und Cousins, die in der Nachbarschaft wohnen. Es vergeht keine Woche, ohne dass wir uns treffen, mal beim einen, mal beim anderen. Man ist so oft wie möglich zusammen. Meinen Eltern ist es aber auch wichtig, die Verbindung zur Heimat zu halten. Sie wollen, dass wir die Familienangehörigen kennen, die dort unten geblieben sind, und dass wir stolz auf unsere Herkunft sind. Also verbringen wir die Sommerferien dort, aber nur alle zwei Jahre, denn für sieben Personen ist es eine teure Reise. Ich erinnere mich an das Dorf meines Vaters mit seinen Straßen aus gestampftem Lehm und den Kühen, die vor dem Haus meiner Großmutter vorbeitrotten. Ich habe dort mit meinen Brüdern und Schwestern wunderbare Ferien verbracht. In der Grundschule läuft alles recht gut; die Lehrerinnen sagen meinen Eltern, dass ich sehr begabt sei. Schwieriger wird die Situation in der weiterführenden Schule und dann später in der Berufsfachschule. Ich lasse mich vom allgemeinen Schlendrian anstecken. Wer wirklich büffeln will, muss Disziplin haben. Und die habe ich nicht. Ich schlage mich lieber auf die Seite der - nicht im Geringsten schweigenden - Mehrheit, die sich lieber amüsiert als dem Unterricht zu folgen. Heute bedaure ich das außerordentlich. Die Schule ist eine Chance, die man mir geboten hat und die ich nicht ergriffen habe. Aber wenn man zwölf oder dreizehn ist, versteht man das nicht immer. Am Ende der neunten Klasse rät man mir wegen meiner

schlechten Noten zu einer Berufsausbildung. Meine Meinung dazu ist nicht gefragt. Und so lande ich auf einer Berufsfachschule, dem Lycee* Hector Guimard in Lyon, in der Abteilung Gießerei. Es gefällt mir vom ersten Moment an überhaupt nicht. Alles ist schwarz und dreckig, die Atmosphäre ist trübsinnig. Ich komme mir vor wie in einer Fabrik. Das ist nicht mein Ding. Außerdem fällt mir gleich bei den ersten praktischen Arbeiten ein Tropfen geschmolzenes Metall auf den Fuß und verursacht eine schwere Verbrennung. Danach werfe ich das Handtuch. Von diesem Augenblick an mache ich keinen Finger mehr krumm. Am Ende dieses ersten verlorenen Jahres beantrage ich einen Schulwechsel. Man schickt mich in die Abteilung Kunststoffverarbeitung des Lycee Leon Blum in Saint Fons, um dort Formgusstechnik und die Herstellung von Kunststoffteilen zu lernen. Die Räume gefallen mir, die Ausstattung ist der letzte Schrei, alles ist sauber, und es ist eine Berufssparte, in der gut ausgebildete Fachleute immer eine Arbeit finden. Aber auch hier gibt es eine kleine Einschränkung: Die Schüler haben keine Lust zu malochen. Sie kommen von anderen Schulen aus der Region, in denen sie eine ruhige Kugel geschoben haben. Die Zusammenlegung führt dazu, dass nun überhaupt niemand mehr einen Strich tut. In Saint Fons sind die Unterrichtsstunden eine einzige große Gaudi. Einmal kommt ein Referent, um einen Vortrag zum Thema Rassismus zu halten. Wir sitzen in einem großen Saal. Der Typ gibt eine kurze Einführung. Dann schließt er die Vorhänge, zweifellos, weil er einen Film vorführen oder Dias zeigen will. Ich weiß es nicht, und * Es heißt zwar »lycee«, handelt sich aber um eine Art Berufsfachschule (A. d. Ü.).

niemand wird es je erfahren. Denn kaum ist das Licht aus, geht es drunter und drüber, Stühle fliegen durch die Luft, alles schreit und johlt. Während der praktischen Arbeiten in der Werkstatt muss man zwei Dinge gleichzeitig können - seine Maschine bedienen und sich nach hinten absichern. Denn von Zeit zu Zeit fliegen einem die Schrauben um die Ohren. Ganz zu schweigen von den Schülern, die im Hof Shit rauchen oder in geklauten Autos vor dem Schultor vorfahren. Das ist unsere Arbeitsatmosphäre. Nach diesem erholsamen Jahr gibt es wieder einen Wechsel. Das Bildungsministerium beschließt, die Aufsicht über das Lycee Saint Fons, in dem überhaupt nichts mehr geht, wieder selbst in die Hand zu nehmen. Die Schüler werden aufgeteilt. Mich schickt man zurück ans Lycee Hector Guimard in die Abteilung Kunststoff, damit ich mein zweites Jahr in der Berufsfachschule abschließen kann. Diese Ausbildung und das abschließende Zeugnis hätten mir sicherlich Tür und Tor geöffnet. Ich hätte es trotz allem schaffen können, ich hatte die Möglichkeiten. Und meine Mutter schärfte mir unablässig ein: »Mach deinen Abschluss, kümmere dich nicht um die anderen. Selbst wenn du nachher erst einmal etwas anderes arbeiten musst, mach erst deinen Abschluss.« Das leuchtende Vorbild war mein großer Bruder Fredj, zwei Jahre älter als ich, der sich auf sein Fachabitur vorbereitete. Aber er wusste eben schon, was er wollte. Er hatte schon verstanden, dass Bildung alles ist und dass man das Fachabitur braucht, um Arbeit zu finden. Ich noch nicht. Ich wusste noch gar nichts, und vor allem wusste ich nicht, wozu ich Lust hatte. Als Junge träumte ich von einer Karriere als Profifußballer. Ich konnte gut mit dem Ball umgehen. Und sobald

ich alt genug für die jüngste Mannschaft war, trat ich dem Verein unseres Viertels bei, dem AS Minguettes. Ein Junge aus Les Minguettes hatte tatsächlich den Durchbruch geschafft. Luiz Fernandez spielte bei Paris Saint Germain und in der französischen Nationalmannschaft. Warum nicht auch ich? Also trainierte ich wie ein Verrückter in unserem Vereinstrikot, das vom Kopf eines brüllenden Tigers geziert wurde. Und dann hörte ich damit auf, obwohl alles gut lief und das Spielen mir Spaß machte. Ich weiß nicht, warum. Fehlende Motivation, mangelnde Ausdauer? Einer meiner Vereinskameraden, der mehr Kampfgeist hatte und entschlossener war, etwas aus seinem Leben zu machen, hat durchgehalten. Er spielt heute in der deutschen Bundesliga. Das Leben in Minguettes Anfang der 90er Jahre ist nicht leicht. Viele Familien sind von Arbeitslosigkeit betroffen. Das Geld ist so knapp, dass ich mich noch glasklar an den Tag erinnere, an dem mein Vater mir zwei Francs gibt. Zwei Francs, ein kleines Vermögen ... Die Parkplätze sind leer, das spricht Bände. Niemand kann sich ein Auto leisten. Die einzigen Fahrzeuge, die da herumstehen, sind in aller Regel gestohlen. Weil überall in der Siedlung ein bisschen gedealt und geschoben wird. Angesichts dieser problematischen Umgebung verstärkt meine Mutter ihre Wachsamkeit. Sie will nicht zulassen, dass ihre Kinder zu Kriminellen werden. Sie spricht mit uns. Unermüdlich. Ich verstehe mich sehr gut mit ihr. Auf meine pubertären Fragen reagiert sie mit unendlicher Geduld; sie hat immer ein offenes Ohr für uns und findet auf alles eine Antwort. Unablässig spricht sie davon, welche Chance es für uns Kinder ist, in Frankreich zu leben. Sie erzählt von der Armut, die sie in Tunesien erlebt hat. Natürlich seien wir als Einwandererkinder benachteiligt,

sagt sie, aber wir hätten trotzdem eine Chance und müssten sie ergreifen. Sie bringt uns Toleranz und Respekt bei und dass es Grenzen gibt, die man nie überschreiten darf. Von ihr lerne ich, was ich tun kann und was ich auf keinen Fall je tun werde. Wenn sich also in Venissieux Banden bilden und wieder auflösen, bin ich nicht mit von der Partie. Natürlich komme ich mit ihnen in Berührung. Wie könnte das auch anders sein in diesem Viertel, in dem wir geboren sind und in dem jeder jeden kennt? Aber ich halte Distanz. Das leichte Geld und die dicken Schlitten der Dealer - nein, danke. Was ich brauche, erarbeite ich mir lieber im Schweiße meines Angesichts. Da es den Eltern nicht möglich ist, uns Taschengeld zu geben, behelfe ich mir anders. Seit ich sechzehn bin und arbeiten darf, jobbe ich an den schulfreien Tagen auf dem Markt, donnerstags und samstags in Les Minguettes, sonntags in Vaulx-en-Velin. An diesen Tagen kann ich den Vormittag nicht vertrödeln. Ich stehe bei Tagesanbruch auf und klappere die Marktstände ab, die gerade aufgebaut werden. Hier und da frage ich, ob sie Hilfe brauchen. Am Anfang klappt es nicht immer. Dann finde ich einen regelmäßigen Job in Les Minguettes an einem Stand mit Eisenwaren. Die schweren Werkzeugkisten müssen aus- und wieder eingepackt werden. Ich helfe dem Besitzer beim Verkauf. Die Arbeit ist sehr hart, die Kisten wiegen Tonnen, und mir tut vom Tragen der Rücken weh. Aber ich verdiene stolze 70 Francs am Vormittag. Am Sonntag geht es lockerer zu, da helfe ich einem Händler, der auf dem Flohmarkt in Vaulx-en-Velin Kinderwagen verkauft. Im Juni 1998 bin ich endgültig mit der Schule fertig. Ich verlasse das Lycee Hector Guimard ohne Bedauern und -

zur großen Verzweiflung meiner Mutter - ohne Diplom. Es ist an der Zeit, mir eine Arbeit zu suchen. Ein Nachbar und Freund meines älteren Bruders arbeitet als Wachmann bei der Eurexpo auf dem großen Ausstellungsgelände in Lyon. Durch seine Vermittlung bekomme ich einen Termin beim Direktor der Firma. Und werde eingestellt. Wir arbeiten nur während der Ausstellungen oder Messen, das heißt, im Durchschnitt eine Woche pro Monat. Aber mir gefällt die Arbeit von Anfang an. Denn endlich entkomme ich der Enge von Minguettes, wo wir zwischen Schule, Berufsschule und Wohnblocks eingezwängt leben und man immer dieselben Gesichter sieht. Ich wollte die Welt kennen lernen? Jetzt ist es so weit. Die Besucher der Eurexpo kommen von überall her, aus allen Ländern, allen Lebensbereichen. Gut, ich bin nur ein einfacher Wächter, und manchmal muss ich eben auch den Parkplatz bewachen. Aber das ist mir egal, ich bin immerhin ein Teil dieser Welt, in der etwas los ist. Ich helfe, ich gebe Auskunft, ich unterstütze, ich beruhige. Ich mache mich nützlich. Ich rede mit den Leuten. Das gefällt mir sehr. Und während der Messen sehe ich tausenderlei verschiedene Dinge. Spielzeugfabrikanten lösen Künstler ab und müssen ihrerseits wiederum Wäscheherstellern oder Möbelschreinern Platz machen. Ich beobachte, ich höre zu, ich genieße. Leider verliert die kleine Firma, die mich beschäftigt, nach acht Monaten ihren Vertrag mit der Eurexpo. Die neue Firma verlangt ein spezielles Diplom, das ich nicht habe. Ich wende mich also an die örtliche Arbeitsvermittlung, um mich zu erkundigen, wo eine entsprechende Schulung angeboten wird. Und da fällt mein Blick auf eine Anzeige, in der für die U-Bahn von Lyon Fahrgastbetreuer gesucht werden. Ein Anruf, ein Gesprächstermin,

ein Vormittag für alle Bewerber im Arbeitsamt. Wir füllen Formulare aus und warten auf Antwort. Noch am selben Nachmittag werde ich zum Abteilungsleiter gerufen. Es hat geklappt. Nun bin ich Fahrgastbetreuer bei der Metro. Nach ein paar Schulungstagen schickt man mich los. Die Vorschriften für die Arbeitskleidung sind streng: Bundfaltenhose, Pepita-Jackett, weißes Hemd. Wir arbeiten immer paarweise, und ich habe das Glück, mit einem Kumpel aus Minguettes eingeteilt zu werden. Wir haben ein Funkgerät. Unsere Aufgabe? Den Passagieren das Leben zu erleichtern. Beim kleinsten Problem versuchen wir, mit den Leuten zu reden. In 99 Prozent der Fälle genügt das. Bleibt das eine Prozent, bei dem sich trotz unserer Bemühungen die Situation zuspitzt. Dann rufen wir einen Sicherheitsdienst, entweder die Leute von den Verkehrsbetrieben oder die Polizei. Ich arbeite an fünf Tagen pro Woche von 18 Uhr bis 1 Uhr nachts; auch am Wochenende. Am Samstag beginnt der Dienst früher und dauert von 12 Uhr mittags bis 19 Uhr. An diesem Wochentag herrscht ein unglaubliches Gedränge. Wie übrigens auch an den Tagen, an denen im Stadion Gerland ein Spiel stattfindet. Wir patrouillieren auf dem Streckenabschnitt, der uns zugewiesen ist. Wir steigen in die Züge ein und achten darauf, ob es Ärger gibt. Ist alles okay, steigen wir wieder aus und nehmen den nächsten Zug. Ich liebe diese Arbeit, den täglichen Kontakt mit den Fahrgästen. Nach einer Weile erkennen sie uns und wissen unsere Anwesenheit zu schätzen. Sie wissen, dass wir da sind, um ihnen zu helfen. Manche gönnen uns ein kleines Lächeln, eine kaum wahrnehmbare freundliche Geste,

wie ein stummes Dankeschön. Darüber freuen wir uns. Daneben lerne ich die Obdachlosen kennen, die armen Kerle, die in den U-Bahn-Stationen Schutz suchen und keinem etwas zuleide tun. Manchmal wirkt ihre Anwesenheit störend, und man muss sie auffordern, woanders hinzugehen oder nach oben an die frische Luft. Aber wenn man sie korrekt behandelt, wenn man freundlich mit ihnen umgeht, läuft alles reibungslos. Es gibt jedoch auch schwierige Fälle, wie an dem Tag, an dem ich mit meinem Kumpel Schicht habe. Wir sind gerade an der Metro-Station Bellecour. Ich gehe kurz auf die Toilette, mein Freund wartet auf dem Gang. Als ich herauskomme, ist keiner mehr da. Ich suche ihn. Ich schaue nach rechts und nach links, und schließlich sehe ich ihn. Seine Füße schweben über der Erde. Er ist von mehreren Männern umgeben, von denen einer ihn buchstäblich am ausgestreckten Arm baumeln lässt und ihn dann gegen eine Plakatwand drückt. Ich mische mich ein, sie pöbeln eine Weile herum, dann gelingt es mir, alle wieder zu beruhigen. Man muss dazu sagen, dass meine Körpergröße von 1,85 Meter und meine 98 Kilo auch auf extrem gereizte Typen oft einen sehr beruhigenden Effekt haben. Als der Sicherheitsdienst kommt, werden die Angreifer in ein Büro gebracht, und dort findet man bei einem von ihnen ein Messer mit einer fast 20 Zentimeter langen Klinge. Verdammt... An jenem Tag stand mir bei dem Gedanken daran noch nachträglich der Angstschweiß auf der Stirn. Dank meiner Anstellung und meiner ersten Lohnzahlungen kann ich den Führerschein machen und mir einen alten Renault Super 5 kaufen, mit dem ich zur Arbeit fahre. Endlich kann ich auch meine Familie finanziell unterstützen. Wenn ich frei habe, besuche ich Freunde oder gehe

mit Mädchen aus. Ich bin nie untätig, immer bin ich auf Achse. Ein oder zwei Mal im Monat gehe ich in die Disco, nicht um zu trinken, sondern um Musik zu hören, zu tanzen, mich zu amüsieren. Aber ich wohne immer noch bei meinen Eltern. Ausziehen kommt nicht in Frage. Dabei fehlt es nicht an Gelegenheiten. Mehr als einmal schlägt mir eine Freundin vor, mit ihr zusammenzuziehen. Ich werde mich hüten! Schon eine ganze Nacht ist mir zu viel. Ich muss in den Schoß der Familie zurück, denn nur dort fühle ich mich wohl. Anfang 2000 beginne ich, mir über meine Zukunft Gedanken zu machen. Ich liebe meine Arbeit bei der Metro immer noch, aber ich frage mich, wohin das führen soll. Keine Perspektiven, keine Entwicklung. Ich suche etwas anderes, ich will, dass sich etwas bewegt. Also gehe ich wieder zum Arbeitsamt und fülle drei verschiedene Bewerbungsunterlagen aus. Die erste für eine Ausbildung bei der TLC, den Verkehrsbetrieben von Lyon, die Busfahrer suchen. Die zweite für einen Posten als Kundenbetreuer im Bürgermeisteramt von Venissieux. Die dritte für eine Stellung im mittleren Polizeidienst. Die Typen von der Polizei kenne ich gut. Als Wachmann bei der Eurexpo und später bei der Metro habe ich eng mit denen zusammengearbeitet. Ich bin sogar mit einer jungen Polizistin befreundet, die ich in der Disco kennen gelernt habe und mit der ich mich total gut verstehe. Außerdem bin ich ein leidenschaftlicher Waffennarr. Das ist eine Sache, die mich schon lange fasziniert. In Les Minguettes sind Waffen eher ein Gesprächsthema als ein Anlass zur Besorgnis. Natürlich zirkulieren welche in den Bars, und die Kleingangster spielen sich gerne auf, indem sie großspurig mit einer Pumpgun herumfuchteln.

Aber eigentlich sind es die Älteren, die bei ihren Erinnerungen an früher die Rede immer wieder auf Waffen bringen, die Älteren, die noch die 80er Jahre in Les Minguettes erlebt haben, die dicken Autos, die wirklich großen Deals, die Gangs, die »ganz heißen« Geschichten. Wahr oder gelogen, wen interessierte das schon, und uns Jüngere schon gar nicht, uns brachten diese Geschichten zum Träumen. Wir kamen uns vor wie im Film, wir spielten Fangen mit unseren Spielzeugpistolen und stellten uns vor, wir hätten 9-Millimeter-Revolver. Mein Ausflug in die Welt der Sicherheitsdienste schürt meine Passion nur noch mehr. Denn viele der Männer, die in diesem Bereich arbeiten, sind ehemalige Polizisten, Gendarmen oder Soldaten. Auch sie sind Waffenliebhaber, sie kennen sich aus, sprechen über sie und besitzen häufig welche. Nicht immer ganz legal, aber was macht das schon. Ich bin in meinem Element. Mehr als einmal bringen Kollegen ihre »Ausrüstung« mit, um sie zu zeigen und zu vergleichen. Man spricht über technische Details, Gewicht, Handlichkeit, Präzision. Ich höre zu, ich schaue zu, ich präge mir alles gut ein. Mir kommt der Gedanke, mich zum Militär zu melden, um dort meine Leidenschaft zu stillen. Schließlich wäre dort das ideale Umfeld für derartige Aktivitäten. Kurz bevor ich meine drei Bewerbungen ausfülle, gehe ich also noch bei der Wehrbehörde im Quartier General Frere in Gerland vorbei. Aber ich lasse dann doch die Finger davon: Sie verlangen, dass ich mich für mindestens drei Jahre verpflichte. Drei Jahre fern von zu Hause, wo ich bisher die Wohnung meiner Eltern nie länger als acht Tage verlassen habe - das ist undenkbar. Ich verzichte auf eine Karriere beim Militär. So bleibt noch die Polizei. Bei dieser Ausbildung könnte

ich in der Nähe bleiben und jeden Abend nach Hause gehen. Und ich würde endlich die Waffen in die Hand bekommen, von denen ich träume, könnte mit ihnen hantieren und schießen. Die Ersten, die mich zu einer Prüfung einbestellen, sind die Verkehrsbetriebe der Stadt Lyon. Ich unterziehe mich einer Reihe von Eignungstests. Irgendetwas gefällt ihnen nicht - was, weiß ich nicht. Ich falle durch. Doch ich habe keine Zeit, mich über diesen Fehlschlag lange zu ärgern, denn ich werde gleich darauf zu einem Infotreffen der Bewerber für eine Arbeit in Venissieux eingeladen. Man erklärt uns, worin die Tätigkeit besteht, dass mit dem Vertragsabschluss eine Schulung verbunden ist, die es uns ermöglichen soll, eine Stelle im Bürgermeisteramt zu erhalten. Die Gespräche verlaufen gut, ich werde engagiert. Aus diesem Grund reiche ich die Bewerbungsunterlagen bei der Polizei gar nicht mehr ein. Jetzt bin ich Kundenbetreuer im Bürgermeisteramt. Nach einer einmonatigen Schulung, in deren Mittelpunkt der Umgang mit dem Publikum steht, trete ich im November 2000 meine neue Arbeitsstelle an. Die Tätigkeit ist nicht kompliziert: Ich muss einen riesigen Parkplatz mitten in Les Minguettes bewachen. Dafür sorgen, dass niemand einen Wagen klaut oder beschädigt. Zu zweit sitzen wir in einem Häuschen in der Nähe der Schranke an der Einfahrt. Der Dienst dauert von 18 Uhr bis 6 Uhr morgens, wobei wir uns abwechseln. Wir haben einen Fernseher, ein Telefon, das direkt mit der Zentrale und der Polizeiwache verbunden ist, und eine Toilette. Das ist alles. Wichtig ist im Grunde nur unsere Anwesenheit, ein Eingreifen ist kaum nötig. Sobald die Leute wissen, dass der Parkplatz bewacht ist, bleibt alles ruhig. Die Auto-

diebe verziehen sich an andere Orte, an denen sie nicht Gefahr laufen, gestört zu werden. Es ist eine ruhige Arbeit, nur ein paar Schritte von meiner Wohnung entfernt, mitten in dem Viertel, in dem ich alle kenne. Und ich habe Zeit für mich. Dass ich diesen Job ergattert habe, macht mich ganz zufrieden. Mit einer kleinen Einschränkung: Ich habe gern Kontakt zu Menschen, und der fehlt mir hier. Nachts ist auf dem Parkplatz kaum was los. Ich bin mit meinem Kollegen die meiste Zeit allein. Das frustriert mich etwas. Aber ich versuche mich zu gedulden und denke an die Chancen zur Weiterbildung, die man uns bei der Einstellung in Aussicht gestellt hat. Ich weiß, dass ich nicht ewig auf diesem Parkplatz sitzen werde. Einer der Kollegen, mit denen ich meine Nächte auf dem Parkplatz verbringe, ist praktizierender Muslim. Die Religion ist nicht gerade meine Stärke. Ich glaube an Gott, aber das ist auch schon alles. Ich spreche kein Wort Arabisch, ich kenne kein einziges Gebet, ich setze nie einen Fuß in die Moschee. Ich bin zwanzig, gehe gern in die Disco, treffe mich mit Mädchen. Ich lebe. Aber ich vergesse nicht, wer ich bin. Früher bin ich ab und zu in die Moschee gegangen, einfach so, mehr wegen der Tradition als aus Überzeugung. Und an einem Freitag im April 2001 beschließe ich, meinen Kollegen zum Gebet in die Moschee von Lyon zu begleiten. Vielleicht so, wie ein Christ eines Sonntags in die Messe geht, um wieder Kontakt zu seiner Glaubensgemeinschaft anzuknüpfen. Mehr nicht. Es herrscht dichtes Gedränge. Ich bin verblüfft über die Menschenmenge, die sich in den Gebetssaal schiebt, dessen Boden mit Teppichen ausgelegt ist. Ich versuche so

gut es geht dem Verlauf der Zeremonie zu folgen. Beim Hinausgehen treffe ich einen jungen Mann aus Les Minguettes. Ich kenne ihn vom Sehen. Er ist ungefähr dreißig, ich weiß, dass sein Vater der Imam einer Moschee ist, aber ich habe noch nie mit ihm gesprochen. Er erkennt mich auch und kommt auf mich zu. Wir begrüßen uns, ein Gespräch entwickelt sich. Wir reden über dieses und jenes. Und da wir im selben Viertel wohnen, schlägt er vor, mich heimzubegleiten. Im Auto erzählt er mir von seinen Reisen. Er war schon in vielen Ländern. Seine Erzählung klingt nach Abenteuer und interessiert mich enorm. Er war sogar schon in Afghanistan. Unglaublich! Ich lausche mit offenem Mund. Das muss ein ganz besonderes Land sein! Ich stelle ihm Fragen. Und beim Reden über Afghanistan kommt die Sprache wie von selbst auf Waffen. So wie er es darstellt, hat da unten jeder eine. Man findet alles, was man will, man kauft sie für einen Pappenstiel, man schießt, so viel man will. Ein wahres Paradies. Diese Begegnung versetzt mich in einen Zustand höchster Erregung. Ich träume schon davon, in dieses magische Land zu ziehen, um dort ein wahres Feuerwerk von Patronen in die Luft zu jagen. Ich brenne darauf, ihn am nächsten Freitag in der Moschee wiederzusehen. Und es gelingt mir. Erst habe ich Mühe, ihn nach den Gebeten in der Menge zu entdecken, aber dann finde ich ihn. Als er mich sieht, lächelt er zufrieden. Wir nehmen unser Gespräch wieder auf. Ich bedränge ihn mit unzähligen Fragen. Er redet von Ausbildungslagern. Ich will wissen, was man dort macht, welche Waffen es gibt. Seine Antworten steigern meine Erregung immer mehr. Alles ist möglich, man schießt mit allem, was einem in die Finger kommt, es gibt keine Einschränkung.

Ich habe »angebissen«. Wenn ich dadurch endlich an Waffen herankomme (zu friedlichen Zwecken natürlich), bin ich bereit, alles zu tun, was er sagt. Wenn man dazu Kommunist werden und ins hinterste Sibirien reisen muss, tue ich das. Muss man Buddhist werden und nach Nepal auswandern, kein Problem. Ort und Umstände sind mir gleichgültig, ich will nur eines: schießen. Ich rede mit niemandem über diese Gespräche. Mein neuer Freund aus der Moschee hat mich darum gebeten. Besser gesagt, er hat darauf bestanden. Darum habe ich ihm versprochen, weder meinen Brüdern noch meiner Mutter irgendwas zu erzählen. Die Verschwiegenheit gibt dem Ganzen einen Hauch von Geheimnis und Abenteuer. Statt mich misstrauisch zu machen, vergrößert das Gebot der Geheimhaltung den Reiz der Sache. Sehr bald gibt mir mein neuer Freund zu verstehen, dass ich, wenn ich es will, auch eine kleine Reise nach Afghanistan unternehmen könnte. Er weiß, wie man es anstellen muss, und könnte alles für mich organisieren. Ich zögere. Einerseits habe ich unbändige Lust, meinen Traum zu verwirklichen. Andererseits habe ich Angst vor dem Unbekannten, dem großen Abenteuer. Mein Gesprächspartner spürt meine Widerstände. Bei jeder unserer Begegnungen setzt er mir aufs Neue zu. Er spricht von den unterschiedlichen Waffen, die man da unten findet, angefangen von Pistolen bis zu schweren Maschinengewehren. Von Kisten voller Munition, die man für ein Butterbrot kaufen und dann in den Bergen ohne jedes Risiko abfeuern kann. Der Gedanke daran nimmt mich derartig gefangen, dass einer meiner Arbeitskollegen beginnt, sich Sorgen zu machen. Er findet, dass ich mich seltsam benehme, gestresst wirke. Und er hat nicht Unrecht. In meinem Kopf geht es zu wie in einem Bienen-

korb. Die Bilder jagen sich, sobald ich die Augen schließe. Soll ich hinfahren? Oder lieber nicht? Die Leidenschaft ist zu stark. Nach einigen Tagen des Zögerns gebe ich nach. Schließlich habe ich etwas Geld zur Seite gelegt, und die Sommerferien stehen vor der Tür. Wenn ich ein Abenteuer wagen, mich trauen will, dann jetzt oder nie. Die erste große Reise, an deren Ende die Verwirklichung meiner kühnsten Träume steht. Ich stelle nur noch eine Bedingung: Ich will nicht alleine fahren. »Okay, ich werde jemanden für dich finden«, verspricht mein Kontaktmann. Und er schickt mir seinen eigenen Bruder Mourad. Das gibt mir Sicherheit. Wenn auch nur das geringste Risiko bestünde, sage ich mir, würde dieser Typ niemals seinen Bruder, sein eigen Fleisch und Blut, ins Verderben schicken. Und zu zweit kann man sich immer besser durchschlagen. Ich bin beruhigt. Doch dann zucke ich etwas zusammen, als ich höre, dass wir mit einem falschen Pass reisen müssen. »Du verstehst doch, da unten könnten dir deine Papiere geklaut werden, es ist nicht sehr sicher dort, und das wäre doch ärgerlich. Glaub mir, es ist besser so. Und außerdem tun das alle.« Er bittet mich lediglich, ihm zwei Passfotos zu bringen. Ich schwanke. Dann siegt die Abenteuerlust, und ich füge mich. Von diesem Moment an drängt mein Gesprächspartner zur Abreise. Ich erkläre ihm, dass ich noch warten muss. Mein älterer Bruder Fredj wird bald Verlobung feiern. Ein so wichtiges Familienfest darf ich auf keinen Fall verpassen. Schließlich warte ich schon einundzwanzig Jahre auf das Abenteuer, auf ein oder zwei Wochen kommt es jetzt auch nicht mehr an. Inzwischen bereite ich heimlich meine Expedition vor. Ich kaufe feste Schuhe, eine Taschenlampe und andere

Kleinigkeiten, die ich in einem speziellen »AbenteuerRucksack« verstaue. Drei Tage nach der Verlobung ist alles bereit. Getreu befolge ich die Anweisungen meines Freundes aus der Moschee. Mourad und ich haben zwei Bahnfahrkarten nach Paris und zwei Fahrkarten für den Fernbus Paris-London gekauft. »Dort wird sich dann ein Freund von mir um euch kümmern. Ihr werdet ihm Geld geben, und er kauft euch Flugtickets.« Ich frage ihn: »Warum London?« Es gibt keine Flüge in das von den Taliban beherrschte Afghanistan. Die internationalen Beziehungen liegen auf Eis. Man muss über Pakistan reisen und das Ziel auf dem Landweg erreichen. Die Flugzeuge aus Paris landen in der Hauptstadt Karatschi, das von der afghanischen Grenze zu weit entfernt liegt. Aber es gibt einen Direktflug von London nach Islamabad, eine Stadt, die zweihundert Kilometer von der Grenze entfernt ist. Das ist einfacher. Wir tun, was er sagt. Mein Gepäck steht bereit. Bei mir zu Hause ahnt keiner etwas. In diesem Juni 2001 bereitet sich jeder auf seine eigenen Sommerferien vor. Mein Vater ist schon in Tunesien. Ich sage meiner Mutter nur, dass ich nach England fahre, wo ich zwei, drei Monate arbeiten werde. »Ich rufe euch an, wenn ich da bin.« An der Arbeitsstelle habe ich mich mit einem Kollegen abgesprochen. Er könnte mich, falls ich mich etwas verspäte, für zwei, drei Wochen vertreten. Ich habe mein Bankkonto geleert und nehme zwanzigtausend Francs Bargeld mit. Ich sage mir, dass ich da unten so viel brauchen werde, um meine Leidenschaft zu stillen. Denn ich habe sehr wohl vor, alles auszuprobieren, von Handfeuerwaffen bis zu schwerem Gerät, und nicht an Munition zu sparen. Ich werde alles, was ich habe, mit einem großen Knall in die Luft jagen, ich werde ein privates Feuerwerk veranstalten, ganz für mich allein.

Kapitel 2

Reiseziel Kandahar Am Abend des 21. Juni setzt mein Bekannter aus der Moschee Mourad und mich am Bahnhof La Part-Dieu ab. Kurz bevor wir in den Zug steigen, gibt er uns »unsere« Pässe. Zum ersten Mal im Leben sehe ich falsche Papiere aus der Nähe. Unter meinem Foto steht ein mir unbekannter Name und eine Adresse, bei der ich nie gewesen bin. Dazu gibt er uns einen kleinen Zettel, auf dem er eine Nummer notiert hat. Es ist die Telefonnummer unseres Kontaktmannes vor Ort. Dann ist es Zeit, in den TGV einzusteigen. »Gute Reise euch beiden.« Er drückt mir die Hand, umarmt seinen Bruder, dreht sich um und ist verschwunden. Jetzt sind wir dran. Als die französische Landschaft in rasender Eile an meinen Augen vorbeizieht, muss ich mich immer wieder in den Arm kneifen. All diese Leute da draußen in den Dörfern gehen ihrer ganz gewöhnlichen Arbeit nach. Und wir sind unterwegs ins Abenteuer. Sicher, es mischt sich ein leichter Hauch von Besorgnis in die Begeisterung. Was werden wir am Ende unseres Weges vorfinden? Ich weiß, dass in Afghanistan ein ziemliches Durcheinander herrscht. Seit Jahren wird dort gekämpft. Aber das ist mir ehrlich gesagt völlig egal. Taliban, Nordallianz, ich habe keine Favoriten. Ich will einfach nur hinfahren, meine Sache durchziehen und dann wieder ab nach Hause. Danach

können sie sich gegenseitig umbringen, so viel sie wollen, das geht mich nichts an. Noch etwas zur Klarstellung. Ich weiß wohl, dass nicht »jeder Beliebige« eben mal einen kleinen Trip nach Afghanistan unternehmen kann. Und wenn mir mein neuer Freund aus der Moschee diese Gelegenheit geboten hat, dann deshalb, weil wir derselben Glaubensgemeinschaft angehören und weil er mich beim Freitagsgebet getroffen hat. Ich begreife sehr wohl, dass nur »wahre Muslime« diese Reise antreten können. Das weiß ich von Anfang an. Ich habe beschlossen, das Spiel mitzuspielen. So zu tun als ob. Was im Übrigen nicht sehr schwierig ist. Mein Bekannter fordert mich nie auf, einen Beweis für meinen Glauben und meine Überzeugung zu erbringen. Wie andere, denen ich später begegne, geht auch er davon aus, dass jeder Muslim ein ebenso überzeugter Anhänger seiner Ideen ist wie er selbst. Diese Ideen kenne ich nicht oder nur vage, und vor allem sind sie mir gleichgültig. Mich interessiert lediglich eines, nämlich praktische Schießübungen mit echten Geschossen. Und die Gegenleistung ist leicht zu erbringen: Keine Fragen stellen, nicht Nein sagen und die Gebetszeiten beachten. Und ich muss aufhören, mich zu rasieren. Die Reise verläuft ohne Zwischenfälle. Wir verbringen die Nacht im Bus, abgesehen von der Etappe im Zug, als wir durch den Tunnel unter dem Ärmelkanal fahren. Die englischen Zollbeamten werfen einen zerstreuten Blick auf unsere Pässe. Und dann sind wir in der britischen Hauptstadt. Um uns herum auf dem Busbahnhof wimmelt es von Menschen. Ich sehe Leute, die Werbezettel verteilen, auf denen den französischen Reisenden ein Hotel empfohlen wird. Wir gehen auf sie zu. Die Männer sind sehr freundlich, sie zeigen uns den Schalter für Telefonkarten

und gleich noch die Telefonzellen. Alles lässt sich gut an. Ich wähle die Nummer, die auf meinem Zettel steht, und stehe vor der ersten Schwierigkeit. Der Mann am anderen Ende der Leitung spricht nur Englisch und Arabisch, das heißt Sprachen, die weder Mourad noch ich beherrschen. Ich versuche es mit den drei Worten des tunesischen Dialekts, die ich kenne; wir radebrechen, so gut es geht. Am Ende verstehe ich, dass wir zu einer U-Bahn-Station mit einem komplizierten Namen fahren müssen, die mit »Park« endet. Er legt auf. Da stehen wir nun. Ich wende mich wieder an das kleine Grüppchen Franzosen. Einer von ihnen erklärt mir, dass der Stadtteil, der hauptsächlich von muslimischen Einwanderern bewohnt ist, in der Nähe der Station Finsbury Park liegt. Genau, das hat er gesagt, ich erkenne den Namen, der mir am Telefon genannt wurde. Wir können die Reise fortsetzen. Auf Wiedersehen, Leute, und vielen Dank. Als wir aus der U-Bahn-Station Finsbury Park auftauchen, wissen wir sofort, dass wir am richtigen Ort sind. Um uns herum nur bärtige Männer in traditioneller Kleidung und ein paar Frauen, die alle verschleiert sind. Wir befinden uns mitten im arabischen Viertel. Aus einer öffentlichen Telefonzelle rufen wir wieder unseren Kontaktmann an. Nach einer Weile erklärt er, dass er uns abholen wird. Er bringt uns nicht, wie wir angenommen haben, ins Hotel, sondern zu sich nach Hause. Er gibt uns zu verstehen, dass wir uns ein wenig in der Umgebung umsehen können, und händigt uns einen Schlüsselbund aus. Dann fragt er nach Geld und unseren Pässen, weil er sich um die Flugtickets kümmern muss. Wir geben sie ihm, und er verschwindet. Wir richten uns bei diesem Mann ein, dessen Namen

wir nicht einmal kennen. Er kommt und geht. Er bringt uns Essen. Zum Zeitvertreib unternehmen wir hin und wieder kleine Spaziergänge. Seltsamerweise gefällt mir diese doch ziemlich eigenartige Situation. Ich, der Parkwächter aus Les Minguettes, bin im Ausland, mit falschen Papieren, in einer anonymen Wohnung. Ich lebe in einem Abenteuerfilm. Nur bin diesmal ich der Held. Ein echter Jugendtraum. Am dritten Tag fordert uns der Kontaktmann schließlich auf, unsere Sachen zu packen, und fährt uns ins Stadtzentrum zu einem Bahnhof. Irgendwie verstehen wir, dass wir einen Zug nehmen müssen, der uns direkt zum Flughafen bringt. Er gibt uns unsere Pässe und die beiden Tickets für den Flug London-Islamabad am 25. Juni. Der Rückflug ist ein »open return«. Das bedeutet, dass das Rückflugdatum noch nicht festgelegt ist. Dieses flexible System erlaubt uns, dann zurückzufliegen, wenn wir genug gesehen und unternommen haben. Auf alle Fälle dürfen wir nicht länger als sechs Wochen bleiben. Das ist das Maximum, was meine Familie und meine Arbeit betrifft. Ich hoffe nur, dass die Zeit ausreichen wird, um meinen Appetit auf Waffen zu stillen. Unser Begleiter gibt uns noch einen kleinen Zettel mit dem Namen des Hotels, das wir unbedingt aufsuchen müssen, und eine Telefonnummer, die wir da unten anrufen sollen. Es ist die Nummer des »Schleppers«, der uns über die Grenze bringen wird. Auf meinen Freund aus der Moschee kann man sich wirklich verlassen. Er hat alles organisiert, und das beruhigt mich. Ich wage kaum, mir vorzustellen, wie Mourad und ich uns allein hätten durchschlagen sollen. Ich stecke das kostbare »Sesam-öffne-dich« in meine Gürteltasche, und wir steigen in den Zubringer zum Flughafen.

In Heathrow gehen wir zum Schalter der Pakistan International Airlines. Zufällig ist der Schalterbeamte ein in London lebender Franzose. Er nimmt unsere Tickets entgegen, studiert unsere Pässe und verkündet, dass wir nicht fahren können. Mir bleibt fast das Herz stehen. Stimmt etwas nicht mit den falschen Papieren? Aber nein. Das Flugzeug hat einen technischen Defekt. Der Mann am Schalter beruhigt uns; die Fluggesellschaft wird uns auf ihre Kosten unterbringen. Im Minibus fahren wir zurück ins Zentrum von London und werden in einem erstklassigen Hotel einquartiert. Die Zimmer sind riesig, das Essen reichlich. Das tröstet uns über die Verzögerung hinweg. Denn schließlich sind seit unserer Abreise schon fünf Tage vergangen, und weit sind wir noch nicht gekommen. Am Tag darauf, am 26. Juni, heben wir endlich ab. Die Beamten der Passkontrolle winken uns durch, ohne mit der Wimper zu zucken. Nach einem siebenstündigen Flug landen wir in Islamabad. Wir steigen aus dem Flugzeug, und ich habe sofort das Gefühl, voll bekleidet in einem Hammam gelandet zu sein. Die Hitze ist grauenhaft, überall schwirren Mücken herum, im Flughafengebäude herrscht ein fürchterliches Tohuwabohu, unzählige Menschen rennen kreuz und quer durcheinander. Überall patrouillieren bewaffnete Soldaten in Uniform. Wir passieren sehr schnell die Kontrollen und springen in ein Taxi, dessen Fahrer wir den Zettel mit dem Namen des Hotels zeigen. Auf der Straße regiert das Chaos. Männer mit Turban, streunende Tiere, klapprige alte Kisten, die ununterbrochen hupen. Ständig muss ich mir sagen: »Ich bin in Pakistan!« Ein Abenteuer wollte ich? Jetzt stecke ich mittendrin, und es kommt mir vor wie ein Traum.

