»Höllenmaschine/Wunschapparat«: Analysen ausgewählter Neubearbeitungen von Dantes Divina Commedia [1. Aufl.] 9783839415825

Seit Mitte des 20. Jahrhunderts, besonders aber seit den 1980er Jahren, wird die mittelalterliche Divina Commedia Dante

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»Höllenmaschine/Wunschapparat«: Analysen ausgewählter Neubearbeitungen von Dantes Divina Commedia [1. Aufl.]
 9783839415825

Table of contents :
Inhalt
Einleitung
I Nachträgliche Standortbestimmung. Zu Peter Weiss’ postum veröffentlichtem Drama Inferno (1964 / 2003) und seiner Uraufführung am Badischen Staatstheater Karlsruhe (2008)
II Commedia drammatizzata. Literarische Dramenbearbeitungen zum Inferno, Purgatorio und Paradiso von Edoardo Sanguineti, Mario Luzi und Giovanni Giudici (1989-91)
III ‚Theater der Träume‘. Tomaž Pandurs Regietheater-Trilogie Inferno. The Book of the Soul, Purgatory. Anatomy of Melancholy und Paradiso. Lux am Thalia Theater Hamburg (2001/02)
IV Strukturalistische Adaption. A TV Dante – Cantos I-VIII (1988) von Peter Greenaway und Tom Phillips
V Die Hölle im Radio. Das Hörspiel Radio Inferno (1993) von Andreas Ammer und FM Einheit
VI Dante amerikanisch. Von Sandow Birks und Marcus Sanders’ Künstlerbuch Dante’s Divine Comedy (2003/05) zu Sean Merediths Papierpuppenfilm Dante’s Inferno (2007)
VII Klero-Pop. Marco Frisinas Musical La Divina Commedia. L’opera. L’uomo che cerca l’Amore (2007)
Ausblick
Liste der recherchierten Neubearbeitungen der Divina Commedia
Abbildungsverzeichnis
Literaturverzeichnis

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Tabea Kretschmann »Höllenmaschine/Wunschapparat«

Lettre

Tabea Kretschmann (Dr. phil.) hat in Erlangen und Cambridge/UK Deutsch, Geschichte und Italienisch studiert und an der Universität Salzburg in Italienischer und Vergleichender Literaturwissenschaft promoviert.

Tabea Kretschmann

»Höllenmaschine/Wunschapparat« Analysen ausgewählter Neubearbeitungen von Dantes Divina Commedia

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: C-PROMO.de / photocase.com Lektorat & Satz: Tabea Kretschmann Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1582-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Einleitung | 7

I

Nachträgliche Standortbestimmung. Zu Peter Weiss ’ postum veröffentlichtem Drama Inferno (1964 / 2003) und seiner Uraufführung am Badischen Staatstheater Karlsruhe (2008) | 25

II Commedia drammatizzata. Literarische Dramenbearbeitungen zum Inferno, Purgatorio und Paradiso von Edoardo Sanguineti, Mario Luzi und Giovanni Giudici (1989-91) | 79

III ‚Theater der Träume‘. Tomaž Pandurs Regietheater-Trilogie Inferno. The Book of the Soul, Purgatory. Anatomy of Melancholy und Paradiso. Lux am Thalia Theater Hamburg (2001/02) | 109

IV Strukturalistische Adaption. A TV Dante – Cantos I-VIII (1988) von Peter Greenaway und Tom Phillips | 139

V Die Hölle im Radio. Das Hörspiel Radio Inferno (1993) von Andreas Ammer und FM Einheit | 171

VI Dante amerikanisch. Von Sandow Birks und Marcus Sanders’ Künstlerbuch Dante’s Divine Comedy (2003/05) zu Sean Merediths Papierpuppenfilm Dante’s Inferno (2007) | 197 VII Klero-Pop. Marco Frisinas Musical La Divina Commedia. L’opera. L’uomo che cerca l’Amore (2007) | 229

Ausblick | 257

Liste der recherchierten Neubearbeitungen der Divina Commedia | 273

Abbildungsverzeichnis | 277

Literaturverzeichnis | 279

Einleitung „A good old text always is a blank for new things.“ (Tom Phillips in A TV Dante)

Im Januar 2007 fand in Rom unter großem Medienaufgebot eine Pressekonferenz statt: Vor internationalen Journalisten kündigte Mons. Marco Frisina, einer der ranghöchsten Musiker des Vatikans, an, dass er voraussichtlich noch im selben Jahr ein Musical zur Divina Commedia Dante Alighieris fertig stellen werde. Das Musical wolle er Papst Benedikt XVI. widmen. Und es gebe Pläne, dass das Musical im Beisein des Papstes im Vatikan uraufgeführt werde.1 Tatsächlich hatte das Musical La Divina Commedia. L’opera. L’uomo che cerca l’Amore am 22. November 2007 in Rom Premiere. Zwar fand diese nicht im Vatikan statt, sondern in einem riesigen Zelt, das eigens für das Musical am Stadtrand von Rom errichtet worden

1

Vgl. die Presseberichte u. a. von Daniela Cori: „Priest turns Dante’s Divine Comedy into opera“. In: International Herald Tribune, 02. Januar 2007. John Hooper: „Papal choirmaster writes musical based on Dante – and punk is the sound of hell“. In: The Guardian, 03. Januar 2007. John Phillips: „Vatican plans punk version of the Divine Comedy“. In: The Independent, 03. Januar 2007. xy: „Hell the musical comes to Vatican“. In: BBC news, 03. Januar 2007. xy: „Punk, rock y cantos greogorianos en la versión musical de La Divina Comedia“. In: Clarín, 02. Januar 2007. Roman Arens: „Zur Hölle mit Rock. Dantes Divina Commedia soll zum Musical werden – Kritik an ‚musikalischer Apartheit‘“. In: St. Galler Tagblatt, 12. Januar 2007. Lawrence Van Gelder: „Arts, briefly“. In: The New York Times, 04. Januar 2007. Paola Polidoro: „Che Commedia intorno al rock“. In: Il Messaggero, 03. Januar 2007.

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war. Und auch der Papst – ein bekennender Klassik-Liebhaber – war nicht zugegen (er hat das Musical wohl bis heute nicht gesehen). Dennoch zog das Musical in der Folge ein großes Publikum an. Seit der Uraufführung ist das Stück nach wie vor und beinahe ununterbrochen an verschiedenen Orten in Italien zu sehen.2 Marco Frisinas Unterfangen, die Divina Commedia als Musical zu vertonen, wirkt auf den ersten Blick überraschend. Das nicht nur, weil am Vatikan bekanntermaßen ein eher konservativer Musikgeschmack gepflegt wird und sich die Komposition eines Musicals u. a. mit Hardrock- und Metalelementen durch einen Vatikan-Priester ausnimmt wie eine jugendbetont löchrige Jeans zwischen Klerikersoutanen. Vor allem die Wahl der Divina Commedia als Stoff für ein publikumwirksames Musikspektakel erscheint sehr ungewöhnlich: Immerhin handelt es sich bei der Divina Commedia um eine etwa 700 Jahre alte, umfangreiche Dichtung, die aufgrund ihrer inhaltlichen und sprachlichen Komplexität an heutige Leser hohe Anforderungen stellt und deren Handlung in der Gegenwart durchaus fremd wirkt. An der Divina Commedia, der Göttlichen Komödie, hatte der aus Florenz stammende Dante Alighieri (1265-1321) etwa zwanzig Jahre bis unmittelbar vor seinem Tod gearbeitet. Bereits vor der Divina Commedia hatte Dante verschiedene literarische, philosophische und politische Werke verfasst, u. a. die Vita Nova, ein Prosimetrum, in dem er frühere Gedichte mit einer Rahmengeschichte verband und in dem er die (fiktive?) Geschichte seiner Jugendliebe zu Beatrice erzählte; Il Convivio, eine philosophische Abhandlung über den Gebrauch philosophischer Weisheit; De vulgari eloquentia, eine Schrift über die Verwendung des gesprochenen Italienisch, des sogenannten volgare, als Literatursprache; oder De Monarchia, eine Streitschrift, in der Dante im Kampf zwischen Kaiser und Papst um die Vorherrschaft in Italien zugunsten des Kaisers argumentierte. In der Divina Commedia, seinem Hauptwerk, beschrieb Dante dann in 14.233 gereimten Versen im endecasillabo (Elfsilber) eine fiktive Wanderung durch das Jenseits: Die gleichnamige Hauptfigur Dante erzählt in den drei Teilen Inferno, Purgatorio und Paradiso im Rückblick von ihrem Weg durch die Hölle, den Läuterungsberg und

2

Siehe die Homepage des Musicals: http://www.ladivinacommedia opera.it/website/.

E INLEITUNG | 9

das Paradies. Bei seinem Gang durch das Jenseits, auf dem ihn u. a. der Geist seines Dichtervorbilds Vergil und der Beatrices (die zentrale Figur in der Vita Nova) begleiten, sieht und erfährt Dante im Vorübergehen und in Gesprächen, wie es den Seelen dort ergeht. So durchquert Dante zuerst die Hölle, die sich wie ein Trichter in immer engeren Kreisen von der Erdoberfläche bis zum Erdmittelpunkt hinzieht. In den Höllenkreisen erleiden die verdammten Seelen eine ihrem Fehlverhalten im Diesseits entsprechende Strafe. Gemäß der ‚legge del contrappasso‘ werden beispielsweise die Sünder der Wollust auf ewig in einem infernalischen Höllensturm umhergetrieben, der ihre Leidenschaften spiegelt; und die Schlemmer darben in einem Schlamm aus Kot und Exkrementen, auf den übelriechender Regen herabfällt. Am tiefsten Punkt der Hölle, dem Erdmittelpunkt, ist der gefallene Erzengel Luzifer in einem Eissee festgefroren, nur sein Oberkörper mit drei Köpfen und riesigen, fledermausartigen Flügeln ragt aus dem Eis, und mit seinen drei Mäulern zermalmt er die Erzverräter Judas, Brutus und Cassius. Durch den Bauchnabel Luzifers führt ein Tunnel, durch den Dante und Vergil zum Ufer einer Insel im Ozean auf der anderen Erdhalbkugel gelangen, auf der sich der Läuterungsberg erhebt. Ähnlich der Hölle ist auch der Läuterungsberg in sieben kreisförmige Terrassen eingeteilt, auf denen die Sünder entsprechend ihrer Sünden, jedoch zeitlich begrenzt Buße tun, bevor sie dann ins Paradies aufsteigen dürfen. Nachdem Dante den Berg erklommen hat, durchfliegt er mit Beatrice die neun Himmelskreise des Paradieses, in denen sich die erlösten Seelen befinden. Am Ende seiner Reise, während der Dante einen eigenen inneren Läuterungsprozess vollzieht, offenbart sich ihm Gott selbst in einer überwältigenden Lichterscheinung. In einem ersten Zugang lässt sich die Divina Commedia, deren plot ich hier in aller Kürze zusammengefasst habe, wie ein teils spannender, teils nachdenklicher ‚transzendenter Abenteuerroman‘ lesen. Gleichzeitig ist die Divina Commedia aber durch eine hohe inhaltliche Komplexität geprägt: Unter anderem verarbeitete Dante in der Dichtung eine Fülle an theologischem, astrologischem, philosophischem, literarischem und anderem Wissen seiner Zeit. In einem Widmungsschreiben an seinen Förderer Cangrande della Scala erklärte Dante zudem, dass er die Divina Commedia idealerweise gemäß dem vierfachen Schriftsinn der mittelalterlichen Bibelexegese verstanden wissen wollte; neben dem wörtlichen Sinn (sensus literalis) berge sie auch einen allegorischen (sensus allegoricus), moralischen (sensus moralis)

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und anagogischen, d. h. ‚auf die letzten Dinge‘ bezogenen, Sinn (sensus anagogicus).3 Aufgrund ihrer inhaltlichen Komplexität wird die Divina Commedia in der Forschung auch immer wieder als ‚Summe des mittelalterlichen Wissens‘4 bezeichnet. Die beinahe unüberschaubar große Menge existierender Kommentarbände legt dabei ein eindrückliches Zeugnis von dem Bemühen ab, die verschiedenen Bedeutungsfacetten des vielschichtigen Werks aufzuschlüsseln. Auch formal ist die Dichtung in hohem Maße durchkomponiert. So bediente sich Dante bei der Gestaltung verschiedenster zahlensymmetrischer und zahlensymbolischer Gliederungselemente, deren faszinierende Intensität und Konsequenz erst in der jüngeren Forschung aufgedeckt wurden.5 Beispielsweise zieht sich der Gebrauch der Dreizahl durch den gesamten Text: Die Divina Commedia besteht aus den drei Teilen (‚cantiche‘) Inferno, Purgatorio und Paradiso; sie ist in drei mal 33 Gesänge (‚canti‘) pro Teil – plus einem zusätzlichen Einleitungsgesang im Inferno – eingeteilt; die Verse sind durchgängig in dreigliedrigen Kettenreimen mit dem Schema aba bcb cdc ded … abgefasst; das für Dante wichtige Wort ‚Cristo‘ reimt dreimal identisch mit sich selbst (Par. XII, 71, 73, 75) etc. In der Divina Commedia ist die Zahl Drei mit christlicher Bedeutung aufgeladen und verweist auf die Dreieinigkeit Gottes. Sie ist nur eines von vielen Elementen im Text, die eine tiefe Verwurzelung der gesamten Dichtung in einem mittelalterlich-christlichen Weltbild erkennen lassen. In sprachlicher Hinsicht hat Dante mit der Divina Commedia das erste große Werk in italienischer Sprache geschaffen. In einer Zeit, als das Lateinische noch die vorherrschende Literatur- und Gelehrtensprache war, ragt die Dichtung aus den bis dahin verfassten, deutlich kürzeren Schriften und Gedichten im italienischen volgare wie ein Monument hervor.

3

Vgl. Dante Alighieri: Das Schreiben an Cangrande della Scala. Lateinisch-Deutsch. Hamburg: Meiner, 1993.

4

Vgl. u. a. Ulrich Prill: Dante. Stuttgart: Metzler, 1999.

5

U. a. Manfred Hardt: Die Zahl in der Divina Commedia. Frankfurt: Athenäum, 1973. Nicoletta Kiefer: Zahl, Struktur, Sinn. Studien zu den drei Hauptprophezeiungen der Divina Commedia. Frankfurt: Lang, 2002.

E INLEITUNG | 11

Insgesamt gilt die Divina Commedia in Italien als eines der bedeutendsten Werke der Nationalliteratur. Über die Grenzen Italiens hinaus zählt sie zu den Klassikern der Weltliteratur.6 Mons. Marco Frisina wählte also die Divina Commedia als Vorlage, um sie in neuer Form als spektakuläres und unterhaltsames Musiktheater im Zweieinhalbstundenformat für ein großes Publikum auf die Bühne zu bringen. Inhaltlich, und darauf weist der im Vergleich zum Original leicht abgeänderte Titel des Musicals bereits hin, gestaltete er seine neue Version der Divina Commedia als eine Erzählung über die Suche des Menschen nach der Liebe (La Divina Commedia. L’opera. L’uomo che cerca l’Amore). Bei einem näheren Blick auf die gegenwärtige Kulturszene lässt sich feststellen, dass Frisinas Projekt nicht isoliert steht. Vielmehr erschienen in den vergangenen Jahren viele weitere und untereinander höchst unterschiedliche Neufassungen der Divina Commedia: Unter anderem verwandelte der Münchner Hörspielmacher Andreas Ammer gemeinsam mit seinem Musiker-Kollegen FM Einheit Dantes Höllenwanderung in ein ‚pop-modernes‘ Radio-Hörspiel (Radio Inferno, 1993). Die für ihre spektakulären Inszenierungen bekannte katalanische Akrobatiktruppe La Fura dels Baus nahm Dantes Jenseitsreise als Vorlage für ein einmaliges Akrobatik-Event auf der Piazza Pitti in Florenz (La Divina Commedia, 2003). Der slowenische Regisseur Tomaž Pandur gestaltete aus der Divina Commedia eine archaischtraumhafte Regietheater-Trilogie (La Divina Commedia, Thalia Theater Hamburg, 2001-02). Kristi Allik und Robert Mulder kreierten aus Dantes Purgatorio eine medienexperimentelle Ballett-VideoPerformance (Electronic Purgatory, 1991). Und der englische Filmregisseur Peter Greenaway produzierte gemeinsam mit dem Maler Tom Phillips 1988 eine ‚strukturalistische‘ Fernsehversion von Dantes Inferno (A TV Dante – Cantos I-VIII).

6

Ein Hinweis darauf ist u. a. das Erscheinen der Divina Commedia in ‚Klassiker‘-Reihen, z. B. bei Winkler Weltliteratur, dtv Klassik, Meyers Klassiker Ausgaben; im englischen Sprachraum bei Oxford World’s Classics, Wordworth Classics of World Literature, Barnes & Noble Leatherbound Classics, Crofts Classics, Penguin Classics, Everyman’s Library Classics, Northwestern World Classics, Harvard Classics; u. a. m.

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Bereits diese Beispiele – nur wenige aus einer viel größeren Menge – belegen, dass Künstler gegenwärtig immer wieder die Divina Commedia entweder als Ganze oder einen ihrer drei Teile Inferno, Purgatorio oder Paradiso als Vorlage für sehr unterschiedliche Neubearbeitungen heranziehen. Bei aller Unterschiedlichkeit ist allen Neubearbeitungen gemeinsam, dass in ihnen die mittelalterliche Dichtung durch die Übertragung in ein anderes Medium und / oder durch markante inhaltliche und stilistische Änderungen in dezidiert neue Versionen umgearbeitet, also in ‚Nuove Commedie‘ transformiert wird. Dieser Trend zur Neubearbeitung der Divina Commedia ist erstaunlich und wirft einige Fragen auf, nämlich: Warum wird gegenwärtig ausgerechnet die Divina Commedia – ein ‚altes‘, ‚schwieriges‘ und für heutige Leser mitunter ‚fremd‘ wirkendes Werk – von Künstlern immer wieder neu bearbeitet? Wie wird in den Neubearbeitungen die Divina Commedia jeweils konkret neu gestaltet? Und wie lässt sich der gegenwärtige Trend zur Neubearbeitung der Divina Commedia gegebenenfalls in einem größeren kulturellen Kontext verorten? In dieser Studie soll ein Versuch zur Beantwortung dieser Fragen unternommen werden. Mit der Beantwortung der Fragen ist eine doppelte Zielsetzung verbunden: Zum einen soll ein aktueller Trend innerhalb der kreativen Dante-Rezeption, der bisher in der Forschung unbemerkt geblieben war, sichtbar gemacht und erklärt werden. Zum anderen können von den Neubearbeitungen der Divina Commedia – die den Status eines Klassikers (mindestens) im abendländischen Literaturkanon genießt – womöglich auch Rückschlüsse auf den Umgang mit dem klassischen Erbe im aktuellen Kulturbetrieb abgeleitet werden.7 Als Grundlage für die Beantwortung der genannten Fragen seien vorab der Gegenstand und die Vorgehensweise in dieser Studie noch genauer erläutert.

7

Zur Kanonisierung der Divina Commedia, deren Prozesse noch nicht zusammenfassend beschrieben wurden, vgl. u. a. Matías Martínez: „Gelungene und misslungene Kanonisierung: Dantes Commedia und Klopstocks Messias“. In: Renate von Heydenreich (Hg.): Kanon Macht Kultur. Theoretische, historische und soziale Aspekte ästhetischer Kanonbildung. Stuttgart, Weimar: Metzler, 1998. S. 215-229.

E INLEITUNG | 13

Gegenstand der Studie sind so genannte ‚Neubearbeitungen‘ der Divina Commedia. Unter einer ‚Bearbeitung‘ wird im literatur- und kulturwissenschaftlichen Bereich zunächst grundsätzlich „[…] jede das Original verändernde Umgestaltung eines Werkes nicht durch den Autor selbst, sondern durch fremde Hand“8 verstanden. Der ‚Bearbeitung‘ als Oberbegriff, der auch die medien- und gattungsimmanente Neugestaltung eines früheren Werks beschreibt (im Falle der Divina Commedia also Nachdichtungen), ist die ‚Adaption‘ (> lat. adaptare = anpassen) als ausschließlich medienwechselnde Bearbeitung begrifflich untergeordnet.9 Im Unterschied zu punktuellen intertextuellen oder intermedialen Bezugnahmen auf eine Vorlage in einem ansonsten eigenständigen Werk bleiben bei der Bearbeitung trotz aller, womöglich gravierender, Veränderungen wesentliche Elemente und Merkmale der Vorlage – Handlungsabläufe; Figuren; sprachliche, stilistische, formalästhetische Eigenheiten etc. – erhalten, so dass sie als Ganze wiedererkennbar ist.10 Jenseits dieser fundamentalen Kategorisierung steckt die Erforschung und Theoretisierung von Bearbeitungen und Adaptionen noch weitgehend in den Kinderschuhen. U. a. stellte Ralf Gregor Bogner im

8

Gero von Wilpert (Hg.): Sachwörterbuch der Literatur. Stuttgart: Kröner, 8. erw. u. bearb. Aufl., 2001. S. 76.

9

Ebd. Ähnlich in Günther und Irmgard Schweikle (Hgg.): Metzler Lexikon Literatur. Begriffe und Definitionen. Stuttgart: Metzler, 2. überarb. Neuaufl., 1990. S. 3.

10

Unter ‚Intertextualtität‘ verstehe ich in dieser Arbeit einen pragmatischen Begriff der Literaturanalyse, bei der einzelne Elemente eines Prätextes (Verbalreminiszenzen, Motive, Strukturierungselemente u. a. m.) in einem nachfolgenden Text wieder aufgegriffen werden. Unter ‚Text‘ sind geschriebene (oder im weiteren Sinn mündliche, aber schreibbare) Äußerungen zu verstehen. ‚Intermedialität‘ meint hier im engeren Sinn und angelehnt an die Begriffsbildung bei Irina Rajewski und Manfred Pfister eine Bezugnahme in einem Werk auf ein anderes, das in einem anderen Medium ‚verfasst‘ ist. Vgl. Irina Rajewski: Intermedialität. Tübingen: Francke, 2002. Manfred Pfister: „Intertextualität“. In: Dieter Borchmeyer; Viktor Žmegaþ (Hgg.): Moderne Literatur in Grundbegriffen. Tübingen: Niemeyer, 2. überarb. Aufl., 1994. S. 215-218.

14 | „H ÖLLENMASCHINE / W UNSCHAPPARAT “

Eintrag ‚Medienwechsel‘ in dem von Ansgar Nünning herausgegebenen Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie (1998) fest:11 Bis zur Gegenwart konzentrierte sich […] das Interesse fast ausschließlich auf Romanverfilmungen. Medienkomparatistische Studien zur Übertragung erzählender Texte in die Medien Drama oder Hörspiel [und darüber hinaus in viele andere Medien und Gattungen; TK] hingegen sind rar.

Auch Brian McFarlane hebt in der Einleitung des von ihm herausgegebenen Sammelbandes Novel To Film. An Introduction to the Theory of Adaptation (1996) hervor: „ [...] it is surprising, how little systematic, sustained attention has been given to the processes of adaptation.“12 Bis heute hat sich daran kaum etwas geändert. Trotzdem gab es in der Forschung verschiedene Versuche, die Begriffe ‚Bearbeitung‘ und ‚Adaption‘ weiter zu differenzieren. Auf der einen Seite des Spektrums existieren engere Begriffsbestimmungen, wie etwa in dem von Gero von Wilpert herausgegebenen Sachwörterbuch zur deutschen Literatur. Dort wird darauf hingewiesen, dass sich eine „echte[n], verantwortliche[n]“ Bearbeitung als „Dienst am Werk fühlen“ und „dessen literarischen Kern daher nicht angreifen, sondern sich auf periphere Züge beschränken“13 solle. In ähnlicher Weise wird im Metzler Lexikon Literatur die Adaption charakterisiert als „Umarbeitung eines literarischen Werkes, um es den strukturellen Bedingtheiten einer anderen Gattung oder eines anderen Kommunikationsmittels anzupassen, ohne dass der Gehalt wesentlich verändert wird“14. Auf der anderen Seite haben Wissenschaftler diverse Abstufungsmodelle entwickelt, in denen sie verschiedene Varianten von ‚Bearbeitungen‘ bzw. ‚Adaptionen‘ voneinander abzugrenzen versuchten. So unterscheidet beispielsweise Geoffrey Wagner in seiner Monographie The Novel and the Cinema (1975) bei Literaturverfilmungen drei unterschiedliche Kategorien:15 11

Ansgar Nünning (Hg.): Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. Stuttgart: Metzler, 1998. S. 355.

12

Brian McFarlane: Novel to Film. An Introduction to the Theory of Adaptation. Oxford: Clarendon Press, 1996. S. 6.

13

Wilpert, a. a. O., S. 76.

14

Schweikle, a. a. O., S. 3.

15

Zitiert nach McFarlane, a. a. O., S. 10-11.

E INLEITUNG | 15

a) transposition, ‚in which a novel is given directly on the screen with a minimum of apparent interference‘; b) commentary, ‚where an original is taken and either purposely or inadvertedly altered in some respect … when there has been a different intention on the part of the film-maker, rather than infidelity or outright violation‘; c) analogy, ‚which must represent a fairly considerable departure for the sake of making another work of art‘.

Dudley Andrew reduziert in seinem Aufsatz „The Well-Worn Muse: Adaptation in Film History and Theory“ (1980) die möglichen Verhältnisse zwischen Textvorlage und Filmadaption ebenfalls auf drei Kategorien, die grob denen Wagners entsprechen: „fidelity of transformation“, „intersection“ und „borrowing“.16 Und auch die Klassifizierungen von Michael Klein und Gillian Parker in The English Novel and the Movies (1981) ähneln den vorher vorgebrachten Unterscheidungen:17 […] first, ‚fidelity to the main thrust of the narrative‘; second, the approach which ‚retains the core of the structure of the narrative while significantly reinterpreting or, in some cases, deconstructing the source text‘; and, thirdly, regarding ‚the source merely as raw material, as simply the occasion for an original work‘.

Abgesehen davon, dass im Einzelfall die Einordnung in eine der klassifizierenden Schubladen womöglich schwierig und ohne weiterführende Fragestellung auch wenig erkenntnishaltig ist, blieben trotz der Ansätze, die hier beispielhaft genannt wurden, alle bisherigen Versuche zur Binnendifferenzierung und Systematisierung vorläufig, so dass sich innerhalb der englischen oder deutschen Bearbeitungs- und Adaptionsforschung noch keine einheitliche Terminologie herausgebildet hat. Im Zusammenhang dieser Arbeit werde ich daher, angelehnt u. a. an die Bestimmung, die in Ansgar Nünnings Lexikon Literatur- und Kulturtheorie vorgestellt wird, allgemein und ohne weitere Binnendifferenzierung unter einer ‚Bearbeitung‘ ein Werk verstehen, das von 16

Vgl. Dudley Andrew: „The Well-Worn Muse: Adaptation in Film History and Theory“. In: Syndy Conger; Janice Welsh (Hgg.): Narrative strategies. Macomb: West Illinois Press, 1980. S. 9-17.

17

Vgl. Michael Klein; Gillian Parker (Hgg.): The English Novel and the Movies. New York: Unger, 1981. Zitiert nach Mc Farlane, a. a. O., S. 11.

16 | „H ÖLLENMASCHINE / W UNSCHAPPARAT “

einer Vorlage (der Divina Commedia) wesentliche Elemente und Merkmale (beispielsweise: Titel; Handlungsabläufe; Figuren; sprachliche, stilistische, formalästhetische Eigenheiten; einzelne Episoden und Motive etc.) in ein neues Werk übernimmt. Die Divina Commedia bzw. einer ihrer drei Teile Inferno, Purgatorio oder Paradiso bleiben in den hier behandelten Fällen also, was meist bereits durch die Titelgebung angezeigt wird, als Ganze in irgendeiner Form erkennbar präsent. Das Präfix ‚Neu-‘, das ich dem Begriff ‚Bearbeitung‘ vorangestellt habe, dient dazu, den grundsätzlich verändernden Ansatz der Bearbeitungen semantisch akzentuierend, aber nicht generell klassifizierend hervorzuheben. In den hier gemeinten ‚Neubearbeitungen‘ geht es den Urhebern gerade nicht um den möglichst textnahen, ‚mimetischen‘ Transfer vom Medium Text in ein anderes, etwa ein Bild oder einen Film. Sondern sie alle nehmen, was zu zeigen sein wird, aus ganz unterschiedlichen Gründen kleinere und größere Veränderungen an der Divina Commedia vor, um aus ihr bewusst neue Fassungen, ‚Nuove Commedie‘, zu gestalten. Insgesamt lassen sich die Neubearbeitungen gemäß wissenschaftlicher Fachterminologie dem Bereich der ‚kreativen‘ bzw. ‚produktiven Rezeption‘ zuordnen. Der Begriff der ‚produktiven Rezeption‘ stammt von Wilfried Barner, der ihn 1973 in einer Studie zur Wiederaufnahme der Tragödien Senecas bei Lessing erstmals verwendete. Gunter Grimm lieferte in seiner Rezeptionsgeschichte von 1977 eine fundierte Begriffsbestimmung nach, die Peter Kuon in seiner Habilitationsschrift zur Dante-Rezeption in der modernen Erzählliteratur folgendermaßen zusammenfasste:18 Während in der ‚normalen‘ (oder auch ‚reproduktiven‘) Rezeption die Intention des Lesers auf verstehende Aneignung ausgerichtet ist, zielt sie in der ‚produktiven‘ Rezeption auf selbstbewusste Neuschöpfung. Nimmt man als den einen Pol der möglichen Spannbreite von Rezeptionen die historisch-adäquate

18

Peter Kuon: ‚lo mio maestro e ’l mio autore‘. Die produktive Rezeption der Divina Commedia in der Erzählliteratur der Moderne. Frankfurt am Main: Klostermann, 1993. S. 22-23. Kuon bezieht sich auf: Wilfried Barner: Lessing und die Tragödien Senecas. München: Beck, 1973. Und: Gunter Grimm: Rezeptionsgeschichte. Grundlegung einer Theorie. Mit Analysen und Bibliographie. München: Fink, 1977.

E INLEITUNG | 17

Rekonstruktion der (zeitgenössischen) Textbedeutung an, so steht als der andere Pol die in die Konstruktion einer neuen Textbedeutung einmündende ‚produktive Rezeption‘. Wo sich dort das Verständnis des Lesers, so es ‚produktiv‘ wird, in einem explikativen Metatext konkretisiert, der mehr oder weniger zutreffend Auskunft über den rezipierten Text gibt, stellt hier das Produkt der ‚produktiven Rezeption‘ einen autonomen, d. h. eigengesetzlichen Text dar, in den der vorgängige Text und das, was an ihm (wie gewaltsam auch immer) verstanden wurde, als bloßes Material eingegangen sind. Die Frage der Angemessenheit (Hat der Leser die Divina Commedia überhaupt einigermaßen richtig verstanden?) geht daher im Falle der ‚produktiven Rezeption‘ weitgehend ins Leere.

In diesem Sinne rückt die Forschung zur produktiven Rezeption das neu geschaffene Werk unter Berücksichtigung der Leistung bei der Wiederaufnahme und kreativen Verarbeitung einer Vorlage in den Mittelpunkt der Betrachtung und ggf. auch der Bewertung. Ausgehend von dieser Bestimmung habe ich für diese Studie ein möglichst umfassendes Korpus an Neubearbeitungen der Divina Commedia recherchiert. Bei den Recherchen konzentrierte ich mich besonders auf Werke, die außerhalb des Feldes der bildenden Kunst (Malerei, Druckgrafik etc.) lagen. Zwar ist dieser Bereich von dem hier behandelten Phänomen nicht ausgeschlossen. Jedoch wurde die aktuelle Rezeption der Divina Commedia in der bildenden Kunst – die für sich genommen ein sehr weites Feld ist – bereits an anderer Stelle ausführlicher behandelt.19 In dieser Studie werde ich nur punktuell auf Beispiele in der bildenden Kunst eingehen, die Teil des hier fokussierten Neubearbeitungstrends sind. Durch eine systematische und in größeren Abständen wiederholte Suche im Internet und in der einschlägigen Forschungsliteratur, seltener durch persönliche Hinweise und Zufallsfunde konnte ich mehr als 50 Neubearbeitungen zusammentragen. Eine chronologische Liste der Neubearbeitungen, die angesichts der Aktualität, der weiten Verbreitung und bisher unzureichenden Dokumentation des Phänomens keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, findet sich im Anhang am Ende des Buchs.

19

U. a. Lutz S. Malke (Hg.): Dantes Göttliche Komödie. Drucke und Illustrationen aus sechs Jahrhunderten. Leipzig: Faber & Faber, 2000.

18 | „H ÖLLENMASCHINE / W UNSCHAPPARAT “

Auf der Basis dieser Zusammenstellung lässt sich der Trend zur Neubearbeitung der Divina Commedia in seinen Umrisslinien bereits jetzt genauer fassen: Chronologisch betrachtet kann man den Beginn des Trends etwa in den 1960er Jahren festmachen. Als erste Orientierungsmarken dafür können u. a. zwei literarische Bearbeitungen herangezogen werden: Pier Paolo Pasolinis La Divina Mimesis und Peter Weiss’ ‚Divina Commedia-Projekt‘. Pier Paolo Pasolini und Peter Weiss hatten unabhängig voneinander und wahrscheinlich als erste Autoren überhaupt jeweils das Projekt unternommen, die Divina Commedia insgesamt neu zu schreiben und zu aktualisieren. Der italienische Autor und Regisseur Pier Paolo Pasolini (1922-75) arbeitete bis kurz vor seiner Ermordung an einer aktualisierenden ProsaFassung der Dichtung. In seiner Divina Mimesis, in der er letztlich nur sieben der insgesamt 100 geplanten canti, also ‚Gesänge‘, ausführte, griff Pasolini das die Divina Commedia prägende System aus transzendenter Strafe und Belohnung für irdische Handlungsweisen auf, um mit dessen Modernisierung gesellschaftliche Zustände der damaligen Gegenwart fiktional verfremdend zu beschreiben. Pasolini, der sich zeitlebens in seiner Kunst politischen und sozialen Themen widmete, intendierte mit seiner Nachbildung der Divina Commedia eine „Kritik der neo-kapitalistischen Konsumgesellschaft“ und der mit ihr erwachsenen „neuen technologischen Sprache“20. Dafür folgte er der dichterischen Erzählung Dantes, die er aufgriff, zitierte, in modernes Italienisch übertrug, autobiographisch ausdeutete und um Bezüge zur italienischen Gesellschaft der frühen 60er Jahre ergänzte.21 – Auch der deutsch-jüdische Schriftsteller Peter Weiss (1916-1982), auf den ich in dieser Studie noch ausführlich zu sprechen kommen werde, plante eine

20

Kuon: ‚lo mio maestro e ’l mio autore‘, a. a. O., S. 307.

21

Bereits der Beginn der Divina Mimesis lässt seine Arbeitsweise deutlich werden. Aus Dantes berühmten Anfangsversen „Nel mezzo del cammin di nostra vita / mi ritrovai per una selva oscura / ché la diritta via era smarrita“ formuliert Pasolini: „Intorno ai quarant’ anni, mi accorsi di trovarmi in un momento molto oscuro della mia vita. Qualunque cosa facessi, nella ‚Selva‘ della realtà del 1963, anno in cui ero giunto, assurdaassurdamente impreparato a quell’esclusione dalla vita degli altri che è la ripetizione della propria, c’era un senso di oscurità.“ Dabei greift er die Altersangabe, Wortzitate wie ‚selva‘ oder das Motiv der Verirrung in der Dunkelheit auf und deutet sie um. Ebd.

E INLEITUNG | 19

modernisierende Umarbeitung der mittelalterlichen Divina Commedia, mit der er wie Pasolini gesellschaftliche und politische Missstände im Deutschland der 1960er Jahre thematisieren wollte. Von dem großen ‚Divina Commedia-Projekt‘ realisierte Weiss wie Pasolini allerdings nur einen Bruchteil. Zeitgleich zu diesen beiden literarischen Neubearbeitungen findet sich auch in der bildenden Kunst der Ansatz, die alte Dichtung neu zu gestalten. D. h. in den Illustrationen wurde nicht nur versucht, das in der Dichtung Beschriebene weitgehend ‚realistisch‘ ab- oder nachzubilden. Sondern die Künstler ‚veränderten‘ die Vorlage, sie nutzten sie, um etwas dezidiert ‚Eigenes‘ zu schaffen. Beispielsweise markiert Salvador Dalìs Aquarell-Zyklus zur Divina Commedia eine ästhetische Wende. Wo frühere Illustrationen (z. B. von Sandro Botticelli oder Gustave Doré) sich durch das Bemühen auszeichnen, den Literalsinn der Dichtung möglichst textnah illusionistisch nachzubilden, illustrierte Dalì die Dichtung mit der für ihn typischen Ästhetik und Symbolsprache in Traumbildern mit verzerrten Proportionen, surrealen Motiven wie fließenden Uhren, ‚Schubladenfiguren‘ etc. Als ein weiteres frühes Beispiel für einen solchen Zugang, der in einem bewusst verändernden Zugriff der strengen Nachfolge des sensus literalis der Vorlage zunehmend den Rücken kehrte, lässt sich Robert Rauschenbergs Divina Commedia-Zyklus aus den 1960er Jahren nennen. Der Zyklus besteht aus Collagen, die die Jenseitswelt Dantes assoziativ mit Elementen der Gegenwart verbinden. Diese beiden Beispiele stützen aus einer kunsthistorischen Perspektive die Annahme der 1960er Jahre als Schwelle für das neue Rezeptionsphänomen. Seit den 1960er Jahren weitete sich die Tendenz zur verändernden Neugestaltung der Divina Commedia weiter aus. Die Quantität der Neubearbeitungen, die sich etwa seit den 1960er Jahren bis heute immer weiter gesteigert hat, erlaubt die Bezeichnung als ‚Trend‘ (spätestens seit den 1990er Jahren kann man sogar von einem regelrechten ‚Neubearbeitungsboom‘ sprechen):22 Ausgehend vom englischen Verb

22

Da sich neuere Bearbeitungen sicherlich häufiger durch das Internet, das mein hauptsächliches Rechercheinstrument war, aufspüren lassen als beispielsweise Werke aus den 1960er und 1970er Jahren, mag das aufgezeigte Bild auch dadurch bedingt sein. Dennoch scheint sich die Tendenz der gegenwärtigen Zunahme von Neubearbeitungen der Divina Commedia meines Erachtens realiter zu manifestieren.

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„trend“, dt. „sich neigen“, „streben“, „in einer bestimmten Richtung verlaufen“, meint das eine bestimmte Strömung bzw. einen Verlauf, hier der Rezeption der Divina Commedia, die es vorher in der Ausprägung nicht gab. Geographisch lässt sich der Trend kaum eingrenzen: Neben einem deutlichen Schwerpunkt in Italien, dem Heimatland Dantes und der Divina Commedia, finden sich etliche Beispiele aus dem deutsch- und englischsprachigen Raum, darüber hinaus vor allem aus anderen europäischen Ländern. Man könnte das Verbreitungsgebiet grob als ‚abendländischen Kulturraum‘ umfassen. Um den oben skizzierten, aktuellen Trend zur Neubearbeitung der Divina Commedia genauer zu fassen, habe ich aus dem recherchierten Korpus einzelne Werke ausgewählt, die ich im Hauptteil der Studie gründlich analysieren werde. Mit den Analysen soll exemplarisch und im Detail geklärt werden, warum und wie im Einzelfall die Divina Commedia neu bearbeitet wurde. Die Kriterien für die Auswahl waren verschieden: Vor allem musste ausreichend Material in hinreichend guter Qualität zur Verfügung stehen, das als Grundlage für eine solide Analyse und Interpretation einer Neubearbeitung genutzt werden konnte. Gerade die Materialbeschaffung erwies sich als eine größere Hürde: Teils recherchierte ich z. B. Theater- oder Ballettinszenierungen zur Divina Commedia, die jedoch in der Vergangenheit lagen und von denen zwar vielleicht Programmhefte, aber keine Aufführungsaufzeichnungen existierten. Aufzeichnungen von Aufführungen waren dann mitunter qualitativ so schlecht, dass eine gründliche Analyse nicht möglich war. Filmbearbeitungen wurden bei kleinen Festivals gezeigt, gelangten jedoch nicht in den kommerziellen Vertrieb etc. Aus der Menge der für eine gründliche Analyse noch in Frage kommenden Neubearbeitungen wählte ich dann solche aus, die mir besonders interessant und / oder qualitätsvoll schienen, die in der Forschung bisher nicht oder ungenügend behandelt wurden und die verschiedene Facetten des Trends aufzuzeigen vermögen. Neben dem Primärmaterial habe für die Analyse und Interpretation der Neubearbeitungen zusätzliches Material und Informationen (Interviews, Rezensionen, Publikationen usw.) einbezogen. Dort, wo es sich anbietet, werde ich in den Kapiteln mit Seitenblicken auch auf andere Bearbeitungen vergleichend eingehen.

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In den folgenden Kapiteln werde ich also einzelne ausgewählte Neubearbeitungen hinsichtlich ihrer Bearbeitungsmotivation und Bearbeitungsstrategien der Divina Commedia besprechen: Im ersten Kapitel wird es um Peter Weiss’ Drama Inferno (1964 / 2003) gehen. Das Stück wurde postum aus dem Nachlass herausgegeben und entstand, wie oben bereits erwähnt, als Teil eines größeren ‚Divina CommediaProjekts‘. Die Neubearbeitung von Dantes Inferno ist mit einer spitzen Kritik an der deutschen Nachkriegsgesellschaft verwoben, innerhalb derer Peter Weiss auch eine autobiographische Standortbestimmung vollzieht. Im zweiten Kapitel folgt eine Analyse einer Dramen-Trilogie, die die drei italienischen Autoren Edoardo Sanguineti, Mario Luzi und Giovanni Giudici 1989 bis 1991 für den Regisseur Federico Tiezzi und seine Theatertruppe Magazzini Criminali verfassten. Auf je eigene Weise und mit ganz unterschiedlichen Akzentsetzungen gestalteten die Autoren neue Dramenfassungen als eigene modernisierte Versionen der drei Teile der Divina Commedia. Das dritte Kapitel behandelt eine weitere Dramenversion, Tomaž Pandurs Regietheater-Inszenierung zur Divina Commedia. In der Nachfolge Antonin Artauds gestaltete er das Werk im Sinne seiner Ästhetik eines ‚Theaters der Träume‘ für das Thalia Theater Hamburg (2001/02). Das eingangs erwähnte Radio-Hörspiel Radio Inferno (1993) des Münchner Literaturwissenschaftlers und produktiven Hörspielmachers Andreas Ammer werde ich im vierten Kapitel eingehend besprechen. In dem Stück verwandelte Ammer mit seinem Team aus Musikern, Rezitatoren und Radiomoderatoren das Inferno in eine poppige KlangHölle, in der Dantes Text zugleich spielerisch bis ideologiekritisch deund rekonstruiert wird. Der Regisseur Peter Greenaway hat mit seinen formal innovativen Filmen Filmgeschichte geschrieben. Gemeinsam mit dem renommierten Maler Tom Phillips realisierte er die Fernsehfassung eines früheren Künstlerbuchs zu Dantes Inferno von Phillips, in der dessen ‚strukturalistische‘ Illustrierungsstrategie auf den Film übertragen und weiterentwickelt wurde (Dante’s Inferno. Cantos I-VIII, 1988; fünftes Kapitel). Eine weitere Kombination aus Künstlerbuch und anschließender Verfilmung steht im Mittelpunkt des sechsten Kapitels: das drei-

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bändige Künstlerbuch zur Divina Commedia von Sandow Birk und Marcus Sanders (2003/05) sowie Sean Meredith’s Papierpuppenfilm Dante’s Inferno (2007). In beiden Versionen wird Dantes Jenseitswelt in die amerikanische Gegenwart verlegt bzw. mit Elementen der amerikanischen Gegenwartskultur angereichert. Und im siebten Kapitel werde ich die Musical-Fassung Marco Frisinas untersuchen. Hierbei wird es insbesondere darum gehen zu zeigen, wie Frisina den mittelalterlichen Text in ein eventkulturelles Spektakel überführt und dabei eine dezidiert christliche Interpretation der Vorlage herausarbeitet. In einem Ausblick werde ich dann abschließend darlegen, welches Bild sich bei einer Zusammenschau der Neubearbeitungen ergibt. Zudem soll überlegt werden, wie sich das Phänomen der Neubearbeitungen der Divina Commedia im gegenwärtigen kulturellen Umfeld einfügt. Ein Buch wird geschrieben und gedruckt, um im besten Fall auch gelesen zu werden. In diesem Fall richtet sich das Buch an eine ‚doppelte‘ Leserschaft: Zum einen werden neue Erkenntnisse zur kreativen Rezeption der Divina Commedia in der gegenwärtigen Kultur vorgestellt, die insbesondere für die Dante-Forschung Relevanz besitzen dürften. Zum anderen, so ein Leitgedanke beim Schreiben dieses Bandes, könnten die Überlegungen und Erkenntnisse aber auch für ein breiteres Publikum über den Kreis der hoch spezialisierten ‚Dantisti‘ hinaus interessant sein. Vor diesem Hintergrund wurde das Buch so verfasst, dass sowohl Dante-Experten als auch Interessierte ohne fundierte Kenntnisse über die Divina Commedia der Argumentation folgen können. Die Kapitel im Hauptteil können unabhängig voneinander jeweils einzeln für sich und / oder in beliebiger Reihenfolge gelesen werden. Die vorliegende Studie wurde am Fachbereich Romanistik der ParisLodron-Universität Salzburg als Dissertation angenommen. Die Dissertation entstand als assoziiertes Projekt des Forschungsschwerpunktes ‚Wissenschaft und Kunst‘ der Paris-Lodron-Universität Salzburg und der Universität Mozarteum Salzburg. Für die vorliegende Publikation wurde die Dissertation an einzelnen Stellen überarbeitet. Mein besonderer Dank gilt meinem Doktorvater, Prof. Dr. Peter Kuon. Den Fortgang der Arbeit begleitete er engagiert und mit großer

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Offenheit gegenüber der Themenstellung, die in vielerlei Hinsicht angestammte Grenzen der Literaturwissenschaft überschreitet, sowie mit immer anregenden und konstrukiven Gesprächen. Mit seiner eigenen oben bereits genannten und zitierten Habilitationsschrift zur kreativen Dante-Rezeption in der Literatur der Moderne, an die die vorliegende Studie im weitesten Sinne anküpft, war er ganz im danteschen Sinne ‚il mio maestro e ’l mio autore‘. Während des Promotionsstudiums an der Universität Salzburg hatte ich Gelegenheit, einzelne Aspekte der entstehenden Dissertation in Seminaren bei Prof. Dr. Kathrin Ackermann-Pojtinger vor- und zur Diskussion zu stellen. Dabei erhielt ich insbesondere mit Blick auf medientheoretische Fragestellungen wichtige Impulse und Ideen. Im Zuge der Arbeit an der Studie habe ich immer wieder ausführliche Gespräche mit Künstlern geführt; von verschiedensten Seiten wurde mir umfangreiches Material zur Verfügung gestellt. Die Gespräche waren für mich ein großes Vergnügen, und die zuvorkommende Bereitschaft zur Kooperation hat mir die Arbeit sehr erleichtert. All diesen Personen sei, ohne dass sie hier namentlich genannt würden, an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich gedankt. Darüber hinaus haben viele weitere Personen aus der Nähe und Ferne und zu verschiedenen Zeiten in unterschiedlicher Weise die Entstehung der Studie begleitet. Der Bedeutung ihrer ‚informellen‘ Unterstützung auf dem Weg bis zur Fertigstellung dieses Buches bin ich mir bewusst und bin ihnen dafür auch im Rückblick äußerst dankbar. Das Dissertationsprojekt wurde durch ein Promotionsstipendium des Ev. Studienwerks Villigst gefördert. Die finanzielle Unterstützung durch das Studienwerk war eine große Entlastung; sie ermöglichte es mir, mich ganz auf die selbstgestellte Aufgabe zu konzentrieren. Der Druck des Buches wurde schließlich mit einem großzügigen Druckstipendium durch den Rektor der Paris-Lodron-Universität Salzburg, Prof. Dr. Heinrich Schmidinger, im Rahmen des Schwerpunkts ‚Wissenschaft und Kunst‘ gefördert. Frankfurt am Main, im Dezember 2011

I

Nachträgliche Standortbestimmung Zu Peter Weiss’ postum veröffentlichtem Drama Inferno (1964 / 2003) und seiner Uraufführung am Badischen Staatstheater Karlsruhe (2008)

Peter Weiss (1916-1982) ist heute vor allem als Dramenautor noch einem größeren Publikum bekannt. Insbesondere sein Stück Die Ermittlung (1965), ein Dokumentardrama, in dem er die Frankfurter Auschwitzprozesse künstlerisch verarbeitete, wird auf deutschen Bühnen nach wie vor immer wieder neu inszeniert. Erst 2003 wurde ein weiteres, bis dahin unbekanntes Stück des Autors aus dem Nachlass veröffentlicht: eine modernisierte Dramenfassung des Inferno Dantes, das im unmittelbaren Umfeld der Ermittlung entstanden war. Warum und wie Peter Weiss Dantes mittelalterliche Schilderung einer Höllenwanderung neu bearbeitet hat und wie sein Inferno im Werkzusammenhang unter anderem mit der Ermittlung gesehen werden kann, wird Thema dieses ersten Kapitels sein.

1 H INTERGRUND : B IOGRAPHISCHE UND WERKGESCHICHTLICHE E INORDNUNG Für das Verständnis des Dramas Inferno spielt die Biographie von Peter Weiss eine wichtige Rolle. Daher soll vor der Analyse des Dramas zunächst ein Überblick über die für das Stück relevanten Stationen seines Lebens gegeben werden. Grundlage für die Rekonstruktion dieser Stationen sind u. a. die autobiographischen Schriften Abschied von den Eltern (1961) und Fluchtpunkt (1962) sowie die Notizbücher

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1960-1971 und 1971-1980 (1981/2). Daneben lässt sich auch die auf gründlicher Quellenarbeit basierende Biographie über Peter Weiss von Jochen Vogt heranziehen (Jochen Vogt: Peter Weiss mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, 1987).1 Von der Kindheit bis zu den Exiljahren Peter Weiss stammte aus einer aufstrebenden bürgerlichen Familie. Seine Mutter, Frieda Weiss, war bis zur Hochzeit mit ihrem zweiten Mann, Eugen Weiss, drei Jahre lang als Schauspielerin am Deutschen Theater in Berlin engagiert, das damals von Max Reinhardt geleitet wurde. Sein Vater, Eugen Weiss, war als Textilkaufmann tätig. Unmittelbar nach der Eheschließung 1915 gab Frieda Weiss ihre Tätigkeit als Schauspielerin auf und widmete sich, standesgemäß, fortan nur noch ihrer Rolle als Hausfrau und Mutter von fünf Kindern. Offenbar bedingt dadurch, dass sie ihrer eigentlichen Passion, dem Theater, nicht mehr nachgehen konnte, stellte sich bei ihr eine innere Unruhe und Unzufriedenheit ein, von der Jochen Vogt vermutet, sie habe eine Form von „neurotischer Verhärtung“2 angenommen, die das Familienleben stark beeinflusste. In der Familie führte sie ein streng autoritäres Regiment, unter dem Peter Weiss nach eigenen Angaben bereits während seiner Kindheit litt und dem er sich beispielsweise durch die Flucht in ein „selbstgewähltes Exil“3 auf dem Dachboden oder in der Gartenlaube zu entziehen versuchte. Im Gegensatz zu Frieda Weiss scheint Weiss’ Vater eher zurückhaltend gewesen zu sein.4 Seit den 1920er Jahren war er mit der Pro-

1

Jochen Vogt: Peter Weiss mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1987.

2

Vogt, a. a. O., S. 15. – Vgl.: „Warum gab meine Mutter das Theater auf. Lag nicht der Grund ihrer späteren Unausgeglichenheit darin, dass sie sich ihrem eigentlichen Wirkungsgebiet entzogen hatte. […] Das Glänzende und Erhöhte schuf sie sich in ihrem Heim, die großen Gesellschaften, der Überfluss, die teuren Toiletten, dies alles wurde ihr zum Ersatz für die verlorenen Rollen auf der Bühne.“ Peter Weiss: Abschied von den Eltern. Erzählung. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1961. S. 39.

3 4

Weiss: Abschied, a. a. O., S. 16; 37. Vogt sieht in der Eltern-Konstellation eine „typische Schwächung der Vaterautorität in der spätbürgerlichen Gesellschaft“. Vogt, a. a. O., S. 15.

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duktion und dem Vertrieb von Textilien erfolgreich und konnte der Familie einen großbürgerlichen Lebensstandard ermöglichen. Nachdem Eugen Weiss die Hochzeit mit seiner Frau noch nach jüdischem Ritus vollziehen ließ, trat er kurze Zeit später der evangelischen Kirche bei; auch die Kinder wurden evangelisch getauft. Eine wie auch immer geartete jüdische Tradition spielte in der Familie keine Rolle mehr. Schon als fünfzehnjähriger Schüler beschäftigte sich Peter Weiss gemeinsam mit Freunden intensiv mit Kultur: Sie besuchten Museen, Kinos, hörten klassische Musik, lasen Hesse, Brecht und Thomas Mann, nahmen Unterricht in einer Zeichenschule und ließen sich von den Bildern Lionel Feiningers, Emil Noldes und Paul Klees in den Bann ziehen.5 In dieser Zeit setzte, mit ausgelöst durch einen tragischen Unfall, auch Weiss’ eigene künstlerische Tätigkeit ein: Im Sommer des Jahres 1934 wurde Peters jüngere Schwester Margit Beatrice von einem Auto überfahren; sie starb nach wenigen Tagen im Koma. Wie Peter Weiss viele Jahre später schrieb, hatte ihn mit seiner Schwester eine nahezu inzestuös-erotische Liebe verbunden.6 Noch während Margit Beatrice im Sterben lag, malte er als Reaktion auf den erlebten emotionalen Schock sein – wie er es rückblickend bezeichnete – „erstes Bild“7, auf das er später den Anfang seiner künstlerischen Existenz zurückführte, und er schrieb einen fiktiven Briefwechsel mit der Verstorbenen.8 In den darauffolgenden Jahren zeichnete sich für Weiss immer deutlicher sein Weg als Künstler ab. Die Eltern hingegen drängten ihren Sohn in eine bürgerliche Berufslaufbahn, bei der er gegebenenfalls die Firma des Vaters übernehmen konnte. Über die innerfamiliären Auseinandersetzungen legte Peter Weiss in Abschied von den Eltern Zeugnis ab, das er zusammen mit der Fortsetzung Fluchtpunkt nach dem Tod von Eugen und Frieda Weiss verfasste:9

5

Vogt, a. a. O., S. 22.

6

Weiss: Abschied, a. a. O., S. 69-70.

7

Ebd., S. 77. Hierbei handelt es sich um eine Stilisierung, da Weiss schon

8

Ebd., S. 69-70; 74-83.

9

Ebd., S. 57-59.

früher Malunterricht genommen hatte.

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Während ich über meinem Tagebuch brütete, öffnete sich die Tür und mein Vater trat ein. […] Was treibst du denn da, fragte er. Ich mache meine Schulaufgaben, sagte ich. Ja, darüber wollte ich mit Dir sprechen, sagte er. Eine peinliche Spannung trat ein, wie immer bei solchen Gesprächen. Du bist jetzt alt genug, sagte er, daß ich einmal mit dir über Berufsfragen sprechen muß. Wie denkst du dir eigentlich deine Zukunft. Ich konnte auf diese quälende Frage nichts antworten. Mit einer Stimme, die verständnisvoll sein wollte, und die etwas von einem Gespräch von Mann zu Mann hatte, sagte er, ich schlage vor, daß du in die Handelsschule eintrittst und dann in mein Kontor kommst. Ich murmelte etwas davon, daß ich erst noch die Schule absolvieren wolle, damit konnte ich immerhin Zeit gewinnen. Mein Vater sagte, jetzt mit wachsender Ungeduld, dazu scheinst du doch kaum zu taugen, ich glaube nicht, daß du begabt genug dazu bist, und zum Studieren fehlt dir jede Ausdauer, du gehörst ins praktische Berufsleben. Sein Gesicht war grau und vergrämt. Leben war Ernst, Mühe, Verantwortung. […] Doch ich hatte andere Dinge auf der Suche nach Nahrung für meine angewachsenen Bedürfnisse gefunden, Dinge, die mir Antwort gaben auf meine Fragen, gedichtete Worte, die plötzlich meine Unruhe stillten, Bilder, die mich in sich aufnahmen, Musik, in der mein Inneres mitklang. In den Büchern trat mir das Leben entgegen, das die Schule mir verborgen hatte. In den Büchern zeigte sich mir eine andere Realität des Lebens als die, in die meine Eltern und Lehrer mich pressen wollten. Die Stimmen der Bücher forderten mein Mittun, die Stimmen der Bücher forderten, daß ich mich öffnete und auf mich selbst besann.

Zwar konnte Peter Weiss durchsetzen, 1938 für ein Jahr an der Prager Kunstakademie zu studieren. Und er wurde in seinem künstlerischen Streben u. a. durch einen Briefwechsel mit seinem Vorbild Hermann Hesse ermuntert, den er zweimal in der Schweiz besuchte (1937/8). Trotzdem blieb er jedoch bis in die 1940er Jahre de facto von seinem Vater finanziell abhängig, in dessen Textilfabrik er immer wieder arbeiten musste. Ebenfalls im Jahr 1934, in dem Weiss’ Schwester ums Leben gekommen war, entschieden sich seine Eltern ins Exil zu gehen, um der drohenden Gefahr als teiljüdischer Familie in Deutschland zu entfliehen. Sie und mit ihnen Peter Weiss zogen zuerst von Berlin nach London, von dort 1936 nach Warnsdorf in der Tschechoslowakei, und 1939 übersiedelten sie schließlich nach Alingsås in Schweden, dem Land, in dem seine Eltern und Peter Weiss selbst bis zu ihrem Lebens-

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ende blieben. Obwohl Peter Weiss überhaupt erst kurz vor dem Weggang ins Exil erfahren hatte, dass er Halbjude war, stellte das Exil zum damaligen Zeitpunkt offenbar keinen tieferen Bruch für ihn dar. Ein Grund dafür war, dass die Familie nicht zuletzt wegen ihres Vermögens legal und ohne größere Komplikationen ausreisen und der Vater im Ausland geschäftlich gut Fuß fassen konnte, so dass im Unterschied zu vielen anderen Flüchtlingen der Lebensstandard der Familie gesichert war. Vor dem Umzug aus der Tschechoslowakei nach Schweden musste Peter Weiss jedoch noch einmal aufs Härteste die Ablehnung seiner Kunst durch die Eltern erfahren:10 Meine Bilder, die ich meiner Mutter anvertraut hatte, waren nicht mehr vorhanden. Als sie den Umzug in die Wege leitete, hatte sie meine Bilder in den Keller getragen, mit einer Axt zerschlagen, und im Ofen verbrannt. Sie erklärte diese Vernichtung als eine Schutzmaßnahme. Sie hatte gefürchtet, daß meine düsteren, unheimlichen Bilder das Mißtrauen der Grenzbehörden wecken würden. Sie hatte das Heim gerettet, die Bilder, Ausdruck einer Krankheit, mußten geopfert werden. Mit ihren eigenen Händen hatte sie die Bilderwelt meiner Jugendjahre, diese Totentänze, Weltuntergänge und Traumlandschaften, vernichtet. Mit dieser Vernichtung hatte sie sich von der Drohung befreit, die diese Bilder auf die Geordnetheit und Behütetheit ihres Heims ausgeübt hatten.

Mit der Vernichtung der Werke fühlte er sich, als er ins Exil ging, völlig wert- und besitzlos: „Mit leeren Händen, wie ein Landstreicher, stand ich da.“11 Aufgrund dieser Situation, in der sich Peter Weiss Ende der 1930er Jahre befand, wurden die psychische und ökonomische Ablösung von den Eltern die wichtigsten Aufgaben, die er während der Zeit des Zweiten Weltkriegs im schwedischen Exil zu bewältigen hatte.12 Sie wurden begleitet von einer intensiven Suche nach seinen eigenen Themen und seinem künstlerischen Ausdruck. Die politischen Diskussionen, die in den intellektuellen und künstlerischen Emigrantenkreisen geführt wurden, mit denen Peter Weiss verbunden war, beschäf-

10

Ebd., S. 138.

11

Ebd.

12

Vgl. auch Vogt, a. a. O., S. 44.

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tigten ihn nicht. In einer Zeit, als ringsum in Europa der Krieg tobte, blieb er unpolitisch.13 Auch sein Status als verfolgter Jude und Exilant spielte für ihn keine Rolle: „Ich kam nicht als Flüchtling und Asylsuchender. Ich kam nach Stockholm, um hier als Maler zu leben […]“14. Insgesamt hielt er rückblickend fest:15 Daß der Kampf, der draußen geführt wurde, auch meine Existenz anging, berührte mich nicht. Ich hatte nie Stellung genommen zu den umwälzenden Konflikten der Welt. Die Anstrengung, einen Ausdruck für mein Dasein zu finden, hatte keine andere Aufmerksamkeit zugelassen. Die Zeit war eine Wartezeit für mich, eine Zeit des Schlafwandelns.

Nachkriegszeit: Künstlerische Themensuche und Anfänge der Politisierung In den Jahren nach Kriegsende suchte Peter Weiss noch nach ‚seinen‘ Themenfeldern und Ausdrucksformen. Neben der Malerei – er experimentierte damals mit surrealistischen Bildcollagen – widmete er sich journalistischen Arbeiten (u. a. schrieb er mehrere Artikel für eine schwedische Zeitung über die gesellschaftlichen Zustände im zerstörten Berlin, die er 1948 unter dem Titel De Besegrade / dt. Die Besiegten in einer synthetisierenden Prosaschrift publizierte), literarischen Texten (u. a. Einakter Rotundan, 1950; Prosatext Duellen, 1953) und auch verstärkt dem Medium Film (v. a. surrealistische Kurzfilme und Dokumentarfilme über soziale Missstände in der schwedischen Wohlstandsgesellschaft). 1960 erschien dann ein erstes von Weiss bereits 1952 verfasstes Buch in deutscher Sprache, Der Schatten des Körpers des Kutschers. Mit diesem Buch, einem knapp hundertseitigen Text mit Collagen des Autors, der in elf Abschnitten aus der Perspektive eines nicht näher bestimmten ‚Ich‘ Wahrnehmungsvorgänge alltäglicher (und nach herkömmlichem Verständnis nicht ‚erzählenswerter‘) Handlungen beschreibt, gelang ihm der Durchbruch in der deutschsprachigen Lite-

13

U. a. Peter Weiss: Fluchtpunkt. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1965. S.

14

Ebd., S. 8.

15

Weiss: Abschied, a. a. O., S. 143.

10.

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raturszene.16 Die Publikation der schon erwähnten autobiographischen Bände Abschied von den Eltern und Fluchtpunkt steigerten Weiss’ Popularität in Literatenkreisen weiter, was, wie Jochen Vogt erläutert, vermutlich auch damit zu tun hatte, dass die Bücher zusammen „ein spätes, eindringliches und in der literarischen Szenerie der Zeit vereinzeltes Exemplar der ‚deutschen hochbürgerlichen‘ Autobiographie als Erzählung und Selbstreflexion der Entwicklungsgeschichte oder Sozialisation des Individuums von den ersten noch fassbaren Erfahrungen bis zum – sei es noch so labilen – ‚Erreichen der Identität‘ in der ‚Übernahme einer sozialen Rolle‘“17 darstellten. In den Schriften, insbesondere in Fluchtpunkt, thematisierte Weiss erstmals seine eigene unpolitische Einstellung während der Exil- und frühen Nachkriegsjahre, nach deren Gründen er suchte – was gerade als ein Indiz für ein stärkeres Interesse an politischen Fragen verstanden werden kann. Das zunehmende politische Interesse zeigte sich dann vor allem auch im Theaterstück Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade (1964). In dem Drama präsentiert Weiss die Fiktion eines ‚Spiels im Spiel‘: In einem Irrenhaus in Charenton wird im Jahr 1808 angeleitet vom Marquis de Sade die Ermordung von einem der Anführer der französischen Revolution, Jean-Paul Marat, den Charlotte Corday 1793 in der Badewanne erstach, nachgespielt. Historisch ist an diesem Stück außer der tatsächlich stattgefundenen Ermordung des Marat, dass de Sade im Irrenhaus von Saint-Maurice einige Jahre lang tatsächlich Theaterstücke inszenieren und vor anderen Anstaltsinsassen und freiem Pariser Publikum aufführen durfte.18 Beide Ereignisse bringt Weiss fiktiv zusammen, um politische Positionen zwischen dem Revolutionsführer Marat mit dem von ihm verteidigten Anspruch auf eine gerechte Gesellschaftsordnung und de Sade, der auf die radikale Emanzipation des Individuums pocht, verhandeln zu lassen, die vom Anstaltsleiter als Zensor gelenkt

16

So erinnerte sich Hans Magnus Enzensberger zwei Jahre nach der Veröffentlichung daran, dass es „bereits legendär geworden [ist]; es wurde nur in tausend Exemplaren gedruckt, doch liegt es auf den Schreibtischen der neuesten Prosaisten Deutschlands“. Zitiert nach Vogt, a. a. O., S. 64.

17

Ebd., S. 71.

18

Ebd., S. 88.

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und unterdrückt werden. Das bereits durch die Handlung politisch aufgeladene Stück inspirierte, ganz im Sinne des Autors, zu vielfältigen gegenwartsbezogenen Interpretationen.19 Nachdem er sich gerade als Prosa-Autor einen Namen gemacht hatte, wurde Weiss mit diesem und den fünf folgenden aufgeführten Dramen (Die Ermittlung, 1965; Gesang vom Lusitanischen Popanz, 1967; Viet Nam Diskurs, 1968; Trotzki im Exil, 1970; Hölderlin, 1971) zu einem der am meisten und kontroversest diskutierten deutschsprachigen Theaterautoren der 1960er Jahre. Seit Beginn der 1970er Jahre widmete er sich dann vor allem seinem großen Hauptwerk, der dreibändigen Ästhetik des Widerstands (publ. 1975-1981), das er kurz vor seinem Tod am 10. Mai 1982 abschloss. Beginn des Divina Commedia-Projekts Noch bevor das Marat / Sade-Stück überhaupt zur Aufführung kam, hatte Weiss bereits begonnen über ein neues Stück nachzudenken, das strukturell dem Vorgängerwerk ähnlich sein sollte: Im Januar 1964 notierte er erste Gedanken zu einem historisch-biographischen Künstlerdrama über Dante Alighieri (1265-1321) und seinen Zeitgenossen, den Maler Giotto di Bondone (1267-1337), die beide aus Florenz stammten. In dem Stück plante er zunächst, die ästhetischen Ansätze beider Künstler gegenüberzustellen. In einem Brief an den Verleger Siegfried Unseld kündigte er an:20 Vielleicht gelingt es mir, zum nächsten Jahr eine Sache fertig zu bringen, die ich zur Zeit noch vorbereite, die aber sehr spannend ist. Und zwar ein Schauspiel über Giotto und Dante. Ein Gegenstück zu Marat. Wo es dort ums Politische und Soziale geht, würde es hier um die Anschauungen in der Kunst gehen. Eine Gegenüberstellung des Malers und Schreibers. Giottos Realismus, die Befreiung der Malerei aus dem Ikonenhaften, die grosse [sic] Sachlichkeit, Einfachheit, Klarheit seiner Malweise. Dantes Infernovisionen, auch diese

19

Vgl. Karlheinz Braun (Hg.): Materialien zu Peter Weiss’ Marat / Sade. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1967.

20

Müllender, Yannick: Peter Weiss’ Divina Commedia-Projekt (19641969). „…läßt sich dies noch beschreiben“ – Prozesse der Selbstverständigung und der Gesellschaftskritik. St. Ingbert: Röhrig Universitätsverlag, 2007. S. 25.

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durchleuchtet, überrealistisch. Die beiden waren ja eng befreundet. Hier liegt jedenfalls viel, was verarbeitet werden könnte. Aber es steckt wie gesagt noch in den Anfängen und wird hier nur nebenbei erwähnt.

Warum sich Weiss nach Marat und de Sade gerade für Dante und Giotto interessierte, kann nur vage vermutet werden. Auf der einen Seite gibt es in den Notizbüchern Hinweise darauf, dass sich Weiss bereits seit 1963 sporadisch mit Giotto und der Malerei der Frührenaissance beschäftigte.21 Auf der anderen Seite schien er die Divina Commedia Dantes schon früher zur Kenntnis genommen und wohl auch gelesen zu haben.22 1963 rückte die Divina Commedia in verschiedener Weise erneut ins Bewusstsein des Autors: Zwischen dem 10. März und 19. Mai 1963 veröffentlichte der schwedische Schriftsteller Olaf Lagerkrantz in der Tageszeitung Dagens Nyheter eine Serie von 13 Artikeln über das Hauptwerk Dantes, die Weiss ausschnitt, annotierte und in einer Mappe sammelte.23 Und in einem Vermerk im Notizbuch von 1969 erinnert Weiss außerdem: „Jetzt erst erfahren von Gombrowicz‘ Tod im Juli. Erinnerungen an die Tage in Berlin, Herbst 63. […] Sprachen über Dante.“24

21

Vgl. dazu ausführlicher ebd.

22

Über die Intensität dieser möglichen frühen Lektüre gibt es keine Informationen. Einen zwar nicht vollständigen, aber doch reichlichen Überblick über Forschungsliteratur zur Dante-Rezeption von Peter Weiss – die sich v.a. auf Werke konzentriert, die nach dem Inferno entstanden sind – gibt Müllender, a. a. O., S. 13-14, Fußnote 16.

23

In Abschied von den Eltern berichtet Weiss über seine jugendliche Lektüre: „Ich wusste beim Lesen von keiner Wahl. Ich ließ mich nur anziehen und verwarf nach dunklen Gesetzen. Unzählige Bücher berührte ich nur flüchtig, durchblätterte ich kaum und wusste, dass sie nichts für mich waren, viele die später wertvoll für mich wurden gingen noch nichtssagend durch meine Hände. Andere fesselten mich mit einem einzigen Wort. Die Dämonen, Die Erniedrigten und Beleidigten, Aus einem Totenhaus, Die Elixiere des Teufels, Schwarze Fahnen, Inferno, waren Titel die plötzlich vor mir aufflammten und etwas in mir beleuchteten. Es war etwas Magisches in diesen Titeln, sie trafen mich ins Herz.“

24

Vgl. Müllender, a. a. O., S. 23.

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Ausgehend von den ersten Gedanken zum Giotto / Dante-Stück zeichnete sich schon im Februar 1964 ein grundlegender Wandel ab. Zu diesem Zeitpunkt beschloss Peter Weiss, die Divina Commedia insgesamt neu zu bearbeiten.25 Von der historischen Ästhetik-Diskussion, wie sie für das Dante / Giotto-Drama noch bestimmend war, rückte er ab und wandte sich stattdessen aktuellen gesellschaftspolitischen Fragen zu. Dafür wollte er die drei Jenseitsreiche Hölle, Läuterungsberg und Paradies, die Dante in seiner mittelalterlichen Großdichtung entworfen und innerhalb derer er ein transzendentales System aus ‚Strafe‘ und ‚Belohnung‘ für irdisches Verhalten verortet hatte, auf die heutige Zeit übertragen. In der Vorübung zum dreiteiligen Drama divina commedia (1965), in der Peter Weiss ein frühes Arbeitskonzept für sein Projekt formulierte, schrieb er:26 Dante, sollte er seine Wanderung noch einmal antreten, müßte nach anderen Mitteln suchen, seine Zeit zu vergegenwärtigen, grundlegend müßte er den Sinn revidieren, den er den Ortschaften Inferno, Purgatorio und Paradiso beigemessen hatte. […] Das Inferno beherbergt alle die, die nach des früheren Dante Ansicht zur unendlichen Strafe verurteilt wurden, die heute aber hier weilen, zwischen uns, den Lebendigen, und unbestraft ihre Taten weiterführen, und zufrieden leben mit ihren Taten, unbescholten, von vielen bewundert. […]

25

Im Nachhinein (!) schrieb Weiss, dass er ein „Welttheater“ plante (ein solches hatte er 1937 auch schon gemalt, vgl. die Abbildung u. a. in JensFietje Dwars: Und dennoch Hoffnung. Peter Weiss – Eine Biographie. Berlin: Aufbau, 2007), er sich aber „über die Form noch nicht klar“ war, so dass er nach „einem Modell [suchte], nach einer Möglichkeit, den Stoff zu konzentrieren“, das er dann eben in der Divina Commedia fand (Peter Weiss: „Gespräch über Dante“. In: Ders.: Rapporte. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1968. S. 142-169. Hier: S. 142).

26

Peter Weiss: „Vorübung zum dreiteiligen Drama divina commedia“. In: Ders.: Rapporte, a. a. O., S. 125-141. Hier: S. 137. Erläuterung des zusammengefassten Arbeitsschemas: S. 137-139.

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Im Sinne dieser Gesamtplanung beabsichtigte Weiss, Dantes Inferno in einen rein diesseitigen, gegenwärtigen Ort unbestrafter ‚Täter‘ zu verwandeln. Im Paradiso, als Gegenstück dazu, plante Weiss die Darstellung derer, die Leid erfahren haben, ohne dass eine himmlische ‚Belohnung‘, wie sie in der Jenseitskonzeption Dantes noch elementar war, mehr gegeben wäre. Das Purgatorium hingegen, bei Dante ein Ort der zeitlich beschränkten Läuterung, der die sichere Aufnahme in die Glückseligkeit des Paradieses folgte, konzipierte er zum damaligen Planungsstand als Ort des Zweifels und der möglichen Veränderung. Dieses Grobgerüst sollte mit verschiedenen Aktualitätsbezügen gefüllt werden. Das so genannte Divina Commedia-Projekt (kurz: ‚DC-Projekt‘) beschäftigte Peter Weiss von 1964 bis 1969. In dieser Zeit durchlief es ganz verschiedene inhaltliche und formale Stadien.27 Das Projekt, die Divina Commedia als Ganze zu aktualisieren – als Dramen-Trilogie, wie er die längste Zeit plante, oder in Prosa, wozu ebenfalls Schreibversuche stattfanden –, ist jedoch nie abgeschlossen worden. Aus den verschiedenen Stadien gingen aber mehrere selbständige Stücke hervor (Die Ermittlung; Der Gesang vom Lusitanischen Popanz); Spuren der Dante-Rezeption finden sich in den Dramen Trotzki im Exil und Hölderlin; die Prosatexte Vorübung zu einem dreiteiligen Drama divina commedia und Gespräch über Dante (beide 1965) stehen in unmittelbarem Zusammenhang mit frühen Entwicklungsphasen des Projekts; und schließlich ist auch Die Ästhetik des Widerstands von intertextuellen Dante-Spuren durchzogen.28

27

Yannick Müllender hat in einer gründlich recherchierten und ausführlich kommentierten Ausgabe die Textbestände des DC-Projekts aus dem Nachlass zusammengetragen. Eine tabellarische Übersicht über die Planungsstadien findet sich bei Müllender, a. a. O., S. 299-302.

28

Müllender gliedert die Ästhetik des Widerstands wohlbegründet aus dem werkgeschichtlichen Kontext des eigentlichen ‚DC-Projekts‘ aus (ebd., S. 18ff.). – Eine ausführliche Interpretation der Dante-Rezeption in der Ästhetik des Widerstands findet sich bei Peter Kuon: ‚lo mio maestro e ’l mio autore‘, a. a. O., S. 336-371.

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Weiss’ langjährige und oft verzweifelte Beschäftigung mit Dante grenzte da beinahe an eine „obsessive Fixierung“29, wie Peter Kuon in einem Aufsatz zur Dante-Rezeption in der Ästhetik des Widerstands vermerkte. Und auch Weiss’ Ehefrau Gunilla Palmstierna hielt fest:30 Well, the central character for Peter, for all his life, was always Dante. I would say that Dante remained a hero for him until the bitter end. When he came back from Berlin just a few days before his death, he was starting to write again about Dante. He wanted to find a new way to write about the Purgatorio.

2

D AS I NFERNO ALS ALPTRAUM : ANALYSE DES D RAMENTEXTES

Von Februar bis November 1964, unmittelbar im Anschluss an das abgebrochene Dante / Marat-Drama, arbeitete Peter Weiss am ersten Teil der geplanten Dramentrilogie, dem Inferno. Daneben las er intensiv eine deutsche Übersetzung der Divina Commedia und entwarf ein größeres Arbeitsschema für das gesamte Projekt, wie er es dann u. a. in der Vorübung zu einem dreiteiligen Drama divina commedia beschrieb.31 Wie die folgenden Abschnitte zeigen werden, nutzte Peter Weiss Dantes Inferno als Vorlage für eine zweifache „Bestandsaufnahme“32:

29

Peter Kuon: „‚… dieser Portalheilige zur abendländischen Kunst …‘. Zur Rezeption der Divina Commedia bei Peter Weiss, Pier Paolo Pasolini und anderen“. In: Peter Weiss Jahrbuch, 6 (1997), S. 42-67. Hier: S. 42.

30

Zitiert nach Müllender, a. a. O., S. 295.

31

Ebd., S. 55. Weiss benutzte die Ausgabe: Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie. Ins Deutsche übertr. von Ida und Walther von Wartburg. Kommentiert von Walther von Wartburg. Zürich: Manesse, 2. revid. Aufl., 1963. – Im Essay „Gespräch über Dante“ hält Weiss fest, dass er das Inferno am intensivsten gelesen habe, das ihm von allen drei Teilen am zugänglichsten gewesen sei (Weiss: Gespräch über Dante, a. a. O., S. 142-3).