Was für eine unglaubliche Erfahrung für einen kleinen Jungen aus Les Minguettes! Das Hotel entspricht der Umgebung - es ist reichlich schmuddelig. Wir brauchen eine Weile, um uns zu akklimatisieren, und zwar nicht nur an die brütende Hitze, die uns den Atem nimmt. Wir müssen erst noch begreifen, dass wir aus einem modernen Industriestaat in ein DritteWelt-Land geflogen sind. Alles ist schmutzig, kaputt und stinkt. Wir werden uns daran gewöhnen. Die Suche nach einem Telefon erweist sich als viel schwieriger als in London. Hier gibt es keine Telefonzellen. Man muss eine kleine Bude mit einem Schild finden, auf dem »Münzfernsprecher« steht. Der Mann, der in dieser Hütte sitzt, versteht, dass wir die Nummer wählen wollen, die ich ihm zeige. Er übernimmt es für uns, denn ich habe keine Ahnung, welche Ziffern man von hier aus für die Vorwahl braucht. Alles ist unglaublich kompliziert. Als die Verbindung steht, höre ich, dass jemand abgenommen hat. Ich sage nur drei Worte auf Arabisch: »Wir sind da.« Dazu nenne ich den Namen des Hotels und die Zimmernummer. Das ist alles. Ich hoffe, dass man mich am anderen Ende verstanden hat. Jetzt können wir nur noch warten. Wir versuchen, uns etwas auszuruhen, aber bei dieser Hitze kann man kein Auge zutun. Wir essen in einer Kaschemme in der Nähe des Hotels. Ich weiß nicht, ob es am Essen oder am Klimawechsel liegt, auf jeden Fall ist die Wirkung auf mich verheerend. Ich bekomme furchtbaren Durchfall und fühle mich wie ausgepumpt. Das fängt ja gut an. Zum Glück hat uns der Schlepper nicht vergessen. Kaum zwei Stunden nach unserer Ankunft steht er vor der Tür. Er ist Afghane und sehr sprachbegabt. Er spricht Arabisch, Farsi und Paschtun - aber kein Französisch. Die Verständi-

gung ist schwierig, aber wir verstehen das Wesentliche: Wir sollen unsere Sachen zusammenpacken. Wir müssen los. Zu dritt steigen wir in eine Art Taxi. Unser Schlepper lässt den Fahrer kurz bei einem Suk anhalten und verschwindet für ein paar Minuten. Als er zurückkommt, wirft er uns zwei traditionelle pakistanische Kleidungsstücke und zwei große Leinentaschen zu. Aha, kapiert: Von jetzt an sollen wir nicht mehr wie Touristen herumlaufen. Wir sollen mit der Umgebung verschmelzen. Wir fahren aus der Stadt hinaus, und unser Taxi rollt lange in westlicher Richtung auf Peschawar zu, die Stadt an der Grenze zu Afghanistan. Mehrmals müssen wir, wenn wir ein Dorf durchqueren, auf Geheiß unseres Führers das Fahrzeug wechseln. Ich verstehe nicht recht, warum, aber ich nehme an, dass der Mann seine Gründe hat. In Peschawar lässt unser Begleiter den Fahrer auf einem Platz anhalten und deutet auf ein Hotel, das ein Stück entfernt liegt. Ganz offensichtlich will er nicht mit uns zusammen gesehen werden. Dann verabredet er sich mit uns für 4 Uhr am nächsten Morgen, am selben Ort vor der Bushaltestelle. Diesmal sind wir dem Ziel näher gerückt. Nur noch wenige Kilometer sind zu überwinden. Als ich mich in dem schäbigen Hotel einrichte, überfallen mich Zweifel. Vermutlich sind das die Folgen meiner Darmbeschwerden, die nicht besser werden, und meiner Müdigkeit. Mourad und ich sind durch die sieben hektischen Tage ziemlich erschöpft. Und die Reise ist noch nicht zu Ende. Also sage ich mir, dass es immer noch möglich wäre, die ganze Sache abzubrechen. Da flüstert mir eine innere Stimme zu: »Aber das wäre doch zu blöd. Du hast siebentausend Francs für das Flug-

ticket ausgegeben, du hast es bis zur Grenze geschafft. Wenn du jetzt aufgibst, wie stehst du dann da, wenn du nach Lyon zurückkommst? Was wirst du deinen Kumpels erzählen? Und außerdem wird sich eine solche Gelegenheit nie wieder bieten. Du musst es bis zum Ende durchziehen. Damit du endlich diese Waffen siehst, von denen du so oft geträumt hast. Damit du sie in den Händen hältst. Damit du sie anfasst und zum Sprechen bringst. Du kannst nicht zurück.« Die Nacht ist kurz. Es ist schrecklich heiß. Ich finde kaum Schlaf. Ständig muss ich an meine Familie denken, die so weit weg ist, in Lyon. Sie fehlen mir alle. Und Mourads Gesellschaft hilft mir kaum, sie zu vergessen. Er ist sehr nett, wir albern manchmal miteinander herum. Aber die meiste Zeit führt er in seiner Ecke Selbstgespräche. Endlich bin ich eingedöst und versinke in einem unruhigen Traum, als meine Uhr piepst. Zeit zum Aufstehen. Es ist noch dunkel, als wir nach draußen schleichen, perfekt als Pakistanis verkleidet. Wir tragen weite Hosen, die an der Taille mit einer Schnur zusammengehalten werden, und weite, lange Leinenhemden. Unsere Habseligkeiten haben wir aus den Wanderrucksäcken in Jutesäcke umgepackt, in denen normalerweise Gewürze transportiert werden. Dem Rat unseres Schleppers folgend, verbergen wir unsere Gesichter fast vollständig hinter großen Tüchern, die wir um den Kopf schlingen, wie man es manchmal im Fernsehen bei arabischen Würdenträgern sieht. Wir sehen aus wie zwei Diebe aus Tausendundeiner Nacht. Unser Führer erscheint pünktlich mit einem Wagen und einem Chauffeur. Wie am Tag zuvor halten wir mehrfach an, um Fahrzeug und Fahrer zu wechseln. Wir benutzen Fahrzeuge mit Vierradantrieb, die stundenlang in Staub-

wölken gehüllt über steinige Pisten holpern. Eine monotone Landschaft aus menschenleeren Ebenen und kahlen Bergen zieht an uns vorüber. Hin und wieder fahren wir an Leuten vorbei, die unser Führer aus dem Auto heraus grüßt. Die ersten Anzeichen einer Veränderung sind die kaum zehnjährigen Jungen, die wir mit Kalaschnikows, russischen Maschinengewehren, herumlaufen sehen. Dann hält unser Fahrzeug vor einer Mauer. Wir haben den 28. Juli, es ist elf Uhr vormittags. Der Schlepper gibt uns ein Zeichen. »Wir sind da.« Tatsächlich befinden wir uns in einem Randbezirk von Dschalalabad, einer Art Vorort mit weit verstreut liegenden Häusern, die von Mauern umgeben sind. Unser Führer zeigt uns ein Eingangstor, steigt ins Auto und fährt davon. Wir betreten einen großen, viereckigen Hof, in dem mehrere Gebäude stehen. Auf der rechten Seite gibt es sogar einen Hühnerstall. Hinter einer Mauer dringen Stimmen hervor. Instinktiv folgen wir dem Geräusch und durchqueren dabei einen Torbogen. In einem anderen Hof ist eine Gruppe von Männern in eine lebhafte Unterhaltung vertieft. Als sie uns bemerken, tritt Stille ein. Dann folgen rasch Freudenrufe und Begrüßungen; sie haben Mourad als Bruder ihres Freundes erkannt. Das öffnet uns die Türen. Wir gehören zu ihnen und werden willkommen geheißen. Die kleine Gruppe besteht aus Algeriern, die alle Französisch sprechen. Sie fragen uns, woher wir kommen und wie die Reise verlaufen ist. Wir geben einen knappen Bericht. Ich erfahre, dass der Mann, der uns in London geholfen hat, zu ihren Freunden zählt. Sie erkundigen sich auch nach Mourads Bruder. Als die Vorstellungsrunde beendet ist, bringen wir das Wesentliche zur Sprache. Ich

bin hergekommen, um Schießen zu üben, und möchte so bald wie möglich damit anfangen. »Ah, das ist ein Problem.« Ein Mann aus der Gruppe erklärt mir, dass die Taliban alle Lager geschlossen haben, darunter auch ihres, das sich unweit der Stadt befunden hat. Die Herren von Kabul tolerieren künftig nur noch eine einzige Anlage bei Kandahar im Süden des Landes. Meine Hoffnungen schwinden. Wir haben eine so lange Reise hinter uns gebracht, die uns viel Geld gekostet hat. Und das alles, um jetzt zu hören, dass wir zu spät gekommen sind? Mourad und ich sind uns einig, dass das idiotisch wäre. Jetzt aufgeben hieße, mit leeren Händen zurückzukehren. Da wir nun schon so weit gekommen sind, können wir auch noch bis nach Kandahar fahren. Dort werden wir weitersehen. Die Algerier schlagen vor, dass wir uns etwas ausruhen und sie uns später nach Kabul in ein Haus von »Freunden« bringen. Von dort können wir uns nach Kandahar aufmachen. Wir bleiben drei oder vier Tage in Dschalalabad. Die Zeit rast. Inzwischen haben wir schon Anfang Juli. Zwei Wochen sind seit unserer Abreise vergangen, und wir sind immer noch nicht am Ziel. Glücklicherweise sind unsere Gastgeber sehr nett, wir essen gut und diskutieren viel. Und ich bekomme einen Vorgeschmack auf das, was mich später erwartet: Im Haus gibt es eine Kalaschnikow. Sie soll für die Sicherheit der Bewohner sorgen. Jeden Abend macht ein Mitglied der Hausgemeinschaft mit der Waffe im Arm seine Runde. Es kommt für mich natürlich nicht in Frage, an ihr herumzuspielen oder sie gar zu benutzen. Ich begnüge mich damit, sie mit den Augen zu verschlingen und mit den anderen über Waffen zu sprechen. Am 2. Juli erklärt uns einer der Algerier, dass alles geregelt ist. Wir können aufbrechen, man erwartet uns in

Kabul. Er wird uns außerdem bis nach Kandahar begleiten. Vier Stunden später setzt uns das Taxi in der Hauptstadt ab. Das Haus der Algerier liegt etwas außerhalb der Stadt, gegenüber einem Gebäude, in dem das örtliche Büro des arabischen Fernsehsenders AI-Dschasira untergebracht ist. Wir werden wie Brüder aufgenommen. Ich lerne einen Franzosen kennen, der unterwegs ist wie wir, und unterhalte mich ein wenig mit ihm. Unsere Gastgeber haben sich informiert und erklären uns, dass es im Flugzeug nach Kandahar keine Plätze mehr gibt. Es bleibt nur noch eine Lösung - das Auto. Und da man für die Fahrt siebzehn Stunden rechnen muss, sollten wir besser sofort aufbrechen. Es ist eine furchtbare Strapaze. Ich leide immer noch unter heftigem Durchfall, die Hitze ist mörderisch, die Straße voller Schlaglöcher, die Stoßdämpfer des Taxis haben schon lange den Geist aufgegeben. Es ist grauenhaft. Nachdem wir Stunde um Stunde gefahren sind, hält der Fahrer plötzlich mitten in der Einöde am Straßenrand an. Seit geraumer Zeit ist es dunkel. Der Taxifahrer spricht nur Afghanisch, aber der Algerier, der uns begleitet, dolmetscht. Doch das ist kaum notwendig, denn wir haben längst verstanden, dass er heute Abend keinen Meter weiter fährt. Er führt uns ein Stück von der Straße weg zu einer Art Unterstand ohne Dach, legt sich auf den Boden und schläft ein. Na schön. Was bleibt uns übrig? Ich rolle meinen Schlafsack aus, Mourad tut dasselbe. Kaum haben wir uns ausgestreckt, da höre ich seltsame Geräusche. Schreie, Kratzen. Ich sehe die Silhouette einer riesigen Katze, die stehen bleibt, eine Art Löwengebrüll ausstößt und wieder verschwindet. Kurz danach streifen Hunde vorüber. Ein wahrer Horrorfilm. Ich weiß, dass ich in dieser Nacht kein Auge zutun werde, wenn ich an diesem Ort

bleibe. Also packe ich meinen Kram zusammen und taste mich zum Auto zurück. Nicht lange danach folgt mir Mourad. Wir quetschen uns in unbequemer Haltung auf die Rückbank, aber wenigstens fühlen wir uns im Wagen einigermaßen in Sicherheit. Das erste Morgenlicht erscheint über den Bergen im Osten, als der Fahrer auf seinen Sitz gleitet. Ohne ein Wort zu sagen, schaltet er die Zündung ein und fährt los. Eine knappe Stunde später erreichen wir endlich Kandahar. Wortlos lässt uns der Fahrer vor einem großen Eingangstor aussteigen. Wir bezahlen ihn, dann folgen wir dem Algerier. Der Mann lässt uns eintreten. Das Tor führt zu einem großen, villenähnlichen Haus. Männer kommen und gehen. Unser Begleiter stellt uns vor und führt uns abseits in eine Ecke. Dann entfernt er sich und verhandelt auf Arabisch mit anderen Männern. Als er zu uns zurückkommt, hat er alles für unser Bleiben geregelt. »In Ordnung. Vorläufig bleibt ihr hier. Morgen werdet ihr ins Lager gebracht.« Bevor sich unser Begleiter verabschiedet, vertraut er uns einem seiner Freunde an, einem anderen Algerier, der ebenfalls zur Ausbildung hergekommen ist. Er ist ein sehr netter Junge, der perfekt Arabisch und Französisch spricht und uns in Zukunft eine große Hilfe sein wird. Bevor noch zu weiteren Gesprächen und Begegnungen Zeit ist, ruft man uns zusammen und setzt uns in einen kleinen Bus. Der Algerier erklärt uns, dass man uns in ein anderes Haus in Kandahar bringt, in dem wir übernachten werden, bevor wir ins Lager aufbrechen. Ich wage es kaum zu glauben. Die letzte Nacht, bevor ich endlich mein Ziel erreiche. Es ist höchste Zeit.

Kapitel 3

AI Walid - AI Faruq Am nächsten Tag fährt der Bus uns mitten in die Wüste. Viele Stunden rumpeln wir über eine steinige Piste auf die Berge zu. Am Fuß zweier Hügel hält der Fahrer an, und unser Begleiter fordert alle auf auszusteigen. Wir schultern unser Gepäck. Die Gruppe setzt sich in Richtung Gipfel in Bewegung. Mourad und ich folgen. Oben angekommen, bleiben wir stehen und lassen die Aussicht auf uns wirken. Auf der anderen Seite liegt, von den Bergen verdeckt, ein gigantisches Lager: AI Faruq. Dutzende von Zelten, ein paar feste Gebäude und vor allem ein Schießstand, an dem man einige Aktivität beobachten kann. Ich entdecke Zielscheiben an den Berghängen, ich sehe in Khaki gekleidete Männer, die in Stellung gegangen sind, ich höre das charakteristische Tacktacktack der Repetierwaffen. In Windeseile verflüchtigen sich meine Zweifel und meine Müdigkeit. Ich bin angekommen. Die kleine Gruppe beginnt den Abstieg. Wir betreten das Lager. Ein Ausbilder kommt auf uns zu, spricht mit unserem Begleiter. Der Algerier übersetzt für Mourad und mich: Wir müssen in ein anderes Lager weiter, das für die Neuankömmlinge bestimmt ist. So starten wir, mit unserem Gepäck auf dem Rücken, zu einem siebenstündigen Marsch durch das Bergland. Ich komme kaum nach. Dazu muss ich anmerken, dass ich seit mindestens drei Jah-

ren keinen Sport mehr getrieben habe und dass ich, wie man so sagt, »übergewichtig« bin. Außerdem hat mich der Brechdurchfall, der mich seit Pakistan plagt, sehr geschwächt. Einen Augenblick lang glaube ich, dass ich am Wegesrand liegen bleibe. Ich biete meine letzten Kräfte auf, damit ich mich vor den anderen nicht blamiere. Mourad redet mir gut zu. Dann sehen wir vier Zelte auf einer steinigen Ebene und in einigem Abstand davon improvisierte Toiletten. Willkommen im Lager AI Walid. Wir sind nicht die Einzigen. Insgesamt sind wir ungefähr vierzig Männer. Wir richten uns ein, so gut es geht. Jeder stellt seinen Sack in eine Ecke des Zeltes, die ihm zusagt. Die meisten der Männer, die hier sind, kommen aus dem Mittleren Osten. Sie tragen alle Bärte und sprechen nur Arabisch. Ich halte mich an Mourad und den Algerier, der als Einziger imstande ist, uns die Anweisungen zu übersetzen und uns zu sagen, was wir tun müssen. Am nächsten Morgen wird es ernst. Nach dem Gebet bei Tagesanbruch und einem Glas Tee ruft der Ausbilder, ein sehr dürrer, sonnenverbrannter Iraker, uns zusammen. Wir beginnen mit zwei Stunden Gymnastik. Lockerungsübungen, Springen auf der Stelle, Muskeltraining. Danach eine Stunde theoretische Instruktionen. Der Ausbilder redet, wir hören zu. Nur verstehen Mourad und ich kein einziges Wort von dem, was er von sich gibt. Unser algerischer Freund hat das Dolmetschen bald aufgegeben. Zum einen ist es den Zuhörern verboten, sich zu unterhalten. Zum anderen kann er nicht gleichzeitig zuhören und uns die Bedeutung der Worte erläutern. Also sage ich mir nach einer Weile, dass ich ebenso gut die Zeit nutzen und mich ein bisschen ausruhen kann. Ich versuche unauffällig, etwas zu dösen, um den fehlenden Schlaf der vorigen Nacht wettzumachen.

Nach dem Mittagessen fängt der praktische Teil an. Erste Lektion: Wie man eine Kalaschnikow zerlegt. Sehr gut, das interessiert mich brennend. Allerdings hat der Ausbilder für uns vierzig nur eine einzige Waffe zur Verfügung, und von seinen arabischen Erklärungen verstehe ich sowieso keine Silbe. Deshalb beobachte ich jede seiner Handbewegungen und versuche sie mir einzuprägen. Der Vormittag vergeht damit, dass jeder von uns die Waffe einmal in die Hand nimmt und unter dem prüfenden Blick des Ausbilders probiert, sie zu zerlegen und wieder zusammenzusetzen. Als ich an die Reihe komme, klopft mein Herz. Diesen ersten Kontakt werde ich nicht so leicht vergessen. Das Gewicht, diese Art von Festigkeit, die einen die geballte Kraft des Stahls spüren lässt. Wie sie sich anfühlt, so glatt am Kolben aus poliertem Holz, so hart am Metall. Und dann der Geruch, diese Mischung aus Pulver und Fett, der wie ein Vorgeschmack auf den Kampf ist. Ich packe kraftvoll zu, fast mit Verlangen greife ich nach dieser Kalaschnikow, die tief in der afghanischen Wüste auf mich gewartet hat. Mein erstes Rendezvous ist ein voller Erfolg: Trotz meiner mangelnden Erfahrung handhabe ich sie wie ein guter Soldat. Ich platziere alle losen Teile auf dem kleinen Teppich, der vor mir liegt, und dann setze ich sie wieder zusammen. Die genaue Beobachtung der Gesten und der Irrtümer meiner Vorgänger hat mir geholfen. Ich bin überrascht, wie einfach die Handgriffe und die Handhabung sind. Ich habe fast den Eindruck, ein Spielzeug in Händen zu halten. Mein Selbstvertrauen steigt. Ich würde sie zu gerne ausprobieren, jetzt sofort, auf der Stelle. Aber nein, wir müssen noch warten. Die folgenden Tage gleichen sich wie ein Ei dem anderen. Von nun an widmen wir uns jeden Vormittag der

Theorie, deren Inhalt uns auch weiterhin vollkommen schleierhaft bleibt. Ich tröste mich jedes Mal mit einem diskreten Schläfchen und mit dem Gedanken, dass ich nun wirklich bald werde schießen können. Jeden Nachmittag üben wir den Umgang mit der Kalaschnikow und ihrem Zubehör, mit Schalldämpfern, Granatwerfern, Magazinen, den verschiedenen Arten von Munition. Man muss zuschauen und dann warten, bis man an die Reihe kommt und das Gelernte umsetzen kann. Der Ausbilder zeigt uns auch einige andere Schusswaffen. Im russischen Sortiment stehen uns ungefähr fünfzehn verschiedene Modelle zur Verfügung. Dazu ein amerikanisches M l 6 , eine israelische Uzi, ein deutsches G3. Jedes Mal erhalten wir eine kurze technische Demonstration, die mehr dazu dient, die verschiedenen Typen zu erkennen als mit ihnen umgehen zu können. Unsere Gastgeber besitzen nämlich für keine der ausländischen Waffen mit Ausnahme der russischen - auch nur einen einzigen Schuss Munition. All das geschieht natürlich im Rhythmus der fünf Gebetszeiten, der morgendlichen Sporteinheit, der drei miserablen Mahlzeiten, die man uns vorsetzt, und der »Dienste für die Allgemeinheit«, die am frühen Nachmittag abzuleisten sind. Das sind verschiedene unbeliebte Hilfsarbeiten im Camp, und wenn es nichts zu tun gibt, lässt man uns Steine wegräumen. Ich begreife schnell, dass die schlechten Lebensbedingungen ein integraler Bestandteil der »Ausbildung« sind. Die erste Woche kommt mir endlos vor. Abgesehen von den seltenen glücklichen Momenten, in denen ich die Kalaschnikow in Händen halte, langweilige ich mich entsetzlich. Aber ich sage mir immer wieder, dass es einfach dumm wäre, jetzt wegzulaufen und aufzugeben, wo ich

meinem Ziel doch schon so nahe bin - schießen zu dürfen. Also lasse ich alles über mich ergehen. Die höllische Hitze - mittags steigt die Temperatur in den Zelten bis auf 50 Grad -, die unverständliche Theorie, das unzulängliche Essen - drei Kichererbsen und ein Stück Brot, dazu eine Schale brackiges Wasser. Fleisch gibt es nur freitags, und es handelt sich dabei um ein Stück ungenießbares Hammelfett. In der Nacht träume ich von den leckeren Mahlzeiten, die meine Mutter kocht und von einer Spritztour zu McDonald's. Nach einer Woche weiß ich alles über die Kalaschnikow, habe einige Kilos abgenommen und immer noch keinen Schuss abgefeuert. Aber es ist überstanden. Wir packen unsere Sachen und marschieren wieder zurück nach AI Faruq. Wir sind am Ziel. Die sieben Kilometer in Gegenrichtung sind auch nicht leichter zu bewältigen. Im Camp zeigt uns der Ausbilder das Zelt, in dem meine Gruppe ihr Quartier aufschlagen wird. Alles genauso spartanisch wie im anderen Lager, aber ich achte nicht mehr darauf. Ich rolle meinen Schlafsack auf einer Strohmatte aus und fertig. Bei unserem ersten Besuch hatten wir kaum Zeit, den Ort näher in Augenschein zu nehmen. Unser neuer Aufenthaltsort ist so groß wie zwei Fußballfelder und wird durch eine kleine Talmulde in zwei Teile geteilt. Die einzigen festen Gebäude beherbergen eine einfache Moschee, ein kleines Waffenlager, das hauptsächlich russische Waffen enthält, und das Kommando. Dutzende von gelben Stoffzelten, schnurgerade in Reihen aufgestellt, dienen den »Freiwilligen« als Unterkunft. Schwere Artillerie ist nicht in Sicht. Nur eine Art Kanone, die etwas oberhalb des Lagers auf einem Vorsprung steht.

Ein etwas abseits gelegenes Zelt beherbergt die Küche. Sie wird von Afghanen geführt, die kein Wort Arabisch sprechen. Der Fuhrpark ist ziemlich mager bestückt. Ein Tankwagen versorgt das Lager mit Trinkwasser, um die beiden Brunnen zu entlasten, die mitten im Lager gegraben worden sind und schlechtes Wasser liefern, das sowieso nicht für alle ausreicht. Einige Toyota-Pick-ups verbinden das Lager mit der Außenwelt. Alle Offiziere tragen die khakifarbene afghanische Kleidung ohne jedes Abzeichen. Man kann ihren Dienstgrad unmöglich erkennen. Ich weiß nur, dass der oberste Chef, der Leiter des Camps, sich Abd-el-Kuddus nennt und wie die Mehrzahl der Ausbilder Iraker ist. Dank der Gesprächsfetzen, die ich hier und da aufschnappe, und mithilfe unseres algerischen Übersetzers verstehe ich etwas besser, wie die Ausbildung organisiert ist. Sie besteht aus vier Trainingseinheiten. Die erste, die wir gerade in dem kleinen Nebencamp absolviert haben, ist der Handhabung der Kalaschnikow gewidmet, der Waffe aller Kämpfer. Die drei anderen beinhalten die Technik der Tarnung, Übungen im Gelände und den Umgang mit Sprengstoff. Jeden Morgen klingelt der Wecker um drei Uhr. Nach dem ersten Gebet lassen die Ausbilder alle Männer in der Mitte des Lagers antreten. Einer der Offiziere ergreift das Wort und hält eine kleine Ansprache, von der Mourad und ich, wie üblich, nichts verstehen. Der Algerier erklärt uns, dass es sich in der Regel um motivierende Parolen handelt, die die Soldaten anspornen sollen, bevor sie sich den Aufgaben des Tages zuwenden. Der zweite Höhepunkt des Tages erwartet uns nach dem Gebet bei Sonnenuntergang. Diese Zeit ist dem Re-

den vorbehalten. Jeder, der will, kann das Wort ergreifen. Manchmal ist es ein Ausbilder, es kann aber auch ein Freiwilliger sein oder gelegentlich ein Geistlicher auf der Durchreise. Ich bin immer so erschöpft, dass ich mich im Schutz der einbrechenden Dunkelheit davonstehle und schlafen gehe. Man darf sich nur nicht erwischen lassen, denn in AI Faruq sind Strafen gang und gäbe. Zwischen diesen beiden Zusammenkünften reiht sich eine Übung an die andere, ein Dienst an den anderen. Jeden Morgen, bevor die Sonne zu stark wird, joggen wir zehn bis fünfzehn Kilometer. Bei der Rückkehr steht uns eine kümmerliche Stärkung zu, die aus Kichererbsen, etwas Öl und manchmal einem Glas Milch besteht. Darauf folgen der theoretische Unterricht und die »Lagerdienste«. Wie im kleinen Camp heißt das im Wesentlichen Steine sammeln, sie zu Haufen aufschichten, und wenn das getan ist, den Haufen ein Stück versetzen. Am Spätnachmittag folgt dann die praktische Ausbildung. Nach unserer ersten Trainingseinheit in AI Faruq gibt der Ausbilder das Programm bekannt: »Heute schießen wir.« Das ist die Belohnung am Ende des ersten Ausbildungszyklus. Ich juble innerlich. Endlich! Alle vergangene Mühsal ist wie mit einem Zauberstab weggehext. Ich werde endlich meinen Traum verwirklichen. Unser Ausbilder führt uns ein Stück vom Lager weg. Wir haben vier Kalaschnikows dabei. Außerdem hat er uns vier russische Siminow-Gewehre mitnehmen lassen, für die man dieselbe Munition verwendet wie für die Kalaschnikow. Wir müssen drei Arten von Schießübungen machen - erst im Stehen, dann im Knien und schließlich auf dem Bauch. Ich schwebe auf Wolken. Mit sicherer Hand schicke ich meine Kugeln in die hundert Meter entfernte Zielscheibe. Keine Anspannung, kein Erschrecken

beim ersten Knall. Zuerst ein Schuss nach dem anderen. Dann kurze Feuerstöße. Ich bin so bei der Sache, so gut aufgelegt, dass ich das Gefühl habe, mit jeder Kugel bis zur Zielscheibe mitzufliegen. Ich verschmelze vollständig mit der Kalaschnikow. Mich durchströmt ein unbeschreibliches Glücksgefühl. Der Ausbilder sieht sich das Ergebnis an. Keine einzige Kugel hat das Ziel verfehlt. Er gibt mir ein Zeichen: Gut! Bedauerlicherweise ist die Anzahl der Patronen auf fünfundvierzig Stück pro Person beschränkt. Man kann in jeder Position nur fünfzehnmal schießen. Ich bin Tausende von Kilometern gereist, ich habe Hunger und Erschöpfung ertragen, und mehr steht mir nicht zu? Ich spüre, wie sich eine große Enttäuschung in mir breit macht. Ich versuche, mit dem Ausbilder zu verhandeln. Ich versuche, ihm verständlich zu machen, dass ich gerne mehr schießen würde, dass ich Geld habe, dass ich für die zusätzliche Munition zahlen könnte. Ich bin sogar bereit, auch für alle anderen die Patronen zu zahlen, wenn es sein muss. Nichts zu machen. Die Regel lautet: »Dreimal fünfzehn und keine Patrone mehr.« Unweigerlich fallen mir die hübschen Versprechungen von Mourads Bruder ein, meinem Freund aus der Moschee von Lyon. Waffen, die man für ein Butterbrot an jeder Straßenecke kaufen kann, Munition zu sieben Cent die Schachtel, ohne Kontrollen und ohne Begrenzung. So hat mein Traum ausgesehen. Nicht diese Plackerei in einem Militärcamp, in dem man vor Hunger krepiert und alle möglichen Pflichten und Strafen aufgebrummt bekommt. Ich habe mich ganz schön reinlegen lassen. Aber was tun? Abhauen? Wieder stelle ich mir diese Frage, und wieder gebe ich mir dieselbe Antwort. Da ich nun schon einmal hier bin, kann ich auch das Beste daraus machen

und die zweite Runde abwarten. Vielleicht wird man uns beim nächsten Mal mehr Patronen geben. Ich tröste mich mit einer russischen Tokajew, mit der jeder zehn Patronen abfeuern darf. Ich liebe das Gefühl, das diese relativ leichte Pistole in mir auslöst, die man mit einer Hand abfeuern kann. Dann verschieße ich die letzten Kugeln des Tages mit dem Siminow. Aber wir sind noch nicht fertig. Auf unserem Programm steht noch die Schießübung mit einer PK, einem Maschinengewehr russischer Fabrikation. Das einzige Problem bei diesem Gerät ist, dass man Platz braucht. Die PK mit ihren tödlichen großkalibrigen Geschossen hat eine Reichweite von über einem Kilometer. Daher müssen wir wieder ins kleine Lager hinauf. Bei dieser Sondermission nimmt sich ein anderer Ausbilder unserer an. Sechs Stunden Marsch mit Gepäck, bei dem wir abwechselnd das MG und die Munitionskisten tragen. Als wir endlich angekommen sind, bricht schon die Dämmerung herein. Das ist genau der richtige Moment, um das Fest zu eröffnen - das Schießen mit Leuchtspurgeschossen, die auf dem Nachthimmel einen langen, hellen Bogen beschreiben. Wer das Gerät bedient, kann seine Schüsse daher genau ausrichten. Bevor es Nacht geworden ist, hat uns der Ausbilder das »Ziel« gezeigt, eine Höhle am Berghang in mehreren hundert Meter Entfernung. Dann stellt er sich an das MG und gibt uns eine hübsche Demonstration. Es ist ein herrliches Spektakel. Das trockene Knattern der Detonationen hallt vom Berg wider, während weiße Lichtstreifen den dunklen Himmel überziehen. Danach kommt jeder einzeln an die Reihe. Ich darf, wie alle anderen auch mit fünfzig Patronen ausgerüstet, das Gerät bedienen. Ich stehe breitbeinig auf dem Boden, umklammere mit den Händen die Stahlgriffe, drücke mit ei-

nem Ruck den Abzug und entlasse die Geschosse in die eisige Luft. Der Lärm, die Stöße des MG, die Kugeln, die den Weg nachzeichnen, den ich ihnen gewiesen habe - es ist ein umwerfendes Erlebnis. Nach einer kurzen Ruhepause wiederholen wir die Übung kurz nach Sonnenaufgang noch einmal bei Tageslicht. Wenn auch das Schauspiel nicht mehr so schön ist, bleiben doch die Empfindungen dieselben. Gewalttätig, brutal, aber berauschend. Sie helfen, den Rückmarsch ins große Lager zu ertragen. Diese Schießübung hat mir große Freude gemacht. Aber mein Hunger ist noch nicht gestillt. Ich will mehr. Und dazu brauche ich Geduld. Die Schießübungen finden, als wären sie eine Belohnung, am Ende jeder Ausbildungseinheit statt. Die nächste wird demnach am Ende der kommenden Einheit stattfinden, bei der wir etwas über Tarnung erfahren. Es gilt eine lange Woche zu überstehen, in der ich Vorträge höre, von denen ich nichts verstehe, und zusehe, wie Männer sich praktisch ohne Hilfsmittel in Büsche und Steine verwandeln. All diese Techniken sind in meinen Augen uninteressant. Aber ich weiß, dass wir am Ende wieder auf dem Schießstand stehen werden. Deshalb bleibe ich. Aber die Zeit läuft. Ich weiß, dass der Augenblick kommen wird, an dem ich mich entscheiden muss, den Rückweg anzutreten. Und es wird ein langer Rückweg werden. Wir haben ungefähr den 20. Juli. Ich gebe mir noch zehn Tage, um wenigstens noch einmal in den Genuss des Schießstands zu kommen. Und ein letztes Mal meiner Leidenschaft zu frönen. Eines ist seltsam. Zum ersten Mal im Leben bin ich weit weg von meiner Familie, ohne dass sie mir fehlt. Es ist, als wäre die Verbindung zu meinem alten Leben vollstän-

dig abgerissen. Die Zeit hier ist ein Intermezzo, das ganz und gar meiner Liebe zu den Waffen vorbehalten ist. Alles Übrige, meine Eltern, die Brüder, die Schwestern, habe ich beiseite geschoben. Für mich ist klar: Ich ziehe meine Sache hier durch, und dann ist Schluss. Ich werde das Intermezzo beenden und mich wieder in das normale Leben einfügen. Aber ich will beides nicht vermischen, die Waffen und das echte Leben. Ohne Begeisterung beginne ich die zweite Trainingseinheit, in der wir uns zu Helden der Tarnung entwickeln sollen. Die Tage vergehen im gewohnten Rhythmus von Gebeten, Übungen und Diensten. Die Mahlzeiten in AI Faruq sind ebenso mager wie die im kleinen Camp. Schlimmer noch, hier werden sie mit der Stoppuhr gemessen. Einmal sagt man uns: »Zwei Minuten.« Ein andermal verkündet der Ausbilder: »Dreißig Sekunden.« Dann gibt es noch die Variante, dass der Ausbilder während des Essens ins Zelt tritt, eine Handgranate entsichert und sie zwischen uns wirft. Im Allgemeinen handelt es sich um eine Übungsgranate, die keinen Schaden anrichtet. Aber man denkt lieber nicht lange darüber nach, um welches Modell es sich handelt, sondern haut schleunigst ab. Mehr als einmal ist es vorgekommen, dass eine zweite, echte Handgranate auf die erste folgte. Man fordert von uns blinden Gehorsam und bestraft jeden Verstoß. Die Ausbilder haben einen begrenzten Katalog an Strafen, die alle darauf hinauslaufen, dass uns ein paar Stunden Nachtruhe genommen werden. Ich bekomme eine Kostprobe davon, als ich eines Tages eine Sekunde zu lange vor meinem Teller herumtrödele. Am selben Abend werde ich zum Wasserholen zu einem Brunnen geschickt, der einen Kilometer entfernt liegt. Das Wasser

muss ich in einem kleinen Löffel holen und darf trotz der Tücken des Weges und der rabenschwarzen Nacht keinen Tropfen vergießen. Zu den Freuden des Lebens in AI Faruq gehören nicht zuletzt die 60-Kilometer-Märsche in die Wüste und die nächtlichen Scheinangriffe auf das Camp mit vorgetäuschtem Granatenbeschuss und Maschinengewehrsalven. Das Ziel der militärischen Anführer ist klar: Sie wollen uns an die Grenzen unserer Belastbarkeit treiben und erkennen, wer von uns darunter zusammenbrechen wird und wer einer solchen Schockbehandlung gewachsen ist. Bestimmte Aussagen von Mourads Bruder kommen mir dabei in den Sinn. Als wir über Waffen und Ausbildung sprachen, ließ er gerne Sätze einfließen wie »So etwas ist nichts für jedermann«, oder »Nur echte Männer stehen das durch«. Er hat mich damit herausgefordert. Als ich das verstanden habe, beschließe ich, die Herausforderung anzunehmen. Nicht mit Blick auf die anderen. Nein, nur für mich allein. Ich will mir beweisen, dass ich etwas aushalten kann. Und das gibt mir die Kraft, all diese Widrigkeiten zu überstehen. Bei einigen meiner Ausbildungskameraden weiß ich, dass sie anders motiviert sind. Einige sind tatsächlich hier, um kämpfen zu lernen, bevor sie nach Tschetschenien, Kaschmir oder zu den Taliban weiterziehen. Wenn die Unterhaltung auf dieses Thema kommt, tue ich so, als würde ich nichts verstehen. Was im Großen und Ganzen auch der Wahrheit entspricht, auch wenn ich der Diskussion mithilfe des Algeriers einigermaßen folgen kann. Die Algerier werden im Übrigen sehr geschätzt. Die Kämpfer scheinen ihnen große Aufmerksamkeit zu schenken. Die Feinheiten der Tarnung beschäftigen uns eine knappe Woche. Am schwierigsten ist nicht zu lernen, wie man

mit der Umgebung verschmilzt, sondern den Tagesrhythmus durchzuhalten. Nicht schlafen, nicht essen, sich vollkommen verausgaben. Wir haben pro Woche nur einen Ruhetag, den Freitag. An diesem Tag versuche ich immer, die Erlaubnis zum Abstieg in die Stadt zu bekommen. Ich lasse mir verschiedene Ausreden einfallen, zum Beispiel dass ich meine Familie anrufen muss. In Wahrheit habe ich nur eines im Kopf: Ich will mir etwas zu essen kaufen. Aber jedes Mal verweigern mir die Verantwortlichen die Erlaubnis. Also warte ich weiter. Der Tarnlehrgang ist fast zu Ende, als ein Name die Runde zu machen beginnt: »Bin Laden.« Mir ist vage bekannt, dass der Mann bestimmte Dinge angestellt hat, wegen denen er gesucht wird. Mehr nicht. Ich weiß nicht, was er getan hat und wer ihm deshalb auf den Fersen ist. Doch in diesen letzten Julitagen hält sich beharrlich ein Gerücht im Lager: »Bin Laden wird kommen.« Anderen ist zu Ohren gekommen, dass er ganz kurz vor unserer Ankunft im Camp gewesen sei. Wie auch immer. Der Mann kann tun und lassen, was er will. Mich geht das nichts an. Ich warte nur auf das Ende dieses verdammten Tarnlehrgangs, damit ich endlich wieder schießen kann. Und dann ist es so weit. Die endlosen Tage der Langeweile sind vergessen, sobald ich vor der Zielscheibe stehe. Uns wird nur ein Nachmittag gewährt, aber er ist eine Zeit reinster Ekstase. Ich koste jede einzelne Patrone meiner mageren Zuteilung aus. Damit das Vergnügen länger anhält, lasse ich mich nicht zu dem grandiosen, aber allzu kostspieligen Geballere hinreißen, denn so was leert das Magazin in wenigen Sekunden. Die nächste Schießübung kommt erst nach den Gelände-

Übungen. Warum, frage ich mich, soll ich die nicht auch noch mitmachen, damit ich am Ende noch einmal eine Kalaschnikow in die Finger bekomme? Danach muss ich allerdings schnellstens die Rückreise antreten. Aber ich will den Aufenthalt noch so gut wie möglich nutzen. Denn wiederkommen will ich nicht, dessen bin ich mir sicher. Also beginne ich das Orientierungstraining im Gelände. Schnell wird mir eines klar: Wenn ich bisher beim Unterricht schon kaum etwas verstanden habe, ist es diesmal noch schlimmer. Die Erläuterungen werden auf Arabisch gegeben, aber damit nicht genug - die Karten, mit denen wir arbeiten sollen, sind ... russisch beschriftet. Ich komme überhaupt nicht mehr mit. Ich begnüge mich mit der folgsamen Teilnahme an Orientierungsmärschen und kilometerlangen Erkundungsvorstößen mitten in der Nacht, bei denen wir nur mit Landkarte, Kompass und Taschenlampe ausgerüstet sind. Aber es fällt mir schwer, den Tagesrhythmus durchzuhalten, immer schwerer. Ich fühle mich schwach und kraftlos. Und eines Morgens kann ich nicht mehr aufstehen. Die Diagnose ist leicht gestellt: Der Durchfall hat mich völlig entkräftet. Seit meiner Ankunft auf pakistanischem Boden lässt mich die Diarrhöe nicht mehr aus ihren Klauen. Ich habe durchgehalten, indem ich alle meine Kraftreserven aufgeboten habe, und später mit Hilfe von Tabletten, die mir der Arzt im Camp gegeben hat. Aber diesmal bin ich am Ende. Ich habe blutigen Stuhlgang. Die Lagerleitung lässt mich noch am selben Tag nach Kandahar zurückbringen, damit ich mich dort auskurieren kann. Das Haus, in dem wir bei unserer Ankunft Zwischenstation gemacht haben, ist in Wirklichkeit eine Nebenstelle des Camps. Es dient als Transit-Stützpunkt und auch als Krankenstation.

Dort verbringe ich einige Tage im Bett. Man legt mir eine Infusion gegen die Dehydrierung und verabreicht mir Medikamente. Schnell komme ich wieder zu Kräften und kann aufstehen. Und vor allem kann ich endlich essen. Das hilft mir zweifellos am schnellsten wieder auf die Beine. Ich bin schon fast wieder ganz hergestellt, als mich der Algerier besucht, der uns von Dschalalabad nach Kandahar begleitet hat. Er schlägt mir vor, mit ihm nach AI Faruq zurückzufahren. Rasch stelle ich im Kopf eine kleine Rechnung an. Der Geländelehrgang ist beendet, und die Schießübung habe ich auch verpasst. Es ist ungefähr Mitte August. Gut, dann ist die Reise hiermit zu Ende. Ich muss zurück. Das teile ich meinem Besucher mit. Im Laufe des Gesprächs erzählt mir der algerische Freund, dass Bin Laden während meiner Krankheit kurz im Lager war. Ich habe seine Stippvisite verpasst. Ich muss zugeben, dass mich diese Tatsache nicht sonderlich bekümmert. Mir tut es vor allem Leid um die verpasste dritte Schießübung. Alles andere ist mir egal. Meinen Besucher bitte ich nur, Mourad eine Botschaft zu überbringen. Er soll ihm ausrichten, dass ich nicht nach AI Faruq zurückkomme. Ich sehe nicht ein, dass ich eine stundenlange Autofahrt auf der holprigen Piste auf mich nehmen soll, nur um mich von ihm zu verabschieden. Das wäre eine unnütze Quälerei. Lieber fahre ich nach Kabul zurück. Dort werde ich im Haus der Algerier auf ihn warten. Wenigstens treffe ich dort auf bekannte Gesichter und kann Französisch sprechen. Hier in Kandahar kenne ich keine Menschenseele, und alle Welt spricht Arabisch. Und noch auf etwas anderes spekuliere ich insgeheim. Ich weiß, dass man in AI Faruq in Bezug auf die Regeln keine Kompromisse kennt. Selbst wenn ich für ein paar

Tage zurückfahre, werde ich nicht schießen dürfen. Das ist todsicher. Aber in Kabul kann ich vielleicht mit den Algeriern reden und doch noch eine Möglichkeit finden, ein paar Schachteln Munition zu verpulvern. Die Entscheidung zwischen der sicheren Enttäuschung und der wenn auch geringen Chance, noch einmal an eine Kalaschnikow heranzukommen, fällt mir nicht schwer.

Kapitel 4

Die Falle Der Algerier schlägt vor, mich nach Kabul zurückzubringen. Er hat für uns zwei Plätze in einem Flugzeug gefunden, das in Kandahar startet. Fünfundvierzig Minuten in der Luft statt siebzehn Stunden auf der Piste, das ist den Angstschweiß wert, der mir auf die Stirn tritt, als ich die Kabine betrete. Denn die Überraschung ist komplett. Der Flieger ist voller Taliban-Kämpfer, die mit ihren Waffen auf den Knien in der Maschine sitzen. Was für ein irrer Anblick! Mourad ist benachrichtigt worden. Ich muss nur noch auf ihn warten. Wie vorgesehen, bleibe ich im Haus der Algerier. Manchmal unternehme ich kleine Spaziergänge, ich gehe auf den Markt direkt nebenan, ich unterhalte mich mit den anderen Bewohnern. Es geht mir gut. Vor allem höre ich mit Interesse zu, wenn sie von ihren Plänen sprechen. Sie haben tatsächlich die Absicht, bald ein eigenes Lager einzurichten und schlagen mir vor, solange zu bleiben. »Da kannst du dann machen, was du willst.« Das Angebot ist verlockend, aber die Vorbereitung wird eine Weile in Anspruch nehmen. Und so viel Zeit bleibt mir nicht mehr. Ich muss zurück. Sobald Mourad kommt, werden wir uns auf den Weg machen. Schade. Zu diesem Zeitpunkt weiß ich überhaupt nicht, was mein Reisebegleiter vorhat. Ich habe das Lager überstürzt verlas-

sen und war so krank, dass ich nichts mehr mitbekommen habe. Wir hatten keine Zeit, uns über unsere Pläne zu verständigen. Ich weiß nicht einmal, ob er nach Frankreich zurückwill. Vielleicht hat er sich entschlossen hier zu bleiben, um Arabisch zu lernen und sich in die Lektüre der heiligen Schriften zu vertiefen? Das liegt ihm mehr als mir. Aber egal. Wir sind zusammen gekommen, deshalb ist es für mich ganz normal, auf ihn zu warten, um gemeinsam zurückzureisen, wenn er das will. Sollte er es nicht wollen - auch kein Problem. Dann fahre ich alleine. Aber wenigstens haben wir dann persönlich miteinander gesprochen. Ich will mich nicht davonschleichen wie ein Dieb. Der August geht zu Ende, und Mourad ist immer noch nicht da. Allmählich wird mein Zeitplan eng. Ich mache mir Gedanken, was in Venissieux gerade vor sich geht. Ich hoffe, dass die Absprache mit meinem Kollegen funktioniert. Dass er mich bis zu meiner Rückkehr vertritt. Danach werde ich für ihn einspringen, und so wird der Tausch gar nicht auffallen. Aber trotzdem darf ich hier nicht Wurzeln schlagen. Am 6. September taucht Mourad endlich auf. Ich lasse ihm eine Verschnaufpause, und am 9. fahren wir nach Dschalalabad weiter. Für uns ist dies das Ende des Abenteuers. Wir sind auf dem Rückweg und sitzen gerade mit einem der Algerier im Auto, als wir hören, dass Kommandant Massud, der Anführer der Nordallianz und Gegner der Taliban, ermordet worden ist. Der Algerier macht keinen Hehl aus seiner Befriedigung. Für ihn bedeutet das: ein Feind weniger. Ich stelle mir nicht viele Fragen über die Folgen dieser Sache. Wir sind schon fast nicht mehr da - bevor sich die Lage verbessern oder verschlechtern kann, sind wir buchstäblich über alle Berge.

Wir wohnen im Gästehaus der Algerier, wo wir auf den Führer warten müssen, der uns nach Pakistan zurückbringt. Weil ich trotz allem neugierig bin, was sich genau abspielt, gehe ich auf einen Basar und kaufe mir für eine Hand voll Rupien ein kleines Radio, das ich auf die Frequenz des Senders Radio France Internationale einstelle. Zwei Tage später warten wir immer noch. Keine Nachricht von unserem Führer. Dafür bricht ein anderes Ereignis in unsere Älltagsroutine ein. Am späten Vormittag ruft einer der Hausbewohner uns laut schreiend zusammen. Wir stürzen in sein Zimmer. Er sitzt im Schneidersitz auf einem Teppich, das Ohr gegen einen Radiolautsprecher gepresst, und versucht uns zu erklären, was gerade passiert, was er zu verstehen glaubt. Die Worte überstürzen sich, ich höre »New York«, »World Trade Center«, »Türme«, »Flugzeuge«. Es ist der 11. September 2001. Zuerst kann ich es nicht glauben. Die beiden höchsten Wolkenkratzer New Yorks sollen brennen, nachdem zwei Linienflugzeuge dagegengeprallt sind. Um das Radio herum breitet sich Schweigen aus. Ich lausche gemeinsam mit den anderen dem RFI-Berichterstatter, der eine apokalyptische Szene schildert. Flammen, die die oberen Stockwerke der beiden Türme verschlingen, eine riesige Rauchwolke, die über die Stadt zieht, Körper, die herabfallen. Der erste Turm stürzt ein, dann der zweite. Im Radio heißt es, ein weiteres Flugzeug habe das Pentagon in Washington getroffen. Ein viertes sei irgendwo abgestürzt. Was ist denn da nur los, um Himmels willen? Wir bleiben noch lange um das Radio sitzen. Im Lauf der Stunden ändert sich der Ton der Informationen. Die beiden Türme liegen in Trümmern am Boden, das Pentagon ist getroffen, man spricht von Tausenden von Opfern. Und von einem gigantischen Terroranschlag, der

von Afghanistan aus gelenkt wird und auf das Konto einer Gruppe geht, deren Namen ich zum ersten Mal im Leben höre: AI Qaida. Ich wende mich an den Mann, der neben mir sitzt, einen Algerier namens Hassan. »Sag mal, was ist das, AI Qaida?« »Das hier ist AI Qaida.« Indem er das sagt, beschreibt er mit beiden Armen eine ausladende kreisförmige Geste, die alles umfasst, was sich um uns herum befindet. »Wie, ich bin auch AI Qaida?« »Nein, du nicht. Aber dadurch, dass du hier bist, wirst du als Beteiligter betrachtet. Für die Amerikaner gehören alle Araber in Afghanistan zu AI Qaida.« »Ah, okay.« Wenn ich es richtig verstehe, habe ich gerade den USA den Krieg erklärt. Einige meiner Kameraden verbergen ihre Freude nicht. Sie jubeln, klopfen sich auf den Rücken, heben die Hände zum Himmel. Ich kann ihre Hochstimmung überhaupt nicht teilen und halte mich lieber abseits, um Fragen aus dem Weg zu gehen. Denn obwohl ich noch nicht recht begreife, was da ins Rollen kommt, ahne ich doch, dass die Dinge für mich eine Wendung zum Schlechteren nehmen werden. Und dieses vage Vorgefühl wird mir von der Reaktion der Wortführer bestätigt. Sie fordern uns auf, unsere Sachen zu packen. Wir müssen den Ort wechseln. Hier sind wir nicht mehr sicher. Die Brände in New York sind noch nicht gelöscht, als die Algerier schon amerikanische Bombardements befürchten. Das Haus ist viel zu leicht auszumachen und stellt im Falle eines Luftangriffs eine gute Zielscheibe dar. Fahrzeuge bringen uns ans andere Ende der Stadt, in ein Gebäude, das für uns sicherer ist.

Wir durchqueren Dschalalabad ohne Zwischenfälle. In den Straßen ist keine jubelnde Menge zu sehen. Im Gegenteil - ich habe den Eindruck, dass die Menschen es eilig haben, sich in ihre Häuser zurückzuziehen. Niemand hält sich lange draußen auf. Alle haben Angst und warten auf den Gegenschlag. Einen schrecklichen Gegenschlag, so schrecklich wie der Angriff, den das mächtigste Land der Welt gerade erlitten hat. Unser neues Domizil ähnelt dem vorigen: ein großes Wohnhaus, von einem ausgedehnten Hof umgeben, etwas abseits der Nachbarhäuser. Das ist besser so, denn die Afghanen in der Umgebung haben uns nicht gerne in ihrer Nähe. Immer wieder verlangen sie, dass niemand sich draußen sehen lässt. Sie sind überzeugt davon, dass die amerikanischen Satelliten auf die Stadt ausgerichtet sind und sie ein algerisches Gesicht von einem afghanischen unterscheiden können. Sollten wir je geortet werden, würde sicher das ganze Viertel bombardiert, und sie damit auch. Das wollen sie vermeiden ... Deshalb werden wir inständig gebeten, uns im Haus aufzuhalten. Auf jeden Fall glauben Mourad und ich, dass wir nicht lange hier bleiben werden. Sobald der Schlepper sich zeigt, werden wir auf die andere Seite der Grenze wechseln und nach Hause fahren. Doch unsere Illusionen werden bald zerstört. In den folgenden Tagen taucht nicht nur kein Schlepper auf, ich erfahre durch mein unentbehrliches kleines Radio auch, dass die Amerikaner den Taliban den Krieg erklärt haben. Es wird immer komplizierter. Die Grenze ist mittlerweile absolut dicht. Die Taliban und die pakistanische Armee sind auf beiden Seiten der Grenze aufmarschiert, um jede Bewegung auf dem Boden zu unterbinden. Wir sitzen ganz schön in der Patsche. Nein, in der Falle.

Während ich mit meinen algerischen Kameraden in diesem Haus festsitze, habe ich Zeit, eine erste Bilanz zu ziehen. Blicken wir den Dingen ins Gesicht. Um schießen zu können und Waffen in die Finger zu bekommen, bin ich schwarz über die afghanische Grenze gegangen. Ich habe einige Wochen in einem Trainingscamp verbracht, das angeblich von Al-Qaida-Chef Bin Laden gelenkt wird. Bin Laden hat sich gerade zu den Anschlägen in New York bekannt. Wie ich es auch drehe und wende, es wird nicht leicht sein zu erklären, dass ich mit diesen Terrorismusgeschichten nichts zu tun habe. Ich sitze ganz schön in der Scheiße. Von diesem Augenblick an bin ich nur noch von einem Gedanken besessen: Ich will über die Grenze. Ich muss afghanischen Boden verlassen und so schnell wie möglich die französische Botschaft in Pakistan aufsuchen. Sie ist der einzige Ort, an dem ich einigermaßen in Sicherheit bin. In der Stadt kursieren Gerüchte. Es heißt, dass der in Pakistan agierende amerikanische Geheimdienst die Ausländer »kaufe«, die in der Grenzregion aufgegriffen werden. Sie zahlen mehrere tausend Dollar Prämie an diejenigen, die Verdächtige denunzieren. Wenn ich ihnen in die Hände falle, habe ich keine großen Chancen, mich aus der Affäre zu ziehen. Nach dem, was sie gerade erlebt haben, ist ihre Wut bestimmt enorm und ihr Rachedurst gewaltig. Sie werden sich nicht mit Details aufhalten. Sie werden mit allen abrechnen, die ihnen in die Finger geraten. Ich habe eigentlich keine Lust, für den 11. September ineinen Kopf hinzuhalten. Meine einzige Chance auf ein Entkommen ist die Botschaft. Dort werde ich meine Geschichte erzählen, ohne etwas zu verschweigen. Die Botschaft ist Frankreich, und Frankreich ist mein Land. Man wird mir zur Rückreise verhelfen. Das hoffe ich wenigs-

tens. Das einzige Problem ist, dass der Schlepper einfach nicht erscheint. Die Warterei zieht sich hin. Nach und nach füllt sich unser Unterschlupf. Die Neuankömmlinge sind wie wir auf der Durchreise und warten auf einen Führer. Unter ihnen befinden sich mehrere Franzosen, mit denen wir uns anfreunden. In der immer größer werdenden Gruppe wird lebhaft diskutiert. Für die einen ist der Angriff auf New York eine Heldentat. Andere sind zurückhaltender und führen uns besorgt die zu erwartende amerikanische Vergeltung vor Augen. Wie immer halte ich mich heraus. Das ist nicht der Moment, um die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, indem man einen Zweifel oder eine vielleicht etwas negative Ansicht äußert. Schnell könnte man dann zum Spion oder Verräter abgestempelt werden. Dann fallen die ersten Bomben. Dumpfe Explosionen erschüttern die Stadt, die inzwischen tagtäglich von amerikanischen Jagdflugzeugen angesteuert wird. Die Bombardierung scheint sehr gezielt zu erfolgen. Die militärischen Einrichtungen der Taliban werden systematisch zerstört. Sie liegen ziemlich weit entfernt von unserer Unterkunft, aber alle fürchten sich vor einem irrtümlichen Beschuss oder einer verirrten Bombe. Eines Abends bringt Hassan ein großes, völlig verbogenes Stück Stahl mit. Es ist ein Teil einer Granate, den er nicht weit von uns auf der Straße gefunden hat. Ein solches Ding kann einem mühelos den Kopf abreißen. Angst macht sich breit. Wir leben inzwischen seit Wochen an diesem Ort. Ich versuche, den Gang der Ereignisse über die Sendungen von RFI in meinem kleinen Radio zu verfolgen, das ich nicht mehr aus der Hand lege. Die Truppen der Nordallianz, die Koalition, die der verstorbene Kommandant Massud leitete, sammeln sich wieder und marschieren auf die

großen Städte zu. Die amerikanischen Angriffe werden immer heftiger. Um diese albtraumhafte Situation hin und wieder zu vergessen, beschäftigen wir uns, so gut es geht. Ich versuche, bei den Algeriern etwas Arabisch zu lernen. Für die Verpflegung legt jeder ein paar Rupien in eine Gemeinschaftskasse, aus der wir auf dem Markt Grundnahrungsmittel kaufen; wir kochen abwechselnd. Gelegentlich bringt uns Hassan orientalisches Gebäck mit. Das Haus können wir nur freitags verlassen. An diesem Tag überschwemmen die Lautsprecher der Moscheen von Dschalalabad die Stadt mit Versen aus dem Koran. Und vor allem werfen die Amerikaner keine Bomben ab. Anscheinend tun sie das aus Respekt vor dem Islam. Wir nutzen deshalb die Zeit und besuchen die Leute, die in dem anderen Algerier-Haus wohnen, aus dem wir evakuiert wurden. Es hat sich wieder gefüllt. Alle, die aus dem Süden des Landes geflohen sind, mussten irgendwie untergebracht werden. Einmal haben wir sogar das Vergnügen, an einer Taufe teilzunehmen. Mourad und ich nutzen den Besuch, um den Anführer der Algerier nach unserem Schlepper zu fragen. Aber seine Antwort lautet immer gleich: Wir sollen warten. Da wir die ganze Woche über eingesperrt sind, reagieren wir uns ab, indem wir auf einem Gelände in der Nähe des Hauses Fußballspiele organisieren. Die amerikanischen Satelliten können uns gestohlen bleiben. Außerdem sind sie mit Sicherheit weniger wirkungsvoll als ihre Spione, deren Gegenwart man überall vermutet. Jetzt, da den Taliban ein rauerer Wind ins Gesicht bläst, üben sich manche ihrer Freunde in vorauseilendem Gehorsam und laufen ins Lager der zukünftigen Herren des Landes über. Das sind die Spione, die die Lage der von Ausländern be-

wohnten Häuser verraten. Mehrere dieser Schlupfwinkel werden daraufhin bombardiert, und es gibt viele Opfer. Die Fußballspiele am Freitag dauern auch nie lange. Sie werden regelmäßig durch das Herannahen von Jagdflugzeugen unterbrochen, die in niedriger Höhe über uns hinwegrasen. Sicher, der Freitag ist angeblich ein »bombenfreier« Tag. Aber man weiß ja nie. Also stürzen alle eilig ins Haus. Zurück im sicheren Unterschlupf, haben manche noch den Nerv, Witze zu reißen. Aber je mehr Informationen durchdringen, desto weniger werden es. Wie soll man auch optimistisch bleiben, wenn man weiß, dass sich die ganze Welt darauf vorbereitet, das Land zu zerstören, in dem man sich gerade befindet? Jeden Morgen wache ich mit der Hoffnung auf, dass dieser Tag der letzte sein wird, den ich hier verbringe. Dass endlich der Schlepper auftaucht und uns zur anderen Seite bringt. Jeden Abend schlucke ich meine Enttäuschung und meine Angst hinunter und lausche den Neuigkeiten aus der Außenwelt. Einer der Algerier, die sich um das Netz von Unterkünften in Afghanistan kümmern, pendelt dauernd zwischen den verschiedenen Sammelpunkten hin und her. Er kommt täglich kurz vor Sonnenuntergang vorbei und versucht, uns zu beruhigen. Er wiederholt, dass wir uns gedulden sollen und dass er seine Bemühungen verstärken will, uns einen Führer zu beschaffen, mit dem wir bald von hier fortkommen. Warten, immer nur warten. Während der langen, trägen Stunden, in denen nichts geschieht, denke ich an mein bisheriges Leben, an meine Mutter, meine Brüder, meine Freundinnen, sogar an das kleine Auto, das ich zurückgelassen habe. Dieselbe Frage geht mir ständig im Kopf he-

rum: Was habe ich hier nur zu suchen? Doch ich achte darauf, dass von meinen Ängsten und Zweifeln nichts nach außen dringt. Mourad flüchtet sich in Gebete und Meditationen. Er scheint diese Geduldsprobe gut zu überstehen. Der Oktober geht dem Ende zu. Unmerklich ändert sich das Wetter. Jeden Abend fällt jetzt Regen, der bis tief in die Nacht auf das Dach prasselt, während ein kalter Luftzug durch das Haus zieht. Der Herbst hat Einzug gehalten. Und wir sind immer noch da. Endlich kommt der ersehnte Augenblick, aber anders als erhofft. Nicht unser Führer stürzt eines Morgens ins Haus, sondern einer der Algerier aus der Organisation. Laut hämmert er an die Türen und ruft: »Schnell, schnell, Kabul ist gefallen, wir müssen weg!« Die Truppen der Nordallianz haben die Hauptstadt eingenommen und marschieren auf Dschalalabad zu. Die Jagd auf die Taliban und ihre Verbündeten ist eröffnet, und die Leute des verstorbenen Massud kennen kein Pardon. Ihnen fällt man besser nicht in die Hände. In zwei Sekunden bin ich draußen. Ich habe gerade noch Zeit, meinen kleinen Beutel mit Ausweis, Geld und Rückflugticket zu schnappen. Alles andere - den Rucksack, die Klamotten, den Schlafsack - lasse ich zurück. Wir drängen uns in die Autos, die die Algerier mitgebracht haben, und rasen los. Hinaus aus der Stadt. Die Fahrer bringen uns zu einem abgelegenen Dorf, das sich »Stern des Dschihad« nennt. Dort wimmelt es von Menschen - ganze Familien mit Frauen und Kindern, bewaffnete Männer, Lastwagen und PKWs stehen kreuz und quer durcheinander. Hier sammelt sich die gesamte arabische Bevölkerung von Dschalalabad. Von diesem Dorf aus wird die Ausreise nach Pakistan organisiert.

Der Häuptling eines kleinen Bergstammes begrüßt unsere Gruppe, die aus etwa sechzig Personen besteht. Er führt uns zu einem Gebäude am Rand des Dorfes und schärft uns ein, dass wir uns nicht rühren sollen. Um uns herum herrscht ein schreckliches Durcheinander. Unter der Aufsicht alter Krieger von ziemlich wildem Aussehen formen sich Milizen. Überall tauchen Waffen auf. Aber diesmal simuliert keiner mehr den Ernstfall. Das hier ist der Ernstfall. Drei oder vier Tage verstecken wir uns in diesem Dorf. Dann tauchen Männer auf, die ich noch nie gesehen habe, und schicken uns los. Wir machen uns auf zur Hauptstraße, und dort ist der Teufel los. Es scheint keinerlei Organisation mehr zu geben. Jeder versucht auf eigene Faust einen Platz im Auto oder auf der Ladefläche eines Lastwagens zu ergattern. Aber schließlich kommt unsere gesamte Gruppe in dem Konvoi unter, der sich rasch in Bewegung setzt. Den ganzen Tag rollen wir Richtung Osten, auf das Gebirge zu. Gegen Abend hält der Konvoi in der Nähe von Häusern. Wir werden aufgenommen und bekommen etwas zu essen. Dann deuten die Männer, die uns als Begleiter dienen, auf die Gipfel hoch über uns. Ich brauche keinen Übersetzer. Ich habe verstanden, dass wir da hinübermüssen, um nach Pakistan zu gelangen. Endlich. Ich schöpfe wieder Hoffnung. Der Weg kommt mir nicht leicht vor, es geht höllisch steil hinauf bis zu den Bergpässen, die man von hier unten sieht. Aber dahinter liegt die Rettung. Aus reiner Neugier frage ich einen Algerier, der neben mir steht, wie dieses Gebirge heißt. »Tora Bora.« Ein komischer Name.

Kapitel 5

Tora Bora Nach einer eisigen Nacht, die wir in einer Art Scheune verbringen, und einer hastigen Mahlzeit machen wir uns an den Aufstieg. Es wurde ein Esel requiriert, der die Verpflegung der Expedition transportiert. Im Gänsemarsch bewegen wir uns auf einem immer steiler ansteigenden Pfad vorwärts. Die Vorhut bilden bewaffnete algerische Kämpfer. Von Zeit zu Zeit begegnen wir Afghanen, die mit Feuerholz nach unten absteigen. Auf den ersten Anhöhen entdecken wir kleine Gruppen Wartender. Sie haben sich dort in Höhlen eingerichtet oder bewohnen improvisierte Behausungen, die in die Erde gegraben wurden. Alle sind schwer bewaffnet und scheinen über Munitionsreserven zu verfügen. Je höher wir kommen, desto zahlreicher werden diese merkwürdigen Wachposten. Tatsächlich ist jeder erhöht gelegene Punkt in diesem Bergland von ihnen besetzt. Nicht das kleinste Tal entzieht sich der Reichweite ihrer Gewehre. Etwas später gibt uns einer unserer Begleiter ein paar Erklärungen dazu. Während des Krieges gegen die Sowjetunion diente das Tora-Bora-Massiv, das von Tausenden natürlicher Höhlen durchzogen ist, dem afghanischen Widerstand als Rückzugsgebiet. Einige der zahllosen Waffen- und Munitionsdepots, die dort angelegt wurden, sind auch nach dem Sieg der Taliban erhalten geblieben.

Angesichts der Bedrohung durch die Amerikaner und die Truppen der Nordallianz haben sich die Taliban, erklärt er weiter, zum Rückzug entschlossen und wollen Tora Bora nach einem relativ durchorganisierten Plan zu ihrer letzten Bastion machen. Dazu gehört vor allem, dass alle Durchgangswege durch das Massiv von ihnen kontrolliert werden. Das Problem besteht darin, dass für die vielen hundert Flüchtlinge, die wie wir nach Pakistan gelangen wollen, der einzig gangbare Weg durch Tora Bora führt. Und die Kämpfer stellt dieser unvorhergesehene Strom von »Zivilisten« vor eine Schwierigkeit. Alle müssen hier oben untergebracht werden, damit sie warten können, bis ihre pakistanischen Führer sie abholen. Denn man darf nicht vergessen, dass Tora Bora kein harmloses kleines Hügelland ist. Das Massiv gehört zur Kette des Hindukusch, einem Ausläufer des Himalaja, und hat Gipfelregionen von mehreren tausend Metern Höhe mit sibirischen Temperaturen. Wenn man sich in dieser Höhe verirrt, ist man tot. Man hat keine andere Wahl, als sich auf routinierte Führer zu verlassen. Eine gewisse Anzahl von Posten in diesem Kontrollnetz auf den Höhen von Tora Bora sind arabischen Kämpfern vorbehalten. Die anderen sind von Afghanen besetzt. Die beiden Parteien vermischen sich nicht. Unser Grüppchen wird auf verschiedene »arabische« Posten verteilt, die zumeist nur ein paar hundert Meter voneinander entfernt sind. Der Berg wimmelt von Menschen, die winzigste Höhle ist bewohnt. Ich werde von Mourad getrennt. Mit sieben anderen, darunter zwei Franzosen, die wie ich nach Pakistan wollen, werde ich einem kleinen Trupp zugeteilt. Der Ort, den man uns anweist, ist wunderschön, eine Art grasbe-

wachsene Terrasse direkt vor der Steilwand eines Berges. In der Felswand klafft ein Spalt, der zu einer ziemlich tiefen Höhle führt, in der Waffen, Munition und Lebensmittel lagern. Um uns herum erstreckt sich ein herrlicher Wald. Unter uns verliert sich ein lang gestrecktes Tal in den Schatten der einbrechenden Abenddämmerung. Trotz des Lagerfeuers am Eingang der Höhle ist es sehr kalt. Aber ich habe wieder Hoffnung. Wir sind dem Ziel nahe. Die Kämpfer, mit denen wir das Essen teilen, bestätigen das. »Nur Geduld, es werden Leute kommen, die euch abholen.« Das Signal kommt über Funk. Jede Gruppe besitzt einen tragbaren Sender, durch den Befehle übermittelt und Botschaften weitergeleitet werden können. Man muss also auf das »Startzeichen« der Anführer warten, die sich, wie wir, irgendwo in den Bergen verstecken. Es wird Zeit zum Schlafengehen. Wir suchen unsere Unterkunft auf, zwei Gruben, die aus dem Boden ausgehoben und mit Zweigen ausgekleidet sind. Es ist unbequem und eng. Man kann sich unmöglich ganz ausstrecken. Wir müssen es uns halb im Sitzen bequem machen, den Rücken gegen die Wand gelehnt. Zum Glück sind wir hier nur vorübergehend. Bald werden uns die Führer abholen. Vorübergehend? Der Aufenthalt in der Höhe wird einen Monat dauern. Einen schrecklichen, endlosen Monat. Einen Monat in der Hölle. Denn der uneinnehmbare Schlupfwinkel der Taliban hat sich in eine tödliche Falle verwandelt. Die Kämpfer hatten sich darauf eingerichtet, ihre Schlacht am Boden gegen feindliche Fußtruppen zu schlagen. Sie hielten sich bereit, dem Angriff standzuhalten, und waren überzeugt davon, dass sie jeden vernichten würden, der es wagte, zu ihnen hinaufzusteigen. Jeder

Saumpfad, jedes Tal, jedes ausgetrocknete Flussbett lag, wie gesagt, im Feuerbereich eines oder mehrerer Kontrollposten. Tora Bora war eine uneinnehmbare Zitadelle. Hatte sich nicht auch der sowjetische Bär an ihr die Zähne ausgebissen? Nur kommt der Tod diesmal vom Himmel. Die Streitkräfte der Nordallianz, die die Verfolgung der Taliban übernommen haben, sind in aller Ruhe am Fuß des Massivs geblieben und beschränken sich darauf, den Rückzug abzuschneiden. Dann hat die amerikanische Air Force ihren Auftritt. Einen Monat lang bombardiert sie Tag und Nacht mit der Regelmäßigkeit eines Schweizer Uhrwerks das Bergland. Zusammengekrümmt sitze ich im Halbdunkel im hintersten Winkel meines Schlupflochs, und meine Ohren ersetzen die Augen. Ein dumpfes, fernes Brummen? Ein schwerer Langstreckenbomber, zweifellos eine B 52 mit einem Dutzend Bomben. Ein schärferer, etwas pfeifender Ton? Eine leichtere Maschine, eine F 16 oder F 18, vier Bomben. Meine Schicksalsgenossen und ich beißen die Zähne zusammen und warten auf die erste Explosion. Schwach? Ein fernes Ziel. Das gilt nicht uns. Stark? Zeit zu beten. Denn das Geäst über unseren Köpfen wird eine Sieben-Tonnen-Bombe nicht aufhalten. Mehr als einmal spüren wir den Aufschlag ganz in unserer Nähe. Man hört das Pfeifen der Luft-Boden-Rakete, die durch die Luft schießt und dabei ein Geräusch von sich gibt, das beim Näherkommen immer schriller wird. Dann die Explosion. Die Erde bebt. Ein Regen aus Steinen und Schutt geht auf die Umgebung nieder. Wenn die letzten Trümmer heruntergekommen sind, stoße ich einen Seufzer der Erleichterung aus. Diesmal sind wir davongekommen. Vielleicht trifft es uns das nächste Mal. Ich zähle mit. Bis vier, wenn es eine F 16 ist. Bis zwölf bei

einer B 52. Und hoffe jedes Mal, bis zum Ende zählen zu können. Ich habe noch nie einen solchen Lebenshunger empfunden wie während dieser schrecklichen Stunden unter dem Bombardement. Wenn uns die Flugzeuge eine Verschnaufpause geben, lasse ich den Film meines bisherigen Lebens vor mir ablaufen. Ich sehe die guten Momente der Vergangenheit. Es tut mir Leid um die verlorene Zeit, all die vergeudeten Stunden, in denen ich nichts Vernünftiges getan habe. Wenn ich gewusst hätte, dass mein Leben vielleicht so schnell enden würde, hätte ich jede Minute genutzt, jede Sekunde. Aber ich gebe nicht auf. Mein einziger Gedanke in diesem Rattenloch: Ich will überleben. Mit all meiner Kraft und aus ganzem Herzen. Trotz des Bombenhagels müssen wir gelegentlich die Höhle verlassen. Um Holz zu hacken oder um zwei Stunden entfernt ganz unten im Tal Wasser zu holen. Oder um Lebensmittel zu besorgen, denn unser Proviant geht zur Neige, und wir müssen uns zu den größeren Depots durchschlagen, die in den Bergen versteckt liegen. Jede Expedition kann die letzte sein. Man ist ständig darauf gefasst, von einer Bombe zerfetzt zu werden oder auf eine der faustgroßen gelben Sprengkörper zu treten, die bei der Explosion der Bomben, die sie mit sich führen, zu Tausenden im Gelände verteilt werden. Oder man wird von den Raketen in Stücke gerissen, die von den Flugzeugen abgeschossen werden. Oder bei Nacht vom Gewehrfeuer aus den Helikoptern durchsiebt. Die Apache-Helikopter greifen nie tagsüber an. Sie bevorzugen die Nacht, in der sie für die Heckenschützen unsichtbar sind. Im Dunkeln sind sie nicht auszumachen. Die schwarzen Maschinen fliegen ganz ohne Licht.

Das Knattern ihrer Rotoren bricht sich an den Berghängen und erzeugt eine Reihe von Echos. Man glaubt sie an einem bestimmten Ort zu hören, dabei sind sie ganz woanders. Diese Furcht erregenden Räuber waren nicht von Anfang an mit von der Partie. Zu Beginn der Luftangriffe schien der Mond zu hell. Zu viel Licht. Also haben sie abgewartet, bis der Mond abnimmt. Dann sind sie gekommen. Die intensive Bombardierung hat Todesopfer gefordert. Das haben wir aus den Funksprüchen der Taliban erfahren. Von den Zehntausenden von Bomben, die auf Tora Bora abgeworfen wurden, sind einige auf Unterstände und Höhlen gefallen. Die Anzahl der Opfer dieser groß angelegten Bombenoffensive lässt sich schwer schätzen. Es sind ohne Zweifel mehrere Hundert. Ein lächerliches Ergebnis, wenn man den Einsatz bedenkt. Die Apache-Helikopter dagegen erweisen sich als furchtbar effektiv. Da sie in sehr geringer Höhe fliegen und mit Infrarotgeräten ausgestattet sind, die auf Wärme reagieren, können sie die bewohnten Höhlen lokalisieren und sie mit ihren Geschossen vollkommen zerstören. Bei einer der Expeditionen zum Wasserholen komme ich an einer Höhle vorbei, die am Vorabend noch von ein paar Männern bewohnt gewesen war, die ich gegrüßt hatte. In der Nacht waren die Apache herabgestoßen. Am nächsten Tag waren von den Männern, die ich gegrüßt hatte, nur noch einzelne Körperteile übrig. Wochen später übermitteln die Funkwellen endlich gute Nachrichten. Die sehnlichst erwarteten Führer sind im Tal angelangt. Endlich werden wir diese Hölle verlassen können. Die arabischen Kämpfer und die Taliban, die das Gebirge halten sollten, haben ebenfalls den Befehl erhal-

ten, ihre Posten zu räumen. So bilden sich Gruppen aus zivilen Flüchtlingen und Kämpfern auf dem Rückzug. Eine erste Gruppe erhält Anweisung zum Aufbruch. Wir sind nicht dabei. Dann halt nicht. Wir müssen warten, bis wir an der Reihe sind. Ich nutze eine ruhige Minute und schleiche mich nach draußen ins helle Tageslicht. Um mich herum sehe ich eine verwüstete Mondlandschaft. Der sattgrüne Wald, der uns beherbergt hatte, ist verschwunden. So weit das Auge reicht, ist der Boden von Abertausenden kleinen und großen Kratern übersät. Dann blicke ich nach unten und suche die Kolonne. Da ist sie, ich kann sie sehen: ungefähr sechzig Männer im Gänsemarsch auf einem schmalen Pfad, der ins Tal hinunterführt. Von meinem Aussichtspunkt aus ähneln sie winzigen Ameisen. Das sind die Menschen, mit denen ich bei meinem Aufenthalt in dem Haus in Dschalalabad zusammen war. Sie haben Glück. Bald werden sie weit weg sein. In Wirklichkeit gelangen sie nicht weiter als bis zur Talsenke. Sie haben sich viel zu spät auf den Weg gemacht. Als sie den vereinbarten Treffpunkt erreichen, ist die Nacht hereingebrochen, und zwei patrouillierende Apache-Helikopter haben sie entdeckt. Über eine halbe Stunde lang wird das Tal von Raketenexplosionen und dem abgehackten Rattern der schweren MGs erschüttert. Dann überlassen die Hubschrauber den Flugzeugen das Feld. Die belegen den Sektor mit einem lückenlosen Bombenteppich. Aus meinem Versteck heraus habe ich keine Einzelheit dieses Angriffs verpasst. Mit gespitzten Ohren habe ich die verschiedenen Phasen des Angriffs verfolgt. Seine Intensität und Dauer lassen den Menschen da unten kaum eine Überlebenschance. Das bestätigt mir am nächsten Morgen ein Mann, der aus dem Tal zu uns heraufsteigt. Er berichtet, dass die meisten Mitglieder dieser Gruppe getötet wur-

den. Die wenigen, die entkommen konnten, sind schwer verwundet, teilweise furchtbar verstümmelt. Zu ihnen gehört ein Engländer, dem ein Arm abgerissen wurde. Jetzt ist die Reihe an uns. Bei Tagesanbruch hangeln wir uns aus unserem Adlerhorst und machen uns auf den Weg zu einem etwas tiefer gelegenen Treffpunkt. Bald zählen wir sechzig Mann - das ist die vorgesehene Stärke - und folgen dem pakistanischen Führer. Nach einem Marsch von mehreren Stunden auf einem relativ leichten Pfad erreichen wir eine Weggabelung. Von hier aus führen mehrere Routen zur Grenze. Der Anführer unserer Gruppe will jedoch, dass alle demselben Weg folgen. Falls es Probleme gibt, können die hinteren Gruppen den Vorausgehenden zu Hilfe kommen. Aus diesem Grund müssen einige von uns an Ort und Stelle bleiben, um dem Führer der folgenden Gruppe zu sagen, welchen Weg wir genommen haben. Dann sollen sie sich dieser Gruppe anschließen und am Zielort wieder mit ihren eigenen Leuten zusammentreffen. Als der Anführer uns dies erklärt, habe ich den Eindruck, dass er mich dabei fixiert. Also komme ich ihm zuvor. Ich erkläre, dass Hierbleiben für mich nicht in Frage kommt. Glücklicherweise melden sich vier oder fünf junge Männer freiwillig. Zu ihnen gehören die zwei Franzosen, mit denen ich in der Höhle zusammen war. Sie stellen ihre Beutel ab, während wir uns wieder auf den Weg machen. Wir werden sie nie wiedersehen. Die Jungen haben gewartet und gewartet. Die folgende Gruppe ist nie gekommen. Nachdem sie einen Tag gewartet hatten, sind sie allein und ohne Führer aufgebrochen. Sie haben sich verirrt. Ende Dezember haben pakistanische Dorfbewohner die Leiche von einem der Franzosen im Gebirge gefunden. Er hieß Herve Djamel Loiseau.

Unsere Gruppe hat jetzt nur noch ein Ziel - die Flucht. Deshalb marschieren wir die ganze Nacht, obwohl das riskant ist. Die Apache treiben sich im Tal herum. Und alle müssen daran denken, was unseren Vorgängern passiert ist. Wenn sich der Lärm der Helikopter nähert, zerstreuen wir uns hastig in alle Richtungen. Die Verhaltensregel ist einfach: Man muss sich hinter Felsbrocken oder Bäumen verstecken, um nicht entdeckt zu werden. Und vor allem darf man sich nicht bewegen. Ich habe mich in eine Art Mauseloch am Fuß eines Felshangs gequetscht. Ich wage kaum zu atmen, während die zwei Apache wie unheimliche schwarze Schatten direkt über uns schweben. Uff, sie entfernen sich. Der Führer gibt uns ein Zeichen. Wir brechen wieder auf. In dieser Nacht beweist die amerikanische Luftwaffe einen besonderen Eifer. Sie bombardiert die Gegend ununterbrochen. Nicht einmal die üblichen fünfzehn Minuten Pause werden eingehalten. Die Erde bebt unablässig unter unseren Füßen, während die Explosionen die dunklen Berggipfel aufleuchten lassen. Im Morgengrauen marschieren wir noch immer. Wir folgen wieder einem schmalen Flussbett. Unterwegs wächst unsere Gruppe, weil sich andere Flüchtlinge von irgendwoher uns anschließen. Allmählich steigt der Weg wieder an. Zunächst langsam, dann immer steiler. Die Kolonne wird länger und zieht sich auseinander. Niemand redet. Wir konzentrieren uns nur noch darauf, bei dem höllischen Tempo mitzuhalten, das der Führer angeschlagen hat, damit wir so schnell wie möglich die Gefahrenzone verlassen. Vor allem nicht zurückfallen. Auf Nachzügler wartet niemand. Also marschiere ich. Weil ich entschlossen bin, hier herauszukommen, weil ich leben will, marschiere ich. Es

wird immer kälter, dann beginnt es zu schneien, aber ich marschiere. Ich habe Hunger, ich habe nur noch ein paar Rosinen in der Tasche, aber ich marschiere. Als zum zweiten Mal seit dem Beginn unserer Flucht die Nacht anbricht, gibt der Führer endlich das Signal zum Anhalten. Wir drängen uns, so gut es geht, in einer verlassenen Schutzhütte um ein klägliches Feuer. Nach wenigen Stunden Pause müssen wir wieder los. Auf diese Weise vergehen fünf Tage und Nächte. Am Tag marschieren wir. In der Nacht schlafen wir eng aneinander gedrängt, um nicht zu erfrieren, manchmal direkt auf dem Schnee. Ich weiß nicht mehr, wie lange wir schon unterwegs sind. Es kommt mir vor wie eine Ewigkeit. Das Getöse der Bomben erreicht uns nur noch gedämpft aus der Ferne. Ich müsste froh sein - wir haben die Gefahrenzone hinter uns. Aber ich habe nicht mehr die Kraft dazu. Ich breche zusammen. Ich friere einfach zu sehr in meinen dünnen pakistanischen Kleidern und dem leichten Pullover, den ich bei der Flucht aus Dschalalabad mitgenommen habe. Außerdem sind meine Füße in den seit dem Durchqueren des Flussbetts völlig durchnässten Sportschuhen nur noch Eisklumpen. Vollkommen erschöpft sinke ich in den Schnee. Ich werde hier sterben, ganz allein, fern von den Meinen, in diesem Gebirge. Ich habe mich fast schon in mein Schicksal ergeben. Aber einer der Franzosen schüttelt mich. »Nizar, wenn du hier bleibst, bist du tot. Niemand wird dir helfen. Du musst aufstehen und weitergehen.« Als ich diese Worte höre, strömt wieder Lebenswille durch meine Adern. Mit einer verzweifelten Kraftanstrengung raffe ich mich auf und stemme mich hoch. Und gehe weiter. Ich weiß nicht, woher ich noch die Energie nehme, mich vorwärts zu bewegen. Mein Vorrat an Rosinen ist

schon längst zu Ende. Der Führer marschiert immer noch weit vor mir an der Spitze der Kolonne. Wir steigen weiter bergauf. Ich wage nicht einmal mehr, die Augen zu heben. Wie oft habe ich schon geglaubt, die nächste Anhöhe sei die letzte. Ich würde von oben endlich die andere, die pakistanische Seite sehen. Und wir wären da. Und wie oft war ich kurz davor aufzugeben, wenn ich von oben doch wieder nur eine weitere Anhöhe sah, noch weiter weg, noch höher.