32

Vgl. Weiss’ Kommentar zu den Anfangsversen von Dantes Inferno im Gespräch über Dante, a. a. O., S. 155-6: „Ein Anfang, wie er auch heute vorkommt. Die Situation einer Krise. Der Auftakt zu einer Bestandsaufnahme. Woher komme ich, wohin gehe ich? Die Fragwürdigkeit alles

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Auf der einen Seite enthält das Drama eine fiktiv zugespitzte Zustandsbeschreibung und Kritik der deutschen Nachkriegsgesellschaft. Auf der anderen Seite verarbeitet Peter Weiss seine eigene Exilerfahrung während der Kriegs- und Nachkriegsjahre. Dafür verwandelte er die Höllenwanderung Dantes in ein infernalisch-alptraumhaftes Szenario, das die dargestellten Inhalte verfremdet dem Leser bzw. Zuschauer vermittelt. Bearbeitungsstrukturen der Divina Commedia In seinem Gespräch über Dante, das auch als nachträglicher Kommentar zum Inferno gelesen werden kann, schrieb Peter Weiss, dass ihm die „Geschlossenheit und Überzeugung“ der mittelalterlichen Großdichtung „unerreichbar“ und auch fremd blieb: „Uns ist die Ehrfurcht vor solcher Vollkommenheit längst vergangen.“33 Die von Weiss als ‚fremd‘ empfundene ‚Vollkommenheit‘ lässt sich einerseits auf die formale Geschlossenheit der Dichtung beziehen: In seinem Hauptwerk bemühte sich Dante um formale Perfektion, u. a. fasste er die Divina Commedia in 100 Gesängen in dreigliedrigen, elfsilbigen Kettenreimen ab. Innerhalb dieses formal einheitlichen, geschlossenen Systems schilderte er eine ideologisch streng geordnete Jenseitswelt, in der Strafe und Belohnung für das Handeln im Diesseits einen fest gefügten Platz zu haben scheinen. Vor dem Hintergrund seiner damaligen Einschätzung entnahm Weiss für die Gestaltung seines neuen Inferno daher aus „der Divina Commedia nur das, was sich in ein irdisches Dasein versetzen lässt“34. Er entlehnte dem Werk „Einzelheiten“35, die ihn ansprachen, und übertrug sie assoziativ in die Gegenwart.

bisher Erreichten. Die verlorene Liebe. Die missglückte Teilnahme an den politischen Parteikämpfen. Die Frage, wie weit war ich selbst verwickelt in Selbstsucht und Eitelkeit. Die Einsicht in die Verwirrung der äußeren Verhältnisse. Vertrieben aus Florenz, der Stadt, in der das Bankwesen beginnt, die europäische Geldwirtschaft, in der das immer größere Streben nach Besitz zu Zwistigkeiten und Kriegen führt.“ 33

Weiss: Gespräch über Dante, a. a. O., S. 144.

34

Ebd.

35

Ebd.

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Dieses Vorgehen lässt sich bereits an der formalen Gestaltung des Dramas ablesen: Peter Weiss’ Inferno besteht aus 33 mit arabischen Ziffern nummerierten „Gesängen“. Jeder dieser Gesänge bildet eine kurze, in sich geschlossene Szene. Die Bezeichnung als „Gesang“ ist ebenso deutlich an Dantes Divina Commedia angelehnt wie die Anzahl 33, bestehen die drei cantiche, Inferno, Purgatorio und Paradiso, doch aus drei mal 33 canti, also Gesängen, denen im Inferno ein vierunddreißigster Gesang als Prolog zum gesamten Langgedicht vorangestellt ist (den Weiss weglässt). Die Einteilung in Gesänge ist eine Referenz an den Ursprungstext. Zugleich bietet sie Weiss eine feste Struktur, innerhalb derer er seinen neuen Inhalt einbetten kann, sowie die Möglichkeit, jenseits des klassischen Fünfaktschemas in vielen kleinen Szenen verschiedene dramatische Bilder zu zeigen. In den 33 dramatischen Bildern entwirft Peter Weiss, entsprechend dem oben zitierten Arbeitsschema, eine aktualisierte Höllenwanderung. Anders als in der Vorlage sind die Bilder untereinander jedoch nurmehr lose verbunden; die gebundene Darstellung von Dantes Inferno wird so bewusst aufgesprengt. In der Divina Commedia hatte der Autor Dante den Weg des gleichnamigen Protagonisten durch neun Höllenkreise beschrieben, die ihn von der Erdoberfläche bis zum Erdmittelpunkt führen. Auf seinem Weg begegnet er einer Vielzahl historischer und mythologischer Figuren, gemäß der göttlichen Ordnung hat jeder Sünder und Höllenwächter einen ihm genau zugewiesenen Platz. Im Gegensatz zur literarischen Vorlage imaginiert Weiss in seinem Stück eine rein säkulare Hölle. So heißt es am Beginn des Inferno:36 Vergil Der Dichter Dante malte uns ein Bild von einem Ort der ihm in Furchtbarkeit erschienen Wo man dem Sünder seine Tat vergilt Uns aber kann dies Bild nur wenig dienen Ihr fragt warum

36

Weiss: Inferno. Stück und Materialien. Hg. von Christoph Weiß. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2003. S. 13-14.

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Denn können wir nicht seit vielen hundert Jahren aus dem Gemälde das er uns so unermüdlich malte mit jeder Einzelheit in Form und Ton erfahren wie dort der Sünder für die Sünde zahlte Was ist dann falsch Falsch ist die grosse Kunst mit der er sich bemühte schreckliche Strafen in das Jenseits zu verweisen für alles was an Bosheit auf der Erde blühte um es dort unten tiefer zu umkreisen Denn hört mir zu Wer glaubt dass er für seine Sünden in die Hölle käme der irrt und sei nur frohen Mutes denn nach dem Tod ist keiner der ihm etwas nähme Wer Schlechtes tut erwirbt für sich nur Gutes Singt alle mit Chor Es gibt nur einen Platz für alle unsre Taten und der ist hier hier sind wir unbestraft am Werk Uns ist an diesem Ort bisher noch nichts missraten und unaufhörlich werden wir dafür geehrt

Weiss’ moderne Hölle liegt nicht wie Dantes Hölle im Erdinneren, sondern sie ist ein ‚Täter‘-Ort im Diesseits. Infolgedessen unterstreicht der Titel des Dramas, Inferno, zwar noch die enge Anbindung an den Ursprungstext.37 Anders als bei Dante bezeichnet der Begriff aber keinen Jenseitsort mehr. Vielmehr trägt er, säkular verstanden, eine starke Negativwertung, die metaphorisch über das gesamte Geschehen gelegt wird: Das im Stück Gezeigte ist (wie) die Hölle.

37

In den Manuskriptseiten steht als Überschrift: „DIVINA COMMEDIA / Drama in drei Teilen / Teil I INFERNO“ (vgl. das Nachwort von Christoph Weiß in Weiss: Inferno, a. a. O., S. 124).

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Ausgehend von diesem Grundkonzept entwarf Weiss die Handlung, die in den groben Strukturen noch vom Ausgangstext inspiriert ist. Wie in der Divina Commedia steht auch bei Weiss eine Dante-Figur im Mittelpunkt des Geschehens. Am Beginn seiner modernen Höllenwanderung taucht Dante nach einer längeren Zeit im Exil unvermittelt in seiner namenlosen Heimatstadt auf. Im Verlauf des Stücks durchläuft Dante verschiedene Stationen in der Stadt. Er begegnet alten Freunden, Bekannten, der Stadtbevölkerung und Vertretern der Obrigkeit, die sich alle darum bemühen, ihn in seiner Heimatstadt wieder einzugliedern. Wie in der Vorlage sind die Begegnungen nach dem Prinzip der negativen Steigerung gestaltet. Im mittelalterlichen Inferno Dantes gilt: Je tiefer die Höllenkreise liegen, desto schwerer sind die Sünden, die gesühnt, und die Strafen, die erlitten werden. Im Drama wird die Steigerung entlang des Integrationsprozesses Dantes in der Gesellschaft entwickelt: Auf der einen Seite treten immer wichtigere und höhere Stadtobrigkeiten auf, die mit immer größerer Autorität agieren. Sie versuchen mit Ehrungen und Beschwörungen, dann mit Drohungen und zunehmender Gewalt Dante zum Wiedereintritt in die Gesellschaft zu zwingen. Parallel dazu wird immer deutlicher, dass die Stadt, die sich selbst vollkommen positiv gibt, von vielfältigen Strukturen der Repression und Aggression bestimmt ist. Auf der anderen Seite durchläuft Dante einen inneren Erkenntnisprozess von einer passiven, beinahe bewusstlosen Haltung hin zu einer selbstbewussten, eigenständigen Position, die seine eigene Vergangenheit reflektiert und die der Gesellschaft entgegensteht. Am Ende des Dramas, gleichsam dem ‚tiefsten Punkt der Hölle‘, steht die Vernichtung Dantes – und womöglich gar der Höllengesellschaft insgesamt. Im Unterschied zur mittelalterlichen Divina Commedia, in der für Dante mit dem Gang durch die Hölle von Anfang an die Sicherheit des wohlbehaltenen Wiederaustritts und seines Aufstiegs über den Läuterungsberg ins Paradies, mithin sein eigenes Heilsversprechen, verbunden war, fehlt das in Weiss’ Modernisierung: Im Stück findet beim Wechsel von der Verserzählung zum Drama eine Veränderung der Erzähl- bzw. Darstellungsperspektive statt, bei der nicht mehr der Erzähler Dante im sicheren Rückblick das Erlebte berichtet, sondern das Geschehen unmittelbar passiert, Dante mit ungewissem Ausgang selbst leidet. Dante wird selbst zu einem Opfer. Peter Weiss tritt so in einen kritischen Dialog mit der Divina Commedia und versucht, entsprechend seiner Zweifel an der ursprünglichen Erhabenheit der Dich-

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tung bzw. Dantes, diesen in seiner Aktualisierung „in seiner Gemessenheit zu untergraben“38. Abgesehen von diesen Handlungsstrukturen sind auch die Figuren im Stück der Vorlage entlehnt. Im Drama treten zehn Schauspieler in zum Teil wechselnden Rollen auf: ‚Dante‘; ‚Vergil‘ (auch als ‚Giotto‘ und ‚Lateiner‘); ein ‚Chef‘ (auch als ,Charon’, ‚Minos’, ‚Pluto’, ‚Phlegias’, ‚Minotaurus’, ‚Futschi‘, ‚Odysseus‘ und ‚Montefeltro‘); ein Schauspieler in verschiedenen Rollen (‚Tschacko‘, ‚Filipp‘, ‚Patzo‘, ‚Capaneus‘ und ‚Geryon‘); und sechs Schauspieler als anonymer ‚Chor‘ und ‚Gegenchor‘ (von denen drei zusätzlich Rollen als ‚Luchs‘, ‚Löwe‘ und ‚Wölfin‘ bzw. eine die Rolle als ‚Medusa‘ übernehmen). Wie diese Liste unschwer erkennen lässt, übernimmt Weiss für sein Inferno die Namen einzelner Figuren von Sündern und mythologischen Wächterfiguren aus Dantes Hölle. All die genannten Figuren treten bei Weiss in der ursprünglichen Reihenfolge der Textvorlage auf. Und sie tragen zum Teil noch Merkmale bzw. erfüllen Funktionen, die an jene in der Divina Commedia erinnern: Dante etwa trägt Kleider, wie sie von der historischen Dante-Ikonographie bekannt sind, vor allem eine „Kappe daran Ohrenklappen und drüber einen Lorbeerkranz“, und er wird von Vergil als „Dichter Dante Alighieri“ identifiziert, als Verfasser „kunstvolle[r] Sonette“ bzw. als „Paradies- alias Höllendante“, von dem „es heisst er sei weit vorgestossen durch die Grenzen / die wir bei angestrengtem Denken noch / als Hirnschale empfinden“.39 Charon ist in der Divina Commedia Fährmann und erster Höllenwächter, der die Seelen nach der Ankunft in der Unterwelt über den Höllenfluss in die eigentliche Hölle fährt; im Drama wird er als „Portier“40 der Stadt bezeichnet. Minos, ein weiterer mythologischer Höllenwächter, weist in Dantes Inferno die Sünder gemäß ihrer Vergehen einem bestimmten Strafort zu; bei Weiss leitet er eine Aufnahmeabteilung, in der Dante über seine Sünden befragt wird, bevor der Integrationsprozess in der Gesellschaft beginnt. Neben den mehr oder weniger starken inhaltlichen und strukturellen Übernahmen hat Weiss die Figuren aber sämtlich neu motiviert: Dante etwa trägt Züge von Peter Weiss selbst, andere Figuren erinnern an Jugendfreunde von Weiss.

38

Ebd., S. 145.

39

Alle Zitate: Erster Gesang, ebd., S. 9-12.

40

Ebd., S. 20.

42 | „H ÖLLENMASCHINE / W UNSCHAPPARAT “

An wenigen Stellen greift Weiss auch Spezifika einzelner Episoden aus Dantes Inferno auf und gestaltet sie um. So verwandelt er beispielsweise im ersten Gesang des Dramas die Begegnung des mittelalterlichen Wanderers mit drei Tieren im wilden Wald am Beginn des Inferno in eine Jahrmarktszenerie mit drei sprechenden Tieren, Luchs, Wölfin und Löwe.41 Durch die formalen, strukturellen und inhaltlichen Übernahmen hält Weiss Dantes Inferno als Vorlage seines Dramas präsent. Gleichzeitig dienen sie, wie weiter unten ausführlicher gezeigt wird, ihm als Gerüst, innerhalb dessen er auf reale gesellschaftliche Entwicklungen der damaligen Zeit und auf autobiographische Erlebnisse verweist. Diese werden durch die ‚danteske Hülle‘ verfremdet. Die Verfremdungseffekte im Stück bleiben aber nicht nur auf die besondere Art der Dante-Rezeption beschränkt. Sondern sie werden auch durch zusätzliche Mittel im Drama verstärkt. So heißt es bei den Regieanweisungen, dass die Figuren, außer Dante und Vergil, Masken tragen, „die die obere Gesichtshälfte verdecken und schnell ausgewechselt werden können“42. Die Masken und mit ihnen die Rollen werden – schnell, manchmal mit einem Drehsprung um die eigene Achse – auf der Bühne getauscht. Es werden so anti-illusionistische Effekte erzielt.

41

Hinweise auf die Vorlage finden sich u. a. im ersten Gesang des Dramas, wo Weiss die ursprüngliche Begegnung Dantes mit drei Tieren im wilden Wald in eine Jahrmarktszenerie verwandelt; bei Minos, der ein Band schwingt; im sechsten Gesang erinnert sich Dante, dass er unvermittelt in einem Krankenhaus (?) zu sich kam, ähnlich dem erwachenden Dante in der Commedia, der nach seiner mystischen Überquerung des Unterweltflusses Acheron aus einer tiefen Ohnmacht am jenseitigen Ufer erwacht; der Ort des Geschehens wird als „Inferno“, die Stadt als „Dis“ – wie die gleichnamige Höllenstadt der Commedia – benannt, in der ein Fluss „Styx“ fließt; im siebten Gesang, in dem Dante über seine Geliebte ‚Bea‘ befragt wird, die er bei seiner Flucht in der Stadt zurückließ, ist im Hintergrund Vogelkreischen zu hören, analog zum V. Gesang des Inferno Dante Alighieris, in dem die Wollüstigen Buße tun und wie Vogelschwärme im immerwährenden infernalischen Sturm umhergetrieben werden; etc.

42

Weiss: Inferno, a. a. O., S. 8.

I N ACHTRÄGLICHE S TANDORTBESTIMMUNG | 43

Diese entstehen auch durch den besonderen Sprachgebrauch. Das Drama ist zum Großteil in freien Versen ohne jede Interpunktion abgefasst (durch die Groß- und Kleinschreibung werden aber neue Satzanfänge erkennbar), wodurch ein deutlicher Unterschied zu konventionellen Schreibweisen entsteht. Weiss integriert zudem immer wieder gereimte Passagen, meist mit vierzeiligen Kreuzreimen, die oft auch jambisch rhythmisiert sind; ein Gesang ist gebetartig gestaltet;43 andere songartig44 u. a. m. Im Stück gibt es auch mehrere Hinweise darauf, dass es sich wie beim Marat / Sade-Drama um ein ‚Spiel im Spiel‘ handelt.45 So kommentiert im zweiten Gesang der ‚Chef‘ eine songartige Erläuterung Vergils über das ‚neue‘ Inferno: Ein schönes Lied Man könnte wie dies in richtigen Theatern üblich Prolog nennen und daraufhin mit einem Spiel beginnen Da wir als Stegreifbühne weit bekannt und auch um Spässe nicht verlegen sind und Sänger haben sowie Instrumentespieler und tanzen können und Salto schlagen bin ich dafür wir fangen an

Auch an anderen Stellen finden sich Hinweise auf ein ‚Spiel im Spiel‘ – die Masken sind evtl. als Teil dieser Sinnebene zu verstehen –, das aber im Unterschied zum Marat / Sade-Drama nicht konsequent als Handlungsstrang im Stück ausgearbeitet ist.46 Vielmehr scheint es Teil

43

Ebd., S. 32. Gesang, S. 116-7.

44

Ebd., S. 13.

45

Das ‚Spiel im Spiel’ nutzte Weiss auch im Hölderlin noch einmal als dramatisches Verfahren.

46

U. a. vierter Gesang: [Charon:] „Es geht jetzt los / Das Spiel ist jetzt eröffnet“ (Ebd., S. 20); 21. Gesang: [Minotaurus:] „Ihr kennt es gut was wir bei uns / in unsrer Bude treiben / Ihr seid dabei und ihr seht zu / es macht euch allen Spass / Auf diesem Markt vor unsrer Bühne / seid ihr gern versammelt“ (S. 71); [Vergil:] „Es ist nicht möglich / Ordnungen wie du [Dante] sie dir denkst / in unser Spiel einzufügen“ (S. 110); 33. Gesang: [Chef:] „Ich stelle wieder einmal mit Genugtuung fest / dass

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einer Strategie zu sein, bei der die Einheit von Zeit, Ort und Handlung im Stück aufgehoben wird. An deren Stelle treten von Szene zu Szene unvermittelte Orts- und Personenwechsel, immer wieder äußert Dante ein Gefühl der Orientierungslosigkeit bzw. den Eindruck, er befinde sich in einem (Alp-)Traum, aus dem er bald erwachen würde;47 und einmal wird er in einer Krankenstation, die an eine Anstalt für Geisteskranke denken lässt, gezeigt.48 Durch das Aufgreifen einzelner, auffälliger formaler und inhaltlicher Elemente aus der Divina Commedia und die oben genannten zusätzlichen a-realistischen Gestaltungsmittel bewirkt Peter Weiss im Stück eine alptraumhafte Stimmung, die das gesamte Drama prägt. Gesellschaftskritische Bestandsaufnahme Innerhalb dieses infernalischen Alptraums zeigt Peter Weiss Szenen, die, so meine These, Charakteristika der deutschen Nachkriegszeit aufrufen. Sie beruhen eventuell auf Eindrücken, die er während seiner damaligen Deutschlandreisen erhielt: Nach Kriegsende war Peter Weiss immer wieder in seine frühere Heimat Deutschland zurückgekehrt. Bereits 1947, im Anschluss an einen Besuch in Berlin, hatte er in Zeitungsartikeln die damaligen gesellschaftlichen Verhältnisse beschrieben. Die Entstehung des Inferno fiel zeitlich ebenfalls mit einem längeren Deutschlandaufenthalt von Februar bis Mai 1964 zusammen. Während des Aufenthalts besuchte Weiss die AuschwitzProzesse, die von Dezember 1963 bis August 1965 in Frankfurt am

unsre Bühne fähig ist / jedwedes Spiel / das ich ersinne / ohne Verzögerung vorzustellen […] Ich habe für mein nächstes Spiel / die Lösung schon im Kopf / Dort kommen wir sehr schnell zum Ziel / ich drück nur auf den Knopf“ (S. 118-9). Immer wieder spielen die Figuren imaginierte Szenen, u. a. im dritten Gesang, in dem ein Zusammentreffen zwischen Dante und seiner gealterten Jugendliebe Bea vorgestellt wird. 47

Vgl. dazu auch die bereits zitierte Selbstbeschreibung seiner Exilzeit als traumhaften Zustand: „Diese Zeit war eine Wartezeit für mich, eine Zeit des Schlafwandelns.“ (Weiss: Abschied, a. a. O., S. 143).

48

Vgl. Weiss: Inferno, a. a. O., 22. Gesang, S. 76-9. – Vgl. auch Weiss’ Kommentar zu Dantes Inferno, das er als „Alptraum“ und „Irrenhaus“ beschreibt (Weiss: Gespräch über Dante, a. a. O., S. 149).

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Main stattfanden und bei der 19 Mitglieder der Lager-SS und ein Funktionshäftling vor Gericht standen.49 Ein erstes Charakteristikum im Drama vorgestellten der neo-infernalen Gesellschaft ist, dass sie sich selbst als vollkommen positiv beschreibt. Diese euphemistische Selbstbeschreibung – die in eklatantem und spannungsgeladenem Widerspruch zum Titel des Dramas, Inferno, steht – geschieht erstmals im vierten Gesang, in dem der Spruch, der über dem Eingangstor der mittelalterlichen Hölle Dantes prangt, ins Gegenteil umformuliert wird. Zum besseren Vergleich seien beide nebeneinander gestellt: Durch mich geht man zur Stadt der Schmerzen ein, Durch mich geht man hinein zur ewgen Qual, Durch mich geht man zu den Verlorenen. […] Ihr, die ihr herkommt, lasset alle Hoffnung. [Inf. III, 1-3; 9] Hier gehts herein zur Stadt in der es keine Schmerzen gibt Hier gehts herein zu jeglicher Errungenschaft Hier gehts zu denen die in jedem Augenblick die Sieger sind Ihr die ihr kommt lasst alle Zweifel fahren […] Hier gehts herein zur Stadt in der das Leiden überwunden ist und jegliche Verlorenheit vergessen Hier gehts herein zur Stadt in der es nichts mehr zu erhoffen gibt

49

In dieser Zeit betreute Peter Weiss die Vorbereitungen zur Uraufführung des Marat / Sade-Dramas, er gab Schreibkurse im Rahmen eines von ihm, Günter Grass, Peter Rühmkorf, Hans Werner Richter und Walter Höllerer geleiteten ‚Literarischen Colloquiums‘, und es fanden Planungsgespräche für die Gründung einer Filmakademie in Berlin statt, die letztlich aber nicht verwirklicht wurde. Vgl. Müllender, a. a. O., S. 34-5.

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denn alles was in dieser Stadt besteht das ist vollkommen

In bewusstem Gegensatz zu Dantes Höllentor-Inschrift wird die moderne Stadt als irdisches Paradies stilisiert, in dem es weder Leid noch Schmerz oder Verlorenheit gibt. Auffällig beim neuen Text ist die Selbstbezeichnung der Stadtbevölkerung als „Sieger“: Der öffentliche Diskurs der Kriegs- und Nachkriegszeit war von der Stilisierung als ‚Sieger‘ und ‚Verlierer‘ des Zweiten Weltkriegs geprägt. Wenn man die weiteren Indizien im Text als Grundlage dafür sieht, dass in das Drama tatsächlich Eindrücke der deutschen Nachkriegsgesellschaft eingeflossen sind, dann steht der Ausdruck an dieser Stelle einerseits im scharfen Kontrast zur ‚totalen Niederlage‘, die das Dritte Reich bei Kriegsende hinnehmen musste und die es politisch und wirtschaftlich in den 1960er Jahren nach wie vor von den ‚Siegermächten‘ abhängig machte. Andererseits könnte der Ausdruck auch die Selbstwahrnehmung des aufstrebenden West-Deutschland während der Wirtschaftswunderzeit spiegeln. Ein weiteres Charakteristikum der Inferno-Gesellschaft ist, dass sie ganz im Zeichen der Erneuerung steht. Am Ende des vierten Gesangs betont etwa Charon, dass „hier nichts verharrt / im Alten und Verbrauchten / Bei uns ist jeder Augenblick / Erneuerung“.50 Im Gegensatz dazu hält Dante jedoch die Erinnerung an Vergangenes wach, die Friedlichkeit der Gegenwart scheint nur eine oberflächliche zu sein:51 Dante Ich bin durch eine Stadt gegangen die der Stadt in der ich aufwuchs ähnlich war Die Strassen trugen Namen die ich kannte und wer mir hier begegnete sprach eine Sprache die wie meine Sprache klang Ich sah wie die Bewohner lachend über die gepflegten Plätze gingen auf denen gestern noch die Scheiterhaufen brannten

50

Ebd., S. 22.

51

Ebd., S. 23.

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Sie fassten mich nicht an sie fesselten mir die Hände nicht Mit Kindern spielend gingen sie an mir vorbei doch ich sah ihren Blick auf mich gerichtet und ihre Stimmen hörte ich schreiend hetzend

Nur wenig verhüllt scheint durch den Text das Thema der Gewalt, genauer der Judenvernichtung durch, das in verschiedenen Bildern im Stück wiederkehrt. Im siebten Gesang beispielsweise sagt Dante, dass er zu denen gehörte, die „zur Verbrennung verurteilt wurden“52. Im 19. Gesang wiegelt Phlegias ab: „Wer fragt nach denen / die verwesten und verrauchten / Nur mit den Lebenden wird hier gerechnet“53. Im siebten und achten Gesang ist von ‚Bea‘ die Rede, die deportiert wurde: Sie wurde mit einem Liebhaber aus der Wohnung gezerrt, „die Haut der Liebenden war aufgerissen / zertreten war / was ihrem Freund noch zwischen / seinen Schenkeln hing“54; ein Bild Beas wird kurz eingeblendet, als „nackter Frauenleib / beschmutzt verbogen und gefesselt“, „der Schädel kahlgeschoren / der Mund die Augen weit aufgerissen“.55 Diese Beschreibungen rufen zweifellos Bilder aus Konzentrationslagern ins Gedächtnis. Die Erinnerungen des Rückkehrers werden von den Einheimischen abgelehnt. So entgegnet Charon, dass Dantes Denken „hoffnungslos verstaubt“ sei, da die Stadt „ihre damaligen Interessen anderen Geschäften zugewandt“ habe – man beachte die aufs Ökonomische hindeutende Formulierung! – und es, wie er verharmlosend sagt, nicht mehr nötig habe, „sich mit Missverständnissen zu befassen / die damals von gewissen Kreisen hervorgerufen wurden“56. Vergil pflichtet dem bei („Sieh doch wie offen es hier ist / nichts bindet dich / keine Vergangenheit ist dir im Weg“57). Die Vergangenheitsvergessenheit

52

Ebd., S. 32.

53

Ebd., S. 67.

54

Ebd., S. 36.

55

Ebd., S. 32-3.

56

Ebd., S. 23.

57

Ebd., S. 25.

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tritt im Stück immer wieder zutage und kann als Anspielung auf den Verdrängungsreflex der deutschen Nachkriegszeit verstanden werden. An die Stelle einer rückwärtsgewandten Vergangenheitsbewältigung tritt in der Inferno-Gesellschaft eine rein auf die Zukunft gerichtete Erneuerungsbewegung, die, ähnlich der Tor-Inschrift, mit einem pathetischen Überlegenheitsgestus einhergeht. Im vierten Gesang hebt Charon hervor: „Wir sind hier offen überlegen / verbunden allen denen / die für Entwicklung und Veränderung sind“. Der Fortschritt wird vor allem als ökonomischer Aufschwung verstanden. Im Stück ist immer wieder von florierenden „Geschäfte[n]“58 die Rede, von „Reichtum“59, von „Aufschwung“60, „Wettbewerb“, bei dem „jeder auf seinem Platz gewillt [ist] / Höchstmögliches zu leisten“61, von „Überfluss“62, der, wie sarkastisch angemerkt wird, erst „durch die Zerstörung“ entstanden ist, und davon, dass „die Zeit des Tiefgangs / uns dazu verhalf / ungeahnte Kräfte zu erreichen“63. Das Vokabular lässt an den Fortschrittsoptimismus der 1950er und 60er Jahre denken, als nach der völligen Zerstörung Deutschland insbesondere mit Hilfe des amerikanischen Marshall-Plans wieder aufgebaut und zu einem der wichtigsten ökonomischen Standorte weltweit wurde. Dass der wirtschaftliche Aufstieg aber auch völlig skrupellose Seiten trägt, machen verschiedene Bemerkungen der Stadtbewohner deutlich, in denen es u. a. heißt: „Was anderswo als Qual bezeichnet wird / und als Gebrechen und Verwundung gilt / das nennen wir hier Überlegenheit / und wer sich drauf versteht dies auszunützen / streicht den Gewinn in barer Münze ein“.64 Der Profit ist im kapitalistischen Gesellschaftssystem der Heimatstadt das einzige, was zählt.65 An

58

Ebd., S. 63.

59

Ebd., S. 39.

60

Ebd., S. 67.

61

Ebd., S. 93.

62

Ebd., S. 66.

63

Ebd.

64

Ebd., S. 21.

65

Vgl. auch ebd., S. 63: „Zu uns steht heute der dem es am besten so / in die Geschäfte passt / und was uns recht ist ist auch ihm recht / Wer heut von uns geschädigt wird / kann morgen schon auf unsrer Seite sein / wenn die Bedingungen es wollen / und auch bei dem ist dann von Übel-

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einzelnen Stellen ist im Drama davon die Rede, dass diejenigen, die nicht am Aufschwung teilhaben, selbst schuld seien. Die Verlierer rebellieren aber nicht gegen das System, sondern stützen es sogar selbst.66 Bei dieser Darstellung könnte eine frühere Beobachtung von Peter Weiss hinzugedacht werden, die er in Abschied von den Eltern schilderte. Er beschrieb darin die Bedingungen der Arbeiter in der Fabrik des Vaters, in der er die „abwesenden Gesichter, die mechanische Aktivität, die sonderbare Verlorenheit und Erloschenheit in den Arbeitspausen [sah], man spielte Karten, löste Kreuzworträtsel, und was Persönlichkeit in einem war, war zerflossen zu gestaltlosem Brei“.67 Die Arbeiter verdienten ihr Geld, das für das Nötigste langte, und fragten nur hin und wieder nach kleinen Gehaltserhöhungen. Sie stellten die Bedingungen selbst aber nicht in Frage, was Peter Weiss verwunderte (ohne dass er die Missstände zu dieser Zeit mit sozialistischen o. ä. Theorien in Verbindung brachte, mit denen er sich seit den späten 1960er Jahren beschäftigte). Hier wie da weist Peter Weiss also auf eine mögliche Ursache der Stabilität des kapitalistischen Systems hin, das von den Ausgebeuteten mitgetragen wird. Am totalen Kapitalismus ist schließlich auch die Kunst beteiligt, die „von jedem Werturteil und jeder Form von Bindung“68 befreit, d. h. rein affirmativ und ohne kritisches Potential ist. Im 26. Gesang, in dem Dante auf Giotto trifft, bemerkt Dante, dass die Kunst nach wie vor von Wucherern gefördert würde, die mit diesem Kultursponsoring ihren illegitimen Erwerb „heiligen“.69 Obwohl der Aufschwung für die Bewohner plakativ angepriesen wird – „niemand bei uns hat heute noch zu klagen / in unsrer Stadt ist jeder Optimist“70 – zeigt sich im Laufe des Stücks, dass hinter dem Auf-

nehmen keine Rede / denn er schlägt ja jetzt mit uns Gewinn aus andern / die uns vielleicht vor kurzem nahestanden.“ 66

Vgl. ebd., S. 41; 74.

67

Weiss: Abschied, a. a. O., S. 140. In Fluchtpunkt (a. a. O., S. 96-7) berichtet Weiss über Waldarbeiter, mit denen er ein Gespräch über ihre schwierige ökonomische Lage führen wollte, das von ihnen aber abgeblockt wurde.

68

Weiss, Inferno, a. a. O., S. 28.

69

Ebd., S. 92.

70

Ebd., S. 39.

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schwung und dem Primat des Profitdenkens eine totalitäre und autoritäre Gesellschaftsordnung steht. Diese wird erstmals deutlich, als Dante im neunten Gesang von Pluto ein hoher Orden für seine Leistungen verliehen werden soll, „vorausgesetzt dass er nicht unsre Ordnung untergräbt“71. Das, was hier vorerst nur als Bedingung formuliert ist, wird wenig später zur unverhohlenen Androhung oder gar Ausübung von Gewalt, wie im 20. Gesang: Minotaurus In dieser Zeit in der die Angriffspläne unsrer Feinde wachsen kommt es drauf an in jedem Augenblick bereit zu sein die Werte zu verteidigen die wir schon vormals oft verteidigt haben und die wir höher als das eigne Leben stellen Um diese Werte die gekrönt werden von der Freiheit des Erwerbs und von der Unabhängigkeit des Staatsgebildes effektiv zu schützen ist eine starke Hand in allen Zweigen der Verwaltung nötig Zum allgemeinen Wohl regieren wir und von der Gerechtigkeit wird noch die kleinste Handlung hier bestimmt […] Verständlich ist dass diese Minderheit die unsre allgemeinnützlichen Pläne nicht versteht und diese untergräbt und somit unserm äussern Feind entgegenwirkt beseitigt werden muss Zu diesem Zweck haben wir Sammelstellen eingerichtet draussen am Fluss am Rand der Stadt und wer hier landet hat sich die Schuld selbst zuzuschreiben

71

Ebd., S. 40.

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In der Rede des Minotaurus schimmert Vokabular durch, das bei der in den 1950er und 60er Jahren aktuellen Abgrenzung des Westens gegenüber dem kommunistischen Osten gängig war, wenn von ‚Angriffsplänen der Feinde‘ und den eigenen ‚Werten‘ die Rede ist, die geschützt werden sollen. Gleichzeitig wird eine Kontinuität zu früheren Zuständen suggeriert, da es offenbar ‚dieselben‘ Werte sind, die die Bewohner ‚schon vormals oft verteidigt haben‘. Die ‚starke Hand‘ deutet auf ein autoritäres Regime, das mit einer ‚offenen‘ (man könnte hier ggf. auch ‚demokratischen‘ einfügen) Gesellschaft, die der Text beschwört, eigentlich nichts zu tun haben sollte. Andersdenkende, die sich dem Wirtschaftssystem oder – wie hier erstmals erwähnt wird – der staatlichen Unabhängigkeit entgegenstellen, sollen eliminiert werden. Dies geschieht in „Sammelstellen“, in denen „jene die den Ansprüchen unsrer Gemeinschaft / nicht gewachsen sind / von ausgewählten und geschulten Kräften so behandelt [werden] / dass sie vielleicht auf bessere Gedanken kommen“.72 Es handelt sich um Umerziehungslager, die frappierend an Konzentrationslager erinnern:73 Im Vordergrund aus einer Tiefe strecken sich Köpfe Arme Leiber hoch und von den Seiten schiessen Wächter auf sie zu mit langen Stangen Gabeln Netzen Sie tragen Uniformen an denen es von Schnallen Riemen Knöpfen Kordeln blitzt Mit ihren Werkzeugen und Waffen und mit den Tritten ihrer Stiefel halten sie das Gewoge unter sich in Schach […] Einzelne werden hochgezogen aus der Vertiefung um auf Befehl der Wächter Übungen zu leisten Einer hüpft in der Hocke ein andrer wirft sich durch einen Reifen ein dritter wird zum Tragtier seines Wächters einer zieht unsichtbare Furchen andre schieben stemmen Unsichtbares

72

Ebd., S. 69-70.

73

Ebd., S. 69.

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Alle fahren steil auf zur ehrerbietigen Haltung verbeugen sich oder lassen sich fallen nach vorn oder rückwärts

Sowohl die Uniformen der Wächter als auch die erzwungenen Gymnastikübungen, der Appell und die angedeuteten harten körperlichen Arbeiten evozieren unmittelbar Bilder deutscher KZs, hier in einem nominell freien kapitalistischen System. Obwohl an dieser Stelle klar ist, dass das für die reale BRD so nicht zutraf, betont die fiktive Schilderung aber überdeutlich die Unfreiheit und den Zwang, der in der Höllengesellschaft herrscht. Und sie zeigt hier eine ungebrochene Kontinuität früherer Strukturen in der Gesellschaft. Dass es sich bei den Gefangenen nicht nur um ideologische Opponenten und Systemkritiker handelt, sondern auch rassistische Gründe zur die Einweisung in die neuen Konzentrationslager führen, beinhaltet der 21. Gesang: Wächter 1 Grosse dicke krumme Nase Plattfüsse und schwarzes Haar Wächter 2 Schwarze Haut und dicke Lippen Affenstirn und Haar wie Draht Wächter 3 Stinkt wien Tier und fletscht die Zähne kann die Triebe nicht beherrschen […] Wächter 2 Sowas darf bei uns nicht leben für die Schöpfung eine Schande

Die Wächter-Figuren greifen stereotype Negativ-Urteile auf, wie sie realiter auch im Dritten Reich verbreitet waren. Wie früher wird auch jetzt wieder aussortiert, wer oder was lebenswert ist. Das, was dem System nicht dient, wird als „Dreck“ und „Abfall“ deklariert, sprachlich und faktisch entmenschlicht. Durch diese Bilder wird noch einmal

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eine Strukturgleichheit zwischen dem alten und neuen Gesellschaftssystem hergestellt, die vom ‚Minotaurus‘ als Wächter-Figur auch ausgesprochen wird, wobei er Vokabular der ‚Rassenhygiene‘ gebraucht:74 Ihr habt dies alles schon gehabt und wisst auch es geht weiter Nur allzu gut ist euch bekannt was Minderwertige trieben behielten sie hier freie Hand und Stimmrecht nach Belieben Wir müssen hier wie Ärzte sein ein hohes Ziel vor Augen Geduldig wirken wir auf sie ein und fest in unserm Glauben dass nur von uns von uns allein die Bessrung kommen kann

Auch auf die Frage, wer das repressive System und seine Stabilität zu verantworten hat, gibt das Stück eine eigene Antwort. Es sind nämlich nicht nur die Stadt-Autoritäten, sondern alle Bürger, die als Mitläufer gekennzeichnet werden und hinter deren Fassade der Normalität die Banalität des Bösen lauert:75 Die Bürger essen und schlafen gut, genießen Blumenduft und Vogelgesang, beten, musizieren und interessieren sich für Kunst. Wenn ihnen aber „einer übern Weg [läuft] / der nichts bei uns zu suchen hat“76, reißen sie ihm die Mütze vom Kopf, schießen ihm in die Beine oder einer säugenden Mutter das Kind von der Brust. Bei der Beschreibung weiterer Beispiele von Gewalt greift Weiss auf bekannte Bilder der Judenermordung zurück:77

74

Ebd., S. 73.

75

Hannah Arendts Buch Eichmann in Jerusalem. A Report on the Banality of Evil, in dem sie das Schlagwort von der ‚Banalität des Bösen‘ prägte, war 1963 erschienen (dt. 1964).

76

Weiss: Inferno, a. a. O., S. 96.

77

Ebd., S. 98-9.

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Figur 5 Wohltuend ist es sie die dir dazu anbefohlen wurden in einer Reihe aufzustellen am Erdwall und dann nachdem du sie in deiner Geduld ihr Grab graben liessest in ihren aufgerissnen Mund zu zielen […] Figur 2 Freundlich sagte ich zu ihnen die nackt und dicht aneinandergedrängt gingen Geht schneller Los los schneller schneller es wollen noch viele ran und fügsam gingen sie dahin Alte und Junge und wollten kein Ende nehmen

Schließlich thematisiert Weiss in einem größeren Dialog zwischen Odysseus und anonymen Figuren auch die erneute Kriegsbereitschaft der Inferno-Gesellschaft. Odysseus, der einen Helm trägt und so als ein Vertreter des Militärs gekennzeichnet ist, fordert von den Figuren, dass sie bereit sein sollten „durch hunderttausend Gefahren zu gehen / wie eure Väter“.78 Die Figuren widersprechen, äußern ihre Angst vor körperlichen Verstümmelungen und Tod. Durch das Zureden des Anführers Odysseus schwinden aber die Bedenken, und in einem großen, sarkastischen und an Brecht erinnernden Schlussmonolog beteuert eine Figur stellvertretend für alle ihren Willen, sich erneut dem Krieg auszusetzen:79

78

Ebd., S. 104.

79

Ebd., S. 106.

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Figur 4 Ohne den einen Arm lässt sichs gut leben und ohne beide Arme geht es auch auch können wir noch eins von unsern Beinen geben und wenn es sein muss beide Beine auch Mit einem Auge sind wir immer noch am Leben und leben können wir auch als Blinde noch Gern wollen wir auch noch unsre Nase geben und haben wir dazu im Bauch ein Loch und ist das Kinn weg leben wir immer noch Geschlechtsteil brauchen wir nicht zum Leben und ohne Mund und Ohren geht es schließlich auch und wenns verlangt wird können wir auch den Kopf hergeben denn sind wir dann auch praktisch nicht mehr im Gebrauch so seht ihr unsern Heldengeist doch ewig schweben Chor & Gegenchor Zu diesem können die Gedanken ehrfurchtsvoll sich heben

Hinter dieser Darstellung kann ein Reflex auf die in Deutschland intensiven Debatten über die Wiederaufrüstung vermutet werden, die sich im Zuge des Ost-West-Gegensatzes vollzogen und Ende der 1950er Jahre mit der Frage zugespitzt hatten, ob in der BRD Atomwaffen stationiert werden sollten, wie es u. a. General Lauris Norstadt, NATO-Oberbefehlshaber, 1957 forderte. Bundeskanzler Konrad Adenauer und Verteidigungsminister Franz Josef Strauß hatten den Plänen zugestimmt, wogegen sich aber im darauffolgenden Jahr stürmischer Protest in der deutschen Bevölkerung regte, der in der AntiAtombewegung mündete. Letztlich wurden keine solchen Waffen auf deutschem Boden zugelassen.80 In der Fiktion des Dramas – und damit endet das Stück – wird der Gedanke an einen Atomkrieg fortgesponnen. Nachdem Dante erledigt wurde, tritt am Ende des 33. Gesangs der Chef hervor und rezitiert, auf das Publikum zu gerichtet: „Ich habe für mein nächstes Spiel / die Lösung schon im Kopf / Dort kommen wir sehr schnell ans Ziel / ich

80

Vgl. den knappen Überblick in Helmut M. Müller: Schlaglichter der deutschen Geschichte. Leipzig; Mannheim: Brockhaus, 2002. S. 357.

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drück nur auf den Knopf“81. Während dessen senkt er den ausgestreckten Zeigefinger herab. Das Geräusch eines Dröhnens beendet in der Dunkelheit das Drama. Der Knopfdruck war der Bevölkerung der 1960er Jahre bereits als Auslöser für den Atomkrieg bekannt. Die ziellose Selbstvernichtung steht in Weiss’ Drama am Schlusspunkt der Hölle. Insgesamt ist das Drama also von nur wenig verdeckten Anspielungen auf Spezifika der deutschen Nachkriegszeit geprägt: Es finden sich Hinweise auf den wirtschaftlichen Aufschwung; auf ein vergangenheitsvergessenes Aufbau- und Erneuerungsstreben; auf eine erneute Wiederaufrüstung in der Gesellschaft. Im Stück werden diese Charakteristika zugespitzt gezeigt: Gegner des kapitalistischen Systems werden vernichtet; die andauernde Gewaltbereitschaft manifestiert sich in erneuten Konzentrationslagern; die Wiederaufrüstung endet in einer atomaren Selbstzerstörung. Indem Peter Weiss die Charakteristika als Alptraum zeigt, erscheinen sie zugespitzt und verzerrt, laden aber zu einem Vergleich mit der Realität ein. Die Zuschreibung als Inferno brandmarkt sie in jedem Fall als extrem negativ. Aus dieser Darstellung im Stück lassen sich letztlich zwei Leitfragen ablesen, die Peter Weiss dem Zuschauer mit auf den Weg gibt. Erstens: Gibt es in der deutschen Gesellschaft eine ‚Stunde Null‘, einen grundlegenden Wandel, der auf Aufarbeitung des jüngst Vergangenen beruht – oder ist jederzeit ist alles wieder möglich? Und zweitens: Ist der Kapitalismus der Aufbaujahre tatsächlich ‚paradiesisch‘ – oder stellt er sich nicht doch für die Gesellschaft als ein menschenverachtendes, totalitäres, potentiell sich selbst vernichtendes, eben ‚infernalisches‘ Wirtschaftssystem heraus? Autobiographische Standortbestimmung Vor den Hintergrund dieser fiktionalisierten, kritischen Gesellschaftsskizze stellt Peter Weiss seinen ‚neuen‘ Dante. Wie in der kurzen Inhaltszusammenfassung erwähnt, durchläuft der Dante des Dramas, der aus dem Exil zurückgekehrt ist, einen doppelten Prozess: Einerseits soll er in die Gesellschaft reintegriert werden, indem seine

81

Ebd., S. 119.

I N ACHTRÄGLICHE S TANDORTBESTIMMUNG | 57

Gleichheit mit den Stadt-Bewohnern betont wird. Und andererseits sucht er eine eigene Position, die gerade auf der Differenz zur InfernoGesellschaft beruht und die sich aus seiner früheren Ausgrenzung aus der Gesellschaft herleitet. Mit der Figur des Dante gestaltet Peter Weiss im Drama Erlebnisse und Reflexionen, die sich auf seine eigene Biographie zurückführen lassen. Dabei unternimmt Weiss auch eine eigene, neue Standortbestimmung, die als Fortsetzung der Gedanken in Abschied von den Eltern und Fluchtpunkt verstanden werden kann und die in besonderer Weise von seiner Exilerfahrung und seinem Status als Heimkehrer nach Deutschland geprägt ist. Dadurch, dass die Standortbestimmung über die Neufüllung der ‚Figurenhülse‘ Dante geschieht, die noch Züge des mittelalterlichen Dichters trägt, wird sie, wie so vieles andere im Stück, anonymisiert und verfremdend gebrochen. Ein erstes Problemfeld, das Weiss über die Figur Dante reflektiert, betrifft den Zusammenhang von Sprache und Existenzentwurf. Weiss’ Dante ist am Beginn des Stücks sprach-, orientierungs- und erinnerungslos. Dieses Problem wird im sechsten Gesang ausdrücklich angesprochen, wenn Dante von sich sagt, er „lebte lange ohne Sprache / und wenn ich mir die Worte dachte / so waren sie durchsichtig / und hinter ihnen stand die Leere / es war unmöglich / etwas auszudrücken“, und „ich wusste nicht in welcher Stadt ich war / auch meinen Namen hatte ich vergessen“.82 Erst langsam findet er im Laufe des Stücks zu seiner Sprache, Erinnerung und Neu-Orientierung. Hinter dem Sprachverlust steht wohl eine besondere Exilerfahrung von Peter Weiss, die an dieser Stelle im Drama nur relativ kurz angetippt wird, mit der sich Weiss aber in der 1965 erschienenen Schrift Laokoon oder Über die Grenzen der Sprache intensiv beschäftigt hat und die als hilfreicher Kommentar neben die zitierten Verse gelegt

82

Ebd., S. 26-7. – Das Motiv des Sprachverlustes wird im Drama wie im Laokoon zunächst biographisch mit dem Exil im fremdsprachigen Ausland begründet. Eine alleinige Zurückführung auf die Problematik des ‚Sprechens nach Auschwitz‘ und der Unbeschreibbarkeit des Holocaust, wie sie Müllender im Rekurs auf Adorno für Weiss herleitet, ist meines Erachtens so nicht gegeben. Vgl. Müllender, a. a. O., S. 27-33.

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werden kann.83 Im Laokoon erinnert Weiss – seine Erfahrungen in der dritten Person darstellend –, wie die eigene Ausgrenzung aus der Heimat zunächst vor allem mit der Sprache geschah, die ihn „plötzlich als Fremdkörper“84 deklarierte. Er beschreibt, wie sich die Sprache in der Heimat veränderte, wie sie „Gewalt“85 annahm (diese ‚Sprach-Gewalt‘ ist auch im Drama noch bzw. wieder allgegenwärtig, u. a. wenn über Lautsprecher Aussagen Dantes völlig verdreht verkündet werden;86 wenn Spott, Hohn und Drohungen gegenüber Dante ausgesprochen werden; etc.). Mit seinem Weggang ins anderssprachige Exil geriet er, wie der Dante im Stück, in einen Zustand der „Sprachlosigkeit“87: „Manchmal rezitierte er für sich die Sprache, die er beherrschte, um sich zu beweisen, dass sie noch da war. Doch schon bei der Wiederholung eines Satzes verlor sich dessen Bedeutung. Die Sprache lag ebenso entfernt von ihm, wie das Land, aus dem sie stammte.“88 Im Essay erwähnt er auch die empfundene „Leere“89 hinter der Muttersprache, von deren Kommunikation er weitgehend abgeschnitten war; und er fügt hinzu: „So wie er sich von dieser Sprache entfernt hatte, hatte er sich von sich selbst entfernt.“90 Mit dem Sprachverlust entstand für ihn eine Situation der ausdruckslosen „Erstarrung“91, der „Ohnmacht“92, in der die Möglichkeit, sich mittels der Sprache selbst zu ‚überprüfen‘ und zu ‚revidieren‘, abhanden gekommen war.93 Und obwohl er sich langsam die neue, zweite Sprache des Exils angeeignet hatte, die für das Überleben im Alltag notwendig war (im Text wird nie klar von ‚Deutsch‘ oder ‚Schwedisch‘ gesprochen), stellte er nach Ende der

83

Peter Weiss: „Laokoon oder Über die Grenzen der Sprache“. In: Rapporte, a. a. O., S. 170-187.

84

Ebd, S. 174.

85

Ebd., S. 175.

86

U. a. Weiss: Inferno, a. a. O., S. 97-8.

87

Ebd., S. 176.

88

Ebd. S. 177.

89

Ebd., S. 178.

90

Ebd., S. 186.

91

Ebd., S. 181.

92

Ebd.

93

Ebd., S. 174.

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Exilzeit fest, dass er doch zur alten Sprache zurückkehren musste, denn:94 Jetzt reichte die Ersatzsprache nicht mehr aus. Sie hatte dem Schreibenden genügt, solange er in seiner Freiheit nur eine Ausweglosigkeit sehen konnte. Wörter, die ihre Unfähigkeit zur Anteilnahme an der Außenwelt beschrieben, mußten im Kreis laufen und sich dabei selbst zerreiben. Solche Wörter hatten als letzte Konsequenz nur das Schweigen. Damit betrog er aber die Absichten, die in jeder Mitteilung lagen, denn im Wesen jeder Mitteilung ist der Wunsch nach Veränderung. Er brauchte wieder eine Sprache, die sich unbehindert bewegen und den schnellen Wechseln und Verschiebungen der äußeren Bedingungen folgen konnte. Je absurder alle Tätigkeiten und Gespräche sich in der neu eröffneten Wirklichkeit zeigten, desto notwendiger war es, die eigene Stellung in dieser Wirklichkeit zu untersuchen.

Um eine eigene Position finden zu können, die sich (jetzt) bewusst in Beziehung zu den äußeren Verhältnissen setzt, muss Weiss auf seine Muttersprache zurückgreifen. Beim Gebrauch dieser alten Sprache wird für ihn aber ein „Bruch“ feststellbar, nämlich „die Erinnerung an ein Fliehen. Wenn die Wörter ihn erreichten, hörte er aus ihnen noch ein Schreien und Bedrohen“95 – so wie der Dante des Dramas bei seinen ersten Gängen in der Stadt, als er auch die alte Sprache wieder hört, sich der Scheiterhaufen und Hetze erinnert. Er erkennt, dass er seine Sprache, den „Ausgangspunkt“96 seines Sprechens neu finden müsste. Schließlich bemerkt er aber, dass die Abgrenzung von der Sprache der Anderen „nicht nur auf seine Verweisung zurückzuführen, sondern viel früher schon in eigenen Handlungen vorbereitet worden war“97, nämlich im Elternhaus, wo er sich im Selbstgespräch an seinen frühen ‚selbstgewählten Exilorten‘ einer Sprache bedient hatte, mit der „er sich selbst verändern konnte“98; diese Sprache stand im Gegensatz zur Sprache des Familienlebens, das er als „Eingeschlossenheit“ empfand, „in der alles gegeben war und in der nichts verrückt werden

94

Ebd., S. 185.

95

Ebd., S. 186.

96

Ebd.

97

Ebd.

98

Ebd., S. 185.

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durfte“.99 Auf diese eigene Sprache besinnt er sich jetzt wieder, sie wird sein Ausgangspunkt und Werkzeug, um „sich wiederzuentdecken und neu zu bewerten“.100 Und als positiven Ausblick hält er fest: „[…] die Möglichkeit entsteht, dass er mit der Sprache, die ihm zur Arbeit dient und die nirgendwo mehr einen festen Wohnsitz hat, überall in dieser Freiheit zu Hause sei.“101 Die enge Verknüpfung von Sprache und Existenzentwurf bzw. persönliche und gesellschaftliche Veränderung, die für den Schriftsteller Peter Weiss große Bedeutung hatte, scheint in den oben zitierten Passagen des Dramas durch. Sie wird gezeigt als suchender Weg Dantes hin zu einer neuen Sprechfähigkeit und Positionsfindung, ohne im Drama aber so ausführlich gestaltet zu sein wie im Laokoon. Am Ende des Dramas, als Dante in einem langen Schlussmonolog seine neue Position benennt, betont er ähnlich wie im Laokoon, dass ihm, trotz aller Entfremdung von der Heimatgesellschaft, die Muttersprache ein Instrument seiner Arbeit bleiben kann (s. u.). Ein weiteres thematisches Zentrum im Stück bildet die Positionssuche Dantes, die sich in Auseinandersetzung mit den Vereinnahmungstendenzen der Gesellschaft entwickelt. Mit all den schmeichelnden Integrationsversuchen, bei denen Dante, der lange in einer tendenziell passiven Haltung verharrt, neu eingekleidet wird, Auszeichnungen und Ehrenämter erhält, Stadt-Dichter werden und sich ins goldene Buch einschreiben soll, wird ihm ein Standort innerhalb der Gesellschaft angeboten, bei der das ‚Fremde‘ und ‚Andere‘ seiner Erfahrung, seine ursprüngliche Verfolgung und Exilzeit, ausgeblendet werden.102 Gleichzeitig sucht Dante aber gerade nach einem Standort, der das eigene Erleben integriert. Das zeigt sich zunächst am schon beschriebenen Erinnerungsverbot, das die Gesellschaft sich selbst und auch Dante auferlegt. Dem

99

Ebd., S. 172.

100 Ebd., S. 187. 101 Ebd. 102 Eine Ausnahme dazu stellt der 24. Gesang dar, in dem Dante dem ‚Lateiner‘, einem früheren Lehrer begegnet. Dieser betont, dass er Dante gerade wegen seines Anders-Seins immer besonders geschätzt habe – was letztlich auf einen Philosemitismus hinausläuft, der auf andere Weise ausgrenzend wirkt wie sein Gegenteil.

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Verbot der Erinnerung hält Dante sowohl durch seine Fragen nach der Vergangenheit als auch durch einen impliziten Hinweis ein Gebot der Erinnerung entgegen, das unschwer auf den Holocaust übertragbar ist: „Ich gehöre zu den letzten / die noch am Leben sind von jenen / die zur Verbrennung verurteilt wurden / Wenn wir vergehn vergeht auch / jede Erinnerung an sie“103. Über Dante wird aber zugleich ein Urteilsverbot über die jüngste Vergangenheit verhängt. Da er selbst nicht im Land gewesen sei und auch nicht deutlich gegen die damaligen Vorgänge Position bezogen habe, stünde ihm, so eine anonyme Figur im siebten Gesang, nun auch kein Urteil zu: 104 Wenn dieser meint er könnte jetzt ein Urteil sprechen über die Zeit in der er selbst nichts abbekam und sich mit reiner Miene auf die Seite derer Stellen die damals untergingen in gewisser Zahl so kann er damit nichts als seine Lügenhaftigkeit erhellen

Hinter dieser Aussage könnten tatsächliche Erfahrungen des Autors Peter Weiss stehen, die er nach seiner Rückkehr nach Deutschland gemacht hat.105 Er, der als Halbjude mit seiner Familie emigriert war, wurde auf der einen Seite als Literat seit Anfang der 1960er Jahre in Deutschland wahr- und ernstgenommen, er erhielt erste Preise und wurde zu Lesungen und zur Teilnahme bei Treffen der Gruppe 47 eingeladen. Auf der anderen Seite musste er aber auch erleben, wie seine ‚andere‘ Stimme, sein spezifischer Blick auf Deutschland als Exilant abgelehnt wurden. In seinen Notizbüchern vermerkt er u. a. eine Szene, die zwar erst 1966 stattfand, aber symptomatisch war, als er beim Treffen der Gruppe 47 in Princeton in seinem Hotelzimmer

103 Ebd., S. 32. 104 Ebd., S. 31. 105 Vgl. dazu auch Berthold Brunner: „Peter Weiss und das Inferno. Über ein unveröffentlichtes Stück, die Ermittlung und das Verhältnis zu Nachkriegsdeutschland – eine Auseinandersetzung mit den Interpretationen von Christoph Weiß“. In: Peter Weiss Jahrbuch für Literatur, Kunst und Politik im 20. Jahrhundert, 11 (2002), S. 56-84.

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mit Hans Werner Richter und Günter Grass zusammenstieß.106 Ihm wurde der Vorwurf gemacht, die ungeschriebene Regel, gleichsam den Gründungskonsens der Gruppe 47, missachtet zu haben, nämlich zu politischen Themen keine Stellungnahme abzugeben, als er sich gegen das amerikanische Vorgehen in Vietnam aussprach. Damit einher geht der Vorwurf, dass er sich als ‚Außenstehender‘ in illegitimer Weise auch über die Verhältnisse in Deutschland geäußert habe:107 Der Zusammenstoß im Hotelzimmer. Ich hätte mich in amerikanische Angelegenheiten nicht einzumischen. Mißbrauche die Gastfreundschaft. Und überhaupt: was ich denn für ein Recht hätte, auf diese Weise politisch Stellung zu nehmen. Hätte auch über deutsche Fragen schon viel zuviel gesagt. Wo ich denn während des Krieges gewesen wäre –

Dieses für die Geschichte der Gruppe 47 durchaus signifikante UrteilsVerbot – so könnte man es zumindest mit Klaus Briegleb sehen, der u. a. in seiner polemischen Schrift Missachtung und Tabu. Eine Streitschrift zur Frage: ‚Wie antisemititsch war die Gruppe 47?‘108 den Spuren der Holocaust-Verdrängung in dieser Institution der deutschen Nachkriegsliteratur nachgegangen ist – spricht Weiss auch in einem viel späteren Eintrag vom Juli 1978 noch einmal an:109 Auch Kritik an Deutschland, sagte ich, hielte ich nicht zurück, weil ich in Schweden ansässig sei. Und dann kam es: du kannst dich über Deutschland nie äußern, du bist draußen gewesen, in der Sicherheit der Emigration, wir waren drinnen, wir haben am Krieg teilgenommen – Das war es, was ich immer wieder gespürt hatte, wenn ich in Deutschland war, und was oft im Ungewissen blieb: dieser einmal vollzogene, definitiv gewordene Bruch –

106 Vgl. dazu auch: Helmut Müssener: „‚Du bist draußen gewesen.‘ Die unmögliche Heimkehr des exilierten Schriftstellers Peter Weiss“. In: Justus Fetscher; u. a. (Hgg.): Die Gruppe 47 in der Geschichte der Bundesrepublik. Würzburg: Königshausen und Neumann, 1991. S. 135-151. 107 Peter Weiss: Notizbücher 1971-1980. Zweiter Band. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1982. S. 731/4. 108 Klaus Briegleb: Missachtung und Tabu. Eine Streitschrift zur Frage: ‚Wie antisemitisch war die Gruppe 47?‘. Berlin; Wien: Philo, 2003. 109 Weiss: Notizbücher 1971-1980, a. a. O., S. 734.

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Die realen und fiktiven Anschuldigungen sind in mehrfacher Weise paradox: Erstens, weil sie dem Exilierten den Opferstatus aberkennen, da er ja nicht mit den anderen, wie es seine Bestimmung war, untergegangen ist; er dürfe sich mit ihnen also nicht identifizieren. Zweitens weil es ihm – Dante und Weiss – gar nicht möglich war, in der Heimat zu bleiben, da er damals zum Tod verurteilt gewesen wäre. Und drittens, weil nun erneut eine Ausgrenzung geschieht, indem der spezifische Standort des ehemals Exilierten kein Gehör findet und nicht artikuliert werden darf. In der Fiktion des Dramas wie auch in der Realität soll mit dem Urteilsverbot ein für die Daheimgebliebenen ungefährliches Deutungsmonopol geschaffen werden. Die Frage nach dem Opferstatus Dantes wird im Stück an vielen weiteren Stellen verhandelt. Sie ist Teil des Integrationsversuchs der Heimatbevölkerung. Auch hier werden in verschiedener Hinsicht Reflexe auf das autobiographische Erleben des Autors greifbar, der seine Position als Exilant implizit thematisiert. Im Stück wird Dante in einem ersten Argumentationsstrang vorgehalten, dass es ihm – im Gegensatz zu vielen anderen Flüchtlingen – im Exil ja gut gegangen sei. Weder habe er „bei Nacht und Nebel“ fliehen müssen, noch lebte er elend „in Verstecken“ oder irrte „lange Zeit im Dunklen Wald“110 (eine Anspielung auf die Eingangsverse der Divina Commedia, in denen die Verirrung des Jenseitswanderers Dante in einem Wald beschrieben wird), sondern er konnte legal und bei Tageslicht die Heimat verlassen (wie es Peter Weiss tatsächlich möglich war). Noch hatte er bei seiner Flucht jeglichen Besitz zurückgelassen (was, wenn man das auf Weiss’ Bilder bezieht, die die Mutter vernichtet hatte, durchaus zuträfe), sondern er konnte „Geld und Wertpapiere“ mitnehmen (was für seine Eltern stimmte, die ihren Lebensstandard im Exil halten konnten). Im Exil konnte er „behütet“ leben, ohne sich „um die Welt zu kümmern“111, er hielt sich Augen und Ohren zu, als die Stadtbewohner um ihr Leben kämpften, und hat sich auch für die Verfolgten nicht vehement eingesetzt, so, wie Peter Weiss selbst während der Exilzeit kein Interesse für die Vorgänge in Europa

110 Ebd., S. 29. 111 Ebd., S. 35.

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gezeigt hatte.112 Aus diesen Gründen sei es nicht statthaft, wenn Dante sich mit den anderen Opfern identifiziere:113 […] damals scherten die Geschädigten ihn einen Dreck um nichts war er besorgt als um den eignen Kram was es an Unheil gab das hat er abgeschoben und schwieg wenn andre ihn um Hilfe baten Heut aber hat er fremdes Missgeschick zum eigenen erhoben.

Durch die relativ gesicherte Existenz im Exil und sein früheres Verhalten wird Dante also der Opferstatus aberkannt, was die Re-Integration erleichtern und die Bewohner von jedem Schuldgefühl ihm gegenüber befreien soll. Es scheint so, als ob Weiss hier Selbstvorwürfe wegen seines früheren Verhaltens nach außen projiziert. Ein zweiter Argumentationsstrang betont, dass Dante wie sie alle auch ein Täter hätte sein können. Im zwölften und vierzehnten Gesang schildern die Bewohner, dass Dante wie sie zugesehen und gelacht hätte, als ältere, offensichtlich jüdische Männer mit ihrer Spucke und den Ärmeln die Straße putzten und dann auf einem Bein im Kreis tanzen mussten; dass er wie sie die Reden des ‚Statthalters‘ hörte (die dann zitierte Rede evoziert unmittelbar rassistische Hitler-Reden, von deren Eindrücken Weiss auch in Abschied von den Eltern berichtet)114. Im fünfzehnten bis sechzehnten Gesang wird Dante auch daran erinnert, dass er in seiner Kindheit genau wie sie zu Gewalt fähig war: Dante habe, als „Anführer der Gruppe“, einen „Krauskopf“115 genannten Jungen dazu gezwungen, einen heißen Ofen zu küssen; er habe mit anderen Spielkameraden in einen Keller geworfen und mit Zelttuch, Steinen und Gerümpel bedeckt, so dass sie sich nicht mehr wehren konnten; er habe einen auf ein Floß gelockt und auf einem Baggersee ausgesetzt; er habe Libellen gesammelt und aufgespießt; er lief bei Gefahr zu den Spiel-Gegnern über und verriet seine Freunde. Hinter den letztgenannten Episoden stehen reale Vorfälle aus der Kindheit, über die Peter Weiss bereits in Abschied von den Eltern geschrieben

112 Ebd., S. 37. 113 Ebd., S. 31. 114 Ebd., S. 118. 115 Beide ebd., S. 52.

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hatte. Obwohl er selber häufig von einem Nachbarjungen gequält worden war, sagt er dort u. a. lakonisch:116 Ich wurde zu Friederle. Ich war mit dabei, als man einen Schwachen zum Ofen schleppte und ihn zwang, das heiße Eisen zu küssen, ich war dabei, als man einen Gefangenen auf einem Floß in ein überschwemmtes Grundstück hinausstieß und ihn mit Lehmklumpen bewarf, ich war von kurzem Glück erfüllt, daß ich zu den Starken gehören durfte, obgleich ich wußte, daß ich zu den Schwachen gehörte.

Im Stück werden die (realen) Erlebnisse von der Stadtbevölkerung instrumentalisiert, um Dante zu einem von ihnen zu machen, da er damals bereit war, „jede Handlung auszuführen / die von dir verlangt worden wäre“.117 Daher solle er auch in die Stadt aufgenommen werden. Damit hat Peter Weiss etwa im Mittelteil des Dramas Gedanken künstlerisch gestaltet, die er auch im Fluchtpunkt dargelegt hatte. Dort bekannte er offen, dass er sich, wäre er nicht entkommen, „wie all die anderen, aufs Schlachtfeld hätte treiben lassen“.118 Und etwas später: „Deutlich sah ich nur, dass ich auf der Seite der Verfolger hätte stehen können. Ich hatte das Zeug in mir, an einer Exekution teilzunehmen.“119 Die Möglichkeit, dass auch er ein Täter hätte sein können, zeigt er im Stück durch eine politische Neudeutung frühester Kindheitserlebnisse, die sichtbar machen, dass sein Alter Ego Dante zu Gewalt fähig gewesen wäre. In der Fiktion des Dramas setzt sich Dante zunächst gegen die Anschuldigungen zur Wehr. Er betont, dass er nicht gelacht habe, als die Juden auf der Straße waren, es habe nur so ausgesehen; er habe gezittert und geweint; er betont, „dass von hier aus meine Flucht begann“120; und er verleugnet – im Kontrast zu den realen Erfahrungen von Peter Weiss –, dabei gewesen zu sein, als der Junge auf dem Floß ausgesetzt wurde. Im 19. Gesang hebt Dante seine frühere Schwäche

116 Ebd., S. 53 117 Ebd., S. 51. 118 Ebd., S. 11. 119 Ebd., S. 13. 120 Ebd., S. 46.

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als Kind hervor, die ihn selbst oft Opfer von anderen werden ließ und ihn dazu brachte, sich gelegentlich in ihren Dienst zu stellen. „Und doch“, so betont Dante letztlich, „gehörte ich nie / zu euch“.121 Die nicht näher begründete Unzugehörigkeit erwähnt Weiss auch in Abschied von den Eltern, wo er eine seit der Kindheit manifeste Ausgrenzung durch Spielkameraden als ‚Schwächling‘, als ‚Neu-Zugezogener‘, vielleicht aber auch das Gefühl der Unzugehörigkeit im bürgerlichen Lebenskontext seiner Eltern, mit seiner späteren Ausgrenzung als Jude parallelisiert. Erst gegen Ende des Dramas gibt Dante seine Verteidigungspose auf. Er unterstreicht in einem Gespräch mit Vergil: „Jetzt gibt es nur noch das Versäumte / Es gibt nur das / was ich nicht tat / nur das / was ich nicht sagte“.122 Für eine Selbst-Positionierung in der Gegenwart ist also der kritische Rückblick auf die eigene Vergangenheit ein fundamentaler Bestandteil, der ein Gefühl der Reue angesichts von unterlassenen Handlungen einschließt. Auf die Frage, ob er die Stadtbewohner hassen würde, antwortet er, dass er das nicht täte. Er sagt von sich aber:123 Ich lernte hassen dass ich mich hatte treiben lassen von der einen Seite zur andern und blieb wohin ich gestellt wurde ohne danach zu fragen wo ich war […] Wenn ich verurteile so verurteile ich nur mich selbst Ich verurteile mich für die Unfähigkeit meiner Gedanken Ich verurteile mich für die Lähmung die mich überkam Ich verurteile mich für mein allzu langes Warten

Viel deutlicher, als er das in allen Schriften vorher getan hatte, verabschiedet sich Dante / Weiss hier von einer unreflektierten Positionslo-

121 Ebd., S. 65. 122 Ebd., S. 78. 123 Ebd., S. 89-90.

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sigkeit der Exil- und frühen Nachkriegszeit. Er verurteilt sein eigenes unpolitisches Verhalten, wenn man zu einer solch expliziten Lesart übergehen möchte, verurteilt aber nicht das Verhalten der anderen. Im 30. Gesang schließlich legt Dante ein ‚Glaubensbekenntnis‘ ab, in dem er Vergangenheit und Gegenwart und viele der im Stück angesprochenen Themen zu einer, seiner neuen Standortbestimmung bündelt. Durch den Mund Dantes werden noch einmal wichtige Themen angesprochen, die ich bei der Analyse zum Teil vor dem Hintergrund weiterer Schriften als autobiographisches Erleben und Denken von Peter Weiss herausgearbeitet habe. Im ersten Teil des Monologs erinnert er zunächst an die besondere Bedeutung der Sprache für ihn:124 Ich glaubte einmal dass ich war wie ihr denn ich wuchs auf mit euch und alles was für euch bestimmt war das schien auch für mich bestimmt Der der mein Vater war war hier zuhause und meine Mutter war es auch und jedes Wort das ich lernte das hörte ich auch aus euerm Mund Der Weg für mich schien klar gezeichnet und es war ein gemeinsamer Weg mit euch Dann aber wurde mir die Aufgabe gestellt dies alles zu verwerfen Ich nahm die Sprache mit mir und so wie ich mich weit von hier entfernte entfernte sich auch die Sprache weit von hier und so wie ich nicht mehr zu dieser Stadt gehörte gehörte auch die Sprache nicht mehr zu ihr Lange hing sie im Leeren da ich keinen sah an den ich mich mit dieser Sprache wenden konnte und wie die Stadt so weit von mir entfernt lag verlor auch meine Sprache ihre Wurzeln Ich lernte die Lektion

124 Ebd., S. 109.

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dass einem nichts und drängt es sich noch so unbarmherzig auf gegeben ist In jeder kleinsten Einzelheit galt nur noch das was ich allein drin finden konnte Was erst die Qual war dass ich niemandem mehr angehörte und was mir eine Schwäche auferlegte da ich den Schritt dazu nicht freiwillig getan hatte das wurde langsam zur Befreiung denn ich sah dass nicht mehr das galt was mir aufgezwungen worden war sondern nur das was ich jetzt daraus machte und meine losgelöste Sprache war nichts andres mehr als Werkzeug meiner Arbeit

Er erinnert an individuelle Stationen seiner Entwicklung, vor allem an die Vertreibung aus der Heimat mit ihren Folgen für die Sprache, wie sie Weiss ausführlicher im Laokoon behandelt hat. Es liegt jetzt an ihm, sie sinnvoll zu nutzen, wobei er die Muttersprache als ‚Werkzeug seiner Arbeit‘ positiv einsetzen kann. Im weiteren Teil blickt er auf seine Heimat zurück, die ihm entbehrlich geworden ist – zuerst erzwungenermaßen, dann aber begreift er den Zwang als Möglichkeit zur eigenen Freiheit: Ich sah die Stadt die ich gepriesen hatte in Gedichten ich sah sie mit dem Fluss den Brücken und den Kuppeln ich sah sie untergehn und neuerstehn und kann sie heut verlassen ohne mich nach ihr noch umzuwenden Ich lernte dass mir keine Stadt gegeben war dass ich auf meiner Wanderung

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durch viele Städte gehen konnte dass ich verweilen konnte hier und da ohne mich je zu binden Das Todesurteil das ihr über mich verhängtet war da ich ihm entging für mich der Urteilsspruch zu einem neuen Leben Lange trug ich daran dass es mich nicht erlangte was mich doch treffen sollte und was so viele andre traf und alles was ich tat lag unter dem Gedanken dass ich mir dieses Dasein nur erstohlen hatte Das war die schwerste Aufgabe aus diesem Aufschub etwas Bleibendes zu machen und ich bemühte mich noch darum als ich hierher kam

Ein Schuldgefühl als Überlebender, das ihn früher offenbar geplagt hatte, weist der Protagonist nun von sich. Am Ende steht das Bemühen um etwas Bleibendes, das sowohl sein weiteres Leben betrifft, als auch womöglich den Wunsch als Künstler, etwas Dauerhaftes zu schaffen.125

125 Im Fluchtpunkt (a. a. O., S. 137; 69) schreibt Weiss einerseits: „Lange trug ich die Schuld, dass ich nicht zu denen gehörte, die die Nummer der Entwertung ins Fleisch eingebrannt hatten, dass ich entwichen und zum Zuschauer verurteilt worden war. Ich war aufgewachsen, um vernichtet zu werden, doch ich war der Vernichtung entgangen. Ich war geflohen und hatte mich verkrochen. Ich hätte umkommen müssen, ich hätte mich opfern müssen, und wenn ich nicht gefangen und ermordet, oder auf einem Schlachtfeld erschossen worden war, so musste ich zumindest meine Schuld tragen, das war das letzte, was von mir verlangt wurde.“ Aber auch: „Ich lebe heute. Ich will mir den Krieg nicht wie eine Schuld über-

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Mit diesem Monolog formuliert Weiss / Dante eine eigenständige Position, die sich gerade aus der Exilerfahrung herleitet und die ihn von der Stadt-Gesellschaft grundlegend unterscheidet. Den Unterschied empfindet er aber nicht (mehr) als Makel, sondern als Möglichkeit, die genutzt werden kann und soll. Wie das genau geschehen soll, bleibt offen (auch wenn die ‚Sprache als Werkzeug‘ an eine Tätigkeit als Schriftsteller denken lässt). Diese Positionierung benennt eine neue Grundlage, von der her ein selbstbewusstes Sprechen möglich wird. Die Stadtbevölkerung kommt mit dieser eigenständigen und sich von ihnen abgrenzenden Haltung nicht zurecht. Dante werden die Orden und Ehrungen entzogen, er wird unter einem Netz gefangen, das frühere Urteil gegen ihn wird erneuert und die Figuren hetzen:126 Figur 2 Wir möchten gerne hören was du sagst wenn wir jetzt daran gehn diejenigen auszumerzen die uns damals entwischten Figur 3 Gleich werden wir dir die stinkende Haut abreißen und die Zunge aus dem Maul schneiden

Dantes Zuruf: „Ihr werdet vergehn“ wird vom Chor mit dem Hinweis auf die Machtverhältnisse beantwortet: „Wer hat die Waffen / Wer ist im Besitz der Güter / Beantworte die Frage / und sieh ein / dass du selbst ein Nichts bist“.127

stülpen lassen und ein schlechtes Gewissen haben, dass ich entkommen bin.“ – Brunner hat als Replik auf Christoph Weiß sich mit der Frage beschäftigt, inwieweit ein latenter ‚Schuldkomplex‘ (Weiß) Hintergrund für die Entstehung des Inferno war. Diese, in meinen Augen höchst relevanten, Aussagen von Weiss’ selbst fanden dabei keine Beachtung. Vgl. Brunner, a. a. O. 126 Weiss: Inferno, a. a. O., S. 114. 127 Ebd., S. 115.

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In dieser bedrohlichen Situation zeigt Weiss seinen neuen Dante (sich selbst?) nicht als übermenschlichen Held – er fleht zunächst um Gnade. Bevor der ‚Chef‘ aber den Knopf drückt und das Spiel beendet, besteht Dante doch in aller Klarheit auf seinem Standpunkt: „Ich sage mich / für immer / von euch los“.128 Wie im interpretierenden Nachvollzug der Gestaltung der Dante-Figur deutlich wird, arbeitet Peter Weiss mit dieser Figur eigene Positionen der Exilzeit rückblickend auf, vor allem seine Sprach- und Ausdruckslosigkeit, die mangelnde Selbsterkenntnis und politische Positionslosigkeit sowie die Frage, wie er sich zwischen den bipolaren Seiten von ‚Opfern‘ und ‚Tätern‘ selbst zu verorten hat. Er entwickelt so eine Neuformulierung seines Standorts, die sich unmittelbar aus der Exilerfahrung herleitet. Zum ersten Mal mit solcher Deutlichkeit verurteilt Weiss dabei seine frühere unpolitische Einstellung. Im Stück wendet er sich u. a. mit den kritischen Hinweisen auf die deutsche Nachkriegsgesellschaft gerade solchen Themen zu. Im Drama – und auch das war ein Novum im Werk von Peter Weiss – wird die autobiographische Selbstbefragung dezidiert mit Bildern der Judenverfolgung verknüpft.129 Es handelt sich hier also um eine Auseinandersetzung mit dem jüdischen Schicksal im Nachhinein, bei der sich Weiss – so zumindest bei einer autobiographischen Lektüre der Figur Dante – im deutlichen Unterschied zu den früheren auto-

128 Ebd., S. 120. 129 Brunner vertritt in seinem Aufsatz die These, dass der Dante mit seinem heruntergekommenen Aussehen am Beginn des Stücks wie ein ‚Untoter‘ erscheint, den das „Unnatürlich-Abstrakte [kennzeichnet], das der Prozess der Entmenschlichung im KZ herauszustellen suchte, um es zu vernichten“ (Brunner, a. a. O., S. 59). Abgesehen davon, dass mir nicht klar wurde, was mit dem ‚Unnatürlich-Abstraken‘ gemeint ist, denke ich auch, dass eine Identifikation der Dante-Figur mit einem Rückkehrer aus dem KZ zu weit greift. Das zum einen, da die Handlung des Stücks, wie gezeigt, deutlich in der späten Nachkriegszeit der 1960er Jahre zu verorten ist; und andererseits, weil die Dante-Figur gerade als Heimkehrer aus einem gesicherten Exil, wie es Weiss selbst erlebt hatte, beschrieben wird. Auch die These, dass ‚Bea‘ eigentlich der Grund für die Rückkehr sei, lässt sich meines Erachtens so nicht aus dem Text herauslesen, in dem keine eindeutige Begründung für die Rückkehr gegeben wird.