Kapitel 6

Das Ende der Flucht Ah, der Weg führt abwärts. Das ist sicher einer der kurzen Abstiege, denen ein noch steilerer Anstieg folgt. Die trügerischen Hoffnungen strapazieren unsere Nerven aufs Äußerste. Nein, diesmal nicht. Es geht tatsächlich nach unten. Wir werden schneller. Ich wage es kaum zu glauben, doch es stimmt. Wir haben die andere Seite des Gebirges erreicht! Wir sind in Pakistan! Ich bin gerettet! Bald darauf erreichen wir Parachinar, ein Dorf ganz in der Nähe der Grenze. Die Leute laufen aus ihren Häusern und begrüßen uns, sie nehmen uns mit zu sich, lassen uns am Feuer Platz nehmen, man gibt uns Reis und Fleisch zu essen. Endlich können wir uns waschen und unsere Kleider trocknen. Ich lebe auf. Die französische Botschaft und das Ende des Albtraums sind in greifbare Nähe gerückt. Ich bin nicht der Einzige, der sich in die Botschaft retten will. Insgesamt sind wir vier Franzosen in dieser Gruppe. Von der Existenz der drei anderen weiß ich, habe aber während unserer Flucht über die Berge keine Gelegenheit gehabt, mit ihnen zu sprechen. Ich kenne sie vom Sehen. Sie waren in dem anderen Algerier-Haus in Dschalalabad, als ich auf den Führer wartete, der uns außer Landes bringen sollte. Einer von ihnen spricht Arabisch und fragt einen der Dorfbewohner, ob uns jemand nach Islamabad begleiten kann. »Kein Problem, ruht euch ein wenig aus,

dann bringen wir euch hin.« Super. Wir können uns beruhigt schlafen legen, in der Gewissheit, dass die Quälerei ein Ende hat. Aber nach wenigen Stunden zerrt uns derselbe Mann aus dem Bett. »Kommt, alles ist fertig, wir bringen euch zur Botschaft.« Jetzt schon? Verdammt, nach einer solchen Anstrengung wäre eine kleine Erholung doch nicht zu viel verlangt. Aber was sein muss, muss sein. Wir packen unseren Kram und folgen ihm. Er führt uns zur Moschee. Dort werden wir von mehreren Männern erwartet. Offenbar haben sich die Dorfältesten versammelt, um über unseren Fall zu diskutieren. Es wird viel geredet, aber keiner von uns versteht ein Wort. Nach und nach werden immer mehr Mitglieder unserer Flüchtlingsgruppe in die Moschee gebracht. Die Dorfbewohner teilen uns in kleine Gruppen ein. »Wegen der Fahrzeuge«, erklärt einer unserer Begleiter. Ein paar Minuten später lässt er uns auf die Ladefläche eines Pick-ups aufsteigen, der sofort abfährt. »Wir fahren zur Botschaft.« Nach wenigen Kilometern biegt die Wagenkolonne plötzlich ab, verlässt die Hauptstraße und steuert ein großes Tor an. Wir halten. Bewaffnete Männer umringen uns und fordern uns auf abzusteigen. Was mit der Botschaft ist, wird sich zeigen. Vorläufig sind wir in einem pakistanischen Gefängnis gelandet. Dieselben Männer, die uns bei unserer Ankunft im Dorf mit offenen Armen empfangen haben, stoßen uns in große Gemeinschaftszellen. Auf einmal kommen mir die Gerüchte, die am Tora Bora kursierten, in den Sinn. Es hieß, dass die Amerikaner fünftausend Dollar für jeden gefangenen »Terroristen« bieten. Für mich ist die Sache klar. Ich bin mir sicher, dass unsere Gastgeber uns verkaufen wollen. Wahrscheinlich haben sie uns nur deshalb so bereitwillig und herzlich aufgenommen. Wir waren für sie das

große Los. Sie sehen in uns nicht arme, ausgelaugte, halb verhungerte und erfrorene Kerle, verdreckt und struppig, deren Anblick jeden normalen Menschen in die Flucht gejagt hätte. Nein, sie sehen in jedem von uns schöne, fette, grüne Dollarbündel. Unsere Gruppe füllt drei große Zellen. Die zum Gang liegende Seite ist vergittert, sodass die Wächter das Zelleninnere ständig im Auge haben. Durch ein winziges Fensterchen dicht unter der Decke fällt ein schwacher Lichtschein. Feuchtes Stroh bedeckt den Fußboden. Pah, nach alledem, was wir durchgemacht haben - ein Monat in einem Rattenloch im Bombenhagel von Tora Bora und fünf grauenhafte Tage oben im Gebirge -, ist dieses Kittchen ja fast schon ein Luxushotel. Wir richten uns leidlich ein und versuchen herauszufinden, welche Pläne man mit uns hat. Einer meiner Zellengenossen spricht einen Pakistani aus dem Dorf, der uns bis hierher begleitet hat, auf Arabisch an. Er fragt ihn: »Ihr werdet uns also verkaufen?« Daraufhin beteuert der andere unter großen Gesten: »Aber nein, ganz und gar nicht, macht euch keine Sorgen. Ihr braucht euch nicht den Kopf zu zerbrechen, wir haben nichts Schlimmes mit euch vor. Wir werden euch zur Botschaft bringen.« Wer's glaubt, wird selig. Ich bin von Natur aus Pessimist. Schöne Worte interessieren mich nicht. Ich weiß nur, dass unser Kopf ein kleines Vermögen wert ist und dass wir hinter Gittern sind. Ich brauche kein Abi, um zu wissen, was das bedeutet. Ich hocke mich in eine Ecke und warte. Ein paar Stunden später tut sich etwas. Die Wächter laufen umher, wir hören Motorengeräusche aus dem Hof. Dann holt man uns. Im Hof warten drei große khakifarbene Busse. Überall stehen Soldaten der regulären pakistanischen Armee herum. Man lässt uns in die Busse einstei-

gen, die auch gleich losfahren. Ich schaue mich um. Der Konvoi ist von Lastwagen mit MG-Trupps eingerahmt. In jedem Bus sitzen vorne und hinten bewaffnete Soldaten, andere sind auf den Dächern über unseren Köpfen postiert. Manche meiner Kameraden haben Gesprächsfetzen von den pakistanischen Offizieren aufgeschnappt. Angeblich sollen wir zu einer Militärbasis gebracht und den Amerikanern als »Terroristen von AI Qaida« verkauft werden. Wir werden für die Anschläge von New York bezahlen. Das heißt dreißig oder vierzig Jahre Gefängnis. Ich höre zu. Bei jeder neuen Spekulation rutsche ich ein Stückchen tiefer in meinen Sitz. Ich bin zum Schießen hergekommen, wollte meiner Leidenschaft frönen, und jetzt sitze ich hier als Gefangener der pakistanischen Armee und werde mein Leben in einem amerikanischen Zuchthaus beschließen. Wieder einmal kreist die alte quälende Frage in meinem Kopf: Was habe ich denn hier nur verloren? Während ich Trübsal blase, entschließen sich meine Kameraden zu handeln. Einer der Algerier, der neben mir sitzt, übersetzt mir in aller Eile, was sie beschlossen haben, und ich traue meinen Ohren nicht. Sie wollen den Bus in ihre Gewalt bringen und fliehen. Trotz des Aufgebots an militärischer Stärke um uns her. Was ist das schon wieder für eine verrückte Idee? Aber ich habe keine Zeit, meine Meinung zu äußern. Vor uns haben zwei Männer schon die Initiative ergriffen. Der eine hat den vor ihm sitzenden Soldaten mit seinem Gürtel erdrosselt. Der andere hat dem hinteren Bewacher mit einer Schere, die er in der Tasche hatte, die Kehle durchgeschnitten. Man muss dazu sagen, das sich bei unserer seltsamen Verhaftung niemand die Mühe gemacht hat, uns gründlich zu filzen. In Sekundenbruchteilen sind die Waffen der getöteten Soldaten in den Händen der Angreifer und werden nach

hinten gerichtet. Die vier Rekruten auf den hinteren Sitzen hielten diese Fahrt für einen Routineauftrag. Nur eine einfache Überführung von Gefangenen. Sie irren sich. Sie fangen gerade erst an zu begreifen, dass etwas schief gegangen ist, als schon die Kalaschnikows losrattern. Sie werfen sich zu Boden und erwidern das Feuer. Der Bus wird zum Schlachtfeld. Scheiben zerspringen, Schüsse, Geschrei und Gebrüll mischen sich zu einem Höllenlärm. Angesichts dieses apokalyptischen Spektakels fackelt der Busfahrer nicht lange: Er springt in voller Fahrt aus dem Fenster. Und ich befinde mich mitten in diesem Schlachtfeld, über meinem Kopf schwirren die Kugeln hin und her, und der wild gewordene Bus rast führerlos geradeaus. Durch den Überraschungseffekt haben die Angreifer rasch die Oberhand gewonnen. Die Rekruten werden getötet, ihre Waffen wechseln den Besitzer. Aber für einen Siegestaumel ist es zu früh. Die Soldaten draußen haben inzwischen begriffen, dass etwas Ungutes im Gang ist. Die Schützen auf dem Dach fangen an, blindlings durch die Karosserie zu schießen, während das MG auf dem Lastwagen hinter uns ebenfalls das Feuer eröffnet. Schüsse peitschen in alle Richtungen. Ich lege mich möglichst flach zwischen den Sitzreihen auf den Boden. Der Pulvergeruch ist so stark, dass ich kaum atmen kann. Ich sage mir: Diesmal, mein lieber Nizar, ist es um dich geschehen. Die Bomben haben dich nicht umgebracht, die Kälte hat dich nicht umgebracht, der Hunger hat dich nicht umgebracht. Aber diesmal weiß ich wirklich nicht, wie du hier lebendig rauskommen sollst. Während manche Gefangene durch die Decke schießen, um die Soldaten zu treffen, suchen andere das Heil in der Flucht. Einige werfen sich aus den Fenstern. Ich nutze ei-

nen Moment relativer Ruhe und robbe in den vorderen Teil des Busses, der mir dem Kugelhagel weniger ausgesetzt erscheint. Das MG legt wieder los. Das hält einen besonders Verwegenen nicht davon ab, aufzustehen und den Fahrersitz anzusteuern. Er ist immer noch leer. Der Mann ergreift das Lenkrad und reißt es abwechselnd links und rechts herum, damit die Soldaten vom Dach stürzen. Der Bus fährt im Zickzackkurs, immer abrupter und immer schneller. Wir vollführen wilde Schlenker über die gesamte Breite der Straße. In Gegenrichtung kommt uns ein Wagen entgegen. Peng. Ein Aufprall. Durch die Wucht kommt der Bus von der Straße ab, während wir gerade eine Brücke überqueren. Unter lautem Knirschen und Krachen stürzen wir hinunter. Von da, wo ich mich befinde, sehe ich alles. Das Auto, das uns entgegenkommt, den ersten Aufprall. Es scheint mir, als sähe ich einen Film in Zeitlupe. Als der Bus ins Leere stürzt, habe ich sogar noch Zeit, mir zu sagen: Das war's. Ich werde sterben. Und dann hören die Bilder auf. Ich bin nicht tot. Ich habe nur für einige Sekunden das Bewusstsein verloren. Die Explosionen bringen mich in die Wirklichkeit zurück. Von der Böschung aus schießen die Soldaten mit ihren Maschinenpistolen auf das, was von dem Bus übrig ist; sie sehen aus, als nähmen sie an einer Schießübung teil. Um mich herum fallen Männer um. Wenn ich hier bleibe, bin ich verloren. Also raffe ich mich auf, lasse mich während einer Feuerpause aus dem Bus fallen und laufe los. Nicht weit von mir entfernt sehe ich ein Dorf. Vor mir zwei Wege. Einer führt ins Gelände, der andere zu den Häusern. Ohne nachzudenken, laufe ich in Richtung der Felder. Nach ein paar Hundert Metern stehe ich vor

Dorfbewohnern, die den Krach gehört haben und wissen wollen, was passiert ist. Alle sind bewaffnet, wie das hier üblich ist. Sie umringen mich und richten ihre Waffen auf mich. Sie geben mir zu verstehen, dass ich mich nicht rühren soll. Ich sehe, dass der Lauf ihrer Gewehre merkwürdig vibriert. Die Kerle zittern. Sie haben eine Scheißangst. Und mir geht es, ehrlich gesagt, nicht anders. Ich sage mir, dass womöglich einer, nur weil er so zittert, ganz unabsichtlich den Abzug drückt und mir eine verpasst. Das wäre zu dumm. Dann tauchen laut schreiend die Soldaten auf, die mir auf den Fersen sind. Sie sind unglaublich nervös und durch die Szenen, die sie gerade erlebt haben, vollkommen außer sich. Ich lasse mich ohne Widerstand mitnehmen. Als ich an dem Wrack des Busses vorbeikomme, kann ich einen Blick auf leblose, blutüberströmte Körper werfen, die am Boden liegen. Vier Gefangene und acht Soldaten. Einigen meiner Kameraden ist die Flucht gelungen. Sie schießen mit den im Bus erbeuteten Waffen weiter auf ihre Verfolger. Ich höre die Schüsse aus immer größerer Ferne. Die Straße ist von Lastwagen und anderen Fahrzeugen blockiert, die kreuz und quer herumstehen. Soldaten laufen durcheinander, Offiziere brüllen. Es herrscht die absolute Panik. Man stößt mich rücksichtslos in ein Auto. Ich setze mich. Der Sitz neben mir ist mit blutverschmierten Scherben übersät, und dazwischen liegt eine graue Masse. Es dauert ein paar Sekunden, bis ich begreife, dass es sich um menschliches Gehirn handelt. Was für eine Reisebegleitung. Glücklicherweise dauert die Fahrt nicht lange. Ich werde zum nächstgelegenen pakistanischen Polizeiposten befördert, gefilzt und in eine Zelle gesteckt. Ein Polizist hat mir den Pass und mein Flugticket abgenommen. Ich sehe beides nie wieder.

Aus meinem Gefängnis heraus kann ich das Ende des Fluchtversuchs verfolgen. Ich höre die letzten Schüsse in der Ferne, dann das Rattern eines Hubschraubers, der in niedriger Höhe kreist. Fahrzeuge nähern sich, Türen knallen im Hof. Sie bringen andere Flüchtlinge, die geschnappt wurden. Einer nach dem anderen treffen die Männer aus dem Bus, die den Kugeln entkommen sind, in der Polizeiwache ein. Seltsamerweise tragen die letzten saubere Kleidung. Sie erzählen uns, dass die Dorfbewohner sie zunächst mit offenen Armen aufgenommen haben. Sie haben sie in ihre Häuser eingeladen, ihnen frische Kleider gegeben und Essen und Trinken angeboten. So hatte man sie aufgehalten; währenddessen warteten die Dörfler auf die Soldaten, die sie benachrichtigt hatten, um ihre Prämie zu kassieren. Als die Nacht anbricht, sind wir komplett. Alle Überlebenden des abenteuerlichen Fluchtversuchs sind in Zellen zusammengepfercht. Die Pakistanis scheinen beschlossen zu haben, sich nicht mehr austricksen zu lassen. Sie haben Verstärkung geholt. Um den Polizeiposten herum ist sogar eine Fallschirmspringer-Einheit aufmarschiert. Am frühen Morgen kündigt uns ein Offizier an, dass wir verlegt werden. Man zerrt uns einzeln aus den Zellen. Als ich an der Reihe bin, werde ich in einen kleinen Raum gebracht. Ein Soldat fesselt mir mit einem Strick die Hände auf den Rücken. Dann werde ich unter die Plane eines Militärlasters geworfen. Dort muss ich mich auf den Metallboden setzen, Rücken an Rücken mit einem anderen Gefangenen, und man bindet uns die Hände zusammen und zieht uns eine Strumpfmaske über den Kopf. Den folgenden ergeht es ebenso. Die Soldaten schieben uns in die Mitte der Fläche und ketten unsere Knöchel an. Dann set-

zen sie sich auf die Bänke uns gegenüber und richten ihre Gewehre auf uns. Wir haben verstanden: Der Erste, der sich bewegt oder den Mund aufmacht, bekommt einen Kolbenhieb in die Rippen. Wir sitzen lange in dieser Position. Wegen der Kapuze sehe ich nicht, was draußen vor sich geht. Dem Lärm nach zu urteilen, packen die Soldaten auch die anderen Lastwagen voll. Stimmen bellen Befehle. Der Motor unseres Lasters dröhnt, die anderen folgen. Der Konvoi setzt sich in Bewegung. Wieder sind wir unterwegs. In jeder Kurve fallen wir gegeneinander, und bei jedem Rütteln stoßen wir gegen den Metallboden, auf dem wir sitzen. Sehr bald spüre ich, wie unbequem unsere Lage ist. Schon nach zehn Minuten tut mir alles weh. Schneidende Schmerzen in den Schultern, wunder Hintern, die ersten Wadenkrämpfe. Erst zehn Minuten, und schon ist es schier unerträglich. Auch meine Kameraden leiden. Einige versuchen verzweifelt, eine weniger schmerzhafte Stellung zu finden. Andere geben erstickte Schmerzenslaute von sich. In allen Fällen folgt die Strafe auf dem Fuße: Der Soldat auf dem Sitz gegenüber schlägt kurz und heftig und ohne Vorwarnung zu. Noch weiß ich nicht, dass dieser Albtraum einundzwanzig Stunden dauern wird. Ein Tag und eine Nacht ohne Essen, ohne Trinken, ohne eine Toilette benutzen zu können. Die Zwischenstopps kommen nur der Begleitmannschaft zugute: Sie füllen Benzin nach, Fahrer und Bewacher werden ausgewechselt, und dann geht es weiter. Der Zweck der Reise ist es, uns maßlos leiden zu lassen. Weil sie nicht anders können, pinkeln sich einige unter Tränen in die Hose. Wir sitzen in Urinpfützen. Es ist widerlich. Endlich kommen wir an. Wir werden von den Lastwa-

gen geworfen, losgebunden und von unseren Kapuzen befreit. Wir dürfen uns in einem Graben erleichtern. Plötzlich verstehe ich, warum uns unsere Bewacher solche Freiheiten gewähren: Wir haben nicht die geringste Chance zu entkommen. Wir befinden uns mitten in einem Militärlager und werden streng bewacht. Unsere neuen Zellen sind groß genug für zwanzig Personen. Das Mobiliar beschränkt sich auf ein Stück Stoff pro Person, das als Tischtuch beim Essen und als Unterlage beim Schlafen dient. In der Ecke gibt es eine einzige Toilette für alle, die - da offensichtlich verstopft -, einen ekelhaften Gestank verströmt. Der Kübel, den morgens der Häftling benutzt, der zum Putzen eingeteilt ist, dient am Mittag als Behälter für das Essen. Oder für das, was sich als solches ausgibt - eine Art Brühe, in der ein paar Linsen schwimmen. Schon ein einziger Schluck dieser Mixtur hat eine durchschlagende Wirkung auf das Verdauungssystem. Kaum hinuntergeschluckt, wird er schon wieder ausgeschieden. Nun kommt die Stunde der Formalitäten. Ein Foto, eine erste Befragung. Ein pakistanischer Offizier stellt mir Fragen auf Englisch. Ich habe große Mühe, ihn zu verstehen. Er zeigt guten Willen, fängt noch einmal von vorne an, redet langsam, gestikuliert. Ich kann ihm nur sagen, dass ich Franzose bin und keine Papiere habe. Dann werde ich in die Zelle zurückgebracht. Wir sind seit ungefähr zwanzig Tagen in diesem Loch. Die Pakistanis beteuern uns immer wieder: Macht euch keine Sorgen, wir werden euch nach Hause zurückschicken. Unterdessen bin ich dem pakistanischen Geheimdienst in die

Fänge geraten. Drei sehr korrekte Herren erkundigen sich nach meinem Namen, meiner Adresse, den Namen meiner Brüder und Schwestern und so weiter. Dann befragen sie mich lange nach meinem Aufenthalt in diesem Winkel der Erde. Ich erkläre, dass ich auf Reisen bin. Nein, ich bin kein Taliban, nein, ich bin kein Mitglied von AI Qaida. Sie sagen mir, dass sie diese Angaben an Interpol weiterleiten werden. Dann lassen sie mich ein Formular ausfüllen und erklären mir, es sei für die französische Botschaft bestimmt, mit der sie Kontakt aufnehmen werden. Alles bestens. Ich verlasse das Verhörzimmer voller Hoffnung, überzeugt davon, dass die französischen Behörden mich hier herausholen werden. Zudem habe ich vor ein paar Tagen den saudi-arabischen Botschafter hier gesehen. Dann den Botschafter des Jemen. Zwar ist es weder dem einen noch dem anderen gelungen, seine gefangenen Mitbürger freizubekommen, aber immerhin ist jetzt bekannt, dass sie hier sind. Also warte ich auf die Ankunft des französischen Botschafters. Es kann nicht mehr lange dauern. Aber niemand kommt. Ich verbringe meine Tage, auf meinem Stofffetzen sitzend, in diesem stinkenden Loch, in dem zwei Soldaten ständig ein MG auf uns richten. Kein Ausgang, kein Spaziergang, keine Dusche. Um mir die Zeit zu vertreiben, unterhalte ich mich mit dem einen oder anderen meiner Schicksalsgenossen. Aber ich lasse mich nicht entmutigen: Ich habe in den vorangegangenen Wochen schon so unglaubliche Situationen überstanden, dass mir diese hier eigentlich nicht besonders schwierig erscheint.

Aber die Zeit vergeht, und ich sitze immer noch hinter Gittern. Andere sind schon weg. Die Gefangenen haben das Gefängnis in kleinen Grüppchen verlassen. Die Pakistanis haben ihnen blaue Overalls gegeben, sie mussten sich in Zweierreihen aufstellen und wurden weggebracht. Wohin? Nach Hause vielleicht? Das vermuten wir anderen. Schließlich kündigen uns die Bewacher die Ankunft einer UN-Delegation an, die uns in eine Liste eintragen und uns alle in unsere Herkunftsländer zurückschicken wird. Dann sind sie da, unsere Befreier. Man führt mich zu ihnen in einen Verhörraum. Vier Männer und eine Frau in Zivil, die Englisch mit einem starken amerikanischen Akzent sprechen. Sie wollen mir Fragen stellen. Es geht wieder von vorne los. Der Älteste der fünf spricht Französisch. Er stellt mir die Fragen. Name, Vorname, Geburtsort, Adresse, was wollen Sie in Afghanistan?, etc. Der Ton ist frostig, hart, aber der Mann bleibt absolut korrekt. Am Ende werde ich in ein anderes Büro geführt, jemand macht noch ein Foto, und ein anderer bringt mich in die Zelle zurück. Merkwürdig. Ich hatte nicht gedacht, dass die Leute von der UN so arbeiten. Aber egal, immerhin werden sie mir zur Heimkehr verhelfen. Und bald ist der Beweis erbracht. Am selben Abend noch bringen uns die Pakistanis blaue Kleidungsstücke. Ich habe wirklich nichts dagegen, mich umzuziehen. Seit zwei Monaten trage ich dieselben Fetzen. Ohne Bedauern lege ich die stinkenden, schmutzstarrenden Klamotten ab und streife mir einen Blaumann über. Als die Wächter uns Handschellen anlegen und die Füße in Fesseln legen, werde ich misstrauisch. Diese Vorsichtsmaßnahmen scheinen mir ziemlich unnötig bei Leuten, die doch freigelassen werden sollen. Das hübsche Szenario der Vereinten Nationen wird mir verdächtig. Vertrauliche Mitteilungen von

Wächtern bestätigen bald meinen Argwohn. Im Durcheinander des Aufbruchs lassen sie die Bombe platzen. Wir werden an die Amerikaner ausgeliefert. Die angebliche UN-Delegation war der CIA. Wir sind etwa zehn, alle in Blau, und werden von Lastwagen zum Flughafen gebracht. Die Fahrt dauert nicht lange. Die Fahrzeuge bremsen bereits, als mich auf einmal Panik erfasst. Ich habe Geld bei mir. Viel Geld. Als wir verhaftet wurden, habe ich für alle Fälle ein Bündel Geld versteckt, ungefähr achttausend Francs. Sie sind mit einer dünnen Schnur an meinen Geschlechtsteilen befestigt und bisher bei keiner der Durchsuchungen gefunden worden. Aber was wird passieren, wenn die Amerikaner diese Summe bei mir entdecken? Womöglich halten sie mich für einen Spion, einen Terroristen oder wer weiß was. Bei einer solchen Summe auf jeden Fall für einen wichtigen Mann. Wie kann ich das Geld so schnell wie möglich loswerden? Trotz meiner Handschellen gelingt es mir durch Drehen und Wenden, an das Bündel heranzukommen. Kaum stehe ich auf dem Asphalt, gebe ich dem Chef der pakistanischen Bewacher, die uns begleiten, ein Zeichen. Er nähert sich. Ich gebe ihm das Geld. Der Typ macht große Augen. In seinem ganzen Leben hat er noch nie eine solche Summe gesehen. Er dankt mir und wünscht mir, dass ich bald freikomme. Beglückt über dieses unerwartete Geschenk zieht er von dannen. Ich bin in den Händen der Amerikaner. Vorläufig macht das keinen Unterschied für mich. Ich stehe wieder einmal in einem kleinen Raum vor denselben Leuten wie am Vorabend. Der bereits erwähnten »UN-Delegation«. Noch einmal stellen sie mir dieselben Fragen über meinen Perso-

nenstand. Und ich gebe ihnen dieselben Antworten. Zwei Typen kommen näher und filzen mich gründlich. Nichts entgeht ihnen. Ich bedauere nicht, mich von meinem Geld getrennt zu haben. Als diese »Formalitäten« erledigt sind, bringt man mich an Bord eines amerikanischen Militärflugzeugs, das wenige Meter von dem Verhörgebäude entfernt auf der Piste wartet. Ich werde gefesselt, muss in die Hocke gehen, die Hände werden in Handschellen gelegt und die Beine an eine lange, am Boden befestigte Stange gekettet. Wir sind ungefähr zehn Gefangene in diesem Flugzeug, das eine Stunde später in Kandahar landet. Wir sind wieder auf afghanischem Boden.

Kapitel 7

Rückkehr nach Kandahar Ich habe keine Blumengirlanden bei der Ankunft erwartet. Und ich hatte Recht. Das Begrüßungskomitee besteht nur aus Muskeln. Die GIs steigen ins Flugzeug und holen uns nacheinander heraus. Als ich an der Reihe bin, werde ich, immer noch in Ketten, zum Ausgang geschleppt. Sie stülpen mir eine Kapuze über den Kopf, sie schleudern mich auf die Treppe, ich schlage auf dem Beton der Piste auf. Zwei Muskelmänner ziehen mich hoch und schieben mich zu den anderen hinüber. Als wir in einer Reihe hintereinander stehen, erscheint ein Soldat mit einem langen, dünnen Stahlkabel. Er befestigt zuerst eine Schlinge am linken Arm des Vordersten in der Reihe, dann schlingt er das Kabel um den Arm des zweiten und so weiter. Als wir alle miteinander verbunden sind, ziehen die GIs mit aller Kraft an den beiden Enden des Kabels. Es schneidet mir so stark ins Fleisch, dass der Blutfluss unterbrochen ist. Es tut schrecklich weh. Aber für Klagen ist jetzt nicht der richtige Moment. Wir müssen uns auf die eiskalte Piste legen. Wir haben Januar, es ist Winter und sehr kalt, und wir tragen nur einen dünnen Overall. Es hilft nichts. Wir müssen die Begrüßungsansprache eines besonders erregten Uniformierten über uns ergehen lassen. Ich verstehe nicht alles, aber der Sinn seiner Worte ist klar. Dieser Möchtegern-Cowboy wirft uns jede Menge wenig respektvolle

Schimpfwörter an den Kopf, und ich glaube sogar »fuck the jihad« zu hören. Seiner Meinung nach haben wir uns am 11. September 2001 über das Leid der Amerikaner gefreut. Dafür sollen wir jetzt büßen. Der Typ verspricht, dass er uns alle massakrieren wird. In Anbetracht der Umstände neige ich dazu, ihm Glauben zu schenken. Er lässt seinen Worten auch gleich Taten folgen und tritt dem armen Kerl, der vor ihm liegt, mit seinen Militärstiefeln gegen den Kopf. Jetzt ist endgültig Schluss, sage ich mir. Hier wird mein Leben enden. Diese Kerle hassen uns zu sehr, sie werden Hackfleisch aus uns machen. Wer sollte sie daran hindern? Niemand weiß, dass sie uns in Gewahrsam haben. Sie können machen, was sie wollen. Im Moment scheint mir, dass sie uns vor allem erfrieren lassen wollen. Seit einer Stunde liegen wir auf dem eiskalten Beton. Dann dürfen wir aufstehen. Gut ausgerüstete und trainierte Soldaten ziehen brutal am Kabel, und es geht los. Mit nackten, gefesselten und bald blutigen Füßen rennen wir über den Zement, ohne zu wissen, wohin. Auf diese Weise überqueren wir mehrere Pisten. Ich versuche, mich trotz der Kapuze zu orientieren, und kann tatsächlich durch den Stoff hindurch Umrisse erkennen. Wir bleiben vor einer Art Zelt stehen. Die Soldaten binden uns nacheinander vom Kabel los. Einer nach dem anderen wird ins Innere geführt. Als ich an der Reihe bin, verstehe ich, warum man so lange draußen warten muss. Es ist Zeit für die erste Tracht Prügel. An die zehn Männer stehen um mich herum. Es hagelt Schläge, Fausthiebe, Fußtritte. Ich werde zu Boden geworfen, stehe wieder auf, falle wieder hin. Sie stellen sich zu mehreren auf meinen Rücken und drücken mich mit ihrem vollen Gewicht auf die Erde. Ich versuche, den Fäusten und Füßen so gut wie möglich auszuweichen. Meistens gelingt es mir, oder ich kann mich

so umdrehen, dass die Schläge wenigstens auf weniger empfindlichen Körperteilen landen. Aber jemand hat meine Strategie durchschaut. An der Stimme erkenne ich eine Frau. Sie kommt näher, als ich bewegungsunfähig auf dem Boden liege, nimmt meinen Kopf zwischen die Hände und beginnt, ihn mit aller Kraft gegen den Zement zu schlagen. Peng, peng, es knallt richtig. Aber damit noch nicht genug. Sie schleifen mich nach draußen auf eine Art Gehsteig. Sie legen meinen Kopf auf die überstehende Kante. Und der schwerste meiner Folterer drückt meinen Kopf mit dem Fuß gegen die Kante. Er drückt und drückt. Gleich wird mein Schädel platzen. Ich spüre, dass ich das Bewusstsein verliere. »Stopp.« Offenbar wollen sie nicht, dass es schon so bald vorbei ist. Ich werde ins Zelt zurückgebracht. Szenenwechsel. Als man mir die Kapuze abnimmt, sehe ich mich einer Art Tribunal gegenüber. Es besteht aus fünf oder sechs Militärs, die hinter einem Tisch sitzen. Ein Soldat übersetzt aus dem Englischen ins Arabische. Das hilft mir nicht viel bei der Antwort auf die beiden Fragen, die sie mir stellen. Die Typen wollen wissen, ob ich Bin Laden begegnet bin oder seiner rechten Hand Mullah Omar. Ich verneine. Und ob ich Pistolenschießen geübt habe. Ich bejahe. Fertig. Man bringt mich in ein Zelt voller Menschen. Soldaten und Zivilisten in weißen Kitteln. »Ärztliche Untersuchung.« Splitternackt und vor Kälte zitternd muss ich mich vor all diesen Fremden nach vorne beugen und es ertragen, dass mir ein prüfender Finger in den Anus gesteckt wird. Dann werde ich noch schnell abgetastet, und sie befestigen ein Plastikarmband an meinem Handgelenk. Darauf steht die Nummer 294. Von jetzt an heiße ich »two nine four«. Jedes Mal, wenn ich in Zukunft diese Zahl höre, muss ich sofort »Hier!« rufen. Anschließend wird

mir die Kapuze wieder übergezogen, eine mitleidige Seele zieht mir meinen blauen Overall bis zur Taille hoch. Man schleppt mich zu einem offenen Schuppen. Dort stoßen mich Soldaten in einen von Stacheldraht umzäunten Bereich und werfen mich zu Boden. »You move, I shoot.« Du bewegst dich, ich schieße. Das ist die Art von Äußerung, die man unmittelbar, ohne Dolmetscher, versteht. Das ist überlebenswichtig. Ich bewege mich nicht, nicht einmal dann, als die Soldaten sich einen Spaß daraus machen, an die zehn nackte Gefangene auf mich zu stapeln. Unter dieser Pyramide aus Fleisch kann ich kaum noch atmen. Aber ich denke an die über mir, die mit den Zähnen klappern, ohne dass sie sich rühren dürfen. Als die GIs ihrer sadistischen Spielchen überdrüssig sind, holen sie ein paar Kleidungsstücke und Decken. Aber noch immer verbieten sie uns die geringste Bewegung. Auch den Eimer, der in einem Winkel des Pferchs als Toilette dient, dürfen wir nicht benutzen. Wir müssen warten, liegend und reglos. Als die Soldaten etwas Essen verteilen, dürfen wir endlich die Kapuze ein wenig lüften und uns bewegen. Ich bin so starr vor Entsetzen und Kälte, dass ich keinen Bissen herunterbringe. Dafür fällt mir auf, dass einige meiner Kameraden übel zugerichtet sind. Unser umzäunter Pferch wird permanent von starken Scheinwerfern beleuchtet. Tag und Nacht gehen ineinander über, wir können die Tageszeiten nicht unterscheiden. Von Zeit zu Zeit betreten GIs das Gelände und schreien uns aus nächster Nähe mit voller Lautstärke etwas ins Ohr. Vor allem jetzt nicht bewegen! Ein- oder zweimal bringen sie Hunde mit, die laut bellend auf uns losgelassen werden. Wir befinden uns ständig in einem Zustand panischer Angst. »Two nine four.« Das gilt mir, ich werde verhört. Man

schleift mich über das Gelände und stülpt mir eine Kapuze über den Kopf, während Füße und Hände noch gefesselt sind. Mit kleinen Schritten stolpere ich vorwärts und versuche, das Tempo meiner Bewacher zu halten. Die Fußeisen scheuern meine Knöchel blutig. Erst vor dem Ermittlungsbeamten wird die Kapuze abgenommen. Wieder höre ich dieselben Fragen. Name, Vorname, Adresse, Vater, Mutter, Brüder, Schwestern ... Dann Afghanistan, warum, wie. Ich antworte. Der Mann mir gegenüber schreibt mit, ohne dass seine Miene die geringste Empfindung verrät. Dann gibt er mir ein bedrucktes Blatt. Eine Art Vertrag, der erläutert, dass man mich töten wird, wenn ich zu fliehen versuche. Ich unterschreibe. Danach bringt man mich in den Verhau hinter Stacheldraht zurück. Kurz darauf erscheint, welche Überraschung, eine kleine Gruppe von Zivilisten. Ich versuche, sie heimlich zu beobachten, ohne dabei aufzufallen. Die Amerikaner verbieten uns, den Blick zu heben, und wehe dem, der sich erwischen lässt. Doch diese Leute sprechen Arabisch und richten ganz offensichtlich das Wort an uns. Also hebe ich den Kopf. Es ist eine Delegation vom Roten Kreuz. Sie bedeuten uns durch Zeichen, dass wir näher kommen sollen. Die Bewacher zucken nicht mit der Wimper. Ich stehe auf und schlurfe langsam auf sie zu. Die anderen tun es mir gleich. Bald stehen alle am Stacheldrahtzaun aufgereiht wie in einer Art riesigem Besucherzimmer. Einer aus der Gruppe spricht Französisch. In wenigen Worten erkläre ich ihm meine Situation. Er fragt mich, ob ich die Botschaft benachrichtigen lassen will. Seiner Ansicht nach haben die Amerikaner das schon getan, aber er verspricht mir, es zu überprüfen. Außerdem bietet er mir an, meine Familie zu informieren. Dann fragt er mich nach unseren Haftbedingungen. Aber eigentlich versteht

er ohne viele Worte, wie es uns geht. Er sieht es ja. Er weiß Bescheid. Aber er kann nichts tun. Die Amerikaner weigern sich, die internationalen Bestimmungen über die Behandlung von Kriegsgefangenen einzuhalten, indem sie argumentieren, wir seien keine regulären Soldaten. Ich für mein Teil bin überhaupt kein Soldat. Aber egal. Dass ich offen mit diesem freundlichen Mann sprechen kann, tut mir unendlich gut. Nach der Abreise der Rot-Kreuz-Delegation setzt wieder die normale Behandlung ein. Wir liegen stumm und reglos in der Eiseskälte unter dem gleißenden Licht der Scheinwerfer. Die Zeit scheint stillzustehen. Das Leben auch. Bis zu dem Moment, in dem ein Trupp GIs in unserem Lager aufkreuzt. Sie bringen uns woandershin. Wieder Geschrei, Ketten, Kapuze, das Kabel, das uns in den linken Arm schneidet. Das Kabel, das uns zu einem neuen Ziel zerrt, auf nackten Füßen in Trippelschritten über den gefrorenen Boden. Wir marschieren sehr lange, ohne etwas zu sehen. Dann heißt es stehen bleiben. Das Kabel wird entfernt. Als ich etwas sehen kann, entdecke ich unsere neue Unterkunft - ein großes Zelt, dessen Seiten hochgeklappt und durch Stacheldraht ersetzt wurden, damit man ungehindert ins Innere blicken kann. Unter dem Stoffdach befindet sich ein Holzboden. Die Szenerie hat sich verändert. Wir können immerhin nach draußen sehen. So entdecke ich ein Stück entfernt andere ähnliche Zelte. Neun auf der einen Seite, neun auf der anderen. Unser Nachbarzelt dient als Krankenstation. Es ist bis zum letzten Platz mit Verwundeten belegt. Gefangene ohne Arme oder Beine werden gebracht, die der Hölle von Tora Bora entkommen sind. Ein Kuwaiti kann sich nicht einmal mehr von der Trage erheben, auf der er liegt.

Ein Granatsplitter hat ihn schwer verletzt. Seine Wunde heilt nicht zu. Er ist schrecklich mager. Ich bin sicher, dass er sterben wird. Die Pflege ist auf ein striktes Minimum beschränkt. Ich kann mich nicht erinnern, einen einzigen Arzt dort gesehen zu haben. Um den armen Kuwaiti, dessen Wunde man pausenlos versorgen muss, kümmert sich ein anderer Häftling. Die gesündesten Gefangenen helfen den Beinamputierten zum Toiletteneimer, wenn sie sich erleichtern müssen. Es ist ein einziges Elend. Der Ort ist ein anderer, aber die Regeln sind dieselben. Licht die ganze Nacht über, Rede- und Bewegungsverbot. Außer beim Essen ist nur eine Haltung erlaubt: Liegen. Auch der Terror gehört weiterhin zum Programm. Kurz nach unserer Ankunft nähert sich ein Trupp Soldaten im Laufschritt. Im Rhythmus ihrer Militärstiefel stoßen sie raue Schreie aus. Das ist kein gutes Zeichen. Ganz und gar nicht. Ich kenne diese Typen allmählich und bin mir sicher, dass sie etwas im Schilde führen. Pech für die Bewohner des Nachbarzelts. Es gilt ihnen. Die Soldaten stellen sich im Kreis auf und nehmen Schussposition ein, den Gewehrlauf auf die armen Kerle am Boden gerichtet. Zuerst kommen die Hundeführer mit ihren Tieren, riesigen belgischen Schäferhunden, die sie auf die Gefangenen loslassen. Wütendes Gebell und Geknurr mischt sich mit Angst- und Schmerzensschreien. Blut tropft aus Bisswunden. Als die Hundeführer sich zurückziehen, dürfen die Soldaten nachrücken, um gewissermaßen »letzte Hand« anzulegen. Eine gute, altmodische Prügelaktion, bei der sie mit Schlägen nicht geizen. Schließlich werden die blutenden, halb toten Gefangenen aus dem Zelt geschleift, durch das Kabel miteinander verbunden und weggebracht. Soldaten mit Videokameras filmen die ganze Szene von Anfang an.

Seit wir in dem neuen Zelt sind, werden wir pausenlos verhört, Tag und Nacht. Es herrscht ein ständiges Kommen und Gehen von Bewachern und Gefangenen in Ketten. Ich gerate an einen Verhörspezialisten, der sich mir als Franck vorstellt. Das ist natürlich ein Deckname. Da er einigermaßen Französisch spricht, habe ich von jetzt an mit ihm, und nur mit ihm allein, zu tun. Jedes Mal spielt sich dasselbe ab. Er sitzt hinter seinem Schreibtisch, ich ihm gefesselt gegenüber. Als einzige Vergünstigung lässt mir Franck die Kapuze abnehmen. Ein bewaffneter Soldat steht hinter mir, bereit, bei der geringsten verdächtigen Bewegung zu schießen. Eine starke Lampe ist auf meine Augen gerichtet. Franck beginnt die Sitzungen mit einer kleinen Ansprache. »Du hast gesehen, was uns angetan wurde - diese Anschläge vom 11. September, bei denen so viele Unschuldige sterben mussten. Deshalb wirst du uns jetzt helfen. Du wirst uns Auskunft geben. Du wirst kooperieren. Wenn nicht, werden wir zu anderen Mitteln greifen.« Ich antworte, dass ich gerne bereit bin, ihm zu helfen. Um der Folter zu entgehen, bin ich sogar bereit, ihm alles zu sagen, was er hören will. Wir fangen an. Im Verlauf der Verhöre erzähle ich ihm mein Leben. Wir fangen mit den ewigen Fragen nach Personenstand und Familie an. Beim nächsten Mal stoßen wir tatsächlich zum Kern des Themas vor. Ich erzähle ihm, dass ich am 21. Juni von Venissieux nach Afghanistan aufgebrochen bin, um dort mit Waffen schießen zu können, und in London einen Zwischenstopp eingelegt habe. London? Franck, der sich bis dahin gelangweilt Notizen macht, hebt den Stift. Er lässt mich wiederholen. Ja, ich habe in London Station gemacht, oder um genau zu sein, in Finsbury Park. Das versetzt ihn in einen wahren Freudentaumel. Er springt auf,

klatscht in die Hände. »Du warst in Finsbury Park? Das ist großartig. Jetzt wissen wir, wer du bist, wir kennen die Leute, mit denen du zu tun hattest. Wir haben alle fotografiert. Diese Gegend überwachen wir Tag und Nacht. Und es kann sehr gut sein, dass wir dich auch auf einem Foto haben. Ich werde das prüfen.« Franck ist hochzufrieden. Er wird seinen Chefs mitteilen, dass er einen waschechten Terroristen geschnappt hat, einen Franzosen, der noch dazu den Beweis erbringt, dass es sich um ein internationales Netzwerk handelt. Er geht kurz hinaus und kehrt mit einem Stück Kuchen und einer Flasche Cola zurück, die er vor mich hinstellt. Es ist Wochen her, seit ich etwas Ordentliches gegessen habe. Ich lasse keinen Krümel übrig und leere die Cola bis zum letzten Tropfen. Von diesem Moment an lässt mich Franck nicht mehr in Ruhe. Er lässt mich jede Nacht holen, meist gegen ein Uhr morgens, und führt vier- bis fünfstündige »Gespräche« mit mir. Ich soll ihm alles sagen. Die Namen der Leute, die ich getroffen habe, die Orte und Zeiten, die Telefonnummern, die ich gewählt habe. Immer wieder hakt er bei einem bestimmten Punkt oder einer Person nach. So zum Beispiel im Fall des Algeriers, den ich in London kennen gelernt habe. Ich weiß praktisch nichts über den Mann, außer dass er uns bei sich beherbergt und uns die Flugtickets gekauft hat. Das ist alles. Aber sein Fall füllt Stunden und Stunden des Verhörs. Als letztes Aufgebot schleppt Franck eines Abends zwei Leute vom englischen Geheimdienst an, die voluminöse Fotoalben dabeihaben. Alles, was im Entferntesten wie ein in London lebender Islamist aussieht, zieht an meinem Blick vorüber. Ich erkenne niemanden wieder, auch nicht meinen Kontaktmann.

Wenn Franck mit mir zufrieden ist, gibt er mir eine Decke. Es ist entsetzlich kalt, und ich habe wie meine Gefährten nur dünne Baumwolle am Leib. Deshalb weiß ich die Decke zu schätzen. Aber Franck will immer mehr wissen, und manchmal wird er böse. Er findet, dass ich nicht genügend kooperiere. Dann nimmt er mir die Decke wieder weg, hebt die Stimme, droht, andere Saiten aufzuziehen. Er deutet auf das Nachbarzelt, aus dem ständig erstickte Schreie dringen. Der Folterraum ist immer besetzt. Manchmal folgt die Strafe auf dem Fuße: Die Soldaten, die mich ins Zelt bringen, haben ihre Anweisungen erhalten und dreschen gleich auf dem Rückweg auf mich ein. Aber eigentlich braucht es zum Prügeln keine Befehle. Eines Tages bleiben die beiden Soldaten, die mich gebracht haben, noch etwas bei mir, während ich auf Franck warte. Das Verhör fängt später an, und sie nutzen die Gelegenheit. Während der erste auf mich einschlägt, macht der zweite Fotos. Ich kann durch den Stoff der Kapuze hindurch das Blitzlicht sehen. Das geht eine Weile so weiter, bis jemand den Raum betritt und eine weibliche Stimme den Männern befiehlt, mit dem Schwachsinn aufzuhören. Die Tage in Kandahar sind schrecklich. Ich habe Hunger. Wir bekommen zweimal täglich zu essen, gegen zwei Uhr nachts und gegen neun Uhr morgens. Es ist so kalt, dass die Rationen gefroren und fast ungenießbar sind. Man muss sich zwingen, etwas hinunterzuwürgen, damit man nicht verhungert. Normalerweise gehört zu den Essensbeuteln eine Vorrichtung, mit der man die Nahrung erwärmen kann. Man muss nur die beiden Substanzen, die in kleinen luftdichten Plastikbeuteln sind, mischen und erhält eine chemische Reaktion, die große Hitze erzeugt. Aber die Amerikaner haben Befehl gegeben, diese Thermo-Packs nicht auszuteilen, aus Angst, Gefangene

könnten die chemischen Stoffe schlucken, um Suizid zu begehen. Man nimmt also bei diesen sibirischen Temperaturen kalte Nahrung zu sich, und viel ist es auch nicht. Denn die mit der Verteilung betrauten Soldaten leiden Hunger. Ihre eigenen Rationen genügen ihnen anscheinend nicht. So bedienen sie sich bei unseren. Sie behalten von dem, was für uns bestimmt ist, eine Art Zehnten ein. Es ist schwierig, genaue Zahlen zu nennen, aber ungefähr vier Fünftel der uns zugeteilten Rationen werden von ihnen abgezweigt. Zum Hunger und zur Kälte kommt noch die Erschöpfung. Ich bin fix und fertig. An Schlaf ist nicht zu denken. In der Nacht werde ich verhört. Am Tag dröhnen zehn Meter von uns entfernt unentwegt die Düsentriebwerke der startenden und landenden Flugzeuge. Lärm machen auch die unablässig patrouillierenden Hubschrauber, die Alarmsignale, das Artilleriefeuer, mit dem die Militärbasis beschossen wird, die Gegenangriffe. Die einzige Ablenkung bietet das rege Treiben auf der Basis. Man erkennt auf den ersten Blick, dass die Amerikaner sich so schnell nicht wieder zurückziehen wollen. Der Ausbau der Basis ist in vollem Gang. Die Amerikaner errichten Gebäude, bauen Straßen und neue Landebahnen. Überall stehen Baumaschinen und Lastwagen herum, und immer nur das neueste Material. Als ich im September von hier nach Kabul flog, war dieser Flugplatz ein schäbiges Provisorium. Jetzt ist er eine gigantische, hochmoderne Militärbasis. Neue Gruppen von Gefangenen kommen an, andere verlassen die Basis. Wohin sie fliegen, weiß keiner. Gerüchte machen die Runde. Ich höre etwas von Kuba, von Pakistan, Dubai, einer Basis im Pazifik. Die Phantasie blüht. Aber niemand weiß etwas Genaues.

Auch bei den Militärs ist einiges los. Aus allen Ländern reisen Sonderkommandos an. Auch zivile Delegationen tauchen auf, zweifellos die Vertreter der verschiedenen Länder, die mit den USA verbündet sind. Die Herrschaften kommen und gehen, aber für uns scheint sich niemand zu interessieren. Abgesehen natürlich von den Rot-KreuzVertretern, die fast jeden Tag vorbeikommen, uns aber nicht sagen können, was uns erwartet. Diese Leute tun ihr Möglichstes, uns den Alltag zu erleichtern. Sie haben uns Unterwäsche mitgebracht und Mützen als Schutz gegen die Kälte. Denen, die beten wollen, bringen sie Exemplare des Koran. Das führt zu Zwischenfällen. Immer wieder reagieren sich GIs, die besonders beschränkt oder nervös sind, an den Büchern ab, werfen sie auf den Boden oder schleudern sie hinter den Stacheldraht. Manche dieser Uniformierten sind kaum achtzehn, neunzehn Jahre alt und sicher noch nie aus ihrem Provinznest herausgekommen. Grüne Jungs, die sich durch hirnlosen Unfug die Zeit vertreiben. Sie handeln weniger aus Bosheit als aus Dummheit. Was nichts daran ändert, dass ihr Verhalten jedes Mal zu Geschrei, Protesten und Beleidigungen führt. Einige beschweren sich beim Roten Kreuz über den Angriff auf ihre Religion. Die Mitarbeiter versprechen jedes Mal, dafür zu sorgen, dass das aufhört. Aber es fängt immer wieder an. Sicher ist nur eines: Für jede Beschwerde lassen uns die Wächter büßen, indem sie uns verprügeln. Immerhin hat sich der Strafvollzug etwas gebessert. Schläge, Beleidigungen, Bespucktwerden und Demütigungen sind unser tägliches Brot, aber wir dürfen jetzt ein bisschen herumlaufen und uns unterhalten. Und wir haben das Recht erhalten, uns mit unseren Decken vor fremden Blicken zu schützen, wenn wir uns in der Zeltecke in den gemeinsamen Toiletteneimer erleichtern. Darüber

hinaus lassen uns die Amerikaner die fünf täglichen Gebete verrichten. Mir reicht das nicht. Ich bin mit den Nerven am Ende. Ich bin mir sicher, dass ich diesen Ort nicht lebend verlassen werde. Deshalb bitte ich die Leute vom Roten Kreuz um Stift und Papier und schreibe meiner Familie eine Art Abschiedsbrief. Ich bitte sie aus ganzem Herzen, sich nicht mehr um mich zu sorgen, sondern sich um ihr eigenes Wohl zu kümmern. Weil ich sie nie wiedersehen werde. Sosehr ich mich auch bemühe, ich entdecke keinen Silberstreif am Horizont meines Häftlingslebens. Das Motto in meinem Kopf heißt »Nizar no future!«. Selbst die Fluchtpläne, die manche der Gefangenen schmieden, lassen mich kalt. Ehrlich gesagt, hat mich die Bus-Episode, bei der ich fast umgekommen wäre, geheilt. Seit die Amerikaner ihre Regeln gelockert haben, wird innerhalb der Zelte, aber auch zwischen den Zelten, lebhaft diskutiert. Manche Wortführer fordern einen allgemeinen Gefangenenaufstand. Ihr Plan ist von kindlicher Einfachheit. Wir müssen nur alle gleichzeitig aufspringen, die Decken über den Stacheldraht werfen und in Windeseile über den Zaun klettern. Die Soldaten um uns herum werden sicher schießen und die Ersten töten, aber sie werden nicht alle aufhalten können. Sind die Wachen erst einmal ausgeschaltet, werden die Ausbrecher deren Waffen an sich nehmen und sie dazu benutzen, den Flüchtlingen Deckung zu geben. Dieser Plan wird nie zur Ausführung gelangen. Viele meiner Gefährten weigern sich, das Risiko eines Massakers einzugehen, wenn die Erfolgschancen so gering sind. Der Vormittag gleicht allen anderen Vormittagen in Kandahar. Eiskalt. Ich habe mein Zeitgefühl schon lange verloren. Ich weiß nicht einmal mehr, wie lange ich schon

hier bin. Vier oder fünf Wochen bestimmt. Aber nach dieser langen Verhörnacht betrachte ich den Sonnenaufgang mit etwas anderen Augen. Es wird zweifellos mein letzter sein. Franck, mein Ermittler, hat mir angekündigt, dass ich an einen anderen Ort verlegt werde. Wohin, hat er mir nicht verraten. Er sprach von einem Ort, an dem es Gerichte gibt. Er sagte, dort werde ich mich verteidigen können. Und wenn ich mir nichts vorzuwerfen habe, brauche ich mir keine Sorgen zu machen. Es fällt mir schwer, seinen schönen Worten Glauben zu schenken. Ein Trupp Soldaten kommt auf unser Zelt zu und bleibt vor dem Eingang stehen. Der Chef der Abteilung ruft Nummern auf. Es sind nur wenige. Ich höre »two nine four«, stehe auf und gehe hinaus, warte auf die üblichen Formalitäten: Kapuze über den Kopf, Füße und Hände in Ketten, ein Kabel um den linken Arm. Wir marschieren eine Weile. Als man mich losbindet, befinde ich mich mit einigen Kameraden in einem neuen Zelt etwas abseits der anderen. Keine Erklärungen, nur wieder langes Warten. Der Tag vergeht. Die Abenddämmerung bricht schon an, als eine neue Abteilung GIs uns holen kommt. Ketten, Kapuze und los. Diesmal jedoch habe ich den Eindruck, dass wir die Richtung ändern. Wir entfernen uns vom Zeltbereich. Durch den Stoff meiner Kapuze hindurch erkenne ich etwas von der Landschaft. Ich sehe die Silhouette eines großes Flugzeugs. Dann wieder ein Zelt. Rasselnd werden die Ketten geöffnet. Licht. Ich kneife die Augen zusammen, so grell leuchten die Scheinwerfer. Wir sind von Männern in weißen Kitteln umgeben. Okay, ich habe verstanden. Noch eine ärztliche Untersuchung. Wir ziehen uns aus. Ein Typ mit Latex-Handschuhen betastet mich hier und da. Ich muss mich vorbeugen und noch einmal die Demütigung ertragen, vor allen Leu-

ten einen Finger in den Anus gesteckt zu bekommen. Eine Krankenschwester wischt mir mit einem feuchten Wattebausch den Mund aus. Eine andere gibt mir eine Hand voll Tabletten, die ich schlucken muss, und klebt mir Heftpflaster auf Arm und Rücken, Wirkstoffpflaster. Ich bekomme neue Kleidung. Jacke und Hose aus orangefarbener Baumwolle. Als ich umgezogen bin, legen sie mir wieder Fesseln an. Neu ist die überdimensionale Brille mit geschwärzten Gläsern, die die Kapuze ersetzt. Danach wieder Leerlauf. Sie lassen mich irgendwo auf dem Boden liegen. Aber nicht lange. Schritte, zwei Stimmen. Soldaten. Sie ziehen mich hoch. Das ist kein gutes Zeichen. Ich erwarte, wieder einmal durchgeprügelt zu werden. Aber nein. Ich höre das Surren und Klicken eines Fotoapparats. Aha, ich habe verstanden. Das sind nur zwei Rekruten, die sich als Souvenir eine kleine Fotosession mit dem gefährlichen Terroristen gönnen. Sie stellen sich abwechselnd neben mich, der eine legt mir sogar den Arm um die Schulter. Dann drücken sie mich wieder zu Boden und gehen. Bye bye. Wieder stundenlanges Warten, wieder fremde Arme, die mich hochziehen, das Kabel, das mir ins Fleisch schneidet, der blinde Marsch ins Ungewisse. Stopp. Hände tasten mich ab. Man stößt mich auf eine schmale Gangway. Ein paar Schritte nach oben. Ich bin in einem Flugzeug. Das merke ich an der speziellen, etwas beklemmenden Atmosphäre, die in Flugzeugkabinen herrscht. Man drückt mich auf eine Bank an der Außenwand. Die Füße werden am Boden festgebunden, die Hände über dem Bauch, der Kopf wird in eine Art Halseisen aus Plastik gezwängt, das an der Wand befestigt ist. Ich kann mich keinen Zentimeter bewegen, bin wie gelähmt. Ich kann nur eine einzige Bewegung machen - den Mund öffnen. Das wird sich

noch als nützlich erweisen. Denn in den folgenden zwanzig Stunden, die der Flug dauert, werden regelmäßig Soldaten mit drei Fragen an uns vorbeigehen. Die erste heißt: »Food?« Essen? Wenn man mit »ja« antworten will, muss man den Mund aufmachen. Und plötzlich hat man ein gewaltiges Stück Sandwich zwischen den Zähnen. Viel bietet die Speisekarte nicht. Immer dasselbe: Toastbrot, Erdnussbutter und Erdbeermarmelade. Widerlich süß mit der Zeit, aber zugegebenermaßen wenigstens sättigend. Die zweite Frage heißt: »Drink?« Trinken? Dieselbe Prozedur. Man sperrt den Mund auf und wartet. Eine Sekunde später steckt der Hals einer Plastikflasche drin. Lufttanken nach Art der US Air Force. Die dritte Frage, eine logische Folge der ersten beiden, heißt: »Bathroom?« Toilette? Eine kleine Lippenbewegung und man wird vom Sitz losgebunden. Immer noch an Händen und Füßen gefesselt, wird man von vier muskulösen Armen gepackt und zum passenden Ort geschubst. Ein kurzer Ruck, und schwupp, die Hose hängt auf den Knöcheln. Wenigstens wird sich diesmal keiner in die Hose pinkeln. Diese wenigen Aufmerksamkeiten dürfen jedoch nicht über unsere Lage hinwegtäuschen. Dieser Flug ist alles andere als eine Vergnügungsreise. Ich befinde mich in einer Art Schwebezustand, halb im Koma wegen der Medikamente, die ich vor dem Start schlucken musste. Durch den Druck ist meine Nase verstopft, sodass ich durch den Mund atmen muss. Auf Grund der Körperhaltung, in der sie uns an die Wand gefesselt haben, tut mir alles weh. Das Dröhnen der Motoren verursacht mir Kopfschmerzen. Es ist eine Tortur.

Kapitel 8

Willkommen in Guantanamo Wie lange dauert der Flug? Ich weiß es nicht. Aber auf einmal scheint die Maschine an Höhe zu verlieren. Wir sinken schnell. Eine Erschütterung. Da, die Räder haben den Boden berührt. Die Bremsen bringen das Flugzeug zum Stehen. Endlich Stille. Und Hitze. Als die Tür geöffnet wird, strömt sie herein. Die warme Luft tut gut nach all den Wochen Eiseskälte im afghanischen Winter, in dem wir kaum etwas am Leib hatten. Das ist immerhin etwas. Alles Übrige birgt keine Überraschungen. Rücksichtslos zerrt man mich aus dem Flugzeug. Kaum stehe ich mit beiden Beinen auf festem Boden, tasten Hände mich überall ab. Ich sehe immer noch nichts, aber ich spüre die Anwesenheit vieler Menschen. Nach dieser Parodie einer ärztlichen Untersuchung muss ich in einen Bus einsteigen. Meine Handschellen werden an eine am Boden befestigte Stange angekettet. Und dann geht es zur Sache. Schläge prasseln auf mich nieder. Die Typen, die da am Werk sind, beherrschen ihre Technik meisterhaft. Sie wissen, wohin und wie sie schlagen müssen, damit möglichst wenig Spuren zurückbleiben. Diesmal kann ich ihnen nicht ausweichen. Sie prügeln mich windelweich. »Don't move!« Nicht bewegen! Die Abreibung scheint kein Ende zu nehmen. Plötzlich eine Unterbrechung. Ein paar Sekun-

den Ruhe. Das Auge des Sturms. Ich höre Japsen und das Kratzen von Pfoten auf Metall. Im nächsten Augenblick stürzen sich Hunde auf mich und bellen wie verrückt. Ich spüre ihren Atem an meinem Hals, ihre Zähne in meinen Waden. Die Tiere sind perfekt dressiert: Sie versetzen uns durch ihre Bisse in Angst und Schrecken, ohne je richtig ins Fleisch zu beißen. Es darf kein Blut fließen. Trotzdem tut es höllisch weh. Dann rufen die Hundeführer ihre Tiere zurück. Das Schlimmste ist überstanden. Gut, ein Kerl glaubt, dass er unbedingt auf mich pinkeln muss. Aber in meinem momentanen Zustand ist mir das auch schon egal. Ich zähle meine Beulen und blauen Flecken. Nichts gebrochen. Nach mir werden die anderen in die Mangel genommen. Jedem Gefangenen, der den Bus besteigt, wird dieselbe derbe Behandlung verpasst. Dann fahren wir los. Der Bus ist eine Weile unterwegs. Hält an. Ich fürchte mich vor dem Aussteigen. Ich habe Angst, dass uns ein weiteres Empfangskomitee ä Vamericaine erwartet. Doch das steht offenbar nicht auf dem Programm. Man lässt mich aussteigen. Man nimmt mir die schwarze Brille ab. Das Licht ist so grell, dass ich die Augen nicht aufmachen kann. Gut, das deckt sich mit der Anweisung, die ich bekomme. Eine Frau in Uniform fordert mich auf, die Augen zu schließen und den Kopf zu senken. Merkwürdig, sie spricht in freundlichem Ton mit mir. Zum ersten Mal seit langem. Eine Männerstimme löst sie ab. Ich soll mich hinknien. Wieder höre ich das mehrmalige Klicken eines Fotoapparats. Weitere Befehle folgen. Hoch. Gehen. Stop. Augen öffnen. Endlich kann ich mich umsehen. Es ist Nacht. Ich stehe in einem kleinen, ummauerten Hof, der von Scheinwerfern erhellt wird. In der Mitte befindet sich ein Betonbecken mit einem Wasserstrahl. Vor mir steht ein großer

Kerl in Uniform, der mir ein Stück Seife hinhält. »Wash.« Verstanden. Badezeit. Ich wasche mich unter den Blicken anderer GIs, die mich wie Zuschauer in einem Theaterstück anstarren. Der Uniformierte gibt mir ein Handtuch, mit dem ich mich abtrocknen und meine Blöße bedecken kann, und ein Paar Plastiksandalen. Dann gibt er mir ein Zeichen, ihm zu folgen. Die nächste Szene spielt sich in einem großen Zelt ab, das als Krankenrevier dient. Uniformierte kommen und gehen, und weiß gekleidete Krankenschwestern sind mit anderen Neuankömmlingen beschäftigt. Eine stellt sich vor mich hin, lässt mich den Mund aufsperren und fängt an, die Mundhöhle mit allen möglichen seltsamen Mitteln auszupinseln. Das hindert sie jedoch nicht daran, ein etwas surreal anmutendes Schwätzchen mit mir zu halten. Woher ich komme, will sie wissen. Frankreich, antworte ich. Und da fängt sie auch schon an, mir von Frankreich vorzuschwärmen, welch ein schönes Land, ich war schon da, es gefällt mir so gut, etc. Ich fasse es nicht. Ich stehe da, mit meiner Scheißangst, und sie erzählt mir von ihren Ferien, als säßen wir gemütlich beim Friseur. Als das Pinseln zu Ende ist, zieht mir die Krankenschwester eine Maske über den Mund. Ein blaues Viereck aus einer Art flauschigem Papier, das hinter dem Kopf von einem Gummiband gehalten wird. Die Amerikaner haben Angst, dass wir sie mit wer weiß welchem Virus anstecken. Dann nehmen sie mir das Handtuch weg, das mir als Lendenschurz gedient hat, und es folgt eine Runde Abtasten, nicht zu vergessen der schon gewohnte Finger im Anus. Sie nehmen meine Fingerabdrücke, machen Aufnahmen von meiner Iris, entnehmen mir eine Blutprobe für eine DNA-Analyse. Das volle Programm.

Schließlich bekomme ich eine neue Nummer. Ich bin jetzt nicht mehr »two nine four«, sondern »three two five«. Ich bin Nummer 325. Und wie in Kandahar wird mir ein Plastikarmband am Handgelenk befestigt. Doch dieses ist unendlich viel raffinierter. Es trägt nicht nur meine Personalnummer, sondern auch Namen, Vornamen und Passfoto. Ein echter Ausweis. Als die medizinisch-juristischen Formalitäten überstanden sind, kann ich meinen orangefarbenen Anzug wieder anziehen. Kurz vor dem Verlassen des Zelts muss ich noch an einem Mann vorbei, der hinter einem Tisch sitzt. In schlechtem Französisch erklärt er mir die neuen, nicht sehr komplizierten Regeln, die hier gelten. Im Großen und Ganzen ist alles verboten. Okay? Verstanden. Ein weiterer Soldat taucht mit einer Postkarte auf. »Hier, schreib eine Karte an deine Familie. Sag ihnen, dass es dir gut geht.« Ich komme der Aufforderung nach und kritzele ein paar Worte. Und unterzeichne. Ich werde zwei Soldaten übergeben. Sie setzen mir wieder die schwarze Brille auf und fesseln mir Hände und Füße. Meine beiden Schutzengel nehmen mich rechts und links am Arm, und wir ziehen los. Als sie mir die schwarze Brille endgültig abnehmen, befinde ich mich in einem Käfig. Es ist eine Art Miniaturzelle, etwa 1,80 auf 2 Meter groß, alle vier Seiten bestehen aus Gitterstäben. Und auch die Decke. Die Bestandsaufnahme ist schnell gemacht: Als Einrichtungsgegenstände besitze ich zwei Eimer, einen mit Waschwasser, einen als Toilette, ein Stück Seife, ein Handtuch und eine Feldflasche mit Trinkwasser, das so stark gechlort ist, dass man es kaum trinken kann. Das Bett besteht aus einer dünnen Schaumstoffmatratze, die ein bisschen einer Gymnastikmatte ähnelt, und einer Decke. Ein zweisprachiger arabisch-englischer Koran liegt diskret in der Ecke.

Rechts und links schließen sich andere Käfige an, die von meinem durch eine Gitterwand getrennt sind. Auf der anderen Seite des Gangs liegen weitere Käfige. Der Käfig mir gegenüber ist schon belegt. Zufällig mit einem Franzosen, den ich kenne. Ich habe ihn bei den Algeriern in Afghanistan kennen gelernt. Er ist schon seit zwei Wochen hier und versucht, mir Mut zu machen. »Hier ist es warm, das tut gut, du wirst ein bisschen schlafen können. Immer noch besser als da, wo du herkommst.« Und wo bin ich? »In Kuba, mein Alter. Willkommen in Guantanamo.« Als Willkommensgeschenk erhalte ich eine komplette Armee-Essensration. In Kandahar hatten wir nur Anrecht auf das Hauptgericht. Diesmal entdecke ich die vollständige Grundverpflegung der amerikanischen Armee in der Originalverpackung. Natürlich fehlt aus Sicherheitsgründen wieder der Thermo-Pack, aber alles andere ist da, Kuchen, Obstsaft in Pulverform, sogar M&M's! Ich knabbere die Erdnüsse in Schokolade und sage mir dabei: Die spinnen, die Amerikaner - ganz ohne Zweifel. Sie verprügeln mich, sie werfen mich ins Gefängnis, und dann geben sie mir Süßigkeiten! Ich esse mit gutem Appetit. Aber die Atempause dauert nicht lange. Kaum habe ich den letzten Bissen geschluckt, kommen die Soldaten mich auch schon holen. Wieder muss ich Chirurgenmundschutz, schwarze Brille, Fußund Handfesseln anlegen. Auf zur nächsten gründlichen Untersuchung ins Krankenrevier. Das Ganze von vorne. Wieder stehe ich splitternackt vor den Leuten, werde betastet und von einem Typ im Kittel inspiziert. Er interessiert sich vor allem für meinen Penis. Dann nimmt er mir den Mundschutz ab, und man pinselt mir noch einmal mit einem anderen Mittel den Mund aus. Alles in Ord-

nung, sagen sie mir, ich kann in Zukunft auf die Maske verzichten. Dann muss ich eine Hand voll Tabletten gegen alle möglichen Krankheiten schlucken, gegen Typhus, Tuberkulose und ich weiß nicht was. Widerstand ist zwecklos. Auf die Widerspenstigen warten in einer Ecke zwei, drei Kolosse in Uniform, die nicht lange fackeln, bis sie handgreiflich werden. Solche Typen lassen einen die Pillen mitsamt dem Pillenfläschchen schlucken. Deshalb gehorche ich lieber, was dazu führt, dass ich ohne weitere Blessuren in meinem Käfig lande. Endlich kann ich mich auf meiner dünnen Schaumstoffmatte ausstrecken. Ich schlafe sofort ein. Am nächsten Morgen weckt mich der Gebetsruf. Der Tag verspricht herrlich zu werden, am blauen Himmel steht keine Wolke. Ich schließe mich meinen Kameraden zum ersten Gebet des Tages an. Dann nehme ich mir ein wenig Zeit, endlich die neue Landschaft zu begutachten. Sie ist großartig. Gäbe es keine Gitterstäbe, würde ich mich auf irgendeiner paradiesischen Urlaubsinsel wähnen. Im Hintergrund erhebt sich ein sattgrüner Hügel. Überall Bäume, Pflanzen, Gras. Auch viele Tiere zeigen sich - Vögel, Leguane, Schlangen. Ich bin aus der Eiswüste in einen tropischen Dschungel geraten. Mein Tagtraum wird durch die Ankunft zweier Wächter unterbrochen. »Verhör.« Sie verlieren keine Zeit. Wie bei jedem Gang durch das Camp werde ich gefesselt. Diese Maßnahme soll dazu dienen, jeden Fluchtversuch im Keim zu ersticken. Die Hände werden an eine Kette gefesselt, die um die Taille geschlungen ist. Um die Waden schließen sich enge Eisenfesseln, die die Haut blutig reiben und durch eine kurze Kette verbunden sind. Blicke nach draußen sind verboten, die schwarze Brille ist obligatorisch.

Um ganz sicherzugehen, achten die Wächter darauf, dass die Häftlinge den Kopf gesenkt halten. Dieses Camp, von dem ich noch nicht viel gesehen habe, ist riesig. Um das herauszufinden, braucht man keine Augen. Die Füße genügen. Der Weg bis zum Verhörraum ist endlos. Man läuft und läuft und läuft. Die Fesseln schnüren mir die Waden ab, die Füße bluten. Die Soldaten ziehen heftig an dem Lederriemen, der an meiner Taille befestigt ist, damit ich schneller laufe. Endlich erreichen wir unser Ziel. Sie fesseln mich an einen Stuhl, nehmen mir die Brille ab. Ich befinde mich in einem ganz mit Holz ausgekleideten Raum. Direkt neben mir steht ein Wächter mit einer Pumpgun, der mich nicht aus den Augen lässt. Ich lese ihm am Gesicht ab, was er sich gerade noch zu sagen verkneift: »Sobald du dich rührst, verpasse ich dir eine.« Mir gegenüber sitzen hinter einem Schreibtisch der uniformierte Vernehmungsoffizier und ein Dolmetscher in Zivil. Und es geht wieder los. Wer bist du, woher kommst du, wen hast du getroffen, an welchem Ort warst du, wen kennst du in Frankreich, wen kennst du in London und so weiter. Der Uniformierte stellt die Fragen, sein Nachbar übersetzt. Und wieder von vorne: Kennst du den hier auf dem Foto? Und den hier? Es dauert eine knappe Stunde. Dann schließt der Mann die Akte, steht auf und geht. Die Wächter bringen mich in den Käfig zurück. Am Nachmittag dasselbe von vorne. Soldaten holen mich ab. Ich glaube, dass ich wieder verhört werde. Irrtum. Man führt mich in ein Zelt, nimmt mir die Brille und die Fesseln ab. Ein Mann in Zivil tritt auf mich zu und drückt mir die Hand. Es ist ein Vertreter des Roten Kreuzes. Er bietet mir einen Stuhl und Kekse an und fragt, wie es mir geht. Ich lasse ihn kaum ausreden. Dieser Mann ist

meine einzige Hoffnung. Deshalb bestürme ich ihn mit Fragen. Die Worte purzeln nur so aus meinem Mund, ich will wissen, was ich hier mache, warum ich hier bin, für wie lange, was mit mir passieren wird, was die französischen Behörden unternehmen, um mich hier herauszuholen. Unermüdlich wiederhole ich, dass ich nichts angestellt habe, dass ich hier nichts zu suchen habe, dass man mir aus diesem Loch heraushelfen muss. Der arme Mann kann sich der Flut meiner Fragen kaum erwehren. Zumal er keine Antworten für mich hat. Er weiß nichts. Er versucht nur, mich zu ermutigen, und bittet mich um Geduld. Er bietet mir auch an, dass ich an meine Familie schreiben kann und er dafür sorgen wird, dass die Briefe weitergeleitet werden. Er hat mir nichts versprochen. Aber sein Besuch hat mir unglaublich gut getan. Ich bin glücklich, dass ich endlich mit jemandem von draußen reden konnte. Als ich zurückgehe, habe ich wieder einen Funken Hoffnung. Das Ende dieses ersten Nachmittags in Guantanamo verbringe ich friedlich in meinem Käfig. Ich schwatze ein bisschen mit dem Franzosen von gegenüber. Ich genieße einfach den Augenblick. Das Wetter ist so angenehm, dass ich alles um mich her vergesse. Ich schlafe ein. Den zweiten Tag meiner kubanischen Sommerfrische beginne ich mit derselben Gelassenheit. Nach einem ereignislosen Vormittag werde ich am Nachmittag in den Verhörraum geholt. Ich sitze wieder zwei Männern gegenüber. Zwei neue Gesichter. Wieder führt ein Amerikaner in Uniform das Verhör, aber der Dolmetscher ist diesmal ein Ägypter, der perfekt Französisch spricht. Er hat nicht den geringsten Akzent. Die Sitzung beginnt etwas konfus. Der Übersetzer findet,

dass die Fragen des Verhörenden uninteressant, ja dumm, sind. Womit er, ehrlich gesagt, nicht ganz Unrecht hat. Deshalb übernimmt er nach und nach die Rolle des Fragenden. Bald weiß ich nicht mehr, wer hier für was zuständig ist. Der Amerikaner, der nicht mehr Herr der Lage ist, versteht auch nichts mehr. Dann nimmt er die Zügel wieder in die Hand und erkundigt sich nach dem Mann, den ich in London getroffen habe. Daran beißt er sich fest, wie schon Franck in Kandahar. Er will unbedingt, dass ich seine Telefonnummer wiederfinde. Aber ich habe sie nicht mehr. Das habe ich schon ausgesagt. Ich hatte sie auf einem Zettel notiert, und der war in dem Umschlag, der auch meinen Ausweis und mein Flugticket enthielt. Genau der Umschlag, der von der pakistanischen Polizei »konfisziert« wurde. Der Amerikaner verlangt, dass ich mich an irgendein Detail erinnere, ganz egal welches. Die beiden letzten Ziffern der Telefonnummer, die Adresse der Telefonzelle, von der aus ich angerufen habe, die Uhrzeit meines Anrufs. Das würde den Briten genügen, glaubt er, um meinen Kontaktmann ausfindig zu machen. Nur kann ich mich um keinen Preis mehr an irgendetwas erinnern. Nach mehreren Stunden beendet der Uniformierte die Unterredung. Er hat verstanden, dass er über diese Londoner Episode nicht mehr aus mir herausholen kann. Aber bevor er mich in den Käfig zurückschickt, kündigt er mir an: »Nächstes Mal werden dich die Leute vom französischen Nachrichtendienst verhören.« Diese Ankündigung baut mich auf. Wenn die Franzosen kommen, dann gerät etwas in Bewegung. Vielleicht werde ich mir endlich Gehör verschaffen können und von hier wegkommen. In den folgenden Tagen warte ich ungeduldig darauf, dass Soldaten meine Zelle betreten. Ich sehne mich schon fast nach den Fesseln und der schwarzen Bril-

le, damit ich endlich von französischen Geheimpolizisten verhört werden kann. Aber die Zeit vergeht, und nichts geschieht. Dafür ist etwas anderes im Gang in diesem Camp, dessen Namen ich endlich erfahren habe: »X-Ray«. Röntgenstrahlen. Ein Sturm der Empörung ist losgebrochen, seit die Amerikaner einen Häftling zum Verhör geholt haben, während dieser gerade seine Gebete verrichtete. Rasch verbreitet sich in allen Blöcken die Anweisung »Hungerstreik«. Natürlich will ich mich solidarisch verhalten. Aber ich bin seit meiner Zeit in Kandahar sehr geschwächt. Deshalb entschließe ich mich zu einem »partiellen Streik«. Ich esse heimlich immer wieder eine Kleinigkeit. Die anderen nehmen den Streik ernst. Die Militärrationen, die jeden Morgen das Frühstück ersetzen, gehen unberührt zurück. Dasselbe gilt für Mittag- und Abendessen, Mahlzeiten, die lauwarm auf einem Plastikteller ausgegeben werden. Unbehagen kommt auf. Am Abend erscheint der Lagerkommandant, ein General, höchstpersönlich und will wissen, was los ist. Ein saudiarabischer Häftling, der in Großbritannien lebt und lange in den USA war, betätigt sich als Sprecher. Da er in meinem Block in einer Zelle unweit der meinen untergebracht ist, kann ich die Verhandlungen aus unmittelbarer Nähe verfolgen. Der General sitzt auf der Erde vor dem Käfig. Hinter dem Gitter beschwert sich der Saudi vehement über den Mangel an Respekt, den die Soldaten der Religionsausübung entgegenbringen. Er versteht es, die Situation zu nutzen. Allein die Tatsache, dass der General sich so schnell persönlich um die Sache kümmert, beweist, dass sie eine viel größere Wirkung hat, als wir uns vorstellen konnten. Als geschickter Unterhändler fügt der Saudi aus eigenem Antrieb noch eine ganze Reihe von Kla-

gen über die Qualität des Essens, die alltägliche Gewalt und die schmerzhaften Fußfesseln hinzu. Der General hört zu, wiegt hin und wieder bedenklich den Kopf. Dann ergreift er das Wort. Er verspricht Veränderungen. Er wird Order geben, dass die Religionsausübung respektiert wird. Die Fußeisen werden künftig über den Hosen und nicht direkt auf der Haut angelegt. Die Zelleninspektionen, die stattfinden, wann immer man den Käfig verlässt, werden reduziert. Unnötige Gewalt wird aufhören. Die Qualität der Mahlzeiten wird sich verbessern. Aber als Gegenleistung verlangt er, dass der Streik auf der Stelle beendet wird. Nach diesen ersten Verhandlungen beginnen im ganzen Lager Diskussionen hinter vorgehaltener Hand. Der Saudi schlägt vor, die harte Linie beizubehalten und nicht nachzugeben, bis die Amerikaner ihre Versprechungen eingelöst haben. Die Losung lautet: drei weitere Tage Hungerstreik. Bei den Amerikanern wächst die Besorgnis. Die Krankenschwestern halten sich bereit, und zur Verstärkung werden Hilfsschwestern geholt, um eventuelle gesundheitliche Probleme zu behandeln. Die gesamte Lagerverwaltung steht Kopf. Gleichzeitig scheinen die versprochenen Änderungen tatsächlich einzutreten. Kein Soldat wagt es mehr, während der Gebetszeiten eine Zelle zu betreten. Einige Häftlinge, die zu Verhören geholt werden, erklären hinterher, dass die Fußfesseln wirklich über die Hosen gestreift wurden und so nicht mehr zu Verletzungen an den Beinen führen. Nach drei Tagen sind drei Viertel der Gefangenen der Meinung, dass das Ziel erreicht ist, und beschließen, wieder Nahrung zu sich zu nehmen. Nur ein harter Kern von etwa zwanzig Männern unter der Regie des Saudi führt den Streik fort. Sie verlangen jetzt die Anwendung der

Genfer Konventionen. Angesichts ihrer Hartnäckigkeit soll der General, wie man hört, vor Wut seine hübsche, mit Sternen besetzte Mütze auf den Boden geschleudert haben. Das jedenfalls behaupten Gerüchte, denn ich war nicht Zeuge dieser Szene. Ich bin nicht mehr im selben Block. Ich habe den Kontakt zu dem Anführer der Protestbewegung verloren. Dafür habe ich Mourad wiedergefunden, der in einer nicht weit entfernten Zelle sitzt. Endlich können wir Neuigkeiten austauschen. Das ist allerdings nicht immer leicht. Die vielen Unterhaltungen erzeugen einen Geräuschpegel, bei dem wir uns gegenseitig kaum verstehen. Wir müssen manchmal die anderen Häftlinge bitten, einen Moment still zu sein, damit wir uns verständigen können. Mourad erzählt mir, dass ihn vor einigen Tagen französische Polizeibeamte verhört haben. Sie haben ihm Fragen zu seiner eigenen Person und zu seinem Bruder gestellt. Das ist ein herber Schlag für mich. Bei meinem letzten Verhör, das mittlerweile einige Wochen zurückliegt, hat mir der Amerikaner den Besuch französischer Beamter zugesichert. Sie waren also schon da. Aber nicht bei mir. Wer weiß, vielleicht kommen sie gar nicht mehr. Meine Hoffnung auf Entlassung schwindet. Aber ich will nicht in Trübsal versinken, deshalb wende ich meine Aufmerksamkeit meinen neuen Nachbarn zu. So mache ich die Bekanntschaft von Belkacem und Lakhdar, zwei Algeriern, die vor einigen Wochen in Bosnien verhaftet wurden. Sie sprechen perfekt Französisch. Und erzählen mir, was sie in den letzten sechs Monaten im Fernsehen gesehen haben. Der 11. September, die amerikanische Offensive in Afghanistan, die Bombardierung von Tora Bora, Pakistan. Alles, was ich »von innen« er-

lebt habe, konnten sie auf dem Bildschirm verfolgen. Erst durch ihre Erzählung wird mir die globale Dimension dieser Geschichte bewusst. Und vor allem machen sie mir wieder Mut. »Du bist Franzose. Mach dir keine Sorgen. Bei euch wird es schnell gehen. Frankreich ist mit den Amerikanern verbündet.« Dank meiner frankophonen Nachbarn vergeht die Zeit ein wenig schneller. Es tut mir sehr gut, mit ihnen zu sprechen und ihnen zuzuhören. Ansonsten scheint mich die Lagerleitung vergessen zu haben. Ich werde nicht mehr zu Verhören geholt. Ich verlasse meine Zelle nur noch zu dem wöchentlichen Spaziergang - zehn Minuten bei absolutem Redeverbot auf dem Mittelgang zwischen den beiden Reihen von Käfigen - und zu der obligatorischen Dusche. Im Camp setzen die Unbeugsamen ihren Hungerstreik fort. Es ist nur noch eine Hand voll, sagt man. Nur zwei Wochen nach meiner Ankunft in diesem Block muss ich mich von Mourad und meinen algerischen Gefährten schon wieder verabschieden. Man befördert mich ans andere Ende des Camps. Mein neuer Nachbar ist Slimane, ein sympathischer Typ. Seine Mutter ist Finnin, sein Vater Algerier, geboren ist er in Dänemark, und er spricht vier Sprachen, Dänisch, Arabisch, Englisch und ... Französisch. Ein Glücksfall. Wir führen lange Gespräche. So vergeht die Zeit schneller, und man kann das Eingesperrtsein besser ertragen. Vor allem, da Slimane eine eiserne Moral besitzt. Der ehemalige Discjockey aus Kopenhagen hat die Welt der Nachtclubs aufgegeben, um sich für den Dschihad zu engagieren. Er ist ein echter Kämpfer. Er war tatsächlich in Afghanistan, um Krieg zu führen.

Nach gelungener Flucht wurde er in Pakistan verhaftet; das erklärt er einfach damit, dass ihm das Waffenglück nicht hold war. Dass es im Krieg notgedrungen Sieger und Verlierer gibt. Dass er diesmal eben im Lager der Verlierer, sprich im Gefängnis, gelandet ist. Weiter scheint ihn das nicht zu bekümmern. Im Verlauf meiner Umzüge von Käfig zu Käfig werde ich viele Kämpfer kennen lernen. Wie Slimane ertragen sie ihre Haft mit Willensstärke. Man hat sie gefangen. Für sie gehört das zum Spiel. Sie wissen nicht, wie lange sie hinter Gittern bleiben werden. Aber sie wissen schon, was sie tun werden, sobald man sie freilässt: Sie werden wieder zu den Waffen greifen. Ihnen gegenüber achte ich darauf, mich im Gespräch nicht auf das Thema »Heiliger Krieg« einzulassen. Das ist nicht schwer. Sie gehen alle vom selben Grundsatz aus: Die eingesperrten Muslime sind alle Waffenbrüder und alle aus demselben Grund hier. Sie haben deshalb überhaupt keine Veranlassung, Überzeugungsarbeit zu leisten. Und außerdem kümmert es niemanden im Camp, was ein anderer getan oder nicht getan hat. Die Kämpfer stellen die große Mehrheit der Insassen, aber ich begegne auch einigen »Irrläufern«, Leuten, die von ihren Nachbarn als Taliban denunziert wurden, damit sie das Kopfgeld einstreichen konnten, und die die Amerikaner blindlings in der Überzeugung gekauft haben, sie hätten echte Terroristen gefasst. Wie der arme Said, ein Taxifahrer aus Kabul, der überhaupt nicht weiß, was er hier soll, fünfzehntausend Kilometer von zu Hause weg. Oder der alte Faiz, ebenfalls Afghane, der angibt, über hundert Jahre alt zu sein. Er lebte in einem entlegenen Dorf, aber er war so arm, dass er kein eigenes Haus besaß. Deshalb schlief er in der Moschee. Als die Amerikaner das Dorf umzingelten, nachdem sie es aus den umliegenden Bergen

heraus beschossen hatten, fanden sie ihn in der Moschee und hielten ihn für den Scheik. Sie verhafteten ihn, und jetzt sitzt er hier. Er ist im Übrigen der Einzige, der bleiben will. Die Amerikaner haben ihren Irrtum rasch bemerkt und ihm gesagt, sie würden ihn in die Heimat zurückbringen. Aber das will er nicht. Dort hat er nichts, keinen Besitz, keine Familie, keine Freunde. Hier ist es warm, und er bekommt genug zu essen. Etwas anderes will er nicht. Über seine Geschichte musste ich tatsächlich lachen. Slimane, der Däne, schürt meine Hoffnung auf eine baldige Freilassung. Er erzählt mir, dass eine offizielle Delegation seines Landes vor einigen Tagen mit ihm sprechen wollte. Er hat ihnen eine Menge Fragen beantwortet und ist der Meinung, unsere Haft, zumindest die der europäischen Gefangenen, werde sich nicht mehr allzu lange hinziehen. Ich hänge an seinen Lippen, denn ich warte voller Ungeduld, dass die angekündigte französische Delegation mir endlich zu Hilfe kommt. Man darf sich den Lageralltag in Guantanamo nicht wie den in einem Feriencamp vorstellen. Trotz der Versprechungen des Generals sind Schikanen an der Tagesordnung. Kein Tag vergeht, ohne dass es zwischen Häftlingen und Wächtern zu Zwischenfällen kommt. Manchmal sind das schreckliche Prügelszenen. Wenn ein Häftling, aus welchem Grund auch immer, sich weigert, seinen Käfig zu verlassen, schicken die Amerikaner ihre Hunde hinein. Oder fünf Riesen in Kampfanzügen bauen sich vor dem Käfig des Widerspenstigen auf. Mit Helm, kugelsicheren Westen, schwarzen Knie- und Ellenbogenschützern besprühen sie den Häftling durch das Gitter hindurch mit Tränengas. Dann öffnen sie die Tür, werfen sich auf den Mann und drücken ihn mit einem Schild gegen die Wand.