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biographischen Schriften, die v. a. die Abgrenzung vom Elternhaus betonten, selbst als jemand identifiziert, der dem über ihn gesprochenen Vernichtungsurteil entronnen ist. Diese Darstellung ist sicherlich (auch) ein Ergebnis der Frankfurter Auschwitzprozesse, deren Fortgang Weiss intensiv verfolgt hat. In der Prosaskizze Meine Ortschaft, die im Anschluss an einen Tagesbesuch in Auschwitz im Dezember 1964, also kurz nach dem Abschluss dieser Inferno-Fassung, entstanden war, fragte er sich selbst nach der Bedeutung der verschiedenen Orte, an denen er gelebt hat. Sie alle hinterließen bei ihm „Eindrücke deren wesentliches Element das Unhaltbare, schnell Verschwindende war“ – und „nur eine Ortschaft, in der ich nur einen Tag lang war, bleibt bestehen“: Auschwitz. Auschwitz, als die Ortschaft, „für die ich bestimmt war, und der ich entkam“, wie Weiss sagt, und zu der er keine andere Beziehung hat, als dass sein „Name auf den Listen derer stand, die dorthin für immer übersiedelt werden sollten“, wird zum zentralen Ausgangspunkt seiner Existenz- und Standortbestimmung.130 Insgesamt gehört das Inferno zusammen mit Abschied von den Eltern, Fluchtpunkt und einigen Essays wie dem Laokoon noch zu einem Werkkomplex, in dem Peter Weiss seine frühere Autobiographie reflektiert und versucht, von hier aus einen Ausgangspunkt für sein Schreiben zu gewinnen. Dieses Bemühen scheint kurz nach Beendigung des Dramas zu einem vorläufigen Abschluss zu kommen, so dass Weiss sich dann – womöglich gerade deshalb, weil er es während der Exilzeit versäumt hatte – primär gesellschaftspolitisch relevanten Themen widmete und autobiographische Themen zurücktraten.

3

S PÄTE I NSZENIERUNG : D IE U RAUFFÜHRUNG AM B ADISCHEN S TAATSTHEATER IN K ARLSRUHE

Am 26. Januar 2008 wurde Peter Weiss’ Inferno am Badischen Staatstheater in Karlsruhe als Schauspiel uraufgeführt. Ein kurzer Ausblick auf die etwas mehr als eineinhalbstündige Inszenierung von Thomas Krupa (Dramaturgie: Tilman Neuffer; Hauptrollen: Sebastian Kreutz

130 Peter Weiss: „Meine Ortschaft“. In: Rapporte, a. a. O., S. 113-124.

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als Dante, Stefan Viering als Vergil) soll meine Analyse des Dramas abrunden.131 Die Inszenierung zeigt Weiss’ Inferno klar als Alptraum eines nach Deutschland zurückgekehrten jüdischen Emigranten – Peter Weiss selbst – in den 1960er Jahren. Obwohl die Aufführung relativ textnah gestaltet ist, lassen sich aber auch wenige, markante Veränderungen zur Textvorlage erkennen, von denen ich einige besonders auffällige hervorheben möchte.132 Das Stück beginnt mit einem frei hinzugefügten Prolog. An einem Tisch, auf dem Papiere, Fotos, Snacks und ein Radio herumliegen, sitzen ‚Vergil‘ und ein weiterer Schauspieler. Der Darsteller des ‚Chef‘ schlägt auf einer Trommel verschiedene Rhythmen an. Die drei scheinen sich wie Regisseure und Dramaturgen über eine bevorstehende Theaterinszenierung zu unterhalten. In dem kurzen Gespräch nennen sie alle für das Verständnis des anschließenden Inferno relevanten Informationen: So solle das Trommelgeräusch wie ein „Traum“ sein, „etwas Irrisierendes“ an sich haben, es solle „gebrochen, gespiegelt, gesplittert – wie Todesfurcht – Alptraum – Halluzination“ klingen. Mit diesen Hinweisen wird auf die alptraumhafte Ästhetik verwiesen, die für das Drama bestimmend ist, und bei der alles „verdoppelt, vervielfältigt, kristallin geschliffen“ erscheint. Die Regisseure weisen darauf hin, dass das „Inferno […] das Deutschland von heute“ sei, geben also eine klare Deutungsrichtung für die im Stück gezeigte Gesellschaft vor. Kurz darauf heben sie aber auch den historischen Aspekt des Dramas hervor, auf das das ‚Heute‘ zu beziehen ist: „Jetzt ist er wieder da, bei ihnen, vor 20 Jahren hätten sie ihn durch den Kamin gejagt. […] Zwei Jahrzehnte, dass ich euch entkam – das ist der Text.“ Es wird darauf hingedeutet, dass es sich um ein Geschehen Mitte der 1960er Jahre handeln muss und dass die Person, um die es geht, ermordet werden sollte. Schließlich geht es auch um eine „Identitätser-

131 Ich danke Tilman Neuffer, der mir eine hervorragende Aufzeichnung der Generalprobe vom 25.01.2008, das Programmheft zur Uraufführung und Pressematerial zur Verfügung gestellt hat. 132 Für die Inszenierung wurde der Dramentext gekürzt, mit Textstücken aus anderen Stadien des DC-Projekts collagenhaft ergänzt u. a. m. Diese Veränderungen bewirken aber keine grundsätzlichen Veränderungen der Aussage.

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klärung“, die mit „Fragen“ nach dem „Zweck seiner Rückkehr“ und danach, was die betreffende Person – später Dante – „überhaupt erreichen“ will: „Er kann es noch nicht sagen, wo bin ich denn.“ Die im Drama ausgearbeitete Positionssuche Dantes und auch seine anfängliche Sprachlosigkeit klingen hier an. Dass sie mit der von Peter Weiss selbst enggeführt werden kann, impliziert eine Fotografie von Weiss’, die gezeigt und über die gesagt wird, dass das Dante sei (im Stück wurden die Bezüge zum mittelalterlichen Autor reduziert, da der Darsteller keine historisierenden Dante-Gewänder trägt). Schließlich deuten sie auch die Suchbewegung Dantes an, für die ein Scheitern möglich ist – lassen aber positiv offen: „Sein Weg ist die Zukunft, sein Weg ist er.“ All diese Informationen, die dem Drama vorangestellt sind, sollen offensichtlich den Zuschauern als Interpretationshilfe dienen und ihnen den Einstieg ins Drama erleichtern. Bei der Inszenierung des eigentlichen Dramentextes fallen einige weitere Besonderheiten auf. So wird in der Aufführung Weiss’ verfremdendes ‚Spiel im Spiel‘ vervielfacht. In der Textvorlage lassen sich im Wesentlichen zwei Handlungsebenen unterscheiden: Einerseits gibt es die Wanderung Dantes durch die infernale Gesellschaft und andererseits verstreute Anzeichen dafür, dass das Geschehen vom Chef als Schauspiel inszeniert wird. Beide werden in der traumhaften Atmosphäre aufgehoben, innerhalb derer das ‚Spiel im Spiel‘ nicht konsequent durchgehalten wird. Im Unterschied dazu werden in der Karlsruher Aufführung die Spiel- und Handlungsebenen erweitert: Wie im Originaltext gibt es Dantes Aufenthalt in der Heimatgesellschaft, die von einem Chef stellenweise als ‚Spiel im Spiel‘ geleitet wird. Auf der Bühne wird all das in einer Art Konferenzzimmer gezeigt, das durch die Beleuchtung, synthetisch-irrisierende Hintergrundgeräusche, eine aquariumähnliche Beleuchtung u. a. m. alptraumhaft verfremdet wird. Zusätzlich tritt als neue Figur im Stück Beatrice auf. Beatrice, die Dante in der Divina Commedia wie schon in früheren Werken als jung verstorbene, unerreichbare Geliebte zeichnet, begleitete ihn vor allem durch das Paradies. Im Drama erzählt sie – zum Teil nur über Lautsprecher eingespielt – im Rückblick das Ge-

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schehen nach und kommentiert es.133 Sie übernimmt also eine Funktion als außenstehende Erzählinstanz, die der des Erzählers Dante in der Divina Commedia ähnlich ist, der ebenfalls rückblickend von seiner Wanderung berichtet. Um diesen neuen Erzählrahmen herum wurde dann noch eine weitere Handlungsebene angelagert. Wie oben erwähnt, sitzt am Beginn des Stücks Vergil mit anderen an einem RegieTisch; auch im weiteren Stück bleibt der Tisch auf der Bühne, er ist räumlich und durch die Beleuchtung abgetrennt vom restlichen Geschehen. Von hier aus scheint Vergil das Geschehen als Theaterstück zu erdenken, das dann aufgeführt wird, wobei er selbst immer wieder die Seiten wechselt und mal Teil der Inferno-Gesellschaft und mal Regisseur ist. Der Knopfdruck, der bei Weiss das Stück beendet und der ein Teil der zugespitzten Gesellschaftskritik ist, da er in letzter Konsequenz auf einen drohenden Atomkrieg hinweist, der aus den Strukturen der Gesellschaft entstehen kann, wird in der Karlsruher Inszenierung außerdem vollständig entschärft, indem immer wieder im Stück auf eine kleine Klingel gedrückt wird, wodurch Szenenwechsel bei der Darstellung der Inferno-Gesellschaft markiert und eingeleitet werden. Ganz am Ende des Stücks – in der Karlsruher Fassung wird das Todesurteil vollzogen und Dante erschossen –, nachdem mit einem letzten ‚Knopfdruck‘ die Handlung von Weiss’ Inferno beendet wurde, tritt schließlich noch einmal der Darsteller des Dante auf und spricht einen Epilog. In diesem Epilog liest er zunächst von einem Papier ein Textstück ab, das zwar von Peter Weiss, nicht aber aus dem Drama stammt und in dem bildhaft-metaphorisch über Leben und Tod bzw. den Tod im Leben nachgedacht wird. Das Gelesene kommentiert er anschließend selbst: [ablesend:] ‚Rings um mich lagen andere. Auch sie soweit von einem Dasein entfernt, dass sie nicht mehr als Menschen bezeichnet werden konnten. Leben war noch in ihnen, aber nicht mehr, als Leben in Amöben, Schwämmen, Algen ist. Sie zuckten. Hier und da warf sich etwas empor, was den Anschein von Gliedmaßen hatte. Doch es barst überall, dunklen Schleim entladend. Scharfe Splitter wurden sichtbar. Und ein Geräusch war zu vernehmen, unendlich weit

133 Hier werden kürzere Textstücke aus Vorstufen aus Weiss’ Inferno eingefügt oder Passagen, die Dante eigentlich direkt sprechen sollte, in die dritte Person und die Vergangenheit umformuliert.

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ausgedehnt, ein Knirschen, ein fortwährendes Schnalzen und Brodeln. Hier vergingen wir. In diesem Morast, der sich bis zum Horizont erstreckte. Hier sackten wir immer tiefer, in diesem Schlamm aus Tränen, Urin und Kot.‘ – [frei:] Es gibt keine Worte für die Entrücktheit die das Sterben ist. – [ablesend:] ‚Und wäre ich nicht mehr erwacht, dann wäre ich nur in der Schwärze vergangen. Und weil ich erwachte, so gehörte es nicht zum Tod, sondern es gehörte dem Leben an. Und nichts im Leben ist wie der Tod.‘ – [frei:] So war es am Anfang der Reise, die ich hier zu schildern versuche. Die Einsicht, dass das, was mir widerfuhr, nicht ausgedrückt werden konnte, mit den Mitteln der Sprache, die mir bisher zur Verfügung standen. Und auch heute noch, da ich die äußeren Umstände rings um mich wieder hergestellt habe, frage ich mich oft, ob es nicht sinnlos ist, eine völlige Ohnmächtigkeit in eine Art von Gelingen zu übersetzen, nur weil ich mich nicht im Verstummen verlieren will, nur weil ich glaube, es höre mir einer zu. Und da es immer nur eine Sprache gibt, die auch andere verstehen, muss ich in dieser Sprache ausdrücken, was ich selbst, sprachlos, nicht artikulieren konnte. Ein fortwährender Zwiespalt.

Der Epilog artikuliert im zitathaften Rückgriff auf eine frühere Vorstufe von Weiss’ Inferno einen rückblickenden, metasprachlichen Kommentar zum Stück. Er kann verstanden werden als Resümee dessen, der seiner Position bewusst wurde und so zum ‚Leben‘ erwacht (!) ist. Gleichzeitig thematisiert der Epilog die Problematik des (literarischen) Sprechens; die Zweifel, die am Gebrauch der Muttersprache bleiben, die Weiss im Laokoon ausführlich behandelt hat; und es klingen wohl auch die Zweifel an der Undarstellbarkeit der Vergangenheit, und das heißt des Holocaust, an, für den es keinen unmittelbaren Ausdruck geben kann. Den ‚Zwiespalt‘, der hier genannt wird, hat Weiss auch mit der Ästhetik der traumhaften Verfremdung, die eine Form des indirekten Sprechens ermöglicht, in seinem Inferno darzustellen versucht. Durch die Vervielfältigung der Erzählebenen und des im Stück angelegten ‚Spiels im Spiel‘ steigert Thomas Krupa letztlich die Verfremdung des Gezeigten (ohne dass meiner Meinung nach dafür – abgesehen von der Interpretationshilfe am Beginn –, wirklich zwingende Gründe oder eine ganz neue Aussageabsicht vorlägen). Zugleich weist er durch den Pro- und Epilog darauf hin, dass die Handlung in der Vergangenheit liegt und Peter Weiss’ Inferno vor allem als historisches Zeitstück verstanden werden muss.

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Die Karlsruher Inszenierung brachte letztlich nicht den Erfolg, den man sich von der Uraufführung eines wiederentdeckten Stücks von Peter Weiss erhofft hatte. Weiss’ Inferno stand nur für eine Spielzeit, bis zum Sommer 2008, auf dem Programm und wurde danach nicht wieder aufgenommen. Die Gründe dafür sind meines Erachtens einerseits im Stück selbst und seiner Inszenierung zu suchen: Das Drama arbeitet, wie gezeigt, mit verschiedenen Mitteln der alptraumhaften Verfremdung, die in der Karlsruher Version vor allem durch die Vervielfältigungen der Erzähl- und Spielebenen gesteigert werden. Die Aufnahme des Stücks setzt daher eine hohe Konzentration voraus, um aus den verschiedenen Ebenen einen ‚Sinn‘ konstruieren zu können. Mir selbst war das beim ersten Sehen nicht möglich, vielmehr wurde mir die Struktur der Aufführung erst nach der gründlichen Textanalyse und dem mehrmaligen Ansehen der Aufzeichnung klar. Daher glaube ich, dass einige Zuschauer von der einmaligen Aufführung schlicht überfordert waren. Andererseits ist Weiss’ Inferno trotz aller Allegorisierungs- und Universalisierungstendenzen stark zeitgebunden und hochgradig autobiographisch aufgeladen. Um die Bezüge auflösen und verstehen zu können, ist daher mindestens etwas historisches Hintergrundwissen, wenn nicht auch biographisches Wissen über Peter Weiss nötig. Aufgrund dessen hatte das Stück wahrscheinlich vor allem in der Zeit seiner Entstehung eine hohe gesellschaftspolitische und persönliche Aktualität – für eine wirklich große Wirkung ist es jetzt aber eventuell zu spät.

II Commedia drammatizzata Literarische Dramenbearbeitungen zum Inferno, Purgatorio und Paradiso von Edoardo Sanguineti, Mario Luzi und Giovanni Giudici (1989-91)

Noch vor Peter Weiss hatte, wie in der Einleitung des Buches bereits erwähnt, der italienische Autor und Regisseur Pier Paolo Pasolini (1922-1975) als erster Schriftsteller überhaupt den Versuch unternommen, die Divina Commedia in einer modernisierten Fassung neu zu schreiben (Divina Mimesis). Nach Pasolini und Weiss verfassten in den Jahren 1989 bis 1991 ebenfalls drei italienische Schriftsteller eine dreiteilige literarische Dramenfassung der mittelalterlichen Jenseitswanderung: Der italienische Regisseur Federico Tiezzi beauftragte die Schriftsteller Edoardo Sanguineti, Mario Luzi und Giovanni Giudici damit, Dramenversionen der Dichtung zu erstellen. Federico Tiezzi (*1951), der seit den 1970er Jahren die avantgardistische Theaterszene in Italien mit geprägt hat, wollte mit der Bühnenadaption der Divina Commedia das aus seiner Sicht ‚verschlafene‘ italienische Theater ‚wiedererwecken‘.1 Die Dramenfassungen der Autoren sollten von den

1

Edoardo Sanguineti: Commedia dell’Inferno. Genova: costa & nolan, 1989. S. 5-6, u. a.: „Il teatro che dorme aspettava un risveglio […]“. Warum das ausgerechnet mit der Divina Commedia geschehen sollte, darüber wird in den Schriftfassungen der Stücke nichts gesagt. – In der neuen Ausgabe bei Carocci (Roma, 2005) befindet sich im Anhang ein kurzer Kommentar zum Text sowie ein Gespräch mit Sanguineti über das Drama (Niva Lorenzini: „Nota al testo seguita da un Dialogo con l’Autore“, S. 101-123).

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Magazzini Criminali, einer der wichtigsten experimentellen Theatergruppen Italiens der damaligen Zeit, umgesetzt werden. In ihren Bearbeitungen zum Inferno, Purgartorio und Paradiso, die später auch in Buchform herausgegeben wurden, richteten die Autoren das Versepos nicht nur als spielbare Dramenversionen ein. Sondern sie veränderten und modernisierten die alte Dichtung mit jeweils eigenen, charakteristischen Akzentsetzungen.2

1

T RAVESTIE : E DOARDO S ANGUINETIS C OMMEDIA DELL ’I NFERNO . U N TRAVESTIMENTO DANTESCO

Edoardo Sanguineti (*1930), der Literaturwissenschaft studiert und später einen Lehrstuhl für Literatur inne hatte, trat seit Ende der 1950er Jahre mit seinen Romanen und Lyriksammlungen als einer der prominentesten Vertreter der italienischen neoavanguardia in Erscheinung (das Präfix ‚neo-‘ markiert eine Abgrenzung zu den historischen Avantgarde-Bewegungen im 19. Jahrhundert). Er war Gründungsmitglied des gruppo 63, einer lockeren Verbindung von Schriftstellern, die sich in Anlehnung an die deutsche Gruppe 47 gebildet hatte und in der sich in den 1960er Jahren die wichtigsten Vertreter der literarischen Avantgarde in Italien sammelten. In der Gruppe gab es weder ein verbindliches Gründungsmanifest noch einheitliche Regeln. Insgesamt war die Literatur des gruppo 63 aber durch formale, sprachliche und inhaltliche Experimente gekennzeichnet. Mit der Negation der bestehenden, ‚normalen‘ Kommunikation sollte, so ein von den meisten geteilter Grundgedanke, Widerstand gegen die Vermarktung von Kunst bzw. ihre Angepasstheit an den Markt geleistet und die Vermarktungsstrategien aufgedeckt und angeklagt werden.3 Die provokante Leitidee, die, wie Kritiker beanstandeten, weniger auf einer tiefgreifenden Analyse der Ursachen und Merkmale der Vermarktung von Kunst basierte, als vielmehr plakativ ihre eigenen

2

Für diese Arbeit konnte keine Aufzeichnung der Aufführungen besorgt werden. Die Analyse wird sich daher auf die Textfassungen beschränken. In den Textbänden sind Bilder der Aufführung eingefügt.

3

Giuseppe Petronio: Geschichte der italienischen Literatur. Bd. 3: Vom Verismus zur Gegenwart. Tübingen; Basel: UTB, 1993. S. 339.

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Ansprüche mitteilte, griff auch Sanguineti auf.4 In einem Interview formulierte er als einen Leitgedanken seiner literarischen Arbeit: „[…] indem ich die Normalität der ästhetischen, bürgerlichen Sprachform zurückweise, weise ich die Normalität der bürgerlichen Ideologie zurück, d. h. ihren Anspruch, sich als Norm für die Interpretation des Wirklichen einzusetzen“.5 Nur eine „Poetik der totalen Unordnung könne das Chaos der Wirklichkeit und die Selbstentfremdung des Menschen“6 in der gegenwärtigen Gesellschaft enttarnen. Seit seinem ersten Gedichtband Laborintus (1956) entwickelte er daher Verfahren, die einem „sabotaggio sistematico della comunicazione quotidiana alienata e automatizzata“7 dienen sollten und die seiner Idee einer ‚anti-bürgerlichen‘ Kunst entsprachen:8 Sein Schreibstil erinnert zum Teil an Vorgehensweisen des DADA. Er mischt verschiedene Sprachen (Italienisch, Latein, Griechisch, Deutsch, Französisch u. a. m.), gebraucht in einzelnen Textpassagen Majuskelschrift, und er verweist mit Zitaten auf andere literarische Werke. Vor allem setzt er aber auf einen assoziativen Gebrauch von Sprache, bei der die herkömmliche Syntax aufgelöst und keine kohärente ‚Erzählstruktur‘ mehr entwickelt wird. Als ein Beispiel sei ein Auszug aus Laborintus 16 zitiert:9 sopra questa negazione di negazione e orizzonte cerebrale e toccare inghiottire e trascinata fuori e per riprendere (fuori e fuori) i paesaggi dell’amore e sopra questo composti sopra questo orizzonte di nulla e sopra questo paesaggio sensibile di nulla

4

Ebd.

5

Johannes Hösle: Die italienische Literatur der Gegenwart. Von Cesare Pavese bis Dario Fo. München: Beck, 1983. S. 116.

6

Manfred Lentzen: Italienische Lyrik des 20. Jahrhunderts. Von den Avantgarden der ersten Jahrzehnte zu einer „neuen Innerlichkeit“. Frankfurt am Main: Klostermann, 1994. S. 292.

7

Maria Dolores Di Pesce: „‚Il travestimento‘ ovvero della poetica teatrale di Edoardo Sanguineti“. Siehe: www.parol.it/articles/sanguineti2.htm.

8

Im Kapitel „Le avanguardie e il presente“ aus La letteratura italiana. Storia e testi. Bd. 9, II: Il Novecento. (Hg. Nicola Badaloni, u. a.; Roma; Bari: Laterza, 1976. S. 434) wird daran erinnert, dass der anti-bürgerliche Impetus des gruppo 63 verwandte Strömungen während der Nachkriegszeit in Westeuropa hatte.

9

Lentzen, a. a. O., S. 293-4.

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(di negazione e di orizzonte) e sopra e fuori e adesso e ormai ma dentro un sensibile cerchio Ellie dentro un cerchio di nulla.

Durch diese Gestaltungsweise entziehen sich die Gedichte einer einfachen Aufnahme, die Materialität der Sprache wird in den Vordergrund gerückt. Sanguineti verglich den Laborintus-Band mit Werken der abstrakten Kunst, wo man auch nicht frage, was sie darstelle, bzw. mit Werken der Zwölftonmusik (u. a. von Luciano Berio, der später den Laborintus vertonte), in der man keine Melodie oder Harmonie suche.10 Auch wenn Sanguineti in den 1970er Jahren seine sehr radikale Poetik zugunsten einer größeren Verständlichkeit zurücknahm, blieb sein literarisches Werk in etwas moderaterer Form von den ursprünglichen Ansätzen geprägt. Federico Tiezzi bat Sanguineti um die Bearbeitung des Inferno-Teils. Die Wahl Sanguinetis war nicht ganz aus der Luft gegriffen. Als Autor und Literaturwissenschaftler hatte sich Sanguineti zuvor schon oft mit Dante beschäftigt: Er hatte seine Dissertation und verschiedene literaturwissenschaftliche Studien zur Divina Commedia geschrieben;11 und in seinem literarischen Schaffen, angefangen mit Laborintus, hat er die Werke Dantes intensiv rezipiert. Als Tiezzi Sanguineti das Angebot der Dramen-Bearbeitung unterbreitete, hielt dieser eine Realisierung zunächst schlicht für unmöglich. Letztlich war es aber gerade das Gefühl der Unmöglichkeit, „la sua manifesta ‚impossibilità‘“12, das ihn reizte und ihn einwilligen ließ, denn, so Sanguineti: „Non c’è gusto a lavorare, se non si pone un problema, e il gusto cresce, ovviamente, in proporzione con la sua, almeno apparente, irresolubilità.“13 Für seine Bearbeitung wählte Sanguineti den Titel Commedia dell’Inferno. Un travestimento dantesco. Die Bezeichnung macht deutlich, dass es sich um eine veränderte Version des ursprünglichen

10

Hösle, a. a. O., S. 116.

11

U. a. Edoardo Sanguineti: Il realismo di Dante. Firenze: Sansoni, 1980. Ders.: Dante reazionario. Roma: Editori riuniti, 1992. Ders.: Tre studi danteschi. Firenze: Le Monnier, 1961.

12

Sanguineti, a. a. O., S. 87.

13

Ebd.

II COMMEDIA DRAMMATIZZATA | 83

Textes handelt: Im Untertitel definiert Sanguineti seine Adaption als travestimento, als Travestie. Der Begriff leitet sich aus dem italienischen ‚tra-vestire‘ ab und meint rein wörtlich ein ‚Ver-kleiden‘. Als Gattungsbezeichnung verweist er auf eine Form des parodistischen Schreibens, das auf ein bekanntes Werk bezogen ist. Das Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft vermerkt dazu:14 [Die Travestie ist ein] in unterschiedlichen Medien verwendetes Verfahren der komisierenden Übernahme thematischer Elemente aus einem Einzelwerk, einer Werkgruppe oder mythischen Überlieferung. […] Im literarischen Bereich bildet die Travestie eine intertextuell ausgerichtete Schreibweise, bei der wichtige Merkmale der Inhaltsebene eines Einzeltextes, mehrerer Texte oder der mythischen Überlieferung übernommen werden, um sie durch Komisierung herabzusetzen. Wie die Parodie unterscheidet sie sich von der Kontrafaktur dadurch, daß sich die Travestie in der Komisierung des fremden Textes erschöpft und somit inhaltlich keine eigene Botschaft übermittelt; sie unterscheidet sich von der Parodie durch die Beschränkung der Übernahme auf die Inhaltsebene der Vorlage(n) und die selbständige Art der Vertextung. Abkürzend wird dann auch ein Text, dem diese Schreibweise zugrunde liegt, als Travestie bezeichnet.

Neben dem Inferno hat Sanguineti auch andere bekannte Werke zu Travestien verarbeitet, nämlich das Epos Orlando furioso Ariosts (Orlando furioso. Un travestimento ariostesco, 1969), ein Märchen Carlo Gozzis (L’amore delle tre arance. Un travestimento fiabesco dal canovaccio di Carlo Gozzi, 2001), das Drama Sei personaggi in cerca d’autore von Luigi Pirandello (Sei personaggi.com. Un travestimento pirandelliano, 2001) und Goethes Faust (Faust. Un travestimento, 2003). Der verändernde Zugriff auf das Original zeigt sich auch im Haupttitel. Hier kombiniert Sanguineti den Begriff ‚Commedia‘ (als Bezugnahme auf die Divina Commedia?!) mit dem des ‚Inferno‘. Der Titel Commedia dell’Inferno lässt erahnen, dass es sich im Stück um eine komödienhafte neue Hölle handeln wird. Durch Ober- und Untertitel wird der Zuschauer bzw. Leser also auf eine humorvollunterhaltsame Bearbeitung eingestimmt.

14

Jan-Dirk Müller (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 3: P-Z. Berlin: de Gruyter, 2003. S. 682.

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Sanguinetis Inferno besteht – im Unterschied zu den 34 Gesängen des Inferno-Teils Dante Alighieris – aus 19 Szenen. Ein kleiner Durchgang durch Sanguinetis Commedia dell’Inferno verdeutlicht seinen Gestaltungsansatz. Sanguineti hat seiner erneuerten Höllenwanderung zwei Szenen vorangestellt, die wie ein Prolog zum gesamten Stück wirken. Die erste Szene beginnt mit einer Bühnenanweisung:15 pista vuota sul fondo, coperta di sabbia: un circo attrezzato, nei modi consueti; tre gabbie, con le tre fiere impagliate, gigantesche; le pareti, ai lati della pista a fossa, sono provviste di una scala laterale a chiocciola, variamente intrecciata e incrociata, a cui si accede da vani interni, collocati a diversa altezza, chiusi da saracinesche, da cui potranno apparire i personnaggi; i due presentatori appaiono come due imbonitori o clowns, irrompendo come in pista, a bandire lo spettacolo; parlano con grandi gesti, molto velocemente, talvolta rubandosi la battuta, interrompendosi, sovrapponendo le voci; tra quanto dicono e la recitazione, da comici di circo, vi deve essere piena dissociazione; anche i loro abiti, i volti colorati vivacemente, devono corrispondere a una situazione circense;

Auf der Bühne soll, so die Skizze, eine Wendeltreppe aufgebaut werden. Sie bleibt während der weiteren Szenen im Hintergrund stehen bleibt. Die Wendeltreppe kann als stark verfremdete Anspielung auf die von Dante beschriebenen Höllenkreise verstanden werden, die sich in Dantes Jenseitsentwurf unter der Erdoberfläche bis zum Erdmittelpunkt hinabziehen. Im Bühnenvordergrund soll durch verschiedene Requisiten ein Zirkus evoziert werden: In einer Manege sind drei Käfige vorgesehen, in denen sich drei riesige ausgestopfte Tiere befinden. Sie korrespondieren mit dem Anfang von Dantes Inferno. Dort wird beschrieben, wie Dante, bevor er die Unterwelt betritt, in einem Wald drei wilden Tieren begegnet, die ihn verängstigen und ihn von seinem Weg abbringen. Anders als Dante, der in seiner Dichtung weitgehend ernsthaft die Erlebnisse des fiktiven Protagonisten beschreibt, war und ist der Zirkus in seinen ganz unterschiedlichen Formen seit der Antike bis heute ein Ort des Spektakels und der Unterhaltung. Im Gegensatz zur

15

Sanguineti, a. a. O., S. 19.

II COMMEDIA DRAMMATIZZATA | 85

Vorlage entwirft Sanguineti also zu Beginn seines Stücks einen unterhaltsamen Hintergrund für seine Inszenierung. Dass in den Käfigen außerdem riesige tote Tiere stehen, wirkt per se surreal. Da der italienische Zuschauer in der Regel die Divina Commedia, die in Italien zumindest auszugsweise zum Pflichtkanon der Schullektüre gehört, einigermaßen gut kennt, kann Sanguineti mit der Gestaltung des Bühnenbildes eine absurde bis groteske Wirkung hervorrufen. Die Wirkung wird noch einmal gesteigert, wenn, wie im zweiten Absatz der Bühnenbeschreibung angemerkt, zwei als Clowns kostümierte ‚Presentatori‘ die Bühne betreten und mit übertriebenen Gesten und sich überschlagenden Stimmen agieren. Abgesehen von den Kontrasten, die zwischen Ausgangstext und Inszenierung aufgebaut werden, sticht bei den zitierten Bühnenanweisungen der durchgängige Gebrauch der Kleinschrift ins Auge, bei der Sanguineti auch auf die Setzung von Punkten verzichtet. Das Vorgehen, das der Autor in allen Bühnenanweisungen im Dramentext beibehält, erinnert an formale Verfahren seiner früheren literarischen Werke, die er teilweise ähnlich gestaltete und mit denen er auf eine Verfremdung des ‚normalen‘ Schriftgebrauchs abzielte. Nach der Beschreibung des Bühnenbildes findet in der ersten Szene ein Dialog zwischen den beiden Präsentatoren statt. Der erste von beiden leitet den Dialog ein:16 PRESENTATORE 1: Acciò che quello che io debbo dire sia onore e gloria del santissimo nome di Dio e consolazione e utilità degli uditori, intendo, avanti che io più oltre proceda, quanto più umilemente posso, ricorrere ad invocare il suo aiuto, molto più della sua benignità fidandomi che d’alcuno mio merito. E imperciò di materia poetica parlare dovemo, poeticamente quello invocherò con Anchise troiano, dicendo quei versi che nel secondo del suo Eneida scrive Virgilio: Iùpiter omnìpotens, prècibus si flècteris ullis àspice nos: hoc tantum: et, si pietate meremur, da dèinde auxilium, pater – etcetera.

Der Dialog beginnt mit einem Auszug aus Giovanni Boccaccios berühmtem Kommentar zur Divina Commedia (Esposizioni sopra la

16

Ebd.

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Comedia di Dante). Diesen hatte Boccaccio 1373-4 im Auftrag von Dantes Geburtstadt Florenz verfasst und bis kurz vor seinem Tod an ihm gearbeitet. Mit den Worten Boccaccios ruft der erste Clown, ganz in der Tradition ‚erhabener‘ antiker und mittelalterlicher Literatur, Gott und die Musen an, damit sie ihm bei dem, was er zu sagen hat, beistehen mögen. Der Stil der Anrufung ist gehoben, mit Hypotaxen gestaltet und mit lateinischen Original-Zitaten aus der Aeneis durchsetzt. In der folgenden Wechselrede erörtern die Presentatori mit den Worten Boccaccios dann die Philosophie in der Divina Commedia. Der Einstieg in die modernisierte Variante von Dantes Höllenbeschreibung dürfte für Leser und Zuschauer einigermaßen befremdlich sein: Der Beginn des Stücks ist sehr formell, er ist eher wissenschaftlich-explikativ als narrativ, die Sprache hat eine altertümliche Patina. Darüber hinaus kontrastieren Inhalt und Sprache des Dialogs scharf mit dem Unterhaltungsszenario des Zirkus’ und den sich überschlagenden Stimmen. Der sehr spezielle Inhalt des Gelehrtengesprächs scheint hinter dem bewussten Spiel mit der Wirkung der Stilebenen in den Hintergrund zu treten. In der zweiten Szene sollen dann ausschließlich aus Lautsprechern Stimmen zu hören sein, die uniform und ausdruckslos klingen und an Gebete erinnern. Sie zitieren nach einer kurzen lateinischen Einleitung den ersten Satz des Inferno: „Dicit autor: Nel mezzo del cammin di nostra vita.“17 Die Stimmen fragen anschließend nach der Bedeutung dieses ersten Satzes. Er wird aus den Lautsprechern vollständig auf Latein erklärt. In der Erklärung wird der Kommentar von Benvenuto da Imola, einem Zeitgenossen Giovanni Boccaccios, über die Divina Commedia zitiert (Comentum super Dantis Comoediam). Wie schon die erste Szene lebt auch die kurze zweite Szene von Kontrasten: Mit den Lautsprechern integriert Sanguineti moderne technische Geräte – aus denen Sätze in antikem Latein und im erhabenen Duktus von Gebeten zu hören sind. Obwohl Lautsprecher eigentlich der Massenkommunikation dienen, ist das Lateinische heute eine Sprache, die nur von wenigen Lesern bzw. Zuschauern des Dramas verstanden wird. Sanguineti setzt offenbar auch hier auf die durch die alte, fremde Sprache hervorgerufenen Verfremdungseffekte. Die intertextuelle Reintegration alter Kommentare zur Divina Commedia in der

17

Ebd., S. 23.

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Travestie ruft zudem den Status der Dichtung als gelehrtes Werk, das in der Forschung unter anderem als ‚Summe des mittelalterlichen Wissens‘ bezeichnet wurde, in Erinnerung.18 Im Anschluss an die ersten beiden prologartigen Szenen setzt die eigentliche Dramatisierung von Dantes Inferno ein. In ihr hat Sanguineti einzelne, stark gekürzte Episoden aus der Vorlage herausgegriffen, die als weitgehend voneinander losgelöste Sequenzen revueartig einen Querschnitt vom Anfang bis zum Ende von Dantes Höllenwanderung zeigen. Die Szenen beruhen auf dem originalen Text des Inferno, der mit verschiedenen Mitteln in eine Travestie umgestaltet wird. Das bedeutet zuallererst, dass die Sprache des originalen Textes kreativ verändert wird. In der dritten Szene etwa betreten Dante und Vergil die Bühne. Beide sprechen leicht überarbeitete Textpassagen aus dem ersten Gesang des Inferno:19 DANTE selva oscura: una selva selvaggia, e aspra, e forte: io era pieno di sonno: e al piè d’un colle giunto, guardai in alto: temp’ era dal principio del mattino, e il sol montava in su: posato un poco il corpo lasso, ripresi via, per la piaggia deserta: ed ecco, quasi al cominciar dell’erta, una lonza leggiera, presta molto, di pel macolato era coverta: […]

Wie schon die Bühnenanweisungen ist auch hier der Text vollständig in Kleinschrift wiedergegeben. Punkte am Satzende werden weggelassen und durch Kommata und Doppelpunkte ersetzt. Die strenge einheitliche Versgestaltung Dantes wird aufgebrochen: Die für die Divina Commedia charakteristischen Elfsilber hat Sanguineti auf wenige Bruchstücke pro Verszeile reduziert. Die dreigliedrigen Kettenreime, die im Original ganz regelmäßig und eingängig in der Form aba bcb

18

Prill, a. a. O., S. 124.

19

Sanguineti, a. a. O., S. 25.

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cdc ded etc. dahinfließen, werden weitgehend aufgelöst. Von den ersten Verszeilen des Inferno („Nel mezzo del cammin di nostra vita / mi ritrovai per una selva oscura / che la diritta via era smarrita“) bleibt nur noch das Fragment „selva oscura“ bestehen. Immerhin: Die Handlung der Episode aus Dantes Inferno ist, in kondensierter Form, noch wiedererkennbar. Diese Arbeitsweise behält Sanguineti auch in allen weiteren Szenen bei. Darüber hinaus variiert er seine Strategie u. a. indem er stellenweise einzelne Ausdrücke verdoppelt, so in einer Passage, in der die Inschrift über dem Eingangstor zur Hölle zitiert wird:20 ALTOPARLANTI per me per me si va nella città dolente, per me si va nell’etterno dolore, per me si va tra la perduta gente: lasciate, lasciate ogni speranza, voi che intrate! [Herv. TK]

Oder er behält einige, besonders bekannte Verse originalgetreu bei – bevor dann ein Vers aus dem Dichtungsfluss herausgezogen ist. Das Publikum wird offensiv in die Lücke ‚gestoßen‘, die sprachlichen Veränderungen werden als massive Norm-Verstöße gegenüber dem Original registriert. Mit diesen Verfahren verfremdet Sanguineti die Vorlage, ihre sprachliche Materialität wird bewusst gemacht. In einzelnen Szenen ergänzt Sanguineti den Originaltext außerdem mit längeren, zum Teil fremdsprachigen, Zitaten aus anderen Texten, die mit dem Inferno aber in irgendeiner Weise verbunden sind. In der fünften Szene beispielsweise hat er eine Passage aus dem altfranzösischen Artusroman von Chrétien de Troyes eingefügt, die über Lautsprecher eingesprochen wird. Das Zitat untermalt die Liebesgeschichte von Paolo und Francesca, die Dante im V. Inferno-Gesang erzählt: Paolo und Francesca, Schwager und Schwägerin, wurden durch die Lektüre der Romanze von Lanzelot und Guinevère aus dem ArtusRoman des Chrétien de Troyes selbst zum Ehebruch verführt. Und in der neunten und zehnten Szene integriert Sanguineti Auszüge aus den Cantos des amerikanischen Lyrikers Ezra Pound (1885-1972), eines unvollendeten Langgedichts in 120 Abschnitten, das in enger Bezug-

20

Ebd., S. 29.

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nahme auf die Divina Commedia entstanden ist. In einem der Gedichte reflektiert Pound über die fliegende Drachengestalt des Geryon, auf dessen Rücken Dante und Vergil vom siebten zum achten Höllenkreis hinabgetragen werden. Sanguineti zitiert das Gedicht in der Episode des Dramas, in der der Flugdrache beschrieben wird. Durch die Textzitate ist Sanguinetis Dramenversion einerseits die lange und intensive Geschichte der Dante-Rezeption eingeschrieben. Andererseits versehen die verschiedensprachigen und stilistisch völlig unterschiedlichen Textsplitter das Drama mit einer bunten Palette von „colori linguistici“21. Abgesehen von den Veränderungen auf der Textebene arbeitet Sanguineti mit verschiedenen Inszenierungseffekten, um Dantes Inferno in eine Travestie zu verwandeln. Diese Effekte beschreibt er in den Szenenanweisungen. Von den 17 Szenen, die episodische Ausschnitte aus dem Inferno zeigen, sollen einige weitgehend realistisch auf der Bühne inszeniert werden: In der achten Szene etwa wird die Episode von Pier della Vigna dargestellt. Die Seelengestalt von Pier della Vigna, der einst Kanzler von Kaiser Friedrich II. war und später Selbstmord beging, ist in der Hölle in einen Baum verwandelt (Inf. XIII); er befindet sich im so genannten ‚Selbstmörderwald’. Und auch in Sanguinetis Drama erscheint er entsprechend der Vorlage als „uomo-pianta, in una selva: la voce è deformata dalla mascheratura vegetale“22, und spricht seinen Text von der Wendeltreppe aus. Zusätzlich hat Sanguineti einige Szenen aber auch bewusst modernisiert und humoristisch überzeichnet. Ähnlich den Tier-Käfigen aus der ersten Szene sollen Paolo und Francesca, die in Dantes Inferno als Strafe für ihre ehebrecherische Liebe in einem höllischen Wirbelsturm umhergetrieben werden, in der fünften Szene in einer Art Zoo-Voliere auftreten, die von einem Kran in der Luft gehalten wird. In der dreizehnten Szene wird beschrieben, wie die Malebranche, Höllen-Teufel, die bei Dante Sünder im Höllenfluss Styx bewachen, in einer Schwimmbad-Szenerie zu sehen sind: Es gibt ein Schwimmbecken, das mit schwarzer, blubbernder Flüssigkeit gefüllt ist; am Rand liegen Badetücher und Schwimmreifen, ein Trampolin steht daneben, Umkleidekabinen sind aufgebaut; die Teufelchen tragen Tauchkleidung

21

Sanguineti, a. a. O., S. 88.

22

Ebd., S. 39.

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und Harpunen. Auch hier wird mit der lässigen Urlaubsszenerie bewusst ein Kontrast zur Höllenlandschaft der Vorlage aufgebaut. Deren parodistische Wirkung wird noch gesteigert, wenn die Teufelchen auf nackte Schaufensterpuppen – als Zerrbild der nackten Seelen – zielen, die im Wasser schwimmen, Zeitung lesen oder aus einem Radio Disco-Musik hören. Die Teufel sprechen mit unnatürlich verzerrten Stimmen, die sich wie verlangsamte oder zu schnell abgespielte Kassetten-Bänder anhören sollen, bzw. sie tragen, als Ausdruck ihrer ‚sprechenden Namen‘, dazu passende Masken wie ein Harlekin (‚Alichino‘) oder ein Hund (‚Cagnazzo‘ < it. cane, dt. ‚Hund‘). In der neunzehnten Szene erreicht Sanguinetis Travestie ihren Höhepunkt. Im letzten canto des Inferno beschreibt Dante, wie sein gleichnamiger Protagonist der Divina Commedia auf Luzifer trifft, der am tiefsten Punkt der Hölle in einen Eissee eingefroren ist. Der gefallene Erzengel schlägt dort mit seinen fledermausähnlichen Flügeln und zermalmt unendlich mit seinen drei Mäulern die drei Erzverräter Judas, Brutus und Cassius. Ausgehend von dieser Beschreibung entwirft Sanguineti in seinem Stück eine parodistische Verzerrung der Vorlage:23 Lucifero; dal fondo oscuro, adesso, prima invisibile, sempre più evidente progressivamente, avanza una gigantescha macchina, una vera macchina infernale, e si comprende che il sibilo, sempre più alto di tono, e sempre più insopportabile, proviene da questo apparato: è un insieme caotico di meccanismi in funzione, alla Tinguely, sobbalzante, che procede minacciosa verso gli spettatori: il suo tremare è sincronizzato con il tremito dei cadaveri: è una macchina celibe, come in moto perpetuo: è un rudere da prima rivoluzione industriale, con getti di vapore: il sibilo diventa sempre più simile a quello di un jet che si avvia a decrollare: parti della macchina, mentre avanza, rotolano (viti, molle, ecc.) a terra; la macchina scorre su vecchie rotaie: tutto è rugginoso, ricco di spunzioni, di aculei, di antenne tremolanti: il mostro meccanico, a mano a mano, rivela aspetti antropomorfici, che, con i suoi movimenti in avanti, e con i suoi interni spostamenti (leve, stantuffi, catene, ecc.), si definiscono sempre meglio, con l’aiuto di fanali, lampade, che si accendono qua e là: pare un busto di gigante, con la testa a tre facce: quella

23

Ebd., S. 38.

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centrale si colora rosso, quella destra in giallo e bianco, quella sinistra dell’azzurro da oscuramento bellico delle luci; il busto del gigante ha due grandi ali a pale meccaniche ai lati, che progressivamente si stirano, minacciando di uscire pericolosamente dai limiti della scena verso gli spettatori, e suggerendo la forma di ali di pipistrello, che si muovono a scatti: nelle tre bocche dei tre volti si vedono tre manichini che appositi ferri uncinati graffiano e lacerano e torcono, evidenziandone l’interno da robot, che si guasta e ricompone in continuità; di colpo, tutto si arresta: silenzio assoluto:

Die Gestalt des Luzifer wird bei Sanguineti zu einem mechanischen Monstrum, zu einer Bewegungsmaschine im Stil Jean Tinguelys (1925-91). So, wie der Schweizer Künstler seine kinetischen Skulpturen allein aus Spaß an der Bewegung und ihrer Ästhetik montierte, ohne dass ihnen irgendein sonstiger tieferer ‚Sinn‘ zugrunde liegen würde, so scheint auch Sanguineti der allegorisierend sinnbeladenen Hölle Dantes demonstrativ diese ‚sinnlose‘ Maschine aus Schrott gegenüberzustellen, die wie die Verse des neuen Inferno vor sich hin rumpelt und rattert. Die Szene wird zusätzlich parodistisch aufgeladen, wenn wiederum Schaufensterpuppen als ‚Seelen‘ vom modernen Erzteufel zermalmt werden bzw. Mediziner, Krankenschwestern, Polizisten und Richter die Szene betreten, um dem Apparat den Weg zum vorderen Bühnenrand freizuräumen. Vergil erklärt Dante derweil im Tonfall eines Ingenieurs und mit den Versen der mittelalterlichen Dichtung das Aussehen Luzifers, bevor er dann gemäß Sanguinetis Vorgaben in eine Kindersprache im Stil der Kinderzeitschrift Corriere dei Piccoli verfällt und Dante dazu auffordert, den Erzteufel zu besteigen. In der Original-Version führt vom tiefsten Punkt der Hölle durch den Bauchnabel Luzifers ein höhlenartiger Durchgang zur anderen Erdhalbkugel, wo sich der Läuterungsberg erhebt. Erwartet die Jenseitswanderer Dante und Vergil dort nach dem Gang durch die Dunkelheit der Hölle das Sonnenlicht, beginnt in Sanguinetis Dramenversion die Teufelsmaschine nach einem kurzen Stillstand erneut zu rütteln und sich auf das Publikum zu zu bewegen. Begleitet vom lateinischen Chorgesang „vexilla regis prodeunt inferni“ löst sich die Maschine schließlich in ihre Einzelteile auf. Anstelle eines Ausblicks auf den Läuterungsberg und das anschließende Paradies, die Zeichen der

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Erlösungshoffnung sind, endet Sanguinetis Inferno mit Zerstörung, Chaos – und plötzlicher Stille. Sanguinetis Dramenbearbeitung des Inferno lebt, wie gezeigt, von einem humorvollen bis destruktiven ‚Zerschreiben‘ der berühmten Vorlage. Die christlich geprägte Geschichte von Dantes Gang durch die Hölle, an deren Ende ihn die Erfahrung des heilsamen Weges durch das Purgatorium und Paradies erwartet, wird in weitgehend kryptische Einzelteile zerlegt. Die Ganzheit der ursprünglichen Erzählung weicht einem assoziativen Spiel mit dem Bild- und Sprachmaterial der Vorlage, bei dem Sanguineti auch Strategien anwendet, die schon aus früheren Werken bekannt sind. Der modernisierende Angriff auf die bekannte Vorlage, die als nicht mehr zeitgemäß ausgewiesen wird, ist das Ziel von Sanguinetis Travestie, in der darüber hinaus keine eigenen inhaltlichen Gegenpositionen aufgebaut werden. Auch wenn – und das liegt in der Natur der Travestie – Sanguineti die soziale Geltung der Divina Commedia als anerkanntes und bekanntes Meisterwerk für seine Bearbeitung voraussetzt, wird ihre heutige Gültigkeit, d. h. ihr inhaltlicher Aussagegehalt und ihre Form als geschlossene Großdichtung, mit künstlerischen Mitteln zurückgewiesen.

2 K ONSERVIERENDE D RAMATISIERUNG : M ARIO L UZIS I L P URGATORIO . L A NOTTE

LAVA

LA MENTE Für die Bearbeitung des Purgatorio hatte Federico Tiezzi Mario Luzi (1914-2005) ausgewählt. Luzi, der an den Universitäten Florenz und Urbino französische und vergleichende Literaturwissenschaft unterrichtete, war auch als Essayist, Übersetzer, Theaterautor und vor allem als Lyriker tätig. Die Lyrik Mario Luzis weist phasenweise verschiedene Stilmerkmale auf. Der Beginn seiner Lyrik lässt sich im Zusammenhang des sogenannten ‚Florentiner Hermetismus‘ verorten, einer Strömung, deren Vertreter zur Zeit des italienischen Faschismus einen Rückzug in die abgeschlossene Welt der Wortkunst vollzogen. Wie Manfred Lentzen in seiner Geschichte der italienischen Lyrik des 20. Jahrhunderts

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schreibt, lässt sich die Poetik Luzis bereits in seinem ersten Gedichtband La barca ablesen:24 ‚Das Boot‘ steht als Symbol für die Entfernung vom Ufer, von der Wirklichkeit hin zu einer neuen Welt, die allerdings noch nicht näher beschrieben wird. Der Abschied von der Welt bedeutet natürlich primär die Negierung der faschistischen Umwelt.

In einem der ersten Gedichte des Bandes, La toccata, wird beispielsweise der Monat April beschrieben. Der Frühlingsmonat wird nicht mehr mit Aufblühen und Frische gleichgesetzt. Stattdessen heißt es bei Luzi:25 Ecco aprile, la noia dei cieli d’acqua di polvere, la quiete della stuoia alla finestra, un tocco di vento, una ferita.

Es ist hier von ‚Langeweile‘ die Rede, von ‚Staub‘ und von einer ‚Wunde‘, die den April kennzeichnen.26 Die sehr negative und weltabgewandte Sichtweise gab Luzi in den folgenden Jahrzehnten schrittweise auf. Er näherte sich einer versöhnlicheren Weltsicht, die auch von seinem tiefen katholischen Glauben getragen war. Im Gedicht Augurio aus der Sammlung Dal fondo delle campagne (1965) formulierte er beispielsweise die Dankbarkeit für das eigene Leben:27 Sia grazia essere qui, nel giusto della vita, nell’opera del mondo. Sia così.

In seinen späten Gedichten, so in dem 1990 erschienenen Band Frasi e incisi di un canto salutare, entwickelte Luzi schließlich einen sprach-

24

Lentzen, a. a. O., S. 181.

25

Ebd.

26

Ebd.

27

Ebd., S. 188.

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spielerischen Ansatz. Er verband assoziativ Wörter und Bilder, deren Sinn kaum mehr aufzulösen ist. Lentzen vermutet, dass es Luzi in den späten Gedichten nicht mehr primär um die Formulierung von Aussagen ging, sondern womöglich mehr um den Klang und die Musikalität von Sprache.28 Als Federico Tiezzi Luzi um die Bearbeitung des Purgatorio bat, war dessen erster Impuls ähnlich ablehnend wie der von Sanguineti. Im Nachwort der Textfassung schrieb er, dass er der Dramatisierung von literarischen Werken, besonders dann, wenn sie groß und in sich stimmig sind, seit jeher sehr skeptisch gegenüberstand; die ‚Gefräßigkeit‘ des modernen Theaterbetriebs betrachtete er äußerst kritisch. Doch trotz aller grundsätzlichen Zweifel („Ho, se mai, avuto dubbi su di me, sulla mia inventiva mirata a questo fine“29), ließ er sich zur Mitarbeit überreden. Luzi stellte sich die grundlegende Frage, wie er überhaupt mit einem in seiner Sicht vollkommenen Text arbeiten könnte. Die Antwort, die er für sich fand, war die, dass er auf jeden Fall das ‚Absolute‘ des ursprünglichen Textes so weit wie möglich bewahren wollte. Den Text als etwas Unberührbares zu zeigen, ist die Essenz seiner Dramatisierung: „Era esclusa per forza qualunque manipolazione, interpolazione, commistione di elementi estranei.“30 Im Vergleich zur Bearbeitung Sanguinetis beruht Luzis Purgatorio daher weit weniger auf Veränderung als auf dem bewussten Bewahren der Vorlage. Sein Anliegen war es, den Ausgangstext mit möglichst geringen Eingriffen zu dramatisieren. Luzis Dramentext besteht beinahe ausschließlich aus gekürzten originalen Textpassagen aus Dantes Purgatorio. In den Passagen wird der plot des Purgatorio, der Aufstieg des Jenseitswanderers von der Ankunft auf der Purgatoriumsinsel bis zur Spitze des Läuterungsberges, nachvollzogen. Das Drama ist in drei Abschnitte gegliedert: Antepurgatorium (als Ort, an dem sich die Seelen in einem Zustand der Verwirrung, der Unsicherheit und des Zweifels befinden), Purgatorium

28

Ebd., S. 193.

29

Mario Luzi: Il Purgatorio. La notte lava la mente. Genova: costa & nolan, 1990. S. 74.

30

Luzi, a. a. O., ebd.

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(Phase des Aufstiegs auf dem Läuterungsberg) und irdisches Paradies (als Ort der Ekstase). Die Tatsache, dass die Divina Commedia ohnehin stark dialogisch gearbeitet ist, nutzt Luzi, um sie in eine BühnenAdaption zu verwandeln, bei der die Dialoge und die rückblickenden Erinnerungen des Erzählers Dante von den entsprechenden Personen gesprochen werden. Für die allgemein beschreibenden Passagen in der Dichtung hat Luzi ‚Il POEMA‘ als neue ‚Figur‘ eingeführt; die Abstraktheit als außenstehende Erzählinstanz soll während der Aufführung durch eine Maske verdeutlicht werden, die der Sprecher trägt und die aussieht wie die Bocca della verità, ein rundes Marmorrelief in Gesichtform.31 Allein an drei Stellen im Stück hat Luzi den Originaltext ergänzt, indem er drei eigene Gedichte in den Text eingefügt hat, die durch eine ‚Voce fuori campo‘. Die Stimme von außen, gesprochen werden. Das ist einmal kurz nach Beginn des ‚Antepurgatorio‘-Teils. Ein Chor von Seelen fragt da, ob die Zeit existiert; die Stimme von außen antwortet mit einem ‚Ja, und es existiert auch die Mühe‘ („Esiste il tempo?“ – „Sì, ed esiste il travaglio.”)32. Der kurze Dialog weist auf die Grundcharakteristik des Purgatorio hin, in dem sich die Seelen anders als im Inferno und Paradiso nur für eine begrenzte Zeit befinden, während derer sie verschiedene Bußleistungen für die von ihnen begangenen Sünden vollbringen müssen. Die Stimme ergänzt dann:33 La notte lava la mente. Poco dopo si è qui come sai bene, fila d’anime lungo la cornice, chi pronto al balzo, chi quasi in catene. Qualcuno sulla pagina del mare

31

Die Bocca della verità ist ein rundes Marmorrelief von 1,75 m Durchmesser, auf dem ein Greisenkopf mit wehenden langen Haaren und Bart zu sehen ist. Das Relief befindet sich heute an der Außenwand der römischen Kirche Santa Maria in Cosmedin. Es wird gesagt, dass derjenige, der seine Hand in die Mundöffnung legt und nicht die Wahrheit spricht, seine Hand verliert.

32

Luzi, a. a. O., S. 15.

33

Ebd., S. 16.

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traccia un segno di vita, figge un punto. Raramente qualche gabbiano appare.

Das kurze Gedicht verstärkt anschaulich und sinnlich die gezeigte Handlung auf der Bühne: Es evoziert die Ankunft der Seelen, die mit einem Ruderboot auf die Insel des Läuterungsberges gebracht werden und von denen in der Fiktion des Gedichts einige leicht, andere niedergedrückt wirken. Die Überschrift bzw. die allein stehende Verszeile „La notte lava la mente“, die Luzi auch als Untertitel seiner Purgatorio-Bearbeitung gewählt hat, schafft einen offenen metaphorischen Deutungsraum für den anstehenden Läuterungsprozess der Seelen. Ähnlich wie dieses kurze Gedicht sind auch die anderen beiden Gedichte gearbeitet, die am Anfang und Ende des Purgatorio-Teils des Dramas stehen. Im zweiten, etwas längeren Gedicht, vergleicht Luzi den Läuterungsberg mit einem geschäftigen Bienenkorb:34 Non dorme, non riposa, è un’arnia insonne, un fervoroso bugno senza pausa la ripida montagna. Vi lavorano le sue api un miele amaro, vi distillano un dolce assenzio di martirio e di purificazione convenute da ogni punto del tempo, da ogni plica dell’interminato spazio. Sono qui tutte presenti le epoche del mondo e i luoghi conosciuti e quelli immaginati dall’uomo. Sono qui e tutti cooperano a questa fabbrica incessante di dolore e di letizia. Salite, salite la montagna. Salendo la montagna il tempo si riduce,

34

Ebd., S. 30-1.

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il tempo si annulla e si distrugge più prossimo all’eternità imperante. I luoghi e le memorie si unificano in un punto solo, in un punto onnipresente. Salite, salite la montagna.

Luzi arbeitet mit den Metaphern von ‚bitterem Honig‘ und ‚süßer Essenz‘. Sie stehen für den Prozess der Reinigung auf dem Läuterungsberg, bei dem aus Schmerz Freude wird. Das Gedicht hebt die Bedeutung der Zeit hervor, die nur im Purgatorium endlich ist, da alle Seelen nach ihrer Bußleistung ins Paradies, in die zeitlose Ewigkeit, aufsteigen. Und das Gedicht beschreibt, dass die Seelen aus allen Zeiten und von realen und erfundenen Orten stammen. Im Gedicht umschreibt Luzi also in nuce und mit einfachen Bildern den Prozess des Aufstiegs der Seelen auf dem Läuterungsberg. Und er verweist darauf, dass die Seelen in Dantes Purgatorio nicht nur aus der Zeitgeschichte, sondern auch aus der Literatur und Mythologie stammen. Wie in einem Lied wird die Aufforderung „Salite la montagna“ refrainartig wiederholt, Wiederholungsstrukturen (u. a. „non dorme, non riposa“, „vi lavorano, vi distillano“, „il tempo si riduce, il tempo si annulla“) geben dem Gedicht einen eigenen inneren Rhythmus. Im dritten und letzten Gedicht umschreibt Luzi das Feuer am Ende des Läuterungsweges:35 Qui signore è il fuoco. fuoco [sic] ogni dove, in vampe, in tizzi, in braci roventi, in un diffuso alitare delle fiamme nella trasparenza dell’aria. Qui è il fuoco perpetuo, vario, in ogni sua specie, non però fuoco di sterpi o di detriti crepitanti, lo alimenta una misteriosa rovere, lo nutre una sostanza

35

Ebd., S. 59-60.

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che non si consuma. Ardete a questo fuoco, bruciate in questo rogo ogni vostra impurità, tutto, fino all’essenza. Trasformatevi dolorosamente nella vostra incipiente divinità. Di là vi attende l’acqua, e con l’acqua la primavera, l’estasi.

Über mehrere Verszeilen entwirft Luzi das Bild eines Feuers, das die Seelen, wie in der Divina Commedia beschrieben, am Ende des Purgatoriums durchqueren müssen. Die Seelen werden direkt angesprochen und ermuntert, sich dessen reinigenden Kraft des Feuers anzuvertrauen, um dann den ekstatischen Zustand des Paradieses erreichen zu können. Die drei Gedichte fügen sich beinahe unauffällig in den Gesamtfluss des Purgatorio ein. Sie untermalen die beschriebene Handlung und wirken wie eine eigene, dabei aber sehr dezente Signatur Luzis in ‚seinem‘ Purgatorio. In den Inszenierungshinweisen schlägt Luzi eine weitgehend realistische Darstellung des Geschehens auf der Bühne vor, wobei auch hier einige wenige Ausnahmen bestehen. Zum einen weist er in der Beschreibung der Szenerie für das Antepurgatorium darauf hin, dass anstelle eines natürlichen Insel-Ufers eine wissenschaftliche Forschungsstation zu sehen sein soll, die in der weißen Unendlichkeit einer arktischen Landschaft steht („una base oceanica, fantascientifica, forse una base artica, nella distesa bianca del polo“36). Die Seelen, die in dieser Landschaft auftauchen, sollen wie Passagiere scheinen, die einem Schiff oder auch einem Flugzeug entstiegen sein könnten. Durch diese Szenerie setzt Luzi leicht verfremdende und modernisierende Akzente, die wirken, als ob sie ein winziges Fragezeichen hinter die Aussagen von Dantes Text setzen würden und zumindest Anlass geben, nach der heutigen Bedeutung der Dichtung zu fragen. Meines Erachtens sind sie aber nur ein Fingerzeig, eine kleine Störung in der

36

Ebd., S. 13.

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sonst beinahe unberührt adaptierten Dramenversion des mittelalterlichen Gedichts. Ähnlich kann wohl auch der Hinweis in den Regieanweisungen verstanden werden, dass in einer Szene – Dante spricht mit Sapia, die die Sünde des Neides im Purgatorium büßt – im Hintergrund Schlachten-Bilder des Florentiner Renaissance-Künstlers Paolo Uccello oder Filmausschnitte aus Sergeij Eisensteins Stummfilm Aleksandr Nevskij gezeigt werden sollen.37 Abgesehen von diesen wenigen Einsprengseln, die zumindest stellenweise auf eine mögliche Aktualisierung des Bühnengeschehens durch die Hintergrundgestaltung hindeuten, legen die Regieanweisungen aber eine sehr textnahe Aufführung nahe.

3 T EXTCOLLAGE : G IOVANNI G IUDICIS I L P ARADISO . P ERCHÉ MI VINSE IL LUME D ’ ESTA STELLA . S ATURA DRAMMATICA Giovanni Giudici (1924-2001) gehört zu den bedeutendsten zeitgenössischen Lyrikern Italiens. Nach dem frühen Tod seiner Mutter wuchs er in einem katholischen Internat in Rom auf. Die Erfahrungen seiner Zeit im Internat und der dort herrschenden, auch religiösen Zwänge verarbeitete Giudici künstlerisch in seinem ersten Gedichtband L’educazione cattolica (1963). So wie in diesen Gedichten konzentrierte er sich in vielen seiner späteren Dichtungen, die sich durch eine „unrhetorische und umgangssprachliche Schlichtheit“38 auszeichnen, auf die Bearbeitung autobiographischer Erlebnisse (u. a. La vita in versi, 1965; Autobiologia, 1969). Wie Sanguineti und Luzi reagierte auch Giudici auf die Aufforderung Tiezzis, sich am Divina Commedia-Projekt zu beteiligen, zunächst überrascht und skeptisch: Die beiden Künstler kannten sich nicht und von den vorherigen Dramen-Bearbeitungen durch Sanguineti und Luzi hatte Giudici nur flüchtig etwas mitbekommen. Giudici sagt von sich selbst, dass er nur selten das Theater besucht habe – nicht aus inhaltlichen Vorbehalten, sondern weil die Organisation von Theaterabenden ihm zu aufwendig schien (so zumindest seine Darstellung im Nach-

37

Ebd., S. 36.

38

Hösle, a. a. O., S. 156.

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wort zum Paradiso) und es daher nur wenig kenne. Außerdem empfand er eine so große und beinahe ängstliche Verehrung für das große Werk der italienischen Literatur, dass ihn beim Gedanken an eine Bearbeitung beinahe Panik überfiel:39 E poi, dentro di me, insieme all’inevitabile timore reverenziale per il Sacro Monumento della nostra Lingua, una sorta di panico: ecco (pensavo) la buona occasione per lasciarmi fare a pezzi, per mettere a repentaglio quel poco di onesta reputazione che forse avrò meritato in quasi mezzo secolo di esercizio letterario …

Doch nicht nur der Rang des Werkes schien Giudici problematisch. Auch die Tatsache, dass Dante im Paradiso mehr noch als im Inferno und im Purgatorio versucht, Unbeschreibliches zu beschreiben – in den Worten Giudicis: „Il Paradiso non è un luogo, ma piuttosto la metafora di un non-luogo e di un non-tempo […]“40 –, machte es aus seiner Sicht schwierig, die Dichtung in ein konkret darstellbares Theater zu verwandeln. Weil er aber zu den Menschen gehöre, die nichts ablehnen könnten, habe er Tiezzi schließlich zugesagt. Er löste die Probleme auf eigene Weise: Auf der einen Seite war es zwar sein Ziel, aus Dantes Paradiso ein Theater zu gestalten, in dem die Vorlage wieder erkennbar umgesetzt wird. Auf der anderen Seite sah er aber auch die Schwierigkeit, gerade den Paradies-Teil für die Bühne einzurichten, bei dessen Beschreibung Dantes Sprachkraft, so zumindest die Stilisierung des Erzählers im Text, immer wieder zu versagen drohte. Aufgrund dessen entschied sich Giudici dafür, in den Text einzugreifen, ihn zu verändern und mit diesen Verfremdungen dann doch darstellbar zu machen.41 Giudicis Paradiso besteht aus insgesamt neun Szenen und einem Prolog. Die Gesamtsumme von zehn Szenen kann eventuell in Analogie zu den zehn Himmelssphären in Dantes Paradies gesehen werden.

39

Giovanni Giudici: Il Paradiso. Perché mi vinse il lume d’esta stella. Satura drammatica. Genova: costa & nolan, 1991. S. 83.

40

Giudici, a. a. O., S. 84.

41

„Di qui la ‚violenza‘ che non si poteva non arrecare all’integrità del testo.“ Ebd., S. 85.

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Die Gestaltungsprinzipien Giudicis zeigen sich bereits im Prolog der Adaption, der mit einer ausführlichen Beschreibung der Bühnengestaltung beginnt:42 Si apre il sipario su una congerie di oggetti destinati alla costruzione della scena: pannelli, specchi, mappe celesti, lampade, porzioni di una possibile cupola, componibili di un eventuale mini-emiciclo, un leggìo. Il tutto dovrà essere volto alla realizzazione di una metafora scenografica che suggerisca, da un lato, l’idea di una crescita e ascesa; e, dall’altro, quella di un Holzweg, di un punto di arrivo oltre il quale non è dato procedere: il „non esserci“, la „luce dello zero“. In un angolo, chino ad un tavolo, un vecchio uomo scrive. Il vecchio uomo, spossato, rilegge poi ad alta voce la sua ultima pagina. È l’Auctor.

Auf der Bühne ist eine Art Arbeitszimmer zu sehen: Es gibt ein Stehpult, Himmelskarten und an einem Tisch sitzt ein alter Mann, der schreibt. Der Mann verkörpert den ‚Auctor‘ Dante, der als Autor an der Fertigstellung der Divina Commedia arbeitet. Zusätzlich befinden sich auf der Bühne Requisiten, aus denen der Hintergrund für die dem Prolog folgenden Szenen errichtet wird. Die hier noch lose herumliegenden Teile einer Himmelskuppel betonen die (literarische / theatralische) ‚Gemachtheit‘ des anschließend gezeigten Paradieses. Entsprechend der Regieanweisungen sollen die Requisiten eine doppelte Lesart des Bühnenbildes ermöglichen: Zum einen soll der Bühnenhintergrund – ganz im Sinne der mittelalterlich-christlichen Gesamtdeutung der Divina Commedia – als metaphorischer Hinweis auf einen Weg des Aufstiegs, des Wachstums und der Erlösung verstanden werden. Zum anderen sind sie aber auch ein – eher zeitgemäßkritischer – Hinweis auf einen Punkt, über den hinaus es nicht mehr weiter geht, ein absoluter Endpunkt. Vor diesem Hintergrund liest der Auctor eine Passage aus dem Schlussgesang des Paradiso. In dem Zitat sinniert der Erzähler Dante darüber, wie seine sprachliche Ausdruckskraft angesichts des letzten Anblicks Gottes am Ende seines Fluges durch die Sphären des Paradieses versagt. Noch während er die letzten Verse spricht, scheint Giudicis Dante in eine Art Trance zu versinken, in der er unmittelbar

42

Ebd., S. 13.

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dazu übergeht, einen spanischen Vierzeiler zu sprechen: „Ayer soñé que veía / a Dios y que a Dios hablaba; / y soñé que Dios me oía … / Después soñé que soñaba.“43. Giudicis Dante erwacht, er fragt irritiert, von wem das Gedicht stamme, das nicht seines sei und das auf eine unbekannte Zukunft hinweise. War der Einstieg in das Drama noch wie eine historisierende Inszenierung des Schreibprozesses der Divina Commedia gestaltet, wirkt das fremdsprachige Gedicht des modernen spanischen Lyrikers Antonio Machado (1875-1939) und die verunsicherte Reaktion Dantes als erste traumhafte ‚Störung‘ im Drama. Unmittelbar im Anschluss ruft Dante aus, dass das Theater andere Worte brauche: „Altre parole, altre chiose vuole il teatro!“44. Der Ausruf weist offenbar darauf hin, dass die Figur auf der Bühne weiß, dass sie Teil einer Drameninszenierung ist – womit der illusionistische Charakter der Aufführung durchbrochen wird. Schließlich fragt der Auctor, ob es nicht Kleriker und Literaten gebe, die ihm helfen könnten. Auf seine Anrufung hin erscheinen wie spontane Realisierungen seiner Gedanken tatsächlich ein Kleriker und ein Literat auf der Bühne. Beide zählen die Abfolge der verschiedenen Sternenhimmel in Dantes Paradies-System auf und erläutern sie kurz. Für die Zuschauer ergibt sich daraus wie ein Inhaltsverzeichnis ein Überblick über die Struktur der folgenden Szenen. Im Anschluss an ihre Erläuterungen tritt Dante ab, woraufhin der Kleriker und der ‚moderne Literat‘ sich weiter unterhalten:45 CHIERICO: […] Io mi ricordo il libro d’un poeta dove del paradiso si dichiara che non è un luogo ma una condizione: la purissima visione senza più specchi né enigmi del bene … Nulla che sia di questo mondo gli pertiene: prede di caccia o canto di sirene: né i soldi, per carità … LETTERATO MODERNO: In Xanadu did Kubla Khan A stately pleasure-dome decree…

43

Ebd., S. 14.

44

Ebd.

45

Ebd., S. 16.

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Era un prodigio di rara maestrìa: Antri di ghiaccio e cupola solatìa! Potessi in me resuscitare Quel suo canto e melodìa … CHIERICO: No, ti assicuro, non è il paradiso un posto musulmano, né felice terreno di caccia indiano …

In ihrem Dialog thematisieren die beiden die Frage, was das Paradies überhaupt ist, und zitieren verschiedene Positionen: Es sei kein Ort, sondern ein Zustand; im Rückgriff auf das Gedicht A Vision in a Dream: Fragment (1797) von S. T. Coleridge weist der Gelehrte auf Kubla Khan hin, der für sich eine von Gott direkt legitimierte Herrschaft postulierte und der sich in Xanadu eine ‚paradiesische‘ Sommerresidenz bauen ließ; und der Kleriker wiederum beschwört, dass das Paradies weder ein muslimischer Ort noch ein indianisches Jagdgebiet sei. Indem sie so verschiedene Ansichten über das Paradies nennen – ohne sie im einzelnen wirklich auszuführen –, wird mit dem Dialog von Kleriker und Gelehrtem die Allgemeingültigkeit der von Dante in der Divina Commedia präsentierten Vorstellung vom Paradies als christlichem, jenseitigem Ort hinterfragt. Am Ende des Prologs tritt ohne Überleitung der Kirchenvater Augustinus auf, der aus seinem Buch der Confessiones eine Passage auf Latein über die Erschaffung des Himmels rezitiert. Auf Italienisch fährt er dann fort, über die Existenz der Seelen im Paradies nachzudenken. Er erklärt, dass es im Paradies keine Zeitlichkeit gebe und dass das Verstehen ein unmittelbares Wissen sei („[…] l’intendere è un conoscere simultaneo, non in parte, non in enigma, non attraverso uno specchio, ma totalmente, per via d’evidenza, faccia a faccia, non ora questo e ora quello, ma … un conoscere tutto in una volta, senza prima né poi […]“46). Damit werden zwei der wichtigsten Charakteristika von Dantes Paradies genannt. Gerade weil der Auftritt Augustinus’ so unvermittelt geschieht und er einer ganz anderen Epoche (Antike) angehört als der (mittelalterliche) Dante und der (moderne) Kleriker und Gelehrte wirkt das Ende der Szene wie eine assoziative Collage.

46

Ebd., S. 17.

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Im Prolog werden mit den Auftritten des Auctors, des letterato moderno und des Klerikers die für das Stück wichtigsten Personen eingeführt. Das folgende Geschehen wird strukturiert und thematisch eingeleitet. In den anschließenden neun Szenen entwirft Giudici eine zusammenfassende Dramatisierung der wichtigsten Stationen von Dantes Weg durch das Paradies. Im Bühnenhintergrund soll ein stilisiertes Himmelsgewölbe gezeigt werden, auf dem durch kleine Lämpchen symbolhaft die Sternbilder angedeutet werden, in denen sich der Jenseitswanderer Dante gerade bewegt. Der Text der Szenen besteht zum großen Teil aus Originalpassagen der Divina Commedia. Wie im Prolog sind aber auch diese Szenen mit verschiedenen Einschüben versehen, die die gekürzte Fassung von Dantes Paradiso um andere Handlungsebenen ergänzen bzw. den nacherzählenden Textfluss durchbrechen. Unter anderem treten regelmäßig der Kleriker und der ‚letterato moderno‘ auf, die aus einer gegenwärtigen Perspektive das Handlungsgeschehen kritisch kommentieren. So eröffnet der Kleriker die dritte Szene, die im Venus-Himmel spielt und in der sich die Seelen der großen Liebenden befinden, mit den Eingangsversen einer Ballade aus Dantes Vita Nova: „Per una ghirlandetta, / ch’io vidi, mi farà / sospirare ogni fiore …“47. Der Gelehrte erwidert daraufhin in Versform:48 No, non è questo il tema, anche se un poco trema la mente e forse il cuore all’Attore e all’Autore, dal dubbio travagliati o dal timore che forse non ci sia uno sbaglio, un abbaglio, un qualche errore di filosofia … Pensando alla sorte funesta che il nostro immenso Poeta assegnò a Paolo e Francesca …

47

Ebd., S. 28.

48

Ebd., S. 28-9.

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Pensando a ogni dannato o destinato al crudo inferno o al foco che li affina fosse per molto o per poco di uno stesso consimile difetto: qual fu del primo Guido e di Messer Brunetto … Benché ci sia ragione di sorriso e sperata clemenza avere adesso come presto vedrete beate in Paradiso due signore che pur non si negarono alla sete di ciò che in Terra chiamano l’amore e che spesso è una trappola, una rete.

Das von Giudici selbst verfasste Gedicht formuliert eine kritische Rückfrage an die Grundlagen von Dantes System der Bestrafung und Erlösung, bei dem ähnliche Handlungen – in diesem Fall die Hingabe an die Liebe – zu ganz unterschiedlichen Folgen im Jenseits führen können, d. h. eine Zuordnung zur Hölle, zum Läuterungsberg oder zum Paradies. Der Gelehrte fragt hier, ob dabei nicht vielleicht ein Fehler in der ‚Philosophie‘ Dantes liege, der dazu führe, dass die Grenzen zwischen ‚Gut‘ und ‚Schlecht‘ kaum zu trennen seien. In der fünften Szene tritt Bonaventura da Bagnoregio, ein Franziskanertheologe, auf. Er berichtet vom Leben Domenico Guzmans, dem Gründer des Dominikaner-Ordens. Dabei heißt es am Ende seiner Passage, die Giudici direkt aus Dantes Paradiso entnommen hat: „[…] e ne li sterpi eretici percosse / l’impeto suo, piú vivamente quivi / dove le resistenze eran piú grosse …“.49 Die Rechtmäßigkeit der Missionierung wird vom Kleriker dann in Zweifel gezogen und zu einer Fundamentalkritik an der von der Kirche verübten Gewalt ausgeweitet:50 Gli sterpi eretici! Ma riuscirebbero tutti gli spettatori a sopportare al giorno d’oggi l’apologia di un genocidio, quale fu in concreto il massacro degli Albigesi, perpetrato con la benedizione di quel che costui chiama adesso santo atleta e amoroso drudo? […] E poi, per secoli e secoli i tribunali dell’Inquisizione, i torturati, i bruciati vivi! L’avesse saputo, Lui, il Fondatore, che anche non pochi dei suoi pagarono per quel Gott mit uns, quel Dio-con-noi!

49

Ebd., S. 42.

50

Ebd.

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Gerolamo Savonarola, Tommaso Campanella … ma quanti altri! … Persino Ignazio di Loyola, Teresa di Avila, dovettero vedersela, credo, con quei santissimi tribunali!

Der Gelehrte fügt an, dass es zu jener Zeit vielleicht noch keinen gab, der vermutete, dass die Worte des Irrtums womöglich mehr Wahrheit bergen als die Worte der Wahrheit („Forse a quei tempi non c’era stato ancora nessuno a insinuare il sospetto per cui, secondo le parole di un certo Poeta, le parole dell’errore possono a volte esprimere una verità più profonda che le parole della verità!“51). So wie hier ziehen der Kleriker und der Gelehrte noch mehrmals im Stück ideologische Positionen, die in der Divina Commedia vertreten werden, aus einer heutigen Sichtweise in Zweifel. In den Dramentext hat Giudici zusätzlich verschiedene intertextuelle Zitate eingefügt. Sie reichen von den oben genannten Zeilen einer Ballade Dantes über längere Bibelzitate auf Latein oder Italienisch. Einmal, als im Text von Francesco d’Assisi die Rede ist, wird ergänzend von einer ‚voce fuori campo‘ dessen berühmter „Sonnengesang“ vollständig rezitiert. Ein anderes Mal tritt Ezra Pound als Person auf und zitiert aus den Cantos Verse über Madonna Cunizza, deren Geschichte in Dantes Paradiso nur kürzer angedeutet wird etc. Durch die Zitate wird der Ausgangstext collagenhaft ‚angereichert‘, was sich im Untertitel des Dramas, „Satura drammatica“ (‚dramatische Sättigung‘), spiegelt. Abgesehen von den genannten Verfahren durchbricht Giudici eine rein illusionistische Darstellung auf der Bühne auch durch Publikumsansprachen bzw. durch die Selbst-Thematisierung als Theater. Im Prolog sinniert der Auctor darüber, dass das Theater ‚andere Worte brauche‘; in dem weiter oben zitierten Textausschnitt sagt der Gelehrte, dass dem Schauspieler (!) und dem Autor der Geist und vielleicht auch das Herz zittern („[…] trema / la mente e forse il cuore / all’Attore e all’Autore […]“). Der Kleriker und der Gelehrte wenden sich bei ihren Ansprachen teilweise direkt zum Publikum. Und der Darsteller des Auctor bzw. Dante wechselt auf der Bühne das Kostüm. So wird das Gezeigte deutlich als Inszenierung markiert.

51

Ebd.

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Am Ende der Originalversion von Dantes mittelalterlichem Paradiso erreicht der Jenseitswanderer das Ziel seiner Reise, ihm wird der Anblick Gottes als Lichterscheinung offenbar. Diesem Abschluss stellt Giudici seine ganz eigene, moderne Perspektive gegenüber: Der Auctor zitiert eine Textstelle aus dem 33. Gesang des Paradieses. Darin vergleicht der Erzähler Dante die Erinnerung an seine Eindrücke am Ende des Paradieses mit einem, der aus dem Schlaf erwacht und sich nur noch vage an seine Träume erinnern kann. Und er führt den Vergleich fort:52 Cosí la neve al sol si disigilla; cosí al vento ne le foglie levi si perdea la sentenza di Sibilla.

Passend zum Bild vom Wind, der Blätter herumwirbeln lässt, sollen auch auf die Bühne Blätter herunterfallen und ein Wirbelsturm wehen, während wie eine plötzliche Erscheinung sich die Sybille an einem Tisch über eine Glaskugel beugt. Im Wechsel mit einem Chor von Stimmen spricht sie:53 CORO DI VOCI CHIARE ȈȓȕȣȜȜĮ IJȓ șȑȜİȚȢ? Che cosa vorresti, Sibilla? SIBILLA ’AʌȠșĮȞİƭȣ șȑȜȦ. Morire, morire …

Ähnlich wie im Inferno Sanguinetis wird auch im Paradiso Giudicis die mittelalterliche Erlösungshoffnung Dantes in das Gegenteil gewendet: Dem Anblick Gottes, dem das Versprechen auf vollständige Erlösung innewohnt, stellt Giudici in seiner Version des Paradiso eine sibyllinische Todesweissagung entgegen. In seiner Dramen-Bearbeitung hat Giudici wie schon seine beiden Vorgänger dem Paradiso Dantes eine ganz individuelle Prägung verliehen. Auf der einen Seite lässt sich aus seiner Bearbeitung ein Angriff auf die ideologischen Grundlagen Dantes ablesen: Die Vorstel-

52

Ebd., S. 81.

53

Ebd.

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lung von einem Paradies, wie Dante es beschrieben hat, wird in Zweifel gezogen. Auch der für Dante selbstverständliche Glaube an einen christlichen Gott wird im Drama hinterfragt. Am Ende von Giudicis moderner Bearbeitung des Paradieses steht die Sackgasse eines ‚Holzweges‘: Die Endlichkeit wird beschworen, für die Unendlichkeit der ewigen Erlösung und Glückseligkeit ist kein Raum mehr. Auf der anderen Seite wird auf der Ebene der Erzählung die Geschlossenheit von Dantes Text aufgebrochen. An dessen Stelle tritt ein collagenhaftes Werk, bei dem Zitate aus Werken verschiedener Autoren und Epochen eingefügt sind, wobei die Bruchstellen immer sichtbar bleiben. Letztlich erinnert Giudici mit seiner Bearbeitung den alten Text, den er dem Publikum noch einmal vor Augen führt. Die Veränderungen machen aber deutlich, dass für Giudici ein einfaches WiederHolen der mittelalterlichen Vorlage so weder ästhetisch noch inhaltlich möglich ist. Das, was die anerkannte Größe des Werks ausmacht, hat keine unhinterfragte Gültigkeit mehr. Die ‚große Erzählung‘ kann, als heutige Version, nurmehr mit großen Rissen und Bruchlinien fortexistieren.

III ‚Theater der Träume‘ Tomaž Pandurs Regietheater-Trilogie Inferno. The Book of the Soul, Purgatorio. Anatomy of Melancholy und Paradiso. Lux am Thalia Theater Hamburg (2001/02)

Neben den Dramenversionen der Divina Commedia von Peter Weiss bzw. von Edoardo Sanguineti, Mario Luzi und Giovanni Giudici, die in den vorhergehenden Kapiteln ausführlich behandelt wurden, erschienen in den vergangenen Jahren noch viele weitere, untereinander sehr unterschiedliche Neubearbeitungen der mittelalterlichen Dichtung für das Theater:1 Das Theater DEREVO beispielsweise, das 1988 in St. Petersburg von Anton Adassinski gegründet wurde, hat am jetzigen Arbeitsort Dresden A Divina Commedia von Dante Alighieri (2003) als reines Körpertheater ohne Sprechtext entwickelt:2 Auch wenn Dantes Göttliche Komödie bloßer Anstoß war, erfanden DEREVO anhand der Vorlage eine neue Form für eine einzigartige Mischung aus Tanz, tragikomischer Pantomime, Clownerie, leidenschaftlicher Poesie und über-

1

Der amerikanische Bühnenbildner Norman Bel Geddes, der u. a. für Max Reinhardt gearbeitet hatte, hatte in den 1920er Jahren eine in ihrer Zeit einmalige, ‚abstrahierende‘ Inszenierung der Divina Commedia geplant. Die Materialien für das nicht realisierte Projekt lagern im Archiv der Universität Austin / Texas. Norman Bel Geddes: A project for a theatrical presentation of The Divine Comedy of Dante Alighieri. The Foreword by Max Reinhardt. New York: Theatre Arts. Inc., 1924.

2

www.derevo.org.

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schäumenden, brutalen Bildern. Ein Theater, das mehr wie Zirkus ist, das man riechen, schmecken, anfassen kann, das dem Publikum bedrohlich nahe kommt, es waghalsig unterhält und vereinnahmt.

Emiliano Pellisari Studio griff in Zusammenarbeit mit dem Teatro Mancinelli di Orvieto ebenfalls auf die Divina Commedia als Vorlage für eine Neubearbeitung als ‚akrobatisches Tanztheater‘ zurück.3 Rene Migliaccio schuf für die New Yorker Black Moon Theatre Company eine neue Version von Dante’s Inferno als „multicultural, multidisciplinary and multimedia visual and aural work that positions performers within video projections, redefining traditional theatrical boundaries“.4 Der niederländische Komponist Louis Andriessen verfasste als Auftragsarbeit der Netherlands Opera das Musiktheater La Commedia, das 2008 beim Holland Festival in Amsterdam uraufgeführt und danach u. a. in der New Yorker Carnegie Hall in einer konzertanten Aufführung der Öffentlichkeit vorgestellt wurde.5 Im Mittelpunkt dieses Kapitels wird eine Regietheatertrilogie zur Divina Commedia stehen, die der slowenische Regisseur Tomaž Pandur in der Spielzeit 2001/02 am Thalia Theater Hamburg inszenierte. Die Neubearbeitung der drei Teile der Divina Commedia, Inferno. The Book of the Soul, Purgatorio. Anatomy of Melancholy und Paradiso. Lux, entstand im Zuge eines mehrjährigen Projekts, bei dem Tomaž Pandur mit der Bearbeitung verschiedener Klassiker der Weltliteratur eine eigene Theaterästhetik in der Tradition des großen französischen Theaterreformators Antonin Artaud entwickeln wollte – sein ‚Theater der Träume‘.

3

http://teatrailer.it/spettacoli/inferno-divina-commedia, hier ist ein Trailer des interessanten Projekts einsehbar.

4

http://www.blackmoontheatrecompany.org/season/theDivinaCommedia. html.

5

Für die Oper erhielt Andriessen 2010 den mit 100.000 Dollar dotierten Grawemeyer Award, der jährlich von der University of Louisville vergeben wird.

III ‚T HEATER

1

T OMAŽ P ANDUR UND ANTONIN ARTAUDS

DIE

DER

T RÄUME ‘ | 111

T HEATERÄSTHETIK

Tomaž Pandur, der 1963 in Maribor / Slowenien geboren wurde, zählt seit Beginn der 1990er Jahre zu den europäischen Größen des experimentellen Regietheaters. Insbesondere in der Dekade vor der Jahrtausendwende zeigte er bei verschiedenen internationalen Theaterfestivals seine Regiearbeiten, die mit diversen Preisen ausgezeichnet wurden. Bereits während Pandurs Jugendzeit traten seine breiten künstlerischen Interessen und Begabungen hervor: 6 Als Schüler begann er zu malen, wobei er sich stilistisch an Künstlern der italienischen Renaissance (u. a. Leonardo da Vinci, Michelangelo, Tizian) und des frühen spanischen und italienischen Barock (u. a. Michelangelo da Caravaggio, Diego Velázquez) orientierte. Daneben beschäftigte er sich mit Literatur, er las stream of consciousness-Romane, Mythen und romantische Lyrik und setzte sich mit modernen Philosophen auseinander. Sechzehnjährig entdeckte Pandur dann, „what was to be his personal artistic expression“7 – die Schriften des französischen TheaterTheoretikers und Dramatikers Antonin Artaud.8 Bis heute bezieht sich Tomaž Pandur in seinen Theaterwerken explizit auf dessen theaterreformatorische Ansätze.9

6

Die Aussagen zur Biographie Tomaž Pandurs beruhen auf den Darstellungen seiner Schwester Livia Pandur: „Tomaž Pandur und sein Theater der Träume“. In: Dies. (Hg.): Pandur’s Theatre of Dreams. Maribor: Seventheaven, 1997. S. 310-311. Vgl. fast identisch die Hinweise auf der Homepage www.pandurtheaters.com („Tomaž Pandur CV long.“). Oben genanntes Buch, eine Aufsatzsammlung mit umfangreichem Bildmaterial, ist die bis dato einzige größere Darstellung von Pandurs Theaterschaffen.

7

Vgl. o.g. Homepage.

8

Livia Pandur, die als Dramaturgin für ihren Bruder arbeitet, spricht gar von „geistiger Patenschaft“, die ihren Bruder mit Artaud verbinde. Pandur, a. a. O., S. 310.

9

Trotz dieses Hinweises wurde der Artaud-Bezug bei den Darstellungen zu Pandurs Gesamtwerk und seiner Divina Commedia-Inszenierung bisher kaum beachtet. So auch nicht in dem einzigen wissenschaftlichen Aufsatz zur Commedia-Trilogie von Sabine Schrader: „‚Wer ist Dante?’ Zu Tomaž Pandurs Dante-Inszenierung Inferno. A book of the soul [sic!]

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Antonin Artaud (1896-1948) war in frühen Jahren Mitglied des surrealistischen Dichterkreises um André Breton, 1926 gründete er in Paris das Théâtre Alfred Jarry. Als Regisseur, Schauspieler, Dramatiker und Bühnenbildner in Personalunion erarbeitete er dort seine avantgardistische Theaterästhetik, das von ihm so genannte ‚Theater der Grausamkeit‘.10 1935 eröffnete Artaud in Paris ein gleichnamiges Theater und publizierte 1938 den programmatischen Sammelband Le théâtre et son double (dt. Das Theater und sein Double, 1969), in dem er seine eigene Theaterpraxis theoretisierte.11 Vor allem in den beiden Manifesten Le téâtre de la cruauté (1932/33; dt. Das Theater der Grausamkeit), die im Sammelband enthalten sind, beschrieb er die wichtigsten Elemente seiner Theaterästhetik, die sich aus verschiedenen zeitgenössischen Reformansätzen speiste und die nach dem Zweiten Weltkrieg die europäische Theateravantgarden nachhaltig beeinflusste.12 Der Grundduktus der Schriften ist stark polemisch, Artaud skizziert seine Anliegen mit starken Schlagworten und meist eher rhetorisch-

am Hamburger Thalia Theater (2001)“. In: Deutsches Dante Jahrbuch, 82 (2007), S. 175-197. Der Aufsatz geht tendentiell von einer textbasierten Analyse aus – die den spezifischen Ansatz der Inszenierung aber weitgehend außer Acht lässt. 10

Alfred Jarry (1873-1907) war ein avantgardistischer französischer Theaterautor und -regisseur, der insbesondere für sein Drama Roi Ubu (1896) bekannt wurde, mit dem er die vorherrschenden Konventionen des bürgerlichen Theaters durchbrach (v.a. a-mimetische Darstellungsweise).

11

Hier benutzte Ausgabe: Antonin Artaud: Das Theater und sein Double. Das Théâtre de Séraphin. Frankfurt am Main: Fischer, 1979. Der Band enthält 15 Schriften in chronologischer Reihenfolge: Das Theater und die Kultur (Vorwort); Das Theater und die Pest; Die Inszenierung und die Metaphysik; Das alchimistische Theater; Über das balinesische Theater; Orientalisches und abendländisches Theater; Schluss mit den Meisterwerken; Das Theater und die Grausamkeit; Das Theater der Grausamkeit (Erstes Manifest); Briefe über die Grausamkeit; Brief über die Sprache; Das Theater der Grausamkeit (Zweites Manifest); Eine Gefühlsathletik; Zwei Anmerkungen; Das Théâtre de Séraphin.

12

Die Manifeste lassen sich in der ‚Manifest-Kultur’ seit der Jahrhundertwende bis zu Beginn der 1940er Jahre verorten, die insbesondere für den Surrealismus, Dadaismus und Futurismus prägend war.

III ‚T HEATER

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assoziativ als logisch argumentierend. Dennoch lassen sich einige Kernpunkte zusammenfassen: Ein zentrales Anliegen für Artaud war die radikale Zurückweisung des bürgerlichen – wie er es nannte: „psychologischen“13 – Theaters seiner Zeit, das, so Artaud, seit Shakespeare und Racine die europäischen Bühnen dominiere und das er als „Idiotentheater […], Verrückten-, Invertierten-, Grammatiker- und Zuckerbäckertheater, ein antipoetisches, ein Positivistentheater, das heißt ein abendländisches“14 diffamiert. In polemischer Zuspitzung kritisiert Artaud, dass durch die Dominanz dieser Dramenästhetik das Theater ausschließlich als textlastiges Dialogtheater aufgefasst werde, dem die gesamte Inszenierung untergeordnet sei und dessen Augenmerk allein auf der Behandlung zwischenmenschlicher Konflikte liege. Das Theater sei somit Teil der Literatur, habe es aber versäumt, eine eigene, den medialen Möglichkeiten entsprechende Theatersprache zu entwickeln bzw. habe diese, anders als verschiedene orientalische Theaterformen etwa, verloren. In den Worten Artauds heißt es da:15 Wie kommt es, dass auf dem Theater, zumindest auf dem Theater, wie wir es in Europa oder besser im Abendland kennen, all das, was spezifisch dem Theater eignet, das heißt all das, was nicht dem Ausdruck durch das Wort, durch die Wörter unterworfen ist oder, wenn man so will, was nicht dem Dialog angehört […], in den Hintergrund gedrängt wird? Wie kommt es überdies, dass das abendländische Theater (ich sage abendländisch, weil es zum Glück andere Formen des Theaters gibt, wie das orientalische, welche die Idee des Theaters rein erhalten haben, während sich im Abendland diese Idee – wie alles andre auch – prostituiert hat) das Theater nur unter dem Aspekt des

13

Ebd., S. 47; 82. – Zur besseren Wirkung seiner Polemik spitzte Artaud den Gegensatz auf den Kontrast von „psychologischem“, abendländischem Theater und orientalischem, „metaphysischem“ Theater bzw. seinem eigenen Theaterbegriff zu, ließ aber andere avantgardistische Theateransätze der damaligen Zeit unerwähnt.

14

„Der Dialog – etwa Geschriebenes und Gesprochenes – gehört nicht eigentlich zur Bühne, er gehört ins Buch; […]. Ich sage, dass die Bühne ein körperlicher, konkreter Ort ist, der danach verlangt, dass man ihn ausfüllt und dass man ihn seine konkrete Sprache sprechen lässt.“ Ebd., S. 39. Vgl. auch S. 43.

15

Ebd., S. 39.

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dialogisierten Theaters sieht? Der Dialog – etwas Geschriebenes und Gesprochenes – gehört nicht eigentlich zur Bühne, er gehört ins Buch […].

Diese Art von Theater hält er in seinen Themen, Ausdrucksformen und seiner Wirkung für unnötig begrenzt, träge, unzeitgemäß und letztlich für tot. Vor diesem Hintergrund plädiert Artaud für eine umfassende Erneuerung des Theaters und entwirft als Gegenbild sein ‚Theater der Grausamkeit‘. Dieses Theater, Artaud bezeichnet es auch als ‚magisches‘ oder ‚totales Theater‘, solle ein vitales und vitalisierendes, kraftvoll-überschwängliches Theater sein. Dementsprechend beschreibt Artaud seinen Gebrauch des Begriffs ‚Grausamkeit‘:16 Ich gebrauche das Wort Grausamkeit im Sinne von Lebensgier, von kosmischer Unerbittlichkeit, im gnostischen Sinne von Lebensstrudel, der die Finsternis verschlingt, im Sinne jenes Schmerzes, außerhalb dessen unabwendbarer Notwendigkeit das Leben unmöglich wäre […].

Sein ‚Theater der Grausamkeit‘ sei „geschaffen worden, um dem Theater den Begriff eines leidenschaftlichen, konvulsivischen Lebens zurückzugeben […].“17 Gegenstand dieses Theaters sollen nach Artaud „die Gedanken [sein], die […] sich der artikulierten Sprache entziehen“18, wie das Unbewusste, der Traum, religiöse, mythische oder metaphysische Bezüge. Um das umsetzen zu können, fordert er eine autonome Theater-Sprache, eine „konkrete[n] Sprache, die für die Sinne bestimmt und unabhängig vom Wort ist“, eine „Sprache im Raum“19, eine ‚Poesie der Bilder‘20. Sie solle die Bedeutung des Wortes im Theater zurückdrängen und auf ganz neue Weise sämtliche verfügbaren theatralischen Mittel, „Musik, Tanz, Plastik, Pantomime, Mimik, Gebärdenspiel, Intonationen, Architektur, Beleuchtung und Ausstattung“21, nutzen.

16

Ebd., S. 110.

17

Ebd., S. 131.

18

Ebd., S. 39-40.

19

Ebd., S. 95.

20

Ebd., S. 41.

21

Ebd.

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Artaud schlägt vor, dass unter anderem nach ungewohnten Klängen und Instrumenten geforscht oder alte, seltene Instrumente gebraucht werden sollten. Er plädiert für eine an der Kabbalah geschulte, künstliche Atemtechnik der Schauspieler; die Atmung, die sonst völlig automatisiert und unbemerkt geschieht, könne so bewusst gemacht und als Mittel der Verfremdung eingesetzt werden. Das Licht sollte nicht mehr nur der natürlich wirkenden Beleuchtung dienen, sondern „wellenförmig oder flächig oder wie ein Gewehrfeuer von Lichtpfeilen“22 sein. Als Kostüme kämen alte, rituelle Kleider in Betracht, die der Inszenierung einen archaischen oder auch religiösen Ausdruck verleihen. Die gesprochene Sprache solle „den Wörtern etwa die Bedeutung […] geben, die sie im Traum haben“23. Zusätzlich solle die Trennung von Zuschauerraum und Bühne aufgehoben werden, um eine direkte Verbindung zwischen Darstellern und Publikum herzustellen. Auch sollten weniger geschriebene Dramen gespielt, als vielmehr „Themen, Tatsachen und Werke“24 direkt für die Bühne gestaltet werden und so an die Stelle von Drameninszenierungen ein Regie-Theater treten. Insgesamt solle dieses Theater mit einer „dissoziierenden, vibratorischen Wirkung auf die Sensibilität“25 des Zuschauers wirken und ihn in schockartige Erregungszustände versetzen. Auf diese Weise möchte Artaud die von ihm als konventionell und rationalistisch angesehene Auffassung von Realität aufbrechen und andere Ebenen des Bewusstseins und der Wahrnehmung (wieder-)erschließen. Damit intendiert Artaud – und das etwa im Unterschied zum epischen Theater Bertold Brechts – aber keinerlei „[…] praktische Konsequenzen. Die Wirkung des Theaters erstreckt sich nicht auf die soziale Ebene. Noch weniger auf die moralische und psychologische.“26 Dennoch sieht er sein Theater „im Gegensatz zum ökonomischen, utilitaristischen und technischen Dahinschlittern der Welt“27, und er ist zuversichtlich, dass es „die großen wesentlichen Besorgnisse und Leidenschaften, die das moderne Theater unter dem Firnis des fälschlich zivilisierten Men-

22

Ebd., S. 102.

23

Ebd., S. 100.

24

Ebd., S. 105.

25

Ebd., S. 96.

26

Ebd., S. 124.

27

Ebd., S. 132.

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schen verdeckt hat, wieder in Mode bringen“28 wird. Insofern geht es Artaud also nicht nur um eine neue äußere Theaterästhetik – sondern er postuliert auch eine, im Detail nicht genau definierte, bewusstseinserweiternde und kathartische Wirkung. Auf der Grundlage seiner Auseinandersetzung mit der Theaterästhetik Antonin Artauds gründete Tomaž Pandur 1979 seine erste eigene Theatergruppe, „Der Thespiskarren – Neues Slowenisches Theater“.29 Mit der Truppe führte er experimentelle Adaptionen von Kafka, antiken Tragödien, expressionistischer Lyrik und anderes mehr auf Dachböden, in Kellern und Gärten auf und setzte in einem noch recht privaten Rahmen einen ersten Kontrapunkt zum spätsozialistischen Kulturbetrieb an den öffentlichen Spielhäusern Sloweniens. Nach Abschluss der Schule studierte Pandur an der Akademie für Theater, Radio, Film und Fernsehen in Ljubljana (eine frühere Bewerbung war wegen seines noch zu geringen Alters abgelehnt worden). Wie sein Vorbild Artaud reiste er viel, vor allem im asiatischen Raum, und er studierte verschiedene Theaterkulturen, die er in seinen späteren Bühnenarbeiten wieder aufnahm und kreativ verarbeitete. Direkt nach seinem Studium erhielt Pandur ein Engagement am Mladinsko-Theater in Ljubljana, wo er erstmals in einem professionellen Theaterbetrieb versuchte, Artauds Theater-Programm praktisch umzusetzen. Er inszenierte eine Bearbeitung der Scheherazade als Regie-Theater, das alle Bühnenmittel in einem Gesamtkunstwerk sowie die westliche Theaterpraxis mit östlichen Theaterformen (Kabuki, Katakali, No, Bejing-Oper u. a.) verband. Das Stück fand national und international Beachtung und wurde in Ljubljana insgesamt acht Jahre lang gespielt. Auf der Höhe dieses frühen Erfolgs trat Pandur sechsundzwanzigjährig die Leitung des Slowenischen Nationaltheaters in Maribor an und adaptierte in den darauffolgenden sieben Jahren ähnlich der Scheherazade sechs weitere Klassiker der Weltliteratur, Goethes Faust, Shakespeares Hamlet, Mérimées Carmen, Dostojewskis Russische Mission, die biblische Geschichte Babylon und eben die Divina Com-

28

Ebd., S. 124.

29

Thespis ist der älteste bekannte griechische Tragiker, der 536-533 v. Chr. die erste Tragödie in Athen aufführte. Horaz berichtet in seiner Ars poetica (Vers 276) davon, dass Thespis mit einem Wagen herumfuhr.

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media. Mit dem siebenteiligen Klassiker-Zyklus machte Pandur, wie die Zeitschrift Theater heute pries, aus Maribor „eine Metropole des Avantgardetheaters zwischen Mailand und Wien“30. Als am Hamburger Thalia Theater in der Spielzeit 2000/01 Ulrich Khuon zum neuen Intendanten bestimmt wurde, verpflichtete er umgehend Pandur als Gastinterpreten für das Haus; er sollte die Divina Commedia, die Khuon bei der EXPO2000 in Hannover gesehen hatte, in Hamburg neu inszenieren. Mit der Trilogie wollte Khuon das Hamburger Publikum zu „neuen Sehgewohnheiten“31 erziehen – und wohl zu Beginn der neuen Intendanz auch eine markante Signatur setzen. Am Beispiel des Inferno-Teils lässt sich nachvollziehen, wie Pandur in Hamburg aus der Dichtung Dantes sein ‚Theater der Träume‘ kreierte.

2

D IE H ÖLLE ALS S EELENLANDSCHAFT : I NFERNO . T HE B OOK OF THE S OUL

In seinen Schriften hatte Antonin Artaud wiederholt auf die Bedeutung des Traums für sein ‚Theater der Grausamkeit‘ hingewiesen. Der

30

Bereits vorher hatte Pandur an verschiedenen Orten und in unterschiedlichen Inszenierungen Versionen der Divina Commedia gezeigt (u. a. in Maribor, 1993; Festival Szene, Salzburg, 1994 und 1996; Fundateneo Festival Caracas, Venezuela, 1995; Braunschweig, 1995). – Uraufführungen: Scheherazade. East-West Opera, 09.02.1989; Faust I, II, 24.02.1990; Hamlet. North-North-West, 07.12.1990; Carmen – An Afternoon at the Brink of European History, 22.02.1992; La Divina Commedia: Inferno, Purgatorio, Paradiso. The Secret Memoires of a Genius. An Intellectual Autobiography. An Anatomy of Melancholy, 03/04.1993; Russian Mission. The Third Kingdom of F. M. Dostoevsky, 30.09.1994; Babylon, 10.03.1996.

31

Till Briegleb: „Staune und stirb. Tomaž Pandur vollendet am Hamburger Thalia Theater seine Dante-Trilogie mit Purgatorio. Anatomy of Melancholy und Paradiso. Lux; Julian Crouch und Phelim Mc Dermott verkleben am Deutschen Schauspielhaus einen Sommernachtstraum.“ In: Theater heute, April 2002, S. 20-22. Hier: S. 21.

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Traum schien ihm wie vieles andere aus dem abendländischen Theater verbannt zu sein:32 Das Theater wird erst dann wieder es selbst werden, […] wenn es dem Zuschauer der Wahrheit entsprechende Traumniederschläge liefert, in denen sich sein Hang zum Verbrechen, seine erotischen Besessenheiten, seine Wildheit, seine Chimären, sein utopischer Sinn für das Leben und die Dinge, ja sogar sein Kannibalismus auf einer nicht bloß angenommenen und trügerischen, sondern inneren Ebene Luft machen. Das Theater muss, mit anderen Worten, durch alle Mittel ein Infragestellen nicht nur aller Aspekte der objektiven und deskriptiven Außenwelt erstreben, sondern der inneren Welt, das heißt des Menschen in metaphysischer Hinsicht. Nur auf diese Weise, so glauben wir, wird man auf dem Theater wieder von den Rechten der Imagination sprechen können.

Für seinen Mariborer Klassiker-Zyklus erhob Tomaž Pandur den Traum zur Leitmetapher der Inszenierungen. Mit dem Oberbegriff benennt er den Versuch, sich wie Artaud mit einem „magischen Bildertheater“33 Bereichen „des Nichtausgesprochenen, des Unerforschten, des Unaussprechbaren und des Geheimnisvollen“ zu nähern, bei denen „die tiefsten Schichten des menschlichen Fühlens, Denkens und Erinnerns entblößt werden“.34 Das gilt auch für die Hamburger Divina Commedia. Ein ArtaudZitat, das dem Programmheft als Motto vorangestellt ist, unterstreicht

32

Artaud, a. a. O., S. 98. Vgl. auch S. 91: „So wie unsere Träume auf uns einwirken und die Wirklichkeit auf unsre Träume einwirkt, kann man unsrer Auffassung nach die Bilder des Denkens mit einem Traum gleichsetzen, der in dem Maße wirksam wird, in dem man ihn mit der gehörigen Heftigkeit vorbringt. Und das Publikum wird unter der Bedingung an die Träume des Theaters glauben, dass es sie wirklich für Träume nimmt und nicht für einen Abklatsch der Realität; unter der Bedingung, dass sie ihm gestatten, in ihm selbst jene magische Freiheit des Traums freizusetzen, die es nur dann wieder erkennen vermag, wenn sie mit Schrecken und Grausamkeit durchtränkt ist.“

33

Vgl. Notiz auf dem Umschlag des Programmhefts: La Divina Commedia. Inferno. The Book of the Soul – Purgatorio. Anatomy of Melancholy – Paradiso. Lux. Thalia Theater Hamburg, 2001.

34

Artaud, a. a. O., S. 310-311.

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die Bezugnahme auf den Altmeister des Avantgardetheaters und deutet auf den Traum als ästhetisches Leitmotiv der Bearbeitung hin: „Ich schreie im Traum, / obwohl ich weiß, dass ich träume, / und auf beiden Seiten meines Traums / soll mein Wille herrschen!“ Grundlage für Pandurs ‚Theater der Träume‘ war seine Stoffwahl: Als Textvorlagen für den gesamten Mariborer Dramen-Zyklus verwendete Pandur verschiedene klassische Werke der Weltliteratur. Die Texte schienen ihm durch ihr Alter, ihre Bekanntheit und die von ihnen behandelten Themen archetypische und mythische Elemente zu bergen, die dazu beitragen sollten, ‚Unsagbares‘ auf dem Theater darzustellen.35 Das korrespondiert mit Forderungen Artauds, der von seinem Theater sagt: „Die Themen werden kosmisch, universal sein, interpretiert nach den ältesten Texten, die den alten Kosmogonien mexikanischen, hinduistischen, jüdischen, iranischen oder anderen Ursprungs entnommen sind“36, denn mit der „Rückkehr zu den alten ursprünglichen Mythen […] werden wir von der Bühne und nicht vom Text verlangen, dass sie diese alten Konflikte gestaltet und vor allem aktuell macht“37. Die Divina Commedia, die beinahe 700 Jahre alt ist, könnte sich als Textvorlage angeboten haben, weil sie in (mindestens) zweierlei Hinsicht von ‚anderen‘ Realitäten handelt: Einerseits beschreibt sie eine von christlichen Vorstellungen geprägte Reise durch transzendente Welten. Andererseits wurde und wird die Divina Commedia immer wieder als traumhaft-allegorische Reise ins menschliche Innere und damit in Bereiche des Unbewussten interpretiert. In seiner Bearbeitung greift Tomaž Pandur beide Lesarten auf, sie spiegeln sich im Titel des ersten Teils der Divina Commedia-Trilogie wieder: Inferno. The Book of the Soul. Die Inszenierung gibt weiter Aufschluss über die Umsetzung dieser programmatischen Vorgabe.

35

Vgl. den Klappentext von Pandur, a. a. O.: „He took great classical texts from the heritage of world literature to revitalize myth through theatrical representation […].“

36

Artaud, a. a. O., S. 132.

37

Ebd., S. 133.

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Rahmenhandlung Pandurs etwa 90-minütiges Inferno wird durch eine kurze Rahmenhandlung eingeleitet und abgeschlossen. Am Beginn und Ende des Stücks tritt jeweils ein ‚Angel Balkan‘ auf. Der Engel (Darsteller: Marko Gebbert) ist nur mit einer Art Unterhose und orientalischen Schnabelschuhen bekleidet, ist sonst weiß geschminkt und trägt an den Waden kleine Flügel. Beinahe lasziv liegt er auf einer etwa einen Meter hoch weißgekachelten Balustrade am unteren Ende der vorderen Bühnenwand, über den Kacheln hängen unzählige kleine Porträtfotos. Anstelle eines Bühnenvorhangs wird die Wand nach oben bzw. unten gezogen. Der Engel führt in das Inferno mit einem Monolog ein, unter ihm liegt auf dem Bühnenboden ‚Dante‘:38 E: Den Toten leihe ich meine Zunge. Wenn die fürchterlichen Winde die Erde fliehen, erinnern sich die Vögel der Sprache ihrer Urmütter und singen der Winde Namen. Und ich, zweimal geboren aus Leibern meiner Mütter aus Fleisch und Erde, ich blicke zurück und sehe Stimmen und Geräusche wie wildes Wasser im Tal zusammenfließen. Einzig ein Fluss der Stille windet sich zur Mitte der Erde. Wie Rauch schleicht er unter der Brücke, obwohl das Boot längst abgefahren ist. Die Vögel schrecken auf durch den Rauch und schreien die Namen der fürchterlichen Winde. Die Sonne und nur ich, der zweimal Geborene, höre sie. Ich allein. Ich allein kann meine Worte im Fluss der Stille reinwaschen und meine Stimme den Toten leihen. Man muss sich nur an sich selbst gewöhnen, mein lieber Alighieri, danach ist alles leicht. Am Ende bleibt nur noch eine Verpflichtung: Den Helden aus deinem Buch Namen zu geben. Mein Name ist: Balkan. Und deiner? D (gehaucht): Dante.

Auffällig ist, dass die Rede des Engels keine eindeutige, logische Aussage vermittelt. Vielmehr ist sie von einer bedeutungsoffenen, poetisch-assoziativen Sprache mit Metaphern („Stimmen und Geräusche wie wildes Wasser“), Personifikationen („wie Rauch schleicht er [der Fluss] unter der Brücke“), Oxymora („sehe Stimmen und Geräusche“), Alliterationen („wie wildes Wasser“), Wiederholungen („Ich

38

Die Zitate sind Mitschriften der Aufführungsaufzeichnung am Thalia Theater Hamburg.

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allein. Ich allein …“) bestimmt und öffnet Bildfelder, die auf mythische Zusammenhänge (u. a. „erinnern sich die Vögel der Sprache ihrer Urmütter und singen der Winde Namen“, „ich, zweimal geboren aus Leibern meiner Mütter aus Fleisch und Erde“, „Worte im Fluss der Stille reinwaschen“) sowie auf solche der Bedrohung und Zerstörung (u. a. „fürchterliche Winde“, „Rauch“, „Tote“) hindeuten. Der Engel ist durch die Schnabelschuhe und seinen Namen, „Balkan“, östlich konnotiert. Zusammen mit den Porträtfotografien an der Wand, einem geläufigen Topos der Gedächtnisikonographie (u. a. in der den Holocaust verarbeitenden Kunst bei Christian Boltanski), und den Hinweisen auf ‚Rauch‘ und ‚Tote‘ in seiner Rede lässt sich eventuell eine assoziative Verbindung hin zum Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien knüpfen, die der Rahmenhandlung einen schemenhaften, von Artaud geforderten, Aktualitätsbezug verleiht. So, wie der Engel das Stück einleitet, so endet es auch in einer Kreisstruktur mit einer weiteren Ansprache des Engels an Dante. Während er sich mit der vorderen Bühnenwand herabsenkt spricht er: E: Was, mein Alighieri, erhält unsere Träume? Sie geschehen in tiefster Dunkelheit hinter geschlossenen Augen. Die Erinnerung an das Licht, das es nicht mehr gibt, oder das Licht aus der Zukunft, an das wir uns erinnern, als Vorschuss auf morgen. Wenn du träumst, so denke ich, mein Alighieri, deine Träume sind geschaffen aus meinem Flügelschlag. Der Geist des lebendigen Gottes, Feuer aus Wasser, drei Mütter im Universum. Das irdische Alphabet ist nur ein Abbild des Göttlichen, in der Seele und im Jahreswechsel. Das Buch der Nation steht im Himmel geschrieben. Wir sind nun Brüder, Alighieri, denn der Tod ist unsere Schwester. Ich könnte in deiner Heimat sein und du meine Fremde. Denn: Mein Name ist Balkan. Und deiner? D (gehaucht): Dante. E: Europa.

Ähnlich der ersten Rede ist auch diese von surreal-poetischen Hinweisen auf mythische Zusammenhänge, auf den Tod und den Balkan geprägt. Zusätzlich wird der Traum als Leitmotiv der Inszenierung explizit gemacht. Wie die Anfangsrede lässt sich auch die Schlussrede nicht rational in Sinn auflösen. Durch die Figur des Engels Balkan und seine Reden, die sich weit vom logisch-diskursiven Sprachgebrauch entfernt, wird das Stück in

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einen transzendenten, rational nicht fassbaren Rahmen eingebettet, der die weitere Inszenierung prägt. Hauptteil Das Kernstück der Inszenierung ist die freie Adaption von Dantes Inferno. Basierend auf Dantes Dichtung konstruiert Tomaž Pandur mit verschiedensten Mitteln ein alptraumhaftes Bildertheater, das als Abbild einer infernalischen Seelenlandschaft gesehen und erlebt werden kann. Der Bühnenhintergrund besteht aus einem hohen Halbrund aus dunkelgrauem Wellblech. An ihm befinden sich zwei, über zwei bewegliche Leitern von der Bühne oder durch Tore vom Hintergrund aus erreichbare Etagen. Sie erinnern vereinfacht an die Höllenkreise Dantes und schaffen besondere Möglichkeiten für die theatralische Inszenierung. Der Bühnenboden steht knöchelhoch unter Wasser. Das Wasser mag Assoziationen zum gefrorenen Eissee Kokytus wecken, der nach Dantes Beschreibung im Inferno den Höllengrund bedeckt, oder zu den Flüssen Styx und Acheron, die durch die Unterwelt fließen. Es kann aber auch als eines der vier mythischen Urelemente (Feuer, Wasser, Erde, Luft) aufgefasst werden, auf die die Reden des Engels Balkan anspielen. Zugleicht erweitert es die herkömmliche theatralische Spielpraxis, da mit den Bewegungen im Wasser für das Theater ungewohnte visuelle und akustische Effekte erzeugt werden können. Die Beleuchtung ist dunkel. Die Dunkelheit, die durch den dominanten Einsatz der Farbe Schwarz bei den Kostümen und Requisiten unterstrichen wird, ist negativ konnotiert. Sie entspricht der ewigen Dunkelheit in Dantes Hölle und kann in einer allegorischen Lesart auf die dunklen Seiten der Seele und menschlichen Handlungen, die im Inferno gesühnt werden, übertragen werden. In dieser Kulisse treten Dante (Thomas Schmauser), Vergil (Dietmar König) und Beatrice (Fritzi Haberlandt) als Hauptpersonen, daneben etwa zehn männliche Nebenfiguren in verschiedenen Rollen sowie einige Musiker auf (die Musik der gesamten Trilogie stammt von Goran Bregoviü, der u. a. durch seine Filmmusiken für Emir Kusturiþa bekannt wurde). Anders als die nackten Seelen in Dantes Jenseitswelt tragen alle Personen je nach Szene verschiedene schwarze Lederklei-

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der, zum Teil Kettenhemden, manchmal Waffen, die Männer sind kahlgeschoren und haben schwarz umrandete Augen. Die Kostüme erinnern an mittelalterliche Kriegsrüstungen, zum Teil auch an altertümliche Priestergewänder oder sado-masochistische Verkleidungen. Durch die Bühnengestaltung und die Kostüme schafft Pandur eine düstere, bedrohliche, auch unwirkliche Grundstimmung. Das Bühnengeschehen besteht dann aus zwölf bzw. dreizehn Handlungssequenzen, die durch Auf- und Abgänge der Personen und Requisitenwechsel markiert werden und die inhaltlich unterschiedliche Einheiten darstellen. Sie sind auf der Grundlage einzelner, stark veränderter Episoden aus Dantes Inferno gestaltet und umfassen in einer von mir vorgenommenen Einteilung und Benennung (in Klammern stehen die Gesänge aus Dantes Inferno, an die sie angelehnt sind): I Erste Begegnung von Dante und Vergil (Ù Inf. I / II) II Erster Auftritt Beatrices (Ù Inf. II) III Die Lauen / Vorhölle (Ù Inf. III) IV Charon / Höllentor (Ù Inf. III) V Wollüstige (Ù Inf. V) VI Philosophen der Antike / Limbus (Ù Inf. IV) VII Ciaccos Florenz-Prophezeiung / Schlemmer (Ù Inf. VI) VIII Zornige / Styx (Ù Inf. VIII) IX Häretiker / Höllenstadt Dis (Ù Inf. X) X Krieger & Zwietrachtstifter (Ù Inf. VII) XI Zweiter Auftritt Beatrices ( – ) XII Ugolino / religiöse Rituale (Ù Inf. XXXIII) XIII Journalistin: Kommentar zu Dantes Inferno Die Aufstellung zeigt, dass Tomaž Pandur nur einen kleinen Teil der insgesamt 34 Gesänge aus Dantes Inferno für seine Inszenierung ausgewählt hat. Ihm kommt es dabei eben nicht darauf an, Dantes große Erzählung über einen Gang durch die Unterwelt auf der Bühne nachzuvollziehen. Vielmehr benutzt er den Text steinbruchartig als Inspirationsquelle für die Gestaltung einzelner ‚Traum-Bilder‘.

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Wie Pandur innerhalb der Episoden die Vorlage umgestaltet, zeigt das Beispiel der ersten Episode, deren Handlungsgeschehen ich verschriftlicht habe: I Begegnung von Dante und Vergil: (Als der Engel Balkan nach oben gezogen wird, lässt er eine Feder aus seiner Wade herunterfallen, die bei Dante landet; hinter dessen Ohr steckt ebenfalls eine weiße Feder. Dante liegt mit etwa zehn anderen Männern rücklings und parallel – alle mit den Füßen zum Zuschauerraum – im Wasser, es regnet kurz. Die Männer singen a capella ein slawisches Kirchenlied, setzen sich im Wasser immer wieder langsam synchron auf und legen sich dann wieder hin. Vergil tritt auf Dante zu, setzt ihn ruckartig auf und spricht mit ihm.) Vergil (V): Heilige Gottheiten, Beherrscher der Seel, und schweigende Schatten – CHAOS – Dante (D): – CHAOS – V: – CHAOS – D: – CHAOS – V: – und Phlegeton, weites Land düster und dunkel. Lasst mich berichten, was ich hörte, jetzt entdecken, was die Erde in ihrer Tiefe verbirgt und ins Dunkel verschweigt. Sie gingen durch die tiefe einsame Nacht, durch die Schatten der Unterwelt. (Dante schnappt nach Luft wie ein Fisch; Vergil lässt ihn fallen. Dante kniet sich wie vorher Vergil hinter eine andere Person und hebt den Kopf ruckartig aus dem Wasser.) D: Aeneis. (Dante legt den Mann nieder.) Sechster Gesang. Vergil. V: Dante. (Dante rollt sich durchs Wasser über einen Darsteller zur nächsten Person, hebt ihr den Kopf von hinten hoch und legt ihn wieder hin.) D: Du bist Vergil. V: Dante Alighieri. D: Erbarm dich meiner, wer du auch seist, ob Schatten oder ein wahrer Mensch. V: Mensch, das war ich, zur Zeit der falschen Heidengötter, ein Dichter bin ich. D: Ruhm und Leuchte aller Dichter, die Quelle, aus der die Worte in den Fluss der Dichtung strömen. Im Namen des Gottes, den Du noch nicht kanntest, flehe ich Dich an, mein Dichter (Vergil befühlt Dantes Puls an der Halsschlagader), rette mich, zeige mir den Weg. V: Ich zeige dir den Weg, ich führe dich, ich bringe dich in unendliche Landschaften (Vergil hält Dante schräg vor sich im Arm, dieser schützt seine Augen, er wird von einer Lichtquelle über Vergil geblendet), wo du nur die

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Verzweiflungsschreie unsrer alten Seelen hörst. Seit Jahrhunderten beklagen sie dort ihren zweiten Tod. Und sehen wirst du die anderen die im Feuer taumeln und voller Hoffnung sind, doch noch zu den Seligen zu kommen. Willst du das, willst du zu diesen dich erheben, wird eine Würdigere dich geleiten. Denn der Kaiser, der dort oben herrscht, verbietet den Zutritt jenen, die seinem Gesetz sich widersetzen, dort ist er König, dort gebietet er, dort ist sein Thron, sein goldener Sitz (Vergil kniet sich hin, andere Seelen setzen sich auf) und glücklich sind die Auserwählten. Liebe. (Vergil scheint Dante mit Wasser zu taufen) D: Oh ihr Musen, meine Geisteskraft, helft mir. Und du mein Gedächtnis, das geschrieben, was ich erlebt, zeige deinen Adel. Und du, mein Dichter, der du mich leitest, bedenke noch bevor wir diesen steilen Weg beschreiten, ob meine Kraft denn ausreicht. Warum steig ich da hinab, wer erlaubt es? Wenn ich mich blindlings führen lasse, fürcht ich, wird es in Tollheit enden. Du bist weise, verstehst meine Gedanken besser als ich es sagen kann. V: Angst. D: Liebe. V: Deine Seele wurde von der Angst berührt, die dem Menschen die Hände fesselt, so dass er sich von seinem Plan abwendet, wie ein Tier, das in der Dämmerung vor seinem eigenen Schatten flieht. (Derweil wischt Vergil immer wieder Schweiß vom Gesicht Dantes, führt ihn mit der Hand an sein Gesicht, fühlt seinen Puls.) D: Liebe. V: Angst. (Auf das Stichwort hin lässt er Dante fallen, alle Darsteller wälzen sich im Wasser synchron mehrmals in eine Richtung auf die Seite.)

In der Divina Commedia setzt die Erzählung damit ein, dass der Wanderer Dante beim Gang durch einen wilden Wald vom ‚rechten Weg‘ abkommt. Der Geist Vergils, den Dante als vorbildlichen Dichter verehrt, erscheint ihm und tritt mit Dante den langen Weg durch das Jenseits an. Mit diesem Einstieg in die lange Verserzählung hat das Geschehen in Pandurs Version nur mehr wenig zu tun. Ganz anders als der Originaltext – von dem nur noch winzige motivische Anklänge oder Textreste zu finden sind – beginnt der Sprechtext hier mit der Anrufung ‚heiliger Gottheiten‘. Die polytheistische Anrufung mehrerer Götter aus dem Mund des antiken Dichters Vergil, die in Dantes Inferno so nicht enthalten ist, gibt dem Geschehen gleich zu Anfang einen archaisierenden, transzendenten Bezug. Gleichzeitig unterwandert sie die

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monotheistisch-christliche Vorstellung der Divina Commedia, in der Dante auf dem Weg zu Gott ist, der ihm am Ende seiner Reise im Paradies als Lichtvision erscheint. Der Hinweis darauf, dass die Götter ‚die Seele beherrschen‘, lässt den Leitbegriff aus dem Titel der Inszenierung, ‚Soul‘, noch im ersten Satz anklingen und kann ggf. als eine zunächst nicht weiter explizit gemachte Deutung des Inferno in einem religiös-transzendenten und allegorisch-psychologischen Sinn verstanden werden. Im Anschluss daran rufen Vergil und Dante zweimal hintereinander „CHAOS“. Die Ausrufe wirken unmotiviert, ihre Bedeutung ist unklar. Vielleicht lassen sie den Zuschauer an mythische Schöpfungsprozesse denken oder auch an das scheinbar chaotische Sein im Inneren des Menschen; der Interpretationsraum bleibt offen. Wenn Vergil mit seiner Einleitung fortfährt, weisen seine Sprechpassagen signifikante Brüche in der Erzähl- bzw. Sprechperspektive auf. Zum einen impliziert seine Aussage „Lasst mich berichten, was ich hörte“, dass er als außenstehender Erzähler im Rückblick ein Geschehen wiedergibt, während er bereits im nächsten Satzteil ins Präsens wechselt: „jetzt entdecken, was die Erde in ihrer Tiefe verbirgt“. Schon dieser Zeitsprung wirkt irreal. Der Eindruck wird durch den darauffolgenden Satz verstärkt, in dem er offensichtlich von sich und Dante wiederum rückblickend berichtet („Sie gingen durch die tiefe einsame Nacht durch die Schatten der Unterwelt.“), während dann Dante auf den sechsten Gesang von Vergils Aeneis hinweist und damit einen metasprachlichen Fingerzeig auf eine der wichtigsten Textvorlagen für das Inferno gibt. Durch diese narrativen Brüche werden die Einheit des Geschehens und der Darstellung gestört, sie haben eine irritierende Wirkung. Ein großer Teil des folgenden Dialogs, der von „Erbarm dich meiner …“ bis „Du bist weise, verstehst meine Gedanken besser als ich es sagen kann.“ reicht, entspricht einer zusammenfassenden und erheblich gekürzten Prosa-Übersetzung einzelner Passagen des ersten und zweiten canto aus Dantes Inferno, in denen die erste Begegnung Dantes mit Vergil beschrieben wird. Es wird dann geschildert, wie Vergil seine Herkunft erläutert; und schließlich bittet der Erzähler Dante, der im Rückblick seine Erlebnisse in der Jenseitswelt berichtet, die Musen um Hilfe für sein Vorhaben. Im Unterschied zur mittelalterlichen Dichtung, in der im ersten Gesang eine fundierte Exposition der gesamten weiteren Handlung geboten wird, ist der Einstieg in die Büh-

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nenhandlung unvermittelt und aufgrund der mangelnden narrativen Struktur für den Zuschauer verwirrend. Am Ende des Dialogs in der ersten Episode wiederholen Dante und Vergil schließlich, ähnlich dem „CHAOS“ am Beginn, zweimal die Ausrufe „Angst“ und „Liebe“, die im weiteren Stück noch häufiger refrainartig wiederkehren. Ohne dass ihre Bedeutung an dieser Stelle eindeutig geklärt werden könnte, scheinen sie auf gegensätzliche psychische Zustände Dantes hinzuweisen. Die refrainartige Wiederholung führt einen litaneiartigen, primär klanglichen Duktus in das Stück ein. Durch die genannten Mittel der Textbearbeitung wird Dantes Inferno massiv verfremdet. Die Dialoge wirken nicht-linear, instabil und alogisch – wie in einem Traum. Doch nicht nur auf der Textebene, sondern auch durch die Bewegungen der Personen auf der Bühne erzielt Pandur Effekte, die dem Stück eine traumhafte Prägung geben sollen. Am Beginn der ersten Episode liegt Dante mit anderen Männern rücklings und parallel im Wasser, sie setzen sich auf und legen sich wieder hin; am Ende der Episode wälzen sich alle synchron im Wasser. Die Anordnung der Personen und ihre synchronen Bewegungen im Wasser sind künstlich und unnatürlich. Wenn man dem Hinweis Pandurs im Programmheft folgt, wo er neben dem italienischen Literaturwissenschaftler und DanteSpezialisten Francesco de Sanctis (1817-1883), dem serbischen Autor postmoderner Romane Milorad Paviü (*1929)39 und N.D. Walsch (*1943), einen amerikanischen Autor spiritueller Bücher, auch Odd Nerdrum (*1944), einen schwedischen Maler und Dramatiker, als Inspirationsquelle für die Inszenierung nennt, dann lassen sich deutliche Ähnlichkeiten des Bildaufbaus auf der Bühne zu Nerdrums Bildern Five singing women und Dawn (1990) aus dem Zyklus Song and Dance erkennen (vgl. Abb. 1 und 2). Auf diesen Bildern liegen und sitzen ebenfalls parallel nackte Frauen im Wasser. Abgesehen von der Künstlichkeit des Bildaufbaus auf der Bühne stehen die Bewegungen der Schauspieler in keinem kohärenten Verhältnis zum gesprochenen

39

Paviü publizierte u. a. Romane wie Das Chasarische Wörterbuch, das wie ein Lexikon gestaltet ist und dessen Kapitel in verschiedener Reihenfolge gelesen werden können; oder Eine Truhe für Schreibutensilien, einen Roman, bei dem der Leser wiederum in beliebiger Reihenfolge FäFächer einer Truhe öffnet und so ihre Geheimnisse entdeckt, u. a. m.

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Text. Die Bewegungen scheinen daher eine primär ästhetische und das Gesagte verfremdende Wirkung zu haben.

Abbildung 1: Odd Nerdrum, Dawn

Abbildung 2: Odd Nerdrum, Five Singing Women

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Ähnliches lässt sich auch für den Regen vermuten, der anfangs auf die Bühne rieselt. Er spielt für die Handlung keine erkennbare Rolle, lässt aber allgemein an etwas Naturhaftes, Primäres, der ursprünglichen Schöpfung Zugehöriges denken und könnte wie die vorher beschriebenen Bewegungen aus ästhetischen Gründen und als Mittel der sinnlichen Gestaltung eingesetzt worden sein. In der ersten beschriebenen Szene werden noch weitere ungewöhnliche Bewegungen und Requisiten gezeigt. Mit den Bewegungen und Requisiten entwirft Pandur im Stück ‚Motivfelder‘, die sich häufig in irgendeiner Weise im Stück wiederholen. Gleich am Beginn der Szene sind zwei weiße Federn zu sehen, eine, die der Engel herabfallen lässt, und eine, die hinter Dantes Ohr steckt. Die inszenierungsimmanente Bedeutung der Federn und ihre Funktion an dieser Stelle lassen sich nicht klar benennen, die Bedeutungslücke kann aber assoziativ gefüllt werden. Die Feder aus der Wade des Engels steht sicherlich irgendwie in Verbindung mit dem transzendenten Sein der Figur. Und sie kann, wie die Feder Dantes, als Symbol der Autorschaft verstanden werden; sie ist eines von mehreren Requisiten, Bewegungen oder Textpassagen im Stück, die auf das Motivfeld des Schreibens und Lesens verweist. In der ersten Episode setzt entweder Vergil Dante oder Dante mehrere Nebendarsteller gewaltsam auf. Das Motiv der Gewalt und Aggression, das hier noch eher verhalten anklingt, kehrt im Stück ebenfalls in verschiedenen Spielarten wieder. An anderer Stelle scheint Vergil Dante zu taufen. Mit der Bewegung wird ein Assoziationsfeld hin zur Religion und zum christlichen Ritus geöffnet. Hier wie in der weiteren Inszenierung finden sich viele christliche Motive, die oft entweder alptraumhaft verzerrt oder um Motive ergänzt werden, die auf andere, nicht-christliche und scheinbar archaische Riten hinweisen. Das ist beispielsweise in der XI. Episode der Fall, in der Dante ein abgewandeltes Glaubensbekenntnis spricht: Ich glaube an Gott den Einen und Ewigen, der bewegt den ganzen Himmel, selbst unbewegt, mit Liebe und mit Seelen. Für diesen Glauben habe ich Beweise, nicht nur aus Welt und Überwelt, sie kommen auch aus der Wahrheit, die herniederregnet, von Moses, den Propheten und den Psalmen und den Evangelien und von euch, die schrieben, als sie erhoben hat des Geistes Feuer.

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Ich glaube an drei ewige Personen, und diese glaube ich so in drei und einem, dass sie zugleich das Ist und das Sind erlauben.

Sie bestimmen auch die Schluss-Szene des zentralen Inferno-Teils (XII), die ausschließlich aus ganz verschiedenen rituellen Gebärden und Handlungen besteht, die kombiniert und verfremdet werden: Auf der Bühne sind Männer mit unterschiedlichen Kostümen, die zum Teil an altertümliche Priestergewänder erinnern; einer isst von einem goldenen Teller hektisch eine größere Menge Oblaten; Vergil macht mechanisch Kreuzzeichen, übernimmt später den goldenen Teller, hebt ihn wie eine Hostie nach oben und spiegelt sich dann darin; ein anderer dreht sich bis zur völligen Erschöpfung ekstatisch im Kreis; ein Mann steht auf einer der Leitern, hat die Arme ausgebreitet und ruft immer wieder wehklagend „Jesu Christe“ etc. Als Ausgangspunkt für diese Bühnenbilder dient Pandur die stark religiöse Thematik der Divina Commedia, deren christliche Dimension aber zu etwas generell Spirituellem erweitert wird. In das Assoziationsfeld der Religion gehören auch verschiedene liturgische Gesänge, die in dieser ersten und in vielen weiteren Episoden gesungen werden. Hier ist es ein slawisches Kirchenlied, dessen Text den deutschen Zuschauern zwar nicht verständlich sein dürfte, dessen traditionelle Melodik aber eine altertümliche Atmosphäre des Religiösen schafft. Außer ihrer religiösen Dimension sind die Lieder auch Bestandteil der Inszenierung als Gesamtkunstwerk, in dem gemäß artaudscher Programmatik die Dominanz des Wortes zurückgedrängt werden soll. Die Musik benötigt im Gegensatz zur gesprochenen Sprache nicht primär logozentrische Rezeptionsvorgänge. Schließlich fühlt Vergil in der oben beschriebenen ersten Episode Dantes Puls, was als Zeichen für dessen Lebendigkeit bzw. des Lebens schlechthin gesehen werden kann, die im Kontrast zur leblosen Existenz der Schattenleiber der Hölle steht. Auch diese Bewegung wird an anderen Stellen wiederholt. Pandur öffnet also größere Motivfelder, die in verschiedener Weise im Stück wiederkehren. Diese treten an die Stelle der großen, in sich geschlossenen Erzählung der Vorlage. Bei den symbolhaften Traummotiven könnte es sich eventuell um die theatralische Nachahmung archetypischer Bilder handeln, wie sie in der Psychoanalyse freigelegt

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werden; die Tatsache, dass Tomaž Pandur sich mit der Traumdeutung beschäftigt hat, mag die Vermutung stützen.40 Ähnlich wie die erste Szene sind auch die weiteren gearbeitet. Ein kürzerer Blick auf die zweite Episode vermag das schnell zu verdeutlichen: II Erster Auftritt Beatrices: (Beatrice, in einem rüstungsartigen Oberteil aus Eisenteilen und einem Kettenhemd und mit langem schwarzen Rock, fährt auf einer Gondel ein. Sie wird von einem weißgeschminkten Mann gezogen, der aussieht wie der Engel Balkan und der mit einer überstilisierten Geste mit gestrecktem Arm und Zeigefinger nach oben zeigt. Beatrice singt ein ruhiges englisches Lied über das Ende aller irdischen Passionen und die himmlische Ruhe. Sie hat ein großes, schwarzes Buch bei sich, das handgeschriebene Terzinen in schwarzer Tinte enthält. Mit überstilisierten Gesten fährt sie mit dem Zeigefinger über eine Verszeile, leckt den Finger, zeigt nach oben. Dann hält sie das Buch wie ein Priester die Bibel in die Höhe, küsst es und wirft es mit der Bemerkung „Erinnere dich, mein Herz. Wir beide sind das Eine.“ ins Wasser. Sie fährt ab, singt weiter, hinter ihr verlassen Musiker die Bühne.)

Die Episode beruht auf einer Passage aus dem zweiten Gesang von Dantes Inferno. In ihr beschreibt Vergil, wie Beatrice, die früh verstorbene Jugendliebe Dantes, die unter den Glückseligen des Paradieses weilt, ihn zu Dante schickte. Vergil soll Dante einen großen Teil des Weges durch das Jenseits begleiten; im irdischen Paradies, auf der Spitze des Läuterungsberges, wird Dante dann Beatrice selbst treffen, die ihn durch das Paradies führt. Vom ursprünglichen Text der Divina Commedia ist hier nichts mehr vorhanden. Allein die Figur Beatrices, die vom Paradies singt und von einem Engel begleitet wird, lässt noch die Verbindung zum Prätext zu. Der kurze Satz Beatrices, „Erinnere dich, mein Herz. Wir beide sind das Eine.“ kann im Kontext der Handlung nicht eindeutig verstanden werden, er klingt mystisch und rätselhaft. Dass Beatrice das Lied auf Englisch singt, ist ein weiteres Element einer besonders sinnlichen Inszenierung, bei der es nicht nur auf den Text ankommt, sondern in diesem Fall auch auf verschiedene (Sprach)

40

Vgl. Vili Ravnjak: „Das Theater des Mythos und des Rituals“. In: Pandur, a. a. O., S. 323-4. Hier: S. 323.

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Klänge. Außerdem wird durch die Sprachmischung der Akzent vom reinen Wortverständnis hin zur musikalisch-ästhetischen Dimension von Sprache verschoben. Fast jede Episode im Stück ist mit teils fremdsprachigem Gesang oder Musik unterlegt; die Intonation schwankt sonst zwischen Schreien und Flüstern, manche Wörter werden anomal betont, der Atem der Schauspieler wird bewusst hörbar eingesetzt. Interessant an dieser Szene ist nicht nur, dass Beatrice auf einer großen schwarzen Trauergondel geschoben wird, was auf Theaterbühnen nicht allzu häufig zu sehen sein dürfte. Auffällig sind auch die überstilisierten, künstlichen Zeigegesten Beatrices, die RenaissanceGemälden entlehnt zu sein scheinen. Ähnliche Gesten sind auch an anderen Stellen der Inszenierung zu sehen. Wie schon bei den synchronen Bewegungen in der ersten Episode wirken diese Bewegungen extrem ästhetizistisch und betont unnatürlich, wodurch sie der Bühnendarstellung eine surreale Prägung geben. In dieser Szene kommen wieder Motive des Religiösen und des Schreibens zum Tragen, wenn Beatrice in einem großen, schwarz eingebundenen Buch liest, in dem mit schwarzer Tinte geschriebene Terzinen stehen und das sie schließlich mit einer priesterähnlichen Gebärde küsst und in die Höhe hebt. Das Buch mit den Terzinen verweist auf die in Terzinen verfasste Divina Commedia als Vorlage der Inszenierung. Die schwarze Farbe steht eventuell symbolhaft für die dunklen Seiten der Seele, die aus Dantes Inferno in einer allegorischen Lesart herausgelesen werden können und die Pandurs Inszenierung zeigen will. Das Buch hängt an einer langen Eisenkette, die wie Beatrices Kostüm in den Bildkreis der Rüstungen gehört und die dem Buch etwas alptraumhaft Schweres, Hinderliches verleiht. Das Buch wird im weiteren Stück leitmotivische Funktion haben, fast immer tragen es Dante oder Vergil bei sich, bis Dante es in der zwölften Szene zerreißt und die einzelnen Seiten von einer der Etagen ins Wasser auf dem Grund wirft. Aufgrund der ersten beiden Szenen, die ich beispielhaft vorgestellt habe, lassen sich die wichtigsten Elemente von Pandurs Inszenierungsstrategie, seiner Traum-Ästhetik, zusammenfassen: Pandur nutzt Dantes Inferno als Inspirationsquelle für die Gestaltung eines sinnlichen Bildertheaters, das sich weitgehend an der Theaterprogrammatik Antonin Artauds orientiert. An die Stelle der großen Erzählung tritt die

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Inszenierung ausgewählter Motive, die vor allem aus den Bereichen Gewalt, Krieg und Leid; Lesen, Schreiben und Autorschaft; Religion, Mythos und Transzendenz; Leben und Tod; Erotik und Angst stammen. Die Motive öffnen weite Assoziationsräume und schaffen, insbesondere durch ihre verfremdende Gestaltung, eine bedrohliche, bedrückende, irritierende Atmosphäre. Sie wirken wie archaischsurreale Traumzeichen, wie ein Blick in die dunklen Seiten der menschlichen Seele, die im Verlauf des Stücks an der Hauptfigur Dante exemplifiziert werden. Metafiktionaler Einschub In der dreizehnten Episode fügt Pandur schließlich ein modernes Schluss-Stück in sein Werk ein. Wie eine dea ex machina tritt eine Journalistin in der mittelalterlich bis archaisch konnotierten Höllenlandschaft auf. Der Lärm von Rotoren im Hintergrund und aufpeitschendes Wasser wecken die Illusion eines gelandeten Hubschraubers, dem sie entsteigt, um dann frontal vor dem Publikum, wie bei einer Livesendung aus der Hölle zu berichten: Bababa… Das Zentrum dieser mächtigen Enzyklopädie ist das Problem des menschlichen Schicksals. Das ist die Grundfrage aller Philosophien und Religionen: Auf welche Art und Weise, welches ist der Weg der Erlösung? Dante verirrte sich im dunklen Wald, er überstand alle Anfälle von Leidenschaft. Um ihn von diesem dunklen Ort zu retten, mischte sich Vergil ein. Er nahm ihn mit und führte ihn durch die Hölle. Er wird ihn auch durch das Fegefeuer führen, von dort aus wird er nach der Offenbarung aller seiner Sünden geführt von Beatrice zum Himmel aufsteigen, von einem Licht zum anderen gelangt er vor das Angesicht Gottes. Allegorisch gesprochen: Dante ist die Seele, Vergil ist der Verstand, Beatrice ist die Barmherzigkeit. Die Italiener nennen ihn göttlich. Aber er ist ein verborgener Gott. Niemand liest ihn. Wer ist Dante wirklich, was ist dann die Commedia? Kunstvoll gestaltetes Mittelalter? Lasst uns eintreten in diese Welt, lasst uns in sie hineinschauen und sie hinterfragen. Der Dichter muss sich in sein Motiv verlieben, das Motiv muss in ihm leben, es wird zu seiner Seele und seinem Gewissen. Die Hölle ist das Reich des Bösen, der Tod der Seele, der Übermacht des Körpers, das Chaos, vom ästhetischen Standpunkt aus gesehen ist sie das Hässliche. Es ist, als ob er sagen wollte: Wollen Sie Ihre Seele retten, dann kommen Sie zu mir in die andere Welt. Aus dem Munde der Toten lernen wir hier die Ethik, die Lehre der Erlösung. Oder

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die Poesie ist eine schöne Lüge und ihr einziger Wert besteht darin, dass sie ein Abbild der Wahrheit ist. Dante ist zugleich Zuschauer und Dichter, ein Beteiligter und Richter. Um welche Poesie handelt es sich denn? Eine Allegorie? (hält das Mikrophon nach oben) Eine Vision? (hält das Mikrophon nach oben) Ja, Vision. Wir, meine Damen und Herren, können sagen, sollten wir dem gedankenverlorenen Dichter ins Gesicht schauen, in der Tat: Ja, er kommt aus der Hölle. Aber natürlich, die Hölle sind nicht wir, die Hölle sind immer die anderen. Aus dem kalten Inferno: Christa von Braunsberg, live für Sie (Hubschrauberlärm; Männer liegen alle rücklings im Wasser, wie tot, mit Blut auf den Gesichtern; Vergil fühlt seinen eigenen Puls, hat Blut an derselben Stelle). D (hat ein Eisenhemd wie eine Kappe auf): Wenn ich die harten und rauen Verse fände, die in diesen traurigen Abgrund führen, so würden meine Worte nie enden. Weil sie mir aber fehlen, wird den tiefsten Grund des Universums nie jemand beschreiben. Sollte es mir auch gelingen, die ganze Welt, mit ihren blutigen Tränen zu versammeln, nichts als ein blasses Fresko dessen, was sich im tiefsten Höllenkreis abspielt, könnt ich zeichnen. So wie jener, der von einem Unheil träumt und sich im Traume wünscht, nur zu träumen, und dass er das, was er ist, nie gewesen wäre. (Er haucht, alle hauchen; Vergil haucht auf den goldenen Teller, poliert ihn; orientalischer Gesang; die Frontwand mit dem Engel Balkan kommt herunter.)

Der Monolog der Journalistin lässt sich als ein assoziativ gearbeiteter, metasprachlicher Kommentar zum Stück verstehen. Am Beginn weist die Journalistin darauf hin, dass das menschliche Schicksal schlechthin, die Suche nach einem Weg der Erlösung das Thema der Divina Commedia sei. Diese Interpretation kann als eine Umschreibung dessen aufgefasst werden, was Tomaž Pandur losgelöst vom historischen Entstehungskontext des Werks als das ‚Archetypische‘ der Dichtung ansieht, deretwegen er sie als Stoff für seine Theater-Bearbeitung gewählt hat. In den anschließenden Sätzen wird dann das Handlungsgerüst der Jenseitswanderung Dantes, der Literalsinn der Dichtung, grob rekonstruiert und ein Ausblick auf das Purgatorium und Paradies gegeben, denen die zwei folgenden Teile der Theater-Trilogie gewidmet sind. Ausgehend vom sensus literalis lädt die Journalistin zu einer weiteren Interpretation und allegorischen Lektüre des Werks ein, die auch für die Inszenierung der vorhergehenden zwölf Episoden wichtig war: Die Journalistin stellt fest, dass das „Motiv“ – hier offenbar das Inferno – zu einem Teil des Autors selbst wird, zu einem Teil seiner Seele

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und seines Gewissens. Entsprechend wird auch im Stück die Figur Dante als Autor, Erzähler, Wanderer und Leser (in) seiner eigenen Geschichte gezeigt, das Inferno als das von ihm geschriebene Buch, das zugleich Abbild der negativen Seiten seiner Seele ist, die exemplarisch steht für die aller Menschen. Im darauffolgenden Satz erläutert die Journalistin, dass die Hölle „das Reich des Bösen“ sei, mit dem der „Tod der Seele“ und eine „Übermacht des Körpers“ einhergehe. Diese allegorische Deutung des Inferno hat in der betont aggressiven und gewaltsamen Grundstimmung der Bearbeitung, in der Körper und Bewegungen eine zentrale Rolle spielen, ihren Ausdruck gefunden. Ästhetisch korreliere das mit „Chaos“ – das am Beginn des Stücks evoziert wurde – und „Hässlichkeit“, die in der Inszenierung u. a. durch die (Nicht-)Farbe Schwarz, die Dunkelheit und die verschiedenen Verfremdungstechniken suggeriert werden. Der Monolog der Journalistin schließt, nachdem sie zwei Fragen an Gott direkt gerichtet hat, mit einem Zitat aus Jean-Paul Sartres Drama Huis clos, das in unmittelbarem Kontrast zu ihrem Dialog mit Gott die Transzendenz des Inferno aus einer modernen Perspektive in Frage stellt und es in der Gesellschaft selbst verortet: „[…] die Hölle sind immer die anderen.“ Der Hauptteil von Inferno. The Book of the Soul endet mit einem surrealen Schlusswort Dantes. Im zitathaften Rekurs auf den Unsagbarkeitstopos in der Divina Commedia suggeriert er, das Inferno nie geschrieben zu haben – und verweist zu guter letzt noch einmal auf den Traum, der ästhetisch die gesamte Inszenierung bestimmt.

3 D IE D IVINA C OMMEDIA IN P ANDURS ‚T HEATER DER T RÄUME ‘ Im Unterschied zum Inferno inszenierte Tomaž Pandur die beiden folgenden Teile der Trilogie, das Purgatorio und Paradiso, als Orte der Reinigung (wie auf Dantes Läuterungsberg) bzw. der Erlösung (wie im Paradies). Dem entsprechend sind die Teile, die in einer ähnlichen Bühnenkonstruktion mit dem Wasserbecken als markantestem Requisit gespielt werden, von Ruhe, Statik und hellem Licht gekennzeichnet. Es gibt keine dramatischen Bilderwechsel mehr, stattdessen überwiegen fließende Übergänge; es werden nur mehr wenige Dialoge gesprochen, und die Bezugnahmen auf die Textvorlage bestehen weit-

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gehend in der Symbolhaftigkeit der allegorisch aufgeladenen Orte, die wiederum verschiedenen ‚Seelenzuständen‘ entsprechen. Mit Blick auf das Inferno sei noch auf einen Aufsatz über die Theaterästhetik Pandurs verwiesen, in dem Darko Lukiü dessen Inszenierungstechnik anschaulich, und wie ich meine recht treffend, mit der surrealistischen Kunst Salvador Dalìs vergleicht:41 Pandurs Regieverfahren läßt sich schwer auf eine Formel bringen, doch die Definition des pandurischen Ansatzes als Schaffung von Irrealem durch Umstrukturierung von Elementen der Realität scheint ihm noch am ehesten gerecht zu werden. Die Fakten werden nicht entstellt, sondern umgestellt – ihre realen Verbindungen werden gekappt, und irreale Beziehungen und Zusammenhänge werden hergestellt, in denen dann diese umgestaltete Realität irreal als neue (Sur-)Realität zu funktionieren beginnt. Das Verfahren gleicht dabei am ehesten Dalì. Gibt es denn auf Salvador Dalìs Bildern etwas, das in der Realität der wirklichen Welt nicht existiert? Nein! Uhr, Elefant, Haus – wie sie wirklich sind in der Wirklichkeit, vollendet hyperrealistisch gemalt. Doch gibt es diese Elemente in solchen Beziehungen zueinander? Fliegende oder auf ungewöhnlich langen Beinen stakende Elefanten, die Schatten Werfen [sic!], die der Optik spotten; Uhren, die wie Speiseeis schmelzen, wie Pfannkuchen von Bäumen oder über den Rand eines Tisches hängen; Häuser, die in den Wolken schweben? Diese Methode hat Pandurs Theatersprache […] übernommen – alles entstammt der wirklichen Welt, nur das Beziehungsnetz ist völlig phasmagorisch.

Bedenkenswert bei diesem Vergleich ist nicht zuletzt, dass die antibürgerliche Bewegung des Surrealismus von André Breton angeführt wurde – in dessen Umkreis, wie am Beginn des Kapitels erwähnt, wiederum Antonin Artaud tätig war. In der surrealistischen Kunst waren die Annäherung an Ausdrucksweisen des Traums und des Unbewussten ein Ziel, das auch Pandur mit seinem ‚Theater der Träume‘ verfolgt, auf dessen Bilder sich die Zuschauer nicht primär reflexiv, sondern sinnlich und emotional einlassen sollen. Trotz aller Gefolgschaft von Artaud lässt sich meines Erachtens dennoch festhalten: Die schockartige Wirkung, die Artaud anvisiert hatte, evoziert Pandurs Theater eher nicht. Das dürfte auch daran lie-

41

Lukiü, a. a. O., S. XXXI.

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gen, dass die Aufführungsbedingungen für diese Inszenierung des Inferno am Thalia Theater in Hamburg sehr konventionell waren: Die klassische Trennung von Zuschauerraum und Bühne blieb erhalten, der Zuschauer war passiver Rezipient. Die eingesetzten Bühnenmittel sollen dabei zwar eine Ästhetik der Hässlichkeit schaffen, bleiben letztlich aber weit hinter dem zurück, was in der heutigen Kunstszene noch als schockierend hässlich wahrgenommen werden kann. Einen deutlich radikaleren Ansatz hat da das norditalienische Teatro del Lemming gewählt, das ebenfalls den rituellen Aspekt des Theaters neu beleben will.42 Wie Pandur adaptierte die Gruppe unter der Leitung von Massimo Munaro in den vergangenen Jahren verschiedene Mythen und Klassiker, u. a. Ödipus, Dionysios, Amor und Psyche, Antigone, Faust und die Divina Commedia (NEKYA – viaggio per mare di notte: INFERNO PURGATORIO PARADISO, 2006) als sinnliches Theater. Die Inszenierungen sind oft nur für wenige Zuschauer bestimmt, die am Geschehen aktiv beteiligt werden: Während der Inszenierung wird gegessen, die Zuschauer bewegen sich mit den nackten Darstellern etc. Gerade durch die Beteiligung so weniger Zuschauer kann meiner Meinung nach ein viel größerer sinnlicher Eindruck vermittelt werden, als das bei Pandurs Inferno der Fall ist. Noch eine kurze Überlegung zum Abschluss des Kapitels: In dem einzigen bisher publizierten wissenschaftlichen Aufsatz zu Pandurs Inferno kommt Sabine Schrader zu dem Ergebnis, dass es sich um ein „äußerst politische[s] Stück“43 handle. Was aber ist ein ‚äußerst politisches Stück‘? Sicher kann es dafür keine universelle Definition geben. Ich selbst würde aber deutliche Positionierungen und Bezugnahmen auf konkrete politische, historische o. ä. Ereignisse mit einer politischen ‚Aussageabsicht‘ erwarten (man denke hier etwa an Dramen von Bertolt Brecht oder Peter Weiss). Wie die obige Analyse gezeigt hat, sind die Anspielungen Pandurs auf den Jugoslawienkrieg marginal, sie

42

Vgl. www.teatrodellemming.com. Dort findet sich auch eine ausführliche Bibliographie mit Monographien und universitären Abschlussarbeiten zu ihren Werken, auch zur Adaption der Divina Commedia. Auf www. youtube.com ist ein kurzer Trailer von NEKYA zu sehen; eine Gesamtaufnahme des Stücks existiert bisher offenbar nicht.

43

Schrader, a. a. O., S. 196.

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sind eingebettet in ein Stück, das v. a. die dunklen Seiten der Seele des Menschen schlechthin, als universale Konstanten zeigen will. Das Ziel der Inszenierung ist meines Erachtens keine politische Botschaft, Analyse oder Stellungnahme in welcher Form auch immer – als magisches Bildertheater zielt sie vielmehr auf ästhetische, sinnliche Eindrücke, womöglich auch auf eine wie auch immer geartete bewusstseinsverändernde Wirkung, jedoch ohne konkrete gesellschaftskritische Aussageabsichten.

IV Strukturalistische Adaption A TV Dante – Cantos I-VIII (1988) von Peter Greenaway und Tom Phillips

Im Juli 1990 wurde zum ersten Mal im britischen Fernsehen A TV Dante – Cantos I-VIII von Peter Greenaway und Tom Phillips ausgestrahlt. Bereits ein Jahr zuvor war der Film im italienischen, niederländischen und deutschen Fernsehen gezeigt worden.1 Mit A TV Dante schufen der Maler Tom Phillips und der Regisseur Peter Greenaway speziell für das Fernsehen eine Neubearbeitung der ersten acht Gesänge aus Dantes Inferno. In ihrer Version der mittelalterlichen Höllenwanderung übertrugen die Künstler jedoch nicht – wie es vielleicht zu erwarten gewesen wäre – die Sprach-Bilder Dantes in eine bildgewaltige Spielfilmfassung. Vielmehr entwickelten sie eine innovative Adaptionsstrategie, bei der sie den Text des Inferno in einem ‚strukturalistischen‘ Zugriff für das Medium Fernsehen übersetzten.