Anschließend folgt die große Abreibung. Der Häftling wird geschlagen, auf die Erde geworfen, gefesselt und nach draußen geschleift. Alles unter dem Geschrei und Wutgebrüll der anderen Gefangenen. Diese Art von Behandlung führt natürlich zu Vergeltungsmaßnahmen. Die Wahl der Mittel richtet sich nach unseren Möglichkeiten. Wenn die Wächter vorbeigehen, kann man sie bespucken, Wassereimer nach ihnen schleudern, sie mit Urin bespritzen und mit Exkrementen bewerfen. Wirkungsvoll, aber nicht ohne Risiko für die Zellennachbarn von gegenüber. Fehlwürfe haben sehr unangenehme Folgen. Friedlicher, aber sehr wirkungsvoll ist das Konfetti. Man sammelt die Teller und Plastikbecher der täglichen Mahlzeiten, zerreißt sie in tausend kleine Fetzen und wirft diese ein paar Minuten vor der Wachablösung auf den Mittelgang. Wenn man noch gemeiner sein will, bestreicht man die Fetzen mit Zahnpasta, sodass sie am Boden festkleben. Für die Bewacher ist das die reinste Plackerei. Ihre Schicht ist zwar beendet, aber es ist ihnen nicht erlaubt, den Ort in einem solchen Zustand zu verlassen. Also müssen sie Überstunden machen und, gnadenlos verfolgt von unseren spöttischen Bemerkungen, die Gänge säubern.

Kapitel 9

Die französische Polizei In dieser eigenartigen Atmosphäre - auf der einen Seite die permanente Spannung zwischen den Wächtern und uns, auf der anderen Seite der kameradschaftliche Umgang der Häftlinge untereinander - tritt sie endlich in Erscheinung. Die französische Delegation ist da. Das ist mir sofort klar, als sich zwei GIs vor meinem Käfig aufpflanzen. »Three two five, reservation.« Reservation heißt das Schlüsselwort, wenn man zu Verhören geholt wird. Unterwegs stelle ich fest, dass sich seit meinem letzten Ausgang positive Veränderungen ergeben haben. Die Formalitäten beschränken sich auf eine flüchtige Leibesvisitation und das Anlegen von Handschellen. Keine Fußeisen, keine Brille und keine Kapuze über dem Kopf. Neu ist auch, dass wir das Lager nicht mehr zu Fuß durchqueren, sondern an Bord eines elektrischen Wägelchens, wie man sie auf dem Golfplatz findet. Die Ausstattung des Verhörraums hat sich dagegen überhaupt nicht verändert. Ich werde mit dem Gesicht zum Schreibtisch an den Stuhl gefesselt, und ein Soldat mit einer Pumpgun steht hinter mir. Die Tür geht auf. Drei amerikanische Militärs treten ein, gefolgt von vier Zivilpersonen. »Guten Tag. Na, tut es nicht gut, mal wieder Franzosen zu sehen?«

Die Vorstellungsrunde besteht nur aus diesem kurzen Satz, der mir mit ironischem Unterton hingeworfen wird. Ich weiß nicht, wer sie sind oder zu welcher Behörde sie gehören. Sie setzen sich. Einer der vier stellt sein Notebook vor sich auf den Tisch und schaltet es an. Ein anderer befestigt eine kleine Videokamera auf einem Stativ. Auch die Amerikaner leisten ihren Beitrag, indem sie ein Tonbandgerät auf dem Tisch platzieren. Dann werden die Rollen verteilt. Zwei meiner Besucher setzen sich mir gegenüber. Das sind die Verhörspezialisten. Sie werden die Operation leiten. Zuerst einmal machen sie es sich bequem. Sie ziehen das Jackett aus und kramen ein Päckchen Marlboro Light hervor. Der am Computer wird alles in seine Tastatur tippen. Schließlich setzt sich Nummer vier hinter mich und beobachtet. Der Mann, der der Chef zu sein scheint, wendet sich zunächst an die drei Militärs. »Meine Herren, kann man ihm die Handschellen abnehmen?« Gesagt, getan. Nun kann ich mich frei bewegen. »Gut, wir sind gekommen, um deine Identität zu überprüfen und dir ein paar Fragen zu stellen.« Name, Vorname, Personenstand - die Routinefragen sind bald abgehakt. Das wissen sie schon alles, und ich merke, dass es die beiden vor mir eilig haben, zu etwas anderem vorzustoßen. Die Glimmstängel sind das Signal. Kaum habe ich die Vornamen der gesamten Familie aufgesagt, da werfen sich die beiden schon auf ihr Päckchen Zigaretten. Ein Feuerzeug wird weitergereicht, blauer Qualm zur Decke gepustet. Jetzt geht es richtig los. Du bist von da losgefahren? Du hast das gemacht? Du hast den und den getroffen? Du bist dort vorbeigekommen? Du warst mit dem und dem zusammen? Es geht im Eiltempo voran. Sie kennen meine Ge-

schichte auswendig. Kein Wunder. Ich habe das alles den amerikanischen Ermittlern schon erzählt. Ich versuche, ihnen diese Tatsache beizubringen. Es interessiert sie nicht. »Du bist Franzose, du redest mit Franzosen. Was du den Amerikanern erzählt hast, kümmert uns einen Dreck.« Nächste Runde. Sie liefern die Fragen und die Antworten dazu. Ich versuche zu folgen. Ich sehe zu dem Mann auf der rechten Seite, der etwas zu mir sagt, ich höre zu, ich nicke als Zeichen der Zustimmung. Ich bin noch nicht fertig, da ergreift der auf der linken Seite das Wort. Rechts, links, wieder rechts. Das reinste Tennismatch. Ich muss ununterbrochen den Kopf hin- und herdrehen. Ich sage Ja nach rechts, Ja nach links. Sie drücken aufs Gas, fallen sich ins Wort, ziehen nervös an ihren Zigaretten. Der ganze Raum ist verqualmt. Von Zeit zu Zeit machen sie eine kleine Pause und geben ein paar kurze Erklärungen ab. Ich lausche aufmerksam. Ganz offensichtlich kennen diese Leute sich hervorragend aus, im Gegensatz zu den Amerikanern, die immer nur auf AI Qaida fixiert sind. Dadurch beginne ich, bestimmte Zusammenhänge zu verstehen. Die Gruppe der Algerier zum Beispiel. Mir war schon aufgefallen, dass sie sehr gut organisiert waren, mit ihrem Verbindungsmann in London und den »Gästehäusern« in Pakistan und in Afghanistan. Ich hatte angenommen, diese Häuser seien Unterkünfte für Durchreisende. Aber in Wirklichkeit waren sie das nicht. Meine Gesprächspartner beschreiben mir eine sehr gut strukturierte Terrorgruppe. Leute, die in Frankreich Raubüberfälle verüben, um sich für ihre illegalen Aktivitäten Geld zu beschaffen, und die Anschläge auf französischem Boden vorbereiten. Und ich muss mir eingestehen: Es ist doch alles etwas komplizierter, als ich gedacht hatte. Sie erzählen mir auch viel von Mourads Bruder; die Tat-

sache, dass ich den in Lyon in der Moschee kennen gelernt hatte, war ja der eigentliche Ausgangspunkt meiner Reise. Sie interessieren sich schon seit langem für ihn und lassen ihn überwachen. Sie wissen alles über ihn, und offensichtlich ist mit ihm nicht zu spaßen. Aber eines verstehe ich nicht: Warum ist die französische Polizei, die ihn doch Tag und Nacht beschattet, nicht früher eingeschritten? Warum haben sie mich in eine Geschichte hineinschlittern lassen, die mir mehr als eine Nummer zu groß ist? Ich muss unbedingt die Gelegenheit bekommen, mich ausführlicher zu äußern. Davon bin ich überzeugt. Nur würde ich das gerne anderswo tun. In Frankreich. Und genau das teile ich meinen Gesprächspartnern mit. Einer der beiden Raucher erwidert trocken: »Hier bist du bei den Amerikanern. Du bist ein Nichts. Du existierst nicht. Du bist nur eine Nummer. Wir sind dein einziger Ausweg. Wenn du also eine Chance haben willst, hier herauszukommen, dann tust du, was wir dir sagen.« Von diesem Moment an wechselt das Duo die Tonlage. »Wenn du nicht zugibst, dass du Bin Laden begegnet bist, werden wir sehr ärgerlich werden.« Ich bin verunsichert. Diese Leute hier sind offensichtlich mein einziges Tor in die Freiheit. Aber in die Richtung, in die sie mich mit ihren Fragen führen wollen, kann ich nicht gehen. Wir stecken in einer Sackgasse. Um die Dinge zu beschleunigen, setzen mich die beiden Polizisten einem Wechselbad der Gefühle aus. Sie lassen Neuigkeiten von meiner Familie einfließen. »Dein Bruder hat einen Unterstützungsverein gegründet.« Diese Nachricht geht mir sehr nahe. Dann kehren sie zu ihrer Befragung zurück. »Hast du den Umgang mit Sprengstoff gelernt?« Als Nächstes wieder ein paar Worte über die Vorgänge in Frankreich. »Sie kämpfen für dich in Venissieux.«

Zum ersten Mal weine ich während eines Verhörs. Die Gefühle überwältigen mich, als ich erfahre, dass meine Familie so viel für mich unternommen hat. Dass man mich nicht vergisst. Was sich seit meiner Abreise zugetragen hat, erfahre ich erst viel später. Zu Hause war man gegen Ende des Sommers immer besorgter geworden. Meine Eltern hofften, dass meine Brüder etwas erfahren würden. Die Brüder erwarteten dasselbe von den Eltern. Alle lauerten auf Post und sprangen auf, wenn das Telefon klingelte. Aber nichts tat sich. Die Atmosphäre wurde immer angespannter. Schweigen breitete sich aus. Mein Verschwinden wurde zu einem Tabu. Etwa Mitte November war mein zwei Jahre jüngerer Bruder Aymane mit meinem alten Herrn in Streit geraten. Beide waren laut geworden. Schließlich hatte Aymane entnervt gerufen: »Vergesst euren Sohn. Er ist tot.« Für ihn bestand kein Zweifel mehr. Wenn ich seit Monaten kein Lebenszeichen von mir gegeben hatte, was noch nie vorgekommen war, dann war mir etwas Schlimmes zugestoßen. Ein Unfall auf der Reise, eine Tragödie, die unentdeckt geblieben war, ein Leichnam, den man nie finden würde. Wie man es aus Filmen kennt. Meine Mutter hatte abends, wenn ihre kleine Welt schlief, viel geweint. Die Brüder hatten oft gehört, wie sie schluchzend in der Küche saß und meinen Namen murmelte. Erst lange danach keimte wieder Hoffnung auf. Genauer gesagt, am Dienstag, dem 8. Januar 2002, als Reporter vom Progres de Lyon bei meinen Cousins anriefen. Sie suchten die Familie von Nizar Sassi. Die Cousins hatten sofort meine Eltern benachrichtigt. Aymane war gleich zum Hauseingang hinuntergelaufen,

um mit den Journalisten zu reden. Er hatte sie gefragt, was los sei. »Die CIA hat eine Namensliste veröffentlicht. Der Name Ihres Bruders steht darauf.« Armer Aymane. Auf so eine Nachricht war er nicht gefasst gewesen. Er hatte rot gesehen, war auf die Journalisten losgegangen und hatte sie aufgefordert zu verschwinden. Dann war er wieder in die Wohnung hochgegangen. Da er außerstande war, meinen Eltern zu erzählen, was er erfahren hatte, hatte er ihnen eine Geschichte aufgetischt: Die Journalisten wüssten nicht, was sie suchten, die Presse verzapfe eben Blödsinn, das kenne man ja. Dann hatte Aymane unseren älteren Bruder Fredj zu Hilfe gerufen. Die beiden hatten sich auf dem Parkplatz von Les Minguettes getroffen. Fragen schwirrten ihnen durch den Kopf: Was tun? Was den Eltern sagen? In der Zwischenzeit tauchte ein Cousin mit der jüngsten Ausgabe von Le Monde in unserer Wohnung auf. Darin war eine kurze Meldung abgedruckt. Ein paar Zeilen, in denen mein Name auftauchte. Jetzt war es zu spät, um alles zu vertuschen. Also hatte Aymane ihnen gesagt: »Nizars Name steht auf einer CIA-Liste. Er wird in Kandahar festgehalten.« Am nächsten Tag sah man mein Foto in den Nachrichten auf allen Fernsehschirmen des Landes. Aymane war so entgeistert, dass er sich an die in seinen Augen einzig plausible Erklärung klammerte: Mir war etwas Schwerwiegendes zugestoßen. Jemand anderes hatte meine Papiere an sich genommen und gab sich als Nizar aus. Zwei Wochen später musste mein kleiner Bruder sich den Tatsachen beugen. Die Familie erhielt zum ersten Mal Post von mir, die das Rote Kreuz weitergeleitet hatte. Ein Blatt Papier, auf das ich ein paar Worte gekritzelt hatte, durch die ich sie wissen ließ, dass ich lebte und dass es mir gut ging.

Mittlerweile hatten die Medien eine Art Tsunami ausgelöst. Ich war der »Taliban aus Venissieux« geworden, »das Kind von Bin Laden«. Noch ärgere Bezeichnungen übergehe ich lieber. Angesichts dieser Flut hatte Aymane beschlossen, etwas zu unternehmen. Er hatte rasch begriffen, dass es besser war, mit den Journalisten zu reden als sie zum Teufel zu schicken. Und so hatte er alle Mikrofone ergriffen, die sich ihm entgegenreckten, und unablässig wiederholt, dass ich nicht der sei, als den man mich beschrieb. Dass man ja viel mit Menschen anstellen könne, aber dass es Grenzen gebe. Und dass niemand mich in einen islamistischen Kämpfer hätte verwandeln können. Dann entstand die Vereinigung. Eine Idee der beiden »Großen«, die schon früher im Viertel sozial engagiert gewesen waren und am Marsch der »Beurs«, der Einwandererkinder aus nordafrikanischen Familien, nach Paris teilgenommen hatten. Nach einer ersten Zusammenkunft im kleinen Kreis in einem Restaurant in Les Minguettes, an der nur meine Familie und die von Mourad teilgenommen hatte, hatte man ihnen Räumlichkeiten der Gemeinde zur Verfügung gestellt. Einen großen Saal für öffentliche Versammlungen und einen zweiten, kleineren zum Arbeiten. Dort hatten sie das Unterstützungskollektiv der Familien gegründet. In der Zwischenzeit waren meine Eltern von Andre Gerin, dem Bürgermeister von Venissieux, empfangen worden. Er hatte ihnen Jacques Debray, einen Rechtsanwalt aus Lyon, als Verteidiger empfohlen. Jacques hatte sofort akzeptiert und vorgeschlagen, noch William Bourdon von der Pariser Anwaltskammer an Bord zu holen, da die Angelegenheit zwangsläufig internationale Dimensionen annehmen würde. Zwei Anwälte seien nicht zu viel. Jacques Debray und William Bourdon hatten ihre Hilfe angeboten, ohne ein Honorar zu verlangen.

Da unten in meinem Kerker hatte ich keine Ahnung davon, welche Leidenschaft mein Viertel, ja meine Stadt, ergriffen hatte: Versammlungen in überfüllten Sälen, bei denen alle durcheinander redeten, eine Mischung aus Erschütterung, Trauer und Hoffnung, die die Mitglieder des Kollektivs ergriffen hatte. Das hitzige Temperament einiger junger Leute, die entschlossen waren, alles niederzubrennen, um die Ungerechtigkeit anzuprangern. Das Verhör durch die Franzosen dauert bereits über vier Stunden. Ich bin erschöpft, und zwar sowohl durch das Trommelfeuer der Fragen als auch durch die Gefühle, die sie in mir auslösen. Auf einmal wird mir alles zu viel. Großzügig pfeift einer der beiden Männer die Halbzeit. »Na gut, es reicht, geh essen. Wir sehen uns später wieder. « In der Zelle esse ich ein paar Bissen, damit ich wieder zu Kräften komme. Als mich meine Mitgefangenen in diesem Zustand sehen, stellen sie mir Fragen. Sie wollen wissen, wie es gelaufen ist. Ich berichte. Vor allem sage ich, dass diese Delegation, auf die ich so ungeduldig gewartet habe, nicht gekommen ist, um mich hier rauszuholen. Die Typen wollen nur den Amerikanern helfen, mehr nicht. Die Soldaten kommen zurück, die Pause ist zu Ende. Ab in den Verhörraum. »Und, hast du nachgedacht? Erinnerst du dich jetzt an Sachen, die du uns noch nicht erzählt hast? Zum Beispiel dass du Bin Laden getroffen hast, hm?« Es geht wieder los. Jetzt rege zur Abwechslung ich mich mal auf. »Hören Sie mit dem Blödsinn auf, ich habe ihn nicht getroffen, das habe ich doch schon gesagt. Wir haben uns verpasst, ich habe ihn nicht gesehen.«

»Okay, okay, alles klar. Du wolltest also lernen, wie man mit Sprengstoff umgeht?« »Was soll denn das schon wieder heißen?« »Die Kerle, die du da unten getroffen hast, haben es alle gelernt. Wir wissen, dass du es eigentlich auch vorhattest, aber nicht konntest.« »Was reden Sie denn da. Können Sie jetzt schon meine Gedanken lesen? Woher wissen Sie, was ich vorhatte?« »Jeder dort hat es gelernt.« »Ich bin aber nicht jeder. Ich bin wegen der Waffen hingefahren. Sonst nichts.« Immer dieselbe Geschichte, die niemand glauben will. Die Geschichte von dem jungen Mann, der ins tiefste Afghanistan fährt, nur weil er schießen will. Die Amerikaner und die Franzosen machen sich darüber lustig. Dabei ist es die Wahrheit. Aber man kann sie nicht davon überzeugen. An dieser Hürde halten wir uns lange auf. Bis einer der beiden Franzosen die Sitzung beendet. »Gut, das war's. Wir werden für die Amerikaner einen positiven Bericht schreiben. Wir werden ihnen sagen, dass du mit uns kooperiert und uns alles gesagt hast.« Sie packen ihre Sachen zusammen und stecken ihre Unterlagen ein. Aber sie werden mich doch nicht einfach im Stich lassen? Ich fahre sie ziemlich heftig an. »He, was ist denn jetzt los? Weshalb sind Sie eigentlich gekommen?« »Immer mit der Ruhe. Wir sind nicht von der Botschaft. Wir haben unseren Job erledigt. Was aus dir wird, hängt allein von den Amerikanern ab.« »Aber Sie haben doch am Anfang gesagt, Sie wären meine einzige Chance ...« »Ach, das haben wir gesagt? Tja, wir können nichts machen.«

Als ich den Raum verlasse, bin ich völlig niedergeschmettert. Gerade wollen mich die Soldaten nach draußen führen, da ruft mir der eine Franzose noch etwas nach. »Nizar!« Ich drehe mich um und sehe ihn an. »Lass dich nicht hängen. Eines Tages wirst du Frankreich wiedersehen.« Dieser kleine Satz gibt mir den Rest. Auf einmal verstehe ich, dass ich nicht Tage oder Wochen hier verbringen werde, sondern Jahre. Ich bin am Boden zerstört. In meiner Zelle breche ich zusammen. Sie haben meine Hoffnungen vollends zunichte gemacht. Ich bin seelisch tot. Die beiden folgenden Wochen verbringe ich zusammengekrümmt auf meiner Matratze. Die tröstenden Worte der anderen Gefangenen dringen nicht zu mir durch. Mich interessiert nichts mehr. Die Zusammenstöße mit den Wächtern, das Geschrei, die Beleidigungen, alles, was hier tagtäglich abläuft, ist mir völlig egal. Ich werde hier verrotten. Schluss. Aus.

Kapitel 10

Häftling 325, Camp Delta An einem Vormittag im April 2002 heißt es Klarmachen zum Gefecht. Wir ziehen um. Und auf geht's. Ende mit Camp X-Ray. Die Neuigkeit ist so sonderbar, dass sie mich prompt aus meiner Lethargie reißt. Dann waren also all die Gerüchte über die Entstehung eines neuen Camps wahr? Ebenso wie viele andere habe auch ich es nicht glauben wollen. Ein neues Camp, das heißt eine Einrichtung auf Dauer. Eine Einrichtung, in der man uns lange internieren will. Der Transfer ist kein Vergnügen. Das neue Lager, auf den Namen »Camp Delta« getauft, liegt weit von dem alten entfernt. Wir müssen in einen Bus steigen. Dort zieht man uns Kapuzen über den Kopf. Während der Bus die wenigen Kilometer bewältigt, die uns von unserer neuen Unterkunft trennen, fangen wir die üblichen Schläge ein. Als ich wieder sehen kann, bin ich in Camp Delta. Ich schaue mich um. Und ich seufze. Fast sehne ich mich nach meinem vorigen Käfig zurück. Wir waren beengt, aber wenigstens an der frischen Luft. Wir hatten Blick auf das Hügelland, hörten das Geräusch der Bäume, den Wind. Das Plastikdach über den Käfigblocks schützte uns vor den drei oder vier Regenschauern, die seit meiner Ankunft gefallen waren. Gut, an manchen Tagen, wenn die Sonne besonders heftig brannte, war es

sehr heiß. Doch es blieb immer erträglich. Man hatte Luft zum Atmen. Und außerdem konnte man sich sogar zwischen den Blocks miteinander verständigen. Das ist jetzt alles vorbei. Unsere neuen Zellen ähneln immer noch Käfigen, sie sind immer noch genauso klein, 1,80 auf 2 Meter. Aber jetzt befinden sie sich in großen Metallcontainern, die direkt an Ort und Stelle errichtet werden. Zivile Unternehmen, Zulieferer der amerikanischen Armee, sind dafür zuständig. Die Arbeiter schneiden aus jedem der großen Container die beiden schmalen Seiten heraus und ersetzen sie durch ein solides Gitter. Die Vorderseite wird ebenfalls entfernt. Dann schweißen sie zwei Gitterwände ins Innere des Containers, durch die er in drei gleich große Bereiche unterteilt wird. Zum Schluss montieren sie die neue Fassade, die aus einem großen Gitter besteht, in das drei kleine Türen eingelassen sind, die jeweils zu einer der drei Zellen führen. Als Letztes sägen sie drei Miniaturfenster in die Hinterwand des Containers, sodass jeder Käfig ein eigenes Fenster (natürlich vergittert) besitzt. Die in Käfige verwandelten Container werden anschließend so aufgestellt, dass sie »Blocks« von je 48 Zellen bilden. Die Amerikaner ordnen sechzehn Container zu zwei parallelen Reihen an, acht auf jeder Seite, wobei die vergitterten Vorderseiten einander zugewandt sind. Zwischen den beiden Reihen dient ein etwa zwei Meter breiter Raum als Hauptgang; über ihn ist als Schutz ein Metalldach geschweißt. Zur Unterscheidung der Blocks benutzen die Amerikaner Buchstaben. Es gibt die Blocks Alpha (A), Bravo (B), Charlie (C), Lima (L), Kilo (K) und so weiter. Meine neue Zelle befindet sich in Block »Charlie«. Von jetzt an haben wir Anspruch auf ein echtes Bett, ein Steh-

klo in der Ecke und fließendes Wasser aus einem kleinen Wasserhahn über einem winzigen Waschbecken aus Edelstahl. Moderner Komfort, Version Guantanamo. Trotzdem. Als ich diesen Käfig betrete, bin ich mit einem Mal völlig verzweifelt. Ich habe plötzlich Angst, dass ich nicht durchhalte. Vor mir erhebt sich das Gespenst des Wahnsinns. Mein Zellennachbar ist ihm schon erlegen. Als ich ihm in Kandahar begegnet war, ging es ihm noch relativ gut. Jetzt zieht er sich ständig nackt aus, pinkelt überall hin und beschmiert sich mit seinen eigenen Exkrementen, während er wirre Reden führt. Es wird nicht lange dauern, bis man ihn in den Block für die Verrückten abtransportieren wird. So will ich nicht enden. All jene, die den amerikanischen Psychiatern überstellt werden, kommen nie mehr zurück. Anscheinend machen sie mit den Gefangenen Versuche, bei denen Medikamente an ihnen ausprobiert werden. Ich weiß nicht, ob das stimmt. Alles, was ich weiß, ist, dass diese Typen, wenn sie überhaupt wieder auftauchen, nur noch dahinvegetieren. Die ersten Wochen sind schrecklich. Es ist sehr heiß in den Metallcontainern, auf die die Sonne brennt. Keine Landschaft mehr, kein Wind mehr auf dem Gesicht. Nur noch die in fluoreszierendem Grün gestrichenen Wände und dieses elektrische Licht, das Tag und Nacht brennt. In unseren Sardinenbüchsen fließen die Stunden und Tage ineinander, endlos und monoton. Gebete, Essen, Verhöre. Zwei Spaziergänge von je fünfzehn Minuten pro Woche, eine Dusche pro Woche. Als einziges Buch ist der Koran erlaubt. Dann trifft Post für uns ein. Ich bekomme meinen ersten Brief. Auf dem Umschlag erkenne ich die Schrift von Fredj, meinem älteren Bruder. Er hat im Namen der gan-

zen Familie zur Feder gegriffen. Der Brief ist natürlich geöffnet und von der Zensur gelesen worden. Aber sie haben den Text nicht angetastet. Später werde ich Briefe von Freunden erhalten, von denen außer der Anrede am Anfang und dem Gruß am Ende so gut wie nichts mehr übrig ist. Dazwischen haben die Zensoren praktisch alle Wörter geschwärzt. Ich falte das Blatt mit Herzklopfen auseinander. Fredj schreibt mir, dass es ihnen gut geht und sie dasselbe von mir hoffen. Er erzählt mir, dass sie sich für meine Freilassung einsetzen und dass ich durchhalten soll. Durchhalten. Genau das ist das Problem. Jeden Morgen stehe ich mit der bangen Frage auf, was dieser Tag wieder bringen wird. Jeden Abend lege ich mich hin mit dem Gedanken: Wieder ein Tag gewonnen. Dazwischen führe ich einen ungleichen Kampf, allein gegen den Wahnsinn des Eingesperrtseins. Fredjs Brief hat mich enorm gestärkt und gleichzeitig sehr deprimiert. Denn durch ihn tauche ich wieder in meine Vergangenheit ein, ich sehe die Bilder von meiner Mutter, meinem Vater, meinen Brüdern und Schwestern vor mir. Ich erinnere mich unaufhörlich an vergangene Momente meines Lebens. An all das, was ich hätte tun oder lassen sollen. Mein Leben rollt in allen Details vor meinem inneren Auge ab. Ich lasse den Film zehnmal, hundertmal rückwärts abspulen, während ich mich frage, warum ich in einem bestimmten Augenblick dies oder jenes getan habe. Tausendfach bereue ich, was ich versäumt habe und vielleicht nie wieder werde tun können. Ich kann nicht mehr. Ich muss gegen mich selbst kämpfen, damit ich von den Gedanken loskomme. Ich muss diese Höllenmaschine, diese demoralisierende Endlosschleife unbedingt anhalten. Sonst werde ich womöglich auch noch verrückt.

Eine Chance habe ich nur, wenn es mir gelingt, die Einsamkeit zu durchbrechen, dieses eigentliche Gefängnis im Gefängnis. Ich muss unbedingt mit anderen sprechen. Egal, über was, aber auf jeden Fall reden, bevor ich den Verstand verliere. Mit ihnen reden, um nicht mehr zu denken. Aber wie? Im Block Charlie bin ich umgeben von Häftlingen aus dem Mittleren Osten. Kein Algerier oder Franzose weit und breit. Nichts als Saudis und Jemeniten, die nur Arabisch sprechen. Ich bin ein Taubstummer in einer Gruppe von Redseligen. Was soll ich tun? Ich sehe nur eine Möglichkeit. Die Sprache erlernen. Es geht schlicht ums Überleben. Und so stürze ich mich hinein, mit nichts weiter als meinem Willen als Lernmethode und meinem Gedächtnis als Material. Jedes Mal wenn ich ein neues Wort aufschnappe, wiederhole ich es, bis es sich in mein Gedächtnis eingegraben hat. Und dann versuche ich, ein neues zu lernen. Zum Glück fällt mir dank einiger Worte Tunesisch, die wir zu Hause benutzten, die Aussprache nicht schwer. Meine Nachbarn haben verstanden, was ich vorhabe, und helfen mir nach Kräften. Sie sagen mir ein Wort, zeigen mir durch Gesten, was es bedeutet, und lassen es mich wiederholen. Ich beiße mich fest. Nach vier Monaten bin ich in der Lage, ein richtiges Gespräch zu führen. Ich habe es geschafft. Sogar die Amerikaner können es nicht fassen. Sie holen einen Arabischlehrer, der mich testen und nachprüfen soll, ob ich das wirklich alles allein in meiner Zelle gelernt habe. Vor allem habe ich mir damit das Gespenst der Depression und des Wahnsinns vom Leib gehalten. Ich kann mich von jetzt an, wann immer ich will, diesem Ort entziehen, und zwar allein durch Worte. Die Amerikaner machen es mir leicht. Sie setzen alles daran zu verhindern, dass sich

zwischen den Zellennachbarn engere Verbindungen entwickeln. Sie organisieren unentwegt Umzüge zwischen den sieben Blocks, aus denen Camp Delta besteht. Jeden Monat werden alle Insassen einmal verlegt. Für mich ist das ein Glück. Durch diese Umlegungen »begegne« ich Menschen aus allen Ländern. Ibrahim kommt von den Malediven, David ist Australier. Engländer sind hier, Jordanier, Jemeniten, Pakistanis und viele andere. Sie erzählen mir von ihren Ländern und ihrem früheren Leben. Dank ihnen hat sich mein Leben im Lager von Grund auf verändert. Die Verhöre wurden durch den Umzug ins Camp Delta nicht unterbrochen. Nur der Raum für diese Übung ist jetzt ein anderer. Schluss mit dem jämmerlichen Fertigbauteil aus Camp X-Ray. In Delta sind die Räume blitzblank und verfügen über eine Klimaanlage und Videogeräte, mit denen die Aussagen aufgezeichnet werden. Es gibt sogar Einwegspiegel, durch die die Beobachter das Geschehen verfolgen können, ohne selbst gesehen zu werden. Nach dem Besuch der Franzosen werde ich zwei Verhörspezialisten des FBI übergeben. Der eine ist ein vierschrötiger Kerl, ein Ex-Soldat mit kurz geschorenen Haaren und Muskelpaketen, die sich unter seinem T-Shirt wölben. Sicher verbringt er Stunden im Fitness-Studio. Der andere ist Psychologe. Er hält sich immer ein wenig im Hintergrund, verschränkt die Arme und lässt mich nicht aus den Augen. Er belauert meine Reaktionen. Manchmal mischt er sich ein und verlangt eine Präzisierung oder Begründung meiner Antwort. Die beiden habe eine sehr verzwickte Geschichte ausgetüftelt und wollen nur eines - dass ich sie ihnen abkaufe. Angeblich bin ich nach Afghanistan zur Ausbildung gereist, damit ich anschließend irgendwo ein Attentat verü-

ben kann. Sie können darauf beharren, so viel sie wollen, ich lasse mich nicht darauf ein. Natürlich weiß ich, was ich riskiere. In Camp Delta haben die Verhörspezialisten einen maßgeblichen Einfluss auf das tägliche Leben der Häftlinge. Wer die Antwort gibt, die sie hören wollen, wird gut behandelt. Wer sich feindselig verhält, wird bestraft. Ich kenne sie allmählich recht gut, diese amerikanischen Verhörspezialisten. Das Einzige, was sie wirklich in Rage bringt, ist Schweigen. Ein Häftling, der sich weigert zu antworten, wird unweigerlich den Spezialisten für psychologische Folter überstellt. Man sperrt ihn eine Woche lang in einen Raum und beschallt ihn ununterbrochen mit elektronischer Musik, damit er nicht schlafen kann, oder man lässt ihn stundenlang in einem Raum ausharren, dessen Klimaanlage auf die kälteste Stufe eingestellt ist. Solche Unannehmlichkeiten kann man nur vermeiden, wenn man mit ihnen redet. Das lieben sie. Wie aufschlussreich die Antwort ist, spielt im Übrigen keine Rolle. Sie stellen gerne hundertmal dieselbe Frage. Ich gebe ihnen hundertmal dieselbe Antwort. Und sie sind zufrieden. Meine beiden FBI-Leute haben mir zum Beispiel dicke Fotoalben mitgebracht. »Kennst du diesen hier?« »Ja, ich kenne ihn. Er ist mein Zellennachbar.« »Kennst du diesen hier?« »Ja, ich kenne ihn. Er ist im Block nebenan.« »Hast du den schon mal gesehen?« »Ja, ich habe ihn schon gesehen. In Block B.« Und so weiter. Das verstehen die Amerikaner unter Kooperation. Wenn man kooperiert, sorgen sie dafür, dass das Leben etwas erträglicher wird. Die Verhörspezialisten entscheiden, ob man medizinisch versorgt wird oder nicht.

Sie sind es, die die Lektüre verteilen. Sie sind es, die die Post weitergeben. Post bekomme ich mittlerweile regelmäßig. Von meiner Familie natürlich, aber auch von meinen engen Freunden, die mich sehr unterstützen. Ich weiß, dass die Franzosen, von denen ich verhört wurde, nicht gelogen haben. In Les Minguettes tut sich wirklich etwas. Man berichtet mir von der Gründung einer Initiative. Anwälte schalten sich ein, die Presse bringt Berichte. Die Vertreter des Roten Kreuzes, die immer noch regelmäßig vorbeikommen, halten mich ebenfalls auf dem Laufenden. Wenn ich auf diese Briefe antworte, knüpfe ich damit wenn auch aus der Ferne - an die Verbindung zu den Menschen wieder an, die ich liebe. Ich tue es mit großer Freude. Trotz der Zensur erzähle ich ein wenig von dem, was im Camp Delta vor sich geht. Einmal habe ich Fredj geschrieben: »Hier hat man nicht das Recht, Rechte zu haben.« Ein paar Wochen später kommen die Zensoren und drohen mir, meine gesamte Post zu schwärzen. »Von jetzt an wirst du deutlich schreiben, sonst ist Schluss.« Erst später habe ich verstanden, worum es ging. Die Übersetzer konnten mein Gekritzel nicht lesen und verstanden nicht, was ich meinem Bruder geschrieben hatte. Deshalb ließen sie den Brief passieren, ohne ihn zu zensieren. Aber in Frankreich war dieser Brief durch alle Zeitungen gegangen, und das war schließlich auch den Amerikanern zu Ohren gekommen, denen das gar nicht gefiel. Trotz einiger Auseinandersetzungen verstehe ich mich insgesamt nicht schlecht mit den Ermittlern. Ich halte mich immer an dieselbe Taktik. Ich habe nichts zu verbergen. Also sage ich ihnen, was ich weiß. Ansonsten sollen sie sehen, wo sie bleiben. Für manchen meiner Mithäftlinge

ist das nicht so einfach. Mahmud beispielsweise, ein Syrer aus einem Käfig in meiner Nachbarschaft, wird eines Morgens zum Verhör geholt. Als die Soldaten ihn wieder zurückbringen, ist es schon lange Nacht. Sein Gesicht ist blutverschmiert. Nachdem sich der erste Schrecken gelegt hat, bedrängen wir ihn mit Fragen, wollen wissen, ob er geschlagen wurde, warum und wie. Er erzählt es uns. Mahmud weigert sich kategorisch, mit den Offizieren zu sprechen. Trotz aller Schikanen und Strafen macht er den Mund nicht auf. Die Militärs haben alles versucht, er geht auf nichts ein. Also haben sie eine Frau in das Verhör-Team geholt. Die versuchte erst, ihn zum Reden zu bringen, dann begann sie mit ihm zu flirten. Ohne Erfolg. Daraufhin fing sie an, ihn zu berühren. Aus Wut hat Mahmud sie angespuckt. Sofort haben die Wachen eingegriffen, ihn zu Boden geworfen und geschlagen. Während er am Boden lag, ohne sich bewegen zu können, trat die Soldatin zu ihm. Sie griff sich mit der Hand in ihre Hose, dann fuhr sie mit den Fingern über Mahmuds Gesicht. Die Blutspuren auf seinem Gesicht stammen vom Menstruationsblut der Amerikanerin. Mahmuds Bericht löst einen unendlichen Ekel und tiefe Wut aus. Aber er spiegelt die strikte Realität. Für den winzigsten Fetzen an Information sind die Amerikaner zu allem bereit. Selbst dazu, Frauen einzusetzen, vor allem bei Männern aus dem Nahen Osten, die an die Anwesenheit von Frauen überhaupt nicht gewöhnt sind. Einer meiner Zellennachbarn erzählte mir eines Tages, dass er bisher im Leben nur zwei Frauen gesehen hat, seine Mutter und seine Schwester. Und auch sie nur verschleiert. Man stelle sich also ihre Reaktionen vor, wenn sie mit weiblichen Wesen konfrontiert werden, die mit voller Absicht provozierend gekleidet sind.

Im Camp Delta ändern sich die Verhältnisse auch mit den Wachposten. Das Regiment, das für die Bewachung von X-Ray zuständig war, ist zurückgeflogen. Umso besser. Ich weine ihnen keine Träne nach. Es waren echte kleine Nazis. Man spürte deutlich den Unterschied, als sie alle auf einmal abgelöst wurden. In ihren Augen waren wir allesamt gefährliche Terroristen, die für den Tod Tausender Unschuldiger bei den Anschlägen von New York verantwortlich waren. Sie hatten nur eins im Sinn - uns dafür büßen zu lassen. Und bei diesem Spiel waren die Frauen alles andere als zimperlich. Oft schienen sie ein perverses Vergnügen daran zu finden, einen Häftling zu filzen, bevor er die Zelle verließ. Sie wussten, dass es für einen Muslim eine entsetzliche Demütigung darstellt, von einer Frau so betastet zu werden. Die besonders frommen Häftlinge weigerten sich, sie anzusehen. Also sprühten sie sich mit Parfüm ein, damit die Gefangenen selbst mit niedergeschlagenen Augen spürten, dass sie da waren, ganz dicht bei ihnen. Aber am schockierendsten war es, wenn die uniformierten Frauen, von denen einige recht hübsch waren, vor uns herumstolzierten und schlimmer rülpsten und furzten als die Männer. Seit der Ablösung der Soldaten, die das Sigel 9/4 auf dem Kragenspiegel trugen, hat sich die Situation deutlich verbessert. Es gibt immer noch Schläger und Sadisten, aber man trifft auch viele anständige Kerle. Wenn man sie in den Block kommen sieht, muss man unwillkürlich lächeln. Man weiß, dass es ein guter Tag werden wird. Da Worte meine beste Waffe im Kampf gegen die Haft sind, benutze ich sie auch im Umgang mit den neuen Wächtern. Ich diskutiere mit ihnen. Mein Englisch ist nicht gerade berauschend, ich habe mir damit nicht so

viel Mühe gegeben wie mit dem Arabischen. Aber weil ich die Sprache ständig höre, Befehle empfange und den Ermittlern antworten muss, kann ich mich schließlich ganz gut verständigen. Schnell schließe ich mit einigen Soldaten Bekanntschaft. Sie kommen nach ihrem Dienst zu mir und setzen sich vor meine Zelle. Sie erzählen mir von ihrem Leben und ich ihnen von meinem. Ein großer Schwarzer ist darunter, der eine Strafe aufgebrummt bekam, weil er sich geprügelt hat. Ein anderer Soldat hatte ihn als »dreckigen Nigger« beschimpft, und er hatte ihm eine verpasst. Die amerikanische Armee hat eine ganz eigene Art, die Verfehlungen ihrer Boys zu bestrafen. Sie behält einen Teil ihres Soldes ein. Wer wirklich Mist baut, bekommt am Ende des Monats keinen Cent. Der sympathische Schwarze hatte kein leichtes Leben. Er hat seinen Vater nie kennen gelernt, weil der noch vor seiner Geburt zu einundzwanzig Jahren Gefängnis verurteilt worden war. Er ging zur Armee, um Geld zu verdienen, aber das bereut er mittlerweile. Nach und nach entdecken wir unsere gemeinsame Vorliebe für die Musik und das Kino. Durch die Gitterstäbe hindurch entwickelt sich eine Freundschaft. Meine guten Beziehungen zu bestimmten Wächtern erleichtern uns allen das Leben. Ich werde zum Vermittler und Dolmetscher für Mithäftlinge, die Medikamente, Kleider oder andere Dinge brauchen. Wenn möglich, besorgen die Bewacher das Nötige. Im Camp wird ständig gebaut. Man hört den Lärm der Bagger, die Erde ausheben, und wenn man zum Spaziergang oder zu den Verhören geht, sieht man, dass überall neue Gebäude wie Pilze aus der Erde schießen. Ein paar Monate nach unserem Transfer in die sieben Delta-Blocks

eröffnet die Verwaltung einen Erweiterungsbau mit dem Namen »Delta 2«. Die neue Einheit umfasst drei klassische Blocks mit je achtundvierzig Zellen und zwei Isolationsblocks mit vierundzwanzig und achtundvierzig Plätzen. Dann wird »Delta 3« eröffnet, mit einem Block von achtundvierzig, einem von sechsunddreißig und zwei von je vierundzwanzig Zellen. Der Unterschied zwischen den verschiedenen Deltas besteht nur im Namen. Alles andere ist identisch. Ich kann das selbst bezeugen, denn im August 2002 werde ich nach Delta 2 gebracht. Derselbe Käfig, derselbe Fraß, dieselbe Langeweile. Die einzig positive Überraschung ist Mourad, der in der Nachbarzelle sitzt. Ich freue mich, ihn zu sehen und mit ihm reden zu können. Jetzt erfahre ich von ihm den Grund für meine Verlegung. Ich bin seine »Belohnung«. Bei seinem letzten Verhör hatte ihm der amerikanische Vernehmungsbeamte gesagt, jetzt sei alles okay, er werde in nicht allzu langer Zeit nach Frankreich zurückkehren. Und als Beweis dafür würde er uns beide zusammenlegen lassen. Bisher hat die Lagerleitung sehr darauf geachtet, uns voneinander entfernt zu halten, um zu verhindern, dass wir miteinander kommunizieren. Sicher aus Angst, dass wir unsere Aussagen abstimmen oder beim Verhör etwas verschweigen würden. Dass diese Maßnahme aufgehoben wurde, nimmt Mourad als Zeichen dafür, dass für ihn bald alles vorbei sein wird. Mourads Worte machen mich sehr froh. Unser Leidensweg neigt sich dem Ende zu. Wenn er bald nach Hause darf, wird es auch bei mir nicht mehr lange dauern. Wir sind glücklich. Wir fangen an, von den überstandenen Abenteuern zu sprechen, von dieser unglaublichen Odyssee, die bald der Vergangenheit angehören wird. Schon

denken wir an die Rückreise und schmieden Pläne, was wir in Frankreich machen werden. Auch andere Zeichen deuten auf eine Wendung zum Guten. Ich werde nicht mehr zu Verhören geholt. Die Post wird nicht mehr einbehalten. An einem einzigen Tag händigt man mir neun Briefe auf einmal aus. So viele habe ich noch nie bekommen. Die Hoffnung verwandelt sich in Gewissheit. Wir werden nicht mehr lange hier sein. Da, es ist so weit. Die Lautsprecher haben es öffentlich verkündet. Vier Personen werden heute entlassen. Das sind wir, das sind wir! Mein Herz klopft zum Zerspringen, Mourad kann nicht mehr still sitzen. Kurz darauf erscheinen Soldaten mit Kameras und Fotoapparaten. Sie bleiben vor uns im Gang stehen. Sie öffnen die Tür der Zelle gegenüber. Ich sehe, dass sie dem Häftling, einem Afghanen, neue Kleider geben. Er zieht sich um und verlässt, von Soldaten umringt, im Scheinwerferlicht seine Zelle. Mourad und ich warten, dass wir an die Reihe kommen. Nein. Das Grüppchen entfernt sich und verlässt den Block. Die Tür wird verriegelt. Mein Hals ist wie zugeschnürt. Mourad sagt nichts. Nicht nötig. Wir haben es geahnt. Wir kommen nicht raus. Die Wochen vergehen, und wir sitzen immer noch hinter Gittern. Mitte September werde ich wieder zum Verhör gerufen. Ich frage, was aus den Versprechen geworden ist, die Mourad gegeben wurden. »Versprechen? Welche Versprechen?« Es war wieder einmal nur eine Lüge, die unsere Moral untergraben sollte. Trotzdem trifft sie mich sehr. Aber es gibt noch einen weiteren Grund zur Beunruhigung, der sich im Camp herumspricht. Seit ein paar Tagen bläst der Wind immer heftiger. Durch die Fenster sieht man, wie das Meer hohe Wellen schlägt und die Farbe wech-

seit. Aus dem Blau wird Schwarz. Selbst die Amerikaner wirken besorgt. Hubschrauber starten und landen, auf offener See kreuzen Kriegsschiffe. Nach und nach leert sich das Camp, bis nur noch ein paar amerikanische Wächter übrig sind. Die Offiziere sind alle geflüchtet. Was ist da los? Hamza, der islamische Militärgeistliche, erklärt es mir. Der Hurrikan »Isidor« nähert sich der Insel. Er droht alles auf seinem Weg hinwegzufegen. Captain Hamza ist erst seit kurzem in Guantanamo. Er ist muslimischer Afroamerikaner und trägt an seiner Uniform als dezentes Abzeichen seiner Funktion den goldenen Halbmond. Er hat sich rasch als guter Freund der Häftlinge erwiesen. Und jetzt, angesichts der Gefahr, die vom Meer her droht, ist er der Einzige, der uns zur Seite steht. Denn die Gefahr ist sehr real. Das Meer ist kaum zehn Meter von unseren Käfigen entfernt. Sollte eine Riesenwelle heranrollen oder die Brandung sich zu großen Brechern auftürmen, sind wir alle beim Teufel. Wir werden ersaufen wie die Ratten. Aber Hamza versucht, uns zu beruhigen. Sollte der Orkan direkt auf uns zusteuern, ist geplant, dass wir in eine Höhle im Berghang oberhalb der Bucht evakuiert werden. »Betet, dass es nicht dazu kommt«, sagt Hamza. »Denn wer weiß, wie lange ihr in dieser Höhle bleiben müsstet. Ohne Wasser, ohne Essen, ohne irgendwas.« Isidor hat uns verschont. Das Lagerleben geht wieder seinen gewohnten Gang. Ich spreche viel mit Hamza in einem Gemisch aus Englisch und Arabisch. Er erzählt mir, dass seine Frau am Tag nach dem 11. September verschleiert, wie üblich, durch die Straßen von New York ging. Und dass sich ein Typ auf sie stürzte, um ihr den Schleier abzureißen. Die Zunahme islamfeindlicher Äußerungen

in Amerika beunruhigt ihn. Das kann zu nichts Gutem führen, sagt er. Er denkt ernsthaft darüber nach, auszuwandern und sich in Saudi-Arabien niederzulassen. Hamza ist ein ehrlicher und leidenschaftlicher Mensch. Er wurde Soldat, um »der amerikanischen Nation und meiner Religion« nützlich zu sein. Das sind seine eigenen Worte. Er tut demnach, was er für richtig hält. Er versucht, das Los jedes Einzelnen von uns zu mildern, indem er Kleinigkeiten mitbringt. Denen, die unbedingt den Kopf bedecken wollen, bringt er Kappen mit. Er kämpft gegen die Verunglimpfung des Korans seitens der Soldaten. Seit meiner Ankunft ist es immer wieder zu sehr gewalttätigen Szenen gekommen. Jedes Mal nach demselben Muster: Ein Soldat durchsucht eine Zelle, nimmt den Koran, lässt ihn fallen oder schleudert ihn sogar zu Boden. Proteste, Geschrei, er wird mit Urin bespritzt oder mit Exkrementen beworfen - ein endloser Tumult ist die Folge. Das alles geschieht weder spontan noch zufällig. Nach Aussage des Militärgeistlichen sind es regelmäßig durchgeführte Maßnahmen, die die Armeeleitung anordnet, um den Kampfgeist der Häftlinge zu testen. Hamza protestiert und verlangt Respekt vor der Schrift. Vergeblich. Nicht lange danach scheidet er aus der Armee aus. Das üble Spiel um die angebliche Entlassung von Mourad ist beendet. Ich werde ans andere Ende des Lagers verlegt. Wie es der Zufall will, begegne ich dabei einem Franzosen, den ich seit Afghanistan nicht mehr gesehen habe. Wir unterhalten uns kurz. Er macht mir wieder Mut. »Lass den Kopf nicht hängen. Mach dir keine Sorgen. Wir beide sind bald in Paris und werden dort zusammen einen Kebab essen.« Das würde ich gerne glauben, aber es gelingt mir nicht. Einen Kebab essen, während man durch

die Straßen von Paris bummelt, was gibt es Normaleres? Das ist doch wirklich keine große Sache. Aber wenn man in einem Käfig in Guantanamo eingesperrt ist, ist es ein unerreichbarer Traum. Um mich zu überzeugen, erzählt mir der Franzose genau, wie alles ablaufen wird. Er kennt sich aus. Er ist 1998 schon einmal mit der Antiterrorismus-Abteilung der französischen Justiz aneinander geraten. Ihm wurde sogar eine Gefängnisstrafe von einem Jahr aufgebrummt. »Zuerst werden wir Bruguiere einen kleinen Besuch abstatten.« Der Name sagt mir nichts. Der Franzose klärt mich auf. Richter Bruguiere ist die Nummer eins unter den Untersuchungsrichtern der Antiterror-Abteilung im Pariser Justizpalast. »Wir werden das alles mit ihm regeln, und wenn wir eine Weile in den Knast müssen, dann gehen wir eben. Aber danach - nicht vergessen! Der Kebab.« Sein Gerede vom Kebab bringt mich immerhin zum Lächeln.

Kapitel 11

Durststrecke Der Ramadan und das Aid-Fest sind vorbei. Aus diesem Anlass bringen uns unsere Kerkermeister orientalische Süßigkeiten mit. Nett von ihnen. Dann beginnt ein neues Jahr. 2003. Die Tage schleppen sich dahin. Ab und zu werden wir von einem Block in den anderen verschoben. Aber es tut sich nicht mehr viel. Keine ausländischen Delegationen mehr, keine Besuche vom Roten Kreuz. Sogar der Strom der Briefe beginnt zu versiegen. Ich verlasse die Zelle nur noch zu Spaziergängen und seltenen Verhören. Ich habe den Eindruck, dass alles stillsteht. Der Militärgeistliche Hamza ist durch einen Libanesen ersetzt worden, der nach wenigen Wochen schon wieder abreist. Anfang Februar übernimmt Captain Youssef Yee, ein Amerikaner chinesischer Abstammung, den Posten. Aber er tut so gut wie nichts. Er verteilt ein paar religiöse Schriften in arabischer Schrift, und dabei bleibt es. Als sich die Häftlinge bei ihm beschweren, weil die Soldaten den Koran auch weiterhin schänden, hört er ihnen nicht einmal zu. Sehr schnell verliert er in den Augen der Gefangenen jede Glaubwürdigkeit. Monate später höre ich erstaunt, dass er wegen »Spionage und Verrat« verhaftet worden sei. Er soll im Besitz einer Namensliste der Häftlinge und eines Lagerplans gewesen sein.

In jenem Frühjahr 2003 verlieren wir jede Hoffnung und jede Perspektive. Vor der völligen Mutlosigkeit bewahrt uns nur die Solidarität unter den Gefangenen, die glücklicherweise jetzt voll zum Tragen kommt. Gegenseitige Unterstützung ist die Regel. Jeder kümmert sich um das Wohlergehen seines Nachbarn. Man achtet sehr auf plötzlich auftretende Anzeichen von Depressivität. Mehrere Gefangene haben Suizidversuche unternommen. Nicht alle waren vorgetäuscht. Also passen wir aufeinander auf. Auch in materieller Hinsicht gilt das Gebot des Teilens. Erfindungsreiche Häftlinge haben Methoden entwickelt, wie kleine Gegenstände von Käfig zu Käfig weitergereicht werden können. Manche schaffen es sogar, eine Hose, ein Handtuch oder selbst ein Bettlaken durch die Gitterstäbe hindurchzuzwängen. Es ist unglaublich. Manchmal liegen leere Käfige zwischen Häftlingen, die Kleinigkeiten austauschen wollen. Für diese Fälle haben die geschickten Bastler sich ein unfehlbares System ausgedacht. Sie ziehen Fäden aus den Betttüchern oder Kleidungsstücken und binden sie zusammen, sodass ein sehr langer Faden entsteht. Dann formen sie aus angefeuchtetem Toilettenpapier eine Kugel, in die sie das eine Ende des Fadens stecken. Für den Rest braucht man Geschicklichkeit und Geduld: Man muss die Kugel durch die Gitterstäbe der Trennwände bis in die nächste bewohnte Zelle werfen. Dann muss der Häftling nur noch den Faden holen und daran ziehen. In Guantanamo kann man Winter und Sommer nicht auseinander halten. Das Wetter ist immer schön. Nur durch die Wächter erfahren wir, dass wir mittlerweile August haben. Ich werde in einen Block verlegt, in dem sich vier Franzosen und ein Belgier namens Moussa be-

finden. Das unterbricht ein wenig die Monotonie. Diese Umgruppierung ist kein Zufall. Sie geschieht auf Anordnung unseres neuen Vernehmungsoffiziers, eines Amerikaners libanesischer Abstammung, der von nun an für uns sechs verantwortlich ist. Gleich seine ersten Worte lassen mich glauben, dass ich eine kleine Chance auf Entlassung habe. »Jetzt kümmere ich mich um euch. Wir erledigen, was noch zu tun ist, und danach werden wir mit eurer Regierung eine Vereinbarung treffen. Wir werden euch nach Hause zurückschicken.« Um mich zu beeindrucken, spricht er mich nur auf Arabisch an. Die Verhöre mit ihm verlaufen ruhig. Er bringt mir »cheese cake« mit, Käsekuchen, wie ihn die Amerikaner lieben, und Limonade. Begeistert stopfe ich mich voll. Das Problem bei diesem Mann ist, dass er sich viel erhofft, ich aber nicht viel zu bieten habe. Keine Enthüllungen, keine Geheimnisse, kein Organisationsschema einer terroristischen Vereinigung. »Aber das macht doch nichts, schon gut, wir reden einfach miteinander, ich stelle dir Fragen, mehr nicht. Zerbrich dir nicht den Kopf.« Na gut, einverstanden. Um mich zu ködern, erzählt mir der Offizier als Erstes von einem neuen Camp, das gerade eröffnet wurde, »Delta 4«. Als Gegenleistung für ein »kooperatives« Verhalten winkt ein Transfer, den er mir in den schönsten Farben ausmalt. Angeblich wird man in Delta 4 nicht mehr in Käfige gesperrt. Die Männer sind in Schlafsälen untergebracht, es gibt einen Sportplatz, man kann duschen, so oft man will. Delta 4 ist das Aushängeschild von Guantanamo. Jeden Mittwoch erhält eine Delegation die Erlaubnis, das Camp und auch das dahinter liegende Krankenhaus zu besuchen. Amerikanische Senatoren, Journalisten und Mitglieder von Menschenrechtsorganisationen können

hier Häftlinge besichtigen, die Fußball spielen oder auf dem Rasen miteinander plaudern. Bevor es zur Sache geht, erweist uns der Ermittler eine besondere Gunst. Er organisiert für uns in dem kleinen Raum, der als Verhörzimmer dient, eine Filmvorführung. Mit zwei anderen Franzosen dürfen wir sechs einen Dokumentarfilm aus den 70er Jahren über Ägypten sehen. Er ist ziemlich schlecht und langweilig. Aber als Einführung ins Thema nicht schlecht gewählt. Nur verschwindet dieser Ermittler ebenso plötzlich, wie er gekommen ist. Doch die Atmosphäre in den Blocks hat sich ohnehin verändert. Ein gewisses Misstrauen macht sich breit; die Jagd auf Spione ist eröffnet. Spione, das sind die Neuankömmlinge, die wir im Laufe des Jahres 2003 immer wieder anrücken sehen. Afghanen und Iraker, die die Amerikaner herbringen und mit uns einsperren. Aber sie sind weder Taliban noch Islamisten, sondern ganz gewöhnliche Kriminelle. Sie sind nur hier, um uns zu belauschen und zu berichten, was man sich so erzählt. Sehr schnell werden sie entlarvt. Zum einen tragen sie im Gegensatz zu allen anderen Häftlingen keine Bärte. Selbst ich hatte mir gleich bei meiner Ankunft in Afghanistan einen Bart wachsen lassen. Um mir peinliche Fragen zu ersparen, war es besser, wenn ich so aussah wie alle anderen. Hier gilt dasselbe. Als ich kam, war ich glatt rasiert. Kurz bevor wir Kandahar verließen, hatten die Amerikaner uns kahl geschoren. Alle hatten eine Glatze und kein einziges Haar mehr am Kinn. Seitdem lasse ich die Haare wieder wachsen. Nach einigen Wochen verstehen die afghanischen Spione endlich, dass sie sich auch nicht mehr rasieren dürfen. Doch das genügt nicht, um sie zu dem zu machen, was sie zu sein vorgeben - gute Muslime. Sie sind grob und vul-

gär. Sie werfen mit Flüchen um sich. Man kann beobachten, wie sie in den Blocks die Ohren spitzen und Fragen stellen. Und sie verbringen viel Zeit beim Verhör, wo sie Bericht erstatten. Seit sie entlarvt wurden, nehmen sich alle vor ihnen in Acht. Aber durch sie ist uns die einzige Freiheit, die wir noch haben - das Gespräch untereinander - auch verwehrt. Manche entwickeln Hassgefühle auf die Männer und drohen, dass sie ihnen den Hals umdrehen werden. Aber sie sind unerreichbar für uns. Abgesehen von einem Mal. Seit die Haftbedingungen etwas gelockert wurden, dürfen wir den Spaziergang paarweise antreten. So können wir im Gehen miteinander sprechen, was viel angenehmer ist. Eines Tages unterläuft den Wächtern ein Fehler. Sie schicken einen Häftling und einen Spion gemeinsam zum Spaziergang. Wären sie nicht rechtzeitig eingeschritten, hätte der Spion den Spaziergang nicht überlebt. Um ähnliche Vorfälle zu vermeiden, zieht die Lagerverwaltung nach und nach all ihre Spione aus den verschiedenen Blocks zurück, sobald es Schwierigkeiten mit ihnen gibt, und schickt sie in Camp 4. Ende 2003 befreit mich Eke ein wenig von meiner Langeweile. Er ist Amerikaner türkischer Abstammung und der neue Lagerbibliothekar. Er verteilt die wenigen Bücher, die das Rote Kreuz gebracht hat. Allerdings nur, wenn die Ermittler ihm grünes Licht geben. Denn auch die Bücher müssen von ihnen genehmigt werden. Nur die kooperativen Häftlinge dürfen etwas anderes lesen als den Koran. Aber Eke mit seinem guten Herzen tut sein Möglichstes. Ich bin ihm unendlich dankbar. Was die Lektüre angeht, so habe ich keine große Auswahl. Der Großteil der verfügbaren Bücher ist arabisch

oder englisch. Ich nehme also alles, was Eke anzubieten hat. Das Geheimnis des gelben Zimmers, ein Werk über die Kreuzzüge, das Guinness-Buch der Rekorde von 2002, ein Exemplar von France Football. Eines Tages schickt mir einer meiner besten Freunde aus Venissieux, der auch aus einer türkischen Familie stammt, einen Zeitungsausschnitt mit einem Foto, das am Tag nach der Teilnahme der Türkei am Halbfinale der Fußballweltmeisterschaft im Juli 2002 aufgenommen wurde. Auf dem Foto sieht man ihn an eine Statue gelehnt mit der türkischen Fahne in der Hand. Ich kann mir das Vergnügen nicht versagen, Eke das Foto zu zeigen und ihm zu erzählen, dass der abgebildete Junge einer meiner besten Freunde ist. Von diesem Tag an sieht Eke in mir einen Bruder. Wir unterhalten uns oft, und ich spüre, dass ihn meine Situation betroffen macht. Er gibt sich alle Mühe, meine Lage zu verbessern. Fast jeden Tag kommt er vorbei. Jedes Mal wenn er ein neues Buch in französischer Sprache erhält, bringt er es mir. Seine Fürsorge rührt mich und gibt mir großen Auftrieb. Eke ist ein sehr redlicher Mensch. Im Übrigen bin ich nicht der Einzige, dem seine Aufmerksamkeit zugute kommt. Er bemüht sich auf seine Weise, uns allen das Leben zu erleichtern, und das gefällt seinen Kollegen gar nicht. Eke wird später sogar verwarnt, weil er sich zu mitfühlend verhalten hat. Während dieser Zeit ändern die Amerikaner die allgemeinen Haftbestimmungen. Von nun an gibt es in ihrem System vier Stufen. Die Gefangenen der »Stufe 1« haben ein Anrecht auf dreißig Minuten Ausgang täglich, drei Duschen pro Woche, ein zusätzliches sauberes T-Shirt und einen kompletten Satz Waschutensilien. Die Insassen der

»Stufe 2« haben nur viermal pro Woche Ausgang, zwei Duschen pro Woche und einen kleineren Waschbeutel. Auf der »Stufe 3« sind es nur noch drei Spaziergänge und eine Dusche mit einem kleinen Stück Seife. Den Häftlingen der »Stufe 4« schließlich stehen nur zweimal fünfzehn Minuten Ausgang und eine Dusche wöchentlich zu. Man nimmt ihnen den orangefarbenen Anzug weg, und sie müssen in der Unterhose in einer leeren Zelle sitzen. Die Einstufung der Gefangenen ist abhängig vom Wohlwollen der Verhörspezialisten. Sie allein entscheiden auf Grund der Informationen, die sie erhalten. Für sie gilt nur eine Regel: Es gibt keine Regel. Wenn sie jemanden zum Sprechen bringen wollen, sind ihnen alle Mittel recht. Während ich Block Lima zugeteilt bin, muss ein Saudi diese bittere Erfahrung machen. Die Amerikaner halten ihn ganz offenkundig für wichtig. Sie fallen geradezu über ihn her. Sie hindern ihn am Schlafen, indem sie ihn alle fünfundvierzig Minuten in eine andere Zelle bringen. Häufig verbringt er drei oder vier Tage und Nächte ununterbrochen beim Verhör. Eines Abends erzählt er uns nach der Rückkehr von einer dieser Sitzungen, was er durchgemacht hat. Die Amerikaner haben ihn, wie er berichtet, an einem Stuhl festgebunden, ihm eine amerikanische Fahne über die eine Schulter drapiert, eine israelische Fahne über die andere, und vor seinen Augen den Koran zerrissen. Der ganze Block gerät in Aufruhr. Die Neuigkeit von dieser Schändung verbreitet sich wie ein Lauffeuer. Bald gärt es überall, und eine Revolte kündigt sich an. Manche Blocks geben die Losung »Hungerstreik« aus. Die Blocks Kilo und Lima predigen Widerstand gegen jede Art von Ausgang. Kein Spaziergang mehr, keine Duschen, nichts.

An diesem Punkt werde ich zum Verhör geholt. Diesmal will mir ein FBI-Mann ein Foto zeigen. »Kennst du den?« Nein. Nie gesehen. Der Typ fängt an, mir etwas über den Mann auf dem Foto zu erzählen. Er heißt Richard Reid, ist Engländer und hat versucht, am 22. Dezember 2001 in einer Maschine der Air France auf dem Flug Paris-Miami einen Sprengsatz zu zünden, den er in seiner Schuhsohle versteckt hatte. Er redet fast dreißig Minuten. Dann verschwindet er wortlos. Ich warte. Ich sage mir, dass er zurückkommen wird. Ich sitze da, an meinen Stuhl gefesselt, und werde vom Dienst habenden Gl bewacht. Die Stunden vergehen. Ein neuer Test? Ich kann es mir nur so erklären. Häftlinge haben berichtet, dass sie bis zu vierundzwanzig Stunden so dasitzen mussten, ohne dass jemand ein Wort mit ihnen gesprochen hat. Also warte ich. Die Nacht bricht an. Ich frage mich gerade, ob ich auf diesem Stuhl werde schlafen müssen, da holen mich die Wächter endlich ab. Zurück in den Block. Dort verstehe ich erst, dass etwas passiert sein muss. Als die Tür zum Block geöffnet wird, erblicke ich einen wahren Saustall. Überall Abfall, Urin, Exkremente. In meinem Käfig angekommen, frage ich meinen Nachbarn, was denn hier los war. Und er erzählt es mir. Kurz nachdem ich weg war, haben die Amerikaner beschlossen, den Block zu räumen. Das ist ihre Antwort auf den Streik. Sie holen alle heraus und verteilen sie auf andere Gebäude. Das ist ein mühsames Unternehmen, und währenddessen ist jede andere Bewegung im Lager vorübergehend eingestellt. Das erklärt meine lange Wartezeit im Verhörraum. Mit der Räumung eines Blocks ist die Eingreiftruppe der Armee fast drei Tage beschäftigt. Sie gehen bei jedem

Gefangenen exakt gleich vor. Zuerst besprühen sie den Häftling durch die Gitterstäbe hindurch großzügig mit Tränengas. Dann stürmen sie in die Zelle, werfen sich auf den armen Kerl, der kaum noch Luft bekommt, drücken ihn zu Boden und legen ihm Hand- und Fußfesseln an. Danach schleifen sie ihn nach draußen, während sie aus den Nachbarzellen mit allem Möglichen beworfen werden. Denn die ganze Operation spielt sich in einem wahren Hexenkessel ab. Draußen geht es dann gleich weiter. Die Soldaten spritzen den Häftling mit Wasser ab, damit das Gas abgewaschen wird, das seine Kleidung tränkt und ihm auf der Haut brennt. Schließlich scheren sie ihm grob den Kopf und den Bart mit einer Haarschneidemaschine. So. Dann muss man ihn nur noch in seine neue Zelle bringen und wieder von vorne beginnen. Die Prozedur wiederholt sich den ganzen Tag, und fängt am nächsten Morgen wieder an. Die GIs brauchen drei Tage, um Block Lima zu räumen. Da meine Zelle am hinteren Ende liegt, werden sie mich als einen der Letzten holen. Denn diesmal werden sie auch mich nicht ungeschoren davonkommen lassen. Eine Premiere. Bisher konnte ich mich diesen kollektiven Revolten immer entziehen und mich unauffällig am Rand halten. Auch wenn ich im Prinzip mit den Aktivisten solidarisch war, vermied ich es, direkt an ihren Aktionen teilzunehmen. Aber diesmal ist das unmöglich. Wer es wagt, sich über die ausgegebene Losung hinwegzusetzen und die Zelle zu verlassen, wird sofort ausgepfiffen. Dem Verräter drohen Beschimpfungen, und - was viel schlimmer ist - er wird von der Gemeinschaft der Mithäftlinge geächtet. Und das kann ich mir nicht erlauben. Um dem Druck der Haft standzuhalten, bin ich dringend auf die Unterstützung der

anderen Gefangenen angewiesen. Wenn ich zu niedergeschlagen bin, muss ich mit jemandem reden. Jemand muss mir zuhören und antworten. Das gilt natürlich auch, wenn ein Nachbar mich braucht. Sollte mir diese Hilfe abhanden kommen, bin ich geliefert. Die Wächter und Ermittler können mir nicht helfen. Selbst der sympathischste Wächter leistet seine acht Dienststunden ab, und dann ist er weg. Selbst der aufmerksamste Vernehmungsbeamte kommt einmal in der Woche und geht wieder. Bei den Gefangenen ist das anders. Wir verbringen Tag und Nacht miteinander ohne jede Intimsphäre im selben Raum. Wenn man auf die Toilette geht, riechen das die anderen. Selbst mit meinen Freundinnen habe ich so etwas nie erlebt. Ein gutes Einvernehmen ist da schlicht eine Frage des Überlebens. Während die Evakuierung läuft, versucht ein hoher Offizier, über die Rückkehr zum Normalbetrieb zu verhandeln. Er gibt zu, dass die Soldaten einen Fehler gemacht haben, er verspricht, dass so etwas nicht wieder vorkommen wird. Nichts zu machen. Die Häftlinge sind entschlossen, bis zum Ende durchzuhalten; sie wollen demonstrieren, dass sie sich eine solche Schändung nicht gefallen lassen. Ich kann also nur noch warten, bis auch ich an der Reihe bin und eins auf die Schnauze bekomme. Ein unerfreulicher Augenblick. Aber das ist nun mal der Preis, wenn man sich hoch erhobenen Hauptes vor seinen Mithäftlingen zeigen und ihr Vertrauen behalten will. Nach diesen Vorfällen stellen die Häftlinge eine Art »Gebührenordnung« auf, in der festgelegt wird, welche Vergeltungsmaßnahmen auf welches Fehlverhalten seitens der Soldaten folgen. Das System wird dem Sergeant erklärt, der die jeweils vier Soldaten befehligt, die jeden

Block bewachen. Es ist ganz einfach. »Ihr wollt einen ruhigen Tag? Dann vergesst uns und alles läuft glatt.« Wenn sie jedoch ihre Muskeln spielen lassen wollen, müssen sie wissen, was sie erwartet. Die Tarife sind einfach. Übergriffe auf einen Häftling, der betet, oder Schändung des Korans: eine Ladung Exkremente. Einen Häftling über den Boden schleifen, ihn schlagen oder misshandeln: eine Ladung Urin. Einen Häftling beleidigen: ein Schwall Wasser. Provokationen der Wächter während des gesamten Tages: Bewerfen des Mittelgangs mit Plastikabfällen wenige Minuten vor Dienstschluss. Die Militärs parieren den Angriff, indem sie die Gittertüren der Zellen mit Plastikplanen abdecken. Der Aufstand ist zu Ende. Wir sind aufgeteilt. Durch Glück oder Zufall sitzen die vier Franzosen und Moussa mit mir zusammen im Block Charlie. Aber der Kampf hat Spuren hinterlassen. Wie alle meine Kameraden empfinde ich bei jeder Begegnung mit unseren Kerkermeistern einen heftigen, hartnäckigen Groll. Um Dampf abzulassen, beschließen wir Französischsprachigen, bei den Verhören nicht mehr zu kooperieren. Der amerikanisch-libanesische Ermittler, der genau zu diesem Zeitpunkt seinen nächsten großen Auftritt hat, kann es nicht fassen. Er fällt aus allen Wolken. »Aber zwischen uns lief doch alles so gut. Ich bin nur anderthalb Monate weg, und schon wollt ihr nicht mehr reden.« Als ich ihm erkläre, was in der Zwischenzeit passiert ist und warum wir in Zukunft den Mund nicht mehr aufmachen werden, redet er mir gut zu. »Ich hatte ihnen gesagt, sie sollten aufpassen, aber sie haben nicht auf mich gehört. Wäre ich hier gewesen, wäre das alles nicht passiert.« Mit diesen schönen Worten schickt er mich in den Käfig zurück. Seine wahre Antwort trifft am Abend ein. Ich werde

in Block Mike verlegt, weit weg von den anderen Franzosen. Dort lässt er mich einige Tage schmoren, damit ich Zeit habe, meine Kameraden zu vermissen. Und dann werde ich wieder zum Verhör geholt. Der US-Libanese ist zuckersüß und versichert mir, wie sehr er das Geschehene bedauert. Wo wir zwei uns doch so gut verstanden haben. Ich sage ihm nur eines: »Wenn du willst, dass ich wieder mit dir rede, dann bring mich zu den Franzosen zurück.« Noch am selben Abend bin ich wieder in Block Charlie neben den Franzosen und Moussa. Die Verhöre gehen weiter. Routinefragen, ruhige Antworten. Dann ändert sich der Ton. Im Lauf der Sitzungen wird der Libanese immer fordernder. Was immer ich ihm erzähle, nichts genügt ihm. Er will mehr. Ständig setzt er mir mit Bemerkungen zu wie: »Hör mit dem Blödsinn auf, du weißt doch mehr.« Allmählich zehrt das an meinen Nerven. Die Lage spitzt sich zu, als er mich mit einem sehr plumpen Trick in die Falle locken will. Dabei beginnt das Verhör zunächst in bester Stimmung. Als ich komme, stehen Chips und Cola auf dem Tisch. Aber dann kippt die Atmosphäre. Er behauptet, der amerikanische Geheimdienst habe meinen Namen auf dem Computer eines gewissen Abu Zubaida gefunden, der angeblich ein führendes Mitglied von AI Qaida ist und in Pakistan verhaftet wurde. Gewöhnlich lügen die Ermittler geschickter. Der hier versteht nicht viel von seinem Metier. Er weiß nicht einmal, dass ich nie unter meinem richtigen Namen gereist bin, sondern unter dem falschen, der in meinem Pass stand. Ich mache mich ein bisschen über ihn lustig, indem ich sage, er hätte vielleicht erst meine Akte lesen sollen. Das gefällt ihm ganz und gar nicht. Er nimmt mir die Chips und die Cola weg. »Schluss, ich rede nicht mehr mit dir.«

Das trifft sich gut. Ich nämlich auch nicht, ich spreche doch nicht mit einem so plumpen Lügner. Sehr verärgert stürmt er hinaus. Die »Abkühlung« zwischen ihm und mir ist endgültig. Von jetzt an antworte ich ihm nicht mehr. Er versucht es immer wieder mit versöhnlichen Worten. Wochenlang lässt er mich kommen, um zu plaudern, mir Kleinigkeiten zu schenken oder Lesestoff mitzugeben. Zu diesem Zweck durchforstet er die französischen Internet-Seiten. Einmal gibt er mir einen Arabischkurs, einen 600-Seiten-Wälzer auf Französisch, den er auf der Website der Universität Medina gefunden hat. Ein andermal Informationen über Fußballspiele, dann Auszüge aus einem Roman von Marcel Pagnol. Ich bleibe hart. Keine Kollaboration mehr.

Kapitel 12

Endspiel Monate vergehen. Wieder ist ein Jahr vorüber, und ich bin immer noch da. Der US-Libanese reist ab. Sein Nachfolger, ein amerikanischer Offizier, ist etwas ruhiger und ausgeglichener. Ihm assistiert Abdel, ein marokkanischer Übersetzer, der perfekt Französisch spricht. Bei unserem ersten Gespräch erklärt mir der Amerikaner seine Spielregeln. Wenn alles gut geht, wenn wir mit meinem Fall vorankommen, wird er mich in Camp 4 verlegen lassen. Um mich zu motivieren, organisiert er für mich einige Tage später eine Besichtigung des Camps. Zwei der Franzosen, die ich kenne, sind schon da. Ich kann mit ihnen sprechen, etwas essen und die Einrichtungen besichtigen. Vier Gebäude stehen im Karree um einen Innenhof. Jedes Gebäude ist im Grunde nichts weiter als ein Schlafsaal mit zehn Betten und wird von einem Soldaten bewacht, der hinter einem Gitter postiert ist. Es gibt separate Waschräume und Toiletten. Und es gibt echte Duschen. Die Türen der Schlafsäle öffnen und schließen sich automatisch. Alle Mahlzeiten werden draußen eingenommen, auf einer Art Terrasse, die mit Tischen und Bänken ausgestattet ist. Als ich wieder zurück in meinen Block gehe, ermutigen mich die anderen. »Nizar, du musst unbedingt herkommen. Red mit ihnen, erzähl ihnen einfach noch

mal, was du schon gesagt hast, das reicht sicher.« Ich lasse mich nicht lange bitten. Nach dem Besuch geht es ins Kino. Der neue Vernehmer lässt mich mit zwei anderen Franzosen in den Videoraum holen. Diesmal steht die französische Version von Spiderman 1 auf dem Programm. Ich kann mich nicht satt sehen. Seit zwei Jahren habe ich nicht mehr gesehen, wie es im echten Leben zugeht, in der realen Welt mit Menschen, die durch die Straßen laufen, hupenden Autos, hübschen, lächelnden Frauen. Ich spüre meine wütende Gier nach Leben stärker denn je. Ein Verhör jagt das andere, und alle sind ergebnislos. Immer und immer wieder höre ich die Namen von Leuten, die ich nicht kenne, werde nach meiner Reise gefragt und muss mir Fotos ansehen. Um mir auf die Sprünge zu helfen, organisieren sie eine zweite Filmvorführung. Diesmal zeigen sie X-Men 1, eine Geschichte über Mutanten, die ich mit ebenso viel Begeisterung in mich aufsauge wie die über den Spinnenmann. Im Februar 2004 merke ich, dass die Dinge in Bewegung geraten. Zuerst bekomme ich unangekündigten Besuch. Im Verhörraum stehe ich vier Männern gegenüber. Franzosen. Kein Wort darüber, welcher Behörde sie angehören. Sie lassen mir die Ketten abnehmen, stellen mir Fragen über meine Gesundheit und ob ich klarkomme. Wir unterhalten uns. Ich sage ihnen, dass ich sie schon lange erwarte. »Weißt du, zwischen den Amerikanern und uns kommt es manchmal zu Scherereien. Aber jetzt sind wir hier. Das ist doch schon mal gut.« Ich bin misstrauisch. Was wollen die hier? Wenn sie mich nur noch mehr drangsalieren wollen, kann ich gut darauf verzichten. »Ganz und gar nicht, wir wollen uns nur ein Bild von deinen Haftbedingungen machen, sehen, ob alles in Ordnung

ist.« Nebenbei überbringen sie mir Nachrichten. »Deiner Familie geht es gut. Dein Bruder hat uns ganz schön auf Trab gebracht.« Mein Herz klopft schneller. Aymane. Du kämpfst noch für mich, mein Bruder. Das weiß ich wirklich zu schätzen. Denn in Venissieux war das Jahr 2003, wie ich später erfahren werde, ein schreckliches Jahr. Alles schien zum Stillstand gekommen. Es kam kaum noch Post, von offizieller Seite rührte sich nichts. Im Mai hatte der französische Justizminister Dominique Perben seinen amerikanischen Amtskollegen John Ashcroft in Paris empfangen und sich darauf beschränkt, ihn über die »Sorge« der Familien in Kenntnis zu setzen. Anders ausgedrückt: eine Pleite. Das Unterstützungskomitee hatte weitergekämpft und eine Demonstration vor der Zentrale von Interpol organisiert, um gegen Ashcrofts Besuch zu protestieren. Der Bürgermeister hatte an den Staatspräsidenten geschrieben und den Abgeordneten eine Petition überreicht. Meine Anwälte William Bourdon und Jacques Debray hatten in Frankreich Klage wegen »willkürlicher Haft« eingereicht. Aber nichts davon hatte echte Fortschritte erbracht. Stattdessen gab es harte Schläge zu verkraften. Wie an dem Tag, an dem der arabische Fernsehsender AI-Dschasira mitten in dieser düsteren Phase verkündet hatte, die Amerikaner würden in Guantanamo Exekutionskammern bauen. Daraufhin hatte meine Mutter stundenlang geweint. Bei mir zu Hause herrschte bedrücktes Schweigen. Wenn sich die Familie zum Abendessen um den Tisch versammelte, blieb gegenüber meinem Vater ein Stuhl demonstrativ frei. Mein Platz. Als hartnäckige Erinnerung an meine Abwesenheit. Niemand wagte es, sich dort hinzusetzen, auch Besucher ließen ihn frei. Sogar mein Bruder Aymane, der Kämpfe-

rischste von uns, hatte angefangen, an meiner Rückkehr zu zweifeln. Vielleicht wäre es im Grunde besser, sagte er sich, wenn ich endgültig von der Bildfläche verschwände. Wenn man sich ein für alle Mal sagen würde: »Nizar wird nicht zurückkommen. Er ist in Guantanamo gestorben.« Das wäre für alle am einfachsten. Wenigstens könnten meine Eltern dann trauern. Aber er hatte dennoch nicht aufgegeben. Er hatte weiter an Türen geklopft und geklingelt. Dank der Unterstützung des Bürgermeisters von Venissieux, der ihm seinen Wagen und seinen Chauffeur zur Verfügung gestellt hatte, war er nach Genf gefahren. Er hatte Vertreter des Internationalen Roten Kreuzes getroffen. Er war ohne die geringste Information und Hoffnung und sehr verbittert zurückgekehrt. Deshalb war Aymane explodiert, als er mit einer Delegation des Kollektivs im Januar 2004 vom französischen Außenminister empfangen wurde. Denn die Leute redeten unentwegt von all dem, was sie unternehmen wollten. Nie von dem, was sie schon getan hatten. Weil sie nämlich gar nichts getan hatten. Sie erläuterten auch den Grund für diese Untätigkeit: In den vergangenen achtzehn Monaten hatten die französischen Behörden in meiner Vergangenheit nach einer kriminellen Vorgeschichte gesucht - ein Vorwand, der ihnen erlaubt hätte, meine Auslieferung zu fordern. Und sie hatten nichts gefunden. Aymane war aus der Haut gefahren. »Was hätte er den anstellen sollen? Bomben legen?« Er war aufgesprungen, hatte den Stuhl gegen die Wand geschleudert und war auf die Anwälte und die Familien der anderen losgegangen. »Die anderen sind mir scheißegal, eure Klienten, eure Brüder. Die gehen mich nichts an. Jedem seine eigene Scheiße. Ich rede nur von meinem Bruder und sonst von gar nichts.« In seinen Worten lag viel Wut. Aber nicht nur. Auch Vorsicht. Aymane wusste, dass die Akten der ande-

ren Gefangenen nicht unbedingt lupenrein waren. Es war wichtig, dass er uns von ihnen, ihren Überzeugungen und ihren Taten abgrenzte. Darin lagen seine Glaubwürdigkeit und seine Stärke. Einige Tage später war Aymane mit einer Gruppe nach London unterwegs, wo auf Initiative der englischen Schauspieler Vanessa und Corin Redgrave die Menschenrechtsorganisation Guantanamo Human Rights Commission gegründet wurde. Meine französischen Besucher erzählen mir das alles nicht im Detail. Nur in groben Zügen. Das Wesentliche. Mir genügt das. Ansonsten verläuft das Treffen mit der Delegation sehr korrekt. Man nennt mir die einzelnen Punkte meiner Route seit meiner Abreise aus Venissieux am 21. Juni 2001. Ich bestätige alles wie gewünscht. Das ist unproblematisch, denn ihre Unterlagen stützen sich auf die Angaben, die ich 2002 gegenüber dem ersten französischen Team gemacht habe. Als die Formalitäten vorüber sind, sprechen wir über Fußball, über den Verein Olympique Lyon, der sehr erfolgreich ist, über ein Flugzeug, das in Ägypten abgestürzt ist. Sie schlagen mir vor, ein paar Zeilen an meine Eltern zu schreiben, was ich an einer Ecke des Tisches tue. Dann ist die Unterhaltung beendet. Die Franzosen haben mir nichts versprochen. Sie haben mir nur zu verstehen gegeben, dass sie sich für mich einsetzen werden. Daran will ich gern glauben. Aber auch sonst bewegt sich etwas. Ich werde von einer neuen Person befragt. Sie heißt Natasha und ist eine sehr hübsche amerikanische Soldatin russischer Abstammung. Das Problem ist ihre Übersetzerin. Die Frau spricht so schlecht Französisch, dass ich darum bitte, auf eine Übersetzung zu verzichten. Lieber behelfe ich mir mit meinem rudimentären Englisch.