1 E NTSTEHUNG : V OM K ÜNSTLERBUCH F ERNSEHADAPTION

ZUR

Die Inferno-Verfilmung A TV Dante entstand als Auftragsarbeit des britischen Fernsehsenders Channel 4. Channel 4 war im Jahr 1982

1

Der Film erschien später auf Video-Kassette und jüngst auch auf DVD: Peter Greenaway; Tom Phillips: A TV Dante. Cantos I-VIII. Argos Films; British Film Institute 1995. DVD bei Digital Classics (2011).

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neben den staatlichen Sendern BBC1 und BBC2 und dem bis dahin einzigen privaten Sender ITV als zweiter britischer Privatsender mit einem act of parliament gegründet worden. Als Privatsender muss sich Channel 4 zwar großenteils durch Werbeeinnahmen selbst finanzieren, gleichzeitig ist er aber an einen öffentlichen Sendeauftrag gebunden, mit dem die hohe Programmqualität sichergestellt werden soll. In der Präambel des Gründungsdokuments heißt es entsprechend:2 The public service remit for Channel 4 is the provision of a broad range of high quality and diverse programming which, in particular: - demonstrates innovation, experiment and creativity in the form and content of programmes; - appeals to the tastes and interests of a culturally diverse society; - makes a significant contribution to meeting the need for the licensed public service channels to include programmes of an educational nature and other programmes of educative value; and - exhibits a distinctive character.

Durch die Bindung an den öffentlichen Sendeauftrag etablierte sich Channel 4 als Formatsender, der vor allem in den Anfangsjahren viele experimentelle und innovative Auftragsprojekte vergab. Mitte der 1980er Jahre wandte sich Michael Kustow, der damals die künstlerische Abteilung von Channel 4 leitete, an Tom Phillips.3 Phillips hatte 1983 ein Künstlerbuch zu Dantes Inferno herausgebracht, das in der Öffentlichkeit große Aufmerksamkeit erregt hatte, und Michael Kustow dachte über eine Verfilmung des Werks nach.4 Nachdem Peter Greenaway als Co-Regisseur gewonnen werden konnte, sagte auch Phillips seine Mitarbeit zu.

2

http://www.channel4.com/about4/overview.html.

3

Im Kurzprofil des Guardian heisst es über Michael Kustow: „Michael Kustow is a writer, producer and cultural activist. He has been associate director variously of the National Theatre and the RSC, and director of the Institute of Contemporary Arts when it moved into the Mall. After wide-ranging theatre experience in France and the USA, he became the first arts commissioning editor of Channel 4 in 1982. Since 1990 he has combined producing with writing.“ (http://www.guardian.co.uk/ profile/michaelkustow)

4

Vgl. Tom Phillips: Works and Texts. London 1992. S. 238.

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Tom Phillips (*1937, London) ist ein anerkannter Maler und Grafiker.5 Bekannt wurde Phillips, der auch als Schriftsteller und Komponist tätig ist, vor allem durch seine grellbunten und zum Teil collagierten Farbsiebdrucke. Die für ihn typische Arbeitsweise zeigt sich u. a. in seinem Werk A Humument: Eigenen Angaben zufolge nahm sich Phillips eines Tages vor, das erste Buch, das er zum Preis von drei Pence entdeckt, zu kaufen und künstlerisch zu bearbeiten (der Zufallsaspekt sollte also dezidiert ein Element der künstlerischen Arbeit sein). Er stieß auf W. H. Mallocks viktorianische Novelle A Human Document, und seit Anfang der 1970er Jahre publizierte er verschiedene Illustrationszyklen zu diesem Text. In den Illustrationen kombinierte Phillips immer wieder aus dem Text herausgelöste Wort- und Satzfragmente, eigene Grafiken und andere, collagierte Materialien wie Filmausschnitte, Fotografien, zerstückelte Geldscheine, zerschnittene und neu zusammengesetzte Bilder anderer Künstler oder auch eigener Werke.6 Ende der 1970er Jahre begann Phillips, sich intensiv mit Dante zu beschäftigen. Anlass dafür war eine Anfrage der Folio Society bei seinem Stammverlag Alecto Editions, ob er eine neue Übersetzung der Divina Commedia illustrieren wolle.7 Als er seine ersten Entwürfe

5

U. a. wurde er 1989 in die Royal Academy of Arts gewählt; er war 19952007 Vorsitzender der Ausstellungskommission der Royal Academy; 1999 wurde er Honorary Member der Royal Society of Portrait Painters. Vgl. die Informationen auf seiner Homepage www.tomphillips.co.uk.

6 7

Phillips: Works and Texts, a. a. O., S. 255ff. Die Folio Society ist ein Buch-Club in London, der Neueditionen klassischer Bücher herausgibt (www.foliosociety.com). – In seinem Buch Works and Texts weist Tom Phillips darauf hin, dass er als etwa Sechsjähriger erstmals mit Dante in Berührung kam. Als er gemeinsam mit seinem Bruder Bücher für wohltätige Kriegsspenden sammelte, erhielten sie eine Ausgabe der Divina Commedia mit Illustrationen von Gustave Doré, die sie einige Zeit zu Hause behielten, bevor sie das Buch ordnungsgemäß ablieferten. Phillips kommentiert selbst: „It was strange to think that [...] my first brush with art, in a pictureless home, should occur at the same time as my first meeting with a work that would later dominate fifteen years of my life.“ Später las er Auszüge der Commedia in der Schule, fand diese aber „disappointingly parochial; thus missing the point entirely, as I discovered later when reading the original with the aid of

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vorlegte, lehnten die Herausgeber sie jedoch mit der Begründung, sie seien zu ‚modernistisch‘, ab (in seinem Buch Works and Texts kolportiert Phillips den Ausruf Mr. Folios: „These aren’t illustrations at all.“).8 Die Folio-Ausgabe erschien mit den bereits hinreichend bekannten klassizistischen Radierungen John Flaxmans (1755-1826) – Phillips hingegen setzte seine Arbeit an der Divina Commedia mit der Unterstützung seines Verlags und privater Geldgeber selbständig fort. Er konzentrierte sich auf das Inferno, zu dem er einen Illustrationszyklus erarbeitete. Parallel dazu schuf er eine eigene, zeitgemäße und von Wissenschaftlern korrigierte Übersetzung, in der er Dantes endecasillabi (Elfsilber) in Kettenreimen in zehnsilbige, reimlose Blankverse übertrug. Das fertige Künstlerbuch bestand dann aus seiner Übersetzung, zwei Vorsatz-Illustrationen zum Buch, jeweils vier Farbsiebdrucken zu den insgesamt 34 Gesängen des Inferno sowie ausführlichen Kommentaren zu den Grafiken in einem Anhang.9 Bereits kurz nach der Publikation der aufwendig gestalteten Original- und Faksimileausgaben brachte der Londoner Verlag Thames & Hudson eine relativ günstige Taschenbuchausgabe heraus, was als ein Indiz für die große Beliebtheit des Künstlerbuchs gesehen werden kann. Bei der Gestaltung seiner Grafiken wandte Phillips eine Strategie an, die sich deutlich von der früherer Illustratoren der Divina Commedia unterscheidet: Viele, wenn nicht sogar die meisten Künstler zeigen auf ihren Bildern mehr oder weniger ‚illusionistisch‘ einzelne Handlungssequenzen oder Stationen der von Dante beschriebenen Reise durch die Jenseitswelten (man denke hier etwa an die berühmten Grafiken Sandro Botticellis oder Gustave Dorés, auf die in Kapitel VI näher eingegangen wird). Demgegenüber wählte Phillips einen grundsätzlich anderen Zugang, und zwar übertrug er Ausschnitte des Textes in eine symbolhaft-abstrakte Bildsprache.10 Drei Beispiele mögen das veranschaulichen.

Singleton’s copiously annotated edition.“ Phillips, Works and Texts, a. a. O., S. 228. Zu seiner Auseinandersetzung mit Dante: S. 219-251. 8

Ebd., S. 227.

9

Vgl. die Buchausgabe: Tom Phillips: Dante’s Inferno. The first part of the Divine Comedy of Dante Alighieri. Translated and illustrated by Tom Phillips. London: Thames and Hudson, 1985.

10

Zu den Illustrationen vgl. u. a. auch: Joachim Möller, „Dante Englisch“. In: Lutz S. Malke: Dantes Göttliche Komödie. Illustrationen aus sechs

IV STRUKTURALISTISCHE A DAPTION | 143

Zunächst sei eine Illustration zum zweiten Inferno-Gesang betrachtet (Abb. 3). In diesem Gesang befindet sich der fiktive Jenseitswanderer Dante noch ganz am Beginn seines Weges. In einem dunklen und undurchdringlichen Wald hat sich Dante zur Zeit der Dämmerung verirrt, drei wilde Tiere, ein Leopard, ein Löwe und eine Wölfin, hindern ihn daran weiterzugehen. In dieser für Dante beängstigenden Situation sendet Beatrice, seine jung verstorbene Jugendliebe, die ihn aus dem Paradies beschützt und später auch ein Stück des Weges geleitet, den Geist seines Dichtervorbilds Vergil aus der Hölle zu Hilfe. Phillips illustriert mit seiner Grafik jene Szene im Text, in der Beatrice vor Vergil erscheint, um ihm ihren Auftrag zu übermitteln. Auf der rechten Bildhälfte sind mehrere nach oben hin verblassende Schmetterlinge zu sehen; der Hintergrund ist hellblau gehalten und erinnert an das klare Blau des Himmels. Bei den Schmetterlingen handelt es sich um Exemplare der südamerikanischen Catagramma Neglecta (Callicore Neglecta), die wegen ihrer auffälligen Flügelzeichnung auch als ‚89‘ bezeichnet wird. Die Wahl dieser Schmetterlingsgattung ist nicht zufällig: Phillips assoziiert die Neun auf dem Flügel mit Beatrice. In der Divina Commedia sowie in der Vita Nova, einer früheren Gedichtsammlung Dantes, in der er die Liebesgeschichte mit Beatrice poetisch ausgestaltete, wird Beatrice auf verschiedene Weise mit der Zahl Neun in Verbindung gebracht. Die Neun ist das Ergebnis der Multiplikation von Drei mal Drei; und da die Drei in der christlichen Tradition eine heilige Zahl ist (Dreieinigkeit Gottes), hat die Neun einen besonders hohen zahlensymbolischen Wert, mit dem Beatrices Sonderstellung hervorgehoben wird. Der 08.09. ist zudem der biblisch tradierte Geburtstag der Jungfrau Maria – die in der Fiktion der Divina Commedia wiederum Beatrices Eingreifen zugunsten Dantes mit veranlasst. Außer der Zahlensymbolik, die die Schmetterlinge mit Beatrice verbinden, repräsentieren die Falter in der Grabkunst seit der Antike aufsteigende Seelen.11 Zudem vergleicht Dante

Jahrhunderten. Leipzig: Faber & Faber, 2000. S. 153-182. Zu Tom Phillips: S. 168-182. 11

Der Schmetterling schlüpft aus einem leblos wirkenden Kokon. In der Antike wurde der Schmetterling daher zu einem Symbol der Wiedergeburt bzw. Unsterblichkeit; in der christlichen Darstellungstradition wurde der Schmetterling symbolisch für die Auferstehung. Vgl. u. a.: Roswitha Kirsch-Stracke; Petra Widmer: „Schmetterling und Schlafmohn. Zum

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im Purgatorio den Weg des gläubigen Christen zur Erlösung bei Gott mit der Entwicklung einer Raupe zu einem ‚Engelsschmetterling‘ („noi siam vermi / Nati a formar l’angelica farfalla, / Che vola alla giustizia senza schermi“; Purg. X 124-6). Die Schmetterlinge auf Phillips’ Illustration können also als das Erscheinen Beatrices, einer erlösten Seele im Paradies, verstanden werden. Ergänzt wird die Grafik auf der linken Bildseite mit fragmentarischen Textstücken, die assoziativ und bedeutungsoffen das Bild kommentieren: „poet / my / poet / the soul / loves deeply / My feelings habe wings, / and / I am urging / to my / love / in / hell / – a butterfly gives meaning to / brighten poetry […]“.

Abbildung 3: Tom Phillips, Inferno II

Symbolgehalt von Tier- und Pflanzendarstellungen auf Grabmalen“. In: Stadt und Grün (Das Gartenamt), 1999 (8), S. 520–526.

IV STRUKTURALISTISCHE A DAPTION | 145

Hin und wieder bildet Phillips auch die Mehrdeutigkeit der allegorischen Dichtung in seinen Grafiken nach. Das geschieht unter anderem in einer weiteren Illustration zum ersten Gesang (Abb. 4), in dem die Begegnung Dantes mit den drei wilden Tieren beschrieben wird. In der Auslegungstradition der Divina Commedia wurden die Tiere auch als Stellvertreterfiguren für die drei aristotelischen Sündenkategorien interpretiert, die gemäß Dantes Systematisierung in den neun Höllenkreisen gesühnt werden: die leichteren Sünden der incontinentia (Maßlosigkeit), die mittelschweren der malitia (aktive Bosheit) und die schwersten der feritas / matta bestialitade (menschliche Vertierung).

Abbildung 4: Tom Phillips, Inferno I

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Die allegorische Bedeutung der Tiere überträgt Phillips systematisch in seine Grafik: Die Illustration besteht aus drei großen Pfeilspitzen. Die erste Pfeilspitze ist mit Leopardenfell gefüllt, in der zweiten ist ein Löwenkopf zu sehen und in der dritten ein Wolfskopf. Wie in Dantes Hölle, in der die Strafen für bestimmte Sünden je nach ihrer Schwere in immer tieferen Regionen angesiedelt sind, zeigen auch die Pfeile nacheinander nach unten. Zusätzlich gestaltet Phillips den ersten Pfeil als Oberflächendruck, den zweiten als oberflächliche Kaltnadelradierung und den dritten als tiefe Ätzradierung; die zunehmende Sündentiefe wird so auch in der Arbeitsweise reflektiert. Über dem obersten Pfeil ist ein kleinerer, gelb-bräunlicher Pfeil eingefügt, der die größeren Pfeile nach unten zu drücken scheint und an dem wie ein Schweif in einer comicartigen Sprechblase ein Textstück eingefasst ist: „the restless advance of devil“. An wenigen Stellen unterzieht Phillips das Inferno Dantes auch einer ‚strukturalistischen Aktualisierung‘, beispielsweise in der Illustration zu Inf. XXXI (Abb. 5). In diesem Gesang wird erzählt, wie Dante und Vergil an den Rand des neunten Höllenkreises gelangen, wo sie auf die Riesen Nimrod, Ephialtes und Anteus treffen. Die Riesen, die Dante aus der Entfernung nur ungenau wahrnimmt, vergleicht er mit Türmen einer mittelalterlichen Stadt. In der Illustration stehen die schematisierten Umrisslinien von Florenz vor der Skyline von Manhattan in der Bildmitte, hinter der am oberen Bildende die HollywoodFigur King Kong zu sehen ist. Die Stadtkonturen korrespondieren mit Dantes Stadt-Vergleich. King Kong, mit einer Frau in der Hand, entspricht dem Riesen Anteus, der Dante und Vergil zum Höllenboden hinabsetzt. Die sprechblasenähnliche Bildinschrift „In the New World strange sort of parallel“ deutet auf die Ähnlichkeit der gigantomanischen Geschlechtertürme von Florenz mit den Hochhäusern Manhattans und auf die symbolische Bedeutung der Städte als mittelalterliche Bankenmetropole bzw. als heutige Hauptstadt des globalen Kapitalismus.

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Abbildung 5: Tom Phillips, Inferno XXXI

In seinem Künstlerbuch zeigt Phillips also keine narrative Bildergeschichte, die die verbal beschriebene Handlung der Dichtung illusionistisch abbilden würde. Stattdessen übersetzt er einzelne Textausschnitte in symbolhafte Bilder, die er mithilfe von Strukturanalogien auch aktualisiert. Seine Art der Illustrierung setzt voraus, dass der Betrachter aktiv die Bedeutungen der Motive aufschlüsselt – was unter Umständen erst mithilfe der ausführlichen Erläuterungen im Anhang der Buchausgaben möglich ist.12

12

Vgl. u. a. Andrew Taylor: „Television, Translation, and Vulgarization: Reflections on Phillips’ and Greenaways’ A TV Dante“. In: Amilcare

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Peter Greenaway (*1942, Newport / Wales), der ebenfalls als Maler ausgebildet wurde, hat sich während einer Anstellung als film editor and director des Central Office of Information von 1965 bis 1975 autodidaktisch Techniken der Filmproduktion angeeignet. Inzwischen ist er vor allem durch seine extravaganten Spielfilme The Draughtsman’s Contract (1982), A Zed & Two Noughts (1985), The Belly of an Architect (1987), The Cook, the Thief, his Wife & her Lover (1989), die Verfilmung von Shakespeares The Tempest, Prospero’s Books (1991), The Pillow Book (1996), durch seine Hommage an Federico Fellini, 8 ½ Women (1999), und das Rembrandt-Drama Nightwatching (2007) einem größeren, cineastisch interessierten Publikum jenseits des Mainstream-Kinos bekannt. Neben Ken Loach gilt Greenaway als einer der prominentesten Vertreter des avantgardistischen New British Cinema.13 In einem Interview beschrieb Greenaway einmal folgenden Leitgedanken seiner Regietätigkeit: „Ich bin der festen Überzeugung, dass es schon fast eine Pflicht eines jeden kreativ schaffenden Menschen ist zu versuchen, an die Grenzen der Kunstform, mit der er sich auseinandersetzt, zu gehen und sie zu verschieben […].“14 Seit seinen frühen Experimenten mit absurden Collage-Kurzfilmen in den 1960er und 70er Jahren sucht er kontinuierlich nach neuen Möglichkeiten, um die Ausdrucksweisen des Films, die seiner Ansicht nach seit den 1960ern stagniert und in Großbritannien höchst konservativ sind, zu erweitern. Kommerzielle Filme, die an einem hypothetischen oder vorgeblichen Massengeschmack orientiert sind, lehnt er als „banal, langweilig, trivial und irrelevant“15 ab.16 Seine Filme sind in der Regel inhaltlich

Iannucci (Hg.): Dante, Cinema, and Television. Toronto: Univ. of Toronto Pres, 2004. S. 145-152. Hier: S. 144. 13

In jüngster Zeit hat der Regisseur auch mit sogenannten VJ (‚Visual Jockey‘, in Anlehnung an ‚Disc Jockey‘)-Projekten experimentiert, bei denen – häufig in Kooperation mit DJs – visuelle Performances in Echtzeit auf Medien wie TV, Monitor oder Leinwand übertragen werden. Die erste VJ-Performance präsentierte Greenaway am 17. Juni 2005 in Kooperation mit dem DJ Serge Dodwell (Aka Radar) in einem Kunstclub in Amsterdam (92 Tulse Luper-Geschichten).

14

Jean Lüdecke: Die Schönheit des Schrecklichen. Peter Greenaway und

15

Lüdecke, a. a. O., S. 223.

seine Filme. Bergisch Gladbach: Lübbe, 1995. S. 228.

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und ästhetisch komplex aufgebaut, er arbeitet mit Anspielungen auf die Filmgeschichte sowie mit Symmetrien, seriellen Ordnungsmustern, Zahlenspielen und sich wiederholenden Motivfolgen (besonders Körper, Schrift, Vögel, Rahmen, Bücher) etc., so dass sie „in gewisser Hinsicht unendlich oft anschaubar sind, so dass man immer und immer wieder auf sie zurückkommt, so dass dem Betrachter ständig neue Dinge auffallen, sich neue Ebenen auftun, so dass die Vielschichtigkeit des Gebildes immer mehr Ideen anbietet“.17 Für Tom Phillips und Peter Greenaway war A TV Dante das erste gemeinsame und jeweils das erste Fernseh-Projekt überhaupt, bei dem sie ihre eigenen künstlerischen Erfahrungen und Ansätze mit einbrachten. 1984 produzierten sie einen Pilotfilm, als Endziel war die Verfilmung aller 34 canti des Inferno geplant. Als Vorlage für den Pilotfilm wählten sie den fünften Inferno-Gesang, in dem die Episode des tragischen Liebespaares Paolo und Francesca erzählt wird, die im Höllensturm der Wollüstigen umhergepeitscht werden (wie Phillips in einem ironisch-süffisanten Bericht erläutert, gingen sie davon aus, dass bei den Gutachtern, die über die weitere Finanzierung entschieden, die Liebesthematik am besten ankäme).18 Für die Vorab-Fassung, die später beinahe vollständig in den Film übernommen wurde, entwickelten Phillips und Greenaway bereits nahezu alle Adaptionsstrukturen, die sie bei der Fertigstellung von A TV Dante anwendeten. Trotz der sehr gemischten Aufnahme des Pilotfilms – die Kritiken reichten von „TV’s first masterpiece“ bis „terminally pretentious twaddle“19 – gab Channel 4 drei Jahre später grünes Licht für die gesamte Serie. Nachdem Channel 4 A TV Dante – Cantos I-VIII ausgestrahlt hatte, blieb die Staffel nach dem Weggang von Michael Kustow aus der künstlerischen Leitung des Senders und wegen ernsthafter Zerwürfnisse mit der neuen Führung jedoch unfreiwillig Fragment.20 Der Sender ließ die Verfilmung von Paul Ruiz fortführen – dessen A TV Dante: Cantos IX-XVI (1991) nur mehr vage Bezüge zu Dantes Text herstellt –, bevor das Projekt endgültig aufgegeben wurde. 16

Ebd., S. 228.

17

Ebd., S. 231.

18

Vgl. Phillips, Works and Texts, a. a. O., S. 238-9.

19

Ebd., S. 239.

20

Ebd., S. 245.

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2 F ILMANALYSE : A TV D ANTE ALS ‚N EU -E DITION ‘ UND ‚ STRUKTURALISTISCHE Ü BERSETZUNG ‘ DES I NFERNO A TV Dante ist durch zwei Leitideen bestimmt: Zum einen wies Tom Phillips in einem Interview darauf hin, dass er den Film als „the equivalent of publishing a new edition of the book“21 sah. Wie bei der stets fortgesetzten Arbeit an seinem Künstlerbuch A Humument, von dem Phillips immer wieder neue Ausgaben herausbrachte, sollte A TV Dante – auch im Sinne des Auftrags von Michael Kustow – eine ‚filmische Neu-Edition‘ seines Künstlerbuchs zu Dantes Inferno werden. Zum anderen wollten Greenaway und Phillips mit A TV Dante die damals existierende Fernseh- bzw. Video-Ästhetik, die die Künstler gemessen an den Entfaltungspotentialen des Mediums für unterentwickelt hielten, erneuern. Im Postscript eines Beiheftes zur Sendung hoben sie deshalb hervor:22 A TV Dante tries to answer the question. [sic] Is there such a thing as television? Is television a medium in its own right with an individual grammar that would make it an art form as independent of cinema as opera is of drama? […] The test here was to bring the medium in its present potential to a great multilayered text and see if it could stand the strain.

Wie Phillips und Greenaway ihre Leitideen umsetzten, lässt sich am besten mit der Analyse von zwei markanten Gestaltungsmitteln des Films nachvollziehen. Imitation von Buch-Strukturen Eine Besonderheit von A TV Dante ist, dass Tom Phillips und Peter Greenaway typische strukturelle Merkmale von Büchern in den Film

21

Zitiert nach: Nancy J. Vickers: „Dante in the Video Decade“. In: Theodore J. Cachey, Jr. (Hg.): Dante Now. Current Trends in Dante Studies. Notre Dame / London: University of Notre Dame Press, 1995. S. 263276. S. 267.

22

Vgl. Phillips: Works and Texts, a. a. O., S. 246.

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übertrugen.23 Damit unterstrichen sie die Anbindung des Films sowohl an Dantes Inferno, einen in Buchform veröffentlichten schriftlichen Text, als auch an das Künstlerbuch, von dem sie eine filmische NeuEdition planten. Zugleich nutzten sie das Vorgehen als Grundlage für eine innovative, dezidiert medienbewusste Film- bzw. Fernsehästhetik. A TV Dante wurde, worauf ich weiter oben bereits hingewiesen habe, vom Fernsehsender Channel 4 in Auftrag gegeben und im Fernsehen urausgestrahlt. Nach Auffassung von Peter Greenaway und Tom Phillips sollte ihr Film aber eigentlich auf Video aufgenommen werden, damit er wie ein Buch in einer individuellen Geschwindigkeit angesehen und wiederholt werden kann: „[…] it is designed to be recorded on video and then watched by the audience at their own speed, stopping and starting at will like reading a book.“24 Die Notwendigkeit dazu ergibt sich vor allem aus dem sehr dichten, vielschichtigen und weitgehend symbolhaft-abstrakten Bildaufbau, der ähnlich wie die Illustrationen von Tom Phillips die Interpretation durch den Zuschauer erfordert und wie andere Filme von Peter Greenaway auf ein detailkonzentriertes Sehen abzielt.25 Darüber hinaus werden auch bei weiteren Elementen BuchStrukturen imitiert. A TV Dante beginnt mit einem kurzen Vorspann. Wie bei einem Buch übernimmt er die Funktion eines Inhaltsverzeichnisses. Zuerst wird das Computerbild einer stilisierten steinernen Tafel 23

Zur medienreflexiven Dimension der Verfilmung vgl. u. a. auch Luisa Calè: „From Dante’s Inferno to A TV Dante: Phillips and Greenaway Remediating Dante’s Polysemy“. In: Antonella Braida / Luisa Calè (Hgg.): Dante on View. The Reception of Dante in the Visual and Performing Arts. Hampshire: Aldershot, 2007. S. 177-192. – Bücher – auch die Motive Schreiben und Schrift – spielen im Filmschaffen Greenaways eine große Rolle, v.a. in Prospero’s Books und A Pillow Book.

24

Vickers, a. a. O., S. 267.

25

„[…] it is infinitely re-viewable as a video which allows a certain density of information, just as the TV screen allows a greater density of imagery because of its compactness. (The eye can concentrate on the corner while taking the whole). Its non-physical, all-electronic nature as a medium makes it fluid and capable of delicate and continuous elision. Perhaps, it is, to film, as modelling in clay is to carving in stone.“ Phillips: Works and Texts, a. a. O., S. 245.

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gezeigt, auf der die Inschrift von Dantes Höllentor zu lesen ist. Eine Stimme spricht die ersten drei und den letzten der berühmten Verse (Inf. III, 1-3; 9): THROUGH ME YOU REACH THE CITY OF DESPAIR. THROUGH ME YOU REACH ETERNITY OF GRIEF. THROUGH ME YOU REACH THE REGION OF THE LOST. […] YOU THAT ENTER HERE ABANDON HOPE.

In einem vertikal nach oben laufenden Film sieht der Zuschauer dann neun mit arabischen Ziffern nummerierte Kästchen. Die Kästchen sind in verschiedenen Farben grundiert und zeigen kurze Filmsequenzen, in denen Schauspieler die Strafen in den neun Höllenkreisen darstellen. Der Zuschauer erhält so einen strukturierten, filmischen Überblick über die Gliederung des Inferno, dessen vollständige Verfilmung ja geplant war. Über den ablaufenden Film ist im Bildvordergrund ein kleineres Kästchen gelegt, das permanent in der Bildmitte bleibt. Der Hintergrund des Kästchens ist blau mit einem Gitternetz aus weißen Linien. Es zitiert den Bildhintergrund der frühesten filmischen Bewegungsstudien, die der Engländer Eadweard Muybridge (1830-1903) durchgeführt hatte.26 In dem Kästchen stehen wie in den kurzen Filmsequenzen nackte Menschen, die durch harte Filmschnitte um je 90 Grad um die eigene Achse gedreht und von hellen, horizontalen Lichtstreifen ‚gescannt‘ werden, die Haare der Personen werden von Wind bewegt. Sie wirken wie Seelen, die in Übersteigerung von Verbrecherfotos frontal, im Profil und rückseitig abgelichtet, auf ihre Sünden hin durchleuchtet und in einem modernen, gefängnisartigen Aufzug in die Hölle transportiert werden. Am Ende des Vorspanns werden wie auf einem Buchumschlag der Name des Autors und der Titel der Vorlage ein- und übereinandergeblendet: „DANTE / THE INFERNO“. Nach einer kurzen Schwarzpau26

Eadweard Muybridge wurde berühmt für seine sehr frühen filmischen Aufnahmen, u. a. von einem schreitenden Mann auf einer Treppe oder von laufenden Tieren, die Phillips schon in seinem Inferno-Buch verarbeitet hatte und die Greenaway und Phillips mehrfach im Film zitieren.

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se – das Pendant einer Leerseite – erscheint vor dem schwarzen Hintergrund ein kleineres, grau umrandetes Kästchen mit dem Kopf von Tom Phillips. Er spricht das Motto: „A good old text always is a blank for new things.“ Im Anschluss daran folgt die eigentliche Verfilmung des InfernoTextes. In der Buchfassung ist die Nummer des Gesangs über dem jeweiligen canto angegeben. Ebenso zeigen Phillips und Greenaway keinen durchgängigen Film, sondern trennen die Gesänge mit den Computerschrift-Anzeigen „Canto I“, „Canto II“ etc. ab. Die formale Einteilung des Textes bleibt sichtbar. Innerhalb der Canti arbeiten Greenaway und Phillips mit zwei unterschiedlichen Textebenen: Auf einer ersten Ebene haben sie den gedichteten Text des Inferno verfilmt; auf einer zweiten Ebene werden über dem Haupttext wie Fußnoten in kleineren Kästchen immer wieder Kommentatoren eingeblendet. Bevor ich weiter unten auf die Verfilmung des Haupttextes eingehe, seien zunächst die Fußnoten-Kästchen erläutert. Angelehnt an die Editionstradition der Divina Commedia imitieren Greenaway und Phillips mit den Kommentatoren-Kästchen den ausführlichen Anmerkungsapparat, mit dem der mittelalterliche Text philologisch bzw. kultur- und literarhistorisch kommentiert wird. In seinem Dokumentarfilm Four American Composers (1983) hatte Greenaway bereits mit Bildschichtungen, die an Hypertextstrukturen erinnern, experimentiert; später hat er sie in Prospero’s Books und A Pillow Book wieder verwendet. Die Kommentatoren-Kästchen sind verschiedenfarbig gerahmt und mit kleinen römischen bzw. arabischen Ziffern versehen. Die Farben und Ziffern entsprechen der Struktur der neun Höllenkreise: Von Canto I bis Canto III, in denen der Eintritt Dantes in die Unterwelt und sein Gang durch die Vorhölle beschrieben wird, sind die Kästchen weiß und tragen römische Ziffern; ab dem ersten Höllenkreis sind sie grün mit arabischen Ziffern ab 101 (also: 101, 102, 103 etc.), für den zweiten Höllenkreis blau mit Ziffern ab 201, für den dritten gelb (301ff.), für den vierten hellbraun (401ff.) und für den fünften, mit

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dem der Film endet, dunkelbraun (501ff.).27 Dass die Ziffern ab dem ersten Höllenkreis mit Hunderterzahlen beginnen, hängt offensichtlich mit dem Wunsch zusammen, sie eindeutig dem ersten, zweiten, dritten etc. Höllenkreis zuzuordnen; auch wenn die volle Anzahl nicht ausgenutzt wird, könnten bis zu 99 klar zuzuordnende Kommentare pro Gesang eingefügt werden.28 In den Fußnoten-Kästchen sind die Köpfe von Kommentatoren zu sehen, die wie Fernsehsprecher frontal dem Publikum zugewendet sind. Über und unter den Kästchen stehen, vergleichbar bibliographischen Angaben, ihr Name und Beruf (u. a. „Peter Attenborough / Naturalist“; „David Rudkin / Classicist“; „Olaf Pederssen / Astronomer“), was sie als reale akademische Autoritäten ausweist. Harte Filmschnitte markieren, wie Auslassungspunkte in akribisch genauen, wissenschaftlichen Zitaten, Kürzungen in den Interviews mit den Kommentatoren.29 Hinter den Sprechern werden Ausschnitte aus der Verfilmung des Haupttextes wiederholt, oder es werden Objekte gezeigt, auf die die Sprecher Bezug nehmen. Wie Fußnoten hinter bestimmte Wörter und Sätze gesetzt werden, wird auch hier das Bezugsobjekt klar angegeben und erklärt. Mit den Fußnoten erproben die Künstler einen alternativen Darstellungsmodus für die sonst üblicherweise linearen und eindimensionalen Film-Erzählungen, außerdem statten sie den Film mit einem für Greenaway typischen seriellen Ordnungsmuster aus. Allerdings sind die Fußnoten im Film nicht wie in kritischen Textausgaben dazu gedacht, ein möglichst umfassendes Verständnis des Haupttextes zu ermöglichen; sondern sie sind wohl in erster Linie eine Strukturremi-

27

Die Farben der Kästchen stimmen dabei nicht den Farben der ‚Höllenkreise‘ im Vorspann überein. Im Unterschied zu Dante ziehen die Regisseure die Lauen der Vorhölle mit den Ungetauften im Limbus als ersten Höllenkreis (Inf. IV) mit der Farbe Grün zusammen.

28

Petra Missomelius’ These, dass mit den Kommentatoren-Kästchen „Greenaway die nur scheinbare Systematik wissenschaftlicher Anordnung“ demaskiere, könnte die dem Film eigene Logik noch stärker berücksichtigen (Petra Missomelius: „Palimpsest und Oberfläche: A TV Dante“. In: Deutsches Dante Jahrbuch 82 (2007), S. 161-173. Hier: S. 167.).

29

Vgl. dazu auch Phillips: Works and Texts, a. a. O., S. 243.

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niszenz an kommentierte Buchausgaben der Divina Commedia. Daher greift die Deutung der Kommentare von Angela Krewani als „Parodie textwissenschaftlicher Exegese“30 möglicherweise ebenso zu kurz wie die kritische Einschätzung in einem Aufsatz von Andrew Taylor:31 Unfortunately, the ‚visual commentary‘ provided by A TV Dante is unlikely to satisfy the fastidious tastes of the academic audience whom it addresses since, as Amilcare Iannucci notes, the televised Lectura Dantis produced by RAI in 1988 had not even been able to do that with its use of eminent Dantisti such as Nino Borsellino and Giorgio Petrocchi. […] The arbitrary selection of these ‚talking heads‘ cannot fail to disappoint the academic viewer of A TV Dante since their expertise is less than that of the specialist audience they address.

Meines Erachtens geht es den Regisseuren mit dem Einsatz der Kommentatoren nicht so sehr um die Vermittlung umfassenden Wissens zur Divina Commedia. Vielmehr haben sie als Fußnoten innerhalb der adaptionseigenen Logik der Übertragung einer Buch-Struktur in einen Film einen völlig plausiblen, und zwar vor allem formalästhetischen Wert. Strukturalistische Übersetzung Neben der filmischen Imitation buchtypischer Elemente nutzten Tom Phillips und Peter Greenaway bei der Produktion von A TV Dante ein weiteres Gestaltungsmittel, um ihre Leitideen im Film zu realisieren: Sie übertrugen den Text der Dichtung in eine strukturalistisch-symbolhafte Filmsprache. Bei der Verfilmung des Textes von Dantes Inferno orientierten sich Phillips und Greenaway wiederum an Phillips’ Künstlerbuch. So, wie dort auf einer Seite die englische Versübersetzung von Tom Phillips abgedruckt ist, die auf der anderen Seite von seinen Illustrationen

30

Angela Krewani: „Peter Greenaways TV Dante: Literarische Videoästhetik fürs Fernsehen“. In: Julika Griem (Hg.): Bildschirmfiktionen. Interferenzen zwischen Literatur und neuen Medien. Tübingen: Narr, 1998. S. 257.

31

Taylor, a. a. O., S. 148.

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flankiert wird, so stehen auch in A TV Dante Text und Film nebeneinander und gehören doch zusammen. Während des gesamten Films, und nur unterbrochen durch die Fußnoten-Kommentatoren, rezitieren Bob Peck in der Rolle des Dante und Sir John Gielgud als Vergil sowie wenige weitere Einzelfiguren die leicht gekürzte Inferno-Übersetzung von Tom Phillips.32 Die Sprecher werden im Verlauf des Films für kurze Sequenzen eingeblendet; ihre Gesichter treten scharf aus einem schwarzen Hintergrund hervor, und sie sprechen den Zuschauer wie Nachrichtensprecher frontal an. Die Aufmerksamkeit der Zuschauer wird auf den Wortlaut der Dichtung gelenkt, der ursprüngliche Charakter des Inferno als Sprachkunstwerk bleibt präsent. Bevor die Sprecher zum ersten Mal in Canto I auftreten, ist eine goldene Büste der Totenmaske von Dante Alighieri zu sehen, die in das Gesicht von Bob Peck übergeht; den Zuschauern soll möglicherweise suggeriert werden, dass im Film Dante und mit ihm die Dichtung zu ‚neuem Leben‘ erweckt werden. Über die Rezitation des Textes haben Phillips und Greenaway ihre Verfilmung des Inferno-Textes gelegt. Für die Verfilmung verwendeten sie v. a. drei Materialien: Erstens benutzten die Künstler verstreutes Film- und Tonmaterial. Sie beauftragten einen Mitarbeiter damit, in einem niederländischen Archiv nach Ton- und Filmdokumenten zu suchen, die zu ihren relativ offenen Angaben (z. B. „eye surgery“; „military women“)33 passen. Aus diesem Material, das u. a. Auszüge 32

Im Pilotfilm hatte Phillips selbst noch alle Sprecherrollen mit Ausnahme der Beatrices übernommen. Für die Besetzung der Hauptrollen im anschließenden Film-Projekt war über Stars wie Clint Eastwood und Max von Sydow diskutiert worden, was letztlich so jedoch nicht realisiert wurde. Phillips: Works and Texts, a. a. O., S. 238; 240.

33

Ebd., S. 243. – Vgl. Phillips zur Musik: „Although the soundtrack was being prepared all the time we were editing, it inevitably became somewhat of a poor relation to the screen imagery. In what was an amazingly harmonious collaborative relationship between two opinionated artists we only had two running disputes. One if concerned the presence of music. I maintained that it was axiomatic that Hell itself was devoid of music, although references to the outside world could of course have a musical content. Peter felt justifiably, that composed music would contribute to the atmosphere of the film. In the end we found a compromise

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aus Natur-, Dokumentar- und Spielfilmen, historisches Filmmaterial und vieles mehr umfasste, collagierten sie die Filmbilder, die sie benötigten. Zweitens drehten sie kurze, technisch nachbearbeitete Spielfilmsequenzen, in denen nackte Darsteller die Höllenstrafen darstellen. Unter anderem laufen die ‚Geizigen und Verschwender‘ des vierten Höllenkreises wie Wellen in Halbkreisen aufeinander zu und prallen dann wieder voneinander ab; die Kreisbewegung der Leiber wird durch Bildspiegelung hervorgerufen. Und drittens gebrauchen sie computergenerierte Schrift- und Bildzeichen, beispielsweise die Lettern ‚LOVE‘ oder ein gelb leuchtendes Dreieck. Aus diesem Material fügten Phillips und Greenaway ihre TextVerfilmung zusammen. Die Art ihrer Verfilmung lässt sich am besten als ‚strukturalistisch-symbolhafte Übersetzung‘ der Textvorlage verstehen:34 In ihrer Verfilmung des Inferno bilden Phillips und Greenaway einige Grundaussagen des Textes in ‚zeichenhaften‘ Film- und Tonsequenzen ab. Diese zeichenhaften Grundeinheiten kann man als bildhafte bzw. akustische ‚Vokabeln‘ begreifen. Die Zeichen sind grundsätzlich ‚symbolhaft‘ und ihre Bedeutung dadurch relativ leicht erkennbar; anders als bei ‚rein abstrakten‘ Zeichen im engeren Sinn, bei denen zwischen Bezeichnetem und Bezeichnendem kein Wesenszusammenhang besteht, ist bei einem Symbol ein gewisser Ähnlichkeitsbezug zwischen seiner Form und dem Gemeinten vorhanden

by restricting ourselves to the use of sound from our source material, which with the odd tape-loop (and a tinny I made up on a synthesizer) gave us our sound world. As with the picture there are recurrent motifs; the noise of the cardiogram, a speeded up tape-loop of plainsong (a kind of nimbus for Beatrice and other heavenly agencies) etc. The use of words themselves as a concrete sound motif was another fruitful, if slightly underexplored device […]“. Ebd., S. 244. 34

Frühere Interpreten, insbesondere Tracy Biga und Nancy Vickers, haben den Übersetzungsbegriff in die Deutung von A TV Dante eingeführt. Mit Ausnahme von Nancy Vickers, die den Gedanken für die Integration von Bildern und Filmen Eadweard Muybridges ausführt, wurde er bisher noch nicht als Basis für eine gründlichere Strukturanalyse des Films herangezogen, so dass viele Elemente der Tiefenstruktur bisher unbemerkt blieben. Tracy Biga: Cinema Bulimia. Peter Greenaway’s Corpus of Ecxess. Univ. Diss., University of Southern California, 1994. Vickers a. a. O.

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(vergleichbar der Abbildung einer stilisierten Frau mit Kind auf blauem Untergrund auf Fußweg-Schildern im Unterschied zu gelb-weißen Vorfahrtsschildern). Um die Zeichenhaftigkeit der Bilder und Filmausschnitte zu markieren – d. h. die gezeigten Dinge stehen eben nicht für sich selbst, sondern verweisen auf etwas Anderes – werden sie technisch verfremdet oder ‚abstrahiert‘. Das geschieht unter anderem durch künstliche Farbveränderungen, Detail-Ausschnitte größerer Bilder, Zooms, Zeitraffer, slow motion, Loops, Doppelungen, Spiegelungen, Rahmungen etc. Je nach Kontext kehren die filmischen Vokabeln entweder identisch oder leicht verändert wieder, d. h. sie werden ‚strukturalistisch‘ eingesetzt. Metaphorisch könnte man von einer ‚Flexion‘ bzw. einer ‚Film-Grammatik‘ sprechen. Canto I beispielsweise beginnt, noch bevor die Rezitation des Textes einsetzt, mit collagierten Ultraschallaufnahmen (Abb. 6). Als erstes Bild haben Phillips und Greenaway den Rahmen eines Ultraschallbildes gewählt. Auf einer schwarzen Bildfläche ist mit kleinen weißen Computerbuchstaben im linken oberen Eck der Name des Krankenhauses vermerkt, in dem die Aufnahme gemacht wurde („Canisius Wilhelmina Zieckenhuis“), rechts oben das Datum der Aufnahme („05.08.87“) sowie oben und unten weitere Kürzel und Ziffern, die wohl technische oder medizinische Bedeutung haben. Unter dem originalen Patienten-Namen ist mit ähnlicher Maschinenschrift „ALIGHIERI D.“ eingefügt. Nach einem kurzen Moment erscheint in der linken Bildmitte ein schwarz-weißer Ultraschallkreis, in dem mit gelben Großbuchstaben „THURSDAY / APRIL 18:00“ angezeigt wird. Die Schrift verschwindet und wird von zwei sich schnell und wie bei einer Uhr drehenden Zeigern abgelöst. Dort, wo bei einer Uhr die Ziffern Drei, Sechs und Neun stehen, sind es hier „0“, „35“, „>70“. Der langsamere der beiden Zeiger bewegt sich von 0 bis 35. Gleichzeitig erscheint rechts das trichterförmige Ultraschallbild einer Echokardiographie, in dem der Herzschlag aufleuchtet, und im linken unteren Bildrand befindet sich die regelmäßige Herzlinie eines EKG. Im Hintergrund sind das schnelle Piepen einer Herzmaschine sowie Verkehrslärm und Hupen zu hören.

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Abbildung 6: Filmsequenz aus A TV Dante (Canto I)

Mit der ersten Filmsequenz in Canto I wird die Eröffnungszeile der Divina Commedia visualisiert: „Nel mezzo del cammin di nostra vita“, auf Deutsch: „Grad in der Mitte unsrer Lebensreise“. Dante bezieht sich an dieser Stelle wohl auf das ideale biblische Alter eines Menschen von 70 Jahren.35 Mit dem runden, uhrähnlichen Ultraschallbild und dem Zeiger auf der ‚biologischen Lebensuhr‘ machen Phillips und Greenaway die Lebensmitte des fiktiven Dante, sein Alter von 35 Jahren, sichtbar. Im Kreis sind der angenommene Tag und die Uhrzeit, zu der Dante für die Jenseitswanderung aufbricht, angegeben. Der Herzschlag in der Echokardiographie verweist auf seinen psychophysischen Zustand. Nach der Ultraschallsequenz erfährt der Zuschauer, dass sich Dante in einem Zustand der Angst und inneren wie äußeren Verwirrung befindet (Inf. I, 1-6): Just halfway through this journey of our life I reawoke to find myself inside a dark wood, way off course, the right way lost. How difficult a task it is to tell what this wild, harsh, forbidding wood was like the merest thought of which brings back my fear; […]

35

Vgl. u. a. Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie. Deutsch und Italienisch. Übersetzt und kommentiert von Hermann Gmelin. München: dtv, 1988. Bd. 4: Kommentar Inferno, S. 26.

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Nicht nur am Beginn von Canto I, sondern an mehreren weiteren Stellen im Film setzen Phillips und Greenaway den Kreis, den kardiologischen Trichter, die Herzlinie und das Piepen der Herzmaschine ein. Die Herzfrequenz tritt auf, wenn von Dantes Gefühlen die Rede ist. Unter anderem wird parallel zu der letzten oben zitierten Verszeile der kardiologische Trichter gedoppelt gezeigt; er symbolisiert die zweifache, früher erlebte und gegenwärtig erinnerte, Angst Dantes. Nur wenig später, wenn im Text erzählt wird, wie Dante dem Leoparden begegnet, läuft am unteren Bildrand eine weit ausschlagende, unregelmäßige Herzlinie. Am Beginn von Canto II kehrt der vergrößerte Trichter mit einer etwas unregelmäßigen Herzlinie und dem Maschinenpiepen wieder, wenn Dante angstvoll darüber sinniert, dass er allein sich nachts auf seinen Weg durch die Hölle vorbereiten muss, während alle anderen Lebewesen schlafen. Mit dem Kreis wird hingegen wie schon in Canto I stets auf Zeitangaben verwiesen. Unter anderem wird er mit den Ultraschallbildern in der collagierten Sequenz am Beginn von Canto II verwendet, in ihm steht eine neue Datumsanzeige („GOOD FRIDAY / APRIL 8 18:00“), die die inzwischen vergangene Zeit symbolisiert, von der der Erzähler im Text spricht. Bestimmte Zeichen stehen in der Text-Verfilmung also symbolhaft für ähnliche Inhalte, in beinahe jeder Filmsequenz lassen sich neue Beispiele dafür finden. Für die Darstellung von Charon und Phlegyas etwa, die die Seelen mit ihren Kähnen über die Unterweltflüsse Acheron und Styx fahren (Inf. III und VIII), fügen Phillips und Greenaway zweimal dieselben, geloopten und zunehmend gezoomten Bildsequenzen einer schwarz-weißen und ins farbnegativ verkehrten Filmaufnahme eines bärtigen Ruderers ein. Offenbar kommt es ihnen hierbei nicht auf eine diversifizierende Darstellung der mythologischen Figuren an, sondern allein auf deren zeichenhaften Abbildung in ihrer Funktion als Ruderer. Oder sie benutzen Radarbilder, die mit fünf konzentrischen Kreisen und punktförmigen Bewegungen (meist) göttliche Elemente symbolisieren: „A Marconi radar film of aeroplanes circling about an airport gave us, with concentric circles and an aetherial blips of movement, the ideal image of medieval cosmology, complete with angels in flight.“36 Die Radarkreise treten daher immer dann auf, wenn im Text von Gott oder etwas Göttlichem die Rede ist. Sie dienen auch als Heiligenscheine im Hintergrund der Gesichter von

36

Phillips: Works and Texts, a. a. O., S. 243.

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Beatrice, Maria und Lucia, die in der Erzählung der Divina Commedia vom Himmel gesandt wurden, um Dantes Rettung zu bewirken (Ende von Inf. II). Und sie umkreisen eine Schauspielerin, die die von Dante als Schöpfung Gottes christlich ausgedeutete, allegorische Gestalt der Fortuna darstellt.37 In etwas anderer Bedeutung verwenden Greenaway und Phillips die in diesen Fällen nicht mehr frontal, sondern in der Schräge eingefügten Radarbilder als Zeichen für die von Gott geschaffenen Höllenkreise bzw. auch als ‚echten‘ Radar, wenn am Beginn von Canto VIII berichtet wird, wie sich Phlegias’ Kahn den Wanderern nähert. Ebenfalls wie im Künstlerbuch übertragen Phillips und Greenaway zwar nicht durchgängig, aber immerhin punktuell die Polysemie von Dantes Dichtung in ihre Adaption. Im Postscript des Films erläutert Phillips, wobei er sich auf Dantes berühmten Widmungsbrief für das Paradiso an seinen Gönner Cangrade della Scala bezieht:38 Dante, in a letter to his patron says. ‚The work I have made is not simple; rather it is polysemous, by which I mean that it has many levels of meaning‘. The intention here was to try to match Dante’s claim in visual terms, to have the richness of an illuminated manuscript combined with the directness and impact of a newspaper’s front page. We also aimed to carry Dante’s three levels of meaning (outlined in the same letter quoted above). The first level is the Literal, by means of the actors and the simple actions of events. The second, [sic] is the Allegorical, by the addition of imagery that throws light on the text from different angles. The last level that Dante mentions is the Anagogical (meaning the mysterious resonance with existential truth). We hope that, when we’ve got things right, this unsayable essence inhabits the texture of the work itself. [Den vierten, moralischen, Sinn, den Dante angelehnt an den vierfachen Schriftsinn der mittelalterlichen Bibel-Exegese für die Lektüre der Divina Commedia fordert, lässt Phillips hier außer Acht. TK]

37

Vgl. Inf. VII, 73ff.: „Colui lo cui saper tutto trascende, / Fece li cieli e diè lor chi conduce / Sì, che ogni parte ad ogni parte splende, / Distribuendo egualmente la luce: / Similmente agli splendor mondani / Ordinò general ministra e duce / Che permutasse a tempo li ben vani / Di gente in gente e d’uno in altro sangue“.

38

Phillips: Works and Texts, a. a. O., S. 246.

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Besonders deutlich wird das Verfahren in Canto I, wenn Dantes Begegnung mit den drei wilden Tieren Leopard, Löwe und Wölfin beschrieben wird. Die dazugehörige druckgrafische Illustration aus Phillips’ Buch habe ich weiter oben skizziert, ein Vergleich von Bild und Film bietet sich an. Während der Text gesprochen wird, „an agile leopard moving at full speed“ (Inf. I, 32), zeigt der Film in einer Fernaufnahme einen Leoparden in vollem Lauf. Der Text geht weiter, „and covered with a coat of spotted fur!“ (Inf. I, 33). In der darauffolgenden Einstellung ist in einem kleineren und einem größeren Kästchen dieselbe, einmal seitenverkehrt gespiegelte Großaufnahme eines Leopardenfells zu sehen. In einem Fußnoten-Kästchen, in dessen Hintergrund Naturfilmausschnitte von Leoparden-Familien eingespielt werden, erklärt der Kommentator Peter Attenborough die allegorische Bedeutung des Leoparden: „The leopard was thought to be an offspring of the union of a lion and a panther. Sprung from two different parents, the animal leopard might be regarded as the specifical symbol of sexual lust.“ Nach dem Kommentar hört man erotisches Frauengelächter. Zu den nächsten Versen, „It wouldn’t go from me but faced me out / and blocked my progress so insistently / I turned and turned in order to head back.“ (Inf. I, 34-6), werden in einem kleineren Kästchen in der Bildmitte die geloopten und abwechselnd nach rechts und links gedrehten Aufnahmen eines sich auf den Betrachter zu bewegenden Leoparden gezeigt, dahinter befindet sich in einem größeren Kästchen nach wie vor das groß gezoomte Leopardenfell. Am Ende der Verse bleibt die Großbildaufnahme des Leopardenfells im Hintergrund stehen. Zentral vor diesem wird wieder in einem kleineren Feld die Aufnahme eines Löwen gezeigt, der in einer zweimal – einmal schnell und einmal langsam – hintereinander abgespielten Schwarz-Weiß-Aufnahme auf den Zuschauer zuzulaufen scheint („He seemed to come straight at me“, Inf. I, 45). Auch dieser bleibt, dann rötlich gefärbt, als screenshot im Hintergrund, während Peter Attenborough in einem Kommentatoren-Feld erläutert, dass Löwen seit der römischen Antike nach Europa importiert wurden und Dante sicherlich einmal einen gesehen hatte. Hinter Attenborough laufen wiederholte Filmsequenzen ab, in denen ein Löwe durch einen brennenden Reifen springt. Und drittens folgen vor den beiden Bildfeldern – Leopardenfell und Löwe – in einem dritten, noch kleineren Feld die geloopten und lila-grünlich eingefärbten Muybridge-Bilder eines rennenden Hundes. Atten-

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borough weist darauf hin, dass Wölfe im Mittelalter als wilde Hunde gesehen wurden, die die Zivilisation verlassen hätten.39 Das FußnotenKästchen enthält Ausschnitte aus einem Naturfilm mit Wölfen im Schnee. Abschließend erklärt Tom Phillips in einem KommentatorenKästchen vor dieser ‚tierischen Trinität‘ (vgl. Abb. 7) eine mögliche allegorische Bedeutung der Szene: „The trinity of beasts represents the levels of sin: the leopard, the superficial sins of flesh and concupiscence; the lion, the sins of ambition and pride; and the she-wolf, the deep-seated sins of envy and malice.“

Abbildung 7: Filmsequenz aus A TV Dante (Canto I)

Die übertragene Sinnhaftigkeit der Tiere – incontinentia, malitia und feritas / matta bestialitade – gestalten die Regisseure also durch die Bildschichtung von drei übereinanderliegenden und unterschiedlich großen Kästchen, die der Abfolge der Sünden im Inferno und dem sich räumlich nach unten verengenden Höllentrichter entsprechen. Die Auswahl der Naturfilm-Sequenzen hinter den Kommentatoren sind womöglich ebenfalls auf die innere Gliederung der Hölle abgestimmt: Die mittelschweren Sünden werden im Inferno meist mit Feuerstrafen belegt, die Sünder darben in einem kochenden Blutstrom, in einer Feuerwüste, in brennenden Gräbern oder haben brennende Fußsohlen; die Löwen springen durch Feuerreifen. Die schwersten Sünden hingegen werden im ewigen Eis des Höllensees Kokytus gesühnt, in den die 39

Phillips deutet das selbst: „The lion appears abruptly in a head-on leap to emphasise the confrontational aspect of aggression.“ Ebd., S. 244.

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Schattenleiber der Seelen eingefroren sind; und auch die Wölfe befinden sich in einer eisigen Schneelandschaft. Innerhalb der strukturalistisch-abstrahierenden Verfilmung aktualisieren Tom Phillips und Peter Greenaway an manchen Stellen das mittelalterliche Inferno. Wie im Künstlerbuch – ich hatte das Beispiel der Geschlechtertürme in Florenz und der Hochhäuser in New York angesprochen – sind die Aktualisierungen weitgehend assoziativ gearbeitet. Unter anderem verwandeln Phillips und Greenaway den von Dante in den Eingangsversen genannten ‚wilden Wald‘, in dem er sich verirrt, in Filmaufnahmen mit nächtlichen Straßen und Hochhäusern, Verkehrslärm und aufreizendem Frauengelächter; sie können, so die implizite Deutung, ähnliche Verirrungen hervorrufen wie der dunkle Wald in der Dichtung. Am Beginn von Canto II wird das Gesicht Joanne Whalleys mit denen von Filmstars wie Marilyn Monroe, Louise Brooks, Joan Crawford und Jean Harlow überblendet, wodurch ein Vergleich von der entfernten, anhimmelnden Liebe Dantes zu Beatrice zur modernen Star-Verehrung gezogen wird.40 Im dritten Gesang, der von den lauen Seelen handelt, also jenen, die weder gut noch schlecht waren, wird Dantes kryptischer Hinweis auf einen ‚Papst, der die große Weigerung beging‘ modernisiert. Dante bezieht sich, ohne ihn namentlich zu nennen, auf Papst Coelestin V. (5.7.-13.12.1294), der kurz nach seiner Wahl als Pontifex sein Amt wieder abgegeben und den Platz für den von Dante gehassten Bonifaz VIII. (1294-1303) frei gemacht hatte. Durch eine mehrfache Bildschichtung, bei der im Hintergrund Filmaufnahmen deportierter Juden und im vordersten Bild Aufnahmen von Papst Pius XII. (1939-58) zu sehen sind, wird der mittelalterliche Papst strukturell mit seinem modernen Amtsnachfolger gleichgesetzt, der mit seiner abwägenden Haltung während des Zweiten Weltkrieges nicht explizit Stellung für die verfolgten Juden bezogen hatte. Wie bei den Illustrationen von Tom Phillips gibt es im Film nur einzelne, isolierte Aktualitätsbezüge. Für die Aktualisierungen haben Greenaway und Phillips hochgradig symbolische und damit schnell wiedererkennbare und verstehbare Bilder gewählt, die auf strukturellen Ähnlichkeiten mit Aussagen des Ausgangstextes beruhen und sie als modernisierte ‚Zeichen‘ abbilden. Mit den punktuell-assoziativen 40

Ebd., S. 240.

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Aktualisierungen wird das Inferno zwar auf mögliche moderne Bedeutungsfacetten abgeklopft, aber nicht systematisch mit Bezug auf die Gegenwart interpretiert oder über Dantes System aus Sünde und Bestrafung gar tiefgreifende Kritik an der heutigen Gesellschaft geübt.41 Meines Erachtens stehen die Aktualisierungen im Dienst eines antiillusionistischen und auf eine äußere Ästhetik konzentrierten künstlerischen Ansatzes, den Greenaway folgendermaßen formuliert hat:42 Mein Interesse an Kino hat sehr viel mit Ästhetik zu tun und ganz sicher nicht mit Politik. Allerdings bin ich mir bei dieser Aussage natürlich bewusst, daß es kaum möglich ist, drei Wörter aneinanderzureihen oder eine Handlung zu entwerfen, ohne damit auf irgendeine Art und Weise implizit politisch zu sein. Was ich mache, sind Kunstprodukte. Es sind keine Ansichten über die Welt, keine Ausschnitte aus dem Leben, vielmehr künstliche Kreationen, und ich möchte, daß sich das Publikum beim Zuschauen immer der Tatsache bewußt ist, daß es ein Kunstprodukt vor Augen hat. […] Ich hasse schon die bloße Andeutung, ich könnte didaktisch oder polemisch sein oder eine Botschaft haben.

3

AUFNAHME : S TIMMEN ZUM F ILM

Mit ihrer Verfilmung von Dantes Inferno in A TV Dante ist es Peter Greenaway und Tom Phillips gelungen, eine ganz neue Adaptionsstruktur zu schaffen. Diese unterscheidet sich wesentlich von früheren Bearbeitungen der Divina Commedia für den Film. Während der gut einhundertjährigen Geschichte der DanteVerfilmungen war und ist bis heute die dramatisierende (Spielfilm-) Adaption die absolut dominante Rezeptionsweise:43 Derartige Adapti41

Krewani, a. a. O., S. 259.

42

Lüdecke, a. a. O., S. 224-5; 228.

43

Zur Dante-Rezeption im Film, die bis heute erst ansatzweise erforscht ist, vgl. insbesondere folgende Publikationen: Gianfranco Casadio (Hg.): Dante nel cinema. Ravenna: Longo, 1994. Vittoria Colonnese Benni: Dante nel cinema dal muto al digitale. Toronto: Univ. Diss., 1999. Amilcare Iannucci: „From Dante’s Inferno to Dante’s Peak. The Influence of Dante on Film“. In: Forum Italicum 32 (1998). S. 5-35. Und ders.: Dante, Cinema, and Television. Toronto: Univ. of Toronto Press, 2004. Eine

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onen liegen etwa bei Episodenverfilmungen vom Beginn bis Mitte des 20. Jahrhunderts vor.44 Nur wenige Jahre nach Erfindung des Films (1895 hatten die Brüder Lumière in Frankreich die ersten bewegten Bilder gezeigt) und in einer Zeit der massenhaften Dante-Rezeption im Theater, wurden – angelehnt an die üblichen Adaptionsformen im Drama – immer wieder einzelne, in sich geschlossene Episoden der Divina Commedia dramatisierend verfilmt. Die Schwerpunkte lagen dabei insbesondere auf der Liebesgeschichte von Paolo und Francesca (Inf. V), der Episode des Grafen Ugolino im Hungerturm (Inf. XXXIIXXXIII) und derer der Pia de’ Tolomei (Purg. V). Die Episoden wurden aus dem Kontext der Jenseitswanderung herausgelöst und als tragische Einzelschicksale gezeigt. Weit seltener wurde auch die teils mythisierte, teils fiktionalisierte Romanze zwischen Dante und Beatrice aufgegriffen. Auch die seltenen Ganz-Verfilmungen entweder der Divina Commedia oder des Inferno setzen den Literalsinn der Textvor-

relativ umfassende, aber keineswegs vollständige Auflistung existierender Film-Adaptionen, teilweise mit Abbildungen von Filmplakaten, Fotografien und kurzen Inhaltszusammenfassungen findet sich im Internet unter: www.cinemedioevo.net. 44

Vgl. u. a. William V. Ranous: The two brothers – Francesca da Rimini, USA 1907; Mario Marais: Francesca da Rimini, Italien 1908; Stuart Blackton: Francesca da Rimini, USA 1910; Ugo Falena: Francesca da Rimini, Italien 1912; Ubaldo Maria del Colle: „La bocca mi bacciò tutto tremante“, Italien 1912; u. a. Mario Volpe / Carlo Dabbani: Francesca da Rimini, Italien 1922; Aldo de Benedetti: Francesca da Rimini, Italien 1926; Raffaele Matarazzo: Paolo e Francesca, Italien 1950. – Giuseppe de Liguoro: Il conte Ugolino, Italien 1907; Giovanni Pastore: Il conte Ugolino, Italien 1909; Riccardo Freda: Il conte Ugolino, Italien 1949. – Mario Camerini: Pia de’ Tolomei, 1908; Gerolamo Lo Savio: Pia de’ Tolomei, 1910; Giovanni Tannini: Pia de’ Tolomei, 1921; Esodo Pratelli: Pia de’ Tolomei, 1941; Sergio Greco: Pia de’ Tolomei, 1958 (alle Italien). – Mario Caserini: Dante e Beatrice, Italien 1912; Herbert Brenon: Beatrice, Italien 1919; Luigi Sapelli: La mirabile visione, Italien 1921; Domenico Gaido: Dante nella vita dei tempi suoi, Italien 1922. Die Filme sowie der Zusammenhang mit den Theater-Adaptionen jener Jahre wurden bisher noch kaum untersucht.

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lage meist als Spielfilm um.45 Dies ist beispielsweise in der für ihre technischen Spezialeffekte berühmten Version L’Inferno Giuseppe de Liguoros aus dem Jahr 1911 der Fall. Im Film werden die wichtigsten Etappen von Dantes Höllenwanderung inszeniert, wobei sich die Bildgestaltung deutlich an den berühmten Illustrationen Gustave Dorés orientiert.46 Daneben existieren jedoch auch Verfilmungen, die sich inhaltlich von der Vorlage entfernen. So wurde die Divina Commedia beispielsweise in einigen italienischen Totó- oder Maciste-Filmen humoristisch verarbeitet.47 Gianni Vernuccio nahm sich 1971 noch einmal der berühmten Episode von Paolo e Francesca an, verlegte den Plot aber in die damalige Gegenwart. Und 1974 drehte Michael Meschke (* 1931) den 80minütigen Spielfilm Il Purgatorio, der von einem Schriftsteller und Intellektuellen handelt, der im Zuge einer midlife crisis über seine politische Einstellung, Selbstmordversuche und eine gescheiterte Ehe sinniert. Versunken in eine Art halluzinatorischen Tagtraum begegnet er verschiedenen Personen aus Dantes Commedia (u. a. Ugolino und Beatrice). Durch die läuternde Kraft des Gesehenen scheint es, als ob er danach wieder zu neuer psychischer und physischer Stabilität gelangen könnte. Daneben wurden auch ausdrucksseitig andere Wege als die weitgehend ‚realistisch‘ gestalteter Spielfilme einschlagen: 1955 realisierte der englische Bildhauer und Skulpteur Peter King (1928-57) einen Schattenfigurenfilm von 20 Minuten Dauer, 13 Cantos of Hell, in denen er das Geschehen der ersten canti filmisch umsetzte. Mit seiner

45

Vgl. u. a. die heute nur noch fragmentarisch erhaltene Trilogie der italienischen Helios-Psyche-Studios von 1911-12. Vgl. Vittoria Colonnese Benni: „The Helios-Psiche Dante Trilogy“. In: Iannucci: Dante, Cinema & Television, a. a. O., S. 51-73; sie charakterisiert den Informationsstand über die Trilogie als „black hole in the history of early Italian cinema“ (S. 55).

46

2004 wurde der Film, unterlegt mit der Musik der Berliner New AgeBand Tangerine Dream, als DVD neu aufgelegt: Giuseppe de Liguoro: L’Inferno. Music by Tangerine Dream. Die Band Tangerine Dream hat alle drei Teile der Divina Commedia von 2001-05 vertont und in mehreren großen Konzerten zur Aufführung gebracht.

47

Guido Brignone: Maciste all’ Inferno (1926); Camillo Mastrocinque: Totò all’Inferno (1954); Riccardo Freda: Maciste all’ Inferno (1962).

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avantgardistischen Ästhetik – King schuf hochstilisierte, fast abstrakte Figuren, der Film war unterlegt mit rückwärts abgespielten Geräuschen (u. a. Babygeschrei) –, bricht er in ästhetischer Hinsicht mit vorherigen, auf Spielfilme beschränkte Adaptionsstrategien.48 Einen Weg hin zur völligen Abstraktion wählte Stan Brakhage, in dessen sechsminütigem Dante Quartett (1987) die Divina Commedia als Vorlage für ein rein aus Farbkompositionen gestaltetes Filmprojekt dient.49 Im weiten Feld der Divina Commedia-Verfilmungen haben Greenaway und Phillips also etwas gänzlich Neues geschaffen. Die ersten Reaktionen auf ihre Filmversion von Dantes Inferno waren äußerst gespalten.50 Auf der einen Seite schrieb etwa ein Rezensent für die London Times: „Nothing quite like it has been seen on television before.“51 Robert Köhler bezeichnete in einem Artikel für die Los Angeles Times die Adaption als einen neuen Meilenstein im Genre der Literaturverfilmung: „TV Dante is a delirious celebration of video art and a genuinely post-modern examination of Dante’s Inferno. […] It’s already a landmark in how video can interact with and enrich texts.“52 Und beim Montreal International Film and Video Festival 1990 und dem italienischen Filmfest in Urbino 1991 wurde der Film mit dem ersten Preis als beste Video-Produktion des Jahres bzw. dem Spezialpreis des Prix Italia ausgezeichnet. Auf der anderen Seite gab es aber auch kritische Stimmen. Im Gegensatz zu Robert Köhler, der die Verfilmung als eine künstlerisch

48

Der Film, der in der Dante-Forschung meines Wissens bisher noch völlig unbekannt ist, konnte ich im Dezember 2007 beim British Film Institut in London ansehen. Informationen zum Film u. a. auf http://www.kunst schau.at/peter-king/index.html, wo auch einige film stills zu sehen sind, die einen guten Eindruck vom Gesamtwerk vermitteln (dafür auf die ‚canti‘ klicken).

49

Der

Film

ist

einsehbar

unter

http://www.youtube.comwatch?v

=61SzOGVdOnk. 50

Weitere Stellungnahmen bei Taylor, a. a. O., S. 145.

51

xy: „Television Goes to Hell with Dante“. In: London Times, 28 Juli

52

Robert Köhler: „Breakthrough TV: A Thinking Person’s Festival“. In:

1990, S. 19d. Los Angeles Times, 31. Oktober 1990, S. F12.

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gelungene Bearbeitung von Dantes Inferno bewertete, die auf ihre Weise den Ausgangstext ‚bereichert‘, kommt David Wallace in einem kurzen Absatz über A TV Dante in The Cambrige Companion to Dante (1993) zu einem ganz anderen Ergebnis:53 Dante has now entered the television and video age, but not with any great conviction: the TV Dante of Peter Greenaway and Tom Phillips […] has some nice touches […], but seems likely to collapse of its own bombast and inertia. What gets lost or diminished in this orgy of flashing images is the word […].

Andrew Taylor, Dozent an der Oxford University, berichtet am Beginn seines Aufsatzes „Television, Translation, and Vulgarization: Reflections on Phillips’ and Greenaway’s A TV Dante“ von den negativen Rückmeldungen seiner Studenten über den ersten Teil des Films, den sie während der Ferien im Fernsehen gesehen hatten:54 When the term recommenced at Oxford the following October [1990], I remember that the four episodes were the subject of some comment in tutorials and not much of it was favourable! Of course, this negative reaction was the result of expectations of ‚textual fidelity‘ engendered by the long tradition of BBC literary adaptations, such as the recent productions of Sense and Sensibility and Middlemarch […]. In other words, viewers expected a dramatization of the Inferno complete with medieval costumes and macabre stage sets that would accurately reflect the images they first conceived when they read Dante in high school.

Er selbst war der Ansicht, dass diese Verfilmung zu ungewohnt und kompliziert für ein ‚normales‘ Fernsehpublikum sei („[…] the directors presume too much from a mass audience, which […] is accustomed to a quite different emphasis on character and plot in BBC literary adaptations“)55. Andrew Taylor gelangte daher zu dem Schluss:56

53

David Wallace: „Dante in English“. In: Rachel Jacoff (Hg.): The Cambridge Companion to Dante. Cambridge: Cambridge Univ. Press, 1993. S. 237-258. S. 255.

54

Taylor, a. a. O., S. 145.

55

Taylor, a. a. O., S. 147.

56

Ebd., S. 151.

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I have still not escaped the preference for BBC-style literary adaptations that are faithful to the spirit of the original. In my defence, I should explain that those painstakingly accurate BBC costume dramas are viewed in a very particular cultural context: usually at five o’clock on Sundays, to coincide with teatime, and just before the six o’clock religious service broadcasts, typically from a picturesque Anglican church in the countryside.

Ob Tom Phillips und Peter Greenaway mit ihrer Film-Adaption den Text von Dantes Inferno tatsächlich ‚bereichern‘ (Robert Köhler) oder seine Aussagekraft ‚vermindern‘ (David Wallace) bleibt letztlich wohl der individuellen Einschätzung jedes einzelnen Zuschauers überlassen. Meines Erachtens bleibt aber festzuhalten, dass die Künstler in A TV Dante-Cantos I-VIII ihre eigenen Leitideen konsistent umgesetzt haben: Sie haben eine filmische Neu-Edition von Phillips’ Künstlerbuch zu Dantes Inferno umgesetzt, die die Bindung an das Vorgängerwerk erkennen lässt. Ausgehend von Phillips’ Illustrationszyklus entwickelten sie dabei auch eine neuartige Adaptionsstrategie für eine literarische Textvorlage, bei der sie gerade nicht – wie etwa bei den BBCVerfilmungen Middlemarch oder Sense and Sensibility – den literarischen plot in eine filmische Erzählung umwandelten, sondern bei der sie den Text mit einem strukturalistisch orientierten Zugriff in eine symbolhafte Film-Sprache übertrugen. Im Zuge dessen haben Phillips und Greenaway auch die damals gängigen Ausdrucksformen des Fernsehens, insbesondere durch den Gebrauch von Hypertextstrukturen, experimentell erweitert. Insgesamt darf die Wahl von Dantes Inferno als Textvorlage, ähnlich wie die Novelle A Humument, letztlich als weitgehend zufällig angesehen werden. Sowohl Phillips’ Illustrationen als auch die Verfilmung waren ursprünglich Auftragswerke. Das Zufallselement als Teil dieser Adaption korrespondiert jedoch mit den künstlerischen Ansätzen von Phillips und Greenaway, die sich bei ihren Arbeiten vor allem auf die Strukturebene konzentrierten. Die dahinter liegende Grundannahme lässt sich mit Peter Greenaway selbst gewählter Maxime zusammenfassen: „Meiner Ansicht nach ist letzten Endes das einzig Bedeutsame jeder Art von Kunst ihre Form und Struktur und nicht ihr Inhalt.“57

57

Ebd., S. 242.

V Die Hölle im Radio Das Hörspiel Radio Inferno (1993) von Andreas Ammer und FM Einheit

Andreas Ammer (*1930) gehört zu den innovativsten und produktivsten Hörspielmachern im deutschsprachigen Raum.1 Seit seinem ersten Hörspiel, Orbis auditus. Das Lautlexikon. Eine Enzyclopädie der Geräuschkunst (BR, 1990), einer Collage aus historischen Radioaufnahmen, produzierte er rund 30 weitere Werke, für die er national und international vielfach ausgezeichnet wurde. 1993 veröffentlichte Andreas Ammer auch eine eigene Version von Dantes Inferno. Vor dem Hintergrund der spezifischen Ästhetik, die Andreas Ammers weitgehend experimentelle Hörspiele charakterisiert, wird in diesem Kapitel gezeigt, wie er in Radio Inferno Dantes fiktive Unterweltsreise in ein radiophones Hörkunstwerk umgestaltet.

1 G RUNDLAGEN DER H ÖRSPIELÄSTHETIK ANDREAS AMMERS Andreas Ammer hat Germanistik, Philosophie und Geschichte der Naturwissenschaften studiert und in germanistischer Literaturwissen1

Bisher wurden nur wenige wissenschaftliche Arbeiten zu den Hörspielen Andreas Ammers herausgebracht. Vgl. Christian Neuhauser: Radiokunst der 90er Jahre: Die Hörspiele von Andreas Ammer und FM Einheit. Magisterarbeit, Universität Erlangen 2000. Christine Ivanoviü: „BenjaminLoops. Pop im Hörspiel“. In: Neue Beiträge zur Germanistik, 5, 1 (2006), S. 70-88.

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schaft promoviert. Nach dem Studium war er zunächst für kürzere Zeit als Dozent an der Universität München tätig, bis heute arbeitet er als Rundfunk- und Fernsehjournalist (u. a. ist er seit 2003 Mitglied im Redaktionsteam der ARD-Literatursendung druckfrisch). Als Andreas Ammer mit seinen ersten Hörspielen an die Öffentlichkeit trat, vollzog sich im Hörspiel-Bereich gerade eine massive Trendwende. Bereits seit den 1920er Jahren, kurz nach der Erfindung des Radios, hatte es Hörspiele gegeben; erst in der Zeit unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg hatte sich das Hörspiel aber zu einem massenhaft rezipierten Kulturphänomen entwickelt. Kennzeichnend für das damalige ‚literarische‘ (auch ‚poetische‘ oder ‚erzählende‘) Hörspiel war, dass der Text vor Geräuschen oder Musik absolut im Vordergrund stand. Mit sprachlichen Mitteln wurde eine Geschichte erzählt, die Bindung an das Radio als Verbreitungsmedium wurde hingegen weitgehend ignoriert und die technischen Möglichkeiten bei der Hörspielproduktion auch nicht voll ausgeschöpft. Bekannte Autoren wie Günther Grass, Ingeborg Bachmann, Heinrich Böll, Ilse Aichinger, Wolfgang Hildesheimer und viele andere schrieben damals spezielle Hör-Dramen, die meistens auch in Buchform publiziert wurden. In den 1960er Jahren, als das Radio vom Fernsehen als Leitmedium im Alltag verdrängt wurde, verlor das Hörspiel schließlich rasch an Bedeutung. Anfang der 1990er Jahre setzte in Deutschland und weit darüber hinaus ein überraschender neuer Hörspielboom ein: Eine beinahe unüberschaubare Schwemme an Hörspielen wurde produziert. Das Spektrum der Hörspielarten wurde dabei kontinuierlich erweitert: Es reicht inzwischen von unterhaltenden Literaturadaptionen über Science Fiction und Krimi-Sendungen (u. a. gibt es seit Januar 2008 deutschlandweit eine wöchentliche Hörspiel-Ausgabe der beliebten Fernsehserie Tatort mit lokalen Ermittlungseinheiten) bis hin zu experimentellen Hörkunstwerken.2 Es wurden verschiedene Hör-Festivals eingerichtet, so etwa das Brandenburger Hörspielwochenende, der zehntägige

2

Etwa zeitgleich mit dieser Entwicklung setzte der aktuelle Hörbuchboom ein, bei dem im Sinne kommerzieller Mehrfachverwertung „nur gering inszenierte, gelesene Literatur“ auf auditive Datenträger (CDs, MP3 etc.) aufgezeichnet wird oder auch frühere Hörspielproduktionen neu herausgegeben und als Alternative zum herkömmlichen Buch vermarktet werden. Vgl. Ivanoviü, a. a. O., S. 72.

V D IE HÖLLE IM R ADIO | 173

Hörspielsommer in Leipzig oder das Hört Hört Festival für Kinderund Jugend-Hörkunst in Fürth. Durch Sendehefte wie das halbjährlich vom BR herausgegebene Hörspiel und Medienkunst oder die monatlich frei im Handel erscheinende Zeitschrift HörBücher. Das unabhängige Hörbuch-Magazin sowie auf zum Teil höchst professionell gestalteten Internetseiten können umfassende Informationen zur Hörspielproduktion, zur Hörspieltheorie und Rezensionen eingesehen und über das Internet Hörspiele auch direkt heruntergeladen werden.3 Innerhalb dieses Trends entwickelte sich die sogenannte ‚Audio Art‘ als eine neue Sonderform des Hörspielgenres. Der Begriff ‚Audio Art‘ […] benennt die Produkte einer jungen Subkultur, die keinerlei Grenzlinien zwischen den angestammten Königtümern der akustischen Kunst respektiert. Audio Art ist weder eindeutig Musik noch Hörspiel, nicht Performance oder Konzeptkunst. Und doch kombiniert sie Klang, Wort, Geräusch und Gesang, Monolog, Komposition und Gespräch zum perfekten Multimedium des Hörens 4

[…].