Bei Natasha ändert sich die Art der Fragen. Bisher hat man immer wissen wollen, ob ich diesen oder jenen kenne, und mir eine Menge Namen genannt, die ich noch nie gehört hatte. Natasha nennt mir die Namen von Franzosen, sie spricht von Leuten aus meiner Nachbarschaft. Sie erzählt mir viel über Mourads Bruder und seine Aktivitäten. Sie fragt mich nach verschiedenen Gruppierungen in Lyon. Ich spüre, dass die Amerikaner und die Franzosen diesmal zusammenarbeiten. Während ich mit Natasha debattiere, wird Slimane, der Däne, aus Guantanamo entlassen. Ich war ihm vor einiger Zeit noch einmal begegnet, als ich Camp 4 besichtigen durfte. Er ist der erste europäische Häftling, der rauskommt. Ich kann nicht umhin, darin ein positives Zeichen zu sehen. Dann verlassen einige Tage später ein Spanier, dann mehrere Russen und sechs Engländer die Insel. An mir nagt die Ungeduld. Ich bedränge die Leute vom Roten Kreuz, so oft ich sie sehe, mit der Frage, was draußen passiert, ob sie über die Verhandlungen mit Frankreich auf dem Laufenden sind. Ich erhalte nur vorsichtige Antworten. Niemand weiß etwas. Natasha bestätigt das. Ihrer Ansicht nach ist offiziell nichts bekannt. Tröstlicherweise verlegt man mich in einen anderen Block neben meinen Kumpel Mourad und Moussa, den Belgier. Wir drei dürfen uns noch einmal einen Film anschauen. Diesmal X-Men 2, die Fortsetzung von X-Men 1. Ich bin noch keine Woche im neuen Block, als sich mehrere GIs vor meiner Zelle postieren. »Camp 4.« Ich verabschiede mich von meinen Schicksalsgenossen und ziehe los. Es ist Mai 2004. Der schöne Monat Mai. Schwer zu beschreiben, was ich in diesem Moment empfinde. Ich habe über zwei Jahre in einem Käfig von 1,80 auf 2 Meter verbracht. Ich werde atmen können, ohne Ei-

sen an den Füßen laufen, die Berge sehen, das Meer, Menschen berühren, mit einem Ball spielen. Es ist einer der schönsten Tage meines Lebens. Die anderen Häftlinge bereiten mir einen herzlichen Empfang. Ich ziehe die weiße Kleidung an, man zeigt mir das Bett, das für mich neben einem der beiden Franzosen reserviert ist. Ein echtes Bett, sogar mit Kopfkissen. Es geht mir gut. Immer mehr gute Neuigkeiten treffen ein. Der Rot-KreuzVertreter erzählt mir, dass mein Bruder vor einigen Wochen in Washington war und vom Bürgermeister und einem Senator empfangen wurde und dass sein Besuch in den großen Tageszeitungen Schlagzeilen gemacht hat. Noch nie war ich so sehr von meiner baldigen Freilassung überzeugt. In Guantanamo hatten sich alle gehütet, mit mir über dieses Ereignis zu sprechen. Während ich in meinem Käfig dahinvegetierte, wurde Aymane in der Hauptstadt der Vereinigten Staaten im Kapitol empfangen und beklagte sich über die ungerechte Behandlung, die mir widerfuhr. Die Reise war von der American Civil Liberties Union (ACLU) organisiert und vollständig finanziert worden, einer Vereinigung, die 1920 zum Schutz der Bürgerrechte gegründet worden war und heute über vierhunderttausend Mitglieder zählt. Die Delegation war Anfang März 2004 in die USA geflogen. Sie bestand aus Angehörigen der europäischen Häftlinge, Rechtsanwälten und Mitgliedern der Guantanamo Human Rights Commission. Aus Lyon waren drei Mitglieder des Unterstützungskollektivs dabei, darunter meine engen Freunde Greg und Zoubir, unsere Anwälte Jacques Debray und William Bourdon und der Bürgermeister von Venissieux, Andre Gerin. Der Besuch hatte enormes Aufsehen erregt. Um die

hundert Journalisten und TV-Sender aus der ganzen Welt hatten die Ereignisse verfolgt. Sie hatten mit einer Pressekonferenz vor dem Obersten Gerichtshof begonnen, dann war die Delegation zur presbyterianischen Kirche gefahren, wo ein Priester, ein Pfarrer, ein Rabbiner und ein Imam gemeinsam einen interreligiösen Gottesdienst abhielten. Aymane war ans Pult gegangen, um die kleine Rede zu halten, die er vorbereitet hatte. Von seinen Gefühlen überwältigt, hatte er schließlich den Übersetzer seinen Text vorlesen lassen. Hunderte Unbekannter hatten ihn in die Arme geschlossen, ihm kleine Geschenke gegeben und ihm Grüße an meine Eltern aufgetragen. Sie hatten auch vor dem Weißen Haus eine Pressekonferenz abgehalten. Und schließlich hatten sie den UNOHochkommissar getroffen. Dann war die Delegation ins Kapitol weitergezogen, um mit den gewählten Vertretern des amerikanischen Volkes zu sprechen. Aymane hatte die Gelegenheit zu einem Gespräch mit dem republikanischen Senator Lindsay Graham bekommen. Der Abgeordnete von South Carolina hatte ihn mit einfachen Worten aufgefordert: »Erzähl mir von deinem Bruder.« Aymane hatte ein paar Fotos aus der Tasche gezogen, auf denen wir lachend, voller Unbekümmertheit und Lebensfreude gemeinsam posierten. Mit Hilfe eines Dolmetschers hatte er von dem fleißigen und empfindsamen jungen Mann gesprochen, der schöne Autos und Frauen mochte. Von Zeit zu Zeit hatte der Senator eine Frage gestellt oder eine Präzisierung verlangt. Zum Schluss hatte er Aymane direkt in die Augen geblickt: »Bist du dir dessen ganz sicher?« Aymane hatte dem Blick des Mannes standgehalten, der einen tief bewegten und grundehrlichen Eindruck auf ihn machte. Dann hatte er geantwortet, er sei nicht Tausende von Ki-

lometern gereist, um ihm Lügen aufzutischen. Der Senator hatte erwidert: »Ich verspreche euch nichts. Aber ich werde das Menschenmögliche versuchen.« Die Reise hatte Aymane viel bedeutet. Sie hatte ihm auf einmal ein anderes Bild von Amerika vermittelt. Er war tiefer Menschlichkeit begegnet, Amerikaner hatten sich im Namen ihres Landes bei ihm entschuldigt. Menschen, die nicht über die Hintergründe urteilen wollten, da sie sich dazu nicht im Stande sahen. Sie fanden, dass die Menschen, die in Guantanamo eingesperrt waren, dort nicht sein sollten - unabhängig davon, was sie getan hatten. Aymane war sich drei Tage lang wie in einem Monumentalfilm vorgekommen. Von Washington waren sie nach New York weitergereist. Stretch-Limousinen, Suiten auf der Fifth Avenue, Gespräche mit den vielen engagierten Menschen dieser Stadt, Empfänge. Als er zurückgekommen war, hatte er sich gesagt: »Undenkbar, dass es jetzt nicht vorwärts geht.« Im Camp brodelt die Gerüchteküche immer heftiger. Die Vernehmungsbeamten sprechen mit Häftlingen, die die Botschaft weiterleiten. Mit Frankreich werden geheime Verhandlungen geführt. Ich gebe mir alle Mühe, nicht daran zu glauben. Ich weiß, wozu unsere Kerkermeister fähig sind. Ich habe mehr als einmal erlebt, wie sie ihr böses Spiel mit einem Gefangenen getrieben haben, um seinen Willen zu brechen. Sie holen ihn, geben ihm Zivilkleidung, lassen ihn durch den Block gehen, damit er sich verabschieden kann, als würde er tatsächlich freigelassen. Sie bringen ihn zur Startbahn bis ans Flugzeug. Und dort sagen sie ihm: »So ein Pech, ein Papier fehlt dir noch.« Und der Mann sieht zu, wie die anderen einsteigen, und wird wieder in sein Loch gebracht.

Ich glaube erst an meine Freilassung, wenn ich im Flugzeug sitze und wir gestartet sind. Das wiederhole ich mir immer und immer wieder, damit ich nicht durchdrehe. Dabei würde ich verdammt gerne daran glauben. Vor allem als die Leute von der Kleiderausgabe meine Maße nehmen und ich zur ärztlichen Untersuchung geholt werde - Maßnahmen, die den Freigelassenen vorbehalten sind. Am Morgen des 26. Juli 2004 vergesse ich alle Vorsicht und lasse meiner Freude freien Lauf. Sie sind da. Eine Gruppe amerikanischer Offiziere mit ihren Kameras. »You are going home.« Um das zu verstehen, brauche ich keinen Übersetzer. Sie strecken mir ein Blatt Papier entgegen, eine Art Vertrag, durch den ich mich verpflichte, die Vereinigten Staaten nicht anzugreifen. Ich muss unterschreiben, wenn ich rauswill? Ich unterschreibe. Zum Lesen habe ich keine Zeit. Und es ist mir auch ganz egal. Um hier rauszukommen, würde ich auch schwören, dass ich der Weihnachtsmann bin. Ich bekomme eine viel zu große Jeans, ein Paar Turnschuhe Größe 49 und einen ausgebeulten Pulli. Auch ein Reisenecessaire mit einem gut gefüllten Waschbeutel steht mir zu. Als letzte Formalität zeichnet eine Soldatin den Klang meiner Stimme auf. Eine Runde durch den Block, Abschied von den anderen Häftlingen, und hopp, in den Bus. Auf der letzten Reise gibt es keine Fußfesseln und Handschellen mehr. Ein einfacher Plastikriemen wird um die Handgelenke geschlungen. Wir sind zu viert: Mourad, ich und zwei andere Franzosen. Vom Camp bis zum Flugplatz sehen wir nichts. Die Busfenster sind mit Alufolie verkleidet. Die Fahrt dauert eine Weile, und unterwegs muss der Fahrer einige Male rangieren. Anscheinend fährt der Bus auf eine Fähre, die einen Meeresarm überquert. Schließlich hält der Bus, und der Motor wird abgestellt.

Wir warten lange, vielleicht eine Stunde. Währenddessen plaudern wir mit den Soldaten, die uns begleiten. Dann öffnen sich die Türen. Ein Mann steigt ein: »Guten Tag. Ich bin der Arzt des französischen Roten Kreuzes. Ich werde Sie jetzt abhören.« Abtasten, Stethoskop, Blutdruckmessung. Alles in Ordnung mit uns. Wir dürfen aussteigen. Ein paar Schritte über den Asphalt, dann steigen wir in den Lastwagen des Internationalen Rot-Kreuz-Komitees. Innen fragt uns jemand, ob etwas dagegen spricht, dass wir nach Frankreich zurückkehren. Ich wüsste nicht, was. Die Bahn ist frei. Beim Aussteigen aus dem Lastwagen zwickt ein amerikanischer Soldat mit einer kleinen Zange das Plastikarmband von meinen Handgelenken ab. Zwei französische Polizeibeamte in Zivil stellen sich neben mich und nehmen mich am Arm. »Guten Tag, Monsieur Sassi. Wir sind hier, um Sie nach Frankreich zurückzubegleiten.« Aha. Ich habe den Besitzer gewechselt. Im Flugzeug stellt sich mir ein Beamter des Außenministeriums vor und gibt mir einige Erläuterungen zur Reise. »Diese Herren sind zu Ihrer Begleitung hier. Wenn Sie zur Toilette gehen wollen, fragen Sie. Wenn Sie etwas essen wollen, fragen Sie. Wenn Sie das geringste Unbehagen verspüren, fragen Sie. Wir fliegen nach Paris.« Der Flug verläuft ereignislos. Ich denke an meine Familie, die mich erwartet, an meine Freundin. Seit dreißig Monaten habe ich keine Frau mehr berührt. Jede Minute bringt mich meinem Zuhause, meinem Viertel, meinem Leben näher. Die Maschine verliert an Höhe. Französischer Boden nähert sich. Eine kleine Erschütterung. Wir haben den 27. Juli 2004. Ich bin auf dem Militärflughafen Evreux gelandet.

Kapitel 13

Gefängnis, Freiheit Als ich aus dem Flugzeug aussteige, erblicke ich am Fuß der Gangway um die fünfzig Personen. Ausschließlich Polizisten, die ein Gesicht machen, als würden sie Furcht erregende Ungeheuer erwarten. Immer noch von meinen vier Schutzengeln umringt, betrete ich die Rollbahn. Ein Polizeibeamter tritt auf mich zu. »Monsieur Sassi, Sie befinden sich in Polizeigewahrsam wegen Zugehörigkeit zu einer kriminellen Vereinigung im Zusammenhang mit einer terroristischen Handlung.« Nach einer kurzen ärztlichen Untersuchung werden mir die Hände auf den Rücken gefesselt, und ich werde in einen Renault Scenic gesetzt. Meine Kameraden werden auf andere Fahrzeuge verteilt. Der Konvoi setzt sich in Bewegung, begleitet von einer Motorradeskorte der Gendarmerie, die die Presse auf Distanz halten soll. Denn vor der Ausfahrt der Luftwaffenbasis wartet eine Journalistenmeute. Sobald der Konvoi auf die Route Nationale eingebogen ist, schwärmen Motorräder der Presse aus und versuchen, uns möglichst nahe zu kommen, damit die Fotografen auf den Rücksitzen Aufnahmen machen können. Die Gendarmen versuchen sie davon abzuhalten, was nicht ganz ungefährlich ist, und die Polizisten neben mir legen mir eine Lederjacke über den Kopf. Weil er zu sehr mit dem Katz-und-Maus-Spiel mit der

Presse beschäftigt ist, hat der Chauffeur vergessen, das Autoradio abzustellen. Und so erfahre ich, welches Thema Frankreich an diesem schönen Julitag brennend interessiert: die Hochzeit zweier Homosexueller in Begles. Kurz darauf gibt der Sprecher die Rückkehr von vier Franzosen aus Guantanamo bekannt und stellt einem Antiterror-Experten dazu ein paar Fragen: »Wozu ist es Ihrer Meinung nach gut, diese Personen in Polizeigewahrsam zu nehmen?« »Das dürfte uns dabei helfen, wichtige Informationen zu erhalten.« Klick. Gerade, wo es interessant wird. Aber der Polizist auf dem Beifahrersitz hat begriffen und ganz schnell das Radio ausgeschaltet. Den eigentlichen Schock bekomme ich, als wir in die Hauptstadt fahren. Es ist früher Nachmittag, und ich weiß nicht, wohin ich zuerst schauen soll. Alles fasziniert mich - die belebten Straßen, die sonnigen Cafeterrassen voller Menschen, die Geschäfte. Das Staunen hat ein Ende, als wir ins Untergeschoss eines Gebäudes in der Rue Lauriston im 16. Arrondissement eintauchen, wo sich eine der Abteilungen der DST, des französischen Inlandsnachrichtendienstes, befindet. Nach einer vorschriftsmäßigen Leibesvisitation werden mir meine Schnürsenkel abgenommen, und ich sitze wieder in einer Zelle. Aber ich bin die Ruhe selbst. Ich bin in Frankreich, nichts jagt mir mehr Angst ein. Nicht einmal das Gefängnis. Habe ich nicht oft genug davon geträumt, als ich noch in Guantanamo saß? Dort war ich ein Nichts. Ich wusste nicht, was man mir wirklich vorwarf, ich wusste nicht, ob ich eines Tages vor einem Richter stehen würde. Es gab weder Anfang noch Ende. Hier weiß ich, dass ich mit einem Richter reden, einen Rechts-

anwalt hinzuziehen, meine Rechte geltend machen kann. Ich weiß, es klingt bizarr, aber für mich ist das französische Gefängnis die Freiheit. So weit bin ich mit meinen Gedanken gekommen, als die Polizisten mich zur ersten Vernehmung abholen. In dem Raum befinden sich zwei Männer, ein großer Kahler und ein kleiner Nervöser. Wir beginnen mit den üblichen Fragen nach dem Personenstand - Name, Vorname, Adresse, nichts Neues. Inzwischen kenne ich meinen Stammbaum in- und auswendig. Dann dringen die beiden Beamten allmählich zum Kern der Sache vor. Sie zeichnen meine Reiseroute nach, und wir sprechen über die Leute, denen ich begegnet bin. Alles in bestem Einvernehmen. Nach mehreren Stunden finden die beiden Polizeibeamten, es sei Zeit für eine Pause. Man führt mich in die Zelle zurück. Ich schlafe ein. Es ist schon lange Nacht, als ich wieder geweckt werde. Zurück in den Verhörraum zur nächsten Runde mit zwei anderen Polizeibeamten. Zwei Tage und zwei Nächte wechseln sich die Polizeiinspektoren bei der Befragung ab. Ich pendle zwischen meiner Zelle und ihren Büros. Dazwischen werde ich gut behandelt, ich bekommen Essen, die Ruhezeiten werden eingehalten. Die Polizisten wissen, wo ich herkomme und was ich durchgemacht habe. Sie nehmen besondere Rücksicht auf mich. Nach achtundvierzig Stunden stattet mir Untersuchungsrichter Ricard, der für die Pariser Antiterror-Abteilung meinen Fall bearbeitet, einen kleinen Besuch ab. Der Gute macht ein verkniffenes Gesicht und wirkt ziemlich frostig. Kein Zweifel, er ist alles andere als zufrieden. »So geht das nicht, wir müssen besser vorankommen.« Der Zorn des Richters ist nicht vorgetäuscht. Er hat alle

meine Vernehmungsprotokolle, die ihm die Polizeibeamten gefaxt haben, nacheinander sorgfältig studiert. Er hat meine Antworten genau unter die Lupe genommen. Es hat nicht lange gedauert, bis er feststellte, dass an meinen Aussagen einiges nicht stimmen kann. Dabei habe ich immer nur das wiederholt, was ich den amerikanischen Verhörspezialisten in den vergangenen dreißig Monaten erzählt habe. Doch genau da liegt das Problem. Denn in Guantanamo hatte ich nur eine Möglichkeit - denen, die mich jeweils verhörten, zu gefallen. Sonst drohte mir die Folter. Also ließ ich mich nicht lange bitten. Ich habe ihnen dreißig Monate lang fleißig nach dem Mund geredet. Wenn ein Offizier hören wollte, der Himmel sei grün und nicht blau, dann war das für mich kein Problem. Und so hatte ich es zugelassen, dass sie zu meiner ursprünglichen Aussage tausend kleine Details hinzufügten, von denen sich einige gegenseitig widersprachen. Wenn einer von ihnen wollte, dass ich zwei Stunden an einem Taxistand gewartet hatte, während ein anderer mich lieber in einer Hotelhalle warten sah - was machte das schon aus? Nichts. Also stimmte ich beiden zu. Letzten Endes weiß ich selbst nicht mehr so genau, was stimmt und was nicht. Durch die Wiederholung sind die Lügen in meinem Kopf zu Wahrheiten geworden. Alles hat sich vermischt. Ich bin unfähig, einen zusammenhängenden, stimmigen Bericht über die Zeit zwischen meiner Abreise am 21. Juni 2001 und meiner Verhaftung in Pakistan sechs Monate später zu geben. Es dauert eine Weile, bis mir das aufgegangen ist. Dem Richter geht es ebenso. Vorläufig sieht er nur die Ungereimtheiten. Dann kehrt er in den Justizpalast zurück. Ich komme nicht mehr mit. Die Polizeibeamten tragen zu meiner Verwirrung bei: Die einen verkünden mir, dass ich

drei Jahre hinter Gittern verbringen werde, die anderen, dass ich bald freikomme. Nach zweiundsiebzig Stunden in Polizeigewahrsam hat man laut Antiterror-Gesetz das Recht, mit einem Anwalt zu sprechen. Maitre Jacques Debray, mein Verteidiger aus Lyon, kommt mich besuchen. Er kämpft seit über zwei Jahren für mich, aber jetzt sehe ich ihn zum ersten Mal. Ich bin glücklich. Er bringt Neuigkeiten von meiner Familie, grüßt mich von meinen Geschwistern und erklärt mir, dass ich auf keinen Fall mehr ins Gefängnis gehen werde. Sein Optimismus gefällt mir sehr. So sehr, dass ich ihm nicht zu widersprechen wage. Denn seit dem Besuch des Richters weiß ich, dass ich diesen Ort nicht als freier Mann verlassen werde. Die Vernehmungen gehen weiter. Der Richter hat Ansprüche. Die Polizeibeamten wissen sehr wohl, dass ich weder ein Bombenleger noch ein gefährlicher Aktivist bin. Das geben sie mir zu verstehen. Aber sie müssen unbedingt etwas finden, was die Eröffnung eines Ermittlungsverfahrens wegen Zugehörigkeit zu einer kriminellen Vereinigung rechtfertigt. Und sie suchen fleißig. Um des lieben Friedens willen gebe ich ihnen am Ende, was sie wollen. Ja, ich bin bestimmten Leuten begegnet. Ja, ich war in einem Trainingscamp. Endlich haben sie es schwarz auf weiß, und meine Unterschrift steht unten auf dem Blatt. Ihre Mission ist beendet. Ich spüre allseits eine große Erleichterung. Die Spannung der vorangegangenen Stunden lässt nach. Es ist an der Zeit, dass ich dem Richter vorgeführt werde. Es ist Nacht, als der Konvoi die Rue Lauriston verlässt. Das ist nicht der einzige Unterschied zu unserer Ankunft. Diesmal werden alle Register gezogen. Meine Ex-Mitge-

fangenen und ich werden von Polizisten in schwarzen Kampfanzügen und mit Masken über dem Gesicht in Empfang genommen. Sie setzen uns in vier Fahrzeuge, vor und hinter uns fahren Wagen mit heruntergedrehten Fenstern, aus denen Gewehrläufe ragen. Eine Motorradeskorte rundet das Bild ab. Während wir durch die Straßen rollen, betrachte ich noch einmal das wogende Leben da draußen. Es ist warm, Paare trinken auf den Cafeterrassen ein letztes Glas, andere schlendern Arm in Arm langsam nach Hause. Alle sehen uns nach, als wir vorbeifahren, beeindruckt von dem blinkenden Blaulicht, den Sirenen, dieser Demonstration von Stärke. Ich bin sicher, dass sie uns in der nächsten Sekunde schon wieder vergessen haben. Im Justizpalast werden wir in die Arrestzellen gebracht, die im Untergeschoss liegen. Dort erlebe ich noch einmal, was ich glaubte nie mehr erleben zu müssen. Wieder muss ich mich nackt ausziehen, mich vorbeugen, mich demütigen lassen. Am nächsten Vormittag eskortieren mich zwei Polizisten ins Dienstzimmer von Richter Ricard. Meine Anwälte erwarten mich vor der Tür. Ich erkenne Jacques Debray und lerne William Bourdon und Ciaire Chaillot kennen, die ebenfalls meine Verteidigung übernommen haben. Wie zu erwarten eröffnet mir der Richter, dass gegen mich ermittelt wird und er einen Haftbefehl beantragt hat. Natürlich legen die Anwälte Widerspruch ein. Nun muss der Haftrichter entscheiden. Während wir daraufwarten, dass dieser uns empfängt, stellt mich William Bourdon vor die Wahl. Wir können die Sache vorläufig fallen lassen und die Inhaftierung akzeptieren. Es scheint ohnehin darauf hinauszulaufen. Bei einem der anderen ausgelieferten Franzosen ist es kürzlich so entschieden worden. Oder wir kön-

nen, erklärt der Anwalt, alles auf eine Karte setzen. »Der Richter ist ein Mensch, und einen Menschen kann man anrühren.« Ich setze auf Risiko. Wir treten ein. Die Diskussion beginnt mit einem Vortrag des Staatsanwalts. Ein wahres Massaker. Er nennt mich einen Terroristen, einen Fundamentalisten, bezichtigt mich der Zugehörigkeit zu einem internationalen Netzwerk. Nicht einmal die Amerikaner haben das behauptet. Er drückt mir den Kopf mit aller Kraft unter Wasser. Ich habe Mühe, den Schlag zu verkraften. Meine Anwälte kämpfen wie die Löwen gegen diese Offensive. Auch ich melde mich kurz zu Wort, um die Leute daran zu erinnern, von wo ich gerade zurückkomme. Der Richter zieht sich zurück, um einen Beschluss zu fassen. Wir gehen hinaus. Mein Schicksal entscheidet sich hinter dieser Tür, im Büro dieses Mannes, der nur wenige Minuten Zeit hatte, sich ein Bild von mir zu machen. Wie gesagt, vor dem Gefängnis fürchte ich mich nicht. Vielleicht wünsche ich es mir sogar. Nach der langen Zeit in der Hölle von Guantanamo ist die Vorstellung, einige Zeit in einer Art »Dekompressionskammer« zu verbringen, bevor ich mich wieder in die Welt begebe, gar nicht so übel. Ich muss wieder lernen, mit anderen zusammenzuleben. Deshalb bin ich hin- und hergerissen. Ich bin sicher, dass mir ein Gefängnisaufenthalt gut tun wird. Aber gleichzeitig möchte ich unbedingt nach draußen. Vor allem, seit Jacques Debray mir gesagt hat, dass draußen meine Freunde warten. Ungefähr zwanzig stehen auf dem Gehweg gegenüber dem Justizpalast, und noch viel zahlreicher sind die Journalisten, die den Ausgang des Termins erwarten. Alle haben sich um meinen Bruder Aymane geschart, der treu auf seinem Posten ausharrt.

Er war es auch, den man als Ersten über meine Rückkehr informiert hatte. Am 26. Juli nachmittags bekam er einen Anruf von Jacques Debray. »Dein Bruder kommt morgen. Sag es niemandem.« Das hat er nicht geschafft. Seit meiner Abreise hatte er meiner Mutter so viele schlechte Nachrichten beibringen müssen, dass er sich eines geschworen hatte: Er würde ihr als Erster die gute Nachricht überbringen, und zwar gleich am selben Tag. Und jetzt war es so weit. Er ging ins Nebenzimmer. »Mama, was würde dir in diesem Augenblick am meisten Freude machen?« »Meinen Sohn wiederzusehen.« »Gut, Mama, er kommt morgen zurück.« Danach hatte er die Freunde zusammengetrommelt. Das Kollektiv organisierte ein gigantisches Barbecue für das ganze Viertel und die vielen, die sich engagiert hatten. Sie feierten bis tief in die Nacht. Auch bei meinen Eltern zu Hause herrschte helle Aufregung. Meine Mutter war dabei, die Schränke zu durchwühlen und meine Sachen zusammenzusuchen, selbst die, die mir schon seit Jahren nicht mehr passten. Dann fing sie an, alles von Hand zu waschen. Aymane hatte gesehen, wie sie in der Badewanne stand und mit den Füßen ein Paar Jeans von mir walkte. Der Anwalt hatte ihn gewarnt. Es sei unnötig, gleich nach Paris zu kommen. Ich würde vier Tage in Polizeigewahrsam verbringen. Das sei so üblich. Er hatte also auf den Tag X gewartet und die Reise vorbereitet. Dann waren sie mitten in der Nacht aufgebrochen, mit ungefähr zwanzig Leuten in fünf Autos. Seit sechs Uhr früh standen sie vor dem Justizpalast. Sie waren den ganzen Tag dort

geblieben und hatten bis zwei Uhr nachts auf mich gewartet. Ein paarmal waren sie durch das Gebäude gelaufen, hatten vor den Türen gelauert und die Anwälte angerufen, um wenigstens meine Stimme zu hören. Doch sie sahen nur einen Gefangenentransporter, der vor ihrer Nase in die Nacht davonfuhr. Denn der Richter hat entschieden. Ich werde inhaftiert. Ich weiß, dass das für meinen Bruder und alle, die mich draußen erwarten, ein schrecklicher Schlag ist. Auch ich muss schlucken. Aber das Schlimmste ist überstanden. Das sage ich mir in dem vergitterten Polizeifahrzeug, das mich ins Gefängnis von Fresnes, einem Vorort im Süden von Paris, bringt. In Fresnes werde ich von den anderen Häftlingen sofort freundlich aufgenommen. Viele kennen meine Geschichte, seit Canal Plus in der Sendereihe 90 Minutes eine Reportage gebracht hat. Da ich als »Terrorist« klassifiziert bin, habe ich eine Einzelzelle. Aber es fehlt mir an nichts. Innerhalb weniger Tage statten mich meine Mithäftlinge mit allem aus, was man so braucht: Kochplatte, Essen, Kleidung, Toilettenartikel. Alles. Ich bekomme auch einen Fernseher, ein Radio, Zeitungen. Die Spaziergänge sind die einzigen Zeiten, in denen ich mit den anderen Häftlingen in Kontakt komme. Dann unterhalte ich mich mit ihnen und schließe ein paar Bekanntschaften. Sie erzählen mir viel vom Kampf meines Bruders um meine Freilassung. Ich merke, dass die Menschen meine Geschichte genau verfolgen. Im Besuchszimmer von Fresnes sehe ich endlich meine Eltern wieder. Zuerst kommt meine Mutter allein. Wir fallen uns in die Arme. Sie weint heiße Tränen, fragt mich, ob es mir gut geht, ob mir etwas fehlt. Sie stellt keine einzige Frage nach dem Wieso und Warum meines Hier-

seins. In diesem Augenblick will sie sich ganz den Gefühlen überlassen, die uns verbinden. Der Rest kann warten. Wie Recht sie hat. Etwas später kommt sie mit meinem Vater wieder. Weil sich der Gefängnisleiter, zu dem ich einen guten Draht habe, für mich verwendet, bekomme ich sogar eine Besuchserlaubnis für meinen Bruder. Ich wünsche mir, wie schon gesagt, dass sich der Gefängnisaufenthalt positiv für mich auswirkt. Er soll mir als Übergang, als Phase der Wiedereingliederung dienen. Sobald es mir möglich ist, bitte ich deshalb um einen Termin bei der Psychologin. Aber ich komme überhaupt nicht mit ihr klar. Sie macht mir Schuldgefühle und redet von Dingen, die ich nicht hören will. Schnell beende ich dieses Desaster. In den ersten drei Monaten meines Aufenthalts in Fresnes werde ich mehrmals zu Richter Ricard gebracht. Er hat seine Theorie und weicht nicht von ihr ab: Niemand kann nach Afghanistan gehen und unschuldig sein. Es stimmt: Ich bin an einen Ort gefahren, an den ich nie hätte fahren sollen. Es stimmt: Ich bin Menschen begegnet, denen ich nie hätte begegnen sollen. Aber es ist nun einmal passiert. Deshalb bin ich noch lange kein Terrorist. Ich bin keiner, der anderen Menschen Böses antut. Aber das kann ich dem Richter noch so oft erzählen - er hört mir nicht zu. Schließlich gebe ich auf. Von diesem Moment an beantworte ich seine Fragen nicht mehr. Nach neun Monaten in Fresnes werde ich ins Pariser Gefängnis Sante verlegt. Dort finde ich mich schnell zurecht, denn die Insassen verhalten sich noch solidarischer als in Fresnes. Manche von ihnen kochen sehr gut und versorgen mich mit so mancher leckeren Mahlzeit. Ich nutze meine Verlegung dazu, noch einmal um psy-

chologische Betreuung zu bitten. Diesmal habe ich das Glück, einer großartigen Psychologin zu begegnen. Durch die Gespräche mit ihr lösen sich viele Blockaden. Wir arbeiten intensiv. Ich lerne, Gefühle und Empfindungen auszudrücken, die tief in meinem Inneren vergraben sind. Bisher habe ich mich immer noch geweigert, mit dem Richter zu sprechen, doch sie führt mich auf den Weg der Sprache und der Kommunikation zurück. Ich schreibe dem Richter, dass ich bereit mit, wieder mit ihm zu reden. Parallel dazu hat der psychiatrische Gutachter, der mich untersucht hat, seinen Bericht abgeliefert. Der Arzt, der meine Traumatisierung erkannt hat, empfiehlt für die Vernehmung bestimmte Vorsichtsmaßnahmen: Man solle unbedingt behutsam mit mir umgehen. Richter Ricard ist kein schlechter Kerl. Er berücksichtigt meinen guten Willen und die Empfehlungen des Psychiaters. Unsere Gespräche kommen auf einer neuen Basis wieder in Gang. Mit der Zeit stellt sich gegenseitiger Respekt ein. Die Direktorin der Sante spielt während meines Gefängnisaufenthalts eine wichtige Rolle. Sie besucht mich regelmäßig und unterhält sich viel mit mir. Als sich die Haft in die Länge zieht, werde ich depressiv. Das Gespenst Guantanamo sucht mich heim. Niemand weiß, wie lange das hier noch dauern wird. Sogar meine Anwälte stochern im Nebel. Ich fühle mich sehr unsicher. Schließlich bitte ich meinen Bruder sogar, dass er den Leuten ausrichtet, sie sollen mir nicht mehr schreiben. Ich habe nicht mehr den Nerv, ihnen zu antworten. Es kommt seltener Post. In dieser schwierigen Phase verstärkt die Direktorin ihre Kurzbesuche. Sie gibt mir wieder Hoffnung. Um mich zu beschäftigen, drängt sie mich, an meine Ausbildung zu denken. Ich mache einen Lehrgang in Datenverarbeitung und schreibe mich für die Vorbereitung auf die

Zulassungsprüfung zur Universität ein. Durch ihre Unterstützung und die der Psychologin stehe ich diese schwierige Phase unbeschadet durch. Die Gespräche mit dem Richter sind sehr ergiebig. Ende 2005 spricht Ricard zum ersten Mal von einer möglichen Entlassung. Aber er verlangt von meinen Anwälten und mir striktes Stillschweigen. Tatsächlich hat er wenige Wochen zuvor zwei Tatverdächtige entlassen. Aber der Staatsanwalt hat dafür gesorgt, dass die beiden ins Gefängnis zurückmussten. »Kein Wort darüber. Die Journalisten dürfen auf keinen Fall Wind davon bekommen. Wenn etwas durchsickert, ist alles aus.« Am 3. Januar 2006 ruft mich der Richter in sein Dienstzimmer. Wir arbeiten wie gewohnt. Er gibt keine besondere Erklärung ab. Aber irgendetwas sagt mir, dass wir zum letzten Mal hier zusammen sind. Eine Woche später erscheint die Direktorin persönlich in meiner Zelle, um mir die gute Neuigkeit zu verkünden. Ich soll entlassen werden. Sofort schallt ein Freudengeheul durch den gesamten Bau. Korsische Nationalisten, baskische Nationalisten, Gangster und Banditen sagen mir alle gemeinsam Lebewohl. Auf diese Weise zeigen mir meine Mithäftlinge, wie sehr sie sich für mich freuen und mir Glück wünschen. Nach den üblichen Formalitäten bekomme ich meine Sachen wieder. Dann stehe ich draußen auf der Rue de la Sante. Ich habe zweihundert Euro und meine Tasche in der Hand. Es ist der 9. Januar 2006. Ich bin frei. Ein wenig ratlos bleibe ich vor der Tür stehen, die sich hinter mir geschlossen hat. Zum Glück treffe ich einen Häftling auf Freigang, der für die Nacht in seine Zelle zurück-

kehrt. Er spürt mein Unbehagen, kommt näher und fragt, ob alles in Ordnung ist. Die Solidarität der Knastbrüder funktioniert auch außerhalb der Gefängnismauern. Mit seinem Handy kann ich meinen Anwalt anrufen und ihn bitten, dass er mich abholt. Doch Ciaire Chaillot ist bereits von der Gefängnisverwaltung benachrichtigt worden und hat sich nur verspätet. Das erklärt sie mir am Telefon, und sie schlägt vor, dass ich in einem Cafe in der Nähe auf sie warte. Ich laufe los. Merkwürdig, so als Namenloser unter Namenlosen durch die Straße zu gehen. Keine Sirenen mehr, keine Kapuzen mehr. Geräuschlos tauche ich in die Pariser Nacht ein. Ein Taxi hält auf meiner Höhe. Ciaire ist da. Ich steige ein. Wir fahren zum Bahnhof. Als Ciaire von meiner kurz bevorstehenden Entlassung erfahren hat, hat sie gleich meinen Bruder Aymane angerufen. Er war die Speerspitze im Kampf um meine Befreiung, er war Tag und Nacht aktiv, er hat den Atlantik überquert, um sich für mich stark zu machen. Am ersten Tag meiner Freiheit darf er nicht fehlen. Er ist zusammen mit meinem besten Freund Sam in den nächsten TGV gesprungen, und jetzt stehen die beiden vor mir. Glücklich schließe ich sie in die Arme. William Bourdon kommt dazu, auch er will nicht fehlen. Ich weiß, was er für mich getan hat. Auch er soll an meinem Glück teilhaben. Die Rückkehr nach Lyon macht mir Angst. Natürlich bin ich überglücklich, wieder frei zu sein. Auch wenn die Freiheit mit einigen Auflagen verbunden ist. Der Richter hat mir als Wohnsitz das Departement Isere zugewiesen, das an das Departement Rhone angrenzt. Doch das beunruhigt mich nicht. Ich habe in letzter Zeit eine ununterbrochene Folge von Heimsuchungen ganz anderen Ausmaßes hinter mich gebracht. Was mich ängstigt, ist ein

zu brutales Eintauchen in mein altes Leben. Ich bin noch sehr empfindlich. Ich muss mich langsam annähern. Wieder einmal ist es Aymane, der mich unter seine Fittiche nimmt. Die Wohnung meiner Eltern ist brechend voll. Bei der Nachricht von meiner Ankunft haben sich Freunde und Angehörige zuhauf eingefunden. Um mich vor diesem Ansturm zu schützen, sagt Aymane meinen Eltern Bescheid und bringt mich zu sich nach Hause. Dort kann ich endlich in aller Ruhe, geschützt vor zu großen Gefühlsausbrüchen, die Menschen wiedersehen, die mir nahe sind. Ich war vierundvierzig Monate fort. Diesmal ist die Reise wirklich zu Ende.

Epilog Ich bin jetzt ein gebranntes Kind und scheue das Feuer. Ich habe einen Fehler gemacht. Ich habe auf jemanden gehört. Ich habe geglaubt, was er mir erzählt hat. Nur aus diesem Grund hat man mich für einen der gefährlichsten Terroristen des Planeten gehalten. Mich, der keinem je etwas zu Leide getan hat! Das hat mich für vier Jahre meines Lebens hinter Gitter gebracht, davon dreißig Monate unter den schlimmsten Bedingungen, die man sich vorstellen kann. Ich bin lebendig da herausgekommen und bin immer noch bei klarem Verstand. Ich habe meine Lektion gelernt. Sie war teuer erkauft. Aber sie ist für immer in mich eingebrannt. Ich werde mein Schicksal nie wieder in die Hände eines anderen legen. Heute ist mir schon der geringste Verdacht, dass ich manipuliert werde, ein Gräuel. Ich habe zu viel davon abbekommen und will mich dem nie wieder aussetzen. Wenn für mich auch nur der Schatten eines Zweifels besteht, breche ich den Kontakt ab und suche das Weite. Vor einer wichtigen Entscheidung nehme ich mir die Zeit, das Für und Wider zu erwägen. Ich stelle mir die Frage, ob diese oder jene Handlung mir etwas nützt oder mir schadet und für meine Umgebung gut oder schlecht ist. Ich war ein Draufgänger. Hatte ich Lust auf ein schickes Auto, tat ich alles dafür, es zu bekommen. Sah ich eine schöne Frau, versuchte ich sie zu erobern. Das alles ist vorbei. Das Leben ist kein Film, das Leben ist kein Traum.

Ich übernehme jetzt die Verantwortung für meine Handlungen und jedes einzelne meiner Worte. Ich will die Welt mit eigenen Augen und Ohren verstehen. Nicht mehr vorgefertigte Ideen schlucken, nicht mehr wiederholen, was ein anderer gesagt hat, mich nicht mehr mit Allgemeinplätzen zufrieden geben. Ich bin nicht frommer als vorher. Ich habe immer an Gott geglaubt. Das war für mich eine Selbstverständlichkeit, auch wenn ich nie eine Moschee betreten habe. Dann kam dieses Abenteuer und all die Prüfungen, die ich durchmachen musste. Das Beten hat mir dabei geholfen. Es hat mich anderen näher gebracht, deren Unterstützung mir unentbehrlich war. Es hat mir Kraft gegeben, wenn sie mir fehlte, und Hoffnung, wenn ich keine mehr hatte. Ich fühle mich dieser spirituellen Dimension zu Dank verpflichtet. Deshalb versuche ich, etwas von dem zurückzugeben, was ich bekommen habe, indem ich jeden Tag meine Gebete verrichte. Wenn ich das tue, dann nicht nur, um ein »guter Muslim« zu sein. Ich will ein guter Bürger sein. Ein ehrbarer Mensch, der fähig ist, mehr zu geben, als er nimmt. Ich habe nicht vergessen, dass es während meiner Leidenszeit Menschen gab, die ich nicht kannte und die ihre Zeit, ihre Energie und ihr Geld geopfert haben, um mir zu helfen. Wenn ich mir den Glauben an Gott bewahrt habe, so habe ich mir ebenso den Glauben an die Menschen bewahrt. Ich habe dieses Buch geschrieben, um ein Versprechen zu halten. Als ich aus Guantanamo fortging, haben mir meine Mitgefangenen gesagt: »Nizar, erzähl der Welt, was hier vor sich geht.« Ich habe dieses Buch geschrieben, um all jenen zu antworten, die sich gefragt haben, worauf ich mich da bloß

eingelassen habe. Um ihnen zu sagen, dass ich nicht mit einer Kalaschnikow in der Hand geboren wurde. Dass ich kein Kind von Bin Laden bin. Ich bin in Frankreich geboren und in der Schule der Republik groß geworden. Ich bin Franzose. Ich habe dieses Buch geschrieben, um jenen zu danken, die mich und meine Familie unterstützt haben. Ich werde sie nie vergessen. Jetzt werde ich wieder anfangen zu leben.

Danksagungen Ich möchte all jenen meinen Dank aussprechen, die sich für meine Freilassung eingesetzt haben: Andre Gerin, Bürgermeister von Venissieux, und seinem Stellvertreter. Meinen Anwälten William Bourdon, Jacques Debray, Ciaire Chaillou. Vanessa und Corin Redgrave von der Guantanamo Human Rights Commission. Lindsay Graham, Senator von South Carolina. Der American Civil Liberties Union (ACLU). Dem Team von 90 Minutes des Senders Canal Plus: Manon Loiseau, David Andre, Fifi. Dem Kollektiv zur Unterstützung der Familien: Ounsi, Monder, Dorothee, Hocine, Rami, Bassem, Boualeme, Gringo, Tarek. Der Vereinigung Diversite. Allen Personen, die am 4. März 2002 an der Versammlung im Saal »Eric Satie« in Venissieux teilgenommen haben, und allen, die die Petitionen zur Unterstützung meiner Familie unterzeichnet haben.

Der Fachärztin für Psychiatrie in der Sante. Ein besonderer Gedanke gilt meinen ehemaligen Mitgefangenen von Guantanamo, Fresnes und vor allem in der Sante. Und ganz besondere Ehrenplätze gebühren meinem besten Kumpel Sam sowie Zoubir, Barbouche, Rofre, Beber, Yace, Fourch, Nono, Zina und auch meiner Cousine Sonia. Ich danke den betroffenen Familien des »Tour 67«, aus La Darnaise und Les Minguettes, in ganz Frankreich und im Ausland. Und meiner ganzen Familie.

Kopftuch oder Designertasche? Wie erleben die Menschen im Nahen Osten die westlichen Einflüsse, die seit dem 11. September 2001 unweigerlich den Weg zu ihnen finden? Die preisgekrönte Fernsehjournalistin Antonia Rados zeichnet ein authentisches und höchst interessantes Bild der Veränderungen im Alltag der islamischen Welt. »Antonia Rados ist eine unbestechliche und selbstkritische Beobachterin.« Welt am Sonntag

Antonia Rados

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Ab Oktober 2006: Heyne Taschenbuch ISBN 3-453-64511-1

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