Andreas Ammers Stücke, die er selbst mitunter als ‚Hör-Opern‘ bezeichnet, lassen sich dem weiten Feld der ‚Audio Art‘ zurechnen. Wie

3

Die umfassendste und hervorragend betreute Seite ist www.hoerspiel. com, die 1997 von Jürgen Gisselbrecht, einem ehemaligen Lektor für das Hörspiel beim SDR und heutigen Online-Redakteur bzw. Leiter von Medien-Fortbildungen, gegründet wurde. Auf der Seite finden sich Veranstaltungskalender, Rezensionen, Hörspiele zum Herunterladen, Literaturhinweise etc. Damit verbunden sind die ebenfalls von Gisselbrecht initiierten Seiten www.hoerblog.de, www.hoerspielforum.de und www. hoer-bar.de; auf Hörbücher spezialisiert sind die Seiten www.hoer othek.de und www.hoergold.de.

4

Herbert Kapfer: „Harte Schnitte, ungezähmte Worte, Stimmen hört jeder. Pop im Hörspiel.“ In: Augen-Blick. Marburger Hefte zur Medienwissenschaft, (26) 1997. S. 44-61 (im Internet einsehbar unter: www.media culture-online.de). Vgl. auch Christine Ivanoviü: „‚Die Globambifizierung schreitet voran‘. Zum crossfading von Amerika- und Mediensdiskurs im neuesten Hörspiel.“ In: Alexander Stephan; Jochen Vogt (Hgg.): America on my mind. Zur Amerikanisierung der deutschen Kultur seit 1945. München: Fink, 2006. S. 217-235. Hier: S. 218.

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die anderen Künstler der ‚Audio Art‘ versucht er, in seinen Hörwerken kontinuierlich die Ausdrucksformen der herkömmlichen Hörspiele zu erweitern. Thematisch greift Andreas Ammer – vielleicht auch bedingt durch seinen geisteswissenschaftlich-akademischen Hintergrund – häufig auf die Biographien und Schriften intellektueller, literarischer oder politischer Persönlichkeiten zurück. Er verfasste Stücke zu Friedrich Schiller (Friedrich Miles von Schiller Davis, SWR 2005), Robert Scott (Frost 79° 40’. Robert F. Scotts Tod im Eis, WDR 1998), Oskar Pastior (Unser Oskar, BR 2003) und Walter Benjamin (Die BenjaminLoops, BR 1992), Kaiser Wilhelm (Kaiser Wilhelm Overdrive. Original-Sound-Fragmente vom deutschen Weltkrieg 1914, BR 1991) und Ulrike Meinhof (Ulrike Meinhof Paradise, DLR 1999).5 Daneben widmet er sich Ereignissen der deutschen Geschichte (Deutsche Krieger I und II, BR 1995) oder auch technischen Themen (Loopspool, BR 1998; Heimat und Technik; BR / HR / DLR Berlin 1999; IS & DN. Interleaved Songs and Dancefloor Narration; WDR 1999). Für seine Hörspiele, in denen er, wie die obigen Titel schon vermuten lassen, oft hochkulturelle Themen mit popkulturellen Bearbeitungsweisen zusammenbringt, entwirft Andreas Ammer meist grobe Sendemanuskripte. Diese werden bei der Einspielung durch die Einfälle anderer Musiker und Klang-Künstler, mit denen er häufig zusammenarbeitet, ergänzt. So kooperierte er unter anderem mit FM Einheit, einem früheren Mitglied der Experimental-Rockband Einstürzende Neubauten, mit der Komponistin und Keyborderin Ulrike Haage (Rainbirds), dem Gitarristen Caspar Brötzmann (u. a. Hard- und PunkBands Helmet, Brennwert und Caspar Brötzmanns Massaker), dem Sänger und Gitarristen Blixa Bargeld (ebenfalls Einstürzende Neubauten) und mit dem Münchner Cellisten Sebastian Hess. In seinen Stücken experimentiert Andreas Ammer mit verschiedensten akustischen Ausdrucksweisen, er nutzt aktuellste technische Bearbeitungsverfahren, spielt mit neuen Geräusch- und Klangquellen (u. a. mit der geplanten Live-Einspielung von Astronau-

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Vgl. das bei Neuhauser abgedruckte Interview mit Andreas Ammer: „Das Publikum ist jünger geworden. Wir wollen es so jung wie möglich.“ Neuhauser, a. a. O., S. 119.

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ten-Funksprüchen oder exotischen Instrumenten wie dem Theremin)6, er integriert historisches Aufnahmematerial etc. Daneben sucht Andreas Ammer immer wieder nach Wegen, um die traditionelle Darbietung von Hörspielen durch das Radio oder auf CDs medienüberschreitend weiterzuentwickeln. Während die früheren Hörspiele Ammers vor allem über den Rundfunk ausgestrahlt und teilweise auf CDs vermarktet wurden, präsentierte er einige seiner jüngeren Stücke in performativen Live-Aufführungen im Münchner Marstall (Dido & Aeneas – von ihren Liebhabern entblößt, 2006), im Münchner Haus der Kunst (Lost & Found: Das Paradies, 2004), am Dresdner Staatsschauspiel (MarxEngels-Werke, 2001) oder im Grünwalder Fußballstadion (Heimspiel, 2004).

2 R ADIOPHONE R E DER H ÖLLE

UND

D E - KONSTRUKTION

Radio Inferno, das Andreas Ammer gemeinsam mit FM Einheit produzierte, war der erste Teil einer Trilogie von ‚literarischen HörOpern‘. Nach dem Inferno Dantes folgten eine Adaption der Apokalypse aus der Johannesoffenbarung (Apocalypse live, 1994) sowie der Odyssee Homers (Odysseus 7. Radio Space Opera), die als jeweils eigenständige Teile die Trilogie vervollständigten. 1993 wurde Radio Inferno vom Hessischen und Bayerischen Rundfunk urgesendet. Das Hörspiel entwickelte sich zu einem von Ammers erfolgreichsten Stücken: Ein Jahr später wurde es mit zwei der wichtigsten Hörspiel-Preise ausgezeichnet, der Goldmedaille beim International Radio Festival of New York in der Kategorie ‚Best Drama Special‘ und dem japanischen Morishige Award im International Radio Drama Contest; beim italienischen Prix Italia wurde Radio Inferno lobend erwähnt und es verpasste nur knapp den deutschen Hörspielpreis der Kriegsblinden. Im Vorwort des unpublizierten Sendemanuskripts hat Andreas Ammer Radio Inferno als „Überschreibung eines alten Textes über die

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Das Theremin (auch ‚Ätherwellengeige‘ oder ‚Ätherophon‘) wurde nach seinem Erfinder, dem russischen Physiker Leon Theremin benannt. Es war 1919 das erste wirklich nutzbare elektronische Musikinstrument und wird ohne körperliche Berührung gespielt.

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Hölle (Dante, La Divina Commedia. Inferno) mit den Mitteln digitaler Klangmanipulation und den Darstellungsformen des Radios“7 definiert. Was das genau bedeutet, soll mit einem Durchgang durch das Hörspiel geklärt werden. Prolog Radio Inferno hat eine Gesamtlänge von 73 Minuten. Wie die 34 Gesänge (canti) in Dantes Inferno ist auch das Hörspiel in 34 „Canti“ unterteilt. Sie dauern meist zwischen einer und drei Minuten, was der im Unterhaltungsrundfunk üblichen Kürze der Sendeeinheiten entspricht. Das Hörspiel beginnt mit einem programmatischen Prolog:

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Canto I [Nur Klang: Kreisendes Geräusch einer E-Gitarre] [Dauer:] 0:34

Canto II [Hintergrund:] Je 1 Sampler aus jedem Teil des Radio Inferno 1:08

Dantes Augen (Da): Nacht. Eine Landschaft in völliger Stille. Von Ferne ein Radio. Dantes Hirn (Dh): Es geschah in jener Nacht. Im Radio nur schlechter Empfang.

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Ich zitiere hier und im Weiteren nach dem unpublizierten Sendemanuskript, das mir freundlicherweise vom Bayerischen Rundfunk zur Verfügung gestellt wurde. An Stellen, wo das Manuskript vom gesprochenen Text des Hörspiels abweicht, folge ich der realisierten Hörspielfassung.

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Der im Sendemanuskript angegebene Sprechtext „Das Inferno ist ein Buch von Dante.” wurde in der realisierten Fassung an den Beginn von Canto III verschoben.

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Die Hölle rief zum Klassenkampf. Tote Despoten erhoben ewig die längst verstorbene Stimme. Auf den Frequenzen Gespenster, die Hölle fasste die Verdammten nicht. Dantes Mund (Dm): „Auf Sendung. An alle. Aufstand der Menschenleichen, unverwest.“ Da: Da war ich Dante. Ich mach euch die Hölle. Das Medium war das Messer, die message war null eins. Aufblitzen eines Messers im Dunkel der Nacht. Dann: Eine leichte Wolke, die sich auf den Vollmond zubewegt. Jetzt: Der Kopf eines jungen Mädchens mit weitaufgerissenen Augen. Schnitt: Die leichte Wolke zieht am Mond vorbei. Das Messer fährt durch das Auge des jungen Mädchens und schneidet es entzwei. Dm: Ende des Prologs

Mit dem Prolog wird der anschließende Hauptteil des Hörspiels vorbereitet. Das geschieht zuerst allein durch ein Geräusch: Der Prolog setzt mit dem schrillen Kreisen einer E-Gitarre ein. Die Sequenz, die später im Stück wiederkehrt, simuliert mit akustischen Mitteln die Kreisstruktur der Hölle. Sie ist als Leitmotiv dem Hörspiel vorangestellt. Es folgt ein Sprechtext, der aus knappen, fragmentarisch wirkenden Aussagen besteht, mit denen eher Assoziationen angestoßen als klare Informationen gegeben werden. Der Text wird von drei Sprechinstanzen gesprochen, die im Sendemanuskript als ‚Dantes Augen‘, ‚Dantes Hirn‘ und ‚Dantes Mund‘ bezeichnet sind. ‚Dantes Augen‘ skizzieren knapp eine Szenerie, die wie eine Kulisse für das weitere Geschehen wirkt: Es ist „Nacht“, es herrscht „völlige Stille“, und aus der „Ferne“ ist ein „Radio“ zu hören. Mit diesen drei Sätzen rückt Andreas Ammer ein Radio in den Mittelpunkt der Wahrnehmung, für das fiktiv ein spezifischer Rezeptionsraum geschaffen wird; im Dunkel der Nacht ist alles auf das Hören ausgerichtet. Die Nacht ist dabei auch eine Zeit des Traums, in der Bewusstes und Unbewusstes, Reales und Irreales ineinander überzugehen scheinen. Die nicht genauer definierte „Landschaft“ verleiht der Sze-

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nerie eine unspezifische Offenheit und Universalität; die Landschaft könnte beinahe überall sein. Vor diesem Hintergrund erinnern die Organe Dantes an Vorgänge, die offenbar „in jener Nacht“ passiert sind: In der Hölle habe ein Aufstand der Verdammten stattgefunden, der mit den materielosen Schallwellen des Radios – das in seiner Geschichte oft Assoziationen des ‚Geisterhaften‘ hervorgerufen hat – nach Außen gedrungen sei.9 Damals habe, und das wird im Text als direkte Rede wiedergegeben, ‚Dantes Mund‘ im Radio zum „Klassenkampf“ aufgerufen, wobei er die berühmten Worte Lenins bei dessen Radio-Ansprache (!) zur russischen Revolution 1917, „An alle“, zitierte. Dante, der als namensgleicher Autor und Hauptperson des Inferno bekannt ist, war der Anführer des infernalischen Aufstands. Während die verschiedenen Dantes die Ereignisse mit knappen Worten zusammenfassen, werden im Hintergrund wie bei der Ouvertüre einer Oper die musikalischen Leitmotive des Hörspiels anzitiert. Sie wirken wie kurze Empfangssequenzen in einem Radio, das nur „schlechten Empfang“ hat. Mit ihnen wird akustisch das vergangene Geschehen wiederbelebt. ‚Dantes Augen‘ setzen den Prolog fort. Mit der Aussage „Da war ich Dante“ wird in einem zeitlichen Rückblick ein Rollenausstieg signalisiert: Die Figur war einmal jemand, der sie jetzt nicht mehr ist. Der kurze Satz klingt wie der Einleitungssatz aus Heiner Müllers Theatertext Hamletmaschine (1979), der mit den Worten beginnt: „Ich war Hamlet“. Heiner Müller, auf den Andreas Ammer später im Hörspiel noch weitaus deutlicher Bezug nimmt, lässt in seinem Stück Hamlet einen langen Monolog sprechen, in dem er gegen die ihm von Shakespeare zugedachte Rolle rebelliert. Die modernisierte Dante-Figur lehnt eine weitere Rolle als Autor und Urheber (s)einer Höllenvorstellung, die der historische Dante Alighieri mit dem Inferno ‚erdichtet‘

9

Vgl. u. a. Jeffrey Sconce: Haunted Media. Electronic Presence from Telegraphy to Television. Durham, N.C.: Duke University Press, 2000. Ole Frahm; Torsten Michaelsen: „Hört die anderen Welten! Zur Verräumlichung

der

Stimme

im

Radio.“

In:

Andreas

Stuhl-

mann (Hg.): Radio-Kultur und Hör-Kunst: zwischen Avantgarde und Popularkultur

1923

mann, 2001. S. 39-61.



2001. Würzburg: Königshausen

&

Neu-

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hatte, ab. Das Aufbegehren Dantes hat Ammer wie Müller das von Hamlet mit dem Metaphernfeld der ‚Revolution‘ gestaltet. Die präsentische Feststellung „Ich mach euch die Hölle.“ ergänzt den vorherigen Gedanken. Sie könnte als Hinweis darauf verstanden werden, dass das Jenseits nichts anderes ist als das Ergebnis einer von Dante als Autor produzierten, letztlich aber fiktionalen Vorstellung. Hinter der Formulierung steht womöglich auch ein wortspielerischer Anklang an die Phrase ‚jemandem die Hölle [heiß] machen‘, als Synonym zu ‚jemanden angreifen‘. Der darauffolgende Satz, „Das Medium war das Messer, die message war null eins.“, weckt Assoziationen zur Kernthese des Medientheoretikers Marshall McLuhan: „The medium is the message.“10 Im Sinne McLuhans besteht der von einem Medium übermittelte Inhalt auch aus seiner spezifischen Medialität, die die Aussage wesentlich mitbestimmt. McLuhans These scheint sich bereits im Prolog, der mit den spezifischen Ausdrucksweisen des Radios explizit für das Radio gestaltet ist, wieder zu finden. Das Radio wird hier zum „Messer“, zu einer Waffe, mittels derer der Aufstand aus der und gegen die (danteske) Hölle(nvorstellung) geführt wird. Am Ende der Textpassage beschreiben ‚Dantes Augen‘ die wohl berühmteste Szene aus dem surrealistischen Stummfilm Un chien andalou (1929) von Salvador Dalì und Luis Buñuel: Einem Mädchen wird mit einer Rasierklinge das Auge zerschnitten. Mit sprachlichen Mitteln ahmt Ammer die im Vergleich zum Hörspiel andere Darstellungsweise des Films nach, wenn er die filmischen Schnitte sprachlich reproduziert: „Dann: Eine leichte Wolke, die sich auf den Vollmond zubewegt. / Jetzt: Der Kopf eines jungen Mädchens mit weitaufgerissenen Augen. / Schnitt: Die leichte Wolke zieht am Mond vorbei.“ [Herv. TK] Das Bild, das Ammer als screenshot im Übrigen auch auf dem Deckblatt seiner Dissertation über Horrorgraphie. Das Aufschreiben der Angst & die Schrecken der Schrift als Mikromechanik des Sinns in der klassischen Zeit deutscher Literatur verwendet hat, kann in einer metaphorischen Lesart als ausdrückliche Negation des Sehens verstanden werden, das für die Aufnahme des Hörspiels eben nicht gebraucht wird. Die Sequenz aus Un chien anda-

10

Vgl. dazu v. a. Marshall McLuhan: The Medium is the Massage. An Inventory of Effects (OA: 1967).

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lou gilt zudem als eine der filmischen Horrorvisionen par excellence und könnte implizit auf die folgende Horrorshow des Inferno vorausweisen. Eventuell lässt sich aus der Erwähnung des Films auch ein poetologischer Fingerzeig auf das Hörspiel herauslesen, dem in diesen Passagen bereits ein dem Surrealismus nahestehendes, collagenhaftassoziatives Kompositionsprinzip zugrunde liegt, bei dem nicht alles ernsthaft und logisch in Sinn aufgelöst werden kann und soll. ‚Dantes Mund‘ beendet schließlich den Prolog. Durch seinen Einwurf, „Ende des Prologs.“, gibt es einen Wechsel in der Darstellungsperspektive, mit dem metasprachlich auf die Struktur des Hörspiels hingewiesen wird. Der Prolog birgt also verschiedene Kernelemente: Erstens wird das Radio als Medium thematisiert. Es steht im Zentrum einer fiktiven Kulisse für das Hörspiel; aus ihm als Verbreitungsmedium wird die folgende Geschichte erzählt. Zudem gibt es medienreflexive Elemente, die auf die spezifischen Wahrnehmungsbedingungen des Radios hinweisen. Zweitens wird die Handlung vorbereitet, in der es in irgendeiner Form um die Hölle und einen Aufstand in ihr zu gehen scheint. Und drittens bereitet der Prolog inhaltliche und musikalische Leitmotive vor, die später ausgearbeitet werden. Hauptteil Nach dem Prolog setzt mit dem Hauptteil die ‚eigentliche‘ Adaption des Inferno ein. Ein Auszug aus den direkt anschließenden Gesängen vermag einen ersten Eindruck davon zu vermitteln: Canto III Ein Rhythmus Schreie und Lärm / Tiere und Horroreffekte 1:40

Dm: Anfang des Infernos. Die Hölle ist ein Buch von Dante.

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Commedia (C): „Nel mezzo del cammin di nostra vita / mi ritrovai per una selva oscura / ché la diritta via era smarrita. / Ah! Quanto, a dir qual era, è cosa dura, / questa selva selvaggia e aspra e forte, / che nel pensier rinnova la paura! / …” (I, 1-12) Hölle (H): Dante sitzt in einer sonnendurchfluteten Ecke der Welt auf einem weiten Platz im Schatten von Palästen und trinkt schwarzen Kaffee als er im Hin und Her sanfter Frauen, stolzer Männer, lauer Lüfte den Faden des Lebens verliert. C: „Ma poi ch’io fui al piè d’un colle giunto, / là dove terminava quella valle …” (I, 13-21) H: Er schlägt in diesem Augenblick größter Ruhe das Buch auf und liest, wie sich Dante der Dichter, der nicht Dante selbst ist, eines nachts in der Mitte seines Lebens in einem Wald verirrt, der kein Wald ist, sondern das Leben. Stille

Da: Erster Gesang, Vers einundsechzig. Dh: Indessen ich im niedern Grund verkommen, / Hat sich vor meinen Augen dargeboten / Ein Mann, der stumm erschien vom langen Schweigen. / Als ich den sah in jener großen Wüste, / rief ich ihm entgegen: Dm: „Wer du auch seist, ob wahrer Mensch ob Schatten, ‚miserere di me‘, erbarm dich meiner.“ Dh: Er gab zur Antwort: Canto IV Wandermusik / Feedback 2:29

Vergil (V): I am no man, although I once was man; / Sub Julio born, though late in time, was I, / And lived at Rome in good Augustus’ days, / Poet was I, and turned my

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verse to praise / Anchises’ righteous son, who sailed from Troy / But thou – oh, why run back where fears destroy / Peace? Dh: Und ich zu ihm … Da: … mit schamgebeugter Stirne: Dm: „So bist du der Vergil, / Errette mich, ruhmreicher Weiser.“ V: „Nay, by another path thou needs must go / If thou wilt ever leave this waste.“ Dh: So sprach er, da er in Tränen mich erblickte … V: Though take me for thy guide, and pass with me / Trough an eternal place and terrible / where thou shalt hear despairing cries, and see / Long-parted souls that in their torments dire / Howl for the second death perpetually. H: Wenn aber nichts ist, was es ist, was ist dann die Hölle, das Inferno, durch das zu gehen Dante nunmehr beschließt, obwohl dessen Existenz bisher doch zweifelhaft schien? Canto V Radio (R): Good evening. This is 93.5 FM and it is Radio Inferno again. I'm John Peel – your favourite DJ and guide through all these nights and noises. It's Good Friday 1300 in the Middle Ages and we got something special coming along for you out there - sun's not yet coming up so tonight’s programme will be broadcast for you straight out of hell … H: Lautsprecher spucken Hölle in die guten Stuben. R: … we’re going down. The time is about 7 o’clock and Dante and Virgil have just arrived at the Gate of Hell where they read the inscription upon it. They enter and find themselves in the Vestibule of Hell. Passing quickly, they reach the river Acheron. Listen, here we go. Stille

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Da: Zweites Buch, Vers einhundertneununddreißig. C: „Or va, ché un sol vale …“ (II, 139-142) Dm: „Nun geh, uns beide treibt der gleiche Wille, / Du bist der Führer, bist der Herr und Meister.“ Dh: So ich zum Schatten von Vergil und als er aufgebrochen / Hab ich den wilden hohen Gang begonnen.

Wie dieses Zitat erahnen lässt – ein wirklicher Eindruck vom Hörspiel, das eben als akustisches, nicht aber als literarisches Werk konzipiert ist, ergibt sich erst hörend –, ist der Hauptteil von Radio Inferno als vielschichtige Collage gestaltet, bei der Musik, Geräusche, später auch O-Ton-Zitate und rezitierte Texte in verschiedenen Sprachen und Stilen synchron übereinandergelegt sind und die einzelnen Sequenzen schnell aufeinanderfolgen. Aufgrund der Dichte der Klangeindrücke wirkt das Stück als Hör-Spektakel, das diffuse Assoziationsräume öffnet und das zumindest beim ersten Hören eine Fokussierung auf einzelne Elemente schwierig macht. Das Hörspiel entzieht sich so (ähnlich wie der im Prolog zitierte surrealistische Film) bewusst einer primär analytisch-rationalen, textkonzentrierten Aufnahme. Bei mehrmaligem, genauerem Hinhören und einem vergleichenden Blick auf das Sendemanuskript werden nach dem ersten, gewollt ‚chaotischen‘ Höreindruck weitere Elemente der Adaption deutlich. Der Hauptteil von Radio Inferno wird wiederum mit einem metasprachlichen Hinweis eingeleitet: „Anfang des Infernos.“ Der Hinweis gibt dem Zuhörer Orientierung, er weiß, dass jetzt der Hauptteil beginnt. Mit dem zweiten Satz, „Die Hölle ist ein Buch von Dante“, wird die Quelle der Hörspiel-Adaption benannt, die Medialität des Inferno als Buch wird hervorgehoben. Wie im Prolog wird betont, dass die Hölle eine ‚gemachte‘ Vorstellung ist, der kein losgelöster Realitätsanspruch zugestanden wird. Wie hier werden im Verlauf des Hörspiels immer wieder verstreute Sprech- und Erzählinstanzen eingeblendet. Die Einschübe bewirken, wie andere Mittel im Hörspiel auch, dass keine einheitliche ‚große Erzählung‘ entsteht. Vielmehr ist Radio Inferno von einer Fragmenta-

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risierung der Erzählinstanzen, -perspektiven und -ebenen gekennzeichnet. Direkt danach beginnt ein Sprecher, Ausschnitte des italienischen Originaltextes aus Dantes Inferno zu sprechen. Die Textpassagen, die der Lautpoet Enzo Minarelli in der Rolle der ‚Commedia‘ rezitiert, ziehen sich durch das gesamte weitere Hörspiel. Sie sind weit im akustischen Hintergrund zu hören und werden oft simultan von anderen Texten überlagert, wodurch sie häufig unverständlich sind. Die Divina Commedia ist im Hörspiel als gedichteter Ursprungstext der Adaption gegenwärtig. Sie wird aber nicht in das weitere Handlungsgeschehen integriert, sondern fließt als entfernter Klangteppich unter bzw. hinter dem anderen Geschehen dahin, von dem sie, wie Ammer es bezeichnete, neu überschrieben wird. Ihre, ggf. auch sprachliche, Unverständlichkeit im Hintergrund mag die zeitliche und ideologische Distanz des heutigen Hörers zum Ursprungstext spiegeln. Die Zitate haben daneben eine akustische Funktion als sprachliches Untergrundrauschen im Stück. Am Ende des dritten Gesangs setzt dann eine Nacherzählung von Dantes Inferno ein. Von hier bis zum Ende des Hörspiels wird der Weg der Protagonisten Dante und Vergil vom Eintritt in die Hölle durch die neun Höllenkreise bis zum Wiederaustritt aus dem Erdinneren auf der anderen Erdhalbkugel in den wichtigsten Stationen nacherzählt. Die Nacherzählung ist aus Auszügen der deutschen und englischen Übersetzung des Inferno von Hermann Gmelin und Dorothy L. Sayers zusammengefügt. Die deutsche Übersetzung ist rhythmisiert, wobei der italienische Elfsilber Dantes in einen fünfhebigen Jambus übertragen wurde; der englische Text ist gereimt und mit archaisierenden Begriffen durchsetzt (u. a. „thy“; „thou“; „shalt“). Die Ausgangsform der Divina Commedia als alter, gedichteter Text bleibt präsent, die Übersetzungen bewirken außerdem besondere sprachklangliche Effekte. Um die in der Dichtung beschriebene Handlung zu dramatisieren, hat Andreas Ammer die Dante-Figur wie im Prolog weiterhin in drei dramatis personae bzw. sprechende Organe gesplittet: ‚Dantes Hirn‘ spricht die Passagen des Erzählers Dante, der im Rückblick von seiner Jenseitsreise berichtet. ‚Dantes Mund‘ übernimmt in der Regel die Passagen, die in der Commedia als direkte Rede des Wanderers Dante

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wiedergegeben sind. Und ‚Dantes Augen‘ formulieren metatextuelle Angaben zu den canti und Versen des Inferno; sie brechen den Fluss der erzählten Geschichte auf und weisen auf das Inferno als gedichteten Text zurück. Im Stück treten noch weitere Dante-Figuren auf, im Zitat oben etwa ein Dante, der in einer südländisch konnotierten Umgebung (Italien? Florenz?) ein Buch von Dante liest, das wiederum von einem Dante handelt, der sich nachts in einem dunklen Wald verirrt. Die Hauptfigur des Hörspiels hat also keine kontinuierliche Identität. Die Rollen von Dante, Vergil und später auch verschiedenen Höllenfiguren besetzten Andreas Ammer und FM Einheit mit Musikern. Blixa Bargeld, ein deutscher Musiker und Performance-Künstler, rezitiert die Passagen ‚Dantes‘. Der englische Free-Jazzer Phil Minton alias Vergil und die amerikanische Sängerin Yvonne Ducksworth in der Rolle verschiedener Höllengestalten verfremden ihre englischen Texte durch die teils rhythmisierte, teils gesungene oder mit zu extremer Künstlichkeit gesteigerter Stimmführung, die mit Hall- und Zerreffekten zusätzlich verändert wird: Die Inschrift auf dem Höllentor, „Per me si va ne la città dolente, per me si va ne l’etterno dolore, per me si va tra la perduta gente […]“, wird da zum stakkatoartigen Rap (C. VI). Der Höllenwächter Minos weist die Sünder mit einem rhythmisch repetierten „di qua di là in giù in sù“ (C. XIII) in ihre Höllenkreise. Der Bericht Francescas über ihre ehebrecherische Liebe zu ihrem Schwager Paolo, der im fünften Inferno-Gesang der Vorlage beschrieben ist, wird zum softpopartigen Sprechgesang (C. XIV). Und Dantes Schilderung des erschreckenden Anblicks Luzifers am Höllengrund wird – mit dem als Chor-Refrain wiederholten Zitat „Satan, hilf uns in unsrer tiefen Not“ aus den Teufelslitaneien der Fleurs du Mal Baudelaires – liedartig vorgetragen (C. XXXII). Im Zuge ihrer Musikalisierung ist Sprache im Hörspiel nicht mehr nur Trägerin von Inhalten, sondern sie wird auch zu einem Klang-Körper. Innerhalb der Binnenhandlung aktualisieren Andreas Ammer und FM Einheit an verschiedenen Stellen den Text inhaltlich. Sie streichen nahezu alle historischen Bezüge und Figuren und ersetzen sie durch modernes Höllenpersonal und Ereignisse der Zeitgeschichte. Dafür verwenden sie historische Rundfunkaufnahmen, die als O-Ton-Collagen eingespielt werden. Unter anderem treten im Limbus, dem infernalischen Elysium der ungetauften Heiden und Kinder, neben den Philosophen und Literaten des Altertums via O-Ton-Einspielung Ja-

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mes Joyce, John Cage und Marcel Duchamp als „great destroyers of literature, music and art“ auf (c. XI). Die O-Töne sind nur schwer verständlich, es handelt sich um Antworten in Dialogen, bei denen die Fragen nur noch als Rauschen zu hören sind: Dh: Ich sah Duchamp, den letzten Maler. Collage von O-Tönen von Marcel Duchamp

[„Then the readymade comes in. – […] – It attracted me as a technique … it has to be a technique … a technique. – […] – Yes, everybody can. – […] – Yes, it is a thing that I call art, a thing that I even don’t make myself.”]

Die O-Töne übernehmen die Funktion von Porträtfotos oder Daumenabdrücken, sie sollen akustisch genau diese eine individuelle Person ‚abbilden‘. Zugleich wird das Inferno Dantes spielerisch mit akustischen Mitteln modernisiert. Die O-Töne bergen eine selbstreferentielle Bezugnahme auf die Geschichte des Radios und besitzen durch ihr Alter eigene klangliche Besonderheiten. Zusätzlich aktualisiert Andreas Ammer auch augenzwinkernd die wohl berühmteste Passage des Inferno, die Liebesgeschichte von Paolo und Francesca aus dem fünften Gesang (C. XIV). In Francescas Bericht wird das Buch, in dem sie und ihr Schwager Paolo von der Liebe Lanzelots zu Guinevère gelesen hatten und das sie zu ihrem ehebrecherischen Verhältnis verführte, gegen „Radio Lancelot“ als ‚Kuppler‘ ausgetauscht: „[…] I say / The Radio was Galleot, Galleot the complying / Ribald who spoke; we heard no more that day.” [Herv. TK]. Und wieder lenkt Andreas Ammer die Aufmerksamkeit auf das Medium, für das Dantes Text adaptiert wird. Eine Ausnahme zur sonstigen Gestaltung der Binnenhandlung stellt der XX. Gesang dar. In ihm ändert Ammer signifikant die Dramatisierungsstrategie. Er verzichtet auf einen dialogisch-dramatischen Handlungsablauf und führt mit einer als „Bildbeschreibung“ bezeichneten Szene einen neuen Erzählmodus ein: Canto XX Fünfter Höllenkreis (Die Zornigen im Sumpfe Styx) Geräusch einer Galeere 2:46

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H: Bildbeschreibung NN: Bildbeschreibung / Holzschnitt Ende zweites Drittel 19. Jahrhundert H: Zum Bild erstarrter Moment der Bewegung durch eine Landschaft, die Gespenstern zur Heimat geworden ist in schwarz und weiß mit anmutiger Schlichtheit nur aus Wasser, Luft und Gestein. Letzteres zur Linken als Küste ohne Weg aus dem Wasser / Senkrechte Klippen, wie keine noch so göttliche Gewalt sie hätte schaffen können, dunkler noch als der Himmel und groß wie die Ohnmacht./ Dahinter das Glühen wie von einer Stadt, das muss des Hölleninneren Feuer sein. Am Platz des Himmels sonst kaum ein Licht. Düsternis kurz vor dem ersten erlösenden Donner, der doch – soviel ist sicher – auf dem Bild in Ewigkeit nicht kommen wird. / Eine kleine geschwungene Barke, die den Hauptteil des Bildes ausmacht. / Beschwerliche Fahrt. / Kein Laut auf dem Bild / Nur eine der Höllengestalten ist vom Haupt den Rücken hinab zu sehen und stemmt sich mit größter Gewalt dem Boote und den beiden einzig bekleideten Gestalten entgegen, die vom Fährmann, also Phlegias, über das dreckige Wasser des Styx gefahren werden. / Die Häupter der Helden lorbeerumkränzt. / Der kleinere mit kantigen Zügen und hakiger Nase. / Wallendes Gewand, also Dante / Der andere – heroisch den Wind in dem Umhang – hält mit der Hand den leicht vornüber starrenden Dante, mit der anderen das worauf dieser starrt, nämlich jene gefährlich aus dem Wasser hervor sich stemmende nackte Gestalt. / Er breitet die Hände. Jesushaft arrogante Bewegung – das also ist der von Dante gelobte Vergil, wie er den Dante lobt, dass er mitleidlos jenen, der aus dem Sumpfe Styx heraus die Höllenwanderer um Hilfe anbrüllt, in den Schoß des Infernos zurückgestoßen hat, wo, wie die Dichtung offiziell verlautbaren lässt im: Dh: Siebenten Gesang Vers einhundertzehn / In jenem Sumpfe ein schmutzig Volk; / alle nackt mit bösen Minen. / Sie schlugen sich, mit Händen, mit Köpfen, mit der Brust und mit den Füßen, /indem sie mit den Zähnen sich zerfleischten. / Nicht ohne vorher weit umherzukreuzen / Gelangten wir dorthin, wo unser Fährmann / uns laut zurief: H: „Out with you now, for here’s the gate.“

In der Tradition der literarischen Bildbeschreibung und wohl angelehnt an Heiner Müllers postdramatischen, monologischen Theatertext Bildbeschreibung (1984), der in einem einzigen überlangen Satz ein Traum-Bild einer Freundin seiner Ehefrau beschreibt, greift Ammer

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die Rezeption Dantes in der bildenden Kunst auf. Er ersetzt das dramatische Handlungsgeschehen durch die äußere Charakterisierung einer Grafik des großen Dante-Illustrators Gustave Doré, von dem einige Illustrationen zur Divina Commedia im Booklet der CD abgebildet sind. Zwei Sprechstimmen nennen den Begriff „Bildbeschreibung“ wie eine Überschrift oder Genrebezeichnung, bevor dann die künstlerische Produktionsweise und die Entstehungszeit des Bildes beschrieben werden („Holzschnitt Ende des 19. Jahrhunderts“). Wo sonst dramatische Dialoge die Handlung vorantreiben, wird, untermalt nur von ruhigem Rudergeräusch, ein Moment zeitlosen Stillstands evoziert, der erst durch die vom Interpreten gestiftete Illusion eines zeitlichen Davor und Danach (z. B. „Zum Bild erstarrter Moment der Bewegung“; „Düsternis kurz vor dem erlösenden Donner“), durch die Markierung von Perspektiven (z. B. „Zur Linken“; „Dahinter“), Vermutungen (z. B. „das muss des Hölleninneren Feuer sein“), Hinweise auf medial bedingte Mängel („Kein Laut auf dem Bild.“) und Vergleiche („groß wie die Ohnmacht“) dramatische Wirkung erhält. Wie schon im Prolog – dort ein Filmausschnitt, hier ein Bild – zeigt Ammer die Vorgänge einer subjektiven Sinnkonstruktion bei einem visuellen Medium auf, die im Gegensatz zu der nicht-bildlichen Wirkung des Hörspiels steht. Sie sind Teil der Medienreflexion, die Ammer in verschiedener Hinsicht in seiner Adaption unternimmt. Schließlich führt Andreas Ammer in Canto V – neben den italienischen Originalzitaten auf einer ersten und der Nacherzählung der Höllenwanderung auf einer zweiten Erzählebene – eine dritte Erzählebene ein, die das Hörspiel insgesamt bestimmt. In ihr wird die moderne Rahmengeschichte einer poppig aufgemachten RundfunkReportage entworfen, die live und in irrealer Zeitverschiebung vom Gang Dantes und Vergils durch die Hölle berichtet (vgl. aus dem obigen Langzitat: „Good evening. This is 93.5 FM and it is Radio Inferno again. I'm John Peel – your favourite DJ and guide through all these nights and noises. …“). John Peel (1939-2004), einer der einflussreichsten Experten für Popmusik und langjähriger Kult-DJ der BBC, führt in der Rolle eines Rundfunkmoderators den Hörer durch die Sendung von Radio Infer-

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no.11 Im flapsig-ironischen bis reißerischen Sprachduktus von Anmoderationen bei Unterhaltungssendungen kommentiert er auf Englisch, der Sprache der Popszene, die Ereignisse in der Unterwelt, er fasst Begebenheiten zusammen und leitet zu den einzelnen Stationen über. Angelehnt an die sensationslüsterne, superlativische Darstellung von Katastrophen in Rundfunk und Fernsehen präsentiert Peel die Jenseitswanderung als publikumswirksame Horrorshow im Unterhaltungsformat. Unter anderem wird da gegen Ende des Hörspiels der vorletzte Höllenkreis zum „terrordome on Radio Inferno“, wo „life is getting a little dangerous for our hellish couple Dante and Vergil“; und die Wanderer erleben die zehn malebolge, die Übelgruben des achten Höllenkreises, als „Countdown to Hell“ bzw. ganz im Stil des Musikradios als „eternal hitparade of sin and punishment“ (c. XXVIII). An wenigen Stellen setzt Ammer die Rolle des Moderators auch dazu ein, um aus einer gegenwärtigen Perspektive kritische Rückfragen an Dantes Inferno zu stellen, unter anderem in der neunten malebolgia, in der Mohammed als Zwietrachtstifter bestraft wird. An dieser Stelle konstatiert der Sprecher: „I see – there is racism even down in hell. Is this the eternal justice we were promised?“ (C. XXVIII). Die Doppelung des Radios im Radio(-Hörspiel), die im Prolog vorbereitet wurde, wird genutzt, um das Medium zu thematisieren und dessen typische Ausdrucksformen anzuwenden. Für ihre Adaption von Dantes Inferno haben Ammer und FM Einheit nicht nur die Texte neu gestaltet. Sondern sie arbeiteten auch und vor allem mit der suggestiven Wirkung von Musik und Geräuschen, die sie als weitere Hör-Ebenen über bzw. hinter und neben die Texte legten. Jeder der neun Höllenkreise ist durch eine eigene musikalische Grundfärbung geprägt, wobei Ammer und FM Einheit das volle Spektrum von Klassik über Metal, Hardrock und Funk bis hin zur Filmmusik ausschöpfen. Das Material wird collagiert, gesampelt und teilweise neu komponiert bzw. improvisiert. Unter anderem untermalt „Wandermusik“ (C. IV) den Gang Dantes und Vergils. Sanfte Cocktailmusik mit Vogelgezwitscher, die akustisch von links nach rechts wandert,

11

Durch die Präsentation in seinen Sendungen verhalf Peel etlichen bis dahin unbekannten Talenten zu später mitunter großen Karrieren. Peels Stilsicherheit bei extremer, aber dennoch hochqualitativer Musik machte ihn zu einer Ausnahmeerscheinung in der Popszene.

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evoziert den Wirbelsturm der Wollüstigen aus Dantes zweitem Höllenkreis, bei dem die Liebenden mit Vögeln verglichen werden (C. XIII-XIV). Der „Furientanz“ aus Chr. W. Glucks Oper Orpheus in der Unterwelt, dramatisiert Dantes Begegnung mit den Erynnien vor der Höllenstadt Dis im fünften Kreis der Zornigen (C. XXII). Der Temptations-Hit von 1972, Papa was a Rolling Stone, wird zum musikalischen Äquivalent der Steine wälzenden Geizigen und Verschwender des vierten Kreises (C. XVIII-XIX). Und die „Aria of the cold people“ aus Henry Purcells Barock-Oper King Arthur wird mit der Eishölle des Kokytus im neunten Höllenkreis assoziiert (C. XXXII). Auffällig ist, dass sämtliche musikalischen Motive geloopt sind, das heißt, nach einer kurzen Spielsequenz wiederholt werden. Im Rückgriff auf eine typische Bearbeitungsweise der Popkultur entsteht eine klangliche Kreisstruktur, die wie beim Gitarrensolo im Prolog akustisch die Höllenkreise nachbildet. Mit der Stilmischung imitieren Ammer und FM Einheit außerdem den Musik-Mix im Rundfunk. Punktuell eingesetzte Geräusche und Melodien illustrieren darüber hinaus das erzählte Geschehen oder ergänzen es um zusätzliche Informationen. Aus den deutsch-englischen Übersetzungen sind beispielsweise die drei wilden Tiere, Löwe, Leopard und Wölfin, herausgestrichen, denen Dante im ersten Gesang des Inferno begegnet; sie werden akustisch durch die Einspielung von Wolfsgeheul und Raubtiergebrüll hinzugefügt (C. III). All diese collagenhaften, digital bearbeiteten Musik-Stücke und Geräusche dienen dazu, Dantes Text-Hölle ‚pop-modern‘ in eine atmosphärische Klang-Hölle zu transformieren. Durch die bisher genannten Verfahren wird Dantes Inferno, wie vielstimmig und brüchig auch immer, als Hörspiel rekonstruiert und aktualisiert. In das Stück hat Andreas Ammer jedoch auch vier Canti eingefügt, die die modernisierte Nacherzählung quasi ‚von Innen heraus‘ radikal in Frage stellen und dekonstruieren. Am Ende des vierten und Anfang des fünften Gesangs des originalen Inferno wird beschrieben, wie der Wanderer Dante am Ufer des Acheron ohnmächtig zusammenbricht und wundersamerweise auf der anderen Seite wieder aufwacht. Ammer nutzt die Leerstelle im Text und ergänzt sie um diesen Alptraum (C. IX):

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Da: Da ist keine Hölle, kein Inferno. Nie rufen Gespenster: Alle Ds: WAS IHR SEID, DAS WAREN WIR / WAS WIR SIND, DAS WERDET IHR. H: Da ist keine Hölle: Komplex gebaute Stoffe wie Lebewesen zerfallen unter Entwicklung zum Teil stinkender Verbindungen, von denen einzelne ausgesprochene Giftwirkung besitzen, in einfachste chemische Verbindungen, während stickstoffhaltige Substanzen wie Eiweißstoffe von Fäulnisbakterien enzymatisch abgebaut werden, was zur völligen Mineralisierung dessen führt, was einst Körper war, und im Prinzip keinen anderen Vorgang darstellt als welcher gemeinhin in Gedärmen geschieht, was heißen will: Die Erde verdaut ihre Toten.

Dantes mittelalterlicher Hölle, die von einer Fortexistenz im Jenseits ausgeht, wird eine moderne, materialistische Perspektive gegenübergestellt: Nach dem Tod gibt es kein Jenseits, so das Hörspiel, nur die körperliche Verwesung. Der körperliche Zerfall nach dem Tod wird pseudowissenschaftlich erläutert, die Aussage „There is no hell!“ refrainartig wiederholt. Im Anschluss an diese hypotaktische, von Yvonne Ducksworth mit starkem Akzent gelesene und den wissenschaftlichen Sprachgebrauch implizit karikierende Aussage folgt eine zweite poetisch-metaphorische Beschreibung, wie durch die Vermittlung auditiver Medien die Vorstellung einer Hölle generiert wird: Alle Ds: Da ist keine Hölle. Nur von Ferne Radiophonie: Höllenmaschine / Wunschapparat In euren Ohren wie ich Wie ein stinkender Wurm mich In euer Hirn fresse in euren Ganglien und Hirnwindungen wandere mich Dort schmatzend ergehe und dann übergebe In der Fleischhölle eurer Hirne, wo in dreckiges Fleisch geschrieben steht, was ihr gehört habt von der Hölle, Hölle, Hölle.

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Mit i-Assonanzen, Wortwiederholungen und dem womöglich von Wolfgang Petrys Mega-Hit Wahnsinn (1983) entlehnten Schlussvers („Wahnsinn, warum schickst du mich in die Hölle / Hölle, Hölle, Hölle / Eiskalt, lässt du meine Seele erfriern.“) beschreibt Ammer in Gedichtform und in der in ihrer Übertreibung humorvollen Bildlichkeit eines ‚Ohr-Wurms‘ die Rezeption und mentale Repräsentation von Gehörtem. Die Hölle wurde vom Radio als „Höllenmaschine / Wunschapparat“ produziert, sie existiert nicht ohne die mediale Vermittlung.12 In Canto XXIX, und das soll als drittes Beispiel genügen, werden schließlich im intertextuellen Bezug auf Heiner Müller, besonders auf die Hamletmaschine und Der Auftrag, noch einmal der Rollenausstieg Dantes als Autor sowie ein utopischer letzter Aufstand der Verdammten evoziert: V: It’s vulgar to enjoy that kind of thing. Dm: Lange genug vor dem Tod euch das Jenseits gemacht, wenn es schon nachher keines gibt. Lange genug der Führer durchs Museum der Moral. Lange genug eure Höllenmaschine. Lange genug mit dem Mund euch die Lust und den Rausch und die billige Entrüstung ausgeteilt auf dem verlotterten Misthaufen eurer Phantasien. V: It’s vulgar to enjoy that kind of thing. Dm: Plötzlicher Ekel in den Sofas Europas. Vor uns das Bier und die Gespenster unserer Seelen. Aus den Radioapparaten dämmert ein letzter Krieg. Ich sage euch: Die Hölle wird auferstehen. Es wird kommen der Aufstand der Verdammten und wisst: Die Revolution zählt ihre Toten nicht. V: It’s vulgar to enjoy that kind of thing. Dm: Nach dem Aufstand: Am Boden knietief spitze Transistoren, geschmolzene Schaltkreise, in Fetzen zerrissene Lautsprecher, Splitter von Videoschirmen.

12

Es kann überlegt werden, ob hier auch Anklänge an Gilles Deleuzes „Wunschmaschine“ (Anti-Ödipus), an Marcel Duchamps ‚Junggesellenmaschinen‘ oder an Jean Cocteaus Theaterstück Höllenmaschine mitschwingen.

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In bleiernen Helmen der Höllenwärter schwimmen geöffnete Schädel voll nicht mehr denkender Hirne von blinden Würmern durchpflügt. Euer zerfressenes Hirn als Bordell: Ein Bildungserlebnis für Würmer. V: It’s vulgar to enjoy that kind of thing. Dm: Die Axt in eurem Schädel. Die Gespenster, die euch gemacht. Über Euch wie ein Himmel ein Meer von Frequenzen. Es bebt die Hölle. Es brennt das Hirn. Es rülpsen die Würmer. Aber mein war die Rache und das Radio so wie ihr euch berauscht an den Sündigern. And YOU ARE LISTENING TO RADIO INFERNO. Jetzt noch das Wetter von morgen.

Sprachgewaltig nähert sich Ammer durch den Gebrauch von Parallelismen, Binnenreimen und bildstarken Metaphern einer poetischen, prophetischen bis vulgären Sprache.13 Die refrainartige Wiederholung des Leitgedankens „It’s vulgar to enjoy that kind of thing“ kritisiert die Lust am Grauen, die bis heute – vergleichbar der voyeuristischen Schaulust bei Horrorfilmen – einen Gutteil der Faszination an Dantes Höllenbeschreibung ausmacht. Es bleibt eine infernalisch-verwüstete Höllenlandschaft über, die mit der von Dante beschriebenen Ordnung der Unterwelt nichts mehr gemein hat.

13

Im Text lassen sich folgende Verbalreminiszenzen auf Müller feststellen: a) aus der Höllenmaschine: „Höllenmaschine“; „Hier kommt das Gespenst, das mich gemacht hat, das Beil noch im Schädel.“ / „IM RÜCKEN DAS GESPENST DAS IHN GEMACHT HAT“; „HERR BRICH MIR DAS GENICK IM STURZ VON EINER BIERBANK“; „Leere Rüstung, Beil im Helm“; Das DAS EUROPA DER FRAU“; „Fernsehn Der tägliche Ekel Ekel“; „Denn dein ist das Nichts Ekel“; immer wieder: „Aufstand“; b) aus Der Aufstand: „Die Revolution zählt ihre Toten nicht.“ [Herv. TK] – Die ‚Axt im Schädel‘ erinnert an Kafkas berühmte Aussagen: „Wenn das Buch, das wir lesen, uns nicht mit einem Faustschlag auf den Schädel weckt, wozu lesen wir dann das Buch? […] Ein Buch muß die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.“ – Brief an Oskar Pollak, 27. Januar 1904, in: Franz Kafka: Briefe 1902-1924. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, 1958. S. 28.

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Epilog Das Hörspiel endet mit dem berühmten Schlussvers der Divina Commedia: Da: Vierundreißigster Gesang, letzter Vers. C: E quindi uscimmo a riveder le stelle. D: Dann traten wir hinaus und sahen die Sterne. Stille

H: Eine leichte Wolke zog am Horizont vorbei.

Mit dem Schlusssatz knüpft das Hörspiel in einer Kreisbewegung wieder an den Anfang an, indem es noch einmal auf eine Sequenz aus Un chien Andalou Bezug nimmt. Stand das Durchschneiden der Mädchenaugen für eine absolute Horrorvision, die zum infernalischen Grauen überleitete, zitiert Ammer hier die darauffolgende Filmsequenz, die in ihrer natürlichen Belanglosigkeit und Friedlichkeit damit scharf kontrastiert. Der Inhalt des Hörspiels scheint in einer Art illusorischem Tagtraum aufgehoben zu sein.

3

R ADIO I NFERNO ALS K LANG -H ÖLLE ZWISCHEN E- UND U-K ULTUR

Mit Radio Inferno haben Andreas Ammer und FM Einheit ein radiophones Hörkunstwerk komponiert. Ihre Adaption von Dantes Inferno unterscheidet sich dabei grundlegend von früheren HörspielAdaptionen der Dichtung. In den zwei bisherigen deutschen Hörspiel-Bearbeitungen der Divina Commedia hatten Eckard Peterich (Die Göttliche Komödie; 1957) und Dieter Schönbach (Die Göttliche Komödie; 1982 / 2000) noch ganz in der Tradition des literarischen Hörspiels den leicht gekürzten Text der Dichtung in einer deutschen Übersetzung mit nur wenigen Veränderungen eingesprochen. Das Geschehen wurde stellenweise von Musik untermalt.14

14

Nur am Rande hingewiesen sei auf Inferno Solitario (1997) des Südtiroler Mittelschullehrers, Lyrikers und (Hörspiel-) Dramatikers Sepp Mall

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Demgegenüber wird das Inferno Dantes in Radio Inferno als medienbewusstes Hör-Stück inszeniert, das gezielt auf das Verbreitungsmedium Radio zugeschnitten ist, dem technisch, stilistisch und inhaltlich Rechnung getragen wird. Der grundsätzlich medienbewusste Ansatz wird im Hörspiel durch verschiedene medienreflexive Anspielungen, u. a. auf die im Gegensatz zum Radio unterschiedlichen Funktionsweisen von Film und Bild, unterstrichen. Wie bei der Odyssee oder der Apokalypse scheint gerade der kanonische Status und das Ansehen der Divina Commedia als Klassiker der Weltliteratur Andreas Ammer zu einer Adaption inspiriert zu haben, die auf Verfahren und Ausdrucksformen der Popkultur zurückgreift. Ziel dieses Vorgehens war es Ammer zufolge, einen der großen Texte der abendländischen Literatur für ein heutiges Publikum neu erfahrbar zu machen:15 […] ich habe kein Interesse daran, jemanden aufzufordern, daß er die Odyssee oder die Bibel im Original lesen soll. Das is’ mir wurscht. Kultur besteht daraus, die Geschichten immer wieder zeitgemäß zu erzählen. In den Opern wurden immer schon […] dieselben zwanzig Geschichten neu erzählt. Das machen wir auch. Da sind wir Teil des Ganzen.

Mit Blick auf seine akustikzentrierte Hörästhetik betont Andreas Ammer aber: „[…] ich mag es, wenn sie [die adaptierten Texte; TK] ins Nur-Emotionale übergehen. Das heißt nicht, dass wir die Texte […] zerstören wollen oder uns über sie lustig machen wollen. Wir nehmen sie ernst, ich find’ die auch schön. Ich bin abendländisch-textfixiert. Ich will sie eher zu emotionaler Kraft bringen.“16 Die Bearbeitungsstrategie entspricht daher auch Ammers Selbstwahrnehmung als Pop-

(*1955). Bei dem Stück handelt es sich um einen weitgehend eigenständigen Text, der die Divina Commedia intertextuell verarbeitet; es erschien 2002 zusammen mit zwei weiteren Hördramen und einem Theatertext in Buchform (Sepp Mall: Inferno Solitario. Drei Hörstücke und ein Theatertext. Innsbruck: Skarabaeus, 2002. Das Hörstück wurde mir für diese Arbeit freundlicherweise in einer Aufnahme des ORF Tirol zur Verfügung gestellt). – Weitere Hörspielbearbeitungen konnte ich nicht nachweisen. 15

Neuhauser, a. a. O., S. 117.

16

Neuhauser, a. a. O., S. 114.

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künstler, der sich für die Aufnahme des Stücks wünscht: „Irgendwann will ich es schaffen, dass eines der Dinger [der Hör-Sequenzen; TK] mitten im Hitradioprogramm läuft.“17 Die ‚Verpoppung‘ von Dantes Inferno ist, denke ich, aber nicht einfach nur als belanglose Oberflächenarbeit zu verstehen. Vielmehr kann sie auch als eine besondere Form der kreativ künstlerischen, dezidiert nicht-akademischen Interpretationsarbeit eines philologisch bewanderten Hörspielmachers gesehen werden. Humorvoll und mit großer Lust an der experimentellen Gestaltung von Sprache und Klang trugen die Hörspielmacher bei der Gestaltung von Radio Inferno zeitgenössischen Tendenzen in der Kunst Rechnung, von denen Andreas Ammer in einem Interview sagte: „Damals, 1994, war ja die Hoch-Zeit der Postmoderne, wo man immer dachte, man müsse möglichst alle Stile in einem Werk unterbringen. Das ist aber nicht als Mischmasch zu verstehen, sondern ich will, dass Eins durch das Andere spricht.“18 Das ‚Eins durch Andere‘, bei dem mit den (Anfang der 1990er Jahre noch) kontrastreichen Effekten beim Aufeinanderprall von Hoch- und Populärkultur gespielt wird, ist in diesem Fall auch eine moderne Antwort auf das alte Buch: Dantes Inferno ist als kanonischer Text der Weltliteratur in der Gegenwartskultur präsent – die Inhalte seiner Dichtung sind uns heute aber fremd und können nicht als realistisch wirkende Beschreibungen, sondern nur als fiktive Geschichten aufgenommen werden. Das in einem mittelalterlich-christlichen Glauben fest verwurzelte Weltbild Dantes, das auf seine Beschreibung des Jenseits rückwirkt, kann heute nicht mehr ungebrochen wiedergegeben werden: Wie in Hofmannsthals Chandos-Brief zersplittert im Hörspiel die große Geschichte surrealistisch-alptraumhaft in viele Einzelteile.

17

xy: „Adorno plus Hendrix. Mit Pop-Collagen für den Rundfunk erwarb sich der Münchner Andreas Ammer internationalen Ruhm – nun vertont er die Apokalypse“. In: Der Spiegel, 41 (1991), S. 243-4. Hier: S. 244.

18

Neuhauser, a. a. O., S. 115.

VI Dante amerikanisch Von Sandow Birks und Marcus Sanders’ Künstlerbuch Dante’s Divine Comedy (2003/05) zu Sean Merediths Papierpuppenfilm Dante’s Inferno (2007)

Im vierten Kapitel habe ich bereits den Film A TV Dante – Cantos IVIII von Peter Greenaway und Tom Phillips ausführlich besprochen. Wie dort gezeigt, beruht diese Verfilmung der ersten acht Gesänge von Dantes Inferno auf einem Künstlerbuch von Tom Phillips, dessen Neuübersetzung des ersten Teils der Divina Commedia und ‚strukturalistisch‘ orientierte Illustrierungsstrategie in die Gestaltung des Films eingeflossen sind. Auch in diesem Kapitel wird es um eine Verbindung aus Künstlerbuch und Film gehen: In den Jahren 2003 bis 2005 veröffentlichte der amerikanische Maler Sandow Birk gemeinsam mit dem Journalisten Marcus Sanders ein Künstlerbuch, in dem Illustrationen zu allen 100 Gesängen der Divina Commedia von einer Neuübersetzung der gesamten Dichtung flankiert werden. Ausgehend von diesem Werk drehte Sean Meredith 2007 den Papierpuppenfilm Dante’s Inferno. Künstlerbuch und Film zeichnen sich vor allem dadurch aus, dass sie auf je eigene Weise die Jenseitswanderung Dantes mit Bezug auf die amerikanische Gegenwart aktualisieren.

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1 ‚C OMMEDIA U RBANA ‘ 1: D AS K ÜNSTLERBUCH D ANTE ’ S D IVINE C OMEDY VON S ANDOW B IRK UND M ARCUS S ANDERS Die Idee zum Künstlerbuch entsprang einem Zufallsfund: Sandow Birk (*1962), der sich als Maler in der amerikanischen Kunstszene einen Namen gemacht hat und in jüngster Zeit zunehmend auch im Ausland wahrgenommen wird, hatte in einem Antiquariat eine ältere englische Übersetzung der Divina Commedia mit Illustrationen des französischen Grafikers Gustave Doré (1832-1883) entdeckt.2 Nach eigenen Angaben fühlte sich Birk von Dantes lebhafter Beschreibung der Jenseitswelt offenbar ebenso angesprochen wie von den detailliert ausgearbeiteten, realistisch gehaltenen Radierungen Dorés. Nachdem das Buch zunächst längere Zeit in Birks Atelier herumgelegen war, beschloss er, Dorés Illustrationszyklus zur Divina Commedia als Vorlage für eine eigene Neubearbeitung zu verwenden.3 Bei einem gemeinsamen Kneipenbesuch berichtete Sandow Birk seinem Freund Marcus Sanders von dem neuen Projekt. Er erwähnte auch, dass er auf der Suche nach einem Übersetzer sei, der den alten Text der Dichtung in eine zeitgemäße Sprache übertragen könne. Sanders, der damals vor allem als Journalist für Surf-Zeitschriften tätig war, sagte daraufhin – „perhaps after one too many pints“4 – seine Mitarbeit zu.

1

Der Ausdruck ist dem Vorwort zur Purgatorio-Ausgabe des Künstlerbuchs entlehnt. Marcia Tanner: „Sandow Birks Commedia Urbana“. In: Sandow Birk; Marcus Sanders: Dante’s Purgatorio. San Francisco: Chronicle Books, 2005. S. vi-xi.

2

U. a. erhielt Birk 1996 ein Guggenheim Fellowship, 1997 war er mit einem Fulbright Stipendium in Rio de Janeiro, 1999 wurde ihm ein Getty Fellowship zugesprochen, und er nahm an verschiedenen nationalen und internationalen Ausstellungen teil. Die erste deutsche Einzelausstellung fand im Heidelberger Kunstverein statt: „Die Schrecken des Krieges“, 28.02.-03.05.2009.

3

Zur Entstehungsgeschichte des Künstlerbuchs siehe www.dantefilm.com/ filmnotes.htnl.

4

Ebd.

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Illustrationen Bei der Neubearbeitung der Grafiken Gustave Dorés wandte Sandow Birk eine für ihn typische Arbeitsweise an: In den vergangenen Jahren hat sich Birk darauf spezialisiert, bekannte Werke der bildenden Kunst, und zwar v. a. Historienbilder und allegorische, mythologische oder religiöse Darstellungen des 17. bis 19. Jahrhunderts, assoziativ in die Gegenwart zu übertragen. Dafür imitiert er besondere Merkmale des Ausgangsbildes, etwa den Bildaufbau mit charakteristischen Einzelelementen und die Gestaltungsweise. Die Bildzitate ergänzt er dann um eigene Hinzufügungen. Anstelle der ursprünglichen Szenen zeigt er Facetten des amerikanischen Großstadtlebens, Motive der Jugendund Popkultur wie Surf- oder Skating-Szenerien sowie politisch oder sozial brisante Ereignisse in Kalifornien bzw. seiner Heimatstadt Los Angeles. Auch stilistisch fügt er auffällige Neuerungen ein, so etwa Elemente, die der Popart entlehnt sind. Die Wirkung der Bilder ergibt sich insbesondere aus dem Kontrast von wiedererkennbarem altem und neuem Werk. Um Birks Arbeitsweise zu verdeutlichen, sei zunächst ein Beispiel genauer erläutert, das der Arbeit am Zyklus zur Divina Commedia vorausging: The Revenge of Lorana Bobbitt (1994). In dem Ölgemälde verarbeitete Birk ein spektakuläres Verbrechen, das sich in Manassas / Virginia ereignet hatte. In der Nacht vom 23. Juni 1993 hatte John Bobbitt, nachdem er betrunken nach Hause gekommen war, seine Ehefrau Lorena vergewaltigt.5 Lorena wartete zunächst, bis ihr Mann schlief. Sie ging dann in die Küche, sah ein Messer, und in einer spontanen Reaktion schnitt sie ihrem Mann damit den Penis ab. Aufgebracht fuhr sie anschließend mit dem Auto durch die Gegend und warf das abgetrennte Glied in ein Feld. Als sie sich der Schwere ihrer Handlung bewusst wurde, rief sie selbst die Polizei. Das Körperteil konnte gefunden und dem inzwischen im Krankenhaus notversorgten Mann erfolgreich wieder angenäht werden. Wie das spätere Gerichtsverfahren herausfand, hatte John Bobbitt bereits früher seine Frau mehrmals vergewaltigt, sie emotional und physisch missbraucht und sie zu einer Abtreibung gezwungen.

5

Zur Rekonstruktion des Falls vgl. u. a. http://en.wikipedia.org/wiki/ Lorena_Bobbitt#cite_note-crimelibrary2-2.

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Aufgrund dieser Vorgeschichte ging das Gericht von einer traumatischen Störung aus, die zu einer nicht geplanten Kurzschlusshandlung führte, weshalb Lorena Bobbitt letztlich freigesprochen wurde. Durch den ‚kulturellen Tabubruch‘, den Lorena beging, erregte der Fall in den USA erhebliches Aufsehen, infolge dessen innereheliche Vergewaltigung, häusliche Gewalt und erzwungene Abtreibung öffentlich debattiert wurden. Bedingt durch das große mediale Interesse wurde der Fall auch in der Pop- und Alltagskultur aufgegriffen, Anspielungen fanden sich bei T-Shirt-Aufdrucken, Werbeslogans, TV-Komikern, in Witzen, Songs u. a., wohingegen feministische Gruppen Lorena Bobbitt zu einer Heldin der Frauenbewegung stilisierten.6 Sandow Birk machte das Gewaltverbrechen zum Thema eines Bildes. Als Vorlage wählte er Caravaggios berühmtes Gemälde Giuditta che taglia la testa a Oloferne (1597-1600, 145 x 195 cm; Galleria Borghese, Rom; Abb. 8), das auf einer apokryphen biblischen Geschichte basiert. In ihr wird berichtet, dass Holofernes, ein General des babylonischen Königs Nebukadnezar II., die jüdische Stadt Betulia belagerte und sie auszuhungern drohte. In dieser für die Bevölkerung beängstigenden Situation beschloss die schöne und wohlhabende Witwe Judith, ihn mit einer List zu überwältigen, um ihre Heimatstadt zu retten. Mit ihrer Magd ging sie zu Holofernes, und, betört von der Schönheit der Witwe, lud der General sie zu einem Gastmahl ein. Nachdem die Diener sich zurückgezogen hatten, überwältigten Judith und ihre Magd Holofernes und trennten ihm den Kopf ab. Als die Soldaten am darauffolgenden Tag den toten Rumpf des Generals fanden, flohen sie. Auf seinem Gemälde zeigt Caravaggio den Akt der Enthauptung des Holofernes, mit der sich die zwei Frauen gegen die männliche Bedrohung gewaltsam zur Wehr setzen. In seiner Bearbeitung assoziiert Birk den weiblichen Gewaltakt Lorena Bobbitts an ihrem Mann mit dem von Judith an Holofernes (Abb. 9). Er übernimmt dafür markante Elemente des Bildaufbaus und der Bildgestaltung der Vorlage: Wie das Gemälde Caravaggios gestaltet er seine Bearbeitung als Ölgemälde. Bei Caravaggio und bei Birk befindet sich im zentralen vorderen Bildteil ein mit verdrehtem Kopf zum Betrachter liegender Mann auf einem Bett, der mit schmerzver-

6

Vgl. Linda Pershing: „His Wife Seized His Prize and Cut It to Size: Folk and Popular Commentary on Lorena Bobbitt“. In: NWSA Journal, Vol. 8, 1996.

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zerrtem Gesicht den rechten Arm abwehrend nach oben reckt – statt Holofernes nun John Bobbitt. Die Haltung der Arme und Hände von John Bobbitt entspricht derer des Holofernes, allerdings ist der Körper um 180 Grad um die eigene Achse gedreht; Holofernes liegt auf dem Bauch, Bobbitt auf dem Rücken. Ebenfalls in fast identischer Haltung wie Judith wird Lorena dargestellt – die aber nicht mehr mit einem langen Schwert den Kopf des Widersachers abschneidet, sondern mit einem Taschenmesser den Penis ihres Mannes (die Figur der Dienerin fehlt konsequenterweise bei Birk). Ebenfalls ein Zitat aus dem Ausgangsgemälde ist schließlich ein schwerer roter Vorhang, der in beiden Bildern den linken Bildhintergrund begrenzt. Im Unterschied zu Caravaggio hat Birk aber auch einige Neuerungen eingefügt: Im rechten Bildhintergrund sind Feuerwehrautos und -männer zu sehen, die in der Nacht mit Lampen das Geschlechtsteil suchen. Er arbeitet mit popästhetischen Elementen, indem er u. a. das bei Caravaggio schon drastisch-flächig gemalte, aus der Wunde spritzende Blut als großen comicartig vereinfachten Blutspritzer malt. Auf dem T-Shirt Lorenas ist die Comic-Figur Mickey Mouse abgebildet; und insgesamt ist die Linienführung viel gröber und die Farbgebung flächiger und greller als im Ausgangsbild und erinnert so an ästhetische Verfahren der Comicbzw. Popart. Schließlich sticht beim neuen Bild auch ein großer, grellgelber Heiligenschein über Lorena ins Auge, der eine Entsprechung in den ebenso grellgelben Eheringen der Eheleute und den Autoscheinwerfern im Hintergrund findet.

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Abbildung 8: Caravaggio: Giuditta che taglia la testa a Oloferne

Abbildung 9: Sandow Birk: The Revenge of Lorena Bobbitt

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Ohne an dieser Stelle eine vollständige Interpretation des Bildes geben zu wollen, sei dennoch festgehalten: In The Revenge of Lorena Bobbitt greift Sandow Birk ein zum damaligen Zeitpunkt in Amerika weithin diskutiertes und gesellschaftlich umstrittenes Ereignis auf, das er durch die assoziative Aktualisierung eines bekannten früheren Kunstwerks darstellt. Dabei weist Birk eher plakativ auf das Geschehen hin, als dass er es einer wirklich tiefsinnigen oder subtilen Neudeutung unterziehen würde. Gleichzeitig wird durch popästhetische Elemente und die Überzeichnung von Lorenas Unschuld mit einem Heiligenschein das real Geschehene bzw. dessen Deutung ebenso ironisch gebrochen wie die ernsthafte Erhabenheit des Ausgangswerks, wodurch Birk eine humorvolle Wirkung erzielt. Das Bild bietet daher zwei hauptsächliche Lesarten an: Zum einen kann es als unterhaltsame bis parodistische Bearbeitung eines kunsthistorisch bedeutenden Werks verstanden werden. Zum anderen präsentiert es sich aber auch als ‚Zeit-Zeichen‘, das durch ein nochmaliges Aufzeigen eines aktuellen und gesellschaftspolitisch relevanten Ereignisses und dessen humorvolle bis verfremdende Brechung zur Reflexion über seine Bedeutung einladen kann – eine Reflexion, die für das Verständnis des Bildes aber nicht unbedingt notwendig ist. Ähnlich wie das Caravaggio-Gemälde hat Birk ein weiteres Bild zum Judith-Thema von Artemisia Gentileschi bearbeitet (Giuditta con la sua ancella, 1625-27). In seiner Neufassung zeigt er, wie der farbige Verkehrssünder Rodney King von weißen Polizisten brutal niedergeschlagen wird; die Polizisten wurden später freigesprochen, was in Amerika zu heftigen Diskussionen führte (The Apprehension of Rodney King, 1992). Darüber hinaus hat er u. a. auch das berühmte Bild aus der Zeit der französischen Revolution Der Tod des Marat (Jacques-Louis David, 1793) als Herzinfarkt-Tod auf dem Highway in einem roten Sportwagen neu gestaltet (Death of Manuel, 1991). Angelehnt an einen druckgraphischen Zyklus von George Bellows stellte er die zehn häufigsten Todesarten in Amerika graphisch dar (Leading Causes of Death in America, 2005). Im Rückgriff auf amerikanische Landschaftsmaler schuf er einen Zyklus mit den 33 staatlichen Gefängnisbauten in Kalifornien (vgl. die Buchausgabe Incarcerated: Visions of California in the 21st Century, 2001)7. Und er verwandelte

7

Sandow Birk: Incarcerated: Visions of California in the 21st Century. San Francisco: Last Gasp, 2001.

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das Historiengemälde Das Floß der Medusa (Théodore Géricault, 1818-19), das sich auf den realen Fall eines Schiffbruchs mit anschließendem Kannibalismus der Überlebenden im Jahr 1816 bezieht, in eine jugendliche Surf-Szenerie (Outside Set at Malibu (Raft of the Medusa), 1989).8 Sein Verfahren des ‚Klassiker-Recycling‘ wandte Birk auch bei seinen Bearbeitungen der Divina Commedia-Illustrationen Gustave Dorés an:9 Gustave Doré hatte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts 136 Schwarz-Weiß-Radierungen angefertigt, die wichtige Handlungsschritte aller 100 Gesänge aus Dantes Dichtung abbilden. In den Illustrationen folgt Doré dem Literalsinn der Dichtung, die er möglichst ‚realistisch‘ wiederzugeben versucht. Die Radierungen des französischen Künstlers, der auch sehr erfolgreich andere Klassiker der Weltliteratur bebildert hat, so u. a. Rabelais’ Gargantua, Bürgers Baron von Münchhausen, Cervantes’ Don Quichotte oder die Bibel, zählen seit langem zu den bekanntesten und beliebtesten Illustrationen der Divina Commedia, die in Textausgaben und Übersetzungen immer wieder mit abgedruckt werden.10

8

Vgl. die Bildauswahl auf der Homepage Sandow Birks, www.sandow birk.com.

9

Vgl. u. a. Gustave Doré: The Doré Illustrations for Dante’s Divine Comedy. 136 Plates by Gustave Doré. New York: Dover, 1976.– Den Begriff ‚Illustration‘ (< lat. illustrare = erleuchten, erklären) verwende ich hier als Bezeichnung für ein ‚einem Text beigegebenes Bild‘, was im engeren Sinn sowohl auf Dorés Grafiken als auch im weiteren Sinn auf die Zeichnungen Birks zutrifft.

10

U. a. Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie. Ins Deutsche übertragen von Ida und Walther Wartburg. Mit 48 Illustrationen von Gustave Doré. München: Manesse, 2006. Ebenfalls mit Bildern Dorés: Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie. Aus dem Italienischen von Philaletes (König Johann von Sachsen). Mit einer kleinen Abhandlung zum Lobe Dantes von Giovanni Boccaccio. Zürich: Diogenes, 1996. U. a. m. – Ein Grund für den Erfolg von Dorés Illustrationen scheint gerade seine realistischtextnahe Umsetzung der Dichtung zu sein, wie u. a. eine Kundenrezension bei Amazon erahnen lässt: „These pictures capture the essence and feel of the Divine Comedy perfectly. These are the kinds of scenes that went through my mind while I read. What captured my attention the most

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Angelehnt an den Zyklus Dorés schuf Sandow Birk je 73 (Inferno, Purgatorio) bzw. 69 (Paradiso) Schwarz-Weiß-Zeichnungen mit Tintenstift. In diesen Zeichnungen verwandelt er Dorés Nachbildungen der von Dante geschilderten Jenseitswelten in gegenwärtige amerikanische Großstadtszenerien. In Birks Künstlerbuch wird der Betrachter durch drei Vorsatzblätter zu den drei Teilen der Divina Commedia auf die weiteren Bearbeitungen eingestimmt. Auf den Vorsatzblättern zitiert er die originalen Strukturschemata Dorés, die Dantes streng systematischen Aufbau der Hölle, des Läuterungsberges und des Paradieses deutlich machen. Auf dem Vorsatzblatt zum Inferno etwa übernimmt Birk die von Doré skizzierten Höllenkreise, auf denen angezeigt wird, in welchen Regionen der Hölle welche Sünden mit welchen infernalischen Martern bestraft werden. Diese Zitate ergänzt Birk um eigene Elemente (Abb. 10): Dort, wo Doré die Stadt Jerusalem zeigt, unter der der Höllenkrater liegt, befindet sich bei Birk eine amerikanische Metropole mit Wolkenkratzern. Knapp unterhalb der Erdoberfläche schießt ein winziger Zug aus einem Tunnel, etwas darunter ist ein angezapftes Ölfeld zu sehen. Die Höllenstadt Dis, bei Doré eine mittelalterliche Stadt mit Stadtmauern in den Tiefen des Inferno, ist bei Birk eine Großstadt mit einer großen Hängebrücke, dem Wahrzeichen von Los Angeles; über ihr kreist ein Hubschrauber. Die zehn kleineren ‚Übelgruben‘ (malebolge) des achten Höllenkreises werden mit einer großen Straßen-Reklametafel angekündigt. Und links im Bild sind, vergleichbar der Darstellung allegorisierender memento mori-Motive in Barockgemälden, kleine Ruinenreste zu sehen, auf denen mit ironischem Fingerzeig der Autor der Divina Commedia benannt wird: „Inferno / Hell / Dante ǜ Alighieri / Architectus“. Dahinter befinden sich Palmen, die typisch sind für die kalifornische Vegetation, sowie davor und dahinter Reklameschilder für ein Alkoholgeschäft, ein alter Autoreifen, Stacheldraht, ein umgekipptes Straßenhütchen, leere Dosen etc.

were the plates of Puragatory. Nobody else could have caught the mood more accurately.“ (vgl. die Rezension zur Dover-Ausgabe bei www.ama zon.de). Auch im Zuge der neueren Dante-Rezeption werden die Bilder Dorés selbst schon wieder verarbeitet (vgl. u. a. das Hörspiel Radio Inferno von Andreas Ammer/ FM Einheit, Kapitel V; oder das Musical La Divina Commedia von Marco Frisina, Kapitel VII).

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Abbildung 10: Gustave Doré: Strukturschema des Inferno

Auf dem Vorsatzblatt ergänzt Birk also schlicht eine Reihe markanter Bildzitate um einzelne Elemente, die aus dem Themenkreis ‚amerikanische Großstadt‘ stammen. Die Elemente werden weitgehend spielerisch an der Bildoberfläche hinzugefügt, ohne dass sich aus ihnen eine grundsätzlich neue Deutung des Vorsatzbildes ablesen lassen würde. Die so begonnene Aktualisierung von Dorés Illustrationen setzt sich im weiteren Künstlerbuch fort. Dies lässt sich durch den Vergleich einer Grafik Gustave Dorés zum ersten Inferno-Gesang mit der dazugehörigen Neubearbeitung gut nachvollziehen (vgl. Abb. 11 / 12). In den Versen am Beginn der Divina Commedia beschreibt Dante, wie sich die gleichnamige Hauptfigur seiner Dichtung in einem wilden, dunklen Wald verirrt: „Nel mezzo del cammin di nostra vita / mi ritrovai per una selva oscura / ché la diritta via era smarrita“ (Inf. I, 1-3). In seiner Radierung zu den Eingangsversen der Divina Commedia stellt Doré die Dante-Figur zentral in die Bildmitte. Sein Dante ist

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umgeben von übermächtigen Bäumen, die ihn weit überragen, die Beine werden beinahe von Schlingpflanzen gefesselt, vor ihm führt ein schmaler Weg in einen undurchdringlich-dunklen Wald. Der Körper ist wie von einem leichten Licht umgeben und wird so aus der Dunkelheit hervorgehoben. Ängstlich wendet er sich um, sein Blick scheint direkt auf den Betrachter des Bildes gerichtet zu sein. In Birks remake befindet sich der neue Dante in derselben Haltung und mit ängstlichem Blick wie bei Doré in der Bildmitte. Auch er ist von einer Art Lichtschein umgeben, die ihn aus der übrigen Dunkelheit hervortreten lässt. Anstelle des Kapuzenumhangs trägt der neue Dante jetzt ein saloppes Kapuzen-Sweatshirt, Jeans und Turnschuhe. Der Dichterkranz fehlt, und statt des ernsten Adlerprofils, das Doré der ikonographischen Porträt-Tradition Dantes entlehnt hat, sieht Birks Dante aus wie ein durchschnittlicher „urban American Everyman“11. Den dunklen, urtümlichen Wald verwandelt Birk in einen modernen ‚Großstadtdschungel‘: An die Stelle der undurchdringlichen, eng ineinander verwurzelten Bäume auf einer kleinen Anhöhe links im Bild bei Doré stellt Birk hohe Hausmauern, die den Weg versperren. Der Ausblick auf das dunkle Geäst rechts hinten bei Doré wird durch dunkle Straßen, Autos und einen Schilderwald ersetzt, auf denen Fastfood und alkoholische Getränke beworben werden; auf einem Schild steht sogar plakativ ‚HELL‘. Rechts unten im Bildvordergrund imitiert Birk beinahe originalgetreu einige Pflanzen. An die Stelle der Schlinggewächse hat er Stacheldrahtrollen gesetzt. Insgesamt wirkt die Eingansszenerie des Großstadt-Inferno dreckig und heruntergekommen, Dosen und Müllreste liegen auf dem Boden, eine große Lagerkiste ist mit Graffittis beschmiert, aus dem Boden steigt Rauch auf.

11

Tanner, a. a. O., S. viii.

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Abbildung 7: Gustave Doré, Inferno I

Abbildung 12: Sandow Birk, Inferno I

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Ähnlich wie hier verfährt Birk auch mit einer Illustration zum dritten Gesang des Inferno (Abb. 13 / 14). Am Beginn dieses Gesangs werden in der Divina Commedia die Verse zitiert, die auf dem Höllentor prangen, durch das Dante und Vergil die eigentliche Unterwelt betreten: „PER ME SI VA NE LA CITTÀ DOLENTE / PER ME SI VA NEL ETTERNO DOLORE / PER ME SI VA TRA LA PERDUTA GENTE ...“ (Inf. III, 1-3). Auf der Grafik Dorés sind Dante und Vergil wiederum zentral, nun aber im Verhältnis zum Bildganzen sehr klein und in DreiviertelRückenansicht zu sehen. Sie stehen frontal vor steilen, düsteren Felsabhängen, die sie weit überragen. In den Fels ist ein Torbogen hineingehauen, über dem ein kleines Schild angebracht ist – es ist das Höllentor, dessen Verse Dante und Vergil betrachten. Diese Stein- und Felswüste Dorés transferiert Birk wie schon bei der Illustration zum ersten Gesang in eine Straßenszenerie. Das Querformat der Vorlage wechselt ins Hochformat, die grobe Bildaufteilung und die Position der Figuren werden wiederum beibehalten. Im Bildhintergrund befindet sich keine Naturlandschaft mehr, sondern Skyskraper, am linken Bildrand steht der berühmte Schriftzug „Hollywood“ auf einem Hügel. Dante und Vergil befinden sich vor einem Straßentunnel, anstelle der Felsen wird der Weg nun von einer hohen Straßenmauer begrenzt. In Fahrtrichtung gebogene Stacheln auf der Straße verhindern ein Umdrehen von Autos, Straßenschilder weisen auf Parkverbote, die niedrige Tunnelhöhe und ein Verbot von LKWs hin, und auf einem Schild über dem Tunnel ist als leicht verändertes Äquivalent zu Dantes Höllentorinschrift zu lesen: „This way to the city of pain / […] here ceaseless agony awaits / all souls lost must enter here / follow the signs you who are damned / abandon all hope on entry here [Herv. TK].“

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Abbildung 9: Gustave Doré: Inferno III

Abbildung 8: Sandow Birk: Inferno III

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Ausgehend von diesen Beispielen, die einen Eindruck von der Arbeitsweise Dorés und Birks vermittelt haben mögen, lässt sich festhalten: In seinen Illustrationen zeigt Gustave Doré wichtige inhaltliche Stationen der Divina Commedia, die er möglichst textnah umsetzt. Die Radierungen sind äußerst realistisch gehalten, tragen zugleich aber auch idealisierende bzw. romantisch-historisierende Züge. Im Bildhintergrund zeigt Doré angelehnt an die Beschreibungen Dantes im Inferno und Purgatorio meist eindrucksvolle Naturlandschaften, im Paradiso lichtdurchflutete himmlische Sphären mit Wolken, Heiligen und Engeln. Durch intensive Hell-Dunkel-Kontraste und einen Bildaufbau, bei dem oft wie bei Gemälden Caspar David Friedrichs kleine Figuren, z. T. in Rückenansicht, vor einer überwältigenden Naturkulisse gezeigt werden, bewirkt er vor allem in den ersten beiden cantiche eine hochdramatische Grundstimmung. Sie kann als künstlerischer Ausdruck für die Übermacht der göttlichen Ordnung im Jenseits verstanden werden, der gegenüber sich die einzelnen Figuren in Dantes Jenseitswelt winzig ausnehmen. In den Gesten, der Mimik, Haltung und Kleidung sowie den Körpern der Figuren scheint sich dennoch der ‚hohe Ton‘ und das Ansehen der Textvorlage wiederzuspiegeln, die im 19. Jahrhundert zum Klassiker emporgehoben und mit entsprechender Ehrfurcht verehrt wurde: Dante wird wie bei vielen traditionellen Porträts, Büsten und Statuen mit typischem Adlerprofil, langem wallenden Kapuzenmantel, Haube mit Ohrenklappen und Dichterlorbeer auf dem Haupt als ernsthafter, erhabener Poet dargestellt, der aufmerksam den Erläuterungen seiner Führer lauscht. Vergil ist ebenfalls in einen langen, wehenden Mantel gehüllt und mit dem Dichterlorbeer bekränzt; er trägt das klassisch schöne Antlitz eines antiken Jünglings und weist mit eleganten Gesten auf die Geschehnisse der Jenseitsreiche hin. Beatrice, mit langem Gewand, langen gelockten Haaren, Heiligenschein und entrückt-verzücktem Blick, evoziert romantische Mariendarstellungen des 19. Jahrhunderts. Die nackten Sünder im Inferno und Purgatorio haben idealisiert kräftige Muskelpartien, die an antike Statuen erinnern; sie scheinen ganz in der klassizistischen Tradition Winckelmannscher Prägung selbst im Leid noch ‚stille Größe‘ zu zeigen. Im Unterschied zu den Illustrationen Dorés weisen die Zeichnungen Birks nur noch wenige direkte Bezüge zur Divina Commedia auf. Stattdessen aktualisiert er Bild für Bild durch assoziative Oberflächenarbeit die Grafiken Dorés. Diese verändert er in amerikanische Groß-

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stadtszenerien, die Züge von Los Angeles im Inferno, San Francisco im Purgatorio und New York im Paradiso tragen. In seinem Zyklus unternimmt Birk keine inhaltliche Neudeutung von Dantes Jenseitsorten. Zwischen Birks Straßenszenen im Inferno und jenen im Paradiso lassen sich kaum Unterschiede ausmachen. Vielmehr rückt Birk vom Inferno bis zum Paradiso gleichermaßen leitmotivisch Zeichen der Alltagskultur in den Vordergrund seiner Zeichnungen. Immer wieder zeigt er Straßen, Verkehrsschilder, Autos, Tankstellen und Parkuhren, die das Thema ‚Verkehr‘ umkreisen. Ebenso kehren andere Themenkreise wieder, so etwa die Themen ‚Müll‘ (leere Dosen, Mülleimer und Unrat), ‚Konsum‘ (Einkaufszentren, Bankautomaten und Einkaufswägen), ‚Fast Food‘ (Fast Food-Restaurants und Reklame für bzw. Verpackungen von McDonalds, Subway, Starbucks, KFC, u. a.), ‚Alkohol‘ (Hinweisschilder für Alkoholgeschäfte, ‚Liquors‘), ‚Jugendkultur‘ (Graffittis, Surfbretter und Skateboards) u. a. m.12 Diese Themen prägen nicht nur die größeren Bilder, sondern sie werden auch in 100 kleineren, ovalen Illustrationen verarbeitet, die in den Künstlerbüchern den Kapiteln vorangestellt sind. In ihnen befindet sich in der Regel ein Element dieser Motivkreise, beispielsweise ein umgekippter Einkaufswagen, sowie die römische Ziffer des jeweiligen canto. Dorés Realismus bei der Zeichnung von Dantes Jenseitswelt tauscht Birk also gegen realistische Hinweise auf die amerikanische Alltagswelt.13 Birk selbst weist darauf hin, dass er seine wiederholten Hinweise auf

12

Einige der Motive finden sich auch in anderen Bildern Birks wieder, u. a. sind auf dem Deckbild der Buchausgabe von Incarcerated zwei Einkaufswägen zu sehen, die in ein Gewässer gekippt sind.

13

Vgl. Marcia Tanners Deutung in ihrem Vorwort zur Buchausgabe des Purgatorio. Sie versteht die Alltagszeichen als „idioms to create satirical commentaries on american culture and society“. Und: „Birk’s Purgatorio drawings, like those for Inferno, comment mordantly on the ways in which a culture’s built environment mirrors back its values, especially it values human life. We create these brutal chaotic, careless, consumptiondriven, soulless spaces – or at least let them happen – and people live, suffer, strive, and die in them. These mean streets are places of the damaged heart. They tell us who we are. They also make us who we are. Birk’s scenes may be funny – anachronistic, dense with incongruous juxtapositions – but they’re based on accurate observation, and they stab the viewer with unwelcome truths.“ Tanner, a. a. O., S. viii.

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ausgewählte Elemente der amerikanischen Gegenwartskultur als ‚Kommentare zur amerikanischen Gegenwart‘ versteht: „I can spin of his [Dorés; TK] ‚accurate‘ depictions and make my own comments on the world.“14 Die ausgewählten Hinweise auf die Alltagskultur stehen dabei für sich, eine mögliche Interpretation bleibt dem Betrachter überlassen. Daneben spielt Birk auch in diesem Zyklus mit dem ‚Aus-AltMach-Neu-Effekt‘, der bereits aus früheren Werken bekannt ist. Wiederum ergeben sich beim Wechsel von einer sehr ernsthaften und erhabenen Darstellung hin zu Szenen banaler Alltäglichkeit humoristische Wirkungen, die durch verschiedene zusätzliche Mittel unterstrichen werden. So sind die Hauptfiguren betont ‚vulgär‘ gezeichnet: Anstelle der eleganten bis überstilisierten Körperhaltung der Figuren bei Doré ist die Haltung Dantes, Vergils und Beatrices im Künstlerbuch Birks meist locker und lässig. Birks Dante hat oft einen Walkman aufgesetzt, hält einen Softdrink in der Hand oder trägt ein Skateboard bzw. Surfbrett. Vergil wirkt mit Sonnenbrille, Blindenstock und unrasiertem Stoppelbart eher wie ein Bettler als ein vorbildlicher Dichter der Antike. Beatrice, bei Doré noch eine idealisiert schöne Frauengestalt, wird bei Birk zu einer aufreizenden Erscheinung mit high heels und viel zu knapp geschnittenem Kleid, aus dem an den Seiten Fettpölsterchen hervorquellen. Zusätzlich arbeitet Birk mit betont witzigen, fast slapstick-artigen Elementen: Die fettleibigen Schlemmer beispielsweise wälzen sich in Bergen halbleerer Fastfood-Verpackungen (Inf. VI); die Flammengräber in der Höllenstadt Dis verwandelt Birk in whirlpoolartige Flammenlöcher, deren Insassen nebenbei fernsehen, lesen, am Laptop arbeiten und für die eine Ruheliege und ein Barbecue-Grill bereitsteht (Inf. IX); und wo Dante am Ende des Läuterungsbergs Wasser aus dem Fluss Lethe und Eunoë trinkt, um seine irdischen Erinnerungen zu vergessen, besäuft sich Birks Dante mit einem Sixpack Bier (Purg. XXXIII). Insgesamt bezweckt Birk mit seinem Zyklus also keine fundamentale Neudeutung der Divina Commedia, deren Text hinter der Arbeit mit den Grafiken Dorés zurücktritt. Nur an wenigen Stellen lassen sich die Bildkompositionen wohl tatsächlich als inhaltliche Stellungnahmen zum mittelalterlichen Text, wie er in den Grafiken Dorés dargestellt ist, begreifen, nämlich wenn Birk vor allem im Purgatorio und Para-

14

Tanner, a. a. O., S. viii.

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diso den christlichen Motiven der Vorlage betont säkulare bzw. religiös liberale gegenüberstellt. Bei Birk wird beispielsweise ein Engel, der den Zutritt zum Läuterungsberg bewacht, zu einem Mann im Anzug, der vor einem aztekisch anmutenden Tempelbau sitzt (Purg. IX). Die Engel, die bei Dante und Doré den Himmel bevölkern, werden bei Birk zu Tauben auf dem Boden (u. a. Par. XIV). Die visionäre Schau eines von Engeln geformten Kreuzes verwandelt Birk in einen seitwärts gekippten, kreuzförmigen Stahlträger einer Hängebrücke im Abendlicht (ebd.; Abb. 15 / 16). Dem Anblick Marias im Paradies entspricht eine buddhistische Figur mit Handy, Softdrink und Schokolade in den Händen (Par. XXXII). Wo schließlich das Bewusstsein Dantes am Ende der Divina Commedia in einer unio mystica mit der Vision Gottes als überwältigender Lichterscheinung verschmilzt, steht bei Birk ein einsamer Dante allein an einer Straßenecke im Regen, blickt ins Leere und hat eine Flasche Bier in der Hand. Das Bild ist im Unterschied zum restlichen Zyklus frei gestaltet, und mit dieser Darstellung scheint Birk die christlich-teleologische Dimension der Divina Commedia, die den Weg Dantes zu Gott schildert, explizit durchzustreichen. Auf dem letzten, ebenfalls ohne Vorlage gearbeiteten Bild in Birks Zyklus, sitzt der moderne Dante mit zufriedenem Blick in einem Lesesessel und hält die Divina Commedia auf den Knien. Dieses abschließende Bild vermittelt dem Betrachter, dass die Geschichte von Dantes Jenseitswanderung, die Dorés Illustrationszyklus als Vorlage von Birks Zeichnungen zugrunde lag, eben eine in Buchform vermittelte Geschichte ist – deren Inhalte aber in der Gegenwart fremd wirken und daher nur noch als Fiktion wahrgenommen werden können.

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Abbildung 10: Gustave Doré, Paradiso XIV

Abbildung 11: Sandow Birk, Paradiso XIV

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Übersetzung Parallel zu den aktualisierenden Illustrationen übertrugen Sandow Birk und Marcus Sanders den Text der Divina Commedia vollständig in eine sprachlich und inhaltlich modernisierte Fassung. Grundlage für ihre Arbeit waren verschiedene ältere amerikanische Übersetzungen (Birk und Sanders können beide kein Italienisch). Um einen ersten Eindruck von ihrer Erneuerungsstrategie zu erhalten, sei ein Blick auf den Anfang des ersten Gesangs geworfen:15 About halfway through the course of my pathetic life, I woke up and found myself in a stupor of some dark place. I’m not sure how I ended up there; I guess, I had taken a few wrong turns. I can’t really describe what that place was like. It was dark and strange, and just thinking about it now gives me the chills. It was so bleak and depressing. I remember thinking I’d rather be dead than stuck there. But before I get too far off track, I should tell you about the other stuff that happened, because, in the end, everything came out alright. First off, I don’t have a clue how I ended up there. I can’t remember anything about it because I had been pretty tipsy when I wandered off the night before, and I was tired and must’ve fallen asleep. […]

Wie dieses Zitat zeigt, folgen Birk und Sanders weitgehend dem plot der Divina Commedia, die sie – kürzend, zusammenfassend und vereinfachend bei schwierigen Stellen – fast im Stil einer Interlinearübersetzung in ein reimloses Prosa-Gedicht übertragen. Anders als bei der Vorlage gibt es keinen festen Rhythmus mehr, auch die Terzinen sind zugunsten größerer Sinnabschnitte aufgelöst. Sprachlich transferieren Birk und Sanders die mittelalterliche Dichtung in den kolloquialen Tonfall amerikanischer Jugendsprache.

15

Sandow Birk, Marcus Sanders: Dante’s Inferno. San Francisco: Chronicle Books, 2005. S. 2.

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Es finden sich orale Verkürzungen wie „must’ve“ oder „I figured I’d be outta there soon“16, umgangssprachliche Ausdrücke à la „the other stuff that happened“ oder Füllwörter wie „hey“ und etwas derber „For God’s sake, just lead me the fuck out of this depressing darkness“17 ebenso wie flapsige Bezeichnungen, etwa „Virg“18 für Vergil oder „Big Guy“19 für Gott. Der Stil der Neuübersetzung reicht schließlich bis zu vulgären Schimpftiraden, beispielsweise wenn Dante und Vergil auf den höllischen Fährmann Charon treffen, der sie mit seinem Kahn über einen Unterweltfluss befördern soll:20 „You bastards, you sons of bitches, you cocksuckers going to Hell! Forget about Heaven for you, that’s for sure! […] Hey, wait a second – is that a living person there? Get the fuck out of here!‘ he screamed. […] You can’t come across, understand? Go find someone else to bother, you asshole! Don’t fuck with me! You have to cross somewhere else, so what’s up with this shit?“

Immer wieder, v.a. im Paradiso-Teil, kippt der Stil aber fast zwangsläufig in höhere Stillagen zurück. Inhaltlich nehmen Birk und Sanders einige, im Verhältnis zum gesamten Text aber eher wenige, Veränderungen vor. Anders als bei den Bildern wird das Geschehen nicht grundsätzlich in eine großstädtische Umgebung verlagert. Allerdings modernisieren die Autoren den Text, indem sie die häufigen Vergleiche in der Divina Commedia aktualisieren. Am Beginn von Inf. II beispielsweise, als Dante durch astronomische Vergleiche die Zeit allegorisch bestimmt, erneuern Birk und Sanders den Vergleich zu „[i]t was getting dark, right around the time of the day when / time clocks are punched and beers are opened“21. In Inf. V wird der Lärm der Seelen verglichen mit „[the] noise of a tencar pileup on the highway, / or the collapse of a skyskraper in summer

16

Ebd., S. 2.

17

Ebd., S. 6.

18

Ebd.

19

Sandow Birk; Marcus Sanders: Dante’s Paradiso. San Francisco: Chron-

20

Birk / Sanders: Inferno, a. a. O., S. 17.

21

Ebd., S. 8.

icle Books, 2005. S. 198.

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air“22 (eine Anspielung auf 9/11?!). In Inf. VI wirft Vergil dem Höllenhund Cerberus einen Batzen Dreck ins Maul, um ihn zu beruhigen – und es heißt da: „Like the crazed crack addict jonesing for a / rock who instantly calms down after he scores / and gets his first drag of smoke, / Cerberus’ disgusting barking heads sniffed / at the mud […]“23. Am Ende des Inferno wird schließlich Luzifer beschrieben, mit großen Flügeln „like the ones you’d see on a pterodactyl or some kind of dinosaur or something“24 und auf den drei Erzverrätern Judas, Brutus, Cassius kauend „with teeth sharp as knives. He gnawed away at the sinners in his mouth like he was chewing gum.“25 An einzelnen Stellen, jedoch ohne tiefere Systematik, wird zum vorhandenen Höllenpersonal noch neues hinzugefügt: Bei den lauen Seelen in Inf. II werden Eugenio Pacelli – Papst Pius XII. – und der südafrikanische Präsident Mbeki genannt; bei den ungetauften Poeten im Limbus Shakespeare und Yeats, später Foucault, Jung und Hemingway bzw. Hawking zwischen den (Natur-)Philosophen; bei den Wollüstigen finden sich Romeo und Julia ebenso wie Clinton. Zudem werden im Text punktuell betont witzige Einfälle eingebaut: So liegt beispielsweise in der neuen Fassung der Jenseitsreise die Verirrung Dantes wohl an den Folgen eines Rausches („I had been pretty tipsy“). Und nach der Begegnung mit dem Liebespaar Paolo und Francesca bricht er am Ende von Inf. V nicht etwa aus Mitleid zusammen, sondern, wie er vermutet, „I guess / I hadn’t eaten much that day“26. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Birk und Sanders mit ihrer Übersetzung den mittelalterlichen Text Dantes vor allem einer peppigen Oberflächenbehandlung ohne ernsthaftes inhaltliches Anliegen unterziehen, für die eine kolloquiale Jugendsprache, aktualisierende Vergleiche, nur punktuell und unsystematisch eingefügtes neues Personal und Vereinfachungen des Textes kennzeichnend sind. Die Übersetzung der Divina Commedia folgt dabei der Idee zur Neubearbeitung von Dorés Illustrationszyklus nach, steht mit dieser aber –

22

Ebd., S. 28.

23

Ebd., S 34.

24

Ebd., S. 212.

25

Ebd.

26

Ebd., S. 32.

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über das Moment der jugendlichen und bei Vergleichen manchmal stadtbezogenen Aktualisierung hinaus – in keinem engeren Zusammenhang. Weder wird die Übertragung als Ganze in ein großstädtisches Ambiente nachvollzogen, noch einzelne Motive der Bilder übernommen oder umgekehrt die personellen Erneuerungen des Textes in den Zeichnungen abgebildet. Wie schon bei den Bildern merkt man auch dem neuen Text das moderne Unbehagen an der christlichen Kultur deutlich an, das sich an der Bruchlinie von ‚altem‘ Inhalt und ‚neuem‘ (unangemessenen?) Stil zeigt. Ob der hier gezeigte Umgang einer betont lässigen, teils parodistischen und witzigen Umarbeitung wirklich aufgeht und ästhetisch ‚trägt‘ („Big Guy“!), halte ich aber für zweifelhaft. Ich bin der Meinung, dass die Idee zwar interessant ist und bei einzelnen Passagen auch ansprechend und unterhaltsam wirkt. Aufs Ganze gesehen und vor allem im Paradiso wirken die humoristischen Vergleiche aber gezwungen und im Kontrast zum beschriebenen Inhalt künstlich und aufgesetzt. Dem Urteil eines Lesers bei Amazon – „With this version, the modernistic settings, the captivating artwork, and the use of modern English language all help to make this a much more enjoyable story without losing any of the meaning from the original.“27 – stimme ich nicht zu. Denn schließlich sind es gerade die sprachliche Eleganz der vollständig in Versen verfassten Divina Commedia, deren allegorisierende Vielschichtigkeit, universale ethische Dimension, konkretes gesellschaftspolitisches Engagement, auch ideologische Fremdheit und anderes mehr, die zu immer neuen Auseinandersetzung herausfordern und die hier schlicht in eine Richtung ‚verplattet‘ werden, die womöglich nur für kurze Zeit ‚in‘ sein dürfte. Die Frage, warum Sanders und Birk überhaupt den Text und gerade in dieser Weise neu gestalten, ist legitim. Letztlich bleibt aus meiner Sicht die Antwort: Es ist in erster Linie ein unterhaltsames Spiel ohne tieferen Zweck. Ob diese Übersetzung – die wie die Bilder einen Vergleich mit dem Original fordert, um ihre volle Wirkung entfalten zu können – aber wirklich von vielen vollständig gelesen werden wird, bleibt fraglich. Nach ihrer Fertigstellung wurden die Bilder Sandow Birks entsprechend dem jeweiligen Stadt-Bezug bei größeren Ausstellungen in Los Angeles (Koplin Del Rio Gallery, 1. März – 5. April 2003; Inferno),

27

www.amazon.com.

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San Francisco (Catharine Clark Gallery, 8. Januar – 14. Februar 2004; Purgatorio) und New York (P.P.O.W. Fine Arts, 26. Mai – 30. Juni 2005; Paradiso) bzw. in Gesamtausstellungen (u. a. San Jose Museum of Art, 27. August 2005 – 8. Januar 2006) gezeigt; ergänzt wurden sie um großformatige Ölgemälde, auf denen Birk die jeweilige Stadt abgebildet hat.28 Gemeinsam mit Marcus Sanders ließ Birk dann 100 Künstlerbücher herstellen, die in drei hochwertigen Lederausgaben in rot, grün und weiß gestaltet wurden und später mit nurmehr einer Illustration pro canto und einführenden Vorworten zu den Bänden als billigere, aber hochwertige Taschenbuchausgabe verkauft und damit vermarktungstechnisch weiter ‚popularisiert‘ wurden.29

2

I NFERNO AMERICANO : D ER P APIERPUPPENFILM D ANTE ’ S I NFERNO VON S EAN M EREDITH

Bereits 2003 hatten Sandow Birk und Sean Meredith, der in den vergangenen Jahren vor allem mehrere Kurz- und Dokumentarfilme gedreht hat, ihren ersten gemeinsamen Film produziert. In Smog and Thunder, ein sogenannter ‚Mockumentary‘, also ein fiktionaler und das reale Genre parodierender Dokumentarfilm, erzählt von einem erfundenen Krieg zwischen Los Angeles und San Francisco. Der Film basiert auf einem gleichnamigen Bildzyklus, bei dem Birk ältere Historiengemälde satirisch modernisierend bearbeitet hatte. Angeregt durch diese Zusammenarbeit plante Meredith, auch Birks und Sanders’ Divina Commedia-Projekt filmisch umzusetzen. Der 80-minütige Film Dante’s Inferno, eine recht freie Adaption des ersten Teils des Künstlerbuchs, wurde 2007 erstmals bei verschiedenen Underground-

28

Vgl. die Besprechung der Ausstellung, die als Vorwort zum ParadisoTeil wieder abgedruckt wurde, Peter S. Hawkins: „‚Moderno Uso‘“. In: Sandow Birk; Marcus Sanders: Dante’s Paradiso. San Francisco: Chronicle Books, 2005. S. vi-xxiii.

29

Erschienen bei Trilium Press. – Sandow Birk; Marcus Sanders: Dante’s Divine Comedy. Drei Bände im Schuber. San Francisco: Chronicle Books, 2005.

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Festivals gezeigt und erhielt seitdem international viele Auszeichnungen. Im Herbst 2008 erschien der Film auf DVD im Handel.30 Mit dem Film wollte Meredith nach eigenen Angaben eine ‚gute Geschichte‘, in diesem Fall die Divina Commedia, künstlerisch innovativ bearbeiten. Entsprechend stellte er in einem Interview fest: „Now, do you consider the project ‚fine art‘ or is it just another film project your [sic!] underwent? – I think of film as an art form. We just wanted to tell a story in a new and beautiful way.“ 31 Dieser auf künstlerische Innovation zielende Ansatz zeigt sich vor allem in der Wahl der Darstellungsform. Meredith verfilmte sein Inferno mittels eines viktorianischen Papierpuppentheaters.32 Diese Art des Papierpuppentheaters wurde wohl 1811 in London erfunden und erlebte als ‚Victorian Toy Puppett Theatre‘ in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts seine Blütezeit. Damals wurden Künstler in erfolgreiche Inszenierungen von klassischen und zeitgenössischen Theaterstücken geschickt, um die Figuren und Kulissen abzuzeichnen, die dann farbig auf Schneidepapiere gedruckt wurden. Zusammen mit einem gekürzten Skript wurden die Schneidebögen verkauft, so dass Kinder oder Familien die Stücke zuhause nachspielen konnten. Beispiele der damaligen Papiertheater können heute unter anderem noch in Pollock’s Toy Museum in London angesehen werden.33 Seit einigen Jahren wird das Puppentheater als populäre Kunstform wiederbelebt, und es werden

30

Vgl. den Trailer auf www.dantefilm.com. – Allein im Jahr seines Erscheinens erhielt der Film folgende Auszeichnungen: 2007 Lausanne Underground Film Festival: Best Feature Film; 2007 San Francisco Indie Fest: Staff Award for Best Feature; 2007 Delray Beach Film Festival: Best Animated Feature; 2007 Boston Underground Film Fest: Spirit of Underground Award; 2007 Silver Lake Film Festival: Best Director; 2007 Eugene International Film Festival: Most Unique Film; 2007 Lausanne Underground Film Festival: Best Feature Film.

31

Sebastian Frye: „Interview with Sean Meredith, Director of Dante’s Inferno“. Nachzulesen bei: http://www.lucidforge.com.

32

Zur Geschichte des englischen Papierpuppentheaters vgl. u. a. George Speaight: The History of the English Toy Theatre. London: Blue Star House, 1969 (das ist die leicht revidierte Ausgabe einer früheren Fassung: Juwenile Drama: The History of the English Toy Theatre, 1946).

33

Benjamin Pollock war der letzte spezialisierte Papiertheater-Drucker.

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auf Festivals unterschiedliche Stücke und Theater der Öffentlichkeit vorgestellt.34 Für seinen Film ließ Meredith in Handarbeit hunderte von Papierpuppen anfertigen. Auf einer etwa pooltischgroßen Holzbühne wurde dann innerhalb von zwei Wochen der Film gedreht, bei dem der Regisseur bewusst auf den Einsatz technischer und filmischer Spezialeffekte verzichtete und bei dem die Puppen ausschließlich mit Händen oder Metallstäben bewegt wurden. Als Sprecher konnten u. a. Dermot Mulroney (Dante; Rollen in My Best Friend’s Wedding, The Family Stone u. a.) und James Cromwell (Vergil; Rollen und Oscarnominierung für Ein Schweinchen namens Babe, L.A. Confidential, Schnee, der auf Zedern fällt), gewonnen werden. Der Grund für Merediths auf den ersten Blick exotische Wahl lag offenbar vor allem darin, dass die viktorianischen Papierpuppen und realistisch gehaltenen Hintergrundbilder, bei denen jeweils die Zeichenlinien deutlich sichtbar sind, als ästhetisches Äquivalent zu Birks Zeichnungen und Dorés Druckgrafiken fungieren können. Daneben dürfte aber auch künstlerische Experimentierlust eine Rolle gespielt haben. Durch diese Art der Verfilmung konnten neue Ausdrucksmöglichkeiten sowohl für das Puppentheater als auch für den Film erprobt werden. Für den Film wurde die Handlung von Dantes Inferno gekürzt und vereinfacht. Die Dauer von knapp eineinhalb Stunden entspricht dem, was man von einem kürzeren Unterhaltungsfilm erwarten kann. Die Handlung des Films vollzieht in groben Stationen den Weg Dantes durch die neun Höllenkreise bis zu seinem Ausgang aus der Hölle nach. Im Vergleich zum Ausgangstext hat Meredith die FilmHölle aber grundlegend erneuert: Angelehnt an die Zeichnungen Birks trägt das neue Inferno großstädtische Züge, die stellenweise an Los Angeles erinnern. Einige Filmsequenzen wirken fast wie Farbkopien der Bilder Sandow Birks, so etwa die Szene, als sich Dante am Beginn des Inferno im Straßengewirr verirrt; andere sind eigenständig gestaltet. In Merediths Hölle wandern Dante und Vergil durch Straßen, Flughäfen und Hochhäuser und bewegen sich mit modernen Verkehrsmitteln wie einem Schnellboot, Hubschrauber, U-Bahn, Auto und Aufzug von Höllenkreis zu Höllenkreis fort.

34

Z. B. bei Great Small Works, das alle zwei Jahre in New York stattfindet: www.greatsmallworks.org.

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In seinem Film erneuert Meredith aber nicht nur das setting, sondern vor allem auch das Strafsystem des Inferno. Zwar behält er Dantes Sündenkategorien bei, gestaltet jedoch oft die alten Strafformen und -orte um. Die Lauen der Vorhölle, also die Seelen, die sich bei Dante für keine eigene Position entscheiden konnten und die daher in seinen Versen auf ewig hinter einer unbestimmten Fahne herlaufen, werden im Film zu Demonstranten, die lautstark und mit Transparenten für und gegen irgendetwas protestieren und die von Charon als Sicherheitsbeamten mit Headset und Megaphon hinter Absperrzäunen bewacht werden. Im Limbus (erster Höllenkreis) weilen die Ungetauften nicht mehr in einer Art infernalischem Elysium vor einem Feuer auf einem grünen Rasen, sondern, wie im Künstlerbuch, als abgerissene Penner unter einer Brücke vor einem ärmlichen Lagerfeuer. Die Sünder der Wollust (zweiter Höllenkreis), die sich ursprünglich in einem nie ruhenden Höllensturm bewegen, sieht Dante nun in Schaufenstern einer bordellartigen Peepshow. Und die Schlemmer (dritter Höllenkreis) wälzen sich nicht mehr in einem Sumpf aus Exkrementen und dauerndem Schmuddelregen, sondern – ebenfalls wie im Künstlerbuch – zwischen Bergen von Fastfood. Die Zornigen des fünften Höllenkreises darben zwar wieder im Schlamm der Styx; allerdings hat Meredith die Flammengräber der Häretiker (sechster Höllenkreis) in barthekenähnliche Särge verwandelt, die in einer Wellnessoase in der Höllenstadt Dis stehen. Der Wald, in dem in der Divina Commedia Selbstmörder in Bäume und Sträucher verwandelt sind, entspricht weitgehend der originalen Beschreibung Dantes. Die Homosexuellen (beide siebter Höllenkreis) laufen aber nicht mehr am Rand einer Feuerwüste im Kreis, sondern müssen kostümiert in einer Disco zu House-Musik tanzen. Auch die zehn ‚Übelgräben‘ des achten Höllenkreises hat Meredith erneuert: Unter anderem tragen die Heuchler statt schwerer Bleikutten nun Comic- und Werbefiguren-Kostüme; die Diebe wurden in ‚identity thieves for financial gain‘ umdeklariert und nehmen jeweils das Aussehen der gerade vorbeikommenden Person – oder besser: Schattengestalt – an; Odysseus als falscher Berater ist nun nicht mehr wie in der Divina Commedia in ein Feuerflämmchen verbannt, sondern muss als Strafe immer wieder von neuem seine Geschichte in einem Papierpuppentheater erzählen; und die Fälscher sind in neue Kategorien aufgeteilt, so dass die Geldwäscher in Waschmaschinen gewaschen und die Fälscher der Buchhaltung, „those who cooked the books“, über Büchern am Spieß gebraten werden. Im letz-

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ten Höllenkreis kehrt Meredith wiederum zur Divina Commedia zurück, wie in der Textvorlage sind auch bei ihm die Verräter im Eissee Kokytus eingefroren. Außer den Strafformen und -orten hat Meredith auch die SünderFiguren neu gestaltet bzw. um neues Personal ergänzt, wofür diesmal der Text des Künstlerbuchs Pate stand. Die Personen stammen zum Großteil aus der amerikanischen Politik und Gesellschaft. So zeigt Meredith beispielsweise John F. Kennedy und Marilyn Monroe bei den Wollüstigen; Barbara Bates, eine Schauspielerin, die Selbstmord begangen hatte, im Selbstmörderwald; James Storm Thurmond, ein erzkonservativer US-Senator, der für Rassentrennung eintrat, der aber – wie sich erst nach seinem Tod herausstellte – selbst ein uneheliches Kind mit einer farbigen Hausangestellten hatte, bei den Heuchlern; als Beispiele des achten Höllenkreises Dean Martin, Al Capone, Jimmy Carter, Nixon und andere; weiters treten auf Spiro Agnew, Vizepräsident der USA unter Nixon, der wegen Bestechung und Steuerhinterziehung zurücktreten musste; Curtis Le May, ein General der US-Air Force, ein vehementer Befürworter von Brandbomben und Nuklearkriege; Lizzie Borden, die in einem berühmten Mord Vater und Mutter getötet hatte; Ron Hubbard, der Gründer von Scientology u. a. m. Meredith integriert aber auch sehr bekannte internationale ‚Symbolfiguren‘ wie Hitler und Reagan bei den Zukunftsdeutern; Ceaucescu und seine Frau bei den Betrügern; Himmler bei den Erzverrätern; als Beispiele für Sünder der zehn malebolge im achten Höllenkreis Nietzsche, Pol Pot, Leni Riefenstahl usw. Wie schon im Künstlerbuch sind sie vor allem nach dem Kriterium der Wiedererkennbarkeit gewählt. Merediths Modernisierung der Hölle, ihres Aussehens im Inneren, des Strafsystems und der Personen, dient trotz mancher satirischer Seitenhiebe nicht dazu, eigene ideologische Aussagen zu treffen. Sondern sie steht im Dienste der Unterhaltung. Diese wird durch einzelne, gezielt komisierende Effekte im Film weiter unterstützt. So hat Meredith das Verfahren der herabsetzenden Vulgarisierung der Textvorlage im Vergleich zu Birk noch weiter verstärkt. Sein Dante ist nun wirklich weit von der ursprünglichen Erhabenheit der Divina Commedia entfernt: Am Beginn des Films kämpft er mit den Resten eines Vollrauschs, aus dem er in einer verlassen Straße erwacht; er kennt Vergil als Lektüre aus seiner Schulzeit – bekennt aber nun freimütig, dass er über der Aeneis eingeschlafen ist; und er findet Wollust nicht im ge-

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ringsten bestrafenswert, sondern hält Sex für das Schönste im Leben und beneidet die Verdammten des zweiten Höllenkreises. Auch sprachlich hat der Film ähnlich vulgarisierende Tendenzen wie die Übersetzung von Birk und Sanders, die Meredith zum Teil wörtlich übernimmt: Wie in der Vorlage nennt Dante Vergil „Virg“, Papst Nikolaus wird als „Pope Nicky“ bezeichnet, und der Ausruf „fuck“ ist stilprägend für den Film wie für die Übersetzung. Außerdem arbeitet Meredith mit dem Mittel der Übertreibung, etwa wenn am Beginn der Höllenwanderung in der infernalischen Dunkelheit nurmehr die grellweiß leuchtenden Augäpfel von Dante und Vergil vor schwarzem Hintergrund zu sehen sind; und als Dante vor Luzifer steht, fällt ihm übertrieben weit die Kinnlade herunter. Der Regisseur greift auf Wortspiele zurück, wenn die Geldwäscher (!), wie oben erwähnt, in einer Waschmaschine gewaschen werden. Er arbeitet mit technischen Tricks, beispielsweise wenn aus den Mündern der ‚gewaschenen‘ Sünder effektvoll Schaum sprudelt. Auch der Einsatz von Musik unterstreicht die humoristische Komponente des Films, z. B. als Odysseus seine Geschichte berichtet und das Piratenlied Hurrey and up she raises eingespielt wird. Schließlich wird der Film auch von vielen einzelnen Einfällen getragen, die wie im Künstlerbuch zum Teil slapstick-artigen Charakter haben: Die Bettler im Kreis der Ungetauften bitten Vergil darum, er möge ihnen von seinem Weg durch die Hölle Alkohol und Zigaretten mitbringen; und als Paolo und Francesca mit dem Buch von Lanzelot im Bett gezeigt werden, sieht man eine übergroße Erektion Paolos unter der Bettdecke. Schließlich fallen im Film wiederholte medienreflexive und selbstironische Brechungen auf. Bereits am Beginn des Films wird das Papierpuppentheater wie ein realer Theaterraum mit Bühne und Zuschauerrängen gezeigt, in dem dann das Inferno aufgeführt wird. Die Handlung des Inferno wird so zweifach medial gerahmt – sie ist ein Theaterstück in einem Puppentheaterfilm – und überdeutlich als Fiktion gekennzeichnet. Anschließend öffnet sich nicht nur ein Bühnenvorhang, sondern gleich fünf und dahinter noch ein Garagentor, eine ironische Übertreibung, die den Unernst des folgenden Geschehens betont. Im Film hat Meredith an verschiedenen Stellen und wie in den kleineren Illustrationen des Künstlerbuchs auf Alltagsgegenständen oder Hintergrundszenerien die Angabe ‚Canto‘ mit der entsprechenden Ziffer gesetzt, die auf das Buch bzw. die Bücher als Vorlage(n) verweisen und wiederum eine anti-illusionistische Wirkung

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haben. Diese wird auch dadurch unterstrichen, dass die Machart des Films immer wieder sichtbar ist, durch Stäbchen oder auch Finger, die die Puppen bewegen. Insbesondere die Odysseus-Szene, in der ein Puppentheater im Puppentheater gespielt wird (hier handelt es sich aber um ein Schattentheater mit expressionistisch anmutenden Figurenformen) und bei dem Vergil anmerkt, dass er Papierpuppen hasse, ist als augenzwinkernder Rückverweis auf die medialen Darstellungsformen im Film zu verstehen. Am Ende des Films, wenn wiederum eine Blende in den ‚Zuschauerraum‘ des Papierpuppentheaters gezeigt wird, läuft plötzlich ein Mann mit einer Leiter durch die winzig wirkenden Figuren und stört auch am Schluss noch einmal die Fiktion der Fiktion – auf der ‚Bühne‘ und im ‚Papierpuppentheater‘. Durch diese komisierenden Effekte, die sich fast im Sekundentakt folgen, will Meredith offenbar die unmittelbare Publikumswirksamkeit von Dante’s Inferno sicherstellen. Damit unterminiert er aber nicht nur jeden ernsthaften Aussagegehalt der Divina Commedia bzw. seines Films. Vielmehr werden Unterhaltung und Spaß zum beinahe alleinigen Inhalt seiner Adaption. Dass Meredith ausschließlich den ersten Teil von Dantes Divina Commedia verfilmt, der seit jeher als besonders plastisch und drastisch gilt und damit größeren Unterhaltungswert als die folgenden zwei cantiche besitzt, scheint dabei zum Gesamtbild der Adaption zu passen. Auf seiner Homepage zum Film zitiert Sean Meredith einige sehr positive Rezensionen, die vor allem die formalästhetische Originalität von Dante’s Inferno hervorheben. Hier zwei solcher Stimmen: „… the sheer level of artistry involved is immersive and like nothing you’ve ever seen on the big screen. Easily one of the most original films of the year, and probably one of the best, too. “, OC Weekly; „One of the films generating buzzover at Slamdance [film festival; TK] has been Dante’s Inferno. … The flick is visually stunning“, Boston Globe.

Daneben wird aber zumindest in einem Fall, zugegebenermaßen sehr grob und ironisch, die Verhältnismäßigkeit dieser Adaption im Vergleich zum Originaltext in Frage gestellt: „Whoever thought of making the greatest story ever put to paper into a PUPPET SHOW deserves to

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be shot and killed and have the dogs eat their guts!“, so ein anonymer Nutzer der IMDB.com-Datenbank. Tatsächlich markieren diese Stellungnahmen auch die Eckpunkte, innerhalb derer sich meine Eindrücke zum Film bewegen. Als ich beim Amsterdam Fantastic Film Festival im April 2008 zwei Aufführungen von Dante’s Inferno sah, schien mir die handwerklich exzellente Machart überraschend, voller guter Einfälle und formalästhetisch innovativ. Und gerade auch der Kontrast von weitgehend ernstem Originaltext und humorvoller Modernisierung brachte mich oft zum Lachen – womit ich jedoch (abgesehen von einem italienischen Mathematiker, der selbstverständlich Dante in der Schule gelesen hatte, wie er hinterher erzählte) fast alleine im Saal war. Damit stellt sich auch eine grundlegende Frage an diesen Film, nämlich: An welches Publikum richtet er sich überhaupt? Einerseits will er vor allem junge amerikanische Kinogänger ansprechen, die im Gegensatz zu einem internationalen Publikum die Bezüge zur amerikanischen Gegenwartskultur auch leicht auflösen können. Andererseits setzt er für ein wirkliches Verständnis an vielen Stellen die Kenntnis der Divina Commedia eigentlich voraus. Wo der Film in Italien womöglich Stürme der Begeisterung bei Commedia-geplagten Schülern hervorrufen würde bzw. in Amerika auf der satirisch-gegenwartsbezogenen Ebene eine eigene Wirkung entfalten kann, schien zumindest in Amsterdam diese Konstellation das offenbar Danteunkundige Publikum eher zu überfordern und ratlos zurückzulassen. Dass Sean Meredith in seiner Film-Adaption von 2008 einen ganz anderen Zugang wählt als beispielsweise Giuseppe de Liguoro in seinem berühmten Inferno-Stummfilm aus dem Jahr 1911 dürfte mehrere Gründe haben:35 In Liguoros Film wird die Handlung des Inferno zwar gekürzt, jedoch ohne sonstige inhaltliche Veränderungen oder Modernisierungen in einem ‚realistischen‘ Spielfilm gezeigt. Dieser Film und seine Ästhetik sind zunächst im Zusammenhang seiner Entstehung zu sehen: Der Film datiert aus der Frühzeit des Kinos, als sowohl der Film als Medium als auch das Kino als öffentliche Institu-

35

Der Stummfilm wurde 2004 als DVD, unterlegt mit der Vertonung des Inferno von Tangerine Dream, herausgebracht. Eine weitere DVDVersion, die auf einer restaurierten Filmfassung von Cineteca di Bologna beruht, kam 2011 in der Reihe Cinema Ritrovato heraus (http://en.wiki pedia.org/wiki/L%27Inferno_%28film%29).

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tion erst etabliert wurden. In dieser Frühphase wurden daher auch besonders viele literarische Klassiker filmisch adaptiert, um den Film und das Kino bei einer möglichst breiten Bevölkerungsschicht – und das heißt eben auch beim zahlungskräftigen Bürgertum, das bis dato vor allem das Theater als kulturellen Raum wahrgenommen hatte – zu verankern. Sowohl der kulturelle Kontext als auch die Rezeptionsweise der Klassiker bzw. hier eben Dantes Inferno haben sich hundert Jahre später grundlegend geändert: Die Divina Commedia wird nicht mehr ausschließlich auf einen hohen Sockel der unkritischen Bewunderung gestellt. Stattdessen findet inzwischen ein spielerischer und – explizit oder implizit – (ideologie-)kritischer Umgang mit ihrem Inhalt und auch ihrer gesellschaftlichen Stellung als kulturellem Meisterwerk statt.

VII Klero-Pop Marco Frisinas Musical La Divina Commedia. L’opera. L’uomo che cerca l’Amore (2007)

Wie bereits in der Einleitung erwähnt, fand am 22. November 2007 in einem riesigen Zelt nahe der Universität Tor Vergata am Stadtrand Roms die Uraufführung von La Divina Commedia. L’opera. L’uomo che cerca l’Amore statt. Zum ersten Mal überhaupt wurde an diesem Abend die Dichtung Dantes als Musical auf die Bühne gebracht. Das Musical, das in Italien und auch international ein großes Medienecho hervorrief, kann als ein besonderes Beispiel für die neueste Rezeption der Divina Commedia gesehen werden, die in den vergangenen Jahren von der Hoch- auf die so genannte Populär- und Eventkultur ausgeweitet wurde.

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V ON

DER I DEE ZUR

R EALISIERUNG

Initiator des Musicals war der Priester Mons. Marco Frisina. Marco Frisina (*1954) gehört zu den ranghöchsten Musikern im Umkreis des Vatikans: Papst Johannes Paul II. hatte ihn zum musikalischen Direktor der Lateransbasilika, der päpstlichen Bischofskirche in Rom, ernannt und ihm unter anderem die Verantwortung für die musikalische Gestaltung der Großveranstaltungen im katholischen Jubeljahr 2000 übertragen. Neben seinen kirchenmusikalischen und organisatorischen Tätigkeiten hat Mons. Frisina selbst auch viele Musikwerke komponiert. Das Spektrum der Kompositionen reicht von Oratorien, von denen viele im Beisein des Papstes uraufgeführt wurden, bis hin zu populären Genres. Unter anderem verfasste Frisina die Musik für mehr

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als 30 Filmproduktionen, darunter für Dokumentationen der italienischen Fernsehsender RAI und Mediaset wie Callas und Onassis, Papa Giovanni oder San Pietro; gemeinsam mit Ennio Morricone, der als Filmkomponist vielfach ausgezeichnet wurde und der 2007 den Oscar für sein Lebenswerk erhielt, entstand die Musik für das mehrteilige Spielfilmprojekt La Bibbia. Doch nicht nur für Filme, sondern auch für den kirchlichen Alltagsgebrauch schreibt Frisina Stücke. Unter anderem stammt das populäre Kirchenlied Jesus Christ, you are my life aus seiner Feder. Das Lied entwickelte sich zu einem regelrechten ‚Kirchen-Schlager‘, den die Gläubigen auch unter dem Fenster des sterbenden Papstes Johannes Paul II. auf dem Petersplatz sangen. Nach eigenen Aussagen hatte Marco Frisina schon längere Zeit mit dem Gedanken an eine Vertonung der Divina Commedia gespielt. Allerdings fehlte ihm eine konkrete Idee, wie er die komplexe Langdichtung praktisch umsetzen sollte. Den entscheidenden Anstoß lieferte ihm schließlich die am 25. Dezember 2005 veröffentlichte Enzyklika Deus caritas est.1 In der Enzyklika behandelt Papst Benedikt XVI. das Thema der christlichen (Nächsten-)Liebe – was Frisina wiederum zu einer auf die christliche Liebes-Thematik zugespitzten Interpretation der Divina Commedia inspirierte. Die Fokussierung auf dieses Motiv sollte es ihm ermöglichen, das umfangreiche Werk in einer synthetisierenden Lesart, einer „lettura essenziale“2, auf ein komponier- und darstellbares Maß zu reduzieren. Mit der Vertonung der Divina Commedia, die Frisina nicht nur als einen Glanzpunkt der italienischen Literatur, sondern auch als ein zutiefst christlich inspiriertes Werk betrachtet, verfolgte er zwei Hauptziele: Einerseits zielte er darauf ab, Defizite der italienischen Normalrezeption des Werks zu kompensieren. Die Divina Commedia, die viele Italiener vor allem über mehrere Schuljahre verteilt im Italienischunterricht kennen lernen, werde, so Frisina, im Zuge der schulischen Pflichtlektüre mehr oder weniger zusammenhanglos und zerstückelt gelesen. Im Unterricht beschäftigten sich die Schüler nur mit einzelnen berühmten Episoden, der Gesamtzusammenhang der Dichtung gerate so jedoch aus dem Blick:

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Erschien im Buchhandel, ist aber auch abrufbar unter www.vatican.va.

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La Divina Commedia. L’opera. L’uomo che cerca l’Amore. Programmheft zum Musical. S. 36.

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La cultura popolare dantesca, che nasce in Italia soprattutto sui banchi di scuola, per quanto preziosa e insostituibile, soffre suo malgrado di una certa frammentarietà. Nei programmi scolastici, inevitabilmente, la lettura di Dante è distribuita su un arco di tempo di svariati anni, ed è basata su un approccio antologico. È come guardare un film col ditto sul tasto dell’avanti veloce, soffermandosi solo di tanto in tanto. Il risultato è che, grazie all’amore e alla dedizione di tanti insegnanti, molti conoscono le [sic] passione travolgente di Francesca, l’irrefrenabile spirito di ricerca di Ulisse, ma nonostante tutto, pochi sanno collocare questi personnaggi in un quadro più ampio e spiegare perché Dante li incontri e cosa impari da loro nel suo percorso.

Im Unterschied zu einer solch fragmentarischen Lektüre wollte Frisina mit seiner Adaption den ‚eigentlichen‘ Kern der Divina Commedia wieder sichtbar machen. Dieser Kern liegt seines Erachtens am Endpunkt von Dantes langer Wanderung durch die Hölle, das Purgatorium und das Paradies, in seiner Begegnung mit Gott. Ausgehend von diesem Endpunkt werde der Text insgesamt erst verstehbar: „‚La Gloria di Colui che tutto move‘, l’Amore che muove ogni cosa, trino, unico e indivisibile, che abita al di là dell’Universo e che nello stesso tempo tutto lo avvolge e comprende, è la vera chiave di lettura della Divina Commedia.“3 Andererseits wollte Frisina die Divina Commedia mit neuen Mitteln einem möglichst großen Publikum nahe bringen.4 Vor diesem Hintergrund entschied sich Frisina für das Musical (er selbst bezeichnet sein Werk als ‚opera moderna‘) als Gattungsform seiner Bearbeitung. Mit dem Musical, das ein „populäres, unterhaltendes und kommerzielles Genre des Musiktheaters“ ist, „das gleichermaßen Schauspiel, Gesang, Tanz und Szene einbezieht“5, sollte eine große Breitenwirkung bewirkt werden (jegliche finanziellen Gewinne, auf die es Frisina nicht ankam, wollte er für die Renovierung verschiedener Kirchen in Rom spenden). Der Produzent des Stücks, Riccardo Rossi, betonte entsprechend: „Das wird eine moderne Oper mit vielen Stilarten, die alle erreichen soll – kein Werk nur für den Vatikan und

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Ebd.

4

Ebd., S. 36.

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Lemma ‚Musical‘ in: Ludwig Finscher; Friedrich Blume (Hgg.): Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Band 6: Meis – Mus. Kassel u. a.: Bärenreiter, 2. neubearb. Aufl., 1997. S. 687-709. Hier: S. 687-8.

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seine Priester. Wir wollen Dantes Epos und seine Botschaft allen Menschen, Kulturen und Gesellschaftsschichten nahe bringen.“6 Im Vorwort des Programmheftes zum Musical gestand Frisina zwar die grundsätzliche Unmöglichkeit einer adäquaten Vertonung von Dantes Meisterwerk ein:7 Inscrivere lo straordinario, vasto e complesso poema di Dante nelle misure necessariamente raccolte di un’opera musicale è un’impresa che „fa tremar le vene e i polsi“. Inutile nasconderlo, il tentativo ha un po’ il sapore di una profanazione. Non si può comprimere ciò che è grandioso, „divino“, in una dimensione più modesta e accessibile, come non si può riversare il mare in una buca. Un confronto diretto con la vetta più luminosa della letteratura italiana è semplicemente disperato.

Doch trotz dieser Bedenken ließ er sich letztlich nicht davon abhalten und machte sich ans Werk – „con la fiducia che l’arte è sempre capace di produrre altra arte“.8 Für die Gestaltung des Musicals sammelte Frisina Mitarbeiter um sich, die in verschiedener Weise mit den Arbeitstechniken und Ausdrucksformen von Unterhaltungsmedien vertraut waren. Daniele Falleri und Elisabetta Marchetti etwa, die die Theaterregie übernahmen, waren vorher vor allem im Fernsehbereich tätig. Marchetti hatte u. a. die in Italien äußerst beliebten Sendereihen Un medico in famiglia, Don Matteo und Carabinieri betreut und an einigen biblischen Produktionen mitgewirkt. Die Choreographinnen Anna Cuocolo und Francesca Romana Di Maio hatten Engagements im Fernsehballett. Mit Paolo Miccichè konnte Frisina einen Beleuchtungsdesigner gewinnen, der international für seine Licht-Projektionen bei großen Opern-Inszenierungen von sich Reden gemacht hat (u. a. Cavalleria Rusticana bei den Salzburger Festspielen 1996)9. Und Carlo Rambaldi, der für seine Maskenentwürfe von King Kong, E.T. und Alien jeweils mit dem Os-

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Andreas Pfeifer: „Die Hölle rockt. Ein priesterlicher Komponist vertont Dantes Göttliche Komödie“. In: 3sat Kulturzeit vom 11.01.2007. http:// www.3sat.de/kulturzeit/themen/102907/index.html.

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Programmheft, S. 36.

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Ebd.

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Informationen zu den Inszenierungen auf www.paolomicciche.it.

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car ausgezeichnet worden war, übernahm die Maskenentwürfe im Musical. Marco Frisina rührte früh die Werbetrommel. Zu Jahresbeginn 2007 gab er die ersten Interviews, in denen er das Projekt vorstellte.10 Frisina kündigte öffentlichkeitswirksam an, dass er sein Werk Papst Benedikt XVI. widme und dass er darauf hoffe, dass die Premiere in der Sixtinischen Kapelle stattfinden könnte – ein Wunsch, der letztlich nicht in Erfüllung ging. Das Aufführungszelt wurde später auf der Piazza Giovanni Paolo II. errichtet, dem Platz, auf dem in Rom der Weltjugendtag stattgefunden hatte und auf dem noch immer ein großes, hell erleuchtetes Eisenkreuz steht, so dass der Aufführungsort dennoch christlich konnotiert war. Es wurden namhafte Schirmherren gefunden, die dem Musical von vorneherein den Status großer kultureller Bedeutung verliehen, darunter hochrangige politische, kulturelle und kirchliche Institutionen wie der italienische Senat der Republik, das Abgeordnetenhaus, das Erziehungs- und Außenministerium und einige Provinzen, die italienische Dante-Gesellschaft, die italienische Bischofskonferenz und der päpstliche Kulturrat. Zudem unterstützten verschiedene Sponsoren das Projekt finanziell.11 Unmittelbar vor und nach der Premiere berichteten nationale wie internationale Medien umfangreich über das Werk – in Italien beinahe ausschließlich positiv und das Musical bewerbend als „evento musicale di quest’anno“, als „evento unico […] senza precedenti“12 und „opera kolossal“13. Als eine von wenigen kritischeren Stellungnahmen zitierte die Sendung 3sat Kulturzeit den Präsidenten des Päpstlichen Instituts Musica sacra,

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Es wurde eine eigene Website aufgebaut, auf der man Newsletter per Mail abonnieren konnte, durch die man die neuesten Nachrichten über den Fortgang der Produktion erhielt und auf der man ein Trailer des Musicals ansehen kann. www.ladivinacommediaopera.it; auf der Homepage sind der Pressespiegel und Aufzeichnungen von Besprechungen im Fernsehen und Radio abrufbar.

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U. a. E-Wind, La Banca di Credito Cooperativo di Roma, COTRAL Compagnia Trasporti Laziali.

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Retroscena / Sat 2000 vom 17.12.2007.

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TG5 vom 17.12.2007.

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der das Musical als ‚musikalischen Sündenfall‘ beklagte und festhielt:14 Mit musikalischer Qualität hat dies rein gar nichts zu tun. […] Das kann ich ruhigen Gewissens behaupten, denn ich kenne andere Werke dieses Komponisten. Nichts ist daran interessant. Das wird eine Drei-Stunden-Oper ohne eine einzige Note Musik. Leider. Aber es wird hochgelobt, von Sponsoren unterstützt und meinetwegen von den größten Theatern der Welt aufgeführt. Da kann ich nur lachen.

Dennoch: Die Premiere wurde – zumindest der Berichterstattung nach – ein voller Erfolg, beinahe alle weiteren Aufführungen waren ausverkauft, die Spielzeit in Rom wurde einige Male verlängert und seit dem Frühjahr 2008 gastiert das Musical in verschiedenen italienischen Städten.

2

D AS M USICAL L A D IVINA C OMMEDIA . L’ OPERA . L’ UOMO CHE CERCA L ’A MORE

Bei der Bearbeitung der Divina Commedia folgte Frisina seiner doppelten Zielsetzung: Die mittelalterliche Dichtung wurde als Musical ‚unterhaltsam popularisiert‘. Den vielschichtigen Inhalt der fiktiven Jenseitsreise verdichtete er dabei in einer dezidiert christlichen Lesart. Unterhaltsame Popularisierung Zu den Aufführungen des Musicals erschien ein 110 Seiten starkes Programmheft im DIN A 5-Format. Neben vielen Bildern der Inszenierung, Informationen zu den Künstlern und Produzenten und Hinweisen auf technische Details der Aufführung enthält das Programmheft nicht nur die vollständigen Liedtexte und Erläuterungen zur Bearbeitungsintention, sondern darüber hinaus auch einführende Beschreibungen zum Leben und Werk Dante Alighieris, zur Divina Commedia, ihren historischen Entstehungskontext und zu den groben Handlungsabläufen in den drei cantiche. Die Zuschauer können so vor oder nach der Aufführung ihr Wissen über die Dichtung auffrischen;

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Pfeifer in 3sat Kulturzeit, a. a. O.

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durch die Informationen zur Interpretation soll das Bühnengeschehen noch leichter und besser verstehbar sein. Für das Musical musste die mehr als 46.000 Verse umfassende Dichtung wesentlich gekürzt und vereinfacht werden. Schließlich sollte das Werk, für das ein durchschnittlicher Leser wohl mehrere Wochen, wenn nicht gar Monate veranschlagen muss, um es ganz zu lesen und – gegebenenfalls mithilfe umfangreicher Kommentare – zu verstehen, als kompakte Abendveranstaltung im Umfang von zweieinhalb Stunden gezeigt werden. Im Musical wird der Weg des Protagonisten Dante vom Anfangsbis zum Endpunkt seiner Wanderung durch die transzendenten Welten nachvollzogen. Die Darstellung beschränkt sich jedoch auf wenige markante Episoden, die weitgehend zum Kanon dessen gehören, was von der Divina Commedia, wie schemenhaft auch immer, in Italien üblicherweise bekannt und durch lange Rezeptionsprozesse im kollektiven Gedächtnis gefestigt ist. Die gezeigten Episoden umfassen (in der Aufteilung des Programmhefts): Primo atto: Inferno I Ouverture. La lotta in cielo (instrumental, 1) [Kampf und Absturz Luzifers aus dem Himmel] II La selva oscura (Lied 2-3) [Dantes Verirrung im Wald; Sendung Vergils durch Beatrice] III Le tre fiere (L.4-5) [Dantes Begegnung mit drei wilden Tieren] IV La porta dell’Inferno (L. 6-7) [Höllentor] V Caronte (L. 8-9) [Charon] VI Francesca (L. 10-11) [Paolo und Francesca] VII Le mura di Dite (L. 12-15) [Eintritt in die Höllenstadt Dis] VIII Pier delle Vigne (L. 16-17) IX Malebranche (L. 18) X Ulisse (L. 19-20) XI Ugolino (L. 21-22) XII A riveder le stelle (L. 23-24) [Anblick Luzifers; Ausgang aus der Hölle]

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Secondo atto: Purgatorio XIII In exitu Israel de Aegypto (L. 25-27) [Ankunft am Läuterungsberg; Gesang der Seelen] XIV Pia de’ Tolomei (L. 28) XV Manfredi (L. 29-30) XVI L’ora che volge il disio (L. 31-32) [Gesang der Seelen: ‚Te lucis ante‘] XVII Il serpente (L. 33) [Dantes Schlangen-Vision] XVIII L’Angelo della penitenza (L. 34) XIX I poeti (L. 35-36) [Guido Guinizzelli und Arnaut Daniel] XX Addio di Virgilio (L. 37) [Abschied Vergils] Paradiso XX Matelda (L. 38) XXI La processione del Grifone (L. 39-40) [Allegorische Prozession der Kirche; Erscheinen Beatrices] XXII Beatrice e Dante (L. 41-42) [Strafrede Beatrices; Aufstieg ins Paradies] XXIII La danza del cielo (L. 43) [Kreisen der Seelen um Gott] XXIV Vergine Madre. Finale [Piccarda, San Tommaso und San Bernardo; Gebet an Maria; Anblick Gottes als Lichterscheinung] Obwohl für Frisina der Schlusspunkt der Divina Commedia, Dantes Begegnung mit Gott, der Schlüssel zum Werk ist, liegt das Schwergewicht der Auswahl auf dem Inferno. Aufgrund der Dramatik der im Höllen-Teil dargestellten Ereignisse war das Inferno seit jeher weitaus beliebter und verbreiteter als die folgenden Teile. Es kann vermutet werden, dass auch Frisina das Inferno quantitativ bevorzugte, um dessen Unterhaltungsqualitäten und Wiedererkennungseffekte für das Musical zu nutzen. Zu den ausgewählten Episoden schrieb Marco Frisinas PriesterKollege Gianmario Pagano, der in Rom als Schullehrer für Religion tätig ist und gemeinsam mit Frisina an einer Reihe von christlichen

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TV-Produktionen mitgewirkt hat, die Songtexte.15 Wie Pagano die Textvorlage verarbeitet, zeigt bereits der erste Liedtext im Stück: 2. Notte. Aria di Dante DANTE [gesprochen] Nel mezzo del cammin di nostra vita mi ritrovai per una selva oscura, ché la diritta via era smarrita. Ahi, quanto a dir qual era è cosa dura, esta selva selvaggia aspra e forte che nel pensier rinnova la paura … DANTE [gesungen] Notte che dilaghi dentro me, notte che oscuri la mia vita, notte che avvolgi la mia mente in un cammino senza strade. Chiuso in un abisso senza uscita, in un abbraccio gelido, in quest’angoscia io mi perdo in una selva tra le tenebre. Cerco una speranza che mi illumini, cerco una strada oltre il buio mentre mi perdo in questa notte, mentre smarrito cerco l’alba, e grido al cielo, grido il dolore di ogni uomo, la vita che è dolore dentro me. Tenebrosa selva che mi stringi in un abbraccio senz’amore,

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U. a. Le storie della Bibbia; Gli amici di Gesù; San Paolo; San Giovanni – L’Apocalisse; San Pietro; Karol; Maria Montessori, una vita per i bambini.

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lascia che veda un po’ il cielo al di là di queste tenebre. Cerco una speranza che mi illumini, cerco una strada oltre il buio mentre mi perdo in questa notte, mentre smarrito cerco l’alba, e grido al cielo, grido il dolore di ogni uomo, la vita che è dolore dentro me.

Nach der Ouvertüre beginnt das Musical mit einem gesprochenen Originalzitat der ersten Verse des Inferno; wie hier werden im Musical immer wieder kurze Originalpassagen zitiert. Während das Zitat gesprochen wird, ist der Text des ersten Inferno-Gesangs gleichzeitig durch eine Projektion auf halb durchsichtigen Vorhängen im gesamten Bühnenvordergrund zu sehen, die Schrift scheint eine mittelalterliche Schreibschrift zu imitieren. Die Buchstaben und Wörter werden nach unten gezogen, so dass es aussieht, als würden sie nach unten fließen und den Wald formen, in dem sich Dante bei seinem anschließenden Auftritt verirrt. Mit dieser Inszenierung zu Beginn des Stücks wird innerhalb der Aufführung der einzige Hinweis darauf gegeben, dass es sich beim Musical um eine Adaption eines geschriebenen Textes, um den Transfer vom Medium Schrift in eine plurimediale Inszenierung handelt. Im weiteren Lied wird die in den ersten Verszeilen des Inferno beschriebene Situation, dass Dante sich in einem Wald verlaufen hat, wiederholt und als innere, seelische Verirrung Dantes gedeutet. Der Liedtext ist dabei weitgehend frei verfasst, durch die Wiederaufnahme von Schlüsselbegriffen des Originaltextes („cammino“, „smarrito“, „selva“, „vita“) bzw. Umschreibungen („tenebroso“ und „buio“ statt „oscuro“; „strada“ statt „via“) bleibt der Ausgangstext aber präsent. Die Sprache und Satzstrukturen im Lied sind hier wie sonst auch sehr einfach. Die Aussagen sind durch verschiedene Wiederholungsstrukturen (Wortwiederholungen, Anaphern, Parallelismen, Refrains etc.) eingängig und leicht verstehbar. Abgesehen von den Kürzungen und Vereinfachungen auf der Textund Inhaltsebene setzt Frisina bei seiner Adaption vor allem auf die

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Wirkung als spektakuläres Musical. Musik und Gesang, Bühne und Licht, Darsteller und Kostüme, Bewegungen, Tanz und Requisiten sollen die Divina Commedia auf unterhaltsame bis spektakuläre, sinnliche, emotionale und dabei leicht verständliche Weise zugänglich machen. Schon die Rahmenbedingungen des Musicals sollen dazu beitragen, beim Publikum den Eindruck von etwas noch nie Dagewesenem zu erwecken. Am Ende des Programmhefts wird das Stück als „autentico kolossal“ gerühmt, als „uno spettacolo unico nel suo genere a cominciare dai numeri“16: Es werden Daten der Bühnen- und Beleuchtungsmaschinerie aufgelistet, die die ultra-moderne und äußerst leistungsstarke Technik deutlich machen. Die Größe der Bühne von 24x24m wird ebenso betont wie die Größe des Zeltes, das 2.500 Zuschauer fasst. Selbst die Größe des Foyers wird genannt (30x40m). Es wird berichtet, dass an der Aufführung über 200 Künstler beteiligt seien, für die aus tausenden Metern Stoff mehr als 600 Kostüme geschneidert wurden. Und es wird erwähnt, dass erstmals in Italien die Auswahl der Künstler aus mehr als 2.500 Bewerbern durch reines Online-Casting stattgefunden hatte. All diese Elemente sollen den spektakulären Charakter des Musicals unterstreichen und ihm die Aura eines Events verleihen, den man wegen seiner Einzigartigkeit nicht verpassen sollte. Bei der Aufführung folgen die einzelnen Szenen kontrastreich und in rascher Folge aufeinander – sie dauern meist nicht länger als vier Minuten –, wodurch jede Langeweile vermieden werden soll. Die Komposition der Musikstücke übernahm Frisina selbst. Die Melodien und Rhythmen unterstreichen die in den Liedtexten ausgedrückten Aussagen, wobei sich Frisina der Klangsprache von Jazz, Pop und (Hard-)Rock vor allem im Inferno und melodischer Symphonik in der Tradition des 19. Jahrhunderts sowie gregorianischer Kirchenmusik im Purgatorio und Paradiso bedient. Auf der Bühne ist ein großer dreh- und anhebbarer Ring installiert, der die Höllenkreise bzw. Stufen des Läuterungsberges und Himmelssphären symbolisiert. Je nach Szene werden über der Bühne an verschiedenen Stellen verschieden große weißlich-durchsichtige Stoffbahnen heruntergelassen, auf die mit einem riesigen Projektor das Bühnenbild geworfen wird. Die Bilder beruhen auf den fein gestalteten

16

Programmheft, S. 103-105.

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Radierungen zur Divina Commedia des französischen Buchillustrators Gustave Doré, die eingefärbt und bewegt gezeigt werden.17 Dass die Illustrationen Dorés im Stil des 19. Jahrhunderts realistisch gezeichnet sind, erleichtert die Rezeption, bei der über eine mögliche allegorische Bedeutung des Bühnenbilds, wie es bei hochkulturellen Inszenierungen oft der Fall ist, nicht weiter nachgedacht werden muss: Die Bilder ‚zeigen‘ was sie ‚meinen‘ – den Literalsinn der Dichtung als Wanderung durch transzendente Welten. Auch die Kostüme, Masken und Requisiten sind insgesamt realistisch gehalten und bedürfen keiner größeren Anstrengung, um verstanden zu werden. Neben (Lied-)Texten, Musik und Bühnenbild wird die Handlung auf der Bühne auch durch choreographierte Bewegungen vermittelt. So beginnt das Musical mit einer Art Luftballett von zwei Personen, die den Kampf und den Absturz Luzifers aus dem Himmel darstellen. Es gibt verschiedene Tanzeinlagen, beispielsweise eine Balletteinlage in der romantischen Liebesepisode von Paolo und Francesca, bei der der Solotänzer als Paolo jeweils nur einmal besonders spektakuläre Sprünge und Drehungen zeigt. Im Purgatoriums-Teil tanzen Frauen mit großen Fächern, die mit Blumen bemalt sind, einen ‚Schmetterlingstanz‘, der die Schönheit des irdischen Paradieses visualisieren soll und der dem Fernsehballett entlehnt zu sein scheint. Und wenn gegen Ende des Stücks die Prozession des Greifen mit übergroßen Wagen und Menschen mit goldenen Flügeln durch die Mitte des Zuschauerraums zur Bühne zieht, werden sie von Akrobaten begleitet, die mit Flic Flacs und Salti das Geschehen begleiten und die bereits im Inferno-Teil mehrere Auftritte haben, bei denen sie u. a. wilde Teufel ver-

17

Paolo Miccichè, der das Bühnenbild entworfen hat, hatte schon früher mit derartigen Projektionen der Radierungen von Doré experimentiert, und zwar im Zusammenhang des von ihm initiierten und nach wie vor existierenden

Multimedia-Projekts

DanteXperience

(www.dantex

perience.com). Dabei wird Liszts Dante-Symphonie gespielt, wäherend im Hintergrund Bilder Dorés gezeigt und verschiedene Passagen aus der Divina Commedia rezitiert werden. Die Idee geht auf Franz Liszt selbst zurück, der bei der Uraufführung seines Werks im Jahr 1856 ursprünglich Illustrationen zur Divina Commedia eines Zeitgenossen, Bonaventura Genelli, als bewegte Bilder durch eine Laterna Magica zeigen wollte – ein Projekt, das aus finanziellen Gründen damals nicht realisiert werden konnte und das Miccichè in neuer Form für das Musical revitalisiert hat.

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körpern. Auch bei diesen Einlagen geht es um Abwechslung und um die Reaktion eines überraschten Staunens bei den Zuschauern – um Unterhaltung also, nicht aber um intellektuelle Reflexion. ‚Amore‘-Interpretation Mit den verschiedenen Verfahren der Vereinfachung und des Medienwechsels soll dem Publikum nicht nur eine light-Version der Divina Commedia als leicht verdauliches Unterhaltungsspektakel geboten werden. Vielmehr will Frisina mit dem Musical auch eine klare, ernsthafte Botschaft vermitteln: Der Mensch findet Erlösung bei Gott. Diese Botschaft, die für Marco Frisina und Gianmario Pagano als Priester einen existenziellen Wahrheitsgehalt birgt, wird im Musical durch eine auf die christliche Liebe zentrierte Interpretation der Divina Commedia transportiert. Im Gesamtwerk Dantes und auch in der Divina Commedia spielt die Liebe, ‚l’amore‘ bzw. ‚l’Amore‘, eine zentrale Rolle. Der Liebesbegriff Dantes ist äußerst facettenreich und variabel. Unter dem Stichwort ‚Amore‘ unterscheidet beispielsweise die Enciclopedia Dantesca insgesamt 25 verschiedene Bedeutungen, die der Begriff in Dantes Werk und in der Divina Commedia umfasst.18 Sie reichen von der hochstilisierten Liebeskonzeption im Kontext der höfischen Minnelyrik über Amor als personifizierten Liebesgott bis hin zur religiöskeuschen Verehrung Marias, von freundschaftlichen Gefühlen gegenüber Anderen bis zur Hingabe an geistige Studien. Als ‚Krönung‘ des Liebesbegriffs gestaltet Dante im Paradies-Teil der Divina Commedia die Liebe zu Gott bzw. die Liebe Gottes, der in der christlichen Tradition als die erste, reine und ewige Liebe gedacht wird, von der alle Liebe ausgeht.19 Die Zentrierung auf die Liebe als Leitmotiv im Musical schlägt sich bereits in der Rahmengestaltung und der Vermarktung nieder: Der Aufführungsort ist ganz in der Symbolfarbe Rot gehalten, Sessel und

18

Lemma ‚Amore‘ in Umberto Bosco (Hg.): Enciclopedia Dantesca. Bd. 1: A-Cil. Roma: Istituto della Enciclopedia Italiana, 1970. S. 221-236.

19

Ebd., S. 235-6. Dante gebraucht den Begriff ‚amore‘ 19 Mal im Inferno, 50 Mal im Purgatorio und 85 Mal im Paradiso (S. 235).

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Teppiche im großen Zelt ebenso wie die Innenausstattung des Foyers. Auch das Programmheft, das CD-Cover, Werbeflyer für das Musical oder Erinnerungsartikel wie Tassen, Jutetaschen, Stifte, T-Shirts, Schirme etc. sind in der Leitfarbe gestaltet. Außer durch die rote Farbe wird das Liebesmotiv zusätzlich durch ein Emblem betont, ein Herz, das von einer Schreibfeder durchstoßen ist; es ist auf allen Covers und Devotionalien aufgedruckt. Das Liebesmotiv spielte schließlich auch beim Ticketverkauf eine Rolle, als u. a. am Valentinstag 2008 zwei Eintrittskarten zum Preis von einer verkauft wurden. Vor allem in den Liedtexten arbeiten Frisina und Pagano das Grundmotiv der Liebe aus, das sie auf eigene Weise schärfen:20 Im Musical wird Dante als Wanderer stilisiert, der vom Beginn bis zum Ende seines Weges auf der Suche nach der ‚wahren‘ Liebe ist. Diese Interpretation wird im Untertitel der Bearbeitung vorweggenommen – L’uomo che cerca l’Amore. Das Leitmotiv des Musicals wird im ersten und zweiten Gesang vorbereitet. Im ersten, oben bereits vollständig zitierten Gesang Dantes wird dessen Verirrung im nächtlichen Wald psychologisch ausgedeutet, der Liedtext geht dabei über die Aussagen der Vorlage weit hinaus. Dantes äußerer Zustand entspricht, so der Text, allegorisch einer inneren Ver(w)irrung („Notte che dilaghi dentro me / notte che oscuri la mia vita / notte che avvolgi la mia mente […]“). In dieser Situation, die Dante Angst und Schmerz bereitet („in quest’ angoscia io mi perdo“; „la vita che è dolore dentro me“), sucht er mit Blick zum Himmel nach Erlösung, nach einer ‚Hoffnung‘, die ‚erleuchtet‘ („una speranza che mi illumini“) und die metaphorisch mit dem Morgenlicht („alba“) im Gegensatz zum nächtlichen Dunkel beschrieben wird. Die persönliche Situation Dantes wird im Lied zur conditio humana aller Menschen und des Lebens an sich erweitert; der Zuschauer darf hier wie im gesamten weiteren Stück Dante als mögliches Abbild seiner selbst erfahren („[..] grido al cielo / grido il dolore di ogni uomo / la vita che è dolore dentro me“ [Herv. TK]). Die Grundbedingung Dantes wird in der vorletzten Strophe als ein Leben ohne Liebe, „senza amore“, charakterisiert.

20

In den Liedern wird der Schlüsselbegriff ‚amore‘/ ‚Amore‘ insgesamt über 80 Mal genannt, was ein deutlicher Hinweis für seine Dominanz im Musical ist.

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In der unmittelbar darauffolgenden Szene erscheint Beatrice, Dantes frühere Jugendliebe, deren Seele im Paradies weilt (L. 3). Beatrice singt ausschließlich die Schlussverse der Divina Commedia, den Begriff ‚Amore‘ wiederholt sie mehrmals: „Amore, / l’Amor che move il sole e l’altre stelle. […] Amore … Amore / Che move il sole. / L’Amor che move le stelle.“. Die Szene entspricht strukturell der in der Divina Commedia ausführlicher beschriebenen Szene, in der Beatrice Vergil aus der Hölle zu Dante schickt, um ihn in seiner Situation der Verirrung auf den ‚rechten Weg‘ zurückzuführen (Inf. II); im Original werden hierbei jedoch keineswegs die Schlussverse der Dichtung vorweggenommen. Die Amore-Verse verweisen im Musical auf das Ziel von Dantes Weg, nämlich auf Gott als die ‚wahre‘ Liebe. Der Bogen, den die Handlung im Musical vollzieht, ist spätestens hier überdeutlich vorgezeichnet. Von diesem Ausgangspunkt her macht sich Dante im Musical auf die Suche nach der ‚wahren‘ Liebe. Wie sie aussieht, weiß Dante am Beginn der Wanderung noch nicht, sie wird ihm erst im Paradies offenbar. Auf dem Weg dorthin werden Dante, und damit dem Zuschauer, in den Begegnungen mit den Figuren im Jenseits verschiedene Spielarten von ‚falscher‘ und ‚richtiger‘ Liebe vorgestellt, die dazu führten, dass die Seelen der Verstorbenen sich entweder in der Hölle bzw. auf dem Läuterungsberg oder im Paradies befinden.21 Die Episoden aus der Divina Commedia werden dafür ausdrücklich und oft wesentlich deutlicher als im Original auf das Liebes-Motiv hin zentriert. Ein Beispiel möge das veranschaulichen. Der Fährmann Charon (L. 9) tritt mit einem großen Ruder auf und treibt die Sünder auf seinen Kahn, mit der er sie über den Höllenfluss Acheron in die tieferen Höllenregionen bringt. In seinem mit sadistisch-boshaftem Unterton gesungenen Lied trägt er ihre Sünden vor: Poveri voi ricchi, che non avete pianto,

21

Vgl. Programmheft, a. a. O., S. 3: „Nei due atti è descritto il viaggio di Dante alla ricerca di quell’Amore che muove l’universo e il cuore dell’uomo, quell’Amore che, tradito e frainteso, crea la sofferenza dei personaggi dell’Inferno, che strugge il cuore delle anime del Purgatorio desiderose di raggiungere il Cielo, che riempie di gioia le anime beate del Paradiso.“

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vendeste il cuore per oro falso cercando ciò che non sazia. Ciechi che non vedete Chi tende la sua mano, chi disperato chiede da voi un segno di speranza. […] Voi che ridete sempre Indifferenti al mondo Cercando solo felicità … Avete perso tutto!

Im Originaltext finden sich keine derartigen Aussagen Charons über die Sünden der von ihm aufgesammelten Seelen. Hier klagt er faktisch die mangelnde Nächstenliebe der Sünder an, die im Leben das Falsche gesucht hätten (u. a. „cercando ciò che non sazia“, „cercando solo felicità“). Im Refrain charakterisiert Charon die zur Hölle Verdammten als Menschen, die ohne Liebe gelebt haben: „Gente perduta e senza pietà, / la vostra vita senza l’amore!“. Grundlage für die pauschalierende Zuschreibung ist die Auffassung Frisinas, dass der Mensch die erstaunliche Fähigkeit zu Lieben besitzt, die sich direkt von Gott herleitet; es liegt in der freien Verantwortung des Menschen, sie angemessen zu nutzen:22 […] l’Amore che tutto muove aiuta a cogliere l’unico movimento che davvero conta, quello interiore, umano, che manifesta la misteriosa capacità donata all’uomo di poter amare e che lo rende l’essere più somigliante a Dio. Per Dante, prima ancora che l’intelligenza, l’immagine divina impressa nell’anima dell’uomo è la sua capacità di donare e ricevere amore. E amare significa orientare la propria libertà, avere la possibilità di dirigere la propria volontà, poter decidere a cosa far aderire l’anima. E l’anima, infine, diventa simile a ciò cui si unisce.

Frisinas Erklärung stimmt zumindest grob mit den Aussagen Vergils im 17. Gesang des Purgatorio, dem zentralen Scharniergesang der

22

Programmheft, S. 37.

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Divina Commedia, überein. Darin erklärt Vergil dem Wanderer Dante, dass den Menschen zwei Arten von Liebe gegeben seien, ein amore naturale und ein amore d’animo: Die natürliche Liebe sei dem Menschen angeboren, sie könne nicht fehlgeleitet werden, wohingegen die geistige Liebe dem freien Willen des Menschen unterworfen sei. Obwohl der Mensch idealerweise seine geistige Liebe ganz auf Gott richten solle, könne er sie doch im Maß oder im Ziel falsch lenken, was als Verstoß gegen die göttliche Ordnung bestraft werde.23 Trotz gewisser Übereinstimmungen ist das Lied Charons natürlich stark vereinfachend – vom höchst differenzierten Sünden- und Strafsystem der Divina Commedia, das Vergil in Inf. XI darlegt und das vornehmlich auf die Ethik des Aristoteles zurückgeht, ist im Musical nichts mehr zu erkennen. Am Ende seines Weges durch das Jenseits wird im Musical Dante selbst von Beatrice zur Rede gestellt und gefragt, warum er die ‚wahre‘ Liebe in sich abgetötet habe („Voltando le spalle alla luce / ed uccidendo / dentro di te l’Amore?“). Dante bittet um Verzeihung; gerade weil er nicht richtig geliebt habe, habe er auch das Leben bzw. den Lebenssinn verloren („Perdonami, / perché non t’ho saputo amare, / perché ho perduto la mia vita: / mi sono perso!“). In einem Dialog mit Beatrice, Piccarda, Thomas von Aquin und Bernhard von Clairvaux wird Dante endlich die Bedeutung der Liebe Gottes erklärt und er erkennt, dass er im Himmel alles Gesuchte findet: Hoffnung, Freiheit, Freude, die Stärke des Herzens, Licht (L. 43). Am Ende des zweiten Aktes treten die Figuren des Purgatorio und Paradiso gemeinsam auf und sprechen im ursprünglichen Wortlaut ein Gebet an Maria („nel tuo ventre si accese l’amore“, Par. XXXIII, 7). Ein Gesang aller, in dem noch einmal die berühmten Schlussverse der Divina Commedia wiederholt werden und während dessen blendende

23

Vgl. Purg. XVII, 91ff.: „Nè creator nè creatura mai […] / figliuol, fu senza amore, / O naturale, o d’animo; e tu il sai. / Lo naturale è sempre senza errore; / Ma l’altro puote errar per malo obietto / O per troppo o per poco di vigour. / Mentre ch’egli è nei primi ben diretto, / E nei secondi sè stesso misura, / Esser non può cagion di mal diletto; / Ma quando al mal si torce, o con più cura / O con men che non dee corre nel bene, / Contra il fattore adopra sua fattura. / Quinci comprender puoi ch’esser conviene / Amor sementa in voi d’ogni virtute, / E d’ogni operazion che merta pene.“

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Lichtstrahlen aus dem Bühnenboden leuchten und rotieren, die den Anblick Gottes als Lichterscheinung visualisieren, beendet das Musical – mit dem Wort ‚Amore‘: BEATRICE Per te s’avvicina la fine di ogni desiderio DANTE O Luce Eterna, che in te sola t’intendi, tu spiri amore e tu l’effendi come un sorriso. TUTTI L’Amor che move il sole, l’Amor che move le stelle. L’Amore.

Wie der Durchgang durch das Musical deutlich gemacht hat, konzentrieren sich Gianmario Pagano und Marco Frisina in ihrer ‚Amore‘Interpretion auf die Darstellung einer Lesart der Divina Commedia – die zugleich viele andere Lesarten ausblendet. Im Musical wird die Divina Commedia von ihrem Anfangs- bis zu ihrem Endpunkt als große Erzählung über die intuitive Sehnsucht und Suche Dantes – aller Menschen! – nach der ‚wahren‘ Liebe inszeniert. Diese Suche steht stellvertretend für die Sehnsucht nach Erlösung von einem rein diesseitig begrenzten und als schmerzhaft empfundenen Leben, und sie steht für einen Prozess der Bewusstwerdung des ‚eigentlichen‘ Selbst, der eigenen Kraft und Stärke. Die ‚wahre‘ Liebe, die an sich nur in der Liebe Gottes bzw. in der Liebe zu Gott gefunden werden kann, die aber in der menschlichen Fähigkeit zu lieben reflektiert wird, wird im Musical vor allem durch die Zurückweisung von ‚falscher‘ oder gar fehlender Liebe gezeigt und zwar insbesondere durch ausgewählte, besonders bekannte Exempla aus dem Inferno und Purgatorio. Dabei werden die gezeigten Episoden (über-)deutlich und zum Teil recht frei auf das Liebesmotiv hin gedeutet. Im Musical entwickeln die Autoren kein differenziertes Liebeskonzept. Vielmehr wird der Begriff ‚Amore‘ plakativ gebraucht und auf die einfache Formel gebracht, die aus

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unspezifischen, aber im Kirchenjargon und in der christlichen Tradition zentralen Schlagworten besteht: - ‚falsche‘ Liebe = Kälte, Angst, Verwirrung, Schmerz, Dunkelheit, Tod; - ‚richtige‘ Liebe = Freiheit, Hoffnung, Stärke, Licht, Freude. Implizit enthält die Amore-Interpretation damit den moralischen Appell, ein gottgefälliges Leben im Sinne der christlichen Ethik zu führen, deren konkrete Gestaltung im Stück aber nicht genauer zur Sprache kommt.

3

D AS M USICAL IM K ONTEXT DER GEGENWÄRTIGEN D IVINA C OMMEDIA R EZEPTION IN DER P OPULÄRKULTUR

Mit La Divina Commedia. L’opera. L’uomo che cerca l’Amore haben Marco Frisina und sein Mitarbeiterstab zum ersten Mal in der Geschichte der Dante-Rezeption die Divina Commedia in ihrem gesamten Erzählungsbogen in ein populäres Musiktheater verwandelt. In ihrer Bearbeitung haben sie die mittelalterliche Dichtung aktualisiert, indem sie einen Medien- und Genrewechsel hin zu einer unterhaltsamen ‚opera moderna‘ vollzogen, die faktisch als Musical inszeniert und vermarktet wurde. Zudem glaubt Frisina, dass der Kern von Dantes Werk, seine spirituelle Dimension, ohnehin nach wie vor aktuell ist, und es war sein Ziel, diese Dimension mit seiner Interpretation in den Vordergrund zu rücken: „Questa lettura vuole sottolineare la capacità della poesia dantesca di parlare agli uomini di oggi e di sempre del senso della vita umana e dei tormenti spirituali che la caratterizzano.“24. Als Musical lässt sich die Bearbeitung im Kontext der gegenwärtigen ‚Eventkultur‘ verorten: So genannte ‚Events‘ (> engl.: ‚Ereignis‘) werden von verschiedenen Soziologen als markante Kulturformen

24

Programmheft, S. 3.

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westlicher Gesellschaften seit den 1980er Jahren beschrieben.25 Obwohl Events nicht präzise definiert werden können, sind darunter generell planmäßig erzeugte Ereignisse zu verstehen, die von einer Organisationselite professionell vorbereitet und perfekt, unter Einsatz modernster Technik, durchgeführt werden. Der Bamberger Soziologieprofessor Gerhard Schulze deutet Events, zu denen Sport-, Werbe-, Kultur-, Reiseveranstaltungen u. a. m. zählen, als besonderes Element der so genannten ‚Erlebnisgesellschaft‘. Die Erlebnisgesellschaft, so die kürzest mögliche Umschreibung dessen, was Schulze in seinem mehrhundertseitigen gleichnamigen Sachbuch-Bestseller beschrieben hat, ist eine auf Genuss ausgerichtete, damit innen- und subjektorientierte Konsumgesellschaft, für die die Handlungsmaxime ‚Erlebe dein Leben!‘ charakteristisch ist.26 Voraussetzungen für eine solche Gesellschaftsform sind materieller Wohlstand und Freizeit. Bei Events, die in der Regel in einen kommerziellen Zusammenhang eingebettet sind, werden Situationen so arrangiert, dass sie gewünschte innere Wirkungen hervorrufen, die als angenehm oder schön eingeschätzt werden. Diese Wirkungen sollen u. a. durch gezielte Vorankündigungen stimuliert und in die intendierten Bahnen gelenkt werden. Für Events nennt Gerhard Schulze vier wesentliche Faktoren: Einzigartigkeit (bei einem Event sollen seltene, außeralltägliche Erfahrungen gemacht werden, andernfalls gelten sie als gescheitert; der Anspruch auf Einzigartigkeit wird auch ‚theoretisch‘ begründet und aggressiv vermarktet und drängt zur ständigen Überbietung einmal erlebter Reize); Episodenhaftigkeit (ein Event muss einen Spannungsbogen aufweisen); Gemeinschaftlichkeit (ein Event wird von einer großen Menschengruppe erlebt); Beteiligung (die Teilnehmer eines Events werden in irgendeiner Weise in das Geschehen einbezogen, ggf. durch das altbekannte Klatschen).

25

Zum ‚Event‘ vgl. Gerhard Schulze: „Die Zukunft der Erlebnisgesellschaft“. In: Oliver Nickel (Hg.): Eventmarketing. Grundlagen und Erfolgsbeispiele. München: Vahlen, 1998. S. 303-317. – Winfried Gebhard: „Feste, Feiern und Events. Zur Soziologie des Außergewöhnlichen“. In: Winfried Gebhard; u. a. (Hgg.): Events. Soziologie des Außergewöhnlichen. Opladen: Leske + Budrich, 2000. S. 17-31. – Gerhard Schulze: Kulissen des Glücks. Streifzüge durch die Eventkultur. Frankfurt; New York: Campus, 1999.

26

Gerhard Schulze: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart. Frankfurt; New York: Campus 1995.

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All die genannten Aspekte treffen, wie die Darstellung gezeigt hat, auf Frisinas Musical zu. Abgesehen vom Musical wurden zuletzt weitere eventkulturelle Bearbeitungen der Divina Commedia realisiert, beispielsweise bei den Sommerspielen in Melk oder durch die katalanische Artistikgruppe La Fura dels Baus. Bei den Sommerspielen in Melk, wo seit 2001 eventmäßige Theater-Freilichtaufführungen – meist Adaptionen bekannter literarischer Werke wie die Nibelungen-Sage, Umberto Ecos Der Name der Rose, die Apokalypse u. a. m. – stattfinden, wurde im Sommer 2005 auf der Grundlage weniger Kern-Episoden und –Zitate die Divina Commedia für ein Dante-unkundiges deutsches Publikum dramatisiert und in knapp drei Stunden aufgeführt. Die Zuschauer wanderten zu verschiedenen Bühnen im Kloster, in einem Wald bzw. auf einem Schiff. Wo die Textgestaltung nahe am Original blieb, wurde durch die Inszenierung die Dichtung zum Teil ironisch gebrochen, um für zusätzliche Unterhaltungseffekte zu sorgen. Die Gruppe La Fura dels Baus zeigte am Abend des 19. Juni 2002 im Rahmen der Florentiner Modewochen Classico Italia auf der Piazza Pitti vor etwa 30 bis 40.000 Zuschauern ihre 30-minütige, atemberaubende Adaption der Divina Commedia: Bei diesem Spektakel aus Höhen-Akrobatik, Lichtshow, Musik und Feuerwerk inszenierte die Truppe sechs Bilder, je zwei pro cantica, die vage an die Divina Commedia angelehnt waren: Ein Mann mit Flügeln wurde aus 60m Höhe von einem Kran in langsamen Kreisbewegungen zur Piazza hinabgesenkt (I, Der Sturz des Erzengels); sieben Akrobaten in aufwendigen Kostümen kletterten senkrecht die Fassade des Palazzo Pitti hinab (II, Abstieg ins Inferno / Die sieben Todsünden); mehrere Akrobaten bewegten von Blitzen und lauten Geräuschen begleitet ein riesiges Laufrad mit sieben Metern Durchmesser (III, Die Buße der Sünden); nach einem fragmentierten ‚Klang-Puzzle‘ aus verschiedenen Richtungen (IV, Die Auferstehung der Seele) spannten 30 Akrobaten an langen Stahlseilen ein riesiges menschliches Netz (V, Der langsame Aufflug zum Himmel), bevor dann ein Großfeuerwerk die Veranstaltung beendete (VI, Das Paradies).27

27

Es existiert eine Aufnahme der Aufführung, die über La Fura dels Baus bestellt werden kann. Das Begleitheft zur Veranstaltung bietet Hintergrundinformationen und Fotographien des Events: La Divina Commedia

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Die eventkulturellen Bearbeitungen sind offenbar Teil eines neuartigen Rezeptionstrends, bei dem die Dichtung etwa seit Mitte der 1980er Jahre ‚unterhaltsam popularisiert‘ wird. Dies findet in ganz verschiedenen Bereichen statt und zeigt sich außer bei den genannten eventkulturellen Neubearbeitungen unter anderem in neuen Vermittlungsansätzen des Werks. Ein Beispiel dafür wäre das Divina CommediaProjekt des italienischen Schauspielers und Komikers Roberto Benigni: In Live- und Fernseh-Auftritten rezitiert und kommentiert er einzelne Gesänge. Sein ironischer und witziger, dabei aber immer respektvoller Vortrag mit aktualisierenden Fingerzeigen auf die Gegenwart sorgte bei seiner Tutto Dante-Tournee in Italien (2006) bzw. um den Globus (2008/09) für eine Stimmung wie bei einem Fußballtournier.28 1987-92 hat auch Vittorio Sermonti eine breitenwirksame GesamtInterpretation der Divina Commedia für das Radio verfasst, die später auf CDs bzw. in Buchform publiziert wurde. Leitend war dabei das Ziel29 [… di] consentire a un qualsiasi italiano dotato di cultura media, intelligenza e un po’ di passione di percorrere il più gran libro scritto in italiano senza interrompere continuamente l’avventura per approvvigionarsi di notizie, delucidazioni e varianti nei battiscopa di note, che spesso rasentano il soffitto della pagina.

Obwohl Sermonti zur Klärung wissenschaftlicher Fragen mit dem renommierten Dantisten Gianfranco Contini zusammengearbeitet hat, wählte er für seine Dante-Exegese, die er selbst als „raccontocommento“ bezeichnet, einen dezidiert nicht- (wenn nicht sogar anti-) akademischen und persönlichen Zugang. In einem kolloquial leichten,

secondo / by La Fura dels Baus. Piazza Pitti, Firenze, 19 giugno/ June 2002. Uno spettacolo / a presentation of Classico Italia; in collaborazione / in collaboration with Bienal di Valencia; un progetto di Luigi Settembrini. Milano: Edizioni Charta, 2003. Auf der Homepage der Truppe kann ein kurzer Video-Mitschnitt angesehen werden (www.lafura.com). 28

Vgl. www.tuttodante.it. Das Projekt ist inzwischen auch auf DVD er-

29

Vittorio Sermonti: L’Inferno di Dante. Revisione di Gianfranco Contini.

schienen. Milano: Rizzoli, 42004. S. 4.

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oft humorvollen und ironischen Tonfall präsentiert er seine Lektüre des Werks, in die neben präzise Textdeutungen viele persönliche Wertungen, Assoziationen, Gedanken und Überlegungen einfließen. Wie bei Benigni vermag sie wohl gerade deswegen einen großen Zuhörerkreis zu faszinieren, weil sie das ‚populärhermeneutische‘ Vakuum füllt, das eine dominant akademische (und meist auch trockene) Interpretationstradition in italienischen Schulen, Universitäten und öffentlichen Lesungen geschaffen hat.30 Jenseits dieser neuen Vermittlungsansätze lassen sich auch bei der kreativen Rezeption der Divina Commedia ganz neue Tendenzen ausmachen: War und ist bis heute die Großdichtung Vorlage für klassische Musikwerke, Opern, Dramenbearbeitungen, Ballette, Werke der bildenden Kunst und der ‚hohen‘ Literatur, hat sich die Rezeption zuletzt auch auf populärkulturelle Genres und Medien ausgeweitet. In den vergangenen Jahren erschienen unter anderem Computerspiele mit Dante-Bezug (Devil May Cry; Dante’s Inferno31). Die Dichtung wird in der Popmusik verarbeitet, etwa im Album Dante XXI von Sepultura, in der Gesamt-Vertonung der Berliner Rock-Band Tangerine Dream oder in dem 16-minütigen Stück Dante’s Inferno auf der CD Burnt Offerings der Hardrock-Band Iced Earth, bei dem in aller Kürze Dantes Weg durch die Höllenkreise nacherzählt wird. Und es entstanden international viele verschiedene Comic-Adaptionen des Werks.32 Daneben dient die Divina Commedia auch als Inspirationsquelle für Unterhaltungsliteratur: In jüngster Zeit wurde u. a. eine Reihe von Kriminalromanen publiziert, die die Jenseitswanderung Dantes auf kreative Weise verarbeiten. In der Romantrilogie des italienischen Autors Giulio Leoni Dante Alighieri indaga beispielsweise, die inzwischen in mehrere Sprachen und auch ins Deutsche übersetzt wurde,

30

1995-8 trug Sermonti seine lecturae auch in der Basilica di San Francesco in Ravenna vor, in der Dante begraben liegt.

31

Vgl. dazu die ausführliche Besprechung von Andreas Rosenfelder: „Das ist die Hölle“. In: Die ZEIT, 28.01.2010, S. 48.

32

Eine Auswahl der Comics wurde u. a. bei Ausstellungen im Rahmen des elften Erlanger Comic-Salons 2004 bzw. des Dante-Festival Ravenna präsentiert. Vgl. Paolo Guiducci; Loris Cantarelli (Hgg.): Nel mezzo del cammin di una vignetta … Dante a fumetti. Il sommo poeta e la Divina Commedia nelle nuvole parlanti di tutto il mondo. Ravenna: Pagina, 2004.

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löst Dante Alighieri als fiktiver Ermittler historische Kriminalfälle in seiner Heimatstadt Florenz und wird dabei (angeblich) zu verschiedenen Episoden seines später entstehenden Hauptwerks inspiriert. In Matilde Asensis Bestseller Il ultimo Caton (dt. Die Wächter des Kreuzes), wird das Purgatorio in der Fiktion der Handlung zu einem Initiationsbuch einer Geheimbruderschaft, der auch Dante angehörte und deren neue Mitgliedschaftsanwärter sieben Prüfungen zu bestehen haben, die angelehnt an die sieben Stufen und Sühneleistungen des Läuterungsberges gestaltet sind. Und in Matthew Pearls Der Dante Club werden in einem Bostoner Gelehrtenkreis Morde verübt, die von Dantes Inferno inspiriert sind.33 Vor dem Hintergrund dieser Einordnung im größeren Rezeptionskontext soll jetzt noch einmal der Blick auf das Musical selbst zurückgewendet und gefragt werden, ob bzw. inwieweit die Bearbeitung als gelungen anzusehen ist – eine Frage, die ich aus einer subjektiven Perspektive beantworten will.

33

Giulio Leoni: I delitti del mosaico. Milano: Mondadori, 2005. Ders.: I delitti della luce. Milano: Mondadori, 2006. Ders.: I delitti della Medusa. Milano: Mondadori, 2006. Matilde Asensi: Die Wächter des Kreuzes. München: dtv, 2006. Matthew Pearl: Der Dante Club. München: dtv, 2005. – U. a. auch: Arnaud Delalande: Le piège de Dante. Paris: Grasset & Fasquelle, 2006. Jane Langton: The Dante Game. A Homer Kelly Mystery. London: Penguin, 1992. – Wesentlich für die Dante-Rezeption in der Unterhaltungsliteratur ist, dass alle Bezugnahmen auf die Divina Commedia – und das im Unterschied zur ‚hohen‘ Literatur und hier bei Leoni, bei denen die Kenntnis der Dichtung als Teil der (italienischen Allgemein-)Bildung vorausgesetzt wird –, explizit und zum Teil mit langen Textzitaten ausgeführt werden. Wo in der ‚hohen‘ Literatur die oft nur punktuellen und nicht offensichtlichen intertextuellen Verweise auf die Dichtung dazu dienen, den nachfolgenden Text mit zusätzlichen Sinnebenen aufzuladen, bleiben die Bezugnahmen in der Unterhaltungsliteratur auf die kreative Ausgestaltung des Literalsinns beschränkt. Bei Leoni bergen die intertextuellen Verweise zudem humoristische Komponenten, wenn berühmte Zitate und Episoden völlig fiktiv in ganz neuen Zusammenhängen der jeweils erfundenen Tataufklärung reintegriert werden.

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Ich selbst habe Anfang des Jahres 2008 an zwei aufeinanderfolgenden Tagen in Rom das Musical angesehen. An den Abenden, einem Samstag und Sonntag, waren die Vorstellungen einmal vollständig und einmal zu ca. 80% ausverkauft. Im Publikum befanden sich beide Male auffällig viele Kleriker, Nonnen, Mönche und Priester, am zweiten Abend fuhr mit mir im Pendelbus eine Gruppe von etwa 40 Priester-Seminaristen in die Innenstadt zurück. Das Stück wurde an beiden Abenden sehr wohlwollend aufgenommen, der Applaus war aber keineswegs frenetisch. Ein jüngeres Studenten-Paar, das neben mir saß, meinte nach der Aufführung, dass sie es nicht bereut hätten, das Stück zu sehen, und sie hätten es interessant gefunden, die Episoden, die sie tatsächlich in der Schule gelesen hatten, noch einmal in neuer Form und im gesamten Kontext zu sehen. Zwei Damen um die fünfzig, mit denen ich mich kurz unterhielt, waren insgesamt zufrieden, fanden die betont christliche Ausrichtung des Musicals aber eher unangenehm, auch wenn sie schulterzuckend zu bedenken gaben, dass die Geschichte an sich eben nun mal so sei („Beh … la storia è quella che è.“). Mein eigenes Urteil ist gemischt, allerdings mit deutlich kritischer Tendenz. Zunächst zu den positiven Eindrücken: Grundsätzlich kann es als große Leistung angesehen werden, dass es Frisina mit seiner ‚Amore-Interpretation‘ gelungen ist, das Langgedicht in einer schlüssigen Interpretation und Inszenierung umzusetzen.34 Die Gestaltung

34

Dass eine solche Interpretationslinie beinahe zwingend nötig ist, macht die Bearbeitung des österreichischen Komponisten Michael Mautner deutlich. Michael Mautner beschäftigt sich seit inzwischen über einem Jahrzehnt mit der Divina Commedia. Als er Mitte dreißig war, stieß er in einer schöpferischen Krise auf die Divina Commedia, von deren Anfang – der eine midlife crisis evoziert – er sich unmittelbar angesprochen fühlte. Seitdem setzt er sich in seinem Werk in ganz unterschiedlicher Weise mit Dante auseinander: Auf der Grundlage der Divina Commedia schuf er eine Text-Klang-Collage, die im Wiener Gasometer einmalig aufgeführt wurde; zur Zeit arbeitet er an einer Vertonung der Vita Nova (zu deren Uraufführung der bereits fertiggestellten Teile er mich freundlicherweise in den Wiener Musikverein eingeladen hatte). Während der Salzburger Festspiele 1999-2001 brachte Michael Mautner außerdem das dreiteilige Musiktheater COM.MEDIA zur Aufführung (es existieren private Aufnahmen der Aufführung auf DVD). Obwohl ich die musikali-

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der Bühnenbilder aus Projektionen von bewegten Doré-Bildern ist als Verfahren interessant. Abgesehen davon können aber auch verschiedene ästhetische Kritikpunkte gegen das Musical vorgebracht werden. Bei der Aufführung wurden die Lieder zwar live gesungen. Darüber hinaus waren aber sämtliche Instrumentalstücke, offenbar auch einige Chorteile und die Orchesterbegleitung vom Band eingespielt, was den Eindruck von etwas nicht Authentischem, Künstlichem und irgendwie ‚Billigem‘ hervorrief (das aber bei einem Kartenpreis von etwa 40 Euro in den hinteren Rängen). Die Musik im Inferno war insgesamt und im Vergleich zur Dramatik der dargestellten Szenen langsam, getragen und wohlklingend; schnellere Rhythmen und Dissonanzen hätten hier die infernalische Spannung womöglich besser ausdrücken können. Außerdem reihten sich in den einzelnen Stücken musikalische Höhepunkte (Fortissima, lang gehaltene Spitzentöne u. a.) beinahe permanent aneinander, so dass kein großer Spannungsbogen aufgebaut wurde und die Musik dauerhaft übertrieben wirkte. War die Inszenierung im Inferno immerhin noch um spektakelhafte Spannung und Unterhaltung bemüht, wurde die Musik im zweiten Akt nur noch wohlklingend, feierlich und getragen bis bombastisch und die Inszenierung zunehmend goldglänzend statisch, worunter der Unterhaltungswert des Musicals litt. Überhaupt wurde der dem Musical eigene Unterhaltungspakt mit dem Zuschauer empfindlich durch die betont christliche ‚Amore‘Interpretation gestört, und ich gewann den Eindruck, dass innerhalb der Adaption ein ästhetisches Problem bestand, das sich aus dem Kontrast einer ernsthaften Aussageabsicht in einem dezidiert populären und unterhaltsamen Genre ergab.35 Obwohl Frisina in der Einleitung

sche Qualität sicher nicht angemessen würdigen kann, war mein Eindruck von der Inszenierung doch deutlich: Die Inszenierung hatte keinen roten Faden, sie zeigte sich als Collage von Schauspiel, KommentarTeilen und Multimedia-Elementen, die bei Greenaways InfernoVerfilmung größere Anleihen machte, ohne aber dessen strukturalistischen Ansatz zu übernehmen. Insgesamt erschien mir die Inszenierung als ziel-, aussage- und kraftlos und daher eigentlich beliebig. 35

Der Hildesheimer Kulturwissenschaftler Hans-Otto Hügel beschreibt in der Einleitung zu dem von ihm herausgegebenen Handbuch Populäre Kultur Unterhaltung als „ästhetisch zweideutig“, d. h. Werke der Unterhaltungskultur schwanken per se zwischen Ernst und Unernst. Dieser

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des Programmhefts betont, dass er sein Werk eigentlich für einen beliebig großen, und das heißt auch a-religiösen Zuschauerkreis konzipiert hat: „‚Dove è il tuo tesoro, lì sarà il tuo cuore.‘ Dove è il tuo cuore, lì sarà il tuo destino, in questa vita e, se credi nell’eternità, anche oltre. Questa è l’universalità di un messaggio, capace di affascinare e commuovere al di là di ogni convinzione religiosa.”36 – lassen die Liedtexte und die Inszenierung eine solche Deutungsoffenheit gar nicht zu. Etliche liturgische Gesänge im zweiten Akt und das lange Mariengebet am Ende des Paradiso-Teils, um nur zwei Beispiele zu nennen, sind dafür zu klar ideologisch und religiös. Aufgrund dieser ideologischen Fokussierung, die beinahe zwangsläufig zu einer zustimmenden oder ablehnenden Stellungnahme des Zuschauers zwingt, entpuppt sich La Divina Commedia. L’opera. L’uomo che cerca l’Amore mit seiner eindimensionalen Lesart letztlich doch als ein christliches Musiktheater, als ‚opera moderna cristiana‘. Insgesamt konnte ich den Eindruck nicht unterdrücken, bei Frisinas Divina Commedia einer Missionsveranstaltung im ‚Klero-PopFormat‘ beizuwohnen. Im Vergleich zum Unterhaltungswert von Musik und spektakelhafter Inszenierung, wie sie die Musical-Branche normalerweise bietet – mein Vergleichsfundus beruht auf der MusicalBegeisterung meiner Jugendzeit, als ich Cats, Das Phantom der Oper, Elisabeth, Grease, Hair, Jesus Christ Superstar, Tanz der Vampire u. a. sah – kann Frisinas Divina Commedia sicher nicht konkurrieren. Auf der Homepage des Musicals wurde im Herbst 2011 der Start einer Welt-Tournee des Musicals angekündigt. Wie erfolgreich eine solche Tournee sein wird, bleibt abzuwarten.37

zentrale Aspekt von Unterhaltung wird in Frisinas ‚opera moderna‘ mit der christlichen Deutung unterwandert. (Hans Otto Hügel (Hg.): Handbuch Populäre Kultur. Begriffe, Theorien und Diskussionen. Stuttgart; Weimar: Metzler, 2003. S. 2.) 36

Programmheft, S. 37.

37

Orazio La Rocca: „L’Inferno diventa un musical vaticano dal rock al metal per raccontare Dante“. In: La Repubblicca, 02. Januar 2007. (http://www.repubblica.it/2007/01/sezioni/spettacoli_e_cultura/musicalinferno/musical-inferno/musical-inferno.html). – Auf der Homepage des Muscials wurde im Oktober 2011 der Beginn einer „Welttournee“ angekündigt.

Ausblick

In den vorangegangenen Kapiteln habe ich mit der Analyse einzelner Neubearbeitungen der Divina Commedia einige Facetten des aktuellen Rezeptionstrends aufgezeigt. Zum Abschluss dieser Studie sollen noch einmal in einem Überblick die wesentlichen Gründe für die Wahl der Divina Commedia als Vorlage für eigene Neufassungen, einige Kernmerkmale der besprochenen ‚Nuove Commedie‘ in ihren Gemeinsamkeiten und Unterschieden sowie die mit ihnen verbundenen künstlerischen Ziele zusammengetragen werden. Die Ausprägung des Trends kann so in der Zusammenschau noch deutlicher werden. Sodann werde ich die bisher noch unbeantwortete Frage aus der Einleitung aufgreifen und überlegen, ob und wie sich der hier skizzierte Trend in einem größeren kulturellen Umfeld verorten lässt.

Z USAMMENSCHAU (1) Gründe für die Wahl der Divina Commedia als Vorlage für die Neubearbeitungen In vielen Fällen scheint die Bekanntheit der Divina Commedia als Klassiker bzw. ihre Präsenz in der Kultur eine Voraussetzung dafür gewesen zu sein, dass die Künstler überhaupt auf das Werk aufmerksam wurden. Etliche Künstler stießen so eher zufällig auf die Dichtung, die dann Anregung für eine eigene künstlerische Neugestaltung wurde. Irgendwo zwischen Zufall und Auftragsarbeit liegen die Gründe für die Dramen-Bearbeitungen von Edoardo Sanguineti, Mario Luzi und Giovanni Giudici. Hier hatte der Regisseur Federico Tiezzi den

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Anstoß für die Neugestaltungen gegeben; mit den Dramenversionen wollte er die Theaterästhetik in Italien erneuern. Warum er dazu gerade auf die Divina Commedia zurückgriff, wird aus den Dramenpublikationen nicht ersichtlich. Es kann aber überlegt werden, ob die Bekanntheit der Divina Commedia als italienische Nationaldichtung Tiezzi zu der Einschätzung bewogen haben mag, dass mit erneuerten Dramenversionen der Dichtung beim Publikum eine größere Aufmerksamkeit gewonnen werden kann als mit einem gänzlich neuen Werk – eine Aufmerksamkeit, die dann gleichzeitig seinen Stücken zuteil wird, mit denen er das italienische Theater ‚zu neuem Leben erwecken‘ wollte. Zumindest bei Saguineti passte die Anfrage in sein existierendes ‚künstlerisches Profil‘, da er bereits vorher klassische literarische Werke in Travestien verwandelt hatte, wie er es dann auch mit dem Inferno tat. Luzi und Giudici hingegen nahmen Tiezzis Idee auf und fanden durch seinen Vorschlag je eigene Wege, die Divina Commedia als Drama umzugestalten und zu erneuern. Im Fall von Tom Phillips ging die Wahl der Divina Commedia als Vorlage für ein Künstlerbuch nicht primär von ihm selbst aus, sondern sie war aus seiner Sicht mehr oder weniger zufällig der Anfrage eines Verlags, der eine neue illustrierte Klassikerausgabe publizieren wollte, geschuldet. Das Zufallselement bei der Stoffwahl für eigene künstlerische Werke war für Phillips dabei nichts Neues. Für sein Künstlerbuch A Humument hatte er nach eigenen Aussagen das erstbeste Buch zum Preis von drei Pence gekauft, das er sah, und dieses dann illustriert. In der Folge war auch die Entscheidung, gerade das Künstlerbuch zum Inferno mit Peter Greenaway zu verfilmen, für Phillips und Greenaway selbst wohl eher zufällig. Sie ging auf die Anregung von Michael Kustow, den künstlerischen Leiter des TV-Senders Channel 4 zurück. Der Anfrage Kustows lag dabei auch der auf künstlerische Innovation setzende Sendeauftrag von Channel 4 zugrunde – die Verfilmung von Phillips’ erfolgreichem Künstlerbuch versprach ihm offenbar eine gute Grundlage für einen ästhetisch neuartigen Film zu sein. Wie im Kapitel gezeigt, kam die Vielschichtigkeit des allegorischen Textes den Gestaltungsweisen von Phillips und Greenaway zudem entgegen und konnte sie zu einer so komplexen Neugestaltung, wie sie sie mit A TV Dante realisierten, anregen. Da von beiden Künstlern jedoch kein ‚engeres‘ Anliegen mit der Divina Commedia selbst verbunden war, hätte im Zweifelsfall statt A TV Dante vielleicht auch A TV Homer entstehen können.

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Sandow Birk war tatsächlich zufällig über eine illustrierte Ausgabe der Divina Commedia von Gustave Doré gestolpert. Die Illustrationen sprachen ihn spontan an, so dass er mit der Neubearbeitung begann. Wie auch in vielen anderen Bildern übertrug er assoziativ die Vorlagen in amerikanische Gegenwartsszenen. Bei seinem Illustrationszyklus aktualisierte er Bild für Bild – scheinbar ohne die dahinterliegende Geschichte einer Jenseitswanderung wirklich neu und anders erzählen zu wollen. Vielmehr lässt sich seine Arbeitsweise als eine primäre ‚Oberflächenmodernisierung‘ beschreiben, die v. a. mit dem Spannungsfeld zwischen altem Original und modernisierter Bearbeitung spielt. Bei der Verfilmung des Künstlerbuchs durch Sean Meredith (Dante’s Inferno) mag man ebenfalls den Zufall als Faktor ausmachen: Nachdem Meredith bereits vorher Werke von Birk filmisch umgesetzt hatte, schien ihm Dantes Inferno, das er in der bearbeiteten Version von Birk und Sanders kennenlernte, eine hinreichend ‚gute Geschichte‘, um auch hier angeregt durch das Künstlerbuch eine eigene Version zu kreieren. Ein existenzieller Zugang zur Divina Commedia lag sowohl bei Peter Weiss als auch bei Pier Paolo Pasolini vor: Peter Weiss wurde offenbar durch eine Artikelserie in einer Zeitung und durch Gespräche auf die Divina Commedia aufmerksam und beschäftigte sich intensiv mit ihr. Für den Italiener Pasolini gehörte sie zum kulturellen Gedächtnis seines Landes. Für beide wurde der Autor Dante Alighieri und / oder der fiktive Dante der Divina Commedia eine künstlerische Identifikationsfigur. So, wie der fiktive Dante u. a. als Beobachter durch die Hölle wandert, so nahmen beide Autoren ihre Umgebung als wertende Beobachter wahr. Insbesondere für Peter Weiss, der als Halbjude während der Zeit des Nationalsozialismus im Exil lebte, bot die Exilerfahrung des Autors Dante, der aus politischen Gründen für viele Jahre bis zu seinem Tod aus seiner Heimatstadt Florenz verbannt wurde und der das auch in der Divina Commedia an mehreren Stellen reflektierte, ein Identifikationsmoment mit dem mittelalterlichen Schriftsteller. Für beide Autoren wurde die Divina Commedia zu einer Projektions- und Reflexionsfläche für eigene Erfahrungen, die sie zu ihren stark politisch und autobiographisch aufgeladenen Umarbeitungen und Aktualisierungen des alten Werks bewegte.

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Sowohl Tomaž Pandur als auch das Teatro del Lemming sahen in der Divina Commedia eine ‚archaisch-mythische Dimension‘, die sie dazu veranlasste, aus dem Werk ein körperbetontes, sinnliches Regietheater in der Nachfolge Antonin Artauds zu gestalten. Pandur und das Teatro del Lemming griffen mit ihrer so zentrierten Inszenierungsstrategie in ähnlicher Weise auch auf andere klassische Texte zurück (Faust, Ödipus, Odyssee u. a. m.). Ein Fokus auf die kreative Neugestaltung klassischer Texte lässt sich ebenso bei Andreas Ammer feststellen. Neben Dantes Inferno arbeitete der promovierte Literaturwissenschaftler u. a. die Odyssee oder die Apokalypse in Hörspiele um. Im Falle von Radio Inferno beabsichtigte Ammer, den alten Text mit der poppigen Aufmachung zu neuer ‚emotionaler Kraft‘ zu verhelfen und ihn in der Gegenwart auf neue Weise lebendig zu halten. Zudem erprobte Ammer mit seiner Fassung des Inferno auch neue Ausdrucksweisen für das Hörspiel. Daher vermutet werden, dass Ammer (wie auch Pandur und andere?) den Status und die Geltung der Divina Commedia – neben anderen klassischen literarischen Werken und Biographien berühmter Persönlichkeiten – nutzt, um mit ihr sowohl Aufmerksamkeit als auch eine gewisse Legitimation für seine eigenen Hörspiel-Experimente zu gewinnen. Die Dichtung Dantes wird von ihm als eine Art Trademark-Siegel verwendet, dessen ‚Qualitätsgarantie‘ dann auf das nachfolgende Werk abfärbt. Für Mons. Marco Frisina wiederum stellt die Divina Commedia einen zutiefst christlichen Text dar. Diese Perspektive auf den Text bewog ihn, die Dichtung als Musical für ein breites Publikum neu erfahrbar zu machen und dabei die aus seiner Sicht eine zentrale und nach wie vor aktuelle Botschaft – der Mensch solle sich auf die Suche nach der Liebe Gottes machen – klar zu vermitteln. Die Gründe für die Wahl der Divina Commedia sind also äußerst vielfältig. (Und ohne dass das irgendeiner der Künstler explizit gemacht hätte, könnte auch überlegt werden, ob nicht der Aspekt des ‚Wettbewerbs‘ mit dem großen alten Text eine Rolle beim Versuch, diesen anders neu zu schaffen, eine Rolle spielte.) Mindestens ebenso facettenreich präsentieren sich die unterschiedlichen Ausprägungen der ‚Nuove Commedie‘, von denen im Folgenden nur die wesentlichen Kernmerkmale zusammengefasst werden.

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(2) Wesentliche Merkmale der Neubearbeitungen Peter Weiss’ Inferno, das zeitlich am Beginn des hier besprochenen Neubearbeitungstrends steht, ist durch einen existenziellen und gesellschaftskritischen Impetus geprägt: Peter Weiss – wie auch Pier Paolo Pasolini in seiner Divina Mimesis – zeigte mit der Neugestaltung des Inferno kritisch auf gesellschaftliche und politische Entwicklungen der damaligen deutschen (respektive italienischen) Gesellschaft. Das Inferno, in dem Dante die diesseitigen Vergehen und jenseitigen Strafen der verdammten Seelen anschaulich schildert, bot Weiss und Pasolini einen strukturellen Rahmen für die eigene Gesellschaftskritik. Die Hölle Dantes wurde bei beiden zu einer säkularen Metapher, die die dargestellten Zustände extrem negativ konnotierte. Die Hauptfigur Dante diente, wie oben bereits erwähnt, sowohl Weiss als auch Pasolini als Projektionsfläche für die Reflexion von autobiographischen Erlebnissen und Problemstellungen. Abgesehen von diesen existenziell gefärbten und gesellschaftspolitisch engagierten Ansätzen weisen einige der Neubearbeitungen einen inhaltlich, formal und sprachlich dezidiert dekonstruierenden Gestus auf. Dies gilt zunächst für Edoardo Sanguinetis Drama Commedia dell’Inferno. Un travestimento dantesco. In der Dramenversion, die im Titel als Travestie bezeichnet wird, wird Dantes Inferno einer komisierenden Verspottung ausgesetzt: Betont humoristische Komponenten im Stück – man denke hier noch einmal daran, dass in der ersten Szene eine Art Zirkusmanege mit ausgestopften Tieren in Käfigen gezeigt werden soll, die kontrafaktisch den von Dante beschriebenen, furchteinflößenden wilden Tieren am Beginn seiner Jenseitswanderung entgegensteht – bewirken eine parodistische Absetzung der Neubearbeitung im Vergleich zur Vorlage. Durch verschiedene sprachgestalterische Verfahren, wie u. a. das Zertrümmern von Versen, Wiederholungen kurzer Satzzitate, das Einfügen neuer Elemente in berühmte Textpassagen, die Integration textfremder Zitate aus Werken anderer Autoren, dekonstruiert Sanguineti die sprachliche und formale Geschlossenheit der Dichtung. Die sprachliche Materialität wird hervorgehoben. Mit diesen Verfremdungen, die Sanguineti auch bei der Bearbeitung anderer berühmter Vorlagen zu Travestien anwendete, wird die heutige inhaltliche, sprachliche und formale Gültigkeit des bekannten Werks als nicht mehr zeitgemäß zurückgewiesen. Hinter

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dem ‚textstürmerischen‘ Ansatz steht bei Sanguineti womöglich auch eine Kritik an bildungsbürgerlichen ästhetischen Idealen, wie sie von Vertretern des gruppo 63, einer lockeren Vereinigung italienischer Künstler mit avantgardistischen Ansätzen, und eben auch von ihm selbst geäußert wurden. Denn die Divina Commedia gilt ja, wie andere von Sanguineti bearbeitete Werke (Faust, Orlando furioso u. a. m.), als klassisches, also in seiner Machart als vorbildlich anerkanntes Werk, dem insbesondere im bildungsbürgerlichen Kontext der kanonische Status zugesprochen wurde. Auch Giovanni Giudici lässt in seiner Dramenversion Il Paradiso. Perché mi vinse il lume d’esta stella. Satura drammatica einen kritischen Dialog mit der Vorlage erkennen, der zum Teil über eine dekonstruierende Reinszenierung der Dichtung geführt wird: Zwar übernimmt Giudici in seiner Dramatisierung des Paradiso-Teils viele Originalpassagen der Vorlage und behält so in den ursprünglichen Formulierungen die Kernerzählung der Reise Dantes durch das Paradies bei. Zusätzlich bricht Giudici an manchen Stellen die Vorlage jedoch durch neue, z. T. mehrsprachige Texteinschübe und Zitate anderer Autoren auf, Dantes Paradiso wird collagenhaft ergänzt. Die Brüche in der ursprünglich sehr geschlossenen Dichtung können auch als ein Ausdruck der ideologischen Skepsis gegenüber dem mittelalterlichen Werk verstanden werden: Für Dante war die formal einheitliche Gestaltung des Werks ein äußerer Ausdruck für die in der Divina Commedia dargestellte Vollkommenheit einer von Gott geschaffenen Jenseitswelt. Diese wird in der Neufassung sprachlich und formal, aber auch inhaltlich negiert. In seinem Stück fügte Giudici die beiden neuen Figuren eines ‚letterato moderno‘ und eines ‚Klerikers‘ ein. In ihren Dialogen ziehen diese u. a. die reale Gegebenheit des Paradieses als transzendenten Ort in Zweifel und erinnern daran, dass in anderen Religionen noch ganz andere Paradies-Vorstellungen jenseits der christlichen existieren. Und wo am Ende des Paradieses sich die Erlösungshoffnung Dantes in der visionären Schau Gottes manifestiert, stellt Giudici dem eine sibyllinische Todesweissagung entgegen. Die christliche Erlösungshoffnung scheint damit durchgestrichen zu werden. Auch in anderen Neubearbeitungen findet sich der dekonstruierende Ansatz wieder. In Andreas Ammers Hörspiel Radio Inferno wird die textliche Einheit der Textvorlage etwa durch die Vervielfältigung in mehrere ‚Textschichten‘ aufgelöst: Die Divina Commedia fließt im

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italienischen Original als Ursprungstext im akustischen Hintergrund wie ein weit entfernter Klangfluss dahin, durch die akustische Distanzierung wird er als nicht mehr ‚aktuell‘ charakterisiert; darüber wurde die Nacherzählung der Jenseitswanderung gelegt, die u. a. aus verschiedensprachigen Übersetzungen konstruiert wurde; und darüber wiederum wird die Fiktion einer Live-Übertragung aus der Hölle im Radio evoziert. Die Einheit des Textes und der Figuren wird durch verschiedene Kunstgriffe, beispielsweise durch metafiktionale Einschübe oder einer diskontinuierlichen Gestaltung der Dante-Figur, aufgebrochen. Zudem wird im Hörspiel – v. a. im Prolog und in den ‚apokalyptischen Einschüben‘ – die Hölle als gedankliches bzw. mediales Konstrukt entlarvt und ihre Existenz als Jenseitsort explizit negiert. Mit den dekonstruierenden Ansätzen geht also sowohl eine inhaltliche als auch ästhetische Opposition der neuren Versionen im Gegensatz zum Original einher. Dabei wird insbesondere der Glaube an ein Jenseits, wie Dante es beschrieben hat, mehr oder weniger explizit in Zweifel gezogen. Die formal-sprachliche Geschlossenheit der Dichtung wird aufgebrochen und als in dieser Form in der Gegenwart nicht mehr angemessen und als Ganze wieder-holbar gekennzeichnet. Im Gegensatz zu den doch auffällig häufigen dekonstruierenden und ideologie- bzw. religionskritischen Tendenzen wurden in dieser Arbeit aber auch Beispiele analysiert, die einen eher affirmativen Zugriff auf den Prätext wählen. Wie gezeigt, legte Mario Luzi in seiner DramenBearbeitung Il Purgatorio. La notte lava la mente großen Wert gerade auf die textliche Unversehrtheit des Klassikers, dem er so in seiner künstlerischen Vollkommenheit seine Reverenz erweist. Nur an wenigen Stellen fügt er einzelne eigene Gedichte ein, die wie eine vorsichtige eigene Signatur im Text wirken und wie Fragezeichen die absolute Gültigkeit des Textes behutsam anfragen. Auch Mons. Marco Frisina stellt sich affirmativ hinter die Divina Commedia, die er jedoch in eigener Weise ausdeutet. In seiner Musikthetaer-Fassung folgt er mit neuen Liedtexten und mit den Gestaltungsmöglichkeiten als Musical dem plot der Dichtung, deren christlichen Gehalt er in einer monolinearen Lesart betont und verstärkt. Die Divina Commedia wird da als große Erzählung über die Suche des Menschen nach Gott vorgestellt, die aus der Sicht des Kom-

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ponisten und Priesters bis jetzt nichts von ihrer ideologischen Aktualität eingebüßt hat. Ein weiteres Merkmal, das fast alle Bearbeitungen kennzeichnet, ist der Transfer in andere Medien: Tomaž Pandur verwandelte die Divina Commedia in ein Regietheater artaudscher Prägung, in dem die verbale Sprache zugunsten anderer theatralischer Ausdrucksmittel zurückgedrängt wird. Andreas Ammer inszenierte in seinem Hörspiel Radio Inferno Dantes Hölle als radiophones Klang-Ereignis. Peter Greenaway und Tom Phillips produzierten nicht nur die erste (fragmentarische) Fernsehfassung des Inferno; sondern sie entwickelten in A TV Dante eine neue Strategie für die filmische Adaption literarischer Texte, bei sie Eigenheiten des Ausgangswerkes als Text in Buchform in einem ‚strukturalistischen‘ Zugang in das neue Medium Fernsehen ‚übersetzten‘. Sean Meredith gestaltete mit Dante’s Inferno einen in dieser Form sicherlich neuartigen Papierpuppen-Film. Mons. Marco Frisina schließlich schlug den Weg zu einer eventkulturellen MusicalInszenierung der Divina Commedia ein. Der Medienwechsel kann u. a. als ein Element einer bewussten Aktualisierung der Vorlage verstanden werden. Diese Neigung zur expliziten Modernisierung der Divina Commedia zeigt sich selbstverständlich auch auf der inhaltlichen Ebene vieler Bearbeitungen, so in Merediths Film Dante’s Inferno, in dem die Hölle Züge der amerikanischen Gegenwartskultur trägt, oder in Peter Weiss’ Zeit-Drama Inferno, in dem eine kritische Skizze der deutschen Nachkriegsgesellschaft eingearbeitet ist. Insbesondere der stark christliche Zug des mittelalterlichen Werks wird immer wieder zurückgewiesen. In seinen Bildern deutet etwa Sandow Birk wiederholt auf einen Pluralismus der Religionen hin, die als gleichberechtigt gezeigt werden und die damit der Alleingeltung des Christentums bei Dante dezidiert entgegenstehen. Birks moderner Dante erlebt außerdem am Ende der Reise – die ihn nicht mehr durch das Jenseits, sondern durch das Straßengewirr amerikanischer Großstädte führt – nicht mehr die Vision Gottes, stattdessen scheint sich Birks moderner Dante mit einem Sixpack Bier in ein alkoholisiertes Delirium zu befördern. Auf dem letzten Bild wird er dann in einem Sessel sitzend und die Divina Commedia lesend gezeigt, auch hier wird das von Dante beschriebene Jenseits als medial vermittelte (fiktive) ‚Geschichte‘ markiert.

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Auch sprachlich wird das Bemühen um eine teils forsche (Marcus Sanders’ jugendlich flippige Übersetzung für das gemeinsame Künstlerbuch mit Sandow Birk, die Meredith für seinen Film adaptierte), teils eher zurückhaltende Modernisierung (Tom Phillips’ Übersetzung für sein Künstlerbuch, die in A TV Dante einging) des Ausgangstexts erkennbar. Bei den letzten drei in dieser Arbeit ausführlich analysierten Neubearbeitungen der Divina Commedia wird noch ein weiteres Merkmal deutlich, das ich als letztes hervorheben möchte: Sowohl im Hörspiel von Andreas Ammer und FM Einheit als auch im Künstlerbuch von Marcus Sanders und Sandow Birk, im Papierpuppenfilm von Sean Meredith und im Musical Marco Frisinas werden die Grenzen von Uund E-Kultur bewusst verwischt. Die Divina Commedia als Klassiker der Hochkultur wird mit Ausdrucksformen der Popularkultur versetzt und so für ein gegenwärtiges (junges? breites?) Publikum spielerisch und unterhaltsam – aber ohne den mehr (Ammer; Birk; Meredith) oder weniger (Frisina) hohen eigenen künstlerischen Innovationsanspruch aufzugeben – aktualisiert. (3) Künstlerische Ziele der Neubearbeitungen So verschieden die Gründe und Ausdrucksweisen der Neubearbeitungen, so unterschiedlich sind auch die mit ihnen verbundenen (hauptsächlichen) Zielsetzungen: Bei den Inferno-Bearbeitungen von Peter Weiss und Pier Paolo Pasolini gehen eine kritische Außensichtung der sie umgebenden Gesellschaft mit der Suche nach der Bestimmung eines eigenen biographischen Standorts in ihr Hand in Hand. Eine spielerische Lust an der (Um-)Gestaltung bestimmt offenbar sowohl Merediths Papierpuppenfilm Dante’s Inferno als auch das Künstlerbuch von Birk und Sanders; wo Birk in seinen Illustrationen v. a. das Spannungsverhältnis zwischen alter, berühmter Vorlage und neuer (oft humorvoller) Neubearbeitung inszeniert, scheint Meredith wohl auch die Suche nach ästhetischer Innovation anzutreiben. Von der Suche nach neuen ästhetischen Ausdrucksmöglichkeiten, die über die kreative Rezeption der Divina Commedia geschieht, zeigen sich auch sowohl A TV Dante von Greenaway und Phillips wie auch Phillips’ vorgängiges Künstlerbuch, Ammers Hörspiel Radio Inferno als auch Pandurs Regietheater-Trilogie motiviert. Ein eher missionarischer

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Gedanke dürfte hinter dem als massenwirksames Unterhaltungsspektakel inszenierten Divina Commedia-Musical Marco Frisinas stehen. Bei den Dramen-Versionen Mario Luzis und Giovanni Giudicis überwiegt wohl der Gestus der Erinnerung an den großen alten Text, der aus einer gegenwärtigen Perspektive jedoch nicht unhinterfragt mehr angenommen wird. Sanguineti hingegen setzt seine textstürmerischen Ansätze bei der Gestaltung von Travestien fort, die vor dem Hintergrund eines avantgardistischen, anti-bürgerlichen künstlerischen Selbstverständnisses geschehen.

K ULTURELLER K ONTEXT N EUBEARBEITUNGEN

DER

Nach diesem resümierenden Überblick über einige Kernmerkmale der Neubearbeitungen soll nun als Ausblick noch eine Frage aus der Einleitung der Untersuchung aufgegriffen werden, die bislang noch nicht explizit thematisiert wurde, nämlich: Warum lässt sich der neue Trend zur aktualisierenden Ganzrezeption der Divina Commedia gerade seit Mitte der 1960er Jahre, vor allem aber seit Mitte der 1980er Jahre beobachten? Jenseits der individuellen Beweggründe, die die einzelnen Künstler dazu veranlasst haben, die mittelalterliche Dichtung neu zu gestalten, scheint es auch allgemeine kulturelle Entwicklungen zu geben, die die Entstehung dieses größeren Trends begünstigen und die seine Ausprägungen mitbestimmen. Eine ausführliche Analyse des Zusammenhangs der Kontextbedingungen mit den einzelnen Neubearbeitungen würde den Umfang und die Ausrichtung dieser Arbeit sprengen. Die Überlegungen, die ich im Folgenden dazu anführen werde, sind daher ausschließlich als erste Diskussionsgrundlage zu verstehen. Ein erster wichtiger Grund für die gehäuften Ganzrezeptionen seit den 1960er, vor allem aber seit den 1980er Jahren dürfte in einem kulturellen Phänomen zu suchen sein, das gemeinhin mit dem Begriff der ‚Postmoderne‘ umschrieben wird. Eine auch nur annähernd angemessene Skizze dessen, was unter der ‚Postmoderne‘ zu verstehen ist,

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kann an dieser Stelle nicht geleistet werden. Daher sollen auch nur die wichtigsten Spezifika genannt werden.1 Ein Merkmal postmoderner Kultur, deren Beginn in den 1960er Jahren angenommen wird, ist, dass in ihr ein intensives Spiel mit Zitaten betrieben wird. Im Zuge der „teils apokalyptisch, teils ironisch gefärbte[n] Rede vom Ende der Kunst (nothing new)“2 setzte auch eine auffällige Hinwendung zu klassisch geltenden Werken statt, die neu interpretiert und bearbeitet wurden, wobei die Mittel der Parodie und der Collage prägend sind (vgl. hier die parodistischen / collagenhaften Ansätze in den Bearbeitungen u. a. von Edoardo Sanguineti, Giovanni Giudici, Sandow Birk und Marcus Sanders, Sean Meredith und Andreas Ammer). In diesem Kontext kann also die Wiederbelebung der Divina Commedia verortet werden. Gerade auch die Besonderheiten der Bearbeitungen lassen sich mit ästhetischen Grundlagen der Postmoderne in Verbindung setzen. Unter anderem wird das Ineinandergreifen von Ausdrucksweisen der sogenannten ‚Hoch-‘ und ‚Populärkultur‘, die vorher als getrennte Bereiche galten, als ein besonderes Gestaltungselement postmoderner Kunst begriffen – das sich u. a. auch beim Hörspiel Radio Inferno von Andreas Ammer und FM Einheit, im Künstlerbuch von Sandow Birk und Marcus Sanders, in der Film-Adaption Dante’s Inferno von Sean Meredith und Marco Frisinas Musical abzeichnet. Bislang gültige Wertmaßstäbe und Hierarchisierungen werden so in Frage gestellt, der Kunst aber auch neue Ausdrucksmöglichkeiten eröffnet. Der in der Moderne angelegte Bruch mit dem Glauben an eine umfassende Erklärbarkeit der Welt – es sei hier nur an den berühmten Chandos-Brief (1902) Hugo von Hofmannsthals erinnert, der dies programmatisch formulierte – wird in der Postmoderne weiter reflektiert und inszeniert. ‚Große Erzählungen‘, u. a. die einer einheitlichen Religion, und tradierte Ausdrucksweisen der Kunst werden gebrochen.

1

Die hier genannten Kernmerkmale der Postmoderne sind dem Eintrag „Postmoderne“ im Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie von Ansgar Nünning und der kurzen Einführung von Christopher Butler entlehnt. Vgl. Nünning, a. a. O., S. 543-4. Und: Christopher Butler: Postmodernism. A very short introduction. Oxford: Oxford University Press, 2002; hier insbesondere Kapitel 4: „The culture of postmodernism“, S. 62-109.

2

Nünning, a. a. O., S. 544.

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Dies findet sich u. a. im dekonstruierenden Gestus der Neubearbeitungen und ihrem religionskritischen Ansatz wieder. An die Stelle sinnstiftender Orientierung durch die Kunst treten Formen der spielerischen und eher ästhetisch als inhaltlich orientierten Oberflächenarbeit. Eine solche zeigt sich bei den Illustrationen Sandow Birks bzw. im Film von Sean Meredith sowie bei denen auf formale Innovation setzenden Neubearbeitungen Künstlerbuch von Tom Phillips bzw. der mit Peter Greenaway realisierten Verfilmung A TV Dante. Bei Greenaway und Phillips, vor allem aber auch im Hörspiel Radio Inferno von Andreas Ammer ist ein collagenhafter Stilmix dominant. Die Multimedialität der Rezeptionsprodukte und der selbstreflexive Umgang mit den Medien sind typisch für Werke der Postmoderne und finden sich, wie oben erwähnt, auch bei den ‚Nuove Commedie‘ wieder. Bemerkenswert ist schließlich, dass in jüngster Zeit auch andere klassische Werke durchaus ähnlich wie die Divina Commedia neu bearbeitet wurden und werden: Hier ließe sich etwa der Film William Shakespeare’s Romeo + Juliet (1996) von Baz Luhrmann nennen. Im Film mit Leonardo DiCaprio und Claire Danes in den Hauptrollen wird Shakespeares klassische Liebestragödie in das Amerika der 1960er Jahre verlegt: Die Auseinandersetzungen der verfeindeten Familienclans der Capulet und Montague, denen Romeo und Julia angehören, werden in einer poppig-überbordenden Bildsprache gezeigt, die zwischen Ausdrucksweisen von Actionfilmen, religiösem Kitsch und Video-Clips im MTV-Format changiert. Die katalanische Theatertruppe La Fura dels Baus wiederum, die auch Dantes Divina Commedia als Open Air Akrobatik-Spektakel in Florenz inszeniert hatte, wagte sich 1998/9 an die Gestaltung des ersten und zweiten Teils von Goethes Faust. Der Titel ihrer Aufführung, F@ust Version 3.0, lässt bereits an eine Fortsetzung der – im doppelten Sinn klassischen – Dramen Goethes hin zu einem dritten, aktuellen Faust denken; durch die Schreibung wird visuell ein ‚Link‘ zum Internet hergestellt. Tatsächlich handelte es sich bei der Darbietung um eine weitgehend freie, modernisierende und theaterästhetisch experimentelle Bearbeitung der bekannten Vorlagen. Der Text wurde gekürzt, auseinandergenommen und neu zusammengefügt. Die besessene Suche Fausts nach universellem Wissen wurde mit dem World Wide Web als gegenwärtiger (vermeintlicher) Universalenzyklopädie in Beziehung gesetzt.

A USBLICK | 269

Bei den Aufführungen (u. a. bei der EXPO 1998 oder beim Rahmenprogramm zu den Feierlichkeiten der europäischen Kulturhauptstadt Weimar 1999 wurden Internet, Video-Performances, reale und virtuelle Akteure integriert, und auch das Publikum konnte über das Internet an der Komposition der Bühnenmusik bzw. durch einen Joystick an den Projektionen auf der Bühne mitwirken. Mit dieser neuen Version des alten Stoffes sollte, so die Information auf der Homepage von La Fura dels Baus, die gegenwärtige Bedeutung des Werks ausgelotet werden: „[…] it tries to interpret Goethe’s thoughts from coordinates of today within which God (which god?), Mephistopheles (metaphor of what?) or Faust’s desire of knowledge (which nature is left for us to read?) cannot have the same meaning“3. Zu diesem großen Komplex der ‚Postmoderne‘ treten noch andere Entwicklungen hinzu, die die Ausbildung der Neubearbeitungen der Divina Commedia als Rezeptionstrend womöglich mitbedingen. So lässt sich vor allem in Italien, aber auch weit darüber hinaus seit den 1980er Jahren ein umfassender ‚Dante-Boom‘ bemerken: Seit jenen Jahren wird insbesondere das Hauptwerk des Dichters in verschiedenster Weise rezipiert und popularisiert. Ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit sei hier nur an die vielen neu ins Leben gerufenen lecturae dantis erinnert, die an öffentlichen Plätzen, in Kirchen oder bei Nachtlesungen in Museen inzwischen in beinahe jeder größeren oder kleineren Stadt stattfinden und ein breites Publikum anziehen. Es werden Dante-Festivals organisiert, so u. a. in Ravenna mit einem umfangreichen, mehrtägigen Programm.4 In Italien wurde die Gruppe ‚Centocanti‘ gegründet, bei der einzelne Personen jeweils einen Gesang der Divina Commedia auswendig lernen und bei verschiedenen Anlässen vortragen.5 In den Regalen der Buchhandlungen finden sich Einführungen in die Divina Commedia für eine breite Leserschaft (u. a. für ein deutsches Publikum von Fritz R. Glunk in der Reihe Meisterwerke kurz und bündig6; Harriet Rubin trägt Zitate aus dem Werk des Dichters in ihrem Buch Dante für die Liebe – als Fortsetzung ihres Bestsel-

3

http://www.iua.upf.es/~sergi/FMOL/fmoltrio/index_fmol.htm.

4

www.dante09.it.

5

www.centocanti.it.

6

Fritz R. Glunk: Dantes Göttliche Komödie. Meisterwerke kurz und bündig. München: Piper, 31999.

270 | „H ÖLLENMASCHINE / W UNSCHAPPARAT “

lers Macchiavelli für Frauen – zusammen7). Und die Divina Commedia wird, worauf ich am Ende von Kapitel VII bereits hingewiesen habe, in verschiedensten populär- bzw. unterhaltungskulturellen Werken rezipiert (Comics; Kriminalromane; Computerspiele u. a. m.). Es steht zu vermuten, dass dieser Trend zur Dante-Rezeption, der sich zunächst einmal als solcher feststellen lässt, eine sich selbst reproduzierende Modeerscheinung ist, die dann womöglich einige Ganzrezeptionen wie u. a. das Musical Frisinas veranlasst hat. Denn: Wo bereits ein breites Interesse vorhanden ist, kann auch – und das ist insbesondere im Zusammenhang der Eventkultur wichtig – mit einem zahlungskräftigen Publikum gerechnet werden. Hintergrund für diese Form des Dante-Booms könnte insbesondere in Italien ein deutlich veränderter Umgang mit dem Nationalautor seit den 1980er Jahren sein. Wie Thies Schulze in seiner Untersuchung Dante als nationales Symbol Italiens (1793-1915) dargelegt hat, wurde der Dichter vor allem in der Zeit der Nationalstaatsgründung, dann aber noch einmal während der Zeit des Faschismus als Symbolfigur der nationalen Einheit und als pater patriae stilisiert. Nach einer Phase der Abwendung von einer solchen Sichtweise, während derer die Beschäftigung mit Dante vor allem auf den akademischen Bereich und auf Schulen beschränkt blieb, wo die Divina Commedia durch ihre Stellung als erstes herausragendes Werk in italienischer Sprache weiterhin gewürdigt wurde, kam es offenbar seit den 1980er Jahren zu einer viel lockereren und unterhaltsameren Vermittlung der Großdichtung in der breiten Öffentlichkeit. Die ‚popularisierende‘ Ausprägung kann dabei auch als spielerische und / oder experimentierfreudige Gegenbewegung zur sehr ernsthaften Vermittlung in den Bildungsinstitutionen gesehen werden. Der spielerische und unterhaltsame Charakter, der bei einigen der besprochenen Neubearbeitungen hervorgehoben wurde, könnte, zumindest was das Inferno anbelangt, auch mit einer Änderung im Gebrauch der Höllen-Metapher zusammenhängen: In der unmittelbaren Nachkriegszeit wurde die Metapher der ‚Hölle‘ zur Beschreibung der conditio humana im Zusammenhang von Krieg, Konzentrationslagern

7

Harriet Rubin: Dante für die Liebe. Frankfurt: Krüger, 2007.

A USBLICK | 271

und post-faschistischen Tendenzen in der Nachkriegszeit gebraucht.8 Diese existenzielle Dimension des Höllenbegriffs scheint in den letzten zwei Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts an Schärfe verloren zu haben, so dass er dann neu besetzt werden konnte. Last but not least gab es in den vergangenen Jahrzehnten erhebliche technische und mediale Entwicklungen. Auch sie können als eine Voraussetzung dafür gesehen werden, dass die Divina Commedia bzw. einer ihrer drei Teile, obwohl sie wegen ihres Umfangs und im Zusammenhang einer eher ‚realistisch‘ orientierten Ästhetik lange Zeit als undarstellbar galt, nun als Theaterstück, im Film, als Hörkunst, als Eventspektakel u. a. m. neu bearbeitet wird. Wie auch immer: Letztlich ist der Aussage Tom Phillips zuzustimmen, der in A TV Dante der Film-Adaption das Motto vorangestellt hat: „A good old text always is a blank for new things“. Gerade weil die Divina Commedia als herausragendes Werk der westeuropäischen Kultur anerkannt ist, regt sie dazu an, immer wieder neu über ihre aktuelle Geltung und Gültigkeit nachzudenken. Die Neubearbeitungen der großen Dichtung sind daher jede für sich und auf je eigene Weise auch als Stellungnahmen zu der Frage verstehbar, was der mittelalterliche Text heute noch bedeuten kann und soll.

8

Vgl. hierzu u. a. die Studie von Thomas Taterka: Dante Deutsch. Studien zur Lagerliteratur. Berlin: Erich Schmidt, 1999.

Liste der recherchierten Neubearbeitungen der Divina Commedia

In der folgenden Liste sind die Neubearbeitungen der Divina Commedia aufgeführt, die ich im Zuge meiner Recherchen nachweisen konnte. Die Liste ist alphabetisch geordnet. In eckigen Klammern steht eine erste mediale bzw. gattungsspezifische Einordnung des Werks; da die Werke oft an den Grenzen bestehender Gattungsformen angesiedelt sind und dabei auch verschiedene Medien integrieren sind die Gattungsbezeichnungen nur als relativ grobe Hinweise, keineswegs aber als feste Gattungszuordnungen zu verstehen. Allik, Kristi; Mulder, Robert: Electronic Purgatory. Eine digitale Musik-Theater-Komposition für Schauspieler, interaktives Theater und elektroakustische Musik. Toronto 1991. [„digitale MusikTheater-Produktion“] Ambrosini, Marco; Katherco Consort: La Divina Commedia. Theater Forum NRW 2005. [Musiktheaterproduktion; Auftragsarbeit des Landes NRW] Ders.: Zwischen Himmel und Hölle. Eine multimediale Inszenierung nach Dante Alighieri. Zweckel: Alte Maschinenhalle, 1999. [Musiktheater] Ammer, Andreas; FM Einheit: Radio Inferno. BR, 1993. (CD erschien bei rough trade) [Hörspiel] Andriessen, Louis: La Commedia. Amsterdam: Holland Festival, 2008. [Film-Oper; Auftragsarbeit der Netherlands Opera] Babits, Mihály; Nádasdy, Ádám: Inferno. Budapest: Trafo House of Contemporary Art, 2011. [Sprechtheater] Brakhage, Stan: Dante Quartet. 1987. [abstrakter Kurzfilm]

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Biagi, Vittorio: La divine comédie. 1976. [Ballett] Camaiti, Venturino: La Divina Commedia. Oratorio burlesco. Firenze: Zauberteatro, 1999 / 2000. [Theater] Carlson, Carolyn: Commedia. 1993. [Ballett] Comoedia Mundi: Die Göttliche Komödie nach Dante Alighieri. Trautskirchen, 1995. [Inszenierung zwischen Zirkus und Theater] Curchack, Fred: Sexual Mythology. The Underworld, Purgatory and Paradise. Dallas, 1989. [Musiktheater] Derevo: La Divina Commedia. Ein Stück für Zirkus, vier unsichtbare Körper und unzählige Geister … 2009 (Wiederaufnahme). [Körpertheater] Dramo: La Divina Commedia. Bologna: Teatro di Vita, 2005. [Theater] Frisina, Marco: La Divina Commedia. L’opera. L’uomo che cerca l’Amore. Rom, 2007. [Musical] Goritzki, Thomas: Die göttliche Komödie. Ein Spektakel aus Schauspiel, Tanz und Musiktheater nach Dante Alighieri. Stadttheater Giessen, 2008. [„Spektakel aus Schauspiel, Tanz und Musiktheater“] Greenaway, Peter; Phillips, Tom: A TV Dante. Cantos I-VIII. Channel 4, 1998. (Video erschien 1995 bei Argos Films / British Film Institute; DVD erschien 2011 bei Digital Classics) [Film] Gringas, André: Nel foco che gli affina – Reinigende Feuer. Staatstheater Nürnberg, 2006. [Tanztheater] Hauer, Alexander: Die göttliche Komödie. Melk: Sommerspiele Melk, 2005. [Freiluft-Theater] Jelinek, Thomas Jelen; Mautner, Michael: Rasend im Stillstand – Dantes Inferno. Salzburg: Mozarteum, 1997. / Dantes Purgatorio. Salzburg: Mozarteum, 1999. / Dantes Paradiso. Salzburg: Mozarteum, 2001. [Oper] La Fura dels Baus: La Divina Commedia. Firenze: Piazza Pitti, 2002. [Artistikspektakel] Mall, Sepp: Inferno solitario. ORF 1997. [Hörspiel] Meschke, Michael: Il Purgatorio. 1974. [Spielfilm] Meredith, Sean: Dante’s Inferno. 2007. (DVD erschien 2008 bei Tla) [Papierpuppenfilm] Migliaccio, Rene: Dante’s Divine Comedy. New York: Blackmoon Theatre Company, 2009. [Multimedia-Theater]

L ISTE DER

RECHERCHIERTEN

N EUBEARBEITUNGEN | 275

Miranda, Regina: The Divine Comedy. Rio de Janeiro: Museum of Modern Art, 1991. [Ballett] Pandur, Tomaž: La Divina Commedia: Inferno, Purgatorio, Paradiso. The Secret Memoires of a Genius. An Intellectual Authobiography. An Anatomy of Melancholy. Maribor 1993. [Regie-Theater; weitere Versionen für Festival Szene Salzburg 1994 / 1996; Fundateneo Festival Caracas 1995; Braunschweig 1995; EXPO Hannover 2000] Ders.: Inferno. The Book of the Soul. Hamburg: Thalia Theater, 2001. / Purgatory. Anatomy of Melancholy. Hamburg: Thalia Theater, 2002. / Paradiso. Lux. Hamburg: Thalia Theater, 2002. [Regietheater] Pasolini, Pier Paolo: La Divina Mimesis. Milano 1975. [literarische Neubearbeitung mit Fotographien] Piumini, Roberto: La Nuova Commedia di Dante. Milano: Feltrinelli, 2004. [satirisch-parodistische Nachdichtung] Prokiü, Nenad: Dante’s Divinus: Inferno. Halifax: Sir James Dunn Theatre / Dalhousie University Arts Center, 2009. [Theater] Scanlan, Robert: Dante’s Inferno. New York / Boston, 1998. [Musiktheater] Simon, Michael: Dantes Gesichter. Ein szenisches Gedicht. Krefeld: Theater Krefeld Mönchengladbach. 1998. [„szenisches Gedicht“] Smith, Arthur: Dante’s Inferno. London: Comedy Theatre, 1998. [komisches Theater] Smith, Graham; Schneider, Tom: Der zweifelhafte Wunsch nach Zärtlichkeit. Ein Tanzstück nach Dantes Göttlicher Komödie. Schwetzingen: Tanztheater pvc, 2007. [Tanztheater] Synchronicity Space: The Dante Project: Inferno. New York: TAOHouse, 1996. [Multimedia-Produktion] Staudinger, Andreas: Dantes Trips. Klagenfurt 1998. [Sprechtheater] Tangerine Dream: Inferno. 2001. / Purgatorio. 2004. / Paradiso. 2006. [Rockoper] Teatro del Lemming: L’Inferno dei ragazzi. Rovigo, 2003. [Theater] Dies.: Inferno. I trentaquattro canti. Rovigo, 2002. [Theater] Dies.: NEKYA. Viaggio per mare di notte: INFERNO; PURGATORIO; PARADISO. Rovigo, 2006. [Theater] Theaterwerkstatt Traunstein: Die Hölle nach Dante. Traunstein 2006. [Sprechtheater]

276 | „H ÖLLENMASCHINE / W UNSCHAPPARAT “

Tiezzi, Federico: La Divina Commedia. Laboratio per un teatro di poesia. Prato: I Magazzini, 1989-1991. [Inszenierung der u. s. Dramentexte] - Edoardo Sanguineti: Commedia dell’ Inferno. Un travestimento dantesco. Genova: costa & nolan, 1989. [Dramentext] - Mario Luzi: Il purgatorio. La notte lava la mente. Genova: costa & nolan, 1990. [Dramentext] - Giovanni Giudici: Il Paradiso. Perché mi vinse il lume d’esta stella. Satura drammatica. Genova: Costa & Nolan, 1991. [Dramentext] Thimon, Pia; Schultze, Karen: Die göttlichen Komödien. Theaterreise in 12 Folgen zu den Mythen der Welt. Putheim / Köln, 2000. [Theater] Verdinelli, Francesco: Internet & Inferno. Spettacolo in interazione fra la scena e la rete internet. Rag Doll Produzioni, 1995. [InternetTheater-Produktion] Weinberger, Nathan; Tsikurishvili, Paata: Dante. Arlington: Synetic Theatre, 2009. [„performance art“] Weiss, Peter: Inferno. 1964. (erschien 2004 im Suhrkamp-Verlag) [Dramentext] - Johannes Kalitzke: Inferno. Bremer Theater, 2004/05. [Opernvertonung] - Tilman Neuffer: Inferno von Peter Weiss. Badisches Staatstheater Karlsruhe, 2008. [Theater-Inszenierung]

Abbildungsverzeichnis

Abbildungen 1, 2: www.nerdrum.com Abbildungen 3, 4, 5: Tom Phillips: Dante’s Inferno. The first part of the Divine Comedy of Dante Alighieri. Translated and illustrated by Tom Phillips. London: Thames and Hudson, 1985. Abbildungen 6, 7: Peter Greenaway; Tom Phillips: A TV Dante. Cantos I-VIII. Argos Films; British Film Institute 1995. Abbildung 8: www.colorado.edu/FRIT/cravenp Abbildung 9: www.sandowbirk.com Abbildungen 10, 12, 14, 16: Sandow Birk; Marcus Sanders: Dante’s Divine Comedy. Bd. 1-3. San Francisco: Chronicle Books, 2005. Abbildungen 11, 13, 15: Gustave Doré: The Doré Illustrations for Dante’s Divine Comedy. New York: Dover, 1976.

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Lettre Vera Bachmann Stille Wasser – tiefe Texte? Zur Ästhetik der Oberfläche in der Literatur des 19. Jahrhunderts September 2012, ca. 290 Seiten, kart., ca. 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1929-4

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Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Dorothee Kimmich, Schamma Schahadat (Hg.)

Essen Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2012

Mai 2012, 202 Seiten, kart., 8,50 €, ISBN 978-3-8376-2023-8 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften – die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort. Lust auf mehr? Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 11 Ausgaben vor. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften kann auch im Abonnement für den Preis von 8,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]

